Nordamerika aus süddeutscher Perspektive: Die Neue Welt in der gelehrten Kommunikation des 18. Jahrhunderts 3515101853, 9783515101851

Gab es süddeutsche Amerika-Bilder? Rainald Becker nimmt die (Nord-)Amerika-Wahrnehmungen im Süddeutschland des "lan

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German Pages 424 [426] Year 2012

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Table of contents :
VORWORT
INHALTSVERZEICHNIS
TEIL 1: EINLEITUNG
KAPITEL 1: FORSCHUNGSÜBERBLICK UND FRAGESTELLUNG
KAPITEL 2: QUELLEN
TEIL 2: GELEHRTENKULTUR UND AMERIKA-WISSEN IN SÜDDEUTSCHLAND
KAPITEL 3: VORAUSSETZUNGEN FÜRAMERIKA-WAHRNEHMUNG
KAPITEL 4: SÜDDEUTSCHE AMERIKA-LITERATUR
KAPITEL 5: AMERIKAKUNDLICHE KOMMUNIKATIONSMILIEUS
KAPITEL 6: WEGE UND VERMITTLUNGSFORMEN DES AMERIKA-WISSENS
TEIL 3: GEOGRAFISCHE AMERIKA-DEUTUNGEN
KAPITEL 7: JESUITEN
KAPITEL 8: ULMER PIETISTEN
KAPITEL 9: NÜRNBERGER KARTOGRAFEN
KAPITEL 10: GEOGRAFISCHE ENZYKLOPÄDIEN
KAPITEL 11: KATHOLISCHE AUFKLÄRUNG
KAPITEL 12: PROTESTANTISCHE AUFKLÄRUNG
KAPITEL 13: ZUSAMMENFASSUNG
TEIL 4: HISTORIOGRAFISCHE AMERIKA-DEUTUNGEN
KAPITEL 14: JESUITEN
KAPITEL 15: SCHWÄBISCHE PIETISTEN
KAPITEL 16: NÜRNBERGER HISTORIOGRAFEN
KAPITEL 17: AUGSBURGER GESCHICHTSPUBLIZISTIK
KAPITEL 18: BAYERISCHE HOFHISTORIOGRAFEN
KAPITEL 19: BENEDIKTINER
KAPITEL 20: ZUSAMMENFASSUNG
TEIL 5: PLURALITÄT UND PARTIKULARITÄT – NORDAMERIKA IN SÜDDEUTSCHLAND
TABELLENVERZEICHNIS
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
QUELLEN UND LITERATUR
PERSONEN- UND ORTSREGISTER
ABBILDUNGEN
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Nordamerika aus süddeutscher Perspektive: Die Neue Welt in der gelehrten Kommunikation des 18. Jahrhunderts
 3515101853, 9783515101851

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Geschichte Franz Steiner Verlag

47

t r a n s at l a ntHistorische i s c h e h i s to rische studien Transatlantische Studien

Rainald Becker

Nordamerika aus süddeutscher Perspektive Die Neue Welt in der gelehrten Kommunikation des 18. Jahrhunderts

Rainald Becker Nordamerika aus süddeutscher Perspektive

transatlantische historische studien Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Washington, DC Herausgegeben von Hartmut Berghoff, Miriam Rürup und Britta Waldschmidt-Nelson Band 47

Rainald Becker

Nordamerika aus süddeutscher Perspektive Die Neue Welt in der gelehrten Kommunikation des 18. Jahrhunderts

Franz Steiner Verlag

Umschlagabbildung: © Heinrich Scherer, Geographia Artificialis [Atlas Novus, Bd. 5] (1703), Titelkupfer: Allegorie der Geographia Artificiosa, Universitätsbibliothek München: W 4° H.aux. 1609(2

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Umschlaggestaltung: r2 Röger & Röttenbacher, Leonberg Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10185-1

VORWORT Jedes Buch ist das Ergebnis tieferer Ursachen. Hervorgegangen ist der Band aus meiner Habilitationsschrift, die im Sommersemester 2010 von der Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen wurde. Für den Druck wurde diese Arbeit in eine kürzere Form gebracht. Viele helfende Hände haben daran mitgewirkt. Daher hat der Autor vielfältige Dankesschuld abzutragen. An erster Stelle sei das Deutsche Historische Institut Washington DC genannt. Professor Dr. Hartmut Berghoff, seinem Direktor, darf ich für die großzügige Aufnahme der Arbeit in die Transatlantischen Historischen Studien, den Mitarbeitern Privat-Dozentin Dr. Britta Waldschmidt-Nelson und Professor Dr. Marcus Graeser für die umsichtige Betreuung auf dem Weg zur Publikation danken. Das Lektorat lag in den bewährten Händen von Hendrik Stary. Am Anfang der Dinge stand freilich die engere akademische Familie: mein langjähriger Chef Professor Dr. Alois Schmid, Professor Dr. Ferdinand Kramer und Professor Dr. Volker Depkat (Universität Regensburg). Als Mentoren im Habilitationsverfahren haben sie meine Schritte aufmerksam begleitet. Sie schufen eine intellektuelle Atmosphäre, die dem disziplinenübergreifenden Ansatz meiner Arbeit sehr förderlich war. Mit Rat und Tat standen mir noch viele andere zur Seite: Professor Dr. Christof Mauch, Professor Dr. Helmut Zedelmaier und Professor Dieter J. Weiß, nicht zuletzt die amerikanischen Professoren Margaret Lavinia Anderson, Thomas A. Brady Jr. und James J. Sheehan. Sie boten mir in Berkeley ein wunderbares Forum für Gespräche und Reƀexionen. Herr Max Gross (Bayreuth) hat mich bei der Drucklegung unterstützt. Außerdem bin ich folgenden Institutionen zu großem Dank verpƀichtet: für ſnanzielle Unterstützung bei Archivreisen der Kommission für bayerische Landesgeschichte, dem Austauschprogramm der LMU München mit der UC Berkeley und dem Karl Graf Spreti-Fonds, namentlich Professor Dr. Hans-Michael Körner (alle München), für reibungslose Versorgung mit Forschungsmaterial der Universitätsbibliothek München, der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg, ferner der Georgetown University Library (Washington DC), der American Philosophical Society, der Library Company of Philadelphia und der Historical Society of Pennsylvania (alle Philadelphia) sowie der Bancroft Library (Berkeley). Ohne den beständigen moralischen Rückhalt meiner Familie hätte ich das Werk nicht vollenden können. So geht tiefer Dank an meine Eltern, an meine Frau Alice und unseren Sohn Valentin, der während der Schreibphase zur Welt kam. Ihnen sei das Buch gewidmet. München und Bayreuth, an Ostern 2012

Rainald Becker

Inhaltsverzeichnis

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort .................................................................................................

5

Teil 1: Einleitung ..................................................................................

11

Kapitel 1: Forschungsüberblick und Fragestellung ..........................

11

Kapitel 2: Quellen ............................................................................

24

Teil 2: Gelehrtenkultur und Amerika-Wissen in Süddeutschland ..

33

Kapitel 3: Voraussetzungen für Amerika-Wahrnehmung ................ Wirtschaft .................................................................................... Mission ........................................................................................ Migration .................................................................................... Politik ..........................................................................................

33 34 36 39 44

Kapitel 4: Süddeutsche Amerika-Literatur .......................................

49

Kapitel 5: Amerikakundliche Kommunikationsmilieus ................... Jesuiten, Benediktiner und Pietisten ........................................... Reichsstädtische Verleger und Intellektuelle .............................. Universitäts- und Akademieprofessoren ..................................... Hofgelehrte und gebildete Beamte .............................................

61 64 68 70 73

Kapitel 6: Wege und Vermittlungsformen des Amerika-Wissens ... Kompilatorische Praktiken und Zitationsnetzwerke ................... Visuelle Vergegenwärtigungen ...................................................

75 75 81

Teil 3: Geografische Amerika-Deutungen .........................................

87

Kapitel 7: Jesuiten ............................................................................ Ontologie und Statistik ............................................................... Amerika und die wissenschaftliche Revolution .......................... Alte und neue Räume der Heilsgeschichte ................................. Hispanisches Nordamerika ......................................................... Kartograſen des Southwest .........................................................

87 87 91 94 100 103

Kapitel 8: Ulmer Pietisten ................................................................ Theodizee und Weltbeschreibung ............................................... Pietistische Fluchträume an der Ostküste ................................... Angloamerika ..............................................................................

112 112 116 119

8

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 9: Nürnberger Kartografen .................................................. Weltatlanten ................................................................................ Neue Welt und reichsstädtische Identität .................................... Nordamerika und die Deutschen ................................................. Imperiale und revolutionäre Bildpräsenzen ................................

122 122 124 129 133

Kapitel 10: Geograſsche Enzyklopädien ......................................... Zeitungslexika ............................................................................. Europäische Stadträume in Amerika .......................................... Revolutionäre Erinnerungsorte ................................................... Antirevolutionäre Tendenzen .....................................................

139 139 141 146 149

Kapitel 11: Katholische Aufklärung ................................................. Geograſe der Glückseligkeit ...................................................... Benediktinische Revolutionseuphorie ........................................ „Monumente edler Seelen“ .........................................................

152 152 157 163

Kapitel 12: Protestantische Aufklärung ........................................... „Gemeinnüzige“ Geograſe ......................................................... Die Amerika-Reise als pursuit of happiness ............................... Kanonisierung der USA ..............................................................

170 170 175 185

Kapitel 13: Zusammenfassung .........................................................

189

Teil 4: Historiografische Amerika-Deutungen ..................................

193

Kapitel 14: Jesuiten .......................................................................... Missionsgeschichte ..................................................................... (Nord-)Amerika im Heils- und Erkenntnisfortschritt ................. Freiheit in Pennsylvania .............................................................. Mathematisierungen ....................................................................

193 193 195 204 213

Kapitel 15: Schwäbische Pietisten ................................................... Migrationsgeschichte .................................................................. Atlantischer Heilstransfer ........................................................... Lutherisches Reich Gottes in Georgia ........................................ Frommer Kolonialismus ............................................................. Propagandakriege um Nordamerika ...........................................

218 218 225 229 238 248

Kapitel 16: Nürnberger Historiografen ............................................ Reichsgeschichte ......................................................................... Amerikanische Karrieren ............................................................ Atlantische Bildergeschichte ......................................................

257 257 261 273

Kapitel 17: Augsburger Geschichtspublizistik ................................. Nationale Semantiken ................................................................. Nationalökonomische Annäherungen .........................................

281 281 285

Inhaltsverzeichnis

9

Euro-amerikanische Parallelwelten ............................................

288

Kapitel 18: Bayerische Hofhistoriografen ........................................ Amerikageschichte und Territorialstaat ...................................... Spanisches oder englisches Modell? ........................................... Moralische Menschheitsgeschichte ............................................

293 293 296 302

Kapitel 19: Benediktiner .................................................................. Aufklärungshistorie .................................................................... Hispano-katholische Welten ....................................................... Amerika-Kritik ............................................................................ Geschichte der Humanität ...........................................................

307 307 311 318 325

Kapitel 20: Zusammenfassung .........................................................

328

Teil 5: Pluralität und Partikularität – Nordamerika in Süddeutschland ............................................

331

Tabellenverzeichnis ..............................................................................

345

Abbildungsverzeichnis .........................................................................

347

Abkürzungsverzeichnis .......................................................................

349

Quellen und Literatur ..........................................................................

351

Ungedruckte Quellen ........................................................................

351

Drucke vor 1800 ...............................................................................

352

Gedruckte Quellen und Literatur ......................................................

358

Personen- und Ortsregister .................................................................

397

Abbildungen .........................................................................................

409

TEIL 1: EINLEITUNG KAPITEL 1: FORSCHUNGSÜBERBLICK UND FRAGESTELLUNG Um es im Hinblick auf den größeren Rahmen des hier geplanten Unternehmens, einer Geschichte der Nordamerika-Perspektiven in der süddeutschen Gelehrtenkultur des 18. Jahrhunderts, sogleich vorwegzunehmen: Das Bild der Neuen Welt im Alten Reich ist nicht erst seit der so genannten kulturalistischen Wende oder den jüngeren wahrnehmungsgeschichtlichen Anstößen ein zentrales Anliegen der Forschung. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Amerika kann auf eine lange Tradition zurückblicken, die in der Aufklärung einen ihrer ersten Höhepunkte erreichte und die sich historisch vor allem mit dem revolutionären Gründungsakt der USA verbindet. Wie kaum ein anderes zeitgenössisches Ereignis erregte die Unabhängigkeitserklärung von 1776 die kulturellen und politischen Fantasien der deutschen Intellektuellen. Als Ort von Fortschritt und Freiheit begrüßt, als Schauplatz von Revolution und Demokratie entweder gerühmt oder befehdet, versetzte Amerika die Mitwelt in heftige Bewegung. Bis heute beeinƀussen diese Grundkonstellationen den Umgang mit dem großen atlantischen Nachbarn. In hohem Maß prägen sie das Verständnis der Forschungsbestrebungen. Trotz aller Versuche, den Mythos kritisch zu demontieren oder gar ganz zu zerstören, gilt die Revolution nach wie vor als Epocheneinschnitt von säkularer Tragweite. Nicht nur die amerikanische Selbstwahrnehmung bezieht ihre geschichtliche Identität aus diesem Grunddatum. Die Revolution bezeichnet auch im deutschamerikanischen Verhältnis einen archimedischen Punkt, von dem aus sich die historischen Perspektiven auf die transatlantischen Beziehungen und die interkontinentalen Wahrnehmungen entwickeln. Wenn man die jüngere Forschungslandschaft schärfer ausleuchtet, dann zeigt sich die anhaltende Bedeutung des revolutionären Paradigmas besonders eindrucksvoll in den sozialhistorischen Strömungen der 1960er und 1970er Jahre. Im Zusammenhang mit dem revolutionstheoretisch gefärbten Zeitgeist jener Jahrzehnte ist an die umfassenden Darstellungen zum amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und dessen Rolle für die politische Kultur im Alten Reich zu denken. Im Mittelpunkt stand die Frage, ob sich unter den Bedingungen des Spätabsolutismus ebenfalls so etwas wie eine vorkonstitutionelle oder frühdemokratische Stimmung in Mitteleuropa entfalten konnte: Gleichschritt mit den revolutionären Errungenschaften von 1776 oder Verspätung gegenüber den spektakulären Ereignissen jenseits des Atlantiks –

12

Teil 1: Einleitung

diese geschichtsphilosophische Alternative bildete den Hintergrund eines von teleologischen Vorverständnissen nicht ganz freien Diskurses.1 Überhaupt die Revolution und ihr Jubiläum: Das Bicentennial von 1976 löste eine regelrechte Publikationsƀut aus. Dabei wurden einerseits die diplomatiegeschichtlichen Aspekte betont, indem das Verhältnis einzelner deutscher Groß- und Mittelmächte, darunter auch das von Bayern zu den werdenden USA, näher in den Blick genommen wurde.2 Andererseits war auch der ideengeschichtliche Bereich von Interesse. Erforscht wurde beispielsweise die Versorgung der deutschen res publica litteraria mit den Leittexten der zeitgenössischen Amerikaliteratur: Die Präsenz von Benjamin Franklin, George Washington oder Thomas Jefferson, also der großen Revolutionslenker und Verfassungsväter, in den Bibliotheken der deutschen Aufklärung, etwa in Göttingen und Berlin, prägten das thematische Umfeld ebenso wie die Rolle der Revolution als Ereignis der Literaturgeschichte seit der Weimarer Klassik.3 Mehr noch: Die Integration des neuen Staats in die Lehrpläne der Universitäten, das Entstehen der Amerikakunde als eigener akademischer Disziplin und von dort wieder ausgehend: das Erscheinen der USA in der politischen Öffentlichkeit des Alten Reichs rückten in den Fokus des Interesses. Die Monograſe von Volker Depkat über das Amerika-Bild in den deutschen Zeitschriften zwischen 1789 und 1830 bildet die Summe dieser forschungsstrategischen Konzeptionen. Sie bezieht die Frage der AmerikaWahrnehmung auf einen konkreten Diskursrahmen, nämlich die sich in unterschiedliche weltanschauliche und soziale Segmente ausfächernde „Zeitschriftenöffentlichkeit“ an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert.4 Damit ist sicherlich eine erhebliche Verfeinerung des methodischen Instrumentariums erreicht. Dennoch bestimmt hier weiterhin das revolutionsgeschichtliche Deutungsmodell die Perspektiven: Die welthistorisch relevante Rolle Amerikas setzt mit der Gründung der new republic ein. Die USA stehen gewissermaßen als Chiffre für den Gesamtkontinent. Freilich kann Amerika nicht nur als Raum des Revolutionären eine spektakuläre Forschungskarriere vorweisen. Neben den Geburtsvorgängen der ersten amerikanischen Republik wurden auch das Entdeckungsgeschehen und dessen Folgen für die Imaginationen in Europa und speziell im Alten Reich im historiograſschen Jubiläumskalender mit großer Aufmerksamkeit registriert. Angeregt durch das Stichjahr 1992, als sich die Atlantikpassage des 1 2 3

4

Dafür charakteristisch vor allem Dippel, American Revolution. Vgl. Puchta, Bayern und die USA. Vgl. Jantz, German Views. Zur Amerikaliteratur in der barocken und aufklärerischen Bibliothekskultur vgl. Raabe/Jantz, New World; zu den literarischen Imaginationen der USA im späten 18. Jahrhundert vgl. Kriegleder, Vorwärts in die Vergangenheit, 33-137; Hinderer, Goethe und Amerika. Vgl. Depkat, Amerikabilder. Zur publizistischen Amerikawahrnehmung im 18. und 19. Jahrhundert vgl. Krebs, Révolution américaine; Mesenhöller, Mundus Novus.

Kapitel 1: Forschungsüberblick und Fragestellung

13

Christoph Columbus zum 500. Mal jährte, erfuhr die wissenschaftliche Reƀexion einen weiteren Schub. Von postkolonialer Vergangenheitsbewältigung, die in dem Entdecker den Urheber des Indianer-Genozids sah und dabei ideologisch wohlfeil den geschichtspolitischen Vorwurf der europäischen „Schuld“ ventilierte5, bis hin zu sorgfältigen, auf breitem Quellenfundament komponierten Studien über die Rezeption des amerikanischen Fremden im europäischen Eigenen – inhaltlich höchst divergente Ansätze kennzeichnen das Panorama. Als besonders facettenreich erweisen sich in diesem Zusammenhang die Studien von Wolfgang Reinhard. Für das 16. Jahrhundert loten sie das Thema in großer inhaltlicher Bandbreite aus: Die durch die Expansionsbewegung ausgelösten Verschiebungen in der politischen und ökonomischen Agenda Alteuropas, die Neukonſguration der geograſschen Denkhorizonte, die intellektuelle Verarbeitung der amerikanischen Ereignisse durch die Humanisten – auf diesen Gebieten setzte der Frühneuzeithistoriker bleibende Akzente.6 Doch nicht nur das: Die Jubiläumskonjunkturen der 1970er und 1990er Jahre griffen auch das Problem der ikonograſschen Vergegenwärtigung auf. Die Inszenierung der America als Personiſkation in der frühneuzeitlichen Bildpublizistik, in der barocken Wand- und Deckenmalerei, so beispielsweise in der berühmten allegorischen Darstellung der vier Kontinente im Treppenhaus der Würzburger Residenz, stieß auf starke Beachtung.7 Die Bestrebungen zielten darauf ab, den Ort des Amerikanischen im europäischen (Geschichts-)Bewusstsein zu rekonstruieren. Die Topik der Neuen Welt, also ihre Einordnung in die frühneuzeitlichen Abbildungs-, Wissens- und Deutungssysteme mit Hilfe speziſscher rhetorischer Instrumentarien, stand im Zentrum der Untersuchungen. Damit gewann die Forschungsdiskussion ein über das engere Feld der Bildlichkeit hinausreichendes Interpretationsmuster, das auf die textuellen Repräsentationen der Neuen Welt, etwa in der humanistischen Kosmograſe, übertragen werden konnte. Zu den wichtigsten Exponenten dieser Interpretationsrichtung dürften Wolfgang Neuber und Urs Bitterli zählen.8 Aus jeweils unterschiedlicher Perspektive – bei Neuber im Rückgriff 5 6

7

8

Vgl. zur Diskussion über den genocide an den Indianern Kupperman, Changing Deſnition, 3; Pietschmann, Aristotelischer Humanismus, 143f.; Kohler, Columbus, 13-21; Mancall, Age of Discovery, 27-34. Vgl. Reinhard, Geschichte I-II; ders., Humanismus; ders./Waldmann, Nord und Süd; Prosperi/Reinhard, Neue Welt. Speziell zur humanistischen Rezeption vgl. Haase/ Meyer, European Images of the Americas; Johnson, German Discovery; Kohut, Weltkarte; Mund-Poche, Humanistes; Wuttke, Humanismus. Zum Würzburger Amerika-Fresko von Giovanni Battista Tiepolo vgl. Ashton, Allegory. Allgemein zur Amerika-Ikonograſe vgl. Honour, New Golden Land; ders., Amérique; Poeschel, Ikonographie der Erdteile; Wolff, America; für die habsburgischen Länder im 17. und 18. Jahrhundert Polleross/Sommer-Mathis/Laferl, Federschmuck und Kaiserkrone; Wawrik, Neue Welt, hierin besonders ders., Amerika-Bild. Vgl. Neuber, Fremde Welt; Bitterli, „Wilde“.

14

Teil 1: Einleitung

auf die Reiseliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts, bei Bitterli im Hinblick auf den frühneuzeitlichen Indianermythos – ergibt sich für beide Autoren ein ähnlicher wahrnehmungsgeschichtlicher Befund: Amerika besetzte in der frühneuzeitlichen Systematik der Erdteile die Stelle des Exotischen. Der Kontinent wurde zum Symbol für Alterität, die in verschiedenen Figurationen – im anderen Menschen (Indianer) ebenso wie in der fremdartigen Tierwelt (Krokodile, Papageien) – ihre Verkörperung fand. In den Augen der Zeitgenossen musste sich daher die Neue Welt als höchst ambivalentes Objekt darbieten. Ihre Wahrnehmung changierte zwischen Bewunderung und Angst.9 Indes behielt diese Hermeneutik des Topischen – sie betont letztlich das Statische frühneuzeitlicher Weltauffassung – nicht das letzte Wort. Das große Columbus-Jubiläum von 1992 ſel mit dem Durchbruch des Internets als Massenmedium zusammen. Vor dieser zeitgeschichtlichen Folie erschien die über die Säulen des Herkules, über die damaligen Wissensgrenzen der europäischen Welt hinausführende Reise des Columbus in neuem Licht. Sie konnte als Vorspiel zu den tiefgehenden kommunikationstechnischen Umwälzungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts gelten: Mussten die amerikanischen Kolonialreiche der Spanier und Portugiesen, der Briten und Franzosen nicht als vormoderne Medienimperien verstanden werden? Konsequent wandte man sich deshalb der historischen Strukturgeschichte der transatlantischen Kommunikationsströme zu. Die Suche nach den Sende- und Empfängerinstanzen, nach den Vermittlungsknotenpunkten und Trägern überseeischer Nachrichten rückte in das Zentrum der Betrachtungen. Dabei zeigte sich der prozessuale und dynamische Charakter des transatlantischen Wissensaustauschs – wohl am markantesten herausgearbeitet von Renate Pieper, die das Auftauchen der Neuen Welt im 16. Jahrhundert als Resultat eines hochefſzient organisierten spanisch-habsburgischen Nachrichtenmarketings beschrieb.10 Der Überblick über die verschiedenen Forschungstrends wäre jedoch unvollständig, wenn man neben den tagesaktuellen Impulsen die Grundkonstanten außer Acht ließe. Dass das Amerika-Bild der Deutschen von jeher einen hohen Stellenwert in der Diskussion einnimmt, hat auch mit langfristig wirksamen Konstellationen der Geschichts- und Erinnerungskultur zu tun. Die bis in die Mikroebene individueller Familiengeschichte zurückreichende Auswanderungserfahrung spielt hier sicherlich eine herausragende Rolle. Schon lange bevor sich die Forschung auf modische Attitüden wie jene der interkulturellen Migrationsgeschichte festlegte, wurde dem Thema der transatlantischen Siedlungsbewegung als Motor der deutschen Amerika-Rezeption eine 9 10

Zu ähnlichen Ergebnissen in der amerikanischen Forschung vgl. Pagden, Fall of Natural Man. Vgl. Pieper, Vermittlung, 1-17. Zu den Verwertungszusammenhängen des AmerikaWissens im Rahmen der spanischen Kolonialverwaltung vgl. Brendecke, Imperium und Empirie. Zu vergleichbaren Phänomenen im kolonialen Nachrichtenmarketing der Briten vgl. Games, Web of Empire.

Kapitel 1: Forschungsüberblick und Fragestellung

15

entscheidende Bedeutung beigemessen.11 Neben dem Auswanderer-Motiv vermittelten noch andere mentalitätsgeschichtliche, oder besser formuliert: geschichtspsychologische Faktoren maßgebliche Anstöße. Positiv gestützt wurden entsprechende Forschungsansätze sicherlich durch die Westbindung der Bundesrepublik Deutschland. Die atlantische raison d’être der Bonner Republik gab einen wirkungsvollen Hintergrund für die historische Beschäftigung mit den deutschen Beziehungen nach Übersee ab. Zu erinnern ist hier nur an das Stichwort der „Westernisierung“ (Anselm Doering-Manteuffel) oder an die Überlegungen zum Standort der Deutschen innerhalb der „Geschichte des Westens“ (Heinrich August Winkler).12 Die Überzeugung, dass die amerikanische Republikgründung des späten 18. Jahrhunderts ebenso wie die zweite deutsche Demokratie nach 1945 aus einem Pool vergleichbarer Werthaltungen schöpften, verhalf der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Geschichte der deutsch-amerikanischen Beziehungen, aber auch den transatlantischen Wahrnehmungsstudien zu einem anhaltenden Aufschwung.13 Wenn man sich diese scheinbar so günstige Ausgangssituation vergegenwärtigt, kann dann das hier angekündigte Projekt überhaupt noch Neues zu Tage fördern? Man muss die Dinge noch einmal Revue passieren lassen, um die Deſzite, die mangelnde Kohärenz der bisherigen Forschung zu erkennen.14 Auffällig ist dabei erstens die Tatsache, dass die Geschichte der Amerika-Bilder von ihren diachronen Rändern her betrieben wird. Über die humanistischen Anfänge des Diskurses ist die Forschung gut informiert: Dass der südwestdeutsche Geograf Martin Waldseemüller in seiner 1507 erschienenen Weltkarte erstmals den Namen „America“ als Bezeichnung für den vierten Kontinent verwendete, darf als bekannte Tatsache gelten.15 Die einƀussreiche Rolle des niederländischen, während des 16. Jahrhunderts lebenden Kupferstechers Theodor de Bry für die Formierung der europäischen Vorstellungen über die Neue Welt – seine Drucke gehörten zur ersten Generation der frühneuzeitlichen Amerika-Literatur – ist umfassend gewürdigt worden.16 Eine ähnliche Beobachtung zeichnet sich für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts 11

12 13 14 15 16

Das zeigt sich an der im 19. Jahrhundert parallel zu den deutschen Auswanderungswellen sprunghaft ansteigenden Literaturproduktion zu den Themen „Auswanderung“ und „German Americans“. Vgl. dazu bibliograſsch für den Publikationszeitraum 1800-1955 Strupp/Zischke, German Americana, 138-171 (387 Titel zu „Emigration in the United States“), 172-188 (207 Titel zu „German Americans“). Vgl. Doering-Manteuffel, Westernisierung; Winkler, Geschichte des Westens; O’Reilly, Atlantic World and Germany, 49-56; Stephan, Americanization. Vgl. den Literaturbericht bei Penny, Atlantic Transfers; vgl. ferner die Beiträge bei Barclay/Glaser-Schmidt, Transatlantic Images. Vgl. W. Becker, Historische Aspekte, 177. Vgl. Hessler, Naming; Johnson, Cosmographers; Rinke, Tauftag; K. A. Vogel, America, 15-17; Wolff, Waldseemüller. Vgl. Frübis, Wirklichkeit des Fremden.

16

Teil 1: Einleitung

ab: Im Fokus steht hier die amerikanische Revolution als Vollendung der Aufklärung. Hingegen ist deren Vorgeschichte, sind die Wirkungen des kolonialen Amerika auf das Bewusstsein im Alten Reich allzu schnell unter der Rubrik des Exotismus verbucht worden.17 Um zu einer ersten Lageeinschätzung zu gelangen: Es fehlt also an Untersuchungen, die das breite Epochenstück zwischen (spät-)humanistischer und aufklärerischer Rezeption überbrücken können. Das „lange“ 18. Jahrhundert, die Phase zwischen 1650 und 1776, das heißt die Amerika-Vorstellungen in Barock und Frühaufklärung bedürfen einer viel eingehenderen Analyse als bisher – auch deshalb, um die Wahrnehmungen des revolutionären Amerika besser aus ihrer historischen Kontinuität heraus verstehen zu können.18 Ein zweiter Punkt betrifft die Quellenproblematik: Die bisherige Forschung konzentrierte sich aus naheliegenden Gründen auf Wahrnehmungsträger, die das Amerikanische gewissermaßen in ihrem Namen führen, etwa auf Reiseberichte, seien es nun ſktionale oder aus Autopsie gewonnene Darstellungen. Auf breite Resonanz stießen zudem die Kameralisten der norddeutschen Aufklärung, während andere, oft nur schwer als amerikakundlich zu identiſzierende Überlieferungsstränge kaum in Betracht gezogen worden sind. Diese Beobachtung betrifft einerseits die aus den europäischen Expansionserfahrungen des 16. und 17. Jahrhunderts schöpfende Universalgeograſe. Andererseits bildete die nach dem Dreißigjährigen Krieg markant anschwellende Geschichtspublizistik einen wichtigen, bislang jedoch wenig untersuchten Resonanzkörper für die Weitergabe und Verarbeitung von amerikanischen Erfahrungen.19 Ein drittes Problem ist mit der soziokulturellen Seite der Amerika-Kommunikation angesprochen: Viel zu eindimensional ging man bisher von konkludenten Weltbildern aus. Oft ist die Rede von dem Amerikabild der deutschen Aufklärung oder der Amerikavorstellung des Humanismus. Übersehen wird dabei die Vielfalt der gelehrten und kulturellen Diskurse im Alten Reich, die ihrerseits höchst divergenten Außeneinƀüssen unterlagen. Sie waren etwa geprägt von regionalen und politischen Unterschieden, so von der Differenz zwischen Stadt und Land, weltlichem und geistlichem Staat, Adels- und Bürgerherrschaft.20 Eine homogene „Nationalkultur“, die dazu noch ein einheitliches Amerika-Bild hätte vertreten können, wäre eine völlig anachronistische Annahme. Hinzu kamen die konfessionellen Divergenzen. Die anhaltende 17 18

19 20

So noch Lüsebrink, Wissenssystematisierung. Selbst der aus dem Deutschen Historikertag von 1988 hervorgegangene, insgesamt informative Sammelband über das frühneuzeitliche Amerika-Wissen in Europa referiert in erster Linie humanistische Beispiele: Vgl. Bitterli/Schmitt, Kenntnis beider „Indien“. Eine erste Revision dieses einseitigen Forschungsverständnisses bei Veltmann/Gröschl/ Müller-Bahlcke, Freiheit. Für eine genaue Kritik der Quellenbestände vgl. Kapitel 2. Vgl. Hartmann, Kulturgeschichte, 71-81.

Kapitel 1: Forschungsüberblick und Fragestellung

17

Bedeutung der religiösen Unterschiede für die Konstituierung der kulturellen Milieus wird man – trotz der einebnenden Wirkungen der Aufklärung – kaum negieren dürfen.21 Gerade die deutsche Aufklärung präsentierte sich ja als eine Bewegung von erstaunlicher intellektueller Volatilität und Heterogenität. Wie die jüngsten Untersuchungen zum Phänomen der Katholischen Aufklärung zeigen, blieb die konfessionelle Zugehörigkeit bis in das späte 18. Jahrhundert hinein eine wichtige Determinante für die Ausprägung von Weltbildern. Im Reich bestimmte sie den Zuschnitt der Aufklärung, die durchaus in unterschiedliche räumliche und weltanschauliche, sich mitunter hart bekämpfende Lager zerſel.22 So erweist sich die Frage nach den Rückwirkungen der verschiedenen Reichskulturen auf die Ausgestaltung der zeitgenössischen Amerika-Vorstellungen als vordringliche und neuartige Forschungsaufgabe: Zu leisten ist eine detaillierte Analyse der Wahrnehmungen gerade im Hinblick auf ihre Verankerung in Milieus, Wissenszirkeln und Kommunikationskreisen. Anzuwenden ist dabei ein Untersuchungsformat, das den pluralen Strukturen des Alten Reichs, seiner regionalen, institutionellen und konfessionellen Vielstimmigkeit gerecht wird: Wer konnte hier als Vermittler amerikakundlicher Interessen auftreten? Welche Motive leiteten die Rezeption? Und schließlich: Welche Anlässe beförderten den amerikanischen Wissenstransfer in einem kulturellen Umfeld, das – so scheint sich die Lage doch auf den ersten Blick darzustellen – nicht gerade zu den Kernräumen mit hoher transatlantischer Beziehungsdichte zählte? Denn anders als in Spanien, England oder Frankreich verfügte man im Alten Reich über keine kolonialpolitischen Kontakte, die entsprechende Wahrnehmungsvorgänge besonders begünstigt hätten. In diesem Zusammenhang rückt Süddeutschland in das Untersuchungsfeld: Die Absenz einer kolonialen Vergangenheit – diese für das Gesamtreich gültige Tatsache trifft natürlich in besonderem Maß auf den süddeutschen Raum zu, der daher folgerichtig von der Forschung übergangen wurde, während Norddeutschland, vor allem dem mit England dynastisch verbundenen Kurhannover, immerhin die Rolle des atlantischen Zaungasts zugestanden und hier Anknüpfungspunkte für deutsch-amerikanische Wahrnehmungsstudien – zu erinnern ist an die Göttinger Aufklärung – gefunden werden konnten. Aus diesem Tableau der Forschungsdesiderate schält sich die Grundrichtung des hier vorzustellenden Projekts heraus: Es geht um die Deutungen des Amerikanischen, genau genommen: des speziſsch Nordamerikanischen in der süddeutschen Gelehrtenkultur von Barock und Aufklärung, allerdings in 21 22

Vgl. Brady Jr., German Histories, 409f.; Schindling, Kulturlandschaften; François, Konfessioneller Pluralismus. Zur katholischen Aufklärung vgl. Klueting, Katholische Aufklärung; Aretin, Reich, 403-433; Printy, German Catholicism; Sheehan, Ausklang, 170-174. Programmatisch zur „Polyzentrik der deutschen Aufklärung“ vgl. Wi. Müller, Aufklärung, 7f.; ähnlich Lehner, Introduction, 9f.

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Teil 1: Einleitung

pragmatischer Einbindung des späten 17. Jahrhunderts und unter Berücksichtigung von Autoren, die noch im frühen 19. Jahrhundert gelebt und gearbeitet haben.23 Auf diese Weise soll die auffällige Lücke zwischen der humanistischen und revolutionären Phase der Amerika-Wahrnehmung geschlossen werden. Geograſsch soll hingegen der Akzent auf Süddeutschland liegen. Die Vorteile einer solchen räumlichen Konzentration zeigen sich auf zwei Ebenen: So wird man zunächst den Anteil des süddeutschen Umfelds an den Entfaltungs- und Formationsprozessen der atlantischen Welt genauer überprüfen können: Lag der Süden des Alten Reichs tatsächlich nur im intellektuellen Windschatten des frühneuzeitlichen Expansionsgeschehens? Mit dieser Fragestellung ist ein wichtiges Motiv der jüngsten landesgeschichtlichen Forschung aufgenommen, stehen doch die Außenbeziehungen des süddeutschen Territorialkosmos, vor allem des Kurfürstentums Bayern und seiner reichsstädtischen bzw. reichskirchlichen Nachbargebiete (unter partieller Berücksichtigung der wittelsbachischen Gebiete in der Pfalz, aber unter deſnitivem Ausschluss der österreichischen Herrschaften) im Mittelpunkt der nachfolgenden Betrachtungen.24 Aber auch aus der Perspektive der so genannten Atlantic History, also eines methodischen Konzepts, das in der US- und lateinamerikanischen Geschichtsschreibung seit einiger Zeit Furore macht25, sind instruktive Einsichten zu gewinnen. So kann man von amerikanischer Warte aus nach den räumlichen Tiefendimensionen des zeitgenössischen transatlan23

24 25

Damit fügen sich die Überlegungen in das jüngst als Alternative zum Epochenkonzept „Zeitalter des Absolutismus“ diskutierte Modell „Barock und Aufklärung“ ein. Unter dem Doppelbegriff „Barock und Aufklärung“ wird in dieser Arbeit primär ein pragmatischer Periodisierungsansatz (im Sinn eines „langen“ 18. Jahrhunderts) verstanden. Mit der Begriffswahl ist keine grundsätzliche Abkehr von der Konfessionalisierungsthese beabsichtigt. Im Gegenteil: An mancher Stelle wird sich die Wirksamkeit konfessioneller Aspekte gerade im Hinblick auf die Amerika-Rezeption erweisen. Zur Diskussion über die Epochenkonzepte vgl. Duchhardt, Barock und Aufklärung, XIIIf., 82-92, 169176; Hersche, Muße; Weiß, Katholische Reform, 11-17, 180-183; zuletzt Reinhard, Barockkatholizismus. Vgl. dazu etwa A. Schmid, Zusammenfassung, 241. Die Atlantic History betont im Gegensatz zur national- oder kontinentalamerikanischen Sichtweise die Verbundenheit von amerikanischer, europäischer und afrikanischer Geschichte. In Anlehnung an Fernand Braudels Mittelmeer-Idee („Méditerranée“) begreift sie den Atlantik nicht als Grenze, sondern als „organizing conceit“, als Medium des Austauschs, das eine enge überseeische Gemeinschaft hergestellt habe: vgl. Coclanis, Atlantic World, 725. Die Literatur zur während der 1990er Jahre verstärkt einsetzenden atlantischen Wende in der amerikanischen Geschichtswissenschaft ist kaum noch zu überblicken, daher hier nur einige Schlaglichter: Bailyn, Peopling (grundlegender Theoriebeitrag); Wellenreuther, Niedergang, 5-8 (mit kritischen Bemerkungen); Pietschmann, Atlantic History (Tagungsband mit handbuchartigem Charakter); Kloosters, Atlantische Geschichte (Epochenproblem der atlantischen Geschichte). Wichtig außerdem der 63. Band des William and Mary Quarterly (2006), hier vor allem Mapp, Perspectives; Canny/Morgan, Atlantic History.

Kapitel 1: Forschungsüberblick und Fragestellung

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tischen Diskurses fragen: Wie weit reichte die Wirkung der Neuen Welt? In welchen konkreten Lebenswelten wurde sie – jenseits der kolonialen Großmächte – wirksam? Auf welche Weise und in welcher Intensität erfasste das Phänomen die intellektuellen Zentren in Mitteleuropa? Ob sich neben den großen imperialen Verbindungslinien andere, eventuell sogar alternative überseeische Interessen- und Interaktionskonzepte entwickeln konnten – diese Problematik wird ein wichtiger Punkt der Überlegungen sein. Die Arbeit versteht sich daher einerseits als Beitrag zur weiteren historischen Differenzierung der deutsch-amerikanischen Kontakte während der Frühen Neuzeit. Andererseits strebt sie eine atlantische Erweiterung der landesgeschichtlichen Reƀexion an.26 Dabei sollen sich die Sondierungen auf das Quellenfeld der gelehrten Literatur, insbesondere der globalgeograſschen und universalgeschichtlichen Diskurse konzentrieren. Unter kommunikations- und wissensgeschichtlichen Aspekten ist damit ein besonders ergiebiges Textcorpus aufgegriffen. Süddeutschland bot mit seinen konfessionell und institutionell vielfältig gestaffelten Kulturinfrastrukturen – gleichsam als Reich im Kleinen – ideale Ausgangsbedingungen für diese Art der amerikakundlichen Wissensgenerierung. Zu nennen ist das reichsstädtische Verlagswesen mit seinen beiden überregional bedeutsamen Zentren Augsburg und Nürnberg.27 Weitere Wissenspole bildeten die Universitäten, in denen sich die Multikonfessionalität des zeitgenössischen Kulturbetriebs exemplarisch widerspiegelte: Neben protestantisch-reichsstädtischen Hochschulen wie der nürnbergischen Landesuniversität in Altdorf standen katholische Institutionen, die meist von den Orden, insbesondere von der global agierenden, darum über singuläre Internationalitätskompetenzen verfügenden Societas Jesu getragen wurden, so etwa Dillingen, Würzburg oder Ingolstadt.28 Aber auch außerhalb des engeren akademischen Bereichs bestanden Einrichtungen, die das Interesse an geograſschen und historischen Zusammenhängen förderten und daher als Produktions- und Vermittlungsinstanzen für amerikakundliche Gelehrsamkeit in Frage kamen, so etwa die Wissenschaftskultur der Klöster (neben den Jesuiten jene der Benediktiner29) und der absolutistische Fürstenstaat: Die Dynastenerziehung verzeichnete ebenso wie das intellektuelle Milieu der landesherrlichen Räte und Beamten einen gewissen Bedarf an globaler Orientierung. Daher wird auch dieses Kommunikationsfeld genauer auf Amerika-Äußerungen hin zu untersuchen sein. 26

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In diesem Sinn anregend Reinhard, Vieille Europe, 32-50; A. Schmid, Zusammenfassung, 243; vgl. ferner die Beiträge in Hartmann/A. Schmid, Bayern in Lateinamerika. Schon früher hatte Schmale (Komparatistik, 39-42) für vernetzende Perspektiven plädiert (allerdings mehr im Rahmen einer europäisch ausgerichteten Landesgeschichte). Vgl. Gier, Buchdruck. Vgl. Schindling, Bildung und Wissenschaft, 9-16. Beales, Europäische Klöster, 41-88.

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Teil 1: Einleitung

Hingegen sollen andere Agenturen des Wissenstransfers, vor allem die Diplomatie des 18. Jahrhunderts, ausgeschlossen bleiben. Diese Einschränkung hat einerseits methodische Gründe: Im Vordergrund stehen hier – in Anknüpfung an die jüngere Forschung zur Amerika-Publizistik (Volker Depkat) – die „öffentlichen“ Wirkungen der Neuen Welt. Die diplomatische Rezeption ist eine typische Form der internen, etwa innerhöſschen Kommunikation. Andererseits konnte die Diplomatie aufgrund des mindermächtigen Status der süddeutschen Territorialstaaten kaum größere Ausstrahlung entfalten. Die Amerika-Wahrnehmungen des Gesandtschaftswesens, allen voran der kurbayerischen bzw. kurpfalzbaierischen Diplomaten, setzten im stärkeren Umfang erst während der Revolution ein. Zu einer wirklich engen diplomatischen Verƀechtung und damit zu einer Intensivierung der politischen Informationsströme zwischen Amerika und Mitteleuropa kam es im frühen 19. Jahrhundert: Der Aufstieg Bayerns zum souveränen Königreich, zu einem völkerrechtlich voll handlungsfähigen Subjekt war dabei von ausschlaggebender Bedeutung.30 So erklären sich die methodologischen Grundlagen der nachfolgenden Betrachtungen. Die Interpretation stützt sich auf zwei Argumentationsschienen: eine gattungs- oder besser: disziplinengeschichtliche, in der die Entwicklung der Amerika-Vorstellungen in der globalgeograſschen und universalhistorischen Diskussion des 18. Jahrhunderts näher betrachtet werden soll. Eine weitere Argumentationsachse bezieht sich auf die verschiedenen Wissensgruppen, die solche Interessen pƀegten. Konzeptionell beruht die Untersuchungsanordnung auf einem doppelten Kursus: Zuerst werden die globalgeograſschen, dann die universalhistorischen Deutungen in jeweils chronologischer Reihenfolge beschrieben. Auf diese Weise lassen sich die jeweiligen Wissensgruppen miteinander vergleichen, also etwa die Jesuiten mit den Pietisten, die Protagonisten der katholischen Aufklärung in Bayern mit jenen der protestantischen Aufklärung in Franken, aber auch die Jesuitengeografen mit den Jesuitenhistorikern. Bereits an diesen Beispielen wird klar, dass es sich bei dem Konzept der „Wissensgruppe“ um ein epistemologisches Modell handelt.31 Im Kern stützt 30

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Erst im Vormärz entwickelte sich ein transatlantisches bayerisches Gesandtschaftswesen, das als Informationsträger für Amerika-Wissen dienen konnte: Vgl. Ott, Crossing the Atlantic; zu weiteren (kirchen- und kulturpolitisch begründeten) Initiativen des bayerisch-amerikanischen Transfers im Zeitalter König Ludwigs I. vgl. R. Becker, Kulturpolitik. Diese Konzeption folgt Cañizares-Esguerra, New World: Der nordamerikanische Historiker beschreibt die historiograſschen Deutungen der Neuen Welt unter Berücksichtigung erfahrungsräumlicher Zusammenhänge. Dabei differenziert er nach speziſschen „Wahrnehmungsgruppen“. Untersucht werden etwa die Amerika-Vorstellungen im spanischen Mutterland (genauer: in den gelehrten Eliten der Madrider Akademie für Geschichte), auf der einen und in Mexiko, unter den mittelamerikanischen Exjesuiten oder unter den Vertretern der hispanoamerikanischen Aufklärung, auf der anderen Seite.

Kapitel 1: Forschungsüberblick und Fragestellung

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sich ihre Einteilung auf institutionell voneinander abgrenzbare Wissenssysteme – wobei der Frage nach den Interessendispositionen, nach den speziſschen Sensibilitäten für amerikakundliche Phänomene eine entscheidende Bedeutung zukommt, während auf der gattungsgeschichtlichen Ebene, etwa zwischen jesuitischer und pietistischer Geograſe, keine Grenzen festzumachen sind32: Dominierten vorrangig missionarische oder politische, wissenschaftliche oder ökonomische Intentionen den Umgang mit Amerika? Oder waren es unterschiedliche Motive, die das Bild der Neuen Welt formten? Welche Erfahrungen, Adressatenbezüge und Erkenntnisgrundlagen kanalisierten die Amerika-Wahrnehmung? Von dieser Basis aus bestimmt sich das Verhältnis zu den rezeptions-, diskurs- und kommunikationsgeschichtlichen Ansätzen der jüngeren Forschung. Die vorliegende Studie konzentriert sich ganz bewusst auf „Deutungen“ der Neuen Welt. Es geht nicht nur um „Wahrnehmungen“ im Sinn von Wirklichkeitsaneignung und deren Reproduktion (so wären die Begriffe „Rezeption“ und „Perzeption“ in kognitiver Hinsicht zu deſnieren).33 Der Schwerpunkt wird vielmehr auf die Inhalte und damit auf die reƀexiven Resultate der Vermittlungsprozesse gelegt. Zusammen mit Jürgen Osterhammel könnte man auch sagen, dass die „Denkstile“, „Wahrnehmungsraster“ und „Begriffsfelder“, die intellektuelle „Verarbeitung“ des von den Zeitgenossen im Rahmen bestimmter (wissenschaftlicher) Methoden Beobachteten und Aufgeschriebenen – so beispielsweise „der Statistik und Staatenkunde, politischen Ökonomie, vergleichenden politischen Wissenschaft, Anthropologie, Geograſe, Universalgeschichte“ – und zugleich deren Funktionen für die Ausprägung von Weltbildern besondere Beachtung ſnden sollen.34 Mit dieser Grundoption ist die Studie nicht nur rezeptionsgeschichtlich ausgerichtet; sie ordnet sich zugleich in das bewährte Programm der (historischen) Diskursanalyse ein. Diskursanalytische Interpretationsverfahren streben eine serialisierte Auswertung speziſzierter Textcorpora an (etwa der Publizistik oder diplomatischer Korrespondenzen). Sie liefern Auslegungsinstrumentarien für Texte und Bilder, die als historische Materialisierungen von Denkweisen – Weltanschauungen, Mentalitäten, Ideen – verstanden werden.35 Freilich ist aus der Sicht des hier zu Leistenden auch wieder eine Modiſkation anzumelden: So sehr diskursanalytische Methoden die konkreten Entstehungsumstände von Texten und Bildern bedenken, rücken sie doch – unter Berufung auf die Textualität des Textuellen, die Visualität des Visuellen – deren Bauprinzipien in den Vordergrund der Betrachtung. Hier soll indes ganz gezielt auch nach den Kontexten wissenschaftlich vermittelter Aussagen gefragt wer32 33 34 35

Vielmehr ist hier von einem gemeinsamen Wissensfundament auszugehen. Vgl. dazu Kapitel 6. Vgl. Osterhammel, Distanzerfahrung, 41. Osterhammel, Distanzerfahrung. Vgl. Landwehr, Geschichte des Sagbaren, 103-134.

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Teil 1: Einleitung

den. Um die Rekonstruktion von Amerika-Wahrnehmungen nicht auf die Wiedergabe des zeitgenössischen „Meinungsgemurmels“ zu reduzieren (mit der Gefahr, dass man dann nur die bekannten Diskurstopoi der Rezeptionsforschung wiederholen würde: Amerika als Ort des Exotischen, die Indianer als edle Wilde, Amerika als Freiheitsraum), müssen die Akzente entschieden in historische Richtung verschoben werden.36 Die textuellen (und visuellen) Vergegenwärtigungen des Amerikanischen sollen als Wissensträger zu eigenem Recht aufgefasst, deren Speziſk im größeren kultur- und sozialgeschichtlichen Zusammenhang mit der jeweiligen Autorengruppe, dem entsprechenden Wissensmilieu und seiner Interessen transparent gemacht werden. Denn nur so werden sich die vielschichtigen Ausprägungen des Amerika-Bildes in ihrer lebensweltlichen Rückkoppelung an den süddeutschen Kosmos erfassen lassen.37 Neuakzentuierungen scheinen auch im Hinblick auf das kommunikationsgeschichtliche Paradigma angebracht zu sein. Wie bereits aufgezeigt, beschäftigen sich die Kommunikationshistoriker in erster Linie mit den Techniken der transatlantischen Nachrichtenvermittlung. Die nachfolgenden Überlegungen können auf eine Aufarbeitung der informationsgeschichtlichen Voraussetzungen kaum ganz verzichten: Gerade die Jesuiten und Pietisten verfügten über eine systematische überseeische Nachrichtenorganisation, die natürlich auch das inhaltliche Proſl der Amerika-Wahrnehmungen nachhaltig beeinƀusste. Selbstverständlich wirkte sich die politische und ökonomische Situation des transatlantischen Raums im 18. Jahrhunderts maßgeblich auf die Chancen und Möglichkeiten des Wissenstransfers von Amerika nach Süddeutschland aus, weshalb diese Zusammenhänge einleitend näher zu untersuchen sind. Gleichwohl soll hier primär die „gelehrte Kommunikation“ im Vordergrund stehen – wobei der zeitgenössische Büchermarkt in Süddeutschland als Umschlagplatz, das heißt als typisches „Kommunikationsmedium“ des an den Höfen und Klöstern, in Universitäten und Akademien produzierten Amerika-Wissens besondere Beachtung ſnden muss.38 36

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Zum „Meinungsgemurmel“ vgl. Bödeker/Gierl (Jenseits der Diskurse, 11), das hier als problematisches Ergebnis diskursanalytischer Interpretationsverfahren herausgestellt wird. Zu bemerken ist, dass es diesen beiden Historikern auf die Praxiswirkung, die Funktionalisierung von Ideen innerhalb institutionalisierter Kontexte ankommt. Hier geht es noch einmal um Anderes: An dieser Stelle steht die Analyse von Amerika-Wissen als Ausƀuss eines speziſschen (institutionellen oder sozialen) Milieus im Vordergrund. Vgl. in dieser Weise auch Depkat, Amerikabilder: Der Autor knüpft seine Untersuchung der Amerika-Diskurse an konkrete Medien, also einzelne Zeitschriften des späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Damit ist es möglich, die Ausprägungen des Amerika-Wissens in ihrem speziſschen biograſschen und sozialen Wirkungsumfeld zu beschreiben. Zum Buchmarkt vgl. R. Wittmann, Geschichte. Zum Begriff der „gelehrten Kommunikation“ als gleichermaßen intellektuelle, soziale wie organisatorische Praxis vgl. Gierl, Korrespondenzen, 418f., 425f.: Er unterscheidet zwischen „Kommunikationsgefüge“

Kapitel 1: Forschungsüberblick und Fragestellung

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In diesem Zusammenhang sind noch zwei weitere zentrale Punkte der Arbeit hervorzuheben, so erstens: das Problem der Intermedialität (genauer: des Verhältnisses von Text und Bild), und zweitens: die Frage von Raum und Zeit bzw. deren Strukturierung mit Hilfe speziſscher Ordnungsinstrumentarien. Zum Ersten: Für die hier verwendeten Quellen ist häuſg ein doppeltes, zwischen textueller und bildlicher Ebene oszillierendes Vermittlungsmoment kennzeichnend.39 Gerade die barocke Ikonograſe, deren Tendenz zur visuellen Vergegenwärtigung von Sachverhalten, zur allegorischen und emblematischen Auslegung, zur graſschen Repräsentation von Inhalten zeigt sich im Werkcorpus in ganzer Breite. Dies gilt insbesondere für die zeitgenössischen geograſschen Publikationen, die durch die Beigabe von Kartenmaterial eine Illustration, eine interpretatorische Vertiefung des im Text Vermittelten anstrebten. Den Spannungen zwischen den beiden Repräsentationsebenen von Text und Bild nachzugehen, wird daher eine wichtige Aufgabe der Analyse sein, zumal sich häuſg hier die speziſschen Proſle des jeweiligen AmerikaBildes herausschälen. Zum zweiten Aspekt: In der Studie wird der Umgang mit den Raum- und Zeitdimensionen eine maßgebliche Rolle spielen. Die Überlegungen sollen sich mit der Frage auseinandersetzen, welches Amerika denn konkret gemeint ist, aus welchen Teilräumen sich der Kontinent zusammensetzt oder noch genauer: wo denn Nordamerika beginnt und Südamerika aufhört, durch welche Mittel die natürliche, politische, ökonomische und religiöse Raumgliederung markiert wird. Einerseits verdienen diese Probleme besondere Aufmerksamkeit, weil sich die Quellen – vor allem die kartograſschen – eingehend mit den Abgrenzungen der Neuen Welt befassen. Sie verweisen gewissermaßen aus sich selbst heraus auf den größeren Problemkomplex des räumlichen Denkens in der Frühen Neuzeit, ohne dass dafür die Theoreme des spatial turn eigens bemüht werden müssten.40 Zum anderen wird die „Raumfrage“ Einsichten nicht nur in die jeweils speziſschen Auffassungen der amerikanischen Welt ermöglichen, sondern zugleich Auskunft über die europäischen Selbstbeſndlichkeiten geben können. Wo sich die Europäer verorteten, ob sie sich überhaupt als eigene Größe im überseeischen Zusammenhang erkannten, ob sich die Süddeutschen als Bestandteil des atlantischen Raums wahrnahmen –

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(dabei geht es gewissermaßen um den mündlichen und schriftlichen Kontakt der Gelehrten untereinander) und „Wissenschaftsapparatur“ (womit die Umsetzung des intellektuellen Gesprächs in gedruckte Medien gemeint ist). Vgl. generell zur historischen Phänomenologie von Informationsknotenpunkten S. Friedrich, Drehscheibe Regensburg; Schmale, Komparatistik, 101-111. Vgl. Depkat, Amerikatexte – Amerikabilder. Vgl. Gotthard, In der Ferne, 11-17. Als Beispiel für eine „raumgeschichtliche“ Untersuchung aus literaturwissenschaftlicher Perspektive vgl. Deringer, Bild.

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Teil 1: Einleitung

solche Zusammenhänge werden die Sondierung der Befunde ebenfalls nachhaltig bestimmen.41 Ein wichtiges Feld der Wissensordnung bildet schließlich die zeitliche, man könnte auch sagen: die ereignisgeschichtliche Dimension: Mit welchen Vorgängen ist die Neue Welt in den Universalchroniken der süddeutschen Autoren vertreten? Welchen Sachbereichen der historischen Information werden die amerikanischen Gegenstände zugewiesen? Wird Amerika eher als Ereignis von politischer oder wirtschaftlicher Tragweite gesehen? Kann es auch Gegenstand der Kirchen- oder Kulturgeschichte sein? Gerade für diese Fragestellungen eignen sich die hier in Aussicht genommenen Quellen hervorragend, da sie häuſg durch eine besondere narratologische Struktur gekennzeichnet sind. In Anknüpfung an humanistische Systeme der Wissensordnung – zu denken ist vor allem an den Ramismus, einer nach dem Pariser Humanisten Pierre de la Ramée (Petrus Ramus) benannten Methode zur kategorialen Erfassung für empirische und nicht-empirische Erkenntnis – organisieren sie das chronologische Ereigniskontinuum mit Hilfe graſscher und inhaltlicher Elemente, so beispielsweise mit Rubriken, Tabellen und Paragrafen.42 Sie erzielen damit eine efſziente Gliederung des Stoffs, die wiederum wertvolle Aufschlüsse über Wertungshierarchien und Deutungsmodelle vermitteln kann. Die Beobachtung solcher Ordnungszusammenhänge ist auch deswegen von so hohem Interesse, weil sich gerade hier charakteristische Differenzen und Divergenzen zwischen den einzelnen Wissensmilieus, also etwa zwischen jesuitischen und pietistischen Entwürfen, nachweisen lassen. KAPITEL 2: QUELLEN Neben der systematischen Verortung der Amerika-Rezeption nach regionalen Bildungslandschaften und soziokulturellen Milieus besteht ein Kernanliegen dieser Arbeit darin, bislang unerforschten Überlieferungssträngen nachzugehen. Wie bereits skizziert, ist das gegenwärtige Forschungsszenario der vormodernen Amerika-Wahrnehmungen äußerst heterogen. Der aktuelle Kenntnisstand hängt in hohem Maße von dem jeweils analysierten Quellenmaterial ab. Die Reiseberichte humanistischer Provenienz sind – entsprechend dem stark gewachsenen Interesse an der frühneuzeitlichen Reiseliteratur und ihrer Theorie (Apodemik) – in den beiden letzten Jahrzehnten auf enorme Resonanz gestoßen. In paradigmatischer Weise gebündelt, liegen sie etwa den Un-

41 42

Vgl. Schulze, Europa in der Frühen Neuzeit, 49. Vgl. Stagl, Geschichte der Neugier, 93; unter den Aspekten von Wissenssicherung und -ordnung vgl. Zedelmaier, Wissensmanagement.

Kapitel 2: Quellen

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tersuchungen von Wolfgang Neuber zu Grunde.43 Weitere Frühformen des atlantischen Wissenstransfers, etwa die Korrespondenzen der am – unmittelbar mit der iberischen Westexpansion einsetzenden – Überseehandel beteiligten süddeutschen Großunternehmen, sind eingehend beschrieben worden: Hier ist an die Fugger-Relationen aus dem Mittel- und Südamerika des 16. Jahrhunderts zu erinnern, deren zentrale Rolle für die Integration der Neuen Welt in den Vorstellungshorizont des habsburgischen Imperiums Renate Pieper programmatisch herausgestellt hat.44 Auf breite Beachtung sind außerdem das Zeitschriftenwesen und die diplomatische Korrespondenz gestoßen: Hier sei abermals auf die Pionierstudien von Volker Depkat und Horst Dippel verwiesen. Ähnliches gilt für die Auswanderer-Publizistik des 18. Jahrhunderts, die unter vielfältigen Fragestellungen – die Palette reicht von der Diskurs- bis zur Migrationsgeschichte – bearbeitet wurde.45 Geradezu kanonische Bedeutung für die aktuelle Forschungssituation haben die Kameralisten der norddeutschen (Universitäts-)Aufklärung gewonnen. Seit den Studien von Eugene Edgar Doll über das Verhältnis der frühneuzeitlichen Reichshistoriograſe zu den werdenden USA gilt es als unumstößliche Tatsache, dass erst ab den 1770er Jahren mit einer Amerikakunde sui generis zu rechnen sei, während die vorangegangenen Deskriptions- und Erfassungsbemühungen allenfalls den Rang antiquarischer Gelehrsamkeit beanspruchen könnten. Es sind die Namen von Friedrich Wilhelm von Taube, Matthias Christian Sprengel, vor allem aber von Gottfried Achenwall, Johann Wilhelm von Archenholtz und August Ludwig Schlözer, die in diesem Zusammenhang immer wieder als wissenschaftsgeschichtliche Kronzeugen aufgerufen werden und auf den uneinholbaren Vorsprung der aufklärerischen Staaten- und Landeskunde insbesondere Göttinger Prägung hinzuweisen scheinen.46 Wenn man den Gattungsbegriff der Amerika-Literatur breiter anlegt, dann eröffnet sich allerdings ein weites Feld neuer Quellen, deren historischer Wert für die Genese vormoderner Amerika-Bilder längst noch nicht in aller Klarheit erkannt worden ist. Insbesondere die Erzeugnisse der universalgeograſschen und weltgeschichtlichen Gelehrsamkeit – sie machen das Gros der frühneuzeitlichen Americana aus – bieten sich hier als Materialbasis für vielversprechende Explorationen an. Sicherlich ist nicht daran zu zweifeln, dass 43 44 45 46

Vgl. Anm. 8. Generell über Reiseberichte und Apodemiken Brenner, Reisebericht; Ertzdorff/Neukirch, Reisen und Reiseliteratur; Stagl, Geschichte der Neugier. Vgl. Anm. 10. Vgl. Diekmann, Lockruf der Neuen Welt; Fertig, Lokale Welt; Görisch, Warnung und Werbung. Vgl. Doll, American History, 454-464. Zur Kameralistik vgl. allgemein Seifert, Staatenkunde; speziell in Göttingen vgl. Jarausch, Institutionalization, 34f.; zu Achenwall vgl. Brückner, Staatswissenschaften, 257-265; zu Schlözer Peters, Altes Reich und Europa, 280-291.

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Teil 1: Einleitung

die späte Aufklärung den Formationsprozess der (wissenschaftlichen) Amerika-Wahrnehmung und -Deutung entscheidend geprägt hat (eben durch die Herauslösung des amerikanischen Themas aus den größeren globalen Bezügen und durch seine wissenschaftsdisziplinäre Isolierung in Form einer eigenständigen Amerikakunde/„Amerikanistik“).47 Dennoch muss man festhalten, dass die modernisierungstheoretisch begründete Fixierung auf die Aufklärung den Blick auf ältere und alternative Muster der Amerikabeschreibung verstellt hat. Auf der Ebene der konkreten Quellenarbeit wiederholt sich ein häuſger Systemfehler der allgemeinen Amerikaforschung. So konzentriert man sich oft auf Quellen, die für den „Beginn“ der amerikanischen Geschichte ab 1776 repräsentativ sein können. Im Vordergrund stehen jene Texte, die den Vorgang der US-amerikanischen Staatsbildung konzeptionell begleitet, ihn historisch nachbereitet und damit für das Reichspublikum intellektuell erschlossen haben: die Landesbeschreibungen über die britischen Kolonien und nachmaligen Bundesstaaten an der Ostküste, die Berichterstattung über den Unabhängigkeitskrieg, die deutschen Übersetzungen von zeitgenössischen Kriegspamphleten (sei es nun mit probritischer oder proamerikanischer Tendenz), die Unabhängigkeitserklärung oder amerikanische Staats- und Gesellschaftstheoretiker wie Benjamin Franklin und Thomas Jefferson. Dazu kommen die Augenzeugenberichte deutscher Kriegsteilnehmer, die ebenfalls zum traditionellen Quellenbestand der Amerikaforschung gehören – ob nun als Gegenstand editionswissenschaftlicher Unternehmen oder im Rahmen nachgelagerter monograſscher Analyse. Wenn nun gegenüber diesen Trendsettern der Überlieferung verstärkt die Universalgeograſe und Welthistoriograſe des 18. Jahrhunderts, damit also bislang verborgene Kanäle des frühneuzeitlichen Amerika-Wissens, in den Mittelpunkt rücken sollen, dann sprechen dafür nicht nur die Deſzite der Forschung. Neben dem negativen Befund gibt es auch positive Gründe, die die geograſsche und historische Gelehrtenkommunikation zu einem lohnenswerten Untersuchungsobjekt machen: Beide Wissenszweige verzeichneten nach dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs einen markanten Aufschwung, der von der Erneuerung und immer breiteren Diversiſkation der Bildungslandschaften im Reich proſtieren konnte. Ältere humanistische Wissenschaftstraditionen adaptierend und ergänzend, entwickelten sich beide Genera zu einem bevorzugten Arbeitsfeld der monastischen, städtisch-bürgerlichen, aber auch universitären und höſschen Gelehrsamkeit. Der Ausbau des akademischen Schulwesens auf allen Ebenen – von den Lateinschulen bis hin zu den Universitäten – schuf die Voraussetzungen für diese Expansion, die eine hohe Nachfrage nach entsprechenden Lehrbüchern zur Folge hatte. In Süddeutschland regte zudem das starke Wachstum des klösterlichen Bibliothekswesens – bei den alten Ordens- und Kanonikergemeinschaften (Benediktinern und Augus47

Vgl. Doll, American History, 467-471.

Kapitel 2: Quellen

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tiner-Chorherren) ebenso wie bei den neuen Kommunitäten der katholischen Reform (Jesuiten) – die Produktion geograſscher und historischer Literatur an. Denn einerseits bildeten die Klosterbibliotheken wichtige Ressourcen für diese Art der Wissenschaftspƀege; andererseits hatten sie als Abnehmer der einschlägigen Werke auf dem zeitgenössischen Buchmarkt eine bedeutsame ökonomische Rolle.48 Auch unter wissenschaftsgeschichtlichen Gesichtspunkten lässt der Ausgriff auf die genannten Quellenfelder gewinnbringende Einsichten erwarten. Die Geograſe zählte seit der Einrichtung entsprechender Lekturen an den Universitäten des 17. Jahrhunderts zu den besonders innovativen Disziplinen.49 In Ablösung des kosmograſschen Modells formulierte sie ein neuartiges Muster der Weltbeschreibung, indem sie ein speziſsches Orientierungsraster lieferte. Unter dem Eindruck der sich gerade im Zusammenhang mit den europäischen Entdeckungen erweiternden Wissenswelten war die Kosmograſe wegen ihrer geringen Differenzierungsfähigkeit in die Krise geraten. Die Geograſe bot hier Abhilfe durch eine betont enzyklopädische Herangehensweise. Aufgrund ihrer engen disziplinären Verbindung mit der Mathematik und Astronomie vermittelte sie ein Klassiſkationsmodell, das in die Vielfalt der nach Europa einströmenden Erkenntnisse Übersichtlichkeit und Ordnung zu bringen versprach.50 Doch auch die Welt- und Reichsgeschichtsschreibung ist eine ergiebige Ressource für die Rekonstruktion der Amerika-Diskurse in Barock und Aufklärung. Obwohl diese Gattung wegen ihres beharrlichen Festhaltens an der Tradition, etwa der Latinität und der danielischen Vier-Reiche-Lehre, oder wegen ihres stark reichstheologisch akzentuierten Ansatzes vor dem Hintergrund der geschichtstheoretischen Umwälzungen des 18. Jahrhunderts – der Säkularisierung und kameralistischen Überformung der Historiograſe – immer wieder dem Verdacht notorischer Modernitätsresistenz ausgesetzt ist, kann gerade sie weiterführende Aufschlüsse geben.51 Im Hinblick auf das Amerika-Problem wandelt sich ihre scheinbare Rückschrittlichkeit in einen handfesten methodologischen Vorteil: Wie das Verhältnis von Amerika und Europa gesehen, ab wann überhaupt die Neue Welt als historisch relevanter Faktor für die welt-, europa-, reichs- und landespolitische Entwicklung wahr48 49 50 51

Vgl. A. Schmid, Bayerische Klosterbibliotheken; Garberson, Monastic Libraries. Vgl. Dainville, Géographie des humanistes, 23-35; Livingstone, Geographical Tradition; Lutz, Geographie und Statistik. Zur Wende von „Kosmograſe“ zu „Geograſe“ (Geographia universalis/generalis) vgl. Lestringant, Déclin, 255f.; Portuondo, Secret Science, 257-298; K. A. Vogel, Cosmography, 491-493. Vgl. allgemein zur Universalgeschichtsschreibung im 17. und 18. Jahrhundert Muhlack, Geschichtswissenschaft (eher negativ); Völkel, Geschichtsschreibung, 201-204 (positiv); Seifert, Cognitio historica; Hille, Providentia Dei, 215-231. Zur Wirkung der Entdeckungen auf das Genre der traditionellen historia universalis vgl. Breisach, Historiography, 178f.; Grafton, New Worlds.

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Teil 1: Einleitung

genommen wurde, wie man die religions-, sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Wirkungen des vierten Kontinents einschätzte – diese Fragen lassen sich wesentlich leichter aus der Universalchronistik beantworten als aus der programmatisch staatenkundlich inspirierten Geschichtsschreibung, also der Amerikakunde im engeren Sinn. Denn der klassischen Welthistorie musste es als grundsätzlich integrativ verfahrender Geschichtskonzeption in besonderer Weise um die Probleme der transkontinentalen Interdependenzen, das heißt um die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Völkern und Nationen, Staaten und Kulturen, gehen.52 Die Horizonte waren von vornherein auf das Ganze und Globale ausgerichtet, während sich die „nationalstaatlich“ angelegte Historiograſe bevorzugt auf das Punktuelle konzentrierte – zwar mit dem Gewinn höherer inhaltlicher Detailgenauigkeit und Treffsicherheit, dafür aber um den Preis regionaler Verengung. Am Ende dieser zweiten, bis heute weithin maßgeblichen Interpretationslinie stand nämlich die Beschränkung auf die USA – wobei deren Entwicklung zunehmend als singuläres Phänomen der Menschheitsgeschichte verstanden wurde. Indem man die Vereinigten Staaten zunehmend als Bewegungszentrum aller (welt-)historischen Vorgänge identiſzierte, verkürzten sich die Perspektiven auf den Norden der Neuen Welt.53 Mit dem hier vorgeschlagenen Quellencorpus ist daher nicht nur Licht auf bis dato vernachlässigtes Material geworfen. Aus methodischer Sicht wird es auch möglich sein, Wahrnehmungs- und Deutungsalternativen zum Nordamerikanisierungsdiskurs zu ermitteln. Oder anders gewendet: Die universalgeograſsche und weltgeschichtliche Überlieferung des 18. Jahrhunderts ist in besonderem Maß dazu geeignet, die Pluralität der zeitgenössischen AmerikaVorstellungen zu entschlüsseln und damit ein Kernproblem der nachfolgenden Erörterungen zu lösen. Neben der Unterteilung nach Wissensmilieus wird deshalb die Gliederung nach universalgeograſschen und welthistorischen Deutungen das Gerüst der Arbeit maßgeblich bestimmen. Auf diese Weise sollen über einhundert Texte von rund 60 Autoren einer eingehenden Betrachtung unterzogen werden. Diese Auswahl folgt harten Relevanzkriterien. Entscheidend für die Aufnahme eines Autors in das Textensemble ist vor allem seine Repräsentativität im Hinblick auf die jeweilige Fachrichtung, auf das entsprechende Kommunikationsmilieu sowie auf den speziſschen kulturellen und sozialen Kontext. Die materiellen und intellektuellen Qualitäten seines Œuvres liefern weitere Kriterien. Im Gesamtpanorama können einzelne Protagonisten stärker hervortreten als andere. Dies ist immer dann der Fall, wenn sich in einer Figur jeweils charakteristische Diskurs- und Wahrnehmungstendenzen idealtypisch verdichten. Grundsätzlich ist aber 52 53

Vgl. Burke, Rewriting, 40-47; Völkel, Geschichtsschreibung, 251-275. Zur semantischen Auƀadung des nordamerikanischen Raums mit den Werten von Freiheit und Gleichheit im europäischen Diskurs der 1770er Jahre vgl. Greene, Intellectual Construction, 130-161; Rinke, Bedeutungswandel; Depkat, Geschichte, 5-7.

Kapitel 2: Quellen

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Ausgewogenheit angestrebt. Nicht nur Pretiosen der Höhenkammliteratur, sondern auch Flächentexturen – Werke der zweiten und dritten Reihe – sollen Berücksichtigung ſnden. Und noch ein Punkt sei angesprochen: Mit der Unterscheidung zwischen geograſschen und historiograſschen Werkgruppen ist keine künstliche oder gar anachronistische Trennung im Sinne einer modernen Disziplinentypologie beabsichtigt. Im Bewusstsein der Epoche bewegten sich beide Erkenntnistraditionen in einem engen sachlichen Zusammenhang. Schon aufgrund ihrer gemeinsamen Herkunft aus dem Fächerverbund der mittelalterlich-humanistischen artes liberales bestanden hier methodologische und konzeptionelle Konvergenzen, die im Zeichen der „geohistorischen“ Interessen der Aufklärung sogar eine neue Aufwertung erfuhren.54 Oftmals agierten frühneuzeitliche Autoren – ihrem Selbstverständnis als Universalgelehrte entsprechend – auf beiden Feldern gleichermaßen erfolgreich. In dem hier entfalteten Untersuchungsrahmen sind etwa die Jesuiten oder – für die protestantische Seite – der in Altdorf und Göttingen lehrende Professor Johann David Köhler zu nennen. Allerdings zeichnen sich auch Tendenzen ab, die eine „disziplinäre“ Aufteilung der Textgruppen als sinnvoll erscheinen lassen: Ein Indiz für die schrittweise Ausdifferenzierung zwischen geograſscher und historischer Perspektive zeigt sich etwa in den Werktitulaturen. Hier wird meist in aller Deutlichkeit zwischen beiden Wissenstypen, das heißt zwischen der Geographia universalis/Universalgeograſe auf der einen und der Historia universalis/ Weltgeschichte auf der anderen Seite, unterschieden (diese Art der Selbstdeſnition soll daher für die Zuweisung der einzelnen Texte zu der einen bzw. anderen Gruppe ausschlaggebend sein). Hinzu kommt ein theoretischer Umstand: Die Geograſe strebte in aller Regel eine umfassende Ordnungssynthese an. Die Geschichtsschreibung versuchte hingegen, den kontinuierlichen Fortgang der Ereignisse zu dokumentieren, weshalb bei den Historiografen des späten Ancien Régime chronikalische Darbietungsformen immer noch sehr beliebt waren. Häuſg erschienen deren Werke auf periodischer Basis (manchmal über den Zeitraum von mehreren Jahrzehnten hinweg). Diese unterschiedlichen hermeneutischen Ausgangsbedingungen hatten selbstverständlich Folgen für die konkrete Ausgestaltung der jeweiligen Amerika-Diskurse. Auch deshalb ist zwischen geograſscher und historischer Wahrnehmungsebene genau zu differenzieren. Insgesamt gesehen, sollen jedoch die Quellenfelder nicht zu eng gefasst werden. Denn unter dem Namen der geograſschen und historischen Weltbeschreibung verbargen sich im 18. Jahrhundert vielfältige Textsorten. Neben den deskriptiven Ansätzen, die eine handbuchartige Synthese des Wissens anstrebten, war etwa das lexikograſsche Muster weit verbreitet. Das Ziel die54

Zu den bildungs- und wissenschaftsgeschichtlichen Implikationen für das humanistische Curriculum vgl. Seifert, Schulwesen, 237-239; für das spätere 18. Jahrhundert vgl. Rudwick, Limits of Time, 181-291.

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Teil 1: Einleitung

ser Bemühungen bestand darin, die Fülle der gelehrten Erkenntnis in überschaubare, allgemein verständliche und wissensökonomisch leicht abrufbare Formen zu bringen. Diese Nachschlagewerke, meist als so genannte „Zeitungslexika“ einer programmatisch wissenspopularisierenden Absicht verpƀichtet, wandten sich nicht nur an ein ausgewähltes Fachpublikum, sondern orientierten sich auch an den Bedürfnissen der Allgemeinbildung. Bislang vor allem unter sprach- und literaturwissenschaftlichen Aspekten beachtet (so etwa im Zusammenhang mit der Frage nach den mediengeschichtlichen Voraussetzungen der Alphabetisierung während der Aufklärung55), interessiert sich die Forschung zunehmend für diese Exponenten der Gelehrtenkultur. Gerade in der kulturgeschichtlichen Rezeptionsforschung ſndet der Typus der „Volksenzyklopädik“ – beispielsweise im Hinblick auf seine Bedeutung für die Ausbildung von ethnograſschen oder nationalen Stereotypen – starken Widerhall.56 Hier ist das Genre vor allem mit drei Autoren vertreten: den topograſschen Nachschlagewerken des Pfalz-Sulzbacher Rats Johann Heinrich Seyfried, dem vorwiegend geograſsch ausgerichteten Zeitungslexikon von Wolfgang Jäger und einem Werk des Augsburger Buchdruckers Matthias Rieger.57 Ein Großteil des frühneuzeitlichen Wissens über die außereuropäischen Kulturen wurde im Genus des Reiseberichts vermittelt.58 Das hier entfaltete Quellenpanorama macht keine Ausnahme von dieser Regel. Tatsächlich handelt es sich bei zahlreichen Amerika-Texten aus Süddeutschland um Reisebeschreibungen. Vor allem gilt dies für die Beiträge der Jesuiten und Pietisten, die sich stark auf die Edition von Missionskorrespondenzen und damit auf die Wiedergabe von aus Reiseerfahrungen gewonnenen Dokumenten spezialisiert hatten. Der Neue Welt-Bott des Jesuiten Joseph Stöcklein und die Ausführlichen Nachrichten über das lutherische Siedlungsprojekt in Eben-Ezer von Samuel Urlsperger bilden wohl die beiden wichtigsten derartigen Veröffentlichungen. Ebenso griffen die nordamerikanischen Tagebücher von Johann David Schöpf, des Ansbacher Militärmediziners und Teilnehmers am amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, auf das populäre, breite Publikumsresonanz versprechende Modell des Reiseberichts zurück. Trotz ihres individuellen, auf die Authentizität der persönlichen Erfahrung abhebenden Stils verfolgen diese Amerika-Schriften primär wissenschaftliche Absichten. In ihrem konzeptionellen Aufbau werden Fragestellungen und Verständnisebenen sichtbar, die eindeutig auf die speziſschen Verwertungszwecke des gelehrten Diskurses zugeschnitten sind. Um dies nur an zwei Beispielen näher zu illus55 56 57 58

Zur Literatur vgl. Kapitel 10. Vgl. Böning, Weltaneignung, 132. Zur „Lexikograſe“ als Quelle für Nationalstereotypen vgl. Gerstenberger, Iberien, 41-68; vgl. grundsätzlich Brückner, Fremdheitsstereotypen. Vgl. Kapitel 10. Vgl. Ertzdorff/Giesemann, Erkundung und Beschreibung.

Kapitel 2: Quellen

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trieren: In den Tagebüchern von Schöpf spielen geologische Beobachtungen eine wichtige Rolle; in den von Stöcklein abgedruckten Missionsbriefen werden immer wieder die religiösen Bedingungen in der Neuen Welt beschrieben. Bei Schöpf färben also geograſsche Erkenntnismotive den Wahrnehmungshorizont; bei Stöcklein ist ein zeit- und kulturgeschichtliches Informationsmoment bestimmend. Es ist daher gerechtfertigt, diese Formen der überseeischen Reiseberichterstattung nicht mehr als „eigene“ Gattung, sondern – ähnlich wie die lexikograſschen Werke des 18. Jahrhunderts – als Bestandteile einer gleichermaßen enzyklopädischen wie disziplinären, eben einer geograſschen oder historiograſschen Schreibtradition zu betrachten.59 Zuletzt noch ein Wort zu den hier verwendeten Archivbeständen: Auch wenn in dieser Untersuchung hauptsächlich Druckerzeugnisse Gegenstand der Auswertung sind, kann doch auf die Einbindung handschriftlicher Überlieferung nicht verzichtet werden. Im Großen und Ganzen sind es drei Quellengruppen, die ergänzende Einsichten erwarten lassen: erstens nur im Manuskript erhaltene Primärtexte, das heißt geograſsche oder chronikalische Amerika-Schriften, die nie den Weg an die breitere Öffentlichkeit gefunden haben. Dies betrifft fast ausschließlich den Kreis der kurbayerischen Hofgelehrten, deren wissenschafts- und kommunikationsgeschichtlicher Sonderfall weiter unten ausführlich diskutiert wird.60 Zweitens ist hier an die gelehrte Kommunikation im engeren Sinn zu denken, also vor allem an die Korrespondenzen, die zwischen der Alten und Neuen Welt, zwischen süddeutschen und (nord-) amerikanischen Intellektuellen zirkulierten. An dieser Stelle soll es weder um die technischen noch um die institutionellen Wege der transatlantischen Kommunikation gehen. An eine vollständige Rekonstruktion der Beziehungsmilieus und deren Schriftverkehr ist nicht gedacht. Gleichwohl bieten die Briefnachlässe einzelner herausragender Persönlichkeiten oder auch ganzer Institutionen die Möglichkeit zu wertvoller Vertiefung – sei es nun in rezeptionsgeschichtlicher, biograſscher oder auch nur bibliograſscher Hinsicht: Zu nennen ist der Briefwechsel von Benjamin Franklin, der auch mit süddeutschen Persönlichkeiten in Kontakt stand (die umfassenden, größtenteils in der Bibliothek der American Philosophical Society in Philadelphia aufbewahrten Korrespondenzen des Politikers bilden so etwas wie das erste papierne Gedächtnis der frühen USA und sind deswegen von höchster Bedeutung für jede Art von Forschung, die sich mit dem frühneuzeitlichen Amerika befasst).61 Eine ähnlich herausragende Rolle haben die Missionsbriefe aus der oberdeut59 60 61

Vgl. U. J. Schneider/Zedelmaier, Wissensapparate. Zur Enzyklopädik vgl. Stammen/ Weber, Wissenssicherung. Vgl. Kapitel 18. Zwar liegt mittlerweile eine Auswahledition der Franklin-Briefe vor (Papers of Benjamin Franklin). Zahlreiche deutsche Betreffe sind hier jedoch nicht oder nur in Regestenform berücksichtigt, weshalb der Rückgriff auf den Originalbestand erforderlich ist: Vgl. Overhoff, Franklin, 21f., 306.

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Teil 1: Einleitung

schen Jesuitenprovinz im Münchner Hauptstaatsarchiv. Mit ihrer Hilfe lassen sich die amerikakundlichen Aspirationen der süddeutschen Societas Jesu breit ausleuchten. Drittens: Ein weiteres Archivalienspektrum bezieht sich auf das biograſsche Verfasserproſl. Dabei wurde keine Vollständigkeit anvisiert – was bei einer Gesamtzahl von mehr als 60, über den ganzen süddeutschen Raum verteilten Autoren kaum zu leisten wäre. Vielmehr steht auch hier der Gedanke der Vertiefung im Einzelfall im Vordergrund.62

62

Grundsätzlich ist zu bemerken, dass bei deutschen und fremdsprachlichen Quellenzitaten die historische Schreibweise beibehalten wurde.

TEIL 2: GELEHRTENKULTUR UND AMERIKA-WISSEN IN SÜDDEUTSCHLAND KAPITEL 3: VORAUSSETZUNGEN FÜR AMERIKA-WAHRNEHMUNG Wenn man die Beziehungen zwischen Süddeutschland und Amerika während des 18. Jahrhunderts systematisch ordnet, dann schälen sich zwei Grundtypen der Kontaktnahme heraus: Einerseits sind Zusammenhänge zu erkennen, die auf langfristig wirksamen Bindungen beruhten. Diese Kontakte verfügten über feste organisatorische Formen, erreichten eine gewisse institutionelle Dichte und konnten sich auf speziſsche mentale, kulturelle oder ideelle Konstanten stützen. Dauerhafte Netze über den Atlantik hinweg zu spannen, gleichsam eine Brücke im Sinne des „bridging the gap“ einzurichten (um eine eingängige Metaphorik der Atlantic History aufzugreifen1) – diese Merkmale bestimmten den ersten Verbindungstypus. Andererseits wird man von Verknüpfungsformen ausgehen müssen, die einen eher ephemeren Charakter trugen. Ihnen fehlte das Moment der Kontinuität. Oder noch einmal anders formuliert: Sie blieben von kurzer Reichweite; eine Strategie langfristiger Beziehungswahrung ist nicht zu beobachten, weshalb man sie als punktuelle Begegnungen, als räumlich und zeitlich eng umgrenzte Kontakte beschreiben kann.2 Auf der Grundlage dieser Vorsondierungen lässt sich eine historische Hierarchie des süddeutsch-amerikanischen Austauschs im Zeitalter von Barock und Aufklärung erstellen, abgestuft nach der Intensität der Verbindungen. Eine hohe transatlantische Verdichtung zeigt sich im Bereich des ökonomischen und kirchlich-religiösen Transfers. Hingegen ergaben sich aus den transatlantischen Migrationsbewegungen des 18. Jahrhunderts kaum engere Beziehungen: Wenn man von den heute zu Bayern gehörenden Gebieten ausgeht, dann war Süddeutschland nur partiell von der frühneuzeitlichen Amerika-Auswanderung betroffen. Ähnliches gilt für die politischen Globalvernetzungen des späten Ancien Régime, an denen der Süden des Reichs zunächst wenig beteiligt war. Erst nach der Revolution von 1776 änderte sich die Ausgangslage; es kam zu einer auch in Kurbayern und dessen Nachbarterritorien spürbaren Intensivierung der Verbindungen. 1 2

Vgl. Beiler, Bridging the Gap. Diese Typologie bezieht sich auf Überlegungen bei Pyrges, Religion in the Atlantic World, 52-57.

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Teil 2: Gelehrtenkultur und Amerika-Wissen in Süddeutschland

Es kann an dieser Stelle selbstverständlich nicht darum gehen, eine vollständige Bestandsaufnahme der historischen Beziehungen zwischen Süddeutschland und Amerika zu erarbeiten. Im Mittelpunkt der Überlegungen steht vielmehr die Frage nach den Faktoren der Rezeption: Auf welchen politischen, kulturellen, ökonomischen oder sozialen Konstellationen basierte die süddeutsche Amerika-Wahrnehmung? Gab es so etwas wie ein historisches Klima, das entsprechende Interessen positiv unterstützte? Wirtschaft Die süddeutschen Reichsstädte, allen voran Augsburg und Nürnberg, partizipierten seit dem 16. Jahrhundert intensiv am überseeischen Handelsaustausch in der westlichen Hemisphäre.3 Die großen Augsburger Fernhandelshäuser um die Familien Rehm und Fugger sowie das in Augsburg und Nürnberg stationierte Unternehmen der Welser hatten an der ökonomischen Expansion Europas nach Westen wesentlichen Anteil. Die Initiativen der schwäbischfränkischen Kauƀeute konzentrierten sich auf den spanischen und portugiesischen Teil der Neuen Welt. Um nur einige markante Zusammenhänge zu benennen: Die Welser richteten 1526 auf Santo Domingo eine Faktorei ein. Außerdem wirkten sie an der kolonialen Erschließung von Venezuela durch die Spanier mit. Die Fugger verfügten über enge Kontakte nach Mexiko und Panama. Zudem unterhielten sie intensive Verbindungen in die Region um den Rio de la Plata, wo sie zusammen mit den Welsern eine maßgebliche Rolle bei der Gründung von Buenos Aires spielten.4 Für die hier primär interessierende rezeptionsgeschichtliche Perspektive ist es von Belang, dass diese vielfältigen Beziehungen in umfassende Informationsaktivitäten einmündeten. Insbesondere die Fugger nutzten die Infrastrukturen ihres aus europäischen, amerikanischen und asiatischen Filialen bestehenden Faktoreisystems, um die Reichseliten, das heißt den Kaiser ebenso wie verschiedene Territorialfürsten und selbstverständlich auch die reichsstädtischen Führungsschichten, mit Nachrichten aus aller Welt zu versorgen. Inhaltlich waren diese so genannten „Fuggerzeitungen“, die aus handschriftlich überlieferten Berichten periodischen Zuschnitts bestanden, nicht nur dem ökonomischen Themenbereich verpƀichtet. Vielmehr überstiegen sie den Charakter einer bloß ſrmeninternen Geschäftskorrespondenz, indem sie ihrem Adressatenkreis eine breite, von naturkundlichen über ethnograſsche bis zu kulturellen und politischen Beobachtungen reichende Informationspalette boten.5 Von kommunikationsgeschichtlicher Warte aus betrachtet ist es 3 4 5

Vgl. Reinhard, Geschichte I, 95-97. Vgl. Kellenbenz, Neue und Alte Welt, 14-29; Wüst, Lateinamerika-Mission. Vgl. zu den Fuggerzeitungen Pieper, Vermittlung, 30f.; Zwierlein, Discorso, 574-610. Zu ihrer Rolle im europäisch-amerikanischen Kontakt vgl. Pieper, Berichterstattung;

Kapitel 3: Voraussetzungen für Amerika-Wahrnehmung

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entscheidend, dass die Fäden dieses Informationsnetzes in Augsburg zusammenliefen.6 Bereits während des 16. Jahrhunderts fungierte die Reichsstadt als Knotenpunkt der amerika- wie überhaupt länderkundlichen Wissensdiffusion. Damit waren Voraussetzungen gegeben, die der Metropole auch auf dem Gebiet der neuen Medien, dem Buchdruck, einen wesentlichen Vorsprung sichern konnten. 1512 erschien bei dem Augsburger Verleger Erhard Öglin die Neue Zeitung aus Bresilgland, eine Beschreibung einer portugiesischen Expedition nach Brasilien und damit einer der frühesten deutschen Drucke über die Neue Welt.7 Auch wenn der Dreißigjährige Krieg scharfe wirtschaftliche Einschnitte für die reichsstädtischen Handelsmetropolen in Oberdeutschland zur Folge hatte und darunter die interkontinentalen Verbindungen stark litten, wirkten doch die Amerika-Beziehungen der humanistischen Epoche als bewusstseinsformende Wissenstraditionen fort. Um bei dem besonders aussagekräftigen Fall von Augsburg zu bleiben: Über die tiefen Umbrüche des Dreißigjährigen Kriegs hinweg lassen sich hier zwar keine direkten Kontinuitäten von den Fuggerzeitungen des 16. Jahrhunderts bis zu den zahlreichen Amerika-Drukken des 18. Jahrhunderts ziehen. Gleichwohl war die Neue Welt im reichsstädtischen Horizont weiterhin verankert. Sie blieb als lohnendes Feld wirtschaftlichen Handelns präsent. Beispielsweise trat ab 1780 eine Gruppe von Augsburger Geschäftsleuten an Benjamin Franklin heran, um die Möglichkeiten bilateraler Wirtschaftsbeziehungen zwischen den völkerrechtlich noch nicht anerkannten USA und der schwäbischen Reichsstadt auszuloten. Bei einem der Protagonisten, dem Kameralrat Johann Thaddäus von Esch, handelte es um einen hochrangigen Repräsentanten der reichsstädtischen Verwaltung. Zwischen Dezember 1780 und Oktober 1782 bot sich Esch zusammen mit seinen sechs Söhnen den USA mehrfach als Agent („chargé d’Affaire“) für Dienste in allen Fragen des politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Austauschs („pour les matières de Politique, Commerce & Jurisprudence“) mit den Reichsstädten an („avec les principales villes d’Allemagne“).8 Ein interessanter Fall ist auch der ursprünglich aus Lüttich stammende Waffenproduzent Jacques Lambert Ransier, der sich während der frühen 6 7

8

Wellenreuther, Niedergang. Zu dieser Kommunikation, die über das Taxische Hauptpostamt in Augsburg abgewikkelt wurde, vgl. Pieper, Vermittlung, 60-62; Karnehm, Korrespondenznetz. Vgl. Kellenbenz, Neue und Alte Welt, 3; Künast, Buchdruck und Buchhandel, 249. Zum Genre der „Neuen Zeitung“ als Vermittlungsinstrument von amerikakundlichem Wissen vgl. Brednich, Flugblatt. Hinzuweisen ist hier auch auf den Straubinger Amerika-Fahrer Ulrich Schmidl, einen der wichtigsten Vertreter des humanistischen Amerika-Interesses in Altbayern. Vgl. dazu W. Friedrich, Reisebeschreibung; Obermeier, Schmidel. APSL Franklin Papers LIX, 75 (Johann Thaddäus von Esch an Franklin, 1780 XII 4) [Regest in: Papers of Benjamin Franklin 34, 70]; XXVI, 65 (ders. an Franklin, 1782 XI 16) (hier die Zitate); LIX, 51 (ders. an Franklin, 1782 XI 16).

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Teil 2: Gelehrtenkultur und Amerika-Wissen in Süddeutschland

1780er Jahre ebenfalls von Augsburg aus an Franklin wandte, um dem Politiker und Gelehrten ein Angebot für den Verkauf von Pistolen („pistolets“) an die US-Armee zu unterbreiten.9 Ransier verfolgte mit seinem Angebot ausgesprochen ambitionierte Pläne: Er schlug Franklin den Bau von mehreren Fabriken in den USA vor – nicht nur für die Herstellung von Waffen, sondern auch von Seifen, Destillaten und Parfüms. Außerdem verwies er auf seine vielfältigen Erfahrungen im Handel mit Stoffen, Seidenstickereien und Schmuckwaren, also Produkten, von denen er sich in der neuen amerikanischen Republik ebenfalls gute Absatzchancen versprach.10 Obschon über den Erfolg dieser beiden Initiativen nichts in Erfahrung zu bringen ist, kristallisiert sich doch in den Augsburger Korrespondenzen das ökonomische Vermittlungsmotiv als einer der Kernimpulse für den süddeutsch-amerikanischen Austausch deutlich heraus.11 Mission Ein weiteres Moment von hoher Kohäsionskraft bildeten die Missionsinitiativen und religiös motivierten Auswanderungsbewegungen des 18. Jahrhunderts. Zunehmend setzt sich in der Forschung die Überzeugung durch, dass der euro-amerikanische Raum ganz wesentlich von kirchlichen und religiösen Kontakten bestimmt, ja geradezu konstituiert wurde. Neben der ökonomischen Bedeutung (deren beziehungsstiftende Wirkung unbestritten ist) rückt nun auch die lange vernachlässigte geistliche Dimension, die „spiritual importance“ der interkontinentalen Kommunikation verstärkt in das Blickfeld.12 Diese Überlegungen beziehen sich vor allem auf die transnational operierenden Gemeinschaften der Quäker und mährischen Brüder (Moravians, Herrnhuter), Gruppen aus dem Umfeld der Täuferbewegung (Mennoniten, Hutterer), aber auch die deutschen Pietisten, die ihrerseits eng mit den anglikanischen Missionsbestrebungen in der Neuen Welt verbunden waren.13 Im 9 10 11 12

13

APSL Franklin Papers XIX, 16 (Jacques Lambert Ransier an Franklin, 1783 VII 7). Ransier wanderte später nach Charleston in South Carolina aus. Dazu Kennedy, French Jacobin Club, 8, 22. Vgl. APSL Franklin Papers XIX, 16 (Jacques Lambert Ransier an Franklin, 1783 VII 7). Zu weiteren transatlantischen Wirtschaftskontakten von Augsburger Firmen (Handelsund Bankhaus der Obwexer) vgl. Häberlein/Schmölz-Häberlein, Erben der Welser. Butler, Spiritual Importance; vgl. ferner Porter, Religion, 15-38; Roeber, Waters of Rebirth; Ward, Protestant Evangelical Awakening, 44-46; Wellenreuther, Welt des 18. Jahrhunderts; Vaccaro, Evangelizzazione del Nuovo Mondo. Zu den religiösen Exulanten als Kommunikatoren von überseeischem Wissen vgl. die Beiträge bei Lachenicht, Religious Refugees. Vgl. Dunn/Dunn, William Penn (Quäker); Gillespie/Beachy, Pious Pursuits; Mettele, Weltbürgertum, 113-190 (Mährische Brüder); Schlachta, Hutterer (Täufer); Strom/Lehmann/Melton, Pietism; Wellenreuther, Ausbildung, 138f. (Pietisten).

Kapitel 3: Voraussetzungen für Amerika-Wahrnehmung

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Zentrum der Betrachtung stehen also einerseits die Verhältnisse in BritischAmerika, andererseits die Entwicklungen innerhalb des Protestantismus, dessen heterodoxen Strömungen (dissent) die genannten Gruppierungen zuzuordnen sind.14 Mit Blick auf die süddeutschen Verhältnisse ist freilich vor Verkürzungen zu warnen: Zwar gingen vom Süden des Alten Reichs wesentliche Anstöße zur religiösen Verƀechtung unter dem Vorzeichen der protestantischen Erweckungsbewegungen aus. Zu denken ist nur an den aus Franken stammenden Pietisten Franz Daniel Pastorius, der als Gründer der ersten deutschen Kolonie in Nordamerika (Germantown bei Philadelphia) gilt.15 Darüber hinaus ist der Augsburger Geistliche Samuel Urlsperger und dessen umfassendes publizistisches Engagement für die nach Georgia exilierten Salzburger Protestanten zu erwähnen.16 Gleichwohl fehlt in dem bisherigen Forschungsszenario eine eingehende Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche und ihrem Beitrag zur Entstehung eines transatlantischen Kommunikationssystems. Gerade der süddeutsche Raum hatte aber – im Rahmen der frühneuzeitlichen Missionsgeschichte – eine solide Basis für katholische Verbindungen nach Amerika zu bieten. Vor allem muss man die Jesuiten nennen. Als ausgewiesene Experten für Globalität – die kulturelle Grenzüberschreitung im Namen von Gott- und Welterkenntnis, von Mission und Seelsorge gehörte zum Lebensideal dieses Ordens – waren sie wie nur wenige frühneuzeitliche Organisationen dazu in der Lage, ein dauerhaft funktionierendes, interkontinentales Institutionen- und Kommunikationsgefüge aufzubauen.17 In dieses Netzwerk war auch die oberdeutsche Ordensprovinz (Germania Superior) fest integriert. Die das Kurfürstentum Bayern und die angrenzenden Territorien in Schwaben und Teile der Schweiz abdeckende Provinz beteiligte sich beispielsweise intensiv an der Evangelisierung der Indigenen in den Kolonien von Spanisch-Amerika – wobei die Entsendung von Missionaren eine zentrale Rolle spielte. Welche Ausmaße dieser Personentransfer von Süddeutschland nach Amerika erreichte, lässt sich sogar quantitativ genau bestimmen. So hat man für die Periode zwischen 1670 und 1759 – bis zur Unterdrückung der Jesuiten in den spanischen Kolonien – die Zahl von knapp 200 Missionaren und damit die bei Weitem höchste Entsendequote innerhalb der fünf deutschsprachigen

14 15 16 17

Bis auf die Pietisten, die nicht zum dissentierenden Protestantismus im strengen Sinn gerechnet werden können. Vgl. zu den einzelnen Strömungen im frühneuzeitlichen Protestantismus Gestrich, Barock, 411-419. Vgl. zu Pastorius NDB 20 (2001) 97f. Zu Germantown Wolf, Urban Village, 23-57. Literaturhinweise in Kapitel 15. Zuletzt in der Forschung breit diskutiert: M. Friedrich, Arm Roms; Gagliano/Ronan, Jesuit Encounters; Hausberger, Gott und König; Meier, Totus mundus; speziell für Asien (Indien) Lederle, Mission und Ökonomie.

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Teil 2: Gelehrtenkultur und Amerika-Wissen in Süddeutschland

Provinzen der frühneuzeitlichen Societas Jesu ermittelt.18 Für die Ausbildung der Aspiranten, der so genannten Indipetae19, hatte die oberdeutsche Ordensleitung zu Beginn des 18. Jahrhunderts ein eigenes Seminar in Landsberg am Lech eingerichtet. Hier wurden die Kandidaten für ihre künftigen Aufgaben qualiſziert. Neben der religiösen und intellektuellen Prägung legte man auch auf die Förderung musikalischer, handwerklicher und pharmazeutischer Kenntnisse besonderen Wert. Inspiriert von der Konzeption der jesuitischen Akkommodationstheorie, also von der Idee, dass das Christentum nur durch Anpassung an die jeweilige indigene Kultur vermittelt werden könne (ohne dabei jedoch seinen theologischen Kern zu verändern), sollte die Ausbildung die Kandidaten auf den rechten Umgang mit dem Fremden und Anderen vorbereiten. Das Landsberger Missionsnoviziat verdient deswegen besonderes Interesse, weil sich hier so etwas wie die Ausprägung eines interkulturellen Qualiſzierungs- und Professionalisierungsproſls beobachten lässt.20 Im reichsweiten Kontext ist kaum Vergleichbares zu ſnden. Einen ähnlichen Ansatz verfolgte – in Reaktion auf die offensichtlichen Rekrutierungs- und Missionserfolge der Jesuiten – allenfalls die pietistisch geprägte Missionarsausbildung der Francke’schen Stiftungen in Halle. Die Bedeutung des Landsberger Missionsnoviziats zeigt sich aber auch noch in sozialgeschichtlicher Hinsicht. Die Kandidaten stammten zumeist – wie der jesuitische Ordensnachwuchs insgesamt – aus bürgerlichen und unterbürgerlichen Schichten. Überraschend hoch ist der Anteil von Handwerkersöhnen. Sie bildeten ein wesentliches Rekrutierungsreservoir des Missionsnoviziats.21 So konnten die Jesuiten Bevölkerungskreise gewinnen, die sonst von der globalen Kommunikation ausgeschlossen gewesen wären. Neben dem Reiz neuartiger Welterfahrungen versprachen die amerikanischen Niederlassungen der Societas Jesu ungeahnte, in Alteuropa kaum zu erreichende Berufsmöglichkeiten. Die Mission erzeugte einen enormen Bedarf an gut ausgebildeten Professionalisten: Wissenschaftler sämtlicher Teildisziplinen waren hier ebenso willkommen wie Architekten, Musiker oder Verwaltungsfachleute. Die soziale Wirkungskomponente der jesuitischen Bildungsinfrastrukturen als Stabilisator der süddeutsch-amerikanischen Beziehungen wird man daher kaum überschätzen können.22 18

19 20 21 22

Aus den beiden rheinischen Provinzen (Rhenania Inferior, Rhenania Superior) kamen rund 70 Missionare; die österreichische Provinz (Austria) entsandte im gleichen Zeitraum 86 Personen, die böhmische (Bohemia) 130: Vgl. Nebgen, Missionarsberufungen, 67; Meier, Totus mundus, 16f. So wurden jene Mitglieder bezeichnet, die sich bei der Ordensleitung für einen Missionseinsatz in einem der beiden Indien beworben hatten (Indipeta von ad Indiam petere). Dazu Nebgen, Missionarsberufungen, 75. Vgl. M. Müller, Bayerns Tor; ders., Haimhausen, 314-319. Vgl. M. Müller, Bayerns Tor, 172-179. Vgl. Hammermayer, Barock und frühe Aufklärung, 431.

Kapitel 3: Voraussetzungen für Amerika-Wahrnehmung

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Migration Im Vergleich zum wirtschaftlichen und religiösen Verknüpfungsmoment spielte das im engeren Sinn auswanderungsgeschichtliche Verƀechtungselement eine erheblich geringere Rolle.23 Freilich wird man diesen Befund regional genau differenzieren müssen, und zwar einerseits nach den mitteleuropäischen Quellzonen und andererseits nach den amerikanischen Zielgebieten der Auswanderung. Zunächst zu den Herkunftsräumen: Die süddeutschen Territorien und Städte waren von den Migrationsvorgängen in unterschiedlichem Maße betroffen. Hans-Jürgen Grabbe hat in seiner grundlegenden Monograſe über die europäische Amerika-Emigration des 18. Jahrhunderts über 110.000 Auswanderer aus den deutschsprachigen Ländern (unter Einschluss der Schweiz) in der Zeitspanne von 1683 bis 1820 gezählt.24 Die Kernländer dieser transatlantischen Wanderungen lagen vorwiegend im Südwesten des Alten Reichs, zum einen in den badischen und pfälzischen Territorien am Oberrhein, wo es infolge des Pfälzischen Erbfolgekriegs und im Anschluss an mehrere Hungerkrisen – etwa in den späten 1740er und frühen 1750er Jahren – zu einem großen Bevölkerungsabƀuss kam.25 Dass sich im zeitgenössischen englischen Sprachgebrauch der Begriff der Pfälzer (Palatines) als allgemeine Bezeichnung für die Deutschen durchsetzen konnte, beleuchtet schlaglichtartig die kultur- und sozialgeschichtliche Bedeutung dieses Einwanderersegments. Tatsächlich beschränkten sich die Migrationsphänomene nicht nur auf die Pfalz. Denn auch das Herzogtum Württemberg und die oberdeutschen Reichsstädte wie Ulm waren mit diesem Problem mehr oder minder stark konfrontiert. Ebenso suchten größere Menschengruppen aus den Territorien östlich des Rheins, etwa aus Hessen-Nassau und Lahn-Dillenburg, ihr Heil in der Neuen Welt.26 In Schwaben, Ober- und Niederbayern unterschied sich hingegen die Situation deutlich von jener im Pfälzischen, Württembergischen oder Hessischen: Die Zahl der Amerika-Auswanderer ſel hier kaum ins Gewicht27, was jedoch nicht bedeutet, dass in diesen Gebieten grundsätzlich keine Migrationsbereitschaft bestanden hätte. Jedoch waren die Auswanderungsziele geograſsch anders deſniert: Die Emigranten richteten ihre Hoffnungen auf den 23 24 25 26 27

Aktuelle Gesamtdarstellungen: Fogleman, Hopeful Journeys; Grabbe, Vor der großen Flut; Wokeck, Trade in Strangers, 1-35. Vgl. Grabbe, Vor der großen Flut, 58. Zur Auswanderung aus Baden vgl. Häberlein, Oberrhein; aus der Pfalz Beiler, From the Rhine; dies., Immigrant; J. Heinz, Lande, 17-146; Fertig, Lokale Welt; zusammenfassend Brinck, Auswanderungswelle, 113-125; Wokeck, Trade in Strangers, 2f. Zu Württemberg vgl. Hippel, Südwestdeutschland; Fogleman, Hopeful Journeys, 36-65. Zu Hessen vgl. Assion, Neue Welt, 11-30. Zur Amerika-Auswanderung aus dem heutigen Bayern vgl. Raithel, Auswanderung, 2325.

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Teil 2: Gelehrtenkultur und Amerika-Wissen in Süddeutschland

unteren (ungarischen) Donauraum. Gegenüber der Neuen Welt zogen sie die habsburgischen Erbländer, in denen süddeutsche Kolonisten im Rahmen der Peuplierungsmaßnahmen von Maria Theresia und Kaiser Joseph II. nach den Türkenkriegen des 17. und 18. Jahrhunderts eine willkommene Klientel bildeten, vor.28 Eine weitere Alternative zu Amerika bestand in der südspanischen Sierra Morena, wo Johann Kaspar von Thürriegel, ein Philanthrop aus Niederbayern, zwischen 1767 und 1776 einige Mustersiedlungen im aufklärerischen Sinn eingerichtet hatte.29 Wiederum stärker nach Westen orientiert waren die fränkischen Gebiete, was nicht zuletzt auf ihre verkehrsgeograſsch günstigere Lage zu den atlantischen Transferhäfen in Frankreich und den nördlichen Niederlanden zurückzuführen ist: Krisenereignisse wie der Siebenjährige Krieg wirkten sich hier viel stärker auf das Migrationsverhalten aus als etwa in Altbayern. Im Hochstift Würzburg beispielsweise reagierten die Betroffenen – meist Angehörige aus den bäuerlichen Unterschichten – auf die militärischen Auseinandersetzungen mit erhöhter transatlantischer Mobilität. Während der 1750er und 60er Jahre lässt sich hier eine deutliche Zunahme in den überseeischen Wanderungsbewegungen registrieren.30 Bei der Bewertung der altbayerischen Verhältnisse ist nicht nur von der größeren Traditionsverhaftung einer vergleichsweise bodenständigen, küstenfernen Bevölkerung auszugehen. Auch wenn solche mentalen Faktoren eine Rolle gespielt haben mögen – ausschlaggebender war doch die Tatsache, dass die kurfürstliche Regierung kein Interesse an der Absiedlung größerer Untertanenverbände hatte. Sozialgeschichtliche Entwicklungen wie die auch in Bayern spürbaren dramatischen Menschenverluste infolge des Dreißigjährigen Kriegs31, daneben die kameralistische Verschiebung der staatstheoretischen Diskurse mit dem Ergebnis, dass in eigenem Bevölkerungswachstum zunehmend eine unabdingbare Voraussetzung für ökonomische Prosperität gesehen wurde32 – solche Gründe führten im frühabsolutistischen Territorialstaat zu einer rigiden Ablehnung der Auswanderung. Ein prominentes Opfer dieses bevölkerungspolitischen Paradigmas wurde etwa der pfälzische Mediziner und Wirtschaftstheoretiker Johann Joachim Becher, der sich seit 1664 in bayerischen Diensten befand. Zwar gelang es dem Gelehrten, maßgeblichen Einƀuss auf die Wirtschaftspolitik von Kurfürst Ferdinand Maria (1651-1679) zu gewinnen. Auf taube Ohren stieß er hingegen mit seinem ehrgeizigen Vorhaben, in Guyana eine deutsche Kolonie einzurichten.33 28 29 30 31 32 33

Vgl. W. Müller, Sozialpolitik, 56-78; Petz, Auswanderung; Schottenloher, Fremde, 25f. Vgl. W. Müller, Sozialpolitik, 48-56; A. Schmid, Spanien, 234-237. Vgl. Pfrenzinger, Bauernauswanderung. Vgl. Albrecht, Maximilian I., 1093-1095. Vgl. Wilhelm, Auswanderung, 37; W. Müller, Sozialpolitik, 17-26. Zu Becher in Bayern vgl. Smith, Chemistry and Commerce; Brückner, Staatswissenschaften, 43-47. Für die Kolonialpläne vgl. Becher, Gründlicher Bericht; Volberg, Kolonialbestrebungen, 63-84; Simonsfeld, Colonialpläne, 13-15.

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Darüber hinaus versuchten die Reichsstände, die drohende Abwanderung größerer Bevölkerungsteile durch administrative und juristische Gegenmaßnahmen zu verhindern, entweder durch hohe Abgaben auf den mitgenommenen Privatbesitz („Nachsteuern“) oder durch generelle Ausreiseverbote – womit das seit dem Westfälischen Frieden reichsrechtlich sanktionierte und ausdrücklich auf Einzelpersonen bezogene ius emigrandi unterlaufen wurde.34 In Kurbayern mündeten diese Eindämmungsstrategien in verschiedene landesherrliche Mandate gegen das Auswandern ein. Am 21. Juni 1752 untersagte Kurfürst Karl Albrecht jegliche Werbeaktivität für die nordamerikanischen Kolonien auf dem kurbayerischen Territorium. Unter Kurfürst Maximilian III. Joseph wurde dieses Mandat mehrfach erneuert und im Ton erheblich verschärft (Erlasse vom 28. Februar 1764 und 3. Januar 1766).35 Zum zweiten Punkt, den Zielzonen der deutschsprachigen Amerika-Migration: Auffällig ist, dass sich die Amerika-Emigranten aus dem Alten Reich nahezu ausschließlich auf die britischen Dominien konzentrierten. Dabei fungierten die mittelatlantischen Kolonien, also Pennsylvania, New York und die beiden Jerseys, weniger jedoch die Gebiete in Neuengland als Auffangbecken für die Neuankömmlinge. Philadelphia, der wichtigste Überseehafen in Britisch-Amerika, war für viele aus dem Reich stammende Emigranten das Eintrittstor in die Neue Welt.36 Doch nicht nur das: In der Quäkerkolonie Pennsylvania verdichtete sich das deutsche Einwandererelement. Hier hatte Pastorius 1683 zusammen mit dreizehn Krefelder Weberfamilien eine Stadt, das bereits erwähnte Germantown (Germanopolis), gegründet. Durch den starken Zustrom von nieder- und südwestdeutschen Migranten entstanden außerdem im Südwesten von Pennsylvania (Lancaster County) ethnisch geschlossene Siedlungskomplexe. In der britischen Kolonie wuchsen die Deutschen rasch zu einer bedeutenden Minorität heran.37 Es entwickelte sich eine autonome Infrastruktur – mit einer Vielzahl von eigenen sozialen und kirchlichen Einrichtungen.38 In erheblichem Umfang trug das rasche Aufblühen eines deutschsprachigen Buch- und Pressewesens zur Identitätswahrung der Ein34 35

36 37

38

Vgl. Wilhelm, Auswanderung, 37. Vgl. Wilhelm, Auswanderung, 37; Schottenloher, Fremde, 23f. Zu den Mandaten vom 28. Februar 1764 vgl. Meyr, Sammlung, 1208 (München, 1764 II 28): Die Emigrationswerbung wird hier als „keckes Unternehmen“ bezeichnet, das „auf eine ganze Depopulation und Ausödigung Unserer Landen abzilet“; zum zweiten Mandat vgl. ebd., 1209f. (München, 1766 I 3). Vgl. Grabbe, Vor der großen Flut, 61. Um 1790 erreichten die Deutschsprachigen in Pennsylvania einen Anteil von rund 33%, die Englischstämmigen 35%. Das restliche Drittel bildeten Schotten, Iren und weitere europäische Nationalitäten; daneben gab es kleine Gruppen von Indigenen und AfroAmerikanern: Vgl. Pƀeger, Ethnicity, 5f. So etwa die 1764 gegründete, heute noch bestehende German Society of Pennsylvania. Vgl. dazu Pƀeger, Ethnicity. Vgl. allgemein zu den Deutschen in Pennsylvania Roeber, Palatines; Fogleman, Hopeful Journeys, 67-153; zuletzt Hucho, Weiblich und fremd.

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Teil 2: Gelehrtenkultur und Amerika-Wissen in Süddeutschland

wanderergemeinde bei.39 Im Sprachlichen, Politischen und Kulturellen fanden diese Sondermentalitäten einen speziſschen Ausdruck. Für die Einwanderer, die ein pfälzisch-niederrheinisches Mischidiom pƀegten, daneben die überlieferten Kleidersitten und Hausbauformen ihrer Heimat weiterführten, bürgerte sich mit dem Begriff der Pennsylvania Dutch sogar eine eigene „Nationalbezeichnung“ ein.40 Die Vorliebe der Deutschen für Britisch-Amerika hing zum einen mit deren konfessionellen Herkunftsproſlen, zum anderen mit ethnisch begründeten Zugangsbeschränkungen in den aufnehmenden Kolonien zusammen. Die weit überwiegende Mehrheit der Migranten gehörte dem lutherischen und reformierten Bekenntnis an oder stand dem dissentierenden Protestantismus nahe. Für diese Gruppen konnten daher die protestantisch dominierten Kolonien der Briten eine Anlaufstelle bilden, während die französischen, spanischen und portugiesischen Dominien – hier war der Katholizismus staatlich festgelegtes Bekenntnis – als Einwanderungsziele entſelen. Freilich lässt sich die speziſsche Verdichtung der deutschen Kolonisten in Angloamerika nicht allein mit dem religionsgeschichtlichen Argument erklären. Die Konfession blieb nicht das einzige Kriterium für die Zielauswahl. Ein gutes Beispiel dafür bieten die französischen Besitzungen in Amerika: Im Kanada des 18. Jahrhunderts sind weder deutschsprachige Protestanten noch Katholiken nachzuweisen.41 In Louisiana jedoch ist ab 1721 die Ansiedlung einer größeren gemischtkonfessionellen Population aus dem Reich (Augsburg) zu beobachten. Die Gruppe der Louisiana-Deutschen bestand aus Kauƀeuten, die sich von New Orleans aus am schwunghaften Karibikhandel beteiligten. Außerdem betrieben sie Plantagenwirtschaft.42 In Spanisch-Amerika verhinderte das Beharren der Kolonialverwaltung auf dem strikten Indigenatsprinzip – europäische Kolonisten mussten spanischer Abstammung sein – den Zuzug von Reichsangehörigen. Letztlich beschränkte sich hier der deutsch-amerikanische Transfer auf eine reine Elitenmigration.43 Zugelassen wurden nur jene Personen, von denen sich der spanische Staat einen unmittelbaren Nutzen versprach, so etwa die deutschen Jesuitenmissionare, die allerdings nicht in den zivilisatorisch arrondierten Zonen von Zentral-Mexiko, sondern an den Peripherien der Kolonialherrschaft, in den Urwäldern von Paraguay oder in Niederkalifornien zum Einsatz kamen und mit dem ständigen Misstrauen der Kolonialverwaltung zu rechnen hatten.44 39 40 41 42 43 44

Vgl. die Bibliograſe der deutschsprachigen Drucke aus Nordamerika bei K. Arndt/Eck, Printing; Roeber, Books, 302-309; Wellenreuther, Ausbildung, 467-473. Vgl. Conzen, Germans, 406-409. Zu den sprachlichen Sonderformen vgl. Eichhoff, German Language, 231f. Vgl. Wellenreuther, Ausbildung, 44. Vgl. Kondert, Germans; Blume, German Coast, 12f. Vgl. M. Müller, Elite im Zeichen des Kreuzes, 145-149, 159-162. Vgl. Nebgen, Missionarsberufungen, 65-69; ferner Hartmann, Jesuitenstaat.

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Wenn man diese Befunde wieder unter einem kommunikationsgeschichtlichen Aspekt betrachtet, also nach der Rolle der Auswanderung als Faktor der Amerika-Rezeption in Süddeutschland fragt, dann ergibt sich ein zweiteiliges Bild. So ist eine deutliche geograſsche Scheidung zu erkennen. Unübersehbar folgt diese Auffächerung der Kommunikationssphären der regionalgeschichtlichen Entwicklungslogik des Auswanderungsgeschehens: In Württemberg und Franken, in jenen Gebieten mithin, die von der Amerika-Migration besonders stark betroffen waren, entstand eine eigene transatlantische Informationskultur. Reisebeschreibungen und Flugschriften, mit denen potenzielle Kolonisten für die Neue Welt gewonnen oder doch zumindest über die dortigen Zustände informiert werden sollten, wurden hier in größerem Umfang gedruckt.45 Zu den immer wieder beachteten Texten zählt etwa die Beschreibung des im württembergischen Eberdingen geborenen Gottlieb Mittelberger. In seiner 1756 erschienenen Schrift schildert der Schulmeister jene Eindrücke, die er zwischen 1750 und 1754 während eines Aufenthalts in Pennsylvania sammeln konnte.46 Die Schrift trug eindeutig warnenden Charakter und richtete sich gegen allzu euphorische Erwartungen an die Lebensverhältnisse in Amerika.47 Neben den württembergischen Schulmeister ist der bereits erwähnte Franz Daniel Pastorius zu stellen: 1692 brachte der von den theologischen Verhärtungen innerhalb des zeitgenössischen Luthertums tief enttäuschte Jurist einen Pennsylvania-Bericht heraus. Das in Nürnberg zusammen mit einer Geschichte seiner Heimatstadt Windsheim veröffentlichte Werk nimmt gewissermaßen die dialektische Gegenposition zu Mittelbergers Warnschrift ein: Pastorius inszenierte die Neue Welt als religiöse und moralische Alternative zu der von „unnütze[r] Welt-Eitelkeit“ und „Aristotelische[r] Weltweisheit“ bestimmten Situation in Europa.48 In den altbayerischen und schwäbischen Territorien, in Gebieten mit vergleichsweise geringer transatlantischer Migrationserfahrung, stießen die Vorgänge der Amerika-Wanderung auf ein viel schwächeres Echo: Zur Ausprägung einer Auswandererliteratur im Sinne einer eigenständigen Gattung kam es hier während des 18. Jahrhunderts nicht – wobei zu beachten ist, dass die Thematik im Rahmen anderer literarischer Vermittlungskanäle, etwa innerhalb des geograſschen und historiograſschen Genres, durchaus Beachtung 45 46

47 48

Zu den frühneuzeitlichen „geographischen Informationsschriften“ über Nordamerika vgl. Fertig, Lokale Welt, 101-109, 416-421 (Quellenbibliograſe); Görisch, Werbung und Warnung. Vgl. Mittelberger, Reise, Vorrede, [3v]: „Das wichtigste dieser Schrift möchte wohl die Erzehlung der Schicksale seyn, die auf den grösten Theil der unglüklichen Leute warten, die Teutschland verlassen, um in der neuen Welt ein ungewisses Glük zu suchen, an dessen statt aber wo nicht den Tod, doch gewiß eine beschwerliche Knechtschaft und Sklaverey ſnden.“ Dazu vgl. Fertig, Lokale Welt, 132-134. Vgl. [Handlin/Clive], Editor’s Introduction. Pastorius, Kurtze Beschreibung, Vorrede, 3.

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ſnden konnte. Lediglich die im süddeutschen Kernraum verankerten Informationsaktivitäten um die Salzburger Protestanten machten eine Ausnahme von dieser Regel. Die Ausweisung der Geheimprotestanten aus dem Erzstift Salzburg im Jahr 1734 und deren teilweise Emigration nach Georgia in Nordamerika fanden hier breites Interesse, das durch Flugschriften, Predigten und Briefeditionen öffentlichkeitsrelevant aufbereitet wurde. Augsburg war Ausgangspunkt dieser vielfältigen publizistischen Bemühungen. Samuel Urlsperger, der pietistisch inspirierte Hauptpastor an Evangelisch-St. Anna, leitete von der Reichsstadt aus ein transatlantisches Nachrichtennetz, das in periodischer Form gedruckte Nachrichten über die Auswanderer aus Salzburg und deren Geschichte in der Neuen Welt produzierte.49 Politik Ein genuin politisches Verhältnis zwischen Süddeutschland und Amerika konnte sich erst im ereignisgeschichtlichen Umfeld des Unabhängigkeitskriegs, also ab den 1770er Jahren entwickeln. Für die Phase des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts lässt sich keine Kontaktaufnahme beobachten, was angesichts der mächtepolitischen Gegebenheiten nicht weiter verwunderlich ist. Die atlantische Welt der Frühen Neuzeit war im Wesentlichen eine Angelegenheit Westeuropas. Die Kolonialmächte – Spanien, Portugal, England, Frankreich und die Generalstaaten – dominierten das Beziehungsgefüge, innerhalb dessen Amerika als Objekt weitreichender kolonialer Prätensionen zu einem immer bedeutenderen Gegenstand von militärischer Auseinandersetzung und multilateraler Vertragsdiplomatie heranwuchs.50 Um die Dinge nur kursorisch zu umreißen: Der spanisch-englische Dualismus bildete das ältere Konƀiktszenario. Zwar kam es in den Verträgen von Madrid 1667 und 1670 zu einem modus vivendi zwischen den beiden großen Kolonialmächten. Spanien erkannte den seit der Gründung der Kolonie Virginia (1607) rasch expandierenden Besitzstand der Briten in Nordamerika völkerrechtlich an. Gleichwohl setzten sich die Spannungen aufgrund konkurrierender Handelsinteressen – vor allem in der Karibik – in einer Reihe von kleineren Streitigkeiten fort. Im Zentrum der Gegensätze standen die spanischen Niederlassungen in Florida. Um ein mögliches Ausgreifen der Spanier nach Norden zu unterbinden, gründeten die Engländer 1732 die Kolonie Georgia als strategischen Gegenpol. 1739 mündeten diese Rivalitäten in einen dreijährigen Seekrieg vor den Küsten von Georgia und Florida ein, der jedoch am Status quo vorerst nichts veränderte.51 49 50 51

Vgl. Kapitel 15. Vgl. Wellenreuther, Niedergang, 437-442; Schnurmann, Atlantische Welten; Duchhardt, Balance of Power, 96-115, 128-139, 166-172, 335-361. Vgl. Wellenreuther, Ausbildung, 40f., 258-261; Savelle, American Diplomacy, 347f.

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Wesentlich dynamischer gestaltete sich das Verhältnis zwischen der englischen und der französischen Krone. Die Auseinandersetzungen bezogen sich vor allem auf die Nordhälfte der Neuen Welt. Politisch ging es um die Durchsetzung von Hegemonialansprüchen – wobei für Frankreich die Bewahrung und der Ausbau seiner bisherigen Kolonien entlang der Linien von St. Lorenz-Strom und Mississippi (mit Neufrankreich und Louisiana) auf der Tagesordnung stand, während England nach der Arrondierung und Erweiterung seiner an der Ostküste gelegenen Territorien vor allem in Richtung Westen (Ohio) und Norden (Hudson-Bucht, Große Seen) strebte. Die Konƀikte erschütterten den Subkontinent für mehr als ein halbes Jahrhundert. Sie erhielten außerdem ein speziſsch transatlantisches Gepräge. Eine kurze Chronologie der Ereignisse soll diese Zusammenhänge in Erinnerung rufen52: Das erste große Kräftemessen, der Queen Anne’s War, fand in zeitlicher Parallele zum Spanischen Erbfolgekrieg (1702-1713) statt. Für Frankreich endete das Treffen im Frieden von Utrecht mit dem Verlust von Neuschottland und dem Verzicht auf Neufundland und die Hudson-Bucht. Die zweite Auseinandersetzung bildete als War of Jenkin’s Ear und King George’s War das Gegenstück zum Österreichischen Erbfolgekrieg (1739-1748). Der Krieg brachte keine Verschiebungen im nordamerikanischen Machtgefüge. Dramatische Auswirkungen hatte jedoch der French and Indian War (1754-1763), der in seinen zeitlichen Dimensionen dem Siebenjährigen Krieg entsprach und von der Forschung zusammen mit seinem europäischen Gegenpart häuſg als Archetypus des global entfesselten Militärkonƀikts betrachtet wird.53 Die Auseinandersetzung führte das Ende der französischen Kolonialherrschaft im nördlichen Amerika herbei. Auch die territorialen Gewichte zwischen Spanien und England wurden neu ausbalanciert: Im Frieden von Paris (1763) erhielt London neben den französischen Besitzungen in Kanada und östlich des Mississippi die spanische Kolonie Florida. Madrid wurden zum Ausgleich die Gebiete westlich des Mississippi und Louisiana mit New Orleans zugesprochen. Die Vereinbarungen besiegelten den Aufstieg der britischen Monarchie in die erste Reihe der frühneuzeitlichen Weltmächte.54 Innerhalb dieser politischen Wechselfälle wird man den Einƀuss Süddeutschlands – wie jenen des Reichs insgesamt – niedrig ansetzen müssen. Ereignissteuernde Impulse gingen von den Reichsständen nicht aus (wenn man einmal von Kurhannover absieht, das zwischen 1714 und 1837 durch Personalunion dynastisch mit England und insofern mit einem der Hauptak-

52 53 54

Neuester Überblick bei Depkat, Geschichte, 205-210; vgl. außerdem Wellenreuther, Ausbildung, 223-298. Vgl. Black, America or Europe, 8-28, 175-184; Kortmann, Siebenjähriger Krieg; Nester, Great Frontier War; Savelle, American Diplomacy, 436-510. Vgl. Wellenreuther, Aufstieg, besonders 43-48.

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teure des transatlantischen Beziehungssystems essenziell verbunden war).55 Die Rolle Zentraleuropas beschränkte sich eher auf die Position eines stillen Beobachters. Besonders gut erkennbar wird dies am Fall der kurbayerischen Diplomatie des 17. und 18. Jahrhunderts – der einzigen Größe im süddeutschen Raum, die neben Österreich politisch wie organisatorisch dazu in der Lage war, auf dem internationalen Parkett Präsenz zu zeigen. Schon aus dem Grund existenzieller Betroffenheit – im Zusammenhang mit dem Spanischen und Pfälzischen Erbfolgekrieg, aber auch im Kontext der ambitionierten Kaiserwahlpläne von Kurfürst Karl Albrecht (Karl VII.) – unterhielt man an allen großen Höfen diplomatische Repräsentanzen. Im nordwestlichen Europa war Kurbayern zunächst durch einen Residenten im Haag vertreten. Dieser berichtete in regelmäßigen Abständen auch vom englischen Hof nach München. Seit 1742 verfügte die kurfürstliche Regierung zudem über einen eigenen Gesandten in London.56 Zugleich deuten sich jedoch die konzeptionellen und strategischen Grenzen dieser mittelstaatlichen Diplomatie an. Die kurbayerischen Vertreter in London vermochten kaum lenkend in den Lauf der Dinge einzugreifen. Was sie erreichen konnten, war eine informationelle Teilhabe am Geschehen, im besten Fall ein Registrieren der zeitgeschichtlichen Vorgänge und politischen Entscheidungsabläufe. Freilich: Selbst auf diesem Feld ſelen die diplomatischen Wissensvermittler hinter die anderen Träger der internationalen Kommunikation, die gelehrten Literaten oder Publizisten, häuſg weit zurück. Gerade im Hinblick auf das amerikanische Thema bedienten sich die kurbayerischen Diplomaten oft der Informationskapazitäten des französischen und niederländischen Zeitungswesens, um über die jeweils neuesten Entwicklungen innerhalb des transatlantischen Geschehens zu berichten.57 Zwar mindern diese Zusammenhänge nicht generell die Bedeutung der mittelstaatlichen Diplomatie (zumal diese Art der Wissensgenerierung für das zeitgenössische Gesandtschaftswesen nicht untypisch war). Gleichwohl wird man die süddeutschen Höfe – allen voran Kurbayern – nicht zu den Hauptumschlagplätzen für den interkontinentalen Wissenstransfer rechnen dürfen. Ihrem geringeren politischen Gewicht entsprach eine reduzierte Informationskompetenz – zumindest soweit sie das im engeren Sinn diplomatische Segment betraf. 55 56 57

Vgl. Wellenreuther, Göttingen und England; Hatton, Anglo-Hanoverian Connection. Vgl. generell die Beiträge in dem Sammelband von Simms/Riotte, Hanoverian Dimension; ferner Aschoff, Welfen, 207-222. Vgl. Kramer, Aspects, 185-188; A. Schmid, Max III. Joseph, 26-28; ders., Diplomatischer Verkehr. Dieser Eindruck ergibt sich aus einer stichprobenartigen Auswertung der diplomatischen Korrespondenzen aus dem Haag und London während der ersten beiden Drittel des 18. Jahrhunderts. Typisch für die Vorgehensweise der Gesandten ist etwa das aus Zeitungsausschnitten kompilierte Dossier mit verstreuten Nachrichten über Amerika in BayHStA GR Fasz. 1620-2.

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Denn unter den zeitgenössischen höſschen und hofnahen Gelehrten lassen sich durchaus Protagonisten einer systematischen Weltbeschreibung ausmachen, die das amerikanische Problem im Rahmen ihrer meist geograſsch und universalhistorisch ausgerichteten Werke mehr oder minder breit berücksichtigten. Erst die Revolution führte zu einer erheblichen Verdichtung der politischen Amerika-Rezeption. Insbesondere das Resonanzfeld der reichsständischen Diplomatie reagierte – wie Horst Dippel in seiner Untersuchung über die Revolutionswahrnehmungen im Alten Reich herausgearbeitet hat – mit überraschender Aktualitätsnähe auf die Ereignisse von 1776. Zudem ist nun ein Gleichklang zwischen mächtigen und mindermächtigen Territorialstaaten, zwischen nord- und süddeutscher Diplomatie festzustellen. Die süddeutschen Hofeliten beschäftigten sich nicht weniger intensiv mit den überseeischen Vorkommnissen als etwa die „hegemonialer“ oder „imperialer“ orientierten Führungsschichten in Österreich und Brandenburg-Preußen. Hier wie dort kam es zu einer Intensivierung des Amerika-Interesses, was sich in einem Anwachsen der einschlägigen diplomatischen Korrespondenz über die Neue Welt äußerte.58 Die Schärfung des transatlantischen Bewusstseins hing indes nicht nur mit der erhöhten medialen Wirkung der Neuen Welt infolge der Revolution zusammen. Dieser zweifellos bedeutsame wahrnehmungsgeschichtliche Faktor wurde von realhistorischen Umständen begleitet, die eine breite Hinwendung zur amerikanischen Agenda ermöglichten. Zahlreiche Reichsstände traten in direkten Kontakt mit der revolutionären Welt jenseits des Atlantiks. Die Tatsache, dass sich verschiedene Territorien durch Entsendung von Soldatenkontingenten entweder an der Seite von Hannover-England oder der nordamerikanischen Kolonisten an den Konƀikten in den späteren USA beteiligten, stärkte die Verbindungen zwischen beiden Kontinenten. Unter den süddeutschen Territorien sind vor allem das wittelsbachische Fürstentum PfalzZweibrücken, die brandenburgischen Markgraftümer Ansbach-Bayreuth, aber auch das Hochstift Würzburg zu nennen.59 Ansbach-Bayreuth stellte zusammen mit Hessen-Kassel einen Großteil der deutschen Auxiliartruppen, der so genannten „Hessians“, die im Unabhängigkeitskrieg die britische Macht verstärken sollten. Das Herzogtum Pfalz-Zweibrücken dagegen unterstützte 58 59

Vgl. Dippel, American Revolution, 37-40. Vgl. Puchta, Bayern und die USA, 18-27; Kügler, Truppen (populäre Darstellung); Bezzel, Ansbach-Bayreuther Miettruppen; Smith, Ansbach and Bayreuth; Städtler, Ansbach-Bayreuther Truppen, 20-27. In diesem Zusammenhang sind auch die Gesuche von süddeutschen Adligen mit der Bitte um Aufnahme in die amerikanische Armee zu sehen: APSL Franklin Papers XV, 218 (Von Flachenfeld [= Von Rot] an Franklin, 1779 IX 25) [Regest in: Papers of Benjamin Franklin 30, 54]; XXIII, 126 (Baronne de Sekkendorff an Franklin, 1781 XII 18: Bitte um Anstellung für ihren Sohn) [Regest in: Papers of Benjamin Franklin 36, 312].

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mit dem deutsch-französischen Regiment Royal Deux-Ponts die amerikanische Kolonialarmee.60 Diese unmittelbare Begegnung zwischen Süddeutschland und Nordamerika hatte nicht nur eine außenpolitische Tiefenwirkung, indem sie den pfälzisch-bayerischen und fränkischen Territorialkosmos mit der gerade in der Entstehung begriffenen amerikanischen Republik völkerrechtlich in Beziehung setzte und diplomatische Anknüpfungsmöglichkeiten bot.61 Die Teilnahme deutscher Truppen am Krieg in Übersee war überdies ein Epochenereignis der süddeutschen Binnenwelt: Einerseits stieß die „Vermietung“ von Landeskindern als Soldaten an die Briten durch einzelne Landesfürsten auf heftige Ablehnung breiter Bevölkerungskreise. Sie beförderte eine ins Grundsätzliche weisende, protonational gefärbte Kritik am absolutistischen Herrschaftsmodell, dessen umfassender, im Bild des gegen seinen Willen nach Amerika verkauften Soldaten grell aufscheinender Verfügungsanspruch über das Individuum nun Gegenstand heftiger Kontroversen wurde.62 Andererseits erhöhten diese Vorgänge das Interesse an den ehemals britischen Kolonien in Nordamerika insgesamt. Deren Emanzipation vom Mutterland rückte – im Gefolge einer auch im Reich greifbaren Revolutionseuphorie – in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskurse. Diesem Wissensbedürfnis kamen die bald inƀationär vertriebenen Reisebeschreibungen ehemaliger deutscher Kombattanten aus dem Unabhängigkeitskrieg entgegen. In manchen Fällen überschritten die meist in Tagebuchform abgefassten Berichte den autobiograſschen Schreibanlass im Sinne persönlicher memoria.63 Insbesondere die naturkundlichen, historischen, wirtschaftsgeograſschen und verfassungsrechtlichen Aspekten gewidmeten Augenzeugenberichte von Johann David Schöpf – der Mediziner hatte als Regimentsarzt der Ansbacher Hilfstruppen am Unabhängigkeitskrieg teilgenommen – können als bedeutsamer Beitrag süddeut60 61

62 63

Vgl. Acomb, Introduction, XIf. Dies zeigt sich im Fall von Pfalz-Zweibrücken. Zwischen Franklin und dem Fürstentum kam es zu engen Kontakten: Vgl. Papers of Benjamin Franklin 36, 75f. (Agathon de Kéralio an Franklin, 1781 X 20: Bericht über den Militäreinsatz von Herzog Wilhelm von Zweibrücken in Amerika); 132 (Urtado Marquis d’Amezaga an Franklin, 1781 XI 27: Eintreffen der Herzogin von Zweibrücken in Paris); 134f. (Agathon de Kéralio an Franklin, 1781 XI 27); APSL Franklin Papers XLI, 43 (Herzogin von Zweibrücken an Franklin, 1783 IV 21); XXVIII, 168 (Karl von Zweibrücken an Franklin, 1783 VI 14: Frage, „si l’Electorat Palatin et le Duché de Bavière pourraient entrer en Liaison de commerce avec les treizes Etats unis de l’Amérique“); XLV, 170 (Franklin an Prinz von Zweibrücken, 1783 VI 17: „[T]he Commerce of the German States will be favorably received in America“) [Regest in: Victory, Franklin, 157f.]. Vgl. Mauch, Images. Folgende süddeutsche Kriegsdiarien verdienen Beachtung: Green, Campaigns (Erinnerungen des Pfalzgrafen Wilhelm von Zweibrücken an den Unabhängigkeitskrieg); Revolutionary Journal (Kriegstagebuch des Ludwig von Closen aus der pfälzischen Linie der bayerischen Adelsfamilie); Selig, German Soldier (Aufzeichnungen von Georg Daniel Flohr aus Franken); Döllner, Erlebnisse.

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scher Gelehrsamkeit zur wissenschaftlichen Amerikakunde des ausgehenden 18. Jahrhunderts gelten.64 Deutlich geringer sind dagegen die rezeptionsgeschichtlichen Effekte des in west-östlicher Richtung, also von Amerika nach Europa verlaufenden Transfers zu veranschlagen. Die amerikanischen Intellektuellen des 18. Jahrhunderts berührten auf ihren Reisen durch Europa nur selten das süddeutsche Umfeld. Eher standen die west- und norddeutschen Territorien auf dem Besuchsprogramm, wo zum einen die geistlichen und weltlichen Staaten an der Rheinschiene – gleichsam in Antizipation der englischen Rheinromantik des 19. Jahrhunderts – einen Attraktionspunkt für Politiker und Gelehrte aus Angloamerika bildeten (etwa für Benjamin Franklin oder Thomas Jefferson).65 Zum anderen übten die akademischen Infrastrukturen in Kurhannover, das gewissermaßen ein Teil des britischen Weltreichs war und daher aus Sicht der nordamerikanischen Kolonisten mit dem englischen Mutterland identiſziert werden konnte, eine hohe Faszinationskraft aus. Insbesondere die Universität Göttingen entwickelte sich zu einem beliebten Studienort für Söhne aus den kolonialen Eliten.66 Außerdem ist noch ein weiterer Punkt zu beachten: Die kleinen (nord-)amerikanischen Besuchergruppen im Alten Reich wurden kaum als authentische Quellen für die Vorgänge in der Neuen Welt wahrgenommen. Dies trifft selbst auf einen der prominentesten Amerikaner im frühneuzeitlichen Reich, den Loyalisten und Revolutionsƀüchtling Benjamin Thompson Graf Rumford, zu. Der seit 1784 im Dienst des bayerischen Kurfürsten Karl Theodor stehende Militär- und Sozialtheoretiker versuchte zwar, typische Denkformationen der angloamerikanischen Aufklärung auf die europäischen Lebensverhältnisse zu übertragen – so wurde er zum Inspirator des Englischen Gartens in München; auch trieb er die Reform des bayerischen Heerwesens maßgeblich voran. Zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit der Neuen Welt führte das Wirken des nordamerikanischen Exulanten in Bayern jedoch nicht.67 KAPITEL 4: SÜDDEUTSCHE AMERIKA-LITERATUR Obwohl eine vollständige moderne Bestandsaufnahme der amerikakundlichen Literatur für den Zeitraum zwischen 1700 und 1800 immer noch fehlt, kann man aus den vorhandenen bio-bibliograſschen Hilfsmitteln einen ersten Eindruck von den buchgeschichtlichen Entwicklungstendenzen im Alten 64 Vgl. Kapitel 12. 65 Vgl. Victory, Franklin, 48-56; Shackelford, Jefferson’s Travels, 139-156. 66 Vgl. Bell Jr., Philadelphia Medical Students, 8. Zu den Nordamerikanern in Göttingen vgl. Krumpelmann, Southern Scholars; Eck, Amerikanische Kolonie, 230-233; Biskup, Göttingen. 67 Vgl. Hammermayer, Rumford; Pöhlmann, Rumford.

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Teil 2: Gelehrtenkultur und Amerika-Wissen in Süddeutschland

Reich gewinnen. Neben dem klassischen Werk von Paul Ben Baginsky aus dem Jahr 1942 – der Buchkatalog beschreibt die deutschsprachigen bzw. aus dem Alten Reich stammenden Amerika-Drucke in den Beständen der New York Public Library68 – sind die jüngeren Forschungsarbeiten der beiden amerikanischen Bibliothekare John Alden und Dennis Channing Landis sowie des deutschen Historikers Horst Dippel zu nennen. Alden und Landis beziehen sich auf die umfangreiche Sammlung von Amerika-Schriften in der John Carter Brown Library in Providence (Rhode Island).69 Die Bibliograſe kann mehr als 32.000 Drucke nachweisen. Sie berücksichtigt die Buchproduktion aus sämtlichen europäischen Sprach- und Kulturräumen, darunter auch die aus dem Reich stammende.70 Chronologisch reicht der Rahmen von 1493 bis 1750. Es geht also in erster Linie um Texte, die im Zusammenhang mit der Aufſndung der Neuen Welt durch die Europäer zwischen dem späten 15. und frühen 18. Jahrhundert entstanden sind. Die Zusammenstellung versteht sich als Wegweiser zur „Literature of the Encounter“.71 Die Begegnung zwischen Alter und Neuer Welt, das gelehrte Echo auf den überseeischen Wissenstransfer seit dem Humanismus – solche Aspekte bestimmen das Projekt, das mit dieser Ausrichtung unverkennbar an die jüngere Atlantic History anknüpft. Andere Vorstellungen, nämlich aufklärungs- und revolutionsgeschichtliche Prämissen, spiegeln sich hingegen in dem von Dippel erstellten Verzeichnis wider. Das Werk des deutschen Forschers ist 1976 im Rahmen des Bicentennial als Seitenstück zu dessen Monograſe über die Wahrnehmung der amerikanischen Revolution in den Ländern des Alten Reichs erschienen. Aufgelistet sind hier Veröffentlichungen, die zwischen 1770 und 1800 auf den (deutschen) Markt gebracht wurden. Somit besteht zwar für die deutsche Amerika-Literatur des 18. Jahrhunderts eine dokumentarische Lücke von zwanzig Jahren – zwischen 1750, der Endmarke der European Americana, und 1770, dem Startpunkt der Dippel’schen Liste. Gleichwohl lässt sich doch ein recht vollständiges Bild ermitteln. Dies gilt auch deshalb, weil diese Bibliograſen – trotz ihrer speziſschen forschungsstrategischen Präferenzen – den Begriff des „Amerika68 Vgl. Baginsky, German Works. 69 Alden und Landis identiſzieren auch die Druck- und Verlagsorte der AmerikaSchriften. Damit ist es möglich, deren geograſsche Verteilung zu rekonstruieren. Solche bibliometrischen Messungen haben durchgeführt: Simmons, Americana (für die britische Buchproduktion von 1621 bis 1760); Menninger, Macht, 36f.; zuletzt in einer systematischen Aufstellung für die Amerika-Schriften auf dem deutschen Buchmarkt während des 18. Jahrhunderts vgl. Borja González, Jesuitische Berichterstattung, 27-68. 70 Die Bibliograſe ist nicht vollständig. Insbesondere hinsichtlich der spanischen, portugiesischen und englischen Amerika-Literatur bestehen Deſzite. Auch sind kirchengeschichtliche und theologische Werke katholischer Provenienz unterrepräsentiert. Vgl. dazu Marichal, European Americana, 546; Quinn, European Americana, 571. 71 Vgl. programmatisch Landis, Literature.

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Drucks“ inhaltlich und gattungstheoretisch sehr weit auslegen. Sie erfassen unter dieser Kategorie alle Disziplinen des gelehrten Diskurses, angefangen bei der Theologie über die Kosmograſe, Geschichtsschreibung und Geograſe bis hin zur Medizin und zu den Naturwissenschaften. Hinzu kommen Textformen, die man eher dem staatlichen Verwaltungshandeln, dem kirchlich-katechetischen Bereich oder der Belletristik zuordnen kann, so etwa landesfürstliche Auswanderungsmandate, Predigten, dramatische oder narrative Darstellungen jeglicher Art. Zu beachten ist ferner die Tatsache, dass alle drei Autoren nicht nur jenes Material erfassen, das den Kontinental- oder Landesnamen „Amerika“ im Buchtitel führt. Sie nehmen auch Werke auf, die innerhalb eines größeren inhaltlichen Zusammenhangs Nachrichten aus der Neuen Welt vermittelten. Zu denken ist an die Universalhistoriograſe oder Globalgeograſe, aber auch an die medizinische oder naturkundliche Fachliteratur. Um den Sachverhalt nur an einem Beispiel zu illustrieren: Die Wirkungen der Schokolade, dieses besonders typischen amerikanischen Exportprodukts, auf die europäischen Konsumgewohnheiten wurden selbstverständlich von der zeitgenössischen Diätetik immer wieder aufgegriffen.72 Häuſg nutzten deren Protagonisten den medizinischen Anlass, um in ihren Werken allgemeine Informationen über den vierten Kontinent unterzubringen. Wenn man also diesen breiten Werkbegriff zu Grunde legt, dann ergibt sich ein zuverlässiges Panorama der gedruckten Amerika-Äußerungen im 18. Jahrhundert. Wie fällt nun das buchgeschichtliche Befundbild konkret aus? Zunächst ist von einem relativ konstanten Ausstoß an Amerika-Schriften während des 18. Jahrhunderts auszugehen. Wenn man noch die Spätphase des 17. Jahrhunderts in die Rechnung mit einbezieht, dann ergeben sich folgende Werte: Zwischen 1676 und 1700 kamen im Alten Reich 986 Drucke auf den Markt. Im letzten Drittel des 18. Jahrhundert (1770-1800) erschienen 836 Bücher. Dagegen ist im ersten Quartal (1701-1725) ein leichter Einbruch zu verzeichnen: Hier lassen sich für Gesamtdeutschland nur noch 681 einschlägige Titel zählen. Vor der Jahrhundertmitte, das heißt zwischen 1726 und 1750, kam es wieder zu einer signiſkanten Zunahme. Mit 806 Publikationen erreichte die Produktion fast wieder das Niveau des späten 17. Jahrhunderts.73 So ist ein überraschendes Zwischenergebnis zu konstatieren: In der Spätaufklärung 72 73

Vgl. Menninger, Genuß, 222-230, 255f. Simmons (Americana, 367) kommt auf niedrigere Werte. Für den Zeitraum zwischen 1726 und 1750 rechnet er mit rund 750 deutschen Drucken. Die Divergenzen erklären sich daraus, dass Simmons den Raum seiner Erhebungen anachronistisch auf das spätere Bismarckreich beschränkt. Die hier präsentierten Datenbefunde beziehen sich hingegen auf das gesamte Heilige Römische Reich in seiner Ausdehnung um 1750 (unter Einschluss der südlichen Niederlande). Hingegen kommt Borja González (Jesuitische Berichterstattung, 41f.) – trotz einer anderen Berechnungsweise – zu ähnlichen Ergebnissen.

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Teil 2: Gelehrtenkultur und Amerika-Wissen in Süddeutschland

wurden nicht mehr Amerika-Texte als während des Barock publiziert. Die Ereignisse von Revolution und US-amerikanischer Staatsgründung hatten offenbar keine nachhaltig stimulierenden Auswirkungen auf den deutschen Buchmarkt. Vielmehr ist von gleichbleibenden, langfristig sogar graduell abnehmenden Werten auszugehen. Wenn man nämlich die Raten auf das Jahresmittel umrechnet, dann deutet sich bis 1800 ein leichter Rückgang an: Zwischen 1676 und 1700 erschienen im Jahrdurchschnitt 39 Americana. Im Zeitraum von 1770 bis 1800 verließen dagegen nur noch 28 einschlägige Neuerscheinungen pro Jahr die Druckerpresse. Nicht Brüche, sondern Kontinuitäten dominieren das Gesamtbild. Von buchgeschichtlicher Warte aus gesehen, brach mit den Ereignissen von 1776 kein neues Kapitel in der Geschichte der deutschen Amerika-Wahrnehmungen an. Wie fügen sich diese Ergebnisse in den geograſschen Horizont ein? Die amerikakundliche Buchproduktion im Alten Reich ſel im Vergleich zu den großen westeuropäischen Verlagsstädten Madrid, Paris und London wesentlich niedriger aus. Das ist an sich keine Überraschung. Denn im Westen waren die Ausgangsbedingungen für die Vermittlung von Amerika-Wissen andere als im Reich. Die genannten Metropolen befanden sich im Brennpunkt weltweit ausgreifender kolonialstaatlicher Komplexe. Hier konzentrierte sich eine imperial sensibilisierte Öffentlichkeit, die über den Buchmarkt regelmäßig Informationen aus den Kolonien nachfragte. Daneben spielte die leichtere Verfügbarkeit von überseeischen Nachrichten eine bedeutsame Rolle. In Spanien, Frankreich und England bestand ein politisches Interesse an der regelmäßigen Erhebung und Verwertung von Amerika-Wissen. Im Unterschied zum Reich war hier der Informationstransfer Bestandteil behördenstaatlich organisierter und bürokratisch normierter Vorgänge: In Spanien betrieb der in Sevilla bzw. in Cadíz ansässige Indienrat (Consejo de Indias) eine regelmäßige Landeserfassung, die auf empirischer Grundlage sämtliche Phänomene der Neuen Welt landeskundlich aufbereitete, um die Eliten mit entsprechenden Erkenntnissen zu versorgen.74 Nicht anders stellt sich die Situation in England dar, wo ebenfalls die staatliche Institutionalisierung der kolonialen Informationsermittlung zu beobachten ist.75 Auch wenn man sich diese verschiedenartigen kommunikationsgeschichtlichen Voraussetzungen vergegenwärtigt, ist es dennoch erstaunlich, wie stark sich die Verhältnisse zwischen West- und Mitteleuropa voneinander unterschieden: Die englische, insbesondere in London konzentrierte Buchproduktion übertraf den amerikakundlichen Ausstoß im Reich um das Zweibis Dreifache.76 Ganz ähnliche Konstellationen bestimmen den deutsch-spani74 75 76

Vgl. Brendecke, Imperium und Empirie; Portuondo, Secret Science, 60-107. Etwa durch das Ende des 17. Jahrhunderts gegründete Council of Foreign Trade bzw. den Board of Trade (beide in London). Vgl. dazu Wellenreuther, Niedergang, 478-496. Vgl. Simmons, Americana, 366-370, hier zur absoluten Spitzenstellung von London 368.

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Kapitel 4: Süddeutsche Amerika-Literatur

schen, deutsch-französischen und deutsch-niederländischen Vergleich. Weder Frankfurt am Main noch Leipzig oder später Berlin konnten es auch nur annähernd mit Madrid, Paris und Amsterdam aufnehmen. Zwischen 1676 und 1750 erschienen in der spanischen Kapitale mehr als 2500 Buchtitel über die Neue Welt, in der französischen Hauptstadt über 1300, in Amsterdam knapp 1400 Amerika-Texte.77 In Leipzig, dem mit Abstand bedeutendsten Verteilerknoten für Übersee-Publizistik innerhalb des Reichs, wurden im genannten Zeitraum lediglich 494 Drucke entsprechenden Inhalts veröffentlicht. Man muss sich diese Relationen vor Augen halten, um den buchgeschichtlichen Ort des Reichs im frühneuzeitlichen Rezeptionsgefüge angemessen erfassen zu können: Aus europäischer Perspektive lag Deutschland an der Peripherie der transkontinentalen Informationsströme. Diese Randlage war systembedingt. Sie hing mit dem Mangel an imperialer Betroffenheit zusammen. Die Amerika-Wahrnehmung konnte hier nicht aus den Mentalitäten kolonialstaatlicher Expansion schöpfen, sondern musste auf andere Inspirationsquellen, etwa auf religiöse oder ökonomische Interessen, zurückgreifen. Tabelle 1: Wichtige Druckorte für Amerika-Schriften im Alten Reich (1675-1750). Nach: European Americana, Bde. 4-6 (1988-1997) Anzahl der Drucke 250 Antwerpen Hamburg Halle

Brüssel Frankfurt/Main Augsburg

Köln Leipzig Nürnberg (Altdorf)

200

200 167 155 150

139 120

100

88 61

50

31 32

59

40 23 11

0

77

1676-1700

20

65

58

71 48

37

28 12

20

1701-1725 Erscheinungsjahre

17

11

57

62

4 1726-1750

Diese Daten beruhen auf Auswertungen der entsprechenden Teilbände der European Americana. Frau Larissa Wagner (München) möchte ich dafür danken, dass sie sich den Mühen der Auszählung so kompetent unterzogen hat.

54

Teil 2: Gelehrtenkultur und Amerika-Wissen in Süddeutschland

Wie sah es nun mit der reichsinternen Verteilung der Amerika-Schriften aus? Die Tabellen 1 und 2 können interessante Antworten auf diese Frage geben. Die erste, bis 1750 reichende Graſk zeigt die Entwicklung in den neun wichtigsten Vertriebszentren für gedrucktes Amerika-Wissen: in der rheinisch-südniederländischen Verlagsregion um Antwerpen, Brüssel und Köln, in der mitteldeutsch-sächsischen Bücherlandschaft mit den Knotenpunkten Frankfurt am Main, Leipzig und Halle sowie im süddeutschen Raum, wo Augsburg und Nürnberg die einzigen Druckermetropolen waren, die im Reichsmaßstab eine größere Ausstrahlung entfalten konnten.78 Norddeutschland war nur mit Hamburg vertreten. Im Westen, in der Mitte und im Süden des Alten Reichs konzentrierten sich zwei Drittel der gesamten deutschen Buchproduktion mit amerikanischem Themenbezug. Wenn man die Werte im Einzelnen betrachtet, dann sticht zunächst die bereits angesprochene Führungsrolle von Leipzig heraus.79 Zwar rangierte die sächsische Großstadt – neben Frankfurt Schauplatz der bedeutendsten Buchmesse im Alten Reich – zunächst noch hinter ihrer hessischen Konkurrentin. Im 18. Jahrhundert setzte sie sich jedoch klar von Frankfurt ab. Doch nicht nur die alte Kaiserstadt am Main hatte Verluste zu verkraften. Noch markanter fällt der Bedeutungsrückgang der westdeutschen Buchlandschaft ins Auge: Lassen sich hier vor 1700 103 Amerika-Drucke zählen, so verringerte sich dieser Anteil im zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts dramatisch: Er sank auf 32 Titel ab. Sicherlich wird man für diese Verschiebungen allgemeine wirtschaftliche Konjunkturen verantwortlich machen können. Köln litt stark unter den vor allem Leipzig zugute kommenden Verlagerungen im Verlagsgeschäft des späten Ancien Régime.80 Dennoch wurden hier auch Umbrüche wirksam, die unmittelbar mit dem Problem der Amerika-Kommunikation verbunden waren: Die ƀämischrheinischen Verleger, an erster Stelle das in Köln und Antwerpen tätige Unternehmen Plantin-Moretus, konnten bis in das frühe 18. Jahrhundert von der engen Verƀechtung mit dem spanischen Kulturraum proſtieren.81 Die Produktion hing weitgehend von staatlichen und kirchlichen Auftraggebern aus dem iberischen Weltreich ab: Ein Gutteil der Veröffentlichungen stammte etwa aus dem Umkreis des spanischen Jesuitenzweigs. Nach dem Übergang der südlichen Niederlande auf die österreichischen Habsburger (1714) ſelen diese institutionellen Stützen weg, was einen nachhaltigen Einbruch der amerikakundlichen Publizistik zur Folge hatte.

78

79 80 81

Für den Kölner, Frankfurter, Nürnberger und Augsburger Buchdruck spielte die Amerika-Publizistik seit dem Humanismus eine wichtige Rolle. Vgl. dazu Marichal, European Americana, 548. Zu den hier entwickelten Grundtendenzen vgl. ebenso Borja González, Jesuitische Berichterstattung, 42-54. Vgl. François, Géographie du livre, 67, 69. Vgl. J. Arndt, Köln, 132; François, Géographie du livre, 65. Vgl. Enderle, Buchdrucker, 173f.

Kapitel 4: Süddeutsche Amerika-Literatur

55

Das süddeutsche Umfeld war hingegen durch eine relativ hohe Stabilität gekennzeichnet. Zwar lassen sich hier größere interne Umschichtungen feststellen, so etwa von Nürnberg auf Augsburg. Insgesamt gesehen, konnten sich aber die Americana auf dem süddeutschen Buchmarkt recht gut behaupten. Die Ursachen für diese kontinuierliche Entwicklung lagen in der stark konfessionell geprägten Struktur des süddeutschen Verlagssystems. In Augsburg zeigen sich die Zusammenhänge besonders deutlich: Hier bestand eine lebhafte Konkurrenz zwischen katholischen und protestantischen Druckern, was sich durchaus belebend auf den Markt auswirkte.82 Darüber hinaus bestanden hier konfessionell klar konturierte Wissensgruppen, die intensiv Anteil an den Ereignissen jenseits des Atlantiks nahmen und ihrem jeweils speziſschen Interesse an der Neuen Welt auch publizistisch Ausdruck zu geben versuchten. Zum einen sind in diesem Zusammenhang die Jesuiten zu nennen. In erster Linie hatte die schwäbische Reichsstadt ihre Mittlerfunktion für AmerikaNachrichten diesem international agierenden Missionsorden zu verdanken. Die Jesuiten ließen ihre geograſschen und historiograſschen Werke, aber auch Übersetzungen spanischer, italienischer und französischer Amerika-Literatur, häuſg durch die besonders leistungsfähigen Augsburger Verleger herausgeben.83 Mit den Pietisten um den bereits genannten Samuel Urlsperger bestand in der Lechmetropole ein weiteres Zentrum für die Verbreitung von Amerika-Wissen. So ist der statistisch deutlich messbare Anstieg der Augsburger Buchproduktion nach 1726 in einem kausalen Zusammenhang mit der Auswanderung der Salzburger Protestanten nach Georgia zu sehen. Ein wichtiges Glied innerhalb dieser pietistischen Nachrichtenkette zwischen Europa und Amerika bildete auch Halle. Der Bedeutungszuwachs der Universitätsstadt während der 1730er und 40er Jahre lässt sich unmittelbar mit dem ausgedehnten publizistischen Engagement der Pietisten im Salzburger Handel erklären. Beispielsweise veröffentlichte Urlsperger einen Teil seiner GeorgiaSchriften in der Druckerei der Francke’schen Stiftungen. Daher kann man für die Mitte des 18. Jahrhunderts keine scharfen Trennlinien zwischen den einzelnen Verlagsregionen ziehen. Vielmehr ist von religiös und konfessionell bedingter Interaktion auszugehen. Im Fall von Augsburg und Halle führte sie zu einer engen kulturgeograſschen Verbindung zwischen der gemischtkonfessionellen Reichsstadt im Süden und der protestantischen Universitätsmetropole in der Mitte Deutschlands.84

82 83 84

Vgl. François, Unsichtbare Grenze, 78-80; ders., Géographie du livre, 66, 68; Gier, Buchdruck, 485-489; R. Wittmann, Geschichte, 87. Vgl. Gier, Buchdruck, 489-491, 494-501; François, Buchhandel und Buchgewerbe, 336f.; Borja González, Jesuitische Berichterstattung, 76-84. Vgl. Landis, Literature of the Encounter, 80f.; Walker, Salzburger Handel, 179.

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Teil 2: Gelehrtenkultur und Amerika-Wissen in Süddeutschland

Tabelle 2: Nord- und süddeutsche Druckorte für Amerika-Schriften (1770-1800). Nach: Dippel, Americana Germanica (1976) Norddeutsche Druckorte

Anzahl der Amerika-Drucke

Leipzig

179

Berlin

Süddeutsche Druckorte

Anzahl der Amerika-Drucke

Wien

29

98

Nürnberg

27

Hamburg

52

Augsburg

13

Frankfurt am Main

41

München

7

Halle

29

Salzburg

7

Göttingen

25

Tübingen

7

Hannover

13

Würzburg

7

2

Bayreuth

6

Bamberg

5

Köln

Ein gänzlich anderer Eindruck ergibt sich für das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts (Tabelle 2). Hier deutet sich eine klare geograſsche Verschiebung der Amerika-Diskurse an. Die klassischen Druckstandorte wie Leipzig und Frankfurt am Main behielten zwar ihre wichtige Funktion im transatlantischen Wissenstransfer bei. Mit Berlin und Göttingen tauchten aber neue Verteilerpunkte im Norden des Reiches auf, die um 1700 noch kaum in Erscheinung getreten waren. Besonders signiſkant ist der Aufstieg Berlins, wobei einerseits veränderte ökonomische Rahmenbedingungen (die brandenburgisch-preußische Residenz konnte bis 1800 überhaupt als Verlagsort an Gewicht zulegen85), andererseits der Wandel in der publizistischen Medienlandschaft entscheidende Gründe lieferte: Berlin avancierte zu einem Zentrum des aufklärerischen Zeitschriftenwesens. Diese neue Medienform gehörte im späteren 18. Jahrhundert zu den wichtigsten Foren des amerikakundlichen Informationsaustauschs. Das Wissen über die Ereignisse von 1776, die Revolution und die amerikanische Staatswerdung, wurde im Reich vor allem über die periodischen Textgattungen transportiert. Die Protagonisten der aufklärerischen Amerikakunde, Achenwall und Schlözer, wählten häuſg diesen Weg, um ihre Schriften über die Neue Welt zu veröffentlichen.86 Diese Tendenz machte sich auch in Göttingen bemerkbar. Hier kam freilich noch der Umstand hinzu, dass die dortige Universität der Ausprägung der Amerikakunde als eigener Fachdisziplin (innerhalb der Statistik) wesentliche Impulse verliehen hatte – ein Faktor, der sich durchaus in einer gesteigerten Buchproduktion 85 86

Vgl. François, Géographie du livre, 71; R. Wittmann, Geschichte, 113. Vgl. dazu insgesamt Depkat, Amerikabilder; Garber, Aufklärungstopographie, 56-59.

Kapitel 4: Süddeutsche Amerika-Literatur

57

niederschlagen konnte. Nicht unterschätzen sollte man außerdem den Einƀuss der Übersetzungsliteratur: Für die Göttinger und Berliner Verleger war die Spezialisierung auf die Übersetzung und Verbreitung englischsprachiger Drucke charakteristisch. Auf diese Weise wurden die verschiedenen Wellen der britischen Amerika-Wahrnehmung, insbesondere das kräftige Anwachsen der einschlägigen englischen Publizistik infolge des Unabhängigkeitskriegs, auf dem (nord-)deutschen Buchmarkt spürbar. Das süddeutsche Milieu des späten 18. Jahrhunderts ist hingegen durch einen massiven Bedeutungsverlust gekennzeichnet (Tabelle 2). Diese Beobachtung erklärt sich aus dem Niedergang von Nürnberg und Augsburg. Selbst das markante Vorrücken des vorher irrelevanten Wien vermochte diese negativen Verschiebungen kaum zu kompensieren. Wie im Fall von Norddeutschland wurden auch hier langfristige institutionelle Prozesse wirksam, deren Ursachen außerhalb des engeren verlagsgeschichtlichen Systems lagen. Die tiefgreifende Umschichtung des katholischen Bildungswesens infolge der Aufhebung des Jesuitenordens 1773 verschlechterte die Angebots- und Nachfragesituation für Americana dramatisch. Mit den in internationale Netzwerke integrierten Jesuiten-Autoren ſel in Süddeutschland ein wichtiger Vermittlungsfaktor für globales Wissen weg. Die Konsequenzen dieses Ausfalls spiegeln sich in den buchgeschichtlichen Konjunkturzyklen wider. Und die im Zuge der Akademiebewegung neu entstandenen Gelehrtenpole – etwa die Bayerische Akademie der Wissenschaften, eine Gründung von 1759 – waren trotz ihres aufklärerischen Modernitäts- und Innovationsanspruchs kaum in der Lage, diese Verluste aufzufangen und den Buchmarkt mit entsprechenden Produkten zu bedienen. Das Beispiel des Regensburger Benediktinerpaters und Naturwissenschaftlers Ildefons Kennedy, der sich im Auftrag der Münchner Akademie mit dem Blitzableiter von Benjamin Franklin beschäftigte und darüber eine Abhandlung veröffentlichte, kann diese Negativbilanz nicht aufhellen. Der aus Schottland stammende Gelehrte blieb eine Ausnahme.87 So lässt sich im Zwischenresümee festhalten: Aus buchgeschichtlicher Perspektive war die süddeutsche Amerika-Rezeption durch zwei Phasen bestimmt: eine Epoche der Expansion, die bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts andauerte, und eine Periode des schleichenden Positionsverlusts, der sich für die drei letzten Dekaden des Ancien Régimes beobachten lässt. Während der ersten Phase bildete Süddeutschland eine Kernzone der amerikakundlichen Literatur. Der Süden des Alten Reichs war maßgeblich an der Diffusion von Erkenntnissen über die Neue Welt beteiligt. Die Gleichsetzung von transatlantischem Interesse und norddeutscher Aufklärung, diese die Forschung nach wie vor prägende These, lässt sich hingegen erst für den zweiten Epo87

Zu Kennedy, Naturwissenschaftler und Sekretär der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, vgl. Hammermayer, Secretarius Perpetuus, 202-211; ders., Schottische Benediktiner, 32; Kraus, Naturwissenschaftliche Forschung, 173-178; Schrott, Blitzfang, 324-326.

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Teil 2: Gelehrtenkultur und Amerika-Wissen in Süddeutschland

chenabschnitt, für die Zeit nach 1770 bestätigen. Gleichwohl ist hier vor voreiligen Schlüssen zu warnen: Das amerikanische Thema verschwand im Süddeutschland des ausgehenden Ancien Régime nicht völlig von der Bildƀäche. Eher sollte man von Abschwächungstendenzen sprechen: Im buchgeschichtlichen Gefüge des späteren 18. Jahrhunderts verlor Süddeutschland seine transatlantische Zentralposition nach und nach an den Norden des Reichs. Abschließend bleibt noch ein größeres Problem, nämlich die Frage nach den speziſschen Binnenstrukturen des süddeutschen Buchmarkts, zu klären. Auf die Dominanz von Nürnberg und Augsburg wurde bereits hingewiesen. Man kann sich die herausragende Funktion der beiden Reichsstädte für die Amerika-Kommunikation auch an einigen Datenbeispielen vergegenwärtigen: Während des späten 17. Jahrhunderts entſelen rund zwei Drittel der süddeutschen Amerika-Publizistik auf Nürnberg und Augsburg. Im Zeitraum zwischen 1700 und 1750 deckten die beiden Reichsstädte immerhin noch mehr als 50% der gesamten Buchproduktion über die Neue Welt ab. Erst für das ausgehende 18. Jahrhundert ist dann ein tiefgreifender Wandel der Verhältnisse festzustellen (Tabelle 2). Im Revolutionszeitalter konnten die beiden Reichsstädte weniger als ein Drittel zur süddeutschen Amerika-Publizistik beisteuern. Dafür gewann Wien neue Bedeutung: Zwischen 1770 und 1800 erschien rund ein Fünftel aller amerikarelevanten Titel in der Kaiserresidenz. Damit erreichte Wien die höchste Einzelquote, die sich für diesen Zeitabschnitt in Süddeutschland messen lässt. Freilich sollten diese Zahlenreihen nicht über die hoch diversiſzierten Strukturen der süddeutschen Verlagslandschaft hinwegtäuschen. Deren besonderes Merkmal bestand darin, dass sich hier die Amerika-Wahrnehmung auf ein multipolares, institutionell wie regional breit geknüpftes Kulturnetz zu stützen vermochte. Neben Nürnberg und Augsburg existierten zahlreiche kleinere Rezeptionszentren, die das Wissen über die Neue Welt aufnehmen und publizistisch umsetzen konnten. An erster Stelle wäre die Gruppe der übrigen Reichsstädte zu nennen: größere wie Straßburg, Ulm und Regensburg, daneben auch kleinere, so etwa Memmingen, Kempten oder Reutlingen. Kaum zu überschätzen ist ferner der substanzielle Beitrag der reichskirchlichen Vermittlungspole. Die reichsstiftischen Universitätsstädte Salzburg, Würzburg und Bamberg, aber auch Dillingen verfügten über verlegerische Potenziale, die ihnen die Teilnahme am amerikakundlichen Informationsgeschäft ermöglichten. Dafür waren einerseits die Jesuiten verantwortlich: Der erstaunliche Stellenwert Dillingens – die Residenz der Augsburger Bischöfe konkurrierte zeitweise mit München um den Vorrang bei den Amerika-Drucken – erklärt sich aus der massiven Präsenz dieser Ordensgemeinschaft, die hier das philosophische und theologische Studium bis 1773 leitete und damit ein positives Umfeld für die Vermittlung außereuropäischer Wissensbestände schaffen konnte.88 88

Vgl. Künast, Druckerei, 604-610.

Kapitel 4: Süddeutsche Amerika-Literatur

59

Ähnliches lässt sich für Würzburg beobachten, wo ebenfalls jesuitische Amerika-Gelehrte die einschlägige Buchproduktion vorantrieben. Andererseits wird man die Anstöße der katholischen Aufklärung hervorheben müssen. Gerade der signiſkante Anteil Salzburgs deutet auf entsprechende Zusammenhänge hin. Dass hier ab 1771, das heißt nach dem Amtsantritt des reformkatholisch orientierten Erzbischofs Hieronymus von Colloredo, eine Zunahme amerikakundlicher Werke zu verzeichnen ist, dürfte unmittelbar auf dessen Bemühungen um eine Erneuerung des Schul- und Universitätswesens zurückzuführen sein. Diese Bestrebungen zielten auf eine Erweiterung der Lehrprogramme in universalhistorischer und globalgeograſscher Hinsicht ab.89 Damit war ein Aufgabenfeld umschrieben, dessen Bearbeitung die Benediktinerprofessoren der Salzburger Universität bereitwillig angingen: Bis 1800 veröffentlichten sie zahlreiche Lehrbücher, die das amerikanische Thema im Rahmen von Geschichte und Geograſe breit berücksichtigten. Vergleichbare Konstellationen stimulierten das Amerika-Interesse in den fränkischen Reichsdiözesen (vor allem in Würzburg), wo die aufklärerisch inspirierten Reforminitiativen der jeweiligen Fürstbischöfe auf dem Schulbuchsektor ebenfalls eine Sensibilisierung für transatlantische Phänomene bewirkten.90 Neben den katholischen spielten die protestantischen Universitätsstädte als Druckorte für Americana eine wichtige Rolle. Tübingen und Erlangen lassen sich beispielsweise als Konzentrationszonen entsprechender literarischer Projekte identiſzieren. Auffällig ist jedoch die Tatsache, dass hier die amerikakundliche Buchproduktion erst während des späten 18. Jahrhunderts verstärkt einsetzte. Gegenüber den katholischen Hochschulstandorten sind also retardierende Momente festzustellen. Die Ursachen für diesen protestantischen Rückstand dürften in konfessionskulturell begründeten Unterschieden zu suchen sein: Während sich das katholische Buchgewerbe stets auf die Beiträge der global wirksamen Missionsorden (vor allem der Jesuiten) verlassen konnte, fehlten im protestantischen Umfeld solche Anknüpfungsmöglichkeiten. Eine Ausnahme bildete lediglich die kleine Universität Altdorf, die auf dem Territorium von Nürnberg lag und die so etwas wie die intellektuelle Herzkammer der fränkischen Reichsstadt darstellte.91 Dass die Nürnberger Verleger die süddeutsche Amerika-Publizistik vor 1750 nachhaltig dominieren konnten, lag nicht zuletzt an deren Filialunternehmen in Altdorf: In diesen Druckereien erschienen häuſg die Werke der Altdorfer Professoren, die gerade während der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf universalgeograſsche Themenbereiche spezialisiert waren. Und wie verhielt sich die buchhändlerische Szene der wittelsbachischen Residenzen gegenüber der Herausforderung der Neuen Welt? Eine Antwort 89 90 91

Vgl. Hammermayer, Erzstift Salzburg, 350-354. Vgl. A. Schmid, Reformpolitik, 195-200. Vgl. Mährle, Academia Norica; vgl. ferner die Beiträge in Brennecke/Niefanger/Schnabel, Altdorf.

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Teil 2: Gelehrtenkultur und Amerika-Wissen in Süddeutschland

auf diese Frage muss sich vor allem aus der Betrachtung der Münchner und Mannheimer Verhältnisse ergeben. Ohne Zweifel kam beiden Städten innerhalb der Wittelsbacher Territorien eine kulturelle Vorreiterrolle zu. Zwar hatten sie keine eigenen Universitäten; dafür verfügten sie aber über angesehene Akademien bzw. Gelehrtenvereinigungen, die von den Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts gerne mit wissenschaftlichem Fortschritt assoziiert wurden.92 Im Fall von München ist bereits betont worden, dass sich die Akademiegelehrten – bis auf wenige Ausnahmen – kaum am atlantischen Informationstransfer beteiligten. Dennoch fällt die recht solide Position der bayerischen Hauptstadt bei den Amerika-Drucken auf: Zwischen 1676 und 1700 rangierte sie mit acht Werken unmittelbar hinter Nürnberg und Augsburg. Im Zeitraum von 1701 bis 1725 belegte die süddeutsche Stadt noch den fünften Platz (hinter Nürnberg, Augsburg, Regensburg und Wien). Auch während der Revolution und des Unabhängigkeitskriegs konnte der vierte Kontinent bei den Münchner Verlegern mit einer gewissen Aufmerksamkeit rechnen. Zwischen 1770 und 1800 lassen sich sieben Amerika-Drucke nachweisen. Damit erreichte München wieder den dritten Rang nach Nürnberg und Augsburg. Diese beachtliche Bilanz ist zum großen Teil der Publikationstätigkeit der Jesuiten zuzuschreiben. Denn in München erschienen zahlreiche Drucke, die von Jesuiten aus Dillingen, Augsburg oder Ingolstadt verfasst worden waren. In Mannheim dagegen lässt sich ein Zusammenhang zwischen der 1763 gegründeten Akademie und der verstärkten Präsenz von Amerika-Drucken auf dem regionalen Buchmarkt erkennen. So wurde etwa 1772 der berühmte „Kalifornienbericht“ des Jesuitenmissionars Johann Jakob Baegert in der kurfürstlichen Hof- und Akademiedruckerei veröffentlicht. Während der 1780er und 90er Jahre setzte sich die Serie der kurpfälzischen Amerika-Schriften fort. Zu nennen wäre etwa die bei Christian Friedrich Schwan, dem Verleger von Friedrich Schiller, publizierte Abhandlung von Friedrich Casimir Medicus über nordamerikanische Koniferen.93 Die Mannheimer Akademie stand überdies in direktem Kontakt mit amerikanischen Gesprächspartnern, so vor allem mit Benjamin Franklin, dem der Meteorologe und Sprachforscher Jakob Hemmer zwischen 1778 und 1780 die laufenden Akademiepublikationen zukommen ließ.94 92 93

94

Vgl. Zedelmaier, Akademiebewegung, 335-339. Zu Medicus vgl. Baginsky, German Works, 1154, 1354. Ein weiteres Zentrum für pfälzisch-wittelsbachischen Kontakt nach Nordamerika war die Akademie des Herzogtums Zweibrücken. Deren Mitglieder pƀegten regen Austausch mit Franklin. Vgl. dazu etwa APSL Franklin Papers XXIV, 10 (Johann Valentin Embser an Franklin, 1782 I 6) [Abdruck in: Papers of Benjamin Franklin 36, 387-389]; Papers of Benjamin Franklin 36, 433 (Franklin an Embser, 1782 I 15); APSL Franklin Papers XXV, 63 (Embser an Franklin, 1782 V 9) [Abdruck in: Papers of Benjamin Franklin 37, 347f.]; XXVII, 150 (ders. an Franklin, 1783 VII 28). Vgl. APSL Franklin Papers XII, 28 (Jacob Hemmer an Franklin, 1778 IX 24) [Regest in: Victory, Franklin, 139f.; Papers of Benjamin Franklin 27, 457]; LXX, 114 (ders. an

Kapitel 5: Amerikakundliche Kommunikationsmilieus

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KAPITEL 5: AMERIKAKUNDLICHE KOMMUNIKATIONSMILIEUS Fasst man die Ergebnisse der Beobachtungen zu den transatlantischen Beziehungen und zum Buchmarkt zusammen, dann werden die institutionellen Fundamente des süddeutschen Amerika-Interesses sichtbar. Im Rückgriff auf jüngere Forschungsmodelle zur Geschichte der frühneuzeitlichen Bildungsgesellschaft kann man für Süddeutschland insgesamt vier Instanzen der amerikakundlichen Wissensproduktion ausmachen.95 Erstens: die religiösen Träger, so vor allem die Ordensgemeinschaften der Jesuiten und Benediktiner. Dazu sind auch die Pietisten zu rechnen, die aufgrund ihres hohen Organisationsgrads und ihrer ausgeprägten ideellen Identität durchaus Ähnlichkeiten mit den Missionsorden der katholischen Kirche hatten. An zweiter Stelle wären die Reichsstädte zu nennen. Sie trugen vor allem als Verlagszentren und Mittelpunkte der bürgerlich-städtischen Gelehrsamkeit zum amerikakundlichen Wissenstransfer bei.96 Die Universitäten und Akademien bzw. universitätsähnlichen Einrichtungen stellten ein drittes Forum dar. Hierbei ist jedoch hinsichtlich der Informationskompetenz stark zu differenzieren. Die Hochschulen, ob nun als Volluniversitäten (z.B. Dillingen) oder Semiuniversitäten mit eingeschränktem Lehrprogramm (etwa Ulm), waren für die süddeutsche Amerika-Rezeption weitaus bedeutsamer als die Akademien.97 Den vierten Resonanzkörper bildete der Fürstenhof. Dabei ist weniger an dessen Eigenschaft als Ort des diplomatischen Informationsaustauschs zu denken. Wie bereits angedeutet, gewann diese Form der Kommunikation als Quelle für Amerika-Erkenntnis erst am Ende des 18. Jahrhunderts größere Relevanz. Hier geht es vielmehr um den Hof als Entfaltungsraum gelehrter Tätigkeit. Die höſsche, meist für die Verwendung in der Fürstenerziehung und Regentenberatung konzipierte Geschichts- und Weltbeschreibung gehörte ebenfalls zu den Vermittlungskanälen amerikakundlichen Wissens.98 Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich deren Protagonisten häuſg an einen vergleichsweise kleinen Adressatenkreis wandten. Die Werke der Hofgelehrsamkeit wurden ihrem Publikum oft nur in Manuskriptform zugänglich gemacht, weshalb sich im süddeutschen Fall der Begriff der „Amerika-Publizistik“ nicht ausschließlich auf Druckerzeugnisse beschränken kann, sondern auch die entsprechende

95

96 97 98

Franklin, 1780 VIII 8); Papers of Benjamin Franklin 33, 206 (David L’Ainé an Franklin, 1780 VIII 18); vgl. dazu auch Kreutz, Akademie, 283f. Vgl. dazu Neumeister/Wiedemann, Res publica litteraria. Speziell mit Blick auf die Produktionsorte frühneuzeitlicher Historiograſe vgl. Völkel, Geschichtsschreibung, 215222 (Hof, Kirche, Universität und Akademie als klassische „Institutionen“ der Geschichtsschreibung). Vgl. A. Kraus, Bürgerlicher Geist; Schindling, Bildung und Wissenschaft. Vgl. Dickerhof, Gelehrte Gesellschaften; Hammerstein, Innovation und Tradition. Zur gelehrten Tradition der Höfe vgl. Benz, Tradition; Coreth, Österreichische Geschichtsschreibung; R. A. Müller, Historia; Völkel/Strohmeyer, Historiographie an europäischen Höfen.

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Teil 2: Gelehrtenkultur und Amerika-Wissen in Süddeutschland

archivalische Überlieferung miteinbeziehen muss. Die nachfolgenden Überlegungen stützen sich daher auch auf handschriftliche Texte. Selbstverständlich wird man die Grenzen zwischen den Vermittlungsinstanzen nicht allzu scharf ziehen dürfen. Die Protagonisten des Amerika-Wissens pendelten mitunter recht frei zwischen den verschiedenen Sektoren. Ein typisches Beispiel dafür sind die Jesuiten, die sich – als Universitätswissenschaftler oder Hoſntellektuelle – in vielfältigen Lebenszusammenhängen bewegten und sowohl auf ordensinterne als auch akademische Öffentlichkeiten zielten.99 Vergleichbares lässt sich für die Pietisten beobachten, die gleichzeitig im reichsstädtischen und universitären Gelehrtenkontext verankert sein konnten. Und die reichsstädtischen Kartografen, meist kommerziell erfolgreiche Verlegerpersönlichkeiten, brachten ihre ambitionierten Atlas-Projekte häuſg in Zusammenarbeit mit den Geografen und Historiografen benachbarter Universitäten heraus. Methodologisch gesehen kann es sich daher bei der hier zu Grunde gelegten Konzeption nur um ein offenes Interpretationssystem handeln. Am besten vergleichen lässt es sich mit dem Modell des „Kommunikations- und Wissensmilieus“, mit dem man die Gruppierungen in der frühneuzeitlichen Gelehrtenrepublik zu erfassen versucht.100 Dessen Merkmale und Faktoren bestimmten auch die Entstehungsbedingungen für die zeitgenössische Amerikakunde: Die Informationsträger waren in informellen Kreisen zusammengeschlossen, die sich oft an Institutionen anlehnten. Die Teilnehmer des jeweiligen Zirkels waren von gemeinsamen historischen und biograſschen, darum objektivierbaren Erfahrungen geleitet. Es lässt sich so etwas wie eine speziſsche Motivationsbasis feststellen. Deshalb konnte die einzelne Diskursgruppe den Charakter einer religiösen oder auch politischen Überzeugungsgemeinschaft gewinnen. Die Bewahrung von Wissenstraditionen spielte mitunter eine erhebliche Rolle. Besonders gut ist dies bei den großen publizistischen und editorischen Unternehmungen der barocken Geschichtsschreibung zu beobachten. Hier arbeiteten oftmals mehrere Gelehrten-Generationen Hand in Hand, um eine periodisch erscheinende Universalchronik oder eine Sammlung von Missionsbriefen aus der Neuen Welt fortzuführen. Meist hatten die Verleger Interesse an der Fortsetzung solcher Projekte. Den reichsstädtischen Verlagshäusern kam daher eine hohe Bedeutung für die langfristige Sicherung amerikakundlicher Informationsketten zu. In der Regel vollzog sich die süddeutsche Amerika-Rezeption außerhalb staatlicher Direktive. Nur bei einer Minderheit von Autoren und Texten wird man den Impetus fürstlicher (oder reichsstädtischer) Forschungsinitiative herausarbeiten können, sei es nun im Rahmen der eben angesprochenen Hoƀite99 Vgl. Grafton, Worlds Made by Words, 161-175; Feingold, Jesuits. 100 Erkenntnisleitend für die hier zur Diskussion stehenden Probleme können die Überlegungen von Phillipson (Reƀections), Seban (Beausobre) und Gierl (Korrespondenzen) sein.

Kapitel 5: Amerikakundliche Kommunikationsmilieus

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ratur (Fürstenerziehung) oder im Zusammenhang mit einem unmittelbaren landesherrlichen Auftrag (Forschungsreise in die Neue Welt). Die Selbststeuerung der Wissenszirkel ist sicherlich ein Hauptkennzeichen der AmerikaKommunikation im Zeitalter von Barock und Aufklärung, ebenso ihr diversiſziertes Öffentlichkeitsproſl: Die Repräsentanten der Amerika-Beschreibung wandten sich in der Regel nicht an eine speziſsch bürgerliche Öffentlichkeit im Sinn von Jürgen Habermas. Dessen Begriffskonzeption von Öffentlichkeit als „Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute“ kann der Pluralität der Kommunikationsstrukturen des 18. Jahrhunderts ohnehin kaum gerecht werden.101 Vielmehr ging es den Trägern der Amerika-Kommunikation darum, speziſsche Adressatengruppen, man könnte auch sagen: „Segmente der Öffentlichkeit“ zu erreichen, also etwa die hochschulische Gelehrtenrepublik, das innerjesuitische Forum, das pietistische Gesinnungsmilieu oder die politischen Entscheidungsträger auf reichspolitischer oder territorialstaatlicher Ebene.102 Andererseits war der common reader angesprochen, der – ganz unabhängig von seiner sozialständischen oder professionellen Identität – über das Geschehen in Übersee informiert werden sollte. Volksaufklärerische und wissenspopularisierende Absichten bestimmten im Wesentlichen den Zuschnitt des zeitgenössischen Denkens und Schreibens über die Neue Welt.103 Es ist klar, dass hier weder die Buch- und Handschriftenproduktion eines ganzen Jahrhunderts noch die intellektuellen Strukturen des gesamten süddeutschen Raums vollständig ausgelotet werden können. Ziel der nachfolgenden Ausführungen muss es daher sein, eine annähernd repräsentative Auswahl zu treffen, in der die vier Vermittlungsinstanzen von Kirche, Reichsstadt, Universität und Fürstenhof angemessen vertreten sind. Tatsächlich ist es möglich, im Rückgriff auf die einschlägigen bio-bibliograſschen Verzeichnisse – zu nennen sind hier vor allem die Werke von John Alden und Dennis Channing Landis bzw. Horst Dippel – unter Berücksichtigung der oben skizzierten Statistik des süddeutschen Verlagsmarkts und durch Auswertung weiterer Referenzwerke das breite Feld der Amerika-Literatur entsprechend zu sortieren.104 Wie bereits angekündigt, besteht das Corpus aus 101 Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 86. Zur kritischen Aufnahme des Habermas’schen Modells in der Forschung im Hinblick auf die Amerika-Diskurse vgl. Depkat, Amerikabilder, 26f., 201f.; im Hinblick auf das plural verfasste Öffentlichkeitsgefüge des Alten Reichs vgl. Gestrich, Absolutismus, 28-31; Körber, Vormoderne Öffentlichkeiten, 8-11; Lambrecht, Kommunikationsstrukturen, 2-4; Lanzinner, Region und Reich, 231f.; zuletzt J. Arndt/Körber, Mediensystem. Brady Jr. (German Histories, 5) bevorzugt für das Alte Reich den Begriff „public life“; denn „public sphere“ sei eine „creation of bourgeois society in the age of capitalism“. 102 Für Lanzinner (Region und Reich, 232) sind Höfe und Regierungen, Kirche und Theologen, Städte und Bürger, Universitäten und Gelehrte „Segmente der Öffentlichkeit“. 103 Vgl. Chartier, Lesestoff; Zedelmaier, Lesetechniken. 104 Folgende Bibliograſen wurden herangezogen, um den süddeutschen Fundus an Americana-Titeln noch präziser zu erfassen, so vor allem die Kataloge zu den Altbeständen

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rund 60 Autoren, die sich in folgender Weise auf die einzelnen Wissenszirkel verteilen. Jesuiten, Benediktiner und Pietisten Die im engeren Sinn kirchlich sozialisierten Autoren stellten die bedeutendste Teilgruppe dar. Auf katholischer Seite dominierten die Jesuiten den süddeutschen Amerika-Diskurs seit dem späten 16. Jahrhundert, während die Benediktiner erst in der letzten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine stärkere Wirkung entfalten konnten. 1773, das Jahr der Aufhebung des Jesuitenordens, markierte für das katholische Rezeptionsfeld einen Einschnitt von dramatischen wissenschaftsgeschichtlichen Konsequenzen, der auch innerhalb des „katholischen Milieus“ zu einer Verschiebung der informationellen Kompetenzen führte. Die Benediktiner konnten eigentlich erst nach der Auƀösung des Jesuitenordens deutlicher in den Vordergrund treten, ohne jedoch Quantität und Qualität der jesuitischen Produktion jemals zu erreichen. Aus der Fülle der jesuitischen Amerika-Publizisten seien hier sechs Autoren herausgegriffen: die drei Geografen Heinrich Scherer, Heinrich Niderndorff und Gregor Kolb, wobei Scherer in geradezu idealtypischer Weise den Diskurs über die Neue Welt vertritt und daher breiten Stellenwert einnehmen muss. Daneben wäre zu nennen Joseph Stöcklein mit seinem Neuen Welt-Bott, der größten deutschen Sammlung von first-hand-Zeugnissen über die (katholische) Mission in Asien, Afrika und Amerika. Maximilian Dufrène, ein Gelehrter am Hof der bayerischen Kurfürsten während der ersten Hälfte des 18. Jahrhundert, steht für die Popularisierungsbemühungen jesuitischer Amerikakunde. Dufrène verfasste ein umfassendes pädagogisches Œuvre, in das auch Amerika-Nachrichten einƀossen. Ebenso berücksichtigt wird der gleichfalls in kurbayerischen Diensten stehende Jesuit Theodor Smackers. Leicht könnte man diese Auswahl noch vergrößern. Indes würde eine solche Erweiterung der Materialhorizonte nicht unbedingt den Erkenntnisertrag erhöhen. Denn insbesondere mit Scherer und Stöcklein trat die jesuitische Rezeption der Neuen Welt während der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in ihre gleichsam klassische Phase ein. Methodologisch wie konzeptionell verfeinerte sie die im 17. Jahrhundert vor allem von Autoren wie Johannes Bissel (Argonauticon Americanorum libri X, 1647) oder Kaspar Schott (Physica Curiosa, 1662) entwickelte Beschreibungs- und Ordnungssystema-

der Universitätsbibliothek Augsburg: Vgl. Brandstetter, Europäische Expansion; Sedlmeir, Americana Augustana (nur zugänglich im Archiv der Universität Augsburg); Böning/Siegert, Volksaufklärung; Deutsche Drucke des Barock (für die Herzog-AugustBibliothek Wolfenbüttel); Ostoyich, German Society (für die Bibliothek der German Society of Pennsylvania, Philadelphia).

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tik.105 Sie konnte dabei auf eine erheblich gewachsene Material- und Informationsbasis zugreifen, über die ihre Ordenskollegen aus dem vorangehenden Jahrhundert noch nicht so ohne Weiteres verfügten. Scherer und Stöcklein stehen hier auch stellvertretend für eine Reihe weiterer süddeutscher Jesuiten-Autoren, deren Beiträge zur zeitgenössischen Amerika-Wahrnehmung in den letzten Jahren teilweise intensive Aufmerksamkeit erfahren haben und die daher nicht mehr näher behandelt werden müssen, zumal sich diese sehr oft auf die von Scherer und Stöcklein paradigmatisch entwickelten Kriterien der Amerika-Beschreibung bezogen hatten.106 Die hier vorzustellende Autorengruppe kann aber noch in anderer Hinsicht eine speziſsche Repräsentativität beanspruchen: Herkunftsgeograſsch deckte sie den gesamten fränkisch-schwäbisch-bayerischen Raum ab. Der Bogen reicht von Würzburg (Wirkungszentrum von Heinrich Niderndorff) über Freiburg, Rottweil, Eichstätt und Dillingen (Lebensmittelpunkte von Gregor Kolb und Heinrich Scherer). Professionell war die Autorengruppe breit gefächert. Niderndorff, Kolb und Scherer waren Hochschullehrer. Sie kamen aus den Jesuitenuniversitäten Würzburg, Freiburg/Brsg. und Dillingen.107 Maximilian Dufrène wirkte am Münchner Jesuitenkolleg. Zugleich ist er ein typisches Beispiel für den barocken Hofgelehrten. Denn Dufrène war während der 1740er und 50er Jahre Beichtvater der wittelsbachischen Kurfürsten- und Kaiserwitwe Maria Amalie. Ein ähnliches Proſl hatte der aus Lüttich stammende Jesuitenhistoriograf Theodor Smackers aufzuweisen. Er schrieb seine mit zahlreichen Amerikabezügen durchsetzte Weltgeschichte als Präzeptor des späteren bayerischen Kurfürsten und römisch-deutschen Kaisers Karl (Albrecht) VII.108 Das jesuitische Amerika-Interesse verdankte 105 Zu Bissel vgl. Boehm, Lexikon, 46f.; A. Schmid, St. Michael, 352. Zu Schott vgl. Oswald, Schott. 106 Zu erwähnen wären hier Jesuitengelehrte wie Johann Jacob Baegert (Nachrichten von der Amerikanischen Halbinsel Californien, 1773), Martin Dobrizhoffer (Historia de Aponibus, 1784), Johann Och (Nachrichten von seinen Reisen nach dem spanischen Amerika, 1809), Florian Paucke (Bericht über Paraguay, 1748-1769) oder Ignaz Pfefferkorn (Beschreibung der Landschaft Sonora, 1794). Knapp zur Forschungssituation: für Baegert vgl. Lüsebrink, Fremdheitserfahrung; für Dobrizhoffer vgl. NDB 4 (1959) 6f.; für Och und Pfefferkorn vgl. Classen, Och; ders., Pfefferkorn; für Paucke vgl. Bekker-Donner/Otruba, Zwettler Codex 420; Hausberger/Dörƀinger, Österreichische Jesuiten, 57. 107 Zu Niderndorff († 1744), Professor für Mathematik und Geograſe in Würzburg, vgl. Duhr, Geschichte IV/2, 63, 67, 511. Zu Kolb († 1746), Professor für Geschichte in Freiburg, später für Kanonistik und Moraltheologie an den Jesuitenkollegien von Rottweil und Eichstätt, vgl. Sommervogel/De Backer/De Backer, Bibliothèque IV, 1174-1177. Zu Scherer († 1704), Professor für Mathematik, Geograſe und Hebräisch in Dillingen, Prinzenerzieher in Mantua und München, vgl. NDB 22 (2005) 690f.; Diccionario Histórico, 3519; Duhr, Geschichte III, 575-577, 859f. 108 Zu Dufrène († 1765), Lehrer am Jesuitengymnasium in Landsberg/Lech, Beichtvater der Kaiserinwitwe Maria Amalie, Leiter des Münchner Exerzitienhauses der Jesuiten,

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sich dabei ausgeprägten biograſschen Afſnitäten sowie dem aus dem Missionsgedanken erwachsenden internationalen Horizont einzelner Ordensmitglieder. Für Niderndorff und Scherer lassen sich indipeta-Gesuche nachweisen. Scherer musste diesen Wunsch aus Gesundheitsgründen aufgeben und verlagerte daher seine Bestrebungen auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Neuen Welt. Das Missionsthema bestimmte auch das Werk von Joseph Stöcklein. Der schwäbische Jesuit reagierte mit seinem Werk auf die speziſschen Informationsbedürfnisse der ordensinternen Missionarsausbildung.109 Diesem ausgereiften Kommunikationssystem hatten die (süddeutschen) Benediktiner kaum etwas Vergleichbares entgegenzusetzen. Zum einen verfügten sie über keinen direkten Kontakt mit den Missionsgebieten jenseits des Atlantiks. Ihre Beziehungen mit der Neuen Welt beschränkten sich auf kompilatorische Praktiken der Wissensaufbereitung. Zum anderen konzentrierte sich ihre Öffentlichkeitswirkung auf regionale Kreise: Ein zentraler Ort der intellektuellen benediktinischen Auseinandersetzung mit Amerika war die ordenseigene Universität in Salzburg, wo die beiden der (radikalen) Aufklärung zuneigenden Professoren Raphael Kleinsorg und Augustin Schelle Werke zur Universalgeograſe und -geschichte mit durchaus revolutionsenthusiastischen Untertönen verfassten.110 Zu nennen ist daneben noch das oberpfälzische Benediktinerkloster Ensdorf, das sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter Abt Anselm Desing zu einem Zentrum der Universalhistoriograſe entwickelte. Die Ritterakademie in Kloster Ettal bildete einen weiteren Knotenpunkt der benediktinischen Geschichtswissenschaften, wobei ihr Hauptprotagonist, der Klosterbibliothekar Edmund Pock, auf eine transatlantische Perspektivenerweiterung setzte.111 Trotz dieser beachtlichen Ansätze ist es auffällig, dass sich die übrigen Zentren des benediktinischen Wissenschaftsvgl. Duhr, Geschichte IV/2, 10-15, 391f. Zu Smackers († 1730), Professor für Logik an den Ordenskollegien in Freiburg/Uechtland und Porrentruy, Sekretär und Beichtvater der bayerischen Kurfürstin Therese Kunigunde, vgl. ebd., 369-380; Diccionario Histórico, 3590f.; Sommervogel/De Backer/De Backer, Bibliothèque VII, 765-767. 109 Vgl. Nebgen, Missionarsberufungen, 133f. (Stöcklein), 305 (Scherer), 335 (Niderndorff). Speziell zu Stöcklein († 1733), österreichischer Militärgeistlicher, Rektor des Kollegs in Wiener Neustadt, Leiter der Bibliothek des Grazer Kollegs und Präfekt für die Herausgabe von Büchern, vgl. Stöcklein, Welt-Bott IV/29, Anhang, 141-154 (Biograſe); Sommervogel/De Backer/De Backer, Bibliothèque VII, 1585f. 110 Zu Schelle († 1805), Professor für Ethik, Naturrecht, Universalgeschichte und orientalische Sprachen, Universitätsrektor in Salzburg, vgl. Baader, Lexikon II, 91f.; Schüttler, Illuminatenorden, 134. Zu Kleinsorg († 1821), Professor am akademischen Gymnasium und an der Universität Salzburg, vgl. Österreichisches Biographisches Lexikon III (1965) 392. Zur Salzburger Universität vgl. Lehner, Enlightened Monks, 175-180. 111 Zu Desing († 1772), Pädagoge am Ordensgymnasium Weihenstephan, Professor in Salzburg, ab 1761 Abt von Kloster Ensdorf, vgl. NDB 3 (1956) 614f. Zu Edmund Pock († 1737), Professor für Geschichte und Geograſe an der Ettaler Ritterakademie, vgl. Baader, Lexikon I, 256.

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netzes, die Reichsabteien St. Emmeram in Regensburg, St. Ulrich und Afra in Augsburg, Ottobeuren oder Elchingen in Schwaben, die landständischen Abteien Nieder- und Oberaltaich bei Straubing oder das fränkische Banz, kaum am Amerika-Diskurs beteiligten. Ein Grund für diese Abstinenz dürfte in den speziſschen wissenschaftsdisziplinären Entwicklungen zu suchen sein: Die süddeutschen Benediktiner befassten sich in Anlehnung an die französischen Mauriner bevorzugt mit theoretischen Fragen der Historiograſe, also etwa mit der Quellenkritik im Rahmen der Diplomatik. Dabei avancierte die Geschichte des Mittelalters zum bevorzugten Gegenstand.112 Das pietistische Milieu war die kleinste religiöse Gruppierung, die sich in Süddeutschland aktiv mit Amerika beschäftigte.113 Das pietistische Interesse an der Neuen Welt wurde hauptsächlich von den protestantischen Pfarrer- und Theologeneliten der beiden schwäbischen Reichsstädte Augsburg und Ulm getragen. In der Lechmetropole verband es sich mit dem Namen von Samuel und Johann August Urlsperger. Vater und Sohn bauten ein umfassendes transatlantisches Nachrichtennetz auf. Rückhalt fanden sie in der pietistischen Gesinnungsgemeinschaft, die durch Spenden die kontinuierliche Fortführung der Amerika-Publizistik garantierte. Mit dieser in erster Linie auf Einzelinitiative beruhenden, zudem stark von der Entwicklung der Salzburger Exulantenkolonie in Eben-Ezer (Georgia) abhängigen Konstruktion erwies sich das pietistische Kommunikationsgefüge als ausgesprochen fragil. Das Urlspergerische Informationskonsortium überdauerte kaum eine Generation. Rund dreißig Jahre, in den Jahrzehnten von 1730 bis 1760, konnte es den AmerikaDiskurs im Reich maßgeblich mitgestalten. Danach brach das Netzwerk – auch eine Folge der heftigen Kontroversen zwischen Pietismus und Aufklärung – auseinander. Gleichwohl wird man seine Transferfunktion nicht unterschätzen dürfen. Immerhin gelang es Urlsperger, in dem Ulmer Geistlichen Conrad Daniel Kleinknecht einen Mitstreiter zu gewinnen, der seinerseits das Thema der Neuen Welt publizistisch ventilierte und mit dem Versuch, Auswanderung theologisch zu rechtfertigen, sogar einen handfesten Konƀikt mit den Ulmer Obrigkeiten heraufbeschwor. Dabei konnte sich der Geistliche auf eine entsprechend vorgeprägte Öffentlichkeit verlassen. Denn mit den Kosmograſen des Münsterpredigers Johannes Caspar Funck und seines Fortsetzers Christoph Benjamin Häckhel sowie dem Weltatlas des Mathematikers Johann Ulrich Müller bestand in Ulm seit dem späten 17. Jahrhundert eine Wissenstradition, die sich bereitwillig dem Untersuchungsobjekt Amerika zuwandte.

112 Zu den benediktinischen Wissenschaftskulturen in Süddeutschland vgl. Hammermayer, Maurinismus; Barret-Kriegel, Mabillon, 64-67; A. Kraus, Geschichtsschreibung; ders., Wissenschaftliches Leben, 663-671; Kramer, Wissenschaft; zuletzt Lehner, Enlightened Monks, 11-26. 113 Für das Folgende sei auf die Literatur in Kapitel 15 verwiesen.

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Reichsstädtische Verleger und Intellektuelle Wenn man die reichsstädtische Vermittlungsebene genauer in den Blick nimmt, dann lassen sich neben dem pietistischen Wahrnehmungsmilieu noch andere amerikakundliche Informationskonsortien identiſzieren. Am transatlantischen Nachrichtengeschäft nahmen auch die Repräsentanten des kartograſschen und geograſschen Genres teil. Die Reichspublizistik bildete einen weiteren wichtigen Rezeptions- und Vermittlungskreis. Beide Gruppierungen waren in Augsburg und Nürnberg tief verankert. Das kartograſsche Feld wurde von kommerziell erfolgreichen Großverlegern bedient. Häuſg verbanden diese Persönlichkeiten gelehrtes Interesse, technologische Kompetenz (etwa im Bereich des Kupferstichs und der Druckgraſk) mit ökonomischem Gespür, hohen ästhetischen Ansprüchen und wissenschaftsorganisatorischem Geschick. Ihre durchweg aufwendig gestalteten Atlanten gehörten zum Besten der zeitgenössischen Produktion. Neben London, Paris und Amsterdam waren Augsburg und Nürnberg die unbestrittenen Zentren des kartograſschen Druckgewerbes während des 18. Jahrhunderts. Nicht zu Unrecht hat man Augsburg als „Bilderfabrik Europas“ apostrophiert.114 Namen wie Matthias Seutter und Tobias Conrad Lotter begründeten den Ruf der Lechmetropole auf dem Gebiet der Kartenherstellung, die nicht nur regionale Marktbedürfnisse stillte, sondern mit großformatigen Welt- und Kontinentalkarten, daneben aber auch mit landeskundlich inspirierten Darstellungen überseeischer Länder, transkontinental ausgerichtete Erkenntnisdesiderate erfüllen konnte.115 Die universalen Interessen der Augsburger Handelseliten dürften auf solche Großprojekte sicherlich stimulierend gewirkt haben. Dass an dieser Stelle jedoch nicht die Augsburger, sondern die Nürnberger Weltkartograſe Gegenstand der Untersuchung sein soll, hat nichts mit willkürlichen Vorlieben zu tun. Vielmehr hängt diese Entscheidung mit speziſschen strukturellen Bedingungen zusammen. So lassen sich in der fränkischen Reichsstadt mit Johann Baptist Homann und Christoph Weigel zwei Verlegerpersönlichkeiten ſnden, in denen sich die Amerika-Interessen der frühneuzeitlichen Kartograſe programmatisch bündelten.116 Überdies kooperierten beide eng mit den Experten der Nachbaruniversitäten – Homann mit dem am Nürnberger Ratsgymnasium lehrenden Mathematiker Johann Gabriel Doppelmayr, Weigel mit dem Geografen und Historiker Johann David Köh114 So Paas, Bilderfabrik Europas. Zur Augsburger Kartograſe der Frühen Neuzeit vgl. Grenacher, Guide. 115 Zu Seutter († 1756) bzw. dessen Schwiegersohn Lotter († 1777) vgl. Ritter, Verlag, 186-190; ders., Landkartenproduktion; Docktor, Seutter/Lotter Map. 116 Zu Homann († 1724), 1688 Konversion zum Protestantismus und Annahme des Nürnberger Bürgerrechts, ab 1702 Inhaber eines kartograſschen Verlags, vgl. NDB 9 (1972) 582-584. Zu Christoph Weigel d. Ä. († 1725) vgl. M. Bauer, Weigel.

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ler, der zeitweise in Altdorf unterrichtete. Die Verleger standen also in einem akademischen Konnex, der im Hinblick auf seine personelle Prominenz herausragend war. Hinzu kommt noch der Umstand, dass die seit 1702 bestehende Ofſzin von Homann zu den bedeutendsten Unternehmen ihrer Art im Alten Reich zählte. Die bei Homann produzierten Karten wurden häuſg von den anderen süddeutschen Verlegern übernommen. Markant zeigen sich diese Abhängigkeitsverhältnisse bei Seutter: Dessen Atlanten bestehen fast ausschließlich aus von Homann gefertigten Kartenvorlagen.117 Die süddeutsche Reichspublizistik ist hier mit zwei Werken vertreten: mit dem siebzehnbändigen Neu-eröffneten Historischen Bilder-Saal (1692-1782) des aus Nürnberg stammenden und in Pfalz-Sulzbachischen Diensten stehenden Rats Andreas Lazarus Imhof118 und mit der Flugschrift Americanische Urquelle derer innerlichen Kriege des bedrängten Teutschlands (1760) aus der Hand des nahezu unbekannten Publizisten Christian Friedrich von der Heiden. Natürlich hätte man die Werkauswahl noch erheblich erweitern können: Die 1697 von dem Nürnberger Ratskonsulenten Christian Leonhard Leucht begründete Europäische Staats-Cantzley ließe sich da ebenso anführen wie die Reichs-Fama des württembergischen Juristen Johann Jakob Moser. Auch wenn diese Quellensammlungen den internationalen Kontext des zeitgenössischen Reichsverfassungsrechts und dabei die transatlantischen Aspekte der Reichsdiplomatie berücksichtigen, fristet die amerikanische Thematik hier doch eher ein Schattendasein.119 Deshalb erscheint der Rückgriff auf die unter amerikakundlichem Gesichtspunkt noch wenig gewürdigte Chronik von Imhof vielversprechender. Vom Ansatz her handelt es sich um eine universalhistorische Kompilation, die – anders als die moderne Reichspublizistik des frühen 18. Jahrhunderts – den Reichsbegriff noch nicht auf den deutschen und europäischen Kontext verengt hatte, sondern im Anschluss an die ältere „Vier-Monarchien-Lehre“ einem dezidiert globalen Reichsverständnis anhing und damit für die interkontinentale Erweiterung der geograſschen Horizonte seit dem 16. Jahrhundert besonders sensibilisiert sein musste. Außerdem lässt sich der umfangreiche Mitarbeiterstab des Bilder-Saals prosopograſsch genau auf den Nürnberger Gelehrten-Raum lokalisieren: Man hat es hier ausschließlich mit den wissenschaftlichen Eliten der fränkischen 117 Vgl. Ritter, Landkartenproduktion, 153f. Unberücksichtigt bleiben hier auch die unter amerikakundlichem Aspekt irrelevanten Atlanten des Augsburger Verlegers Gabriel Bodenehr. 118 Zu Imhof († 1704), geheimer Rat und Kanzleidirektor am Hof von Pfalz-Sulzbach, vgl. NDB 10 (1974) 146-148, hier 147; Will, Gelehrten-Lexikon II, 247f. 119 Baginsky (German Works, Nrr. 266, 359, 381) zählt für die Europäische Staats-Cantzley nur drei Texte mit einschlägigen Amerikabezügen – eine geringe Ausbeute, wenn man bedenkt, dass die Quellenkompilation aus insgesamt 115 Bänden besteht. Im Rahmen seiner völkerrechtlichen Publizistik, etwa mit seinem Werk Nordamerika nach den Friedensschlüssen von 1783, entwickelte Moser freilich ein intensives Interesse an den neugegründeten USA. Vgl. dazu Walker, Neue Welten, hier vor allem 81f.

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Metropole – Professoren aus der Reichstadt und dem benachbarten Altdorf – zu tun. Daher kann die Fortsetzungschronik als Spiegelbild regionalspeziſscher Einstellungen zur Neuen Welt gelten. Ähnliches lässt sich für die Flugschrift von von der Heiden erkennen. Diese reagierte auf die Auswirkungen des Siebenjährigen Kriegs aus einem speziſsch reichsstädtisch grundierten Reƀexionsrahmen heraus: Von der Heiden widmete seinen Text dem Nürnberger Stadtpatriziat. Dabei machte er sich die Kapazitäten des reichsstädtischen Druckgewerbes zu Nutze. So wurde das Werk von Georg Christoph Kilian – ein für seine hochstehenden druckgraſschen Erzeugnisse bekannter Verleger – in Augsburg herausgebracht.120 Universitäts- und Akademieprofessoren Zu den eindrucksvollsten Befunden dieser Vorsondierungen gehört die Tatsache, dass ein Großteil der Autoren aus dem hochschulischen Gelehrtenmilieu kam. Hingegen lässt sich der Fall des auf eigene ökonomische Verantwortung arbeitenden Polyhistors kaum noch ſnden. Die freien Autoren – im Hinblick auf die frühneuzeitliche Amerikakunde wäre hier vor allem an Erasmus Francisci [= von Finx] oder Eberhard Werner Happel zu denken – dominierten das Panorama des 17. Jahrhunderts.121 Für das 18. Jahrhundert ist dagegen eine Institutionalisierungstendenz zu beobachten: Die einschlägigen Protagonisten schrieben häuſg aus akademischer Position heraus; sie verfassten ihre Texte zumeist als Hochschullehrer. Im Grunde genommen sind diese institutionellen Verschiebungen als Reƀex auf die zunehmende organisatorische Verfestigung der Amerikakunde zu sehen: Zwar ſgurierte sie an den süddeutschen Universitäten des 18. Jahrhunderts noch nicht als eigenes Lehrfach; wohl aber kam ihr innerhalb der allgemeinen geograſschen und historischen Disziplinen ein wachsender Stellenwert zu. Die meisten der hier behandelten Werke richteten sich in allgemeinbildender Absicht an eine (hoch-)schulische Leserschaft. Sie entstanden in Reaktion auf die didaktischen Bedürfnisse des Unterrichts an Universitäten und universitätsähnlichen Einrichtungen.122 Das handbuchartige Kompendium dominierte daher die amerikakundliche Vermittlungspraxis, während andere Gattungsformen des akademischen Diskurses (z.B. Disputationsschriften) eher selten vorkamen. Man kann die Zusammenhänge noch konkreter aufzeigen: Die schwäbische Hochschule Dillingen bildete zusammen mit den fränkischen Reichsstadt-, Territorial- bzw. Hochstiftsuniversitäten Altdorf, Erlangen und Würzburg eine Schwerpunktzone der amerikakundlichen Wissensproduktion. 120 Zu Kilian († 1779) vgl. Erben, Architekturpublikationen, 980-982. 121 Zu den beiden Polyhistoren vgl. Kapitel 8. 122 Vgl. dazu Brockliss, Lehrpläne, 456-462.

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Ebenso trugen die Professoren der Benediktineruniversität Salzburg zur Wissensvermittlung über die Neue Welt bei.123 Auf der Ebene der reichsstädtischen (überhaupt: kommunalen) Gelehrtenschulen sind das Augsburger Anna-Gymnasium, das Aegidianum in Nürnberg, das Ulmer Gymnasium und das Casimirianum in Coburg als Zentren der intellektuellen Beschäftigung mit Amerika zu erwähnen.124 In diesem Bild fehlen interessanterweise die Universitäten Ingolstadt und Bamberg. Zumindest im Fall von Ingolstadt ist das Deſzit weniger auf einen Mangel an international orientierten Kapazitäten zurückzuführen (auch hier bestimmten die Jesuiten den Lehrbetrieb). Ausschlaggebend waren speziſsche Interessenprioritäten. Während des 17. Jahrhunderts hatte Ingolstadt mit den Jesuiten Johannes Bissel und Christoph Ott durchaus bedeutende Amerika-Experten vorzuweisen.125 Im 18. Jahrhundert verschoben sich jedoch die Ansätze der Ingolstädter Schule. An die Stelle der Weltgeschichtsschreibung rückte die bayerische Landeshistoriograſe.126 In der hier skizzierten Autorenverteilung spiegeln sich genau die bereits beschriebenen Mechanismen des Buchmarkts wider: Die Universitätsgelehrten waren die Hauptlieferanten des süddeutschen Amerikadrucks. Die Textproduktion stützte sich auf die enge soziale Koppelung von akademischer Intellektualität und örtlichem Buchgewerbe, das gerade den kleinen Metropolen (am eindrucksvollsten in Dillingen und Altdorf) gewichtige Anteile am amerikakundlichen Informationsgeschäft zu sichern vermochte. So wird man die Substanz des bikonfessionellen Universitätsraums im Süden des Alten Reichs nicht hoch genug veranschlagen können. Gegen die pessimistische Einschätzung auch noch der jüngeren Forschung – demnach hätte die von fataler geistiger Rückschrittlichkeit geprägte Hochschullandschaft mit den beherzten reformerischen Eingriffen des aufklärerischen Staatsabsolutismus am Ende des 18. Jahrhunderts ihr verdientes Ende gefunden127 – muss man 123 Die Relationen stellen sich folgendermaßen dar: Altdorf mit vier Nennungen (Gottlieb Eucharius Rinck, Johann David Köhler, † 1755, Wolfgang Jäger, † 1795, Georg Andreas Will, † 1798), Salzburg mit drei Nennungen (Anselm Desing, Raphael Kleinsorg, Augustin Schelle), Erlangen mit zwei Nennungen (Johann Christian Martini, †?, Johann Ernst Fabri, † 1825), Dillingen mit einer Nennung (Heinrich Scherer), Würzburg mit einer Nennung (Heinrich Niderndorff). Köhler und Fabri unterhielten außerdem enge universitäre Kontakte nach Nord- und Mitteldeutschland: Köhler lehrte in Göttingen, Fabri in Göttingen und Jena. Speziell zur Vita von Fabri vgl. ders., Tertia Saecularia; Friedrich-Alexander-Universität, 47. 124 Die Autoren verteilen sich folgendermaßen: Nürnberg mit zwei Nennungen (Johann Gabriel Doppelmayr, † 1750, G. P. Schunther), Ulm zwei Nennungen (Johann Caspar Funck,† 1729, Christoph Benjamin Häckhel, † 1757), Augsburg mit einer Nennung (Gottfried Hecking, † 1773), Coburg mit einer Nennung (Theodor Berger, † 1773). 125 Zu Ott vgl. Kapitel 14. 126 Vgl. Dickerhof, Land. 127 Zu diesem hartnäckigen Forschungstopos vgl. Boehm, Universitäten in der Krise, hier vor allem 110-136.

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gerade aus amerikageschichtlicher Perspektive die erstaunliche Vitalität dieses Wissenssystems betonen. Nicht selten wurden hier die Grundlagen der Amerikakunde geschaffen, die dann an den norddeutschen Musteruniversitäten der Aufklärung weiter entwickelt werden konnten. In der Vita des Professors Johann David Köhler verdichten sich diese Vorgänge auf paradigmatische Weise: Seine Laufbahn begann der Absolvent der berühmten Meißner Fürstenschule in Altdorf, wo er ab 1710 Logik und Geschichte unterrichtete. Hier entstanden neben numismatischen und landesgeschichtlichen Werken auch seine ersten wichtigen Arbeiten zur Weltgeograſe und Universalgeschichte. 1735 wechselte Köhler an die neu gegründete Universität Göttingen. Dort führte er seine historischen Interessen unter Bezugnahme auf seine Altdorfer Erfahrungen fort.128 Während also die Universität eine wichtige Verteilerfunktion für das zeitgenössische Amerika-Wissen übernahm, ſel das Echo der aufklärerischen Akademiebewegung – zumindest im altbayerischen Umfeld – erheblich zurückhaltender aus. Letztlich lässt sich nur ein einziger relevanter Autor aus ihrem engeren Umkreis benennen, nämlich der Weltgeistliche und Pädagoge Lorenz Westenrieder, der als Sekretär der 1759 von Kurfürst Maximilian III. Joseph begründeten Institution jedoch eine überragende Position in der kurbayerischen Intellektuellenszene des späten 18. Jahrhunderts einnahm. Seine Arbeiten, vor allem geograſsche Werke, sind stark didaktisch geprägt; als Lehrbücher waren sie für den Unterricht an den höheren Schulen des Kurfürstentums konzipiert. Das wissenschaftspopularisierende Moment kennzeichnete den Zugriff von Westenrieder, der über keine persönliche Anschauung der überseeischen Verhältnisse verfügte.129 Eine Hauptursache für das Desinteresse der Akademiegelehrten an der Neuen Welt ist sicherlich im konzeptionellen Hintergrund zu suchen. Der Gründungsauftrag der Münchner Akademie erstreckte sich primär auf die Erforschung der bayerischen Geschichte des Mittelalters. Der Erweis langfristiger Herrschaftskontinuitäten, die Förderung eines historisch verankerten Landesbewusstseins – diese beiden Aspekte beherrschten die Agenda der Akademie, die damit ganz den staatsintegrativen Bedürfnissen des aufgeklärten Absolutismus entgegenkam.130 Das Erkenntnisinteresse war unmittelbar auf die territorialstaatliche Binnenidentität zugeschnitten, während die atlantischen Impulse für die Forschungsbestrebungen keinerlei Rolle spielten.

128 Zu Köhler vgl. A. Kraus, Bürgerlicher Geist, 351, 359, 378; H.-C. Kraus, Englische Verfassung, 388f. (Anm. 439); Nicklas, Köhler; ders., Wolfstein. Generell zu Altdorf im 18. Jahrhundert vgl. Goez, Nachbar-Universität. 129 Zu Westenrieder († 1829) vgl. Haefs, Westenrieder; Große Bayerische Biographische Enzyklopädie 3 (2005) 2091f. 130 Vgl. A. Kraus, Historische Forschung, 3-8, 173-195.

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Hofgelehrte und gebildete Beamte Wesentlich nachhaltiger als die Akademieprofessoren reagierten die Hofgelehrten auf die wissenschaftlichen Herausforderungen der transatlantischen Expansion. Gerade der Münchner Hof liefert ein frappierendes Gegenbeispiel zur weitgehenden Indifferenz der frühen bayerischen Akademiebewegung. Von den knapp 60 hier zu behandelnden Amerika-Autoren kamen immerhin drei aus dem höſschen Umfeld der Wittelsbacher: der in Österreich geborene Historiker Ehrenfried Ferdinand von Schollberg, der bereits erwähnte Jesuit Theodor Smackers und der Jurist Johann Joseph Pock.131 Alle drei konnten ein umfangreiches Œuvre vorweisen: Schollberg und Pock beschäftigten sich im Rahmen ihrer geograſschen und historischen Kompilationen mit der Neuen Welt. Smackers führte mit seiner das amerikanische Thema breit berücksichtigenden Historia universalis die am Münchner Hof fest etablierte Tradition der jesuitischen Weltgeschichtsschreibung fort.132 Die Arbeiten von Schollberg und Smackers bezogen sich ganz auf den ideellen Kontext der Prinzenerziehung. Aus dem Zeithorizont des frühen 18. Jahrhunderts heraus verfasst, waren sie für die Söhne von Kurfürst Max Emanuel bestimmt. Pock hingegen schrieb aus der Perspektive des umfassend gebildeten und interessierten Staatsbeamten. Die Werke des Landschaftssekretärs vertraten allgemeinbildende Absichten, wobei Pocks Augenmerk vor allem der Adressatengruppe der hofnahen Eliten galt. Er brachte daher seine Arbeiten im Druck heraus, während die Traktate von Schollberg und Smackers für den hoſnternen Gebrauch gedacht waren und deshalb nur in handschriftlicher Form überliefert wurden. Auch wenn die Produktion der süddeutschen Hofgelehrsamkeit im Einzelnen noch stärker durchleuchtet werden müsste, um zu einem auch im Detail stimmigen Gesamturteil zu gelangen (was hier jedoch aufgrund der ausgesprochen heterogenen Forschungssituation unterbleiben soll), so zeigt sich doch schon jetzt, dass der amerikakundliche Beitrag der wittelsbachnahen Autoren nicht zu unterschätzen ist. Sicher entsprach diese betont internationale Ausrichtung der höſschen Wissenskultur in Kurbayern den gesteigerten Ambitionen der Wittelsbacher, die im Zeitalter des Spanischen Erbfolgekriegs nach Rangerhöhung auf der reichs- und europapolitischen Bühne strebten und sich dabei programmatisch auf die tradierten Formen der dynasti131 Zu Schollberg († 1720), Professor für Geschichte an der Ständischen Akademie in Wien, ab Oktober 1712 Lehrer der bayerischen Kurprinzen Karl Albrecht und Clemens August in Graz, 1715/18 geheimer Sekretär und Rat von Karl Albrecht, vgl. Benz, Tradition, 400-403, 459-461. Zu Johann Joseph Pock († 1735), 1701 Hofratsadvokat in München, vgl. ebd., 517-519; Ferchl, Bayerische Behörden, 896; Adelung/Rothermund Gelehrten-Lexico VI (1819) 443. 132 Vgl. A. Schmid, Geschichtsschreibung, 332f.; ders., Reichsgeschichte, 93f.; ders., St. Michael, 351-355.

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Teil 2: Gelehrtenkultur und Amerika-Wissen in Süddeutschland

schen Wissenschaftspƀege, so vor allem auf das Modell der Haus- und Hofgeschichtsschreibung, stützten.133 Die Bedeutung der kurbayerischen Bemühungen zeigt sich noch markanter, wenn man sie mit den eher bescheidenen Ansätzen bei den pfälzischen Wittelsbachern vergleicht. Der 1715 verstorbene Hofkammerrat Johann Heinrich Seyfried ist der einzige Amerika-Autor, den man auf pfälzischer Seite dem hofnahen Intellektuellensegment zuordnen kann: Der Gelehrte stand in den Diensten der Herzöge von Pfalz-Sulzbach.134 Freilich bediente Seyfried mit seinem umfangreichen enzyklopädischen Werk – es handelt sich vorwiegend um Lexika zur Naturkunde und Topograſe der vier Erdteile – nicht ausdrücklich die Zwecke der innerhöſschen Kommunikation. Als zeittypischer Repräsentant barocker Wissenschaftspopularisierung wandte sich der Jurist vielmehr an ein breites Publikum. Seine Absicht war es, den gleichsam alltäglichen Wissensbedarf durch lexikalische Hilfsmittel abzudecken. Daher kann Seyfried auch nur unter Vorbehalt als charakteristischer sozialgeschichtlicher Exponent hofspeziſscher Amerika-Wahrnehmungen im süddeutschen Gelehrtenbarock herangezogen werden. Ein weiterer Sonderfall ist der fränkische Mediziner Johann David Schöpf. Der 1752 in Wunsiedel geborene und 1800 in Ansbach verstorbene Gelehrte kann eigentlich nicht mehr als Exponent klassischer Hofgelehrsamkeit gelten. In seiner Biograſe spiegeln sich eher die Einƀüsse des aufklärerischen Expertenideals wider: Schöpf verfasste seinen bekannten Reisebericht über die Südstaaten der gerade gegründeten USA im Auftrag des Markgrafen von Ansbach-Bayreuth. Die Tatsache, dass Schöpf als Militärarzt der Ansbach-Bayreuther Truppenkontingente im Unabhängigkeitskrieg über empirisch gehärtete Amerika-Erfahrungen gebot, zeichnete ihn in den Augen des Landesherrn besonders aus. Nicht zuletzt aufgrund seiner wissenschaftlichen Aktivitäten zur Natur- und Landeskunde der jungen USA wurde Schöpf 1795 zum Präsidenten des Ansbacher Medizinalkollegiums ernannt. Diesen europäischen Karrieresprung hatte der Arzt nicht zuletzt seiner amerikanischen Expertise zu verdanken. Zugleich ist Schöpf ein gutes Beispiel für die überregionalen, stark in den Norden des Reichs ausstrahlenden Verknüpfungen der süddeutschen Amerikakunde im ausgehenden 18. Jahrhundert. Aufgrund seiner profunden Amerika-Erfahrungen war der Intellektuelle mit der Berliner Akademie der Wissenschaften eng vernetzt. Bei Schöpf überschnitten sich süd- und norddeutsche Tendenzen der Aufklärung.135

133 Vgl. A. Schmid, Geschichtsschreibung. 134 Zu Seyfried († 1715) vgl. Jöcher, Gelehrten-Lexicon IV, 547. 135 Zu Schöpf vgl. Reese, Schöpf; Geus, Schoepf; ADB 32 (1891) 350-352.

Kapitel 6: Wege und Vermittlungsformen des Amerika-Wissens

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KAPITEL 6: WEGE UND VERMITTLUNGSFORMEN DES AMERIKA-WISSENS Kompilatorische Praktiken und Zitationsnetzwerke Das süddeutsche Amerika-Wissen des 18. Jahrhunderts unterlag selbstverständlich ähnlichen informationsgeschichtlichen Ausgangsbedingungen wie die zeitgenössische Gelehrtenkultur insgesamt. Diese Feststellung betrifft vor allem die Herkunft des Wissens. Die amerikakundlichen Nachrichten stammten aus speziſschen Vermittlungstraditionen. In aller Regel arbeiteten die Autoren auf kompilatorischer Grundlage, zumal im Zusammenhang mit der Neuen Welt, also einem Gegenstand, den die meisten Protagonisten kaum aus persönlicher Anschauung kennen konnten und bei dem sie sich auf den Augenschein anderer verlassen oder sich dem Erkenntnisstand der gelehrten Literatur anvertrauen mussten. Man sollte sich diesen allgemein bekannten, für die frühneuzeitliche res publica litteraria insgesamt typischen Sachverhalt in aller Klarheit vor Augen führen.136 Denn für die Interpretation der nachfolgenden Textcorpora ist diese Tatsache von zentraler Bedeutung: Die barocken und aufklärerischen Amerika-Diskurse handeln oft nicht mit empirisch gewonnenen Erkenntnissen (sieht man von den Werken der Jesuiten und Pietisten ab), sondern sie zielten häuſg auf die Sammlung und Neukomposition überlieferter, im Gang durch die Gelehrtengenerationen geronnener Wissensspuren. Für die Amerika-Rezeption spielt das wissensgenetische Problem eine nachhaltige Rolle. Es verbindet sich nämlich mit der Frage nach dem sozialhistorischen Ort der süddeutschen Amerika-Schriften. Kompilatorische Praktiken gewissermaßen als Indikatoren für gruppenspeziſsche Verknüpfungen – solche Aspekte der wissenssoziologischen Netzwerkforschung lassen sich einer genaueren Analyse der Textapparate (Anmerkungen und Literaturverzeichnisse) entnehmen.137 Zu fragen ist also, ob sich die süddeutschen Autoren – ausweislich der von ihnen benutzten Quellen – in einen allgemeinen europäischen Zusammenhang einreihten: Partizipierten sie – die Ressourcen der deutschen, englischen, französischen, spanischen und italienischen Literatur ausschöpfend – an einem einheitlichen Kanon? Oder bildeten sie gleichsam autonome Zitierkartelle? Kann man diese Zitationsgemeinschaften so deutlich auf eine institutionelle oder lokale Ebene zurückbeziehen, dass sie mit den oben beschriebenen Kommunikationsmilieus gleichzusetzen wären? Tatsächlich lässt sich die Problematik nicht eindeutig auƀösen. Vielmehr ist von einer komplexen Gemengelage auszugehen. So standen die süddeutschen Autoren in einem europaweiten Netz der Amerikavermittlung. Keines136 Vgl. dazu allgemein Büttner/M. Friedrich/Zedelmaier, Sammeln, Ordnen, Veranschaulichen. Zum kompilatorischen Charakter des zeitgenössischen Amerika-Wissens vgl. Wellenreuther, Niedergang, 158-164. 137 Vgl. Faber/Holste, Kreise.

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falls waren sie von den zu ihrer Zeit gültigen Standards abgeschnitten. Ebenso wie sich der süddeutsche Buchmarkt des 18. Jahrhunderts als vitaler Bestandteil eines größeren Ganzen darstellte, so waren auch die süddeutschen Amerika-Autoren in den internationalen Wissensverbund integriert. Einerseits bestimmte also gelehrte Interaktion zwischen den europäischen und deutschen Bildungsräumen die amerikakundliche Wissensproduktion. Andererseits lassen sich jedoch Zitierkartelle entlang sprachlicher, gattungsspeziſscher, sogar geograſscher, kultureller und konfessioneller Grenzen ermitteln. Dass Lutheraner tendenziell eher auf die Werke von Konfessionsgenossen als auf solche von Glaubensfremden zurückgriffen; dass Jesuiten und Pietisten ihre Erkenntnisse bevorzugt bei den eigenen Autorenkollegen suchten; dass sich die aufklärerischen Zeitgenossen lieber auf die ideologische Sicherheit ihrer Überzeugungsgemeinschaft verließen, als dass sie einmal das Buch eines Jesuiten zitiert hätten – diese Momente zeichnen sich ebenfalls in den Quellenstrukturen des süddeutschen Amerika-Diskurses ab.138 Auch wenn es natürlich Fälle von gruppenübergreifendem, etwa interkonfessionellem Wissenstransfer gab, so sollte man doch die mentale Beharrungskraft des milieuorientierten Wahrnehmens nicht unterschätzen. Die Problemlage sei noch weiter konkretisiert: Welche Quellen erfreuten sich quer durch alle Wissensgruppen allgemeiner Wertschätzung? Und wo lassen sich Abgrenzungen erkennen? Der kurbayerische Universalgelehrte und Hofbeamte Johann Joseph Pock repräsentiert exemplarisch die Möglichkeiten des süddeutschen AmerikaDiskurses. Insbesondere sein zusammen mit dem Augsburger Stiftskanoniker Johannes Rudolph Conlin veröffentlichter Denk-Ring, eine aus insgesamt 34 Bänden bestehende Fortsetzungschronik zur Weltgeschichte, setzt hier Maßstäbe, vor allem auch deswegen, weil die übersichtlich in Paragrafen gegliederte Darstellung ihre Leser nicht nur mit Informationen über die Vorgänge in der Neuen Welt versorgte, sondern zugleich eine vollständige Quellendokumentation anstrebte. Pock konnte auf seine umfangreiche Bibliothek zurückgreifen, die wohl zu den bedeutendsten privaten Büchersammlungen im barocken Bayern zählte (über ihren Verbleib ist nichts mehr in Erfahrung zu bringen. Auch der noch im 18. Jahrhundert gedruckte Bibliothekskatalog muss leider als verschollen gelten). Der Denk-Ring ist ein Beispiel für konsequent enzyklopädisches, dabei die europäische Gelehrtenliteratur souverän einbindendes Arbeiten. Die Bände, die sich auf die Übersee-Expansion des 16. und 17. Jahrhunderts beziehen, beruhen auf Berichten der spanischen Konquistadoren, auf Beschreibungen der französischen und englischen Entdecker, aber auch auf Tagebüchern der niederländischen Kauƀeute, die erste transatlantische Handelskontakte knüpften und diese Erfahrungen dem europäischen Leser im Druck zugänglich machten: Der Autorenname von Fernando Pizzaro 138 Zu gesinnungsgemeinschaftlich begründeten Kompilationspraktiken vgl. Pohlig, Gelehrsamkeit, 235-245.

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ſndet sich in den Anmerkungsapparaten ebenso wie die Werke des britischen Historikers Richard Hakluyt, vor allem dessen Principal Navigations, Voyages, and Discoveries of the English Nation von 1589.139 Daneben bedienten sich Pock und Conlin ausgiebig im einschlägigen Angebot der Universalhistorie bzw. Globalgeograſe. Sie griffen häuſg auf die Annalistik des 17. Jahrhunderts zurück. Die Annales Mundi des französischen Jesuiten Philippe Briet, die ab 1696 in einer zu Dillingen und Augsburg gedruckten Neuauƀage auf dem deutschen Markt verfügbar waren, sind hier an erster Stelle zu erwähnen.140 Die Arbeiten von Giovanni Pietro Maffei, Professor für Rhetorik an der Jesuitenuniversität Collegio Romano, waren dem kurbayerisch-schwäbischen Autorengespann gleichermaßen geläuſg wie die weit verbreiteten Kartenwerke des französischen Geografen Nicolas Sanson. Girolamo Benzonis Neuwe und gründtliche Historien von dem Nidergängischen Indien (so der deutsche Titel der Frankfurter Ausgabe von 1613) gehören zum Repertoire des Denk-Rings, ebenso die Kartenwerke des Antwerpener Kupferstechers Abraham Ortelius.141 Besonders breit, nämlich mit insgesamt zehn Referenzen ist die Histoire générale des voyages et des conquêtes des Indes von Antonio Herrera y Tordesillas berücksichtigt (in ihrer französischen Ausgabe).142 Für die bemerkenswerte Qualität des Denk-Rings spricht aber noch ein anderer Umstand, nämlich die Tatsache, dass Pock und Conlin auch die aktuellen Informationsquellen des 18. Jahrhunderts systematisch ausschöpften. Sie machten vor keinen engen Gattungsgrenzen halt und nahmen die geläuſge Auswandererliteratur ebenso auf wie die zeittypische Geschichtspublizistik. So lassen sich beispielsweise die Pennsylvania-Beschreibungen von Daniel Falckner und Franz Daniel Pastorius nachweisen.143 Die Publizistik ist hingegen mit dem niederländischen Mercure historique et politique, der in Frankfurt und Leipzig erschienenen Europäischen Staats-Cantzley oder dem französischen Periodikum La Clef du Cabinet des Princes vertreten.144 139 Vgl. J. J. Pock/Conlin, Denck-Ring XXVIII, 338, 348. Zu Hakluyt vgl. Armitage, British Historical Thought, 52-59; Osterhammel, Distanzerfahrung, 16. 140 Vgl. J. J. Pock/Conlin, Denck-Ring XXVIII, 346-348, XXIX, 297f., XXXII, 22-24. Zu Briet und seiner Rezeption im Reich vgl. Benz, Tradition, 535. 141 Vgl. zu den Belegen im Einzelnen J. J. Pock/Conlin, Denck-Ring XXVIII, 340-342, 354f. (Maffei), XXIX, 253-255, XXX, 290f., 339 (Ortelius, Benzoni), XXX, 355f. (Sanson). Speziell zur Rezeption von Maffei und Benzoni im Reich vgl. Martino, Italienische Literatur, 155, 326-328; P. Schmidt, Spanische Universalmonarchie, 313. 142 Vgl. J. J. Pock/Conlin, Denck-Ring XXVIII, 340-342, 346-348, XXIX, 253-260, 282, 288, XXXI, 248f. Zu Herrera als Standard zeitgenössischer Amerika-Berichterstattung vgl. Portuondo, Secret Science, 295-297. 143 Vgl. J. J. Pock/Conlin, Denck-Ring XXXI, 255. Zu Falckner vgl. Doll, American History, 431. 144 Vgl. J. J. Pock/Conlin, Denck-Ring XXXIII, 693f., 699f., XXXIV, 65, 926f. (Mercure Historique), 80f. (Europäische Staats-Cantzley), XXX, 699f., 704, XXXIV, 463 (La

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Es wäre müßig, diese Liste fortzuschreiben. Denn ein wichtiges Ergebnis der Beobachtungen stellt sich schon jetzt ein: In der Amerika-Berichterstattung der beiden süddeutschen Autoren wird ein polyhistorisches Verfahren erkennbar. Die breite Erfassung der relevanten Quellen, ihre Vernetzung mit allen verfügbaren Daten waren kennzeichnend für dieses Modell der Wissensakkumulation, das Informationsüberfülle nicht als Schreckbild fürchten musste, sondern als Idealziel aller gelehrten Aktivität vorstellte. Daher ist der Text als charakteristisches Produkt der barocken historia literaria anzusprechen.145 Letztlich bestimmte diese Art der Informationsaufbereitung alle hier ausgewählten Texte mehr oder minder deutlich. Besonders konsequent setzen etwa die Geschichtswerke des oberpfälzischen Benediktiners Anselm Desing, die historiograſschen Beschreibungen des Altdorfer Professors Johann David Köhler sowie die Synthesen der beiden Ulmer Geografen Johann Caspar Funck und Christoph Benjamin Häckhel die Ansprüche barocker Universalgelehrsamkeit um. Auch wenn sich also die süddeutschen Amerika-Wahrnehmungen weithin auf einer gemeinsamen Literaturbasis bewegten, werden bei näherem Hinsehen doch Speziſzierungen sichtbar. In der kompilatorischen Praxis einzelner Verfasser, aber auch ganzer Autorengruppen zeigen sich durchaus bestimmte Präferenzen. Im Großen und Ganzen lassen sich drei heuristische Leitlinien herausarbeiten, nämlich erstens: eine stark an der Präsentation und Interpretation von Primärquellen interessierte Methodik; zweitens: eine auf regionale Wissenstraditionen rekurrierende Verfahrensweise; und drittens: eine stark von wissenschafts- und kulturpolitischen Erwägungen geprägte Haltung. Der erste Ansatz geht von der ständigen Erweiterungsfähigkeit aller menschlichen Erkenntnis aus. Daher darf sich der Gelehrte nicht auf das bereits Ermittelte verlassen, sondern muss sich um die Freilegung des noch Unbekannten bemühen. Die kontinuierliche Ergänzung des Kanons, dessen kritische Überprüfung im Licht neuer Quellen ist Kernpunkt dieser Überlegungen. Damit gewinnt die systematische Editionstätigkeit, also die Erschließung von Informationen, die möglichst nahe an die vergangene Wirklichkeit heranführen können, besondere Priorität. Wie sich im Hinblick auf die süddeutschen Amerika-Autoren zeigt, ist diese gleichsam den Historismus des 19. Jahrhunderts vorwegnehmende Auffassung nicht erst das Privileg der Aufklärung.146 Vielmehr deutet sie sich bereits in den großangelegten Beschreibungs- und Sammelprojekten der barocken Jesuitengelehrten an. So versteht Clef du Cabinet des Princes). Zu den einzelnen Periodika vgl. K. Müller, Absolutismus, 1079-1081. 145 Vgl. Gierl, Historia literaria. 146 Zu den langen Kontinuitäten zwischen historiograſschen Schreib-, Erfassungs- und Denkstilen seit dem 17. Jahrhundert vgl. Reill, German Enlightenment; Seifert, Cognitio historica, 36-62, 116-138.

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etwa Joseph Stöcklein die von ihm betreute Edition asiatischer, afrikanischer und amerikanischer Missionarsbriefe vor allem deshalb als wesentlichen Beitrag zu den „Wissenschafften und Künsten“, weil sie aufgrund ihrer Novität „nutzliche Kundschafften […] ertheilen“ könnten.147 Für einen kritischen Umgang mit den zeitgenössischen Kompilatoren bzw. die Notwendigkeit, deren Urteile mit den Augenzeugenberichten der vor Ort tätigen Missionare systematisch abzugleichen, plädiert auch der Jesuitengeograf Heinrich Scherer. Sein Werk liefert genügend Beispiele für eine betont quellenkritische Auseinandersetzung mit der amerikakundlichen Polyhistorie seiner Zeitgenossen.148 Selbstverständlich beschränkten sich diese Vorgänge im 18. Jahrhundert nicht auf die Societas Jesu. Was bei dieser jedoch besonders markant hervortritt, ist die Tendenz zur Filiation, zur wissenschaftlichen Netzwerkbildung: Jesuiten zitieren Jesuiten, auch aus dem Bewusstsein heraus, dass man über eine eigene Wissenschaftssystematik verfügt, die im Vergleich mit den anderen Gelehrtenmilieus als besonders innovativ erscheinen muss. Über ein ähnlich ausgeprägtes Selbstbewusstsein verfügten nur noch die Pietisten. Auch hier stand man ausschließlich kompilatorischen Praktiken der Wissenserhebung skeptisch gegenüber und versuchte, diese durch den Druck von zeitgenössischen Erfahrungsberichten zu erweitern. Spielte also bei den Jesuiten wie Pietisten die quelleneditorische Tätigkeit für die Ausbildung einer eigenen wissenschaftlichen Gruppenidentität eine hohe Rolle, so vermittelte in Franken die regionale kartograſsche Forschungstradition nachhaltige Impulse für die Rezeption der Neuen Welt. Man hat eine auf regionale Wissenstraditionen rekurrierende Methodik vor sich. Johann David Köhler wäre als Hauptexponent dieser Richtung anzusprechen. Souverän gebot dieser Gelehrte über das Wissenschaftspanorama der Epoche. Sein Werk verwertet in umfassender, konfessionsübergreifender Perspektive das zeitgenössische Amerika-Wissen. Hier ſnden sich Bezüge zu Olfert Dappers Buch über Die Unbekannte Neue Welt (Amsterdam 1673), zur Missionspublizistik der Pariser Jesuiten (Lettres édifiantes), zur Chronik des englischen Autors Thomas Gage (Neue merckwürdige Reise-Beschreibung nach NeuSpanien) und zu der in Frankfurt erschienenen Schrift Theatrum Europaeum.149 Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen bei Köhler jedoch die einheimischen Nürnberger Kartensammlungen, vor allem die großen Weltatlan147 Stöcklein, Welt-Bott I, Eingang, II. Absatz. Allgemeine Vorrede, [3v]. 148 Der Jesuit trat etwa mit dem Polyhistor Eberhard Happel in eine scharfe Kontroverse über die „Wirklichkeitsnähe“ literarisch kompilierten Wissens ein. Scherer warf seinem Kollegen das bloße Halluzinieren von Behauptungen („Hapelius multum hallucinatus est“) und damit den Mangel an realgeschichtlich belastbarer Empirie vor. Vgl. dazu ders., Geographia naturalis [Atlas Novus I], 32f. 149 Vgl. Köhler, Anleitung, Vorrede, [10r]-[10v]. Zu Gage vgl. Vázquez Janeiro, Vision de America, 52-54. Zum Theatrum Europaeum vgl. W. Becker, Dreißigjähriger Krieg, 641f., 945. Zu den Lettres édifiantes vgl. Kapitel 14.

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ten von Homann und Weigel. Deren geograſsche Visualisierungen sollte er noch durch eigene geograſsche Beschreibungen und Handreichungen ergänzen und auswerten.150 Für den dritten Typus sind wiederum bibliograſsche Rezeptionsstrategien kennzeichnend, die einen systematischen Bruch mit bestimmten Traditionen der frühneuzeitlichen Amerikakunde anstrebten. In den Zitationsapparaten bilden sich gewissermaßen revolutionäre wissenschaftspolitische Programme ab. Konkretisieren lässt sich diese Beobachtung an den beiden Salzburger Professoren Raphael Kleinsorg und Augustin Schelle. Charakteristisch ist für beide Autoren der gänzliche Verzicht auf den Fundus der barocken Weltbeschreibung: Die französischen, englischen, spanischen und italienischen Beiträge zur Amerikakunde des 17. und frühen 18. Jahrhunderts haben für die beiden radikalaufklärerisch gesonnenen Benediktiner keine Bedeutung mehr. Doch nicht nur das weitgehende Abrücken von den großen europäischen Literaturzusammenhängen ist typisch für die Salzburger AmerikaWahrnehmung. Auch die klassischen Linien der katholischen Rezeption sind durchschnitten: Jesuitische Quellen über die Länder der amerikanischen Mission wird man bei Kleinsorg und Schelle vergeblich suchen. An deren Stelle sind dafür die Autoritäten der norddeutschen Aufklärung getreten: Büsching, Gatterer und Schlözer.151 Mit Abbé Raynal (Histoire des deux Indes) und Jacques Bénigne Bossuet (Discours sur l’histoire universelle) tauchen zwei französische Protagonisten auf, die aus Sicht der süddeutsch-katholischen Aufklärung mit den Zielen einer erneuerten Wissenschaft gerade noch in Einklang zu bringen waren.152 Ähnlich konsequent, freilich nicht ganz so radikal wie die beiden Benediktiner verfuhren die Repräsentanten der fränkischen Universitätsaufklärung: Im bibliograſschen Anhang seines um 1800 mehrfach aufgelegten Handbuchs zur Universalgeograſe verzeichnete der Erlanger Geograf Johann Ernst Fabri fast ausschließlich die Größen der zeitgenössischen „Amerikanistik“, darunter vor allem Sprengel und Leiste.153 Theodor Berger und Wolfgang Jäger, die Herausgeber der Synchronistischen Universal-Historie, bezogen ihre Informationen aus der aufklärerischen Publizistik, so einerseits aus den Briefwechseln von Schlözer, andererseits aus dem Politischen Journal des Hamburger Verlegers Gottlob Benedikt von Schirach.154 Dennoch blieben hier ältere Wissenstraditionen wirksam. Insbesondere Fabri verwendete noch die pietistischen Quellen. Pastorius und Urlsperger waren für den Erlanger 150 151 152 153

Vgl. dazu Kapitel 9. Belege in den Kapiteln 11 und 19. Vgl. Schelle, Abriß II, Vorrede, [3r]. Vgl. Fabri, Handbuch II (1803), 296. Zu Sprengel vgl. Doll, American History, 451f., 461-464; zu Leiste vgl. ebd., 459-461. 154 Vgl. Berger/Jäger, Universal-Historie (1781), Tabelle 45. Zu Schlözer vgl. Doll, American History, 441-443; zu Schirach vgl. Depkat, Amerikabilder, 121-131.

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Professor Autoritäten, die ihre Geltung neben den Texten des dezidiert aufklärerischen Amerika-Diskurses weiterhin behaupten konnten. Visuelle Vergegenwärtigungen Die dieser Untersuchung zu Grunde liegenden Amerika-Schriften können als besonders bilderfreundlich gelten. Die Verwendung von kartograſschen und graſschen Komponenten war seinerzeit weit verbreitet. Die hier ausgewählten Werke eröffnen daher wesentliche Einsichten in die Ikonograſe der Neuen Welt, in die vielfältigen bildlichen Argumentationsstrukturen zeitgenössischer Amerikakunde. Insofern sind sie zu einem größeren kulturellen Zusammenhang zu rechnen, der – vor der mediengeschichtlichen Verengung des 19. Jahrhunderts, nämlich der Konzentration auf das gedruckte Wort – dem Bild noch ganz selbstverständlich einen hohen Rang für Erkenntnisgewinn und Informationsvermittlung einräumte. Die Werke der gelehrten Literatur – Atlanten, geograſsche und historische Beschreibungen – waren ein fester Bestandteil der frühneuzeitlichen Bildkulturen. Sie bedienten sich bildpublizistischer Strategien, um komplexe Sachverhalte zu illustrieren, Evidenzen herauszuarbeiten, Argumente zu untermauern, Meinungen zu ventilieren und Haltungen zu beeinƀussen oder, einfach aus didaktischen Motivationen heraus, um die memoria, die Erinnerungsfähigkeit ihres Publikums, zu schärfen. Sie knüpften also an Präsentations-, Beglaubigungs- und Autorisierungsverfahren von Wissen an, wie sie auch auf anderen Ebenen des zeitgenössischen Diskurses – etwa bei Flugblättern und Flugschriften – zu beobachten sind.155 Die verwendeten Bildelemente spiegeln die ganze Bandbreite frühneuzeitlicher Visualität wider. Das Arsenal umfasst Titelvignetten, Kupferstiche, Welt-, Kontinental- und Landkarten, aber auch topograſsche Darstellungsformen, etwa Regional-, Stadt- und Ortspläne. Zu nennen sind außerdem Präsentationstypen, die von der Forschung häuſg übersehen worden sind, weil sie bei Anlegung idealistischer ästhetischer Maßstäbe kaum noch als „bildhaft“ bezeichnet werden können. Dies betrifft vor allem Formen der druckgraſschen Gestaltung, so beispielsweise die Anordnung von Texten in Tabellen und Rubriken, ferner die Gliederung von Narrativen in Paragrafen und Listen. Hier sollen diese Typen ausdrücklich berücksichtigt werden, auch deshalb, weil sie den inneren Aufbau der Quellen entscheidend prägten und daher nachhaltig auf die Formierung von Amerika-Vorstellungen zurückwirkten.156 Auch der institutionelle Rahmen der süddeutschen Amerika-Rezeption legt eine solche systematische Einbindung des Bildfaktors nahe. Zwar wäre es 155 Vgl. Schilling, Bildpublizistik; Harms, Flugblatt und Wahrnehmungsgeschichte, 13f. 156 Vgl. zu den Strukturierungsleistungen speziſscher druckgraſscher Formate die Beiträge bei Wimböck/Leonhard/M. Friedrich, Evidentia.

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falsch, die pauschale Formel von norddeutsch-protestantischer Wort- und süddeutsch-katholischer Bildkultur zu bemühen (denn weder war dem Protestantismus das Bewusstsein für das Visuelle völlig abhanden gekommen, noch hatte der Katholizismus das Wort ausschließlich zu Gunsten des Bilds verdrängt). Gleichwohl lässt es sich nicht leugnen, dass die stark auf das Bild abhebende Kunstlandschaft des süddeutschen Barocks den Einsatz visueller Medien begünstigte. Das zeigt sich gerade im Buchgewerbe: Nicht wenige Verleger und Autoren verwendeten besonderen Ehrgeiz darauf, für das bildliche decorum ihrer Produkte bedeutende Künstler zu gewinnen. Ein gutes Beispiel dafür ist der Atlas Novus des Jesuiten Heinrich Scherer. Dessen Verleger, der Dillinger Drucker Johann Caspar Bencard, legte hohen Wert auf die gediegene Ausstattung des Werks. So verpƀichtete er für die bildliche Ausgestaltung der siebenbändigen Universalgeograſe den Münchner Kirchenkünstler Johann Degler. Dieser hatte sich als Urheber zahlreicher Altargemälde unter anderem in der Münchner Frauenkirche, im Dom von Freising, in den oberbayerischen Klöstern Attel und Tegernsee, nicht zuletzt als Freskant im Kaisersaal des oberösterreichischen Augustiner-Chorherrenstifts St. Florian bei Linz hervorgetan.157 Mehr noch: Der Buchdruck konnte insgesamt von hervorragenden Infrastrukturen im Süddeutschland des frühen 18. Jahrhunderts proſtieren. Das Gewerbe agierte in einem regionalen Umfeld, das unter dem Eindruck der großen klösterlichen Bauprojekte mit ihrem enormen Bedarf an bildkünstlerischen Berufen stand, zudem über bedeutende Institutionen der Kunstförderung verfügte. Vor allem die Augsburger Kunstakademie stellte eine wichtige Personalressource dar.158 Die Dienste der dort ausgebildeten Maler, Graſker und Kupferstecher waren nicht nur im Kirchenbau, sondern auch in der lokalen Buch- und Kartenbranche sehr begehrt. Jedenfalls kann es kein Zufall sein, dass die besten deutschen Amerika-Karten des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts aus Augsburg und Nürnberg kamen. Welchen Stellenwert nehmen nun die bildlichen Repräsentationen in der süddeutschen Amerika-Rezeption ein? Zunächst ist auffällig, dass vor allem die bis 1750 publizierenden Autoren von den Möglichkeiten visueller Wissensvermittlung Gebrauch machten, während die Amerika-Schriften spätaufklärerischer Provenienz auf Bildbeigaben weithin verzichteten. Um die Dinge an einem besonders augenfälligen Einzelbeispiel zu verdeutlichen: Bei dem Barockgeografen Heinrich Scherer ſnden sich auf 2200 Textseiten rund 180 Kupferstichkarten bzw. kartenähnliche Kupferstichtafeln.159 Die einzelnen Darstellungen sind so in das Textgefüge integriert, dass sie unmittelbar auf dessen Inhalte erläuternd und kommentierend Bezug nehmen. Als Musterstücke jesuitischer Bildkunst vergegenwärtigen sie unter Rückgriff auf das ganze 157 Zu Johann Degler vgl. Thieme/F. Becker, Lexikon 8, 549. 158 Zur 1674 gegründeten reichsstädtischen Kunstakademie vgl. Bushart, Augsburger Akademien. 159 Vgl. NDB 22 (2005) 691 (s.v. Scherer, Heinrich).

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Instrumentarium der barocken Allegorese die Kernthesen der sie umgebenden Schriftlichkeit. Man könnte sogar sagen: Die Bilder stehen über dem Text. In einer rhetorisch bestimmten Funktionsteilung fällt ihnen die Aufgabe der Thesenformulierung zu. Die Texte leisten hingegen die eigentliche Informationsakkumulation.160 Wie virtuos die jesuitische Geograſe die Chancen allegorischer Weltdeutung zu nutzen verstand, zeigt sich etwa in dem Bild, das Scherer in seiner Geographia politica von der Britannia entwirft und in dem sich bereits die vielfältigen Möglichkeiten der visuellen Amerika-Wahrnehmung im 18. Jahrhundert andeuten. Der Stich präsentiert unter der Überschrift „ANGLORUM INDOLES STUDIA ET ACTIONES“ die politischen, ökonomischen und intellektuellen Ressourcen der englischen Nation (Abbildung 1). Im Mittelpunkt steht eine zweigeschossige Belvedere-Architektur, die zunächst auf das staatsrechtlich-parlamentarische Gefüge des Inselstaats anspielt. Das obere Geschoss symbolisiert das Oberhaus (Domus superior). In ihm sind die Lords unter dem Vorsitz des Monarchen versammelt, womit für den Betrachter die hervorgehobene politische Rolle dieses Staatsorgans deutlich wird. Die Schrifttafel im Giebelfeld hält diesen Zustand in knappen Worten fest: „DOMUS SUPERIOR CAPUT REPRESENTAT“. Die unteren Bogenstellungen des Gebäudes nehmen dagegen das Unterhaus (Domus inferior) und – rechts davon – die naturwissenschaftlichen Geräte bzw. Bücherregale der königlichen Akademie (Academia Regia) auf. Die Dualität der Herrschaft, aber auch die Erkenntnisleistungen auf dem Gebiet der experimentellen Wissenschaften ſnden also das Lob des Jesuiten. Daneben verweisen weitere Bildattribute auf Merkmale des angelsächsischen Nationalcharakters. Inhaltlich beziehen sie sich auf die listenartigen Aufzählungen im Text: Die Engländer lieben die Jagd (am linken Rand Darstellung einer Jagdszene). Sie sind gute Hirten und Fischer (auf dem rechten Rand werden entsprechende Tätigkeiten vorgeführt). Nicht zuletzt zeichnen sie sich – damit kommt ein dynamisches Moment in die recht verhaltene Szene – durch nautisches Geschick und imperiales Streben aus: Schiffe mit sich mächtig im Wind aufblähenden Segeln unterstreichen diese Einschätzung. Das Objekt der überseeischen Ambitionen halten zwei Figuren im rechten Bildvordergrund in der Hand. An ihrer Kleidung unschwer als wohlhabende Kauƀeute zu identiſzieren, trägt einer der behäbig ausschreitenden Herren eine aufgerollte Landkarte von Neuengland (Nova Anglia) unter dem Arm. Natürlich ist mit dieser Interpretation der Neuen Welt – sie begreift Amerika letztlich als kolonialen Annex der Alten Welt – nur ein Deutungsangebot aus dem erheblich größeren Bildarsenal der jesuitischen Universalgeograſe herausgegriffen. Hier soll es jedoch nicht um Vollständigkeit, sondern bloß 160 Vgl. zu diesen Funktionen von Bildlichkeit und Schriftlichkeit (Textualität) die Beiträge bei Daly/Dimler/Haub, Emblematik; B. Bauer, Jesuitische ars rhetorica, 21-81.

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um die Verdeutlichung eines Argumentationsprinzips gehen. In dem Beispiel zeigt sich eine genuin intermediale Struktur: Das Bild verweist auf den Text. Der Text wird durch das Bild erklärt. Ziel der ganzen Darstellung ist es nämlich, dem Leser die Eignung der Engländer zu allem Guten („ad omnia bona“) vor Augen zu führen.161 Außer den Jesuiten werden im Folgenden die Benediktiner, aber auch protestantische Welthistoriker als charakteristische Vertreter ähnlicher Deutungstechniken anzusprechen sein. Es handelt sich um Autoren wie Anselm Desing, Johann David Köhler oder die Nürnberger Verfassergruppe um den Bilder-Saal. Freilich lassen sich noch andere Formen des Visuellen beobachten, beispielsweise kartograſsche Darstellungspraktiken. Allegorische Bildstrategien können auch hier wichtige Funktionen übernehmen. Vor allem die Kartenzeichner des Barock begnügten sich nicht mit der geograſschen Wiedergabe der örtlichen Gegebenheiten. Ihre Karten enthielten meist weitere Deutungselemente. Dazu zählen alle jene Mittel, die man in der zeitgenössischen kartograſschen Theorie als Parerga bezeichnet hat: Randkartuschen mit erläuternden Texten, Schriftbänder, Legenden und weitere Bildkomplexe meist allegorischen Inhalts.162 Einerseits standen diese im Dienst didaktischer Zwecke, indem sie in sinnsteigernder Weise den Betrachter – wie es der bayerische Benediktiner Anselm Desing formuliert hat – auf die „innerliche Beschaffenheit der Örter und Völckerschaften“ aufmerksam machen sollten.163 Andererseits verfolgten die allegorischen Kartenelemente durchaus theologische Intentionen. Sie sollen das hinter dem Empirischen stehende Göttliche offenlegen. Häuſg bezogen sie sich daher auf die Ereignisse der amerikanischen Missionsgeschichte. Andere Amerika-Karten betonten weniger die allegorische Aussage. Sie konzentrierten sich stärker auf die genaue (Re-)Konstruktion von naturräumlichen und zivilisatorisch erzeugten Grenzlinien: Gebirgsketten, Flussverläufe, Staats- und Kolonialgrenzen, Straßen- und Grundstücksraster menschlicher Siedlungen. Solche visuellen Markierungen bestimmten das Programm dieses zweiten kartograſschen Typus, der indes kaum weniger weitreichende Erkenntnis- und Ordnungsansprüche vertrat als das allegorische Deutungsmodell.164 Zwar wird man den süddeutschen Kartografen – allen voran Johann 161 Vgl. Scherer, Geographia politica [Atlas Novus IV], 450. Zu solchen Deutungsverfahren vgl. auch die Beiträge bei Stanzel, Völkerspiegel über die „Völkertafeln“, illustrierten, listenartigen Aufzählungen von den positiven und negativen Eigenschaften einzelner Weltvölker. 162 Vgl. dazu Desing, Schulgeographie, 30f.: „Die PARERGA sind allerhand Abbildungen, welche an den Ecken der Karten pƀegen gemacht zu werden. Als nämlich das Wappen des im Land regierenden Herrn: die Anzeige von der Religion: die Künste, so darinn getrieben werden: die Früchten und Güter des Landes, oder eine Merkwürdigkeit aus dessen Geschichten.“ 163 Desing, Schulgeographie, Vorrede, [2v]-[3r]. 164 Vgl. dazu Nöth, Karte.

Kapitel 6: Wege und Vermittlungsformen des Amerika-Wissens

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Baptist Homann, dessen großer Weltatlas eine Fülle einschlägiger Beispiele bietet – kaum kolonialstaatliche oder gar imperiale Aspirationen unterstellen dürfen. Die amerikakundliche Kartograſe im Alten Reich unterlag keiner entsprechenden Interessensteuerung von staatlicher oder politischer Seite. Darin unterschied sie sich deutlich von der Situation in Frankreich, Spanien oder England (wo die Kartografen zumeist im Auftrag staatlicher Institutionen arbeiteten).165 Gleichwohl sind die süddeutschen Beiträge wichtige Zeugnisse für die amerikanischen Raumordnungskonzeptionen des 18. Jahrhunderts. Sie können Auskunft darüber geben, ob überhaupt, und wenn ja, inwieweit die Normierungs- und Kategorisierungsansprüche der europäischen Kolonialstaaten im Süden des Alten Reichs auf Widerhall gestoßen sind. Anhand einer eingehenden Analyse der Karten lässt sich außerdem die Frage diskutieren, ob die süddeutsche Wahrnehmung der Neuen Welt eher an naturkundlichen, politischen oder ökonomischen bzw. an allen drei Aspekten gleichermaßen interessiert war. Wie bereits einleitend vermerkt, darf man die Wirkung tabellarischer Visualisierungen für die Konstruktion von Amerikabildern nicht unterschätzen. Auf die Historiograſe des 18. Jahrhunderts übten sie einen zentralen Einƀuss aus, obgleich ihre Bedeutung erst jetzt in der Forschung ausführlicher gewürdigt wird.166 Im Folgenden setzt sich das Feld der tabellarisch arbeitenden Amerikakundler etwa zu gleichen Teilen aus protestantischen und katholischen Autoren zusammen. Zu nennen sind vor allem die beiden fränkischen Gelehrten Theodor Berger und Wolfgang Jäger. Auf das Mittel einer tabellarischen Anordnung amerikanischer Geschichtsereignisse griff aber auch der Benediktiner Edmund Pock aus der oberbayerischen Abtei Ettal zurück. Was können entsprechend gegliederte Werke über den Ort der Neuen Welt im Denken des 18. Jahrhunderts aussagen? Sehr viel mehr, als man auf den ersten Blick erwarten würde. Indem die Tabellenhistorie das Geschehen in Rubriken und Kolonnen einteilt, indem sie also eine chronologische, geograſsche oder institutionelle Rasterung (nach Zeitaltern, Kontinenten oder Staaten) vornimmt, erlaubt sie Rückschlüsse auf die Wertigkeit der Neuen Welt in der zeitgenössischen Perspektive: Welchen Platz hat Amerika in der Reihenfolge der Kontinente? Besetzen die amerikanischen Ereignisse eine eigene Rubrik (werden sie damit als eigenständiger Gestaltungsfaktor betrachtet) oder verteilen sie sich auf die Geschichte der europäischen Staaten (gelten sie gewissermaßen als Bestandteil der europäischen Ordnung)? Auf diese Fragen – sie stehen im Mittelpunkt dieser Untersuchung – wird gerade die Analyse der Tabellengeschichtsschreibung weiterführende Antworten geben können.

165 Vgl. Bitterling, Absoluter Staat; Buisseret, Monarchs; Jacob, Empire des Cartes; Neukirch, Bild der Welt. 166 Zur Tabellengeschichtsschreibung im Alten Reich vgl. Steiner, Ordnung.

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Teil 2: Gelehrtenkultur und Amerika-Wissen in Süddeutschland

So ist das Verhältnis zwischen den einzelnen Medienträgern des amerikakundlichen Wissens im 18. Jahrhundert neu auszutarieren. In besonderer Weise gilt dies für das häuſg bemühte Beispiel der Decken- und Wandmalerei. Denn diese kunsthistorische Gattung blieb keinesfalls die einzige Quelle für amerikanische Bildrepräsentationen. Im Grunde genommen stellt sie nur einen kleinen Ausschnitt aus dem breiten Panorama amerikakundlicher Bildmedien dar. Das Visuelle im Buch – sei es als Kupferstich, Landkarte oder graſsche Präsentation – scheint einen weitaus bedeutenderen Platz einzunehmen. Zwar mochte hier die Außenwirkung eine geringere Rolle spielen. Deckenfresken erreichten als Teil einer betont öffentlichkeitsrelevanten Repräsentationskunst einen weitaus größeren Bevölkerungskreis, vor allem wenn es sich um Darstellungen im Rahmen religiöser Kunst handelte, etwa in Kirchenräumen, die auch von einem nicht-akademisch vorgebildeten, in manchem Fall sogar illiteraten Publikum frequentiert wurden.167 Das Bild im Buch bot jedoch differenziertere Gestaltungsmöglichkeiten: Während die Freskenkunst meist stark topisch strukturiert war (der vielzitierte Indianer als Personiſkation des amerikanischen Kontinents), um so einen möglichst hohen Wiedererkennungseffekt sicherzustellen, konnten die Buchillustratoren auf ein erheblich größeres Repertoire an Symbolen, allegorischen Bezügen und sonstigen graſschen Mitteln zurückgreifen. Mit den gedruckten Visualisierungen lässt sich daher ein lohnendes, bislang noch wenig beschriebenes Neuland der amerikanischen Ikonograſe in Barock und Aufklärung erfassen.

167 Vgl. Wellenreuther, Ausbildung, 620-622; zur monastischen Bildkultur im Barock vgl. R. A. Müller, Kaisersäle.

TEIL 3: GEOGRAFISCHE AMERIKA-DEUTUNGEN KAPITEL 7: JESUITEN Ontologie und Statistik In Süddeutschland wurde der geograſsche Diskurs über Amerika stark von den Jesuiten bestimmt. Die Gelehrten der Societas Jesu proſtierten dabei nicht nur von den Informationsströmen ihrer weltweit vernetzten Ordensorganisation. Ihre wissenschaftlichen Bestrebungen stützten sich zudem auf ein stark systematisiertes, das heißt enzyklopädisch und topisch ausgearbeitetes Methodenfundament.1 Paradigmatisch vertreten die drei Autoren Heinrich Scherer, Gregor Kolb und Heinrich Niderndorff das jesuitische Amerika-Projekt, da sie die institutionelle Verankerung der Geograſe als eigenständiger Teildisziplin an den Universitäten maßgeblich vorantrieben: Scherer war Professor für Poetik, Rhetorik und Mathematik an der Universität Dillingen, Kolb Lehrer für Staatengeschichte in Freiburg und Niderndorff Inhaber einer 1733 eingerichteten Professur für Geograſe an der Universität Würzburg.2 Diese vom Jesuitenorden nachhaltig geprägten Hochschulen boten den institutionellen Rückhalt für die umfangreichen publizistischen Aktivitäten der drei genannten Gelehrten. Vor allem das Werk von Scherer entfaltete eine breite, Konfessionsgrenzen überschreitende Wirkung – sowohl hinsichtlich des Gattungstypus als auch im Hinblick auf die konzeptionellen Grundlagen: Empiristische Betrachtungsformen verbanden sich mit theologisch-philosophischen Deutungsmodellen zu einem ontologisch ausgerichteten Bild von der Welt. Für den Erkenntnisrahmen der Jesuitengeograſe und damit für die Einbettung der engeren Amerika-Thematik sind drei Momente charakteristisch. Der erste Punkt betrifft die wissenschaftsgeschichtliche Seite: Die drei Jesuitengelehrten setzten sich explizit von älteren kosmograſschen Ansätzen ab, indem sie ihre Werke bewusst unter den Begriff der „Geographia“ stell1

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Vgl. dazu Dainville, Enseignement. Zum Zusammenhang von Missionsaktivität und geograſscher Gelehrsamkeit vgl. ders., Géographie des humanistes, 103-137. Zur Verwertung geograſscher Erkenntnis im Verwaltungshandeln der Jesuiten vgl. M. Friedrich, Arm Roms, 392-429. Vgl. zu den akademischen Karrieren der drei Jesuitengelehrten im Einzelnen: für Scherer BayHStA Jesuitica 118, 58 (Nekrolog); NDB 22 (2005) 690f.; A. Kraus, Gymnasium, 5; Layer, Barockgeograph, 145f.; Sommervogel/De Backer/De Backer, Bibliothèque VII, 765. Zu Kolb vgl. Benz, Tradition, 349. Zu Niderndorff vgl. Duhr, Geschichte IV/2, 63, 67; Gerl, Catalogus, 101; Logermann, Personalbibliographien, 86-88.

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Teil 3: Geograſsche Amerika-Deutungen

ten. Zwar nahmen sie damit einen seit der Antike zur Verfügung stehenden und im Humanismus assimilierten Terminus auf; im 17. und frühen 18. Jahrhundert gewann der Begriff jedoch neue Bedeutungsdimensionen hinzu, die von den drei Jesuiten programmatisch aufgenommen wurden. Bereits in der Terminologie ihrer Werke deutete sich die Sinn- und Zuständigkeitserweiterung der Geographia an: Gregor Kolb spricht im Zusammenhang mit seinem Compendium totius Orbis (1726) von einem Buch, das sowohl geograſsch als auch genealogisch und historisch („partim Geographicum, partim Genealogicum, partim Historicum“) zu verstehen sei. Die Geograſe fächerte sich seinerzeit also in miteinander vernetzte Teildisziplinen auf. Sie begriff sich gleichermaßen als Naturgeograſe (Geographia naturalis), politische und historische Geograſe (Geographia politica, Geographia historica). Scherer dagegen verortete sich auf einem anderen Sektor der geograſschen Erkenntnis. Er bemühte für sein Hauptwerk den „Atlas“-Begriff. Die von 1702 bis 1710 erschienene Universalgeograſe des Dillinger Jesuiten ſrmiert unter dem Titel eines Atlas Novus. Damit orientierte er sich an einem zu seiner Zeit noch relativ selten gebrauchten Gattungsnamen. Dieser konnte einerseits als Sammlung von kartograſschen Darstellungen verstanden werden. Andererseits wurde er immer stärker auf die Welt- und Landesbeschreibung angewendet. Scherers Werk nimmt den zweiten Wortsinn auf, weshalb es als bedeutender Beitrag für die weitere Popularisierung des Atlas-Begriffs im Sinn einer Weltund Landesbeschreibung gelten kann.3 Die zweite Beobachtung bezieht sich auf die erkenntnistheoretische Ausgangsbasis. Die Jesuitengeograſe zielte in Fortführung der humanistischen Topik (insbesondere jener des Ramismus) auf eine umfassende Klassiſkation des empirisch Fassbaren.4 Einer hierarchischen Systematik folgend strebte sie eine objektivierbare Gesamtordnung des menschlichen Wissens an und versuchte dabei, Informationen durch Distinguieren und Kategorisieren zu beherrschen, freilich nicht nur im Sinn zweckrationaler Weltbewältigung, sondern auch aus der Intention heraus, die hinter den Dingen liegende Grundursache des Seins einsehbar zu machen. Es ging ihr um die Entschleierung der architectura divina, des göttlichen Heilsplans, der alle irdischen Phänomene trägt und diese in einem tieferen Sinn- und Bedingungsgefüge miteinander verknüpft.5 So wurde die Geograſe zu einer anderen Form der Theologie: Sie 3 4

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Der Begriff geht auf Gerhard Mercator zurück (Atlas sive cosmograhicae meditationes de fabrica mundi et fabricati figura, 1595). Vgl. dazu Daston/Galison, Objektivität, 22-28. Zu den Jesuiten vgl. Hellyer, Catholic Physics, 181-195; Knobloch, Klassiſkationen, 16f.; Romano, Contre-Réforme mathématique. Zur Topik vgl. allgemein Schmidt-Biggemann, Topica. Zu den Beschreibungssystemen des Pariser Logikers Pierre de la Ramée und deren Anwendung in der frühneuzeitlichen Amerikakunde vgl. Neuber, Fremde Welt, 67-77; Stagl, Geschichte der Neugier, 103-106. Nach Kolb (Compendium, Praefatio, 5r) hat die Geograſe die Aufgabe, den Weg durch die Seinsfülle („diversissimarum rerum copia“) zu Gott als dem Urheber aller Dinge zu

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entschlüsselt die Natur als zweite Offenbarungsurkunde, während die Theologie die erste Offenbarung, die biblische Überlieferung, erschließt. Unter den Wissenschaften muss deshalb der Geograſe der Rang einer Leitdisziplin zukommen. Der besondere Wert der Geograſe leitete sich für die Jesuiten nicht nur – damit ist der dritte Punkt erreicht – aus der Bedeutung ihres Erkenntnisgegenstands (der Natur), sondern auch aus ihrer methodologischen Qualität ab. Die Geograſe stellt ein Beschreibungsmodell bereit, mit dessen Hilfe sich der Wissensvielfalt und damit einer Grundproblematik der frühneuzeitlichen Gelehrsamkeit Herr werden lässt.6 Sie liefert einen universell anwendbaren modus ac methodus, mit dem sich die Fülle der Phänomene überschauen lässt. Gregor Kolb verweist in diesem Zusammenhang auf das Beispiel der Weltkugel. Deren Einteilung nach Wasser und Land, nach Ebenen und Gebirgen, nach Kontinenten und Ländern, nach Stadt und Land enthalte eine Gliederungssystematik, die speziell den Historikern, aber auch den Genealogen und selbst den Juristen eine übersichtlichere Präsentation ihrer Inhalte ermögliche.7 Kolb unterscheidet zwischen drei Raumebenen: der geograſschen (auf die ganze Welt bezogenen), chorograſschen (auf einzelne Regionen bezogenen) und topograſschen (auf einzelne Orte bezogenen). Diese dreistuſge Betrachtungsweise stelle ein allgemein gültiges Ordnungsschema dar.8 Die Geograſe ist also eine interdisziplinär strukturierte Form der Gelehrsamkeit. Sie kann sich zu einer allgemeinen Synthese menschlicher Erkenntnis erweitern, weil sie inhaltlich zu zahlreichen Wissensfeldern geöffnet ist. Insbesondere in der Mathematik und Optik, daneben in der Geschichte, in der Religionskunde, der Ethnograſe, im Staats- und Völkerrecht bestehen Anknüpfungsmöglichkeiten. So war für die Jesuiten der Ausbau der Geograſe zu einem Projekt der universalen Enzyklopädik kennzeichnend. Erheblich früher als die Göttinger Kameralistik erbrachten sie einen eigenständigen Beitrag zur Entstehung der Statistik im Alten Reich.

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bahnen. Für Niderndorff (Geographia I, Praefatio, 8r) besteht die Funktion der Geograſe darin, zur Gotteserkenntnis und damit zur Gottesliebe anzuleiten („nempe ad cognoscendum melius & amandum Mundi Creatorem“). Denn die Natur verweise in allen ihren Erscheinungen, selbst in den kleinsten Lebewesen, auf die Größe des Göttlichen. Zu diesem Wissenschaftsbegriff der Jesuiten vgl. Hellyer, Catholic Physics, 14-19, 90-102; Leinkauf, Mundus; Findlen, Kircher. Dazu vgl. U. J. Schneider/Zedelmaier, Wissensapparate, 349. Vgl. Kolb, Compendium, Praefatio, 5r. Zur Deſnition der Begriffe vgl. Kolb, Compendium, 1. Während die Geograſe die „superſcies terrae“ behandelt, beschreibt die Chorograſe die „Regiones singulas“. Die Topograſe hingegen erläutert „non Regiones integras, sed aliquem tantùm Regionis aut Regni tractum oculis subjicit“. Zur Chorograſe vgl. auch Zedler, Universal-Lexicon 5 (1733) 2193: „Chorographia, heisset die Beschreibung eines gewissen Districts Landes, z. E. von Sachsen, Meisner Creysse &c. nach allen besondern Theilen und Merckwürdigkeiten.“

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Teil 3: Geograſsche Amerika-Deutungen

In idealtypischer Weise umgesetzt ist die jesuitische Konzeption im siebenbändigen Atlas Novus von Heinrich Scherer. Auf dessen Gliederung sei daher an dieser Stelle noch näher eingegangen, zumal damit die Rahmenbedingungen für die Einordung des jesuitischen Amerika-Wissens genauer charakterisiert werden können.9 Jeder Einzelband des Atlas behandelt ein Teilfach der Geograſe. Zunächst unterscheidet Scherer zwischen der Geographia naturalis (Bd. 1) und der Geographia artificialis (Bd. 5): Die Naturgeograſe erläutert die physische Qualität der Erde (mit den Elementen Feuer, Erde, Wasser und Luft, daneben alle Formen des irdischen Lebens einschließlich des Menschen). Mit Geographia artificialis ist die mathematische Seite im der Sinn der Ptolemäischen Geograſe gemeint (Berechnung von Längen- und Breitengraden usf.). Die übrigen Bände erfassen die religiösen, kulturellen und politisch-rechtlichen Phänomene: Die Geographia hierarchica (Bd. 2) beschreibt den kirchlichen Zustand der Menschheit. Sie geht dabei vom katholischen Standpunkt aus, indem sie den Stoff „hierarchisch“ aufbereitet, das heißt die religiösen Entwicklungen im weltweiten Raster der Kirchenprovinzen (Erz- und Suffraganbistümer) darstellt.10 In der Geographia Mariana (Bd. 3) wird der religionsgeograſsche Aspekt noch einmal vertieft. Dieser Teilband zeigt – in Anlehnung an die Sakral- und Heiligentopografen des späten Humanismus – die Verbreitung der Marienverehrung.11 Die Geographia politica (Bd. 4) befasst sich mit der Staatenkunde, mit der historischen und politischen Verfasstheit der einzelnen Länder und Regionen. Dabei werden auch soziale und ökonomische Gegebenheiten berücksichtigt. Konzeptionell orientiert sich der Teilband an der damals üblichen Aufgliederung der Welt in vier Kontinente (Europa, Asien, Afrika und Amerika). Die Binnenstruktur der einzelnen Kapitel wird von staatsrechtlichen Kategorien bestimmt: Die einzelnen Räume werden in der Hierarchie ihres historischen und völkerrechtlichen Rangs abgehandelt. Im Fall von Europa beginnt Scherer bei den Imperien der Römer und Griechen (Westund Ostrom). Darauf folgt das Heilige Römische Reich Deutscher Nation (Imperium Occidentale sive Romano-Germanicum) mit den Reichsständen 9

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Vgl. dazu allgemein Heitjan, Bencard, 761f. Kolb und Niderndorff folgen der bei Scherer grundgelegten Konzeption, weshalb auf beide Autoren nicht mehr im Einzelnen eingegangen werden muss: Kolb (Compendium, 517) bezeichnet seinen älteren Dillinger Kollegen sogar explizit als Vorbild und Autorität („testis noster“). Vergleichbar Niderndorff, Geographia IV, 305-482 (Pars II. Geographiae specialis ecclesiasticae). Selbstverständlich war mit dieser Thematik die zeitgenössische Konfessionskontroverse angesprochen. Mit der geograſschen Übersicht über die Marienwallfahrtsorte in allen Teilen der Welt sollte die protestantische Kritik an dieser katholischen Devotionsform entkräftet werden. Vgl. dazu Scherer, Atlas Marianus [Atlas Novus III], Prooemium, 1. Scherer griff bei seiner Geographia Mariana auf ein ähnlich angelegtes Werk des Ingolstädter Jesuiten Wilhelm von Gumppenberg zurück. Zum Genre vgl. A. Schmid, Bavaria, 503-514; ders., Marienverehrung, 43f.

Kapitel 7: Jesuiten

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und Reichskreisen (membra). An letzter Stelle kommen die verschiedenen europäischen Staaten, die wiederum nach Verfassungsformen abgestuft angeordnet sind, zuerst die Königreiche (regna), dann die Fürstentümer (ducatus), zuletzt die Republiken (reipublicae) wie die Schweiz, die niederländischen Generalstaaten oder Venedig.12 Der tour d’horizon des süddeutschen Jesuitengeografen durch die Staaten, Länder und Regionen des Weltkreises entwickelt sich aus einer dezidiert „reichischen“ Perspektive, mit unverkennbaren Anklängen an die traditionelle Monarchienfabel (translatio imperii), die auf die zeitgenössischen Verhältnisse des 17. Jahrhunderts adaptiert wurde.13 Neben dem universalistisch angereicherten Institutionalitätsbegriff der römischen Kirche ist es also die Kategorie der okzidentalen Staatlichkeit, die sich Scherer zu Nutze machte, um die Sachverhalte zu ordnen.14 Markant zeigt sich hier die interdisziplinäre Verbindung von geograſschem und staatenkundlichem Denken, die – darauf wird noch zurückzukommen sein – auch für die Wahrnehmung des amerikanischen Themas von großer Bedeutung ist.15 Amerika und die wissenschaftliche Revolution Welche Rolle spielt nun konkret Amerika im Erkenntniskonzept der Jesuitengeograſe? Bereits jetzt ist deutlich geworden, dass die Jesuiten keine separierte Landeskunde anstrebten. Eine ausschließlich amerikakundlich ausgerichtete Statistik, wie sie sich während des 18. Jahrhunderts im protestantischnorddeutschen Wissenschaftsmilieu ausbildete, wird man bei ihnen kaum ſnden. Von vornherein zielte das Interesse der Jesuiten nicht auf die partikulare Einzelansicht, sondern auf die Synthese der empirischen Vielfalt im Sinn eines ontologischen Erkenntnisaufstiegs zum Einen im Göttlichen. Dennoch gehen die amerikanischen Phänomene in den Denkbewegungen dieses neuplatonischen Wissenschaftsideals nicht unter.16 Aufgabe der nachfolgenden Betrachtungen muss es daher sein, die geograſsch speziſschen Amerika12 13

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Vgl. Scherer, Geographia politica [Atlas Novus IV], 2-31. In ähnlicher Wendung vgl. Niderndorff, Geographia IV, 4-304 (Pars I. Geographiae Imperii Sacri Romano-Germanici). Vgl. generell zur Aktualität der translatio imperii im staatstheoretischen Diskurs des 17. Jahrhunderts Goez, Translatio; Hammerstein, Kommentar, 1029-1034; Neddermayer, Mittelalter, 68-100. Zum Problem der Staatlichkeit als frühneuzeitlicher Ordnungskategorie vgl. Reinhard, Verstaatlichung; Stollberg-Rilinger, Staat als Maschine. Die beiden letzten Bände, die Tabellae Geographicae (Bd. 6) und die Critica Quadripartita (Bd. 7), dienen dem strukturierten Zugriff auf das Gesamtwerk, indem sie dem Leser ein Register (Orte, Namen) und eine Bibliograſe (Quellennachweise) bieten. Vgl. dazu Scherer, Critica quadripartita [Atlas Novus VII], Praefatio, 2v-3v u. Prooemium, 1f. Vgl. zum Neuplatonismus bei den Jesuiten Schmidt-Biggemann, Modelle, 396f.

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Teil 3: Geograſsche Amerika-Deutungen

Wahrnehmungen aus ihren größeren Bezügen herauszulösen und im Einzelnen näher zu betrachten. Die Jesuiten begriffen die Entdeckung der Neuen Welt als grundsätzliche Herausforderung, die eine Überprüfung der traditionellen Erdbeschreibung und ihrer methodischen Voraussetzungen nötig mache. Das Aufbrechen der Wissenshorizonte, das geradezu ƀutartige Hereinbrechen von neuen Erkenntnissen führte zu der Frage, wie denn diese Wissensvermehrung zu bewältigen sei. Aus dem Entdeckungsgeschehen ergab sich also eine wissenschaftliche Krisensituation.17 Niderndorff etwa sieht in der Entdeckung der Neuen Welt eine Hauptursache für die Veränderungen im Wissenskosmos seit dem 16. Jahrhundert: Die dauerhafte Verbindung von Amerika und Europa habe einen enormen Zuwachs (incrementum) an Kenntnissen ausgelöst.18 Die globale Öffnung der bislang den Europäern verschlossenen Weltmeere durch Handel und Verkehr habe vorher unbekannte Ordnungsdesiderate heranreifen lassen. Daher hätten die Versuche der Tradition nicht mehr genügt. Um ihre handlungsanleitende Utilität bewahren zu können, habe die Geograſe also das Neue verarbeiten müssen. Nur so habe sie weiterhin fruchtbare Einsichten in das Zusammenleben der Völker, zu Problemen von Krieg und Frieden oder in geopolitische Zusammenhänge (stratagemata) vermitteln können.19 Auch Scherer kann einen enormen Erneuerungsbedarf ausmachen. Er verweist vor allem auf das religionsgeograſsche Argument. In seiner Widmungsvorrede an Fabrizio Paolucci, den Kardinalstaatssekretär von Papst Clemens XI., erinnerte der Mathematiker an die Expansionswelle des Christentums in Amerika und damit an die umstürzenden religionsgeschichtlichen Veränderungen seit Beginn der europäischen Entdeckungen.20 Der Jesuit sah nicht nur eine tiefe Veränderung der Weltbilder heraufziehen. Er war überdies davon überzeugt, dass dem eigenen Orden eine Führungsrolle im Prozess der Erkenntnisinnovation zukommen müsse. Für Scherer war es die Societas Jesu, die Amerika erstmals als wissenschaftlichen Gegenstand entdeckt hatte. Ihr wachse

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Vgl. Harris, Activity; Fischer, Neue Ordnung. Vgl. Niderndorff, Geographia III, Prooemium, 9f.: „Tantò magis, quantò majora Indies capit incrementa, dum magna cum aemulatione Nationum diversarum crescit labor plurimorum, ex quo Indiae Orientalis & Occidentalis Americae, ac tot Insularum Oceani cognitio, ducentorum & amplius annorum intervallo, accessit. Crescit etiam paulatim magis magisque indefessa navigantium industria, novis subinde terris, tum versùs Polum Arcticum, tum Antarcticum sese aperientibus, quae omnia doctissimos quosque veteris aevi latuerunt.“ Vgl. Niderndorff, Geographia III, Prooemium, 12. Zu dieser Vorstellung von Geograſe als „servante de la philosophie morale“ vgl. Dainville, Géographie des humanistes, 71f. Vgl. Scherer, Geographia hierarchica [Atlas Novus II], Widmung für Kardinalstaatssekretär Fabrizio Paolucci, 1v: „Olim tota America erat in umbra perditionis sepulta, hodie pars maxima ad ſdem Christianam est conversa.“

Kapitel 7: Jesuiten

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daher eine besondere Verantwortung für dessen weitere Erforschung zu. Der Orden verfüge über eine speziſsche Deutungskompetenz für Amerika.21 Die ausgeprägte Sensibilität der Jesuiten für die wissenschaftsimmanenten Folgen der überseeischen Expansionsvorgänge ſndet auch auf den bildmedialen Vermittlungsebenen sichtbaren Ausdruck. Besonders aufschlussreich ist das Titelkupfer der Geographia artificialis von Scherer (Abbildung 2). Die Allegorie erläutert die Grundkonzeption einer erneuerten Weltbeschreibung im Zeitalter nach den Entdeckungen. Sie ist ein besonders eindrucksvoller Beleg für die amerikakundliche Interessenwende der Jesuiten.22 Im Bildzentrum ist eine sechsköpſge Figurengruppe zu sehen. Diese gruppiert sich in Form eines gleichschenkligen Dreiecks um einen Globus. Die Figuren personiſzieren einzelne Wissenschaftsdisziplinen. Die hinter dem Globus stehende Frauengestalt repräsentiert die Geographia artificiosa. Die jeweils seitlich der Erdkugel angeordneten Personiſkationen verkörpern Wissenszweige, die der Geograſe zuarbeiten, so die Geschichtsschreibung, die Geometrie, die Kartograſe, die Mathematik und die Astronomie. Für die Interpretation sind die Attribute der einzelnen Figuren entscheidend: Die in einem Buch blätternde Personiſkation der Geschichte beliefert die Erdkunde mit Daten und Jahreszahlen. Die Geometrie hält Zirkel und Lineal in der Hand. Sie schafft damit die Voraussetzung für die Aufnahme des Koordinatennetzes nach den Regeln der Geometrie (ad Regulam et Mensuram Geometricam). Die Kartograſe gibt das Augenmaß für die bildliche Darstellung der Welt. Die Mathematik trägt ein Rechengerät für die Berechnung des Erdkörpers, während die Astronomie mit Hilfe eines Sextanten die Himmelskörper entschlüsselt. Das Ergebnis dieser vereinten Bemühungen hält die Figur der Geographia dem Betrachter entgegen: eine Erdkugel und eine Topograſe der Reichsstadt Augsburg. Damit macht sie auf die beiden wichtigsten Erkenntnisprodukte der Geograſe aufmerksam: Globus und Landkarte. Für die jesuitische Einschätzung des amerikanischen Themas ist es nun entscheidend, dass es sich bei dem auf der Erdkugel gezeigten Ausschnitt um eine Abbildung der Neuen Welt mit Nord- und Südamerika handelt. Durch Hell-Dunkel-Kontrastierung wird der Kontinent markant hervorgehoben. Auf ihn fällt ein Lichtkegel, während Europa, Afrika und Asien im Dunkeln liegen. Sie lassen sich nur schemenhaft erkennen. Azentrisch sind sie an die Pe21

Vgl. UBM 4° Cod.ms. 370 [Scherer, Tractatvs geographicus], 13: „Huiusmodi continentes siue insulae maximae veteribus notae fuerunt tres, sicut: Europa, Asia, et Affrica. Recentiores adinuenerunt n[on] diu â S[ocietatis] P[atrum] nostrorum 4tam partem scilicet Americam, quam appellat uulgò Orbem nouum.“ Zum wissenschaftsinnovatorischen Anspruch der Jesuitengelehrsamkeit vgl. jetzt auch Clark, Origins, 24-26, 436f. 22 Der Kupferstich geht auf einen Entwurf des Malers Johann Degler zurück. Ausgeführt wurde er von dem Augsburger Kupferstecher Leonhard Heckenauer. Biograſsch zu Degler vgl. Kapitel 6. Zu Heckenauer vgl. Thieme/Becker 16, 210f. Zur Allegorese naturwissenschaftlicher Erkenntnis vgl. Hellyer, Catholic Physics, 195-201.

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Teil 3: Geograſsche Amerika-Deutungen

ripherien gerückt. Sie teilen das Los der Verborgenheit, wie die um 1700 noch unentdeckten Länder. Man kann die argumentative Energie hinter dieser allegorischen Inszenierung kaum überschätzen: Amerika bestimmt das neue Antlitz der Erde. Diese demonstrative Hervorhebung des Amerikanischen verbindet sich mit dem Anspruch auf eine vollständige Neuordnung der wissenschaftlichen Methodologien. Geograſe ist für Scherer eine interdisziplinäre Ausprägung von Gelehrsamkeit, in der historische, mathematische und naturwissenschaftliche Erkenntnisformen zusammenƀießen müssen. Mit diesem Postulat knüpft der Jesuit an Vorstellungen an, die man in der Regel mit dem Stichwort der „wissenschaftlichen Revolution“ des 16. und 17. Jahrhunderts assoziiert.23 Historisch signiſkanter ist an dem Fall des Dillinger Geografen freilich etwas Anderes: Deutlich zeigt sich an der Allegorie der massive Einbruch des wissenschaftlichen Revolutionierungsanspruchs in die kleinteilige Lebenswelt der süddeutschen Universitäten bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Abermals bestätigt sich die akademische Dynamik des Jesuitenordens, der über den Transmissionsriemen der Amerika-Rezeption sein speziſsches Internationalitätscharisma in die süddeutschen Binnendiskurse einbringen konnte und damit amerikaferne Räume in transatlantische Nachbarschaften zu rücken vermochte. In der Allegorie der Geographia verdichten sich diese Anmutungen zu sublimer Bildlichkeit: Nicht ohne Grund ist hier der topograſsche Stadtplan der süddeutschen Reichsstadt Augsburg neben die Globusdarstellung des amerikanischen Doppelkontinents gestellt (Abbildung 2).24 Alte und neue Räume der Heilsgeschichte Wie entwickelte sich nun diese positive Auffassung von den amerikanischen Zukunftspotenzialen bei den süddeutschen Jesuiten weiter? Wie bereits erwähnt, ordneten sie das landeskundliche Wissen nach Kontinenten an. Dabei zeigt sich ein hierarchisches Gefälle zwischen den einzelnen Erdteilen. An erster Stelle wird Europa beschrieben. Hierauf folgen Asien und Afrika, wobei die Reihung im Einzelnen variieren kann. Amerika nimmt immer den letzten Platz ein.25 Begründet wird der Vorrang der Alten vor der Neuen Welt mit dem Anciennitätsargument: Europa weise im Vergleich zu Ame23 24

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Vgl. dazu Rudwick, Limits of Time; knapper Rossi, Philosophy, 63-68; Reill, Scientiſc Revolution, 23f. Dieser Bezug auf Schwaben hängt auch damit zusammen, dass der Atlas Novus in Augsburg verlegt wurde. Vgl. dazu Heitjan, Bencard, 759f. Dennoch wird man hinter diesem Arrangement auch eine handfeste wissenschaftstheoretische Absicht vermuten dürfen. Daher ist es hoch problematisch, die jesuitischen Bild-Diskurse allein auf das Missionsmoment zu reduzieren, wie dies Brusius (Amerika) tut. Zur Hierarchie der Kontinente in frühneuzeitlichen Atlaswerken vgl. M. Heinz/Zeilinger, Ordnung, 218.

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rika ein weitaus höheres Maß an geschichtlicher Dichte auf. Hinzu komme, dass die Alte Welt auf eine lange Vergangenheit historischer Selbstreƀexion zurückblicken könne, während in der Neuen Welt die Voraussetzungen für die historiograſsche Selbsterkenntnis erst noch geschaffen werden müssten.26 Die Vorstellung von der europäischen majestas wird aber auch mit infrastrukturellen Argumenten begründet: Günstige klimatische Bedingungen, fruchtbare Böden, milde Witterung, Wohlstand, Handel, Gewerbeƀeiß; daneben seien die Zugehörigkeit zum Christentum und besondere wissenschaftliche Aktivitäten (peritia) die Ursachen für die europäische Dominanz. Diese Faktoren stützten die Rolle der Alten Welt als „Christiani orbis Domina“.27 Diese Wahrnehmungsprioritäten lassen sich auch quantiſzieren. Zwar ist die eurozentrische Perspektive nicht zu übersehen. Eine starre Hierarchisierung der Kontinente vom zivilisatorisch Hoch- zum Minderwertigen, ablesbar an den Seitenstärken der einzelnen Buchkapitel, ist indes nicht auszumachen. Im Gegenteil: Dass die Erde mit der Entdeckung von Amerika in Bewegung geraten ist, dass die Beziehungen der verschiedenen Weltregionen durch dynamische Prozesse von Entwicklungsunterschied und -ausgleich bestimmt sind – für diese Perspektive steht etwa Heinrich Niderndorff. Sicherlich ist ein Großteil seiner politischen Weltgeograſe dem europäischen Thema gewidmet. Etwa 60% des Seitenumfangs entfallen auf die Alte Welt, lediglich ein Fünftel des Texts kann Asien beanspruchen. Mit noch größerem Rückstand folgen Afrika (8%) und Amerika (9%).28 Gleichwohl präsentieren sich die Dinge wieder in einem anderen Licht, wenn man sich dem religionsgeograſschen Teil des Werks zuwendet. Hier bezieht sich nur noch ein knappes Drittel auf Europa. Asien und Amerika erreichen jeweils ein Viertel und stehen sich damit als gleichwertige Einheiten gegenüber, während Afrika mit einem Textanteil von 16% weit hinten rangiert. Als Raum kirchlicher Lebensvollzüge kann Amerika daher für Niderndorff eine substanzielle Rolle innerhalb der Weltgemeinschaft beanspruchen.29

26 Dieser Zusammenhang wird ausdrücklich bei Niderndorff (Geographia III, Prooemium, 7) betont. 27 Niderndorff, Geographia I, 116 u. III, 14. Ähnliche Argumentationsmuster auch in UBM 4° Cod.ms. 370 [Scherer, Tractatvs geographicus], 68. Zur zeitgenössischen Selbstwahrnehmung der Europäer vgl. Duchhardt, Europabewußtsein. Weitere Belege zur Ikonograſe der europäischen majestas bei Wintle, Image of Europe, 260-266. 28 Vgl. Niderndorff, Geographia III, 14-284 (Europa), 285-386 (Asia), 387-425 (Africa), 426-468 (America). Ähnlich die Relationen im Compendium totius Orbis von Gregor Kolb. Hier beziehen sich weit über 80% der Textmenge auf die Alte Welt. Den Rest teilen sich Amerika, Asien und Afrika. Vgl. ders., Compendium, 9-453 (Europa), 454482 (Asia), 483-504 (Africa), 504-524 (America). 29 Vgl. Niderndorff, Geographia IV, 380-411 (Europa), 412-438 (Asien), 439-455 (Afrika), 456-482 (Amerika).

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Teil 3: Geograſsche Amerika-Deutungen

Auch bei Scherer ist ein starkes Interesse für die kirchen- und missionsgeschichtlichen Belange der Neuen Welt auszumachen. In der Geographia hierarchica rangiert Amerika unmittelbar hinter Europa. Zwar ist knapp die Hälfte der Textabschnitte dem europäischen Sektor zuzuordnen. Die Neue Welt ist jedoch mit mehr als 27% aller Belege vertreten. Deutlich übertrifft diese Quote das Niveau der immerhin durch frühchristliche Traditionen ausgezeichneten Kontinente Asien und Afrika (18% und 8%).30 Noch einmal zeigt es sich, dass Amerika in erster Linie unter religiösem Vorzeichen gesehen wurde. Die Dynamik der dortigen Christianisierung erhöhte insgesamt die Rezeptionschancen der Neuen Welt. Deren neue, aus den Missionserfolgen des 17. Jahrhunderts erwachsende heilsgeschichtliche Qualität förderte die transatlantischen Wahrnehmungen. Der von Scherer mit Blick auf Amerika propagierte Fortschrittsoptimismus, wie er vor allem im allegorischen Bildprogramm der Geographia artificiosa sichtbar wird, bestätigt sich auch im Textbefund. Indes beschränkte sich die Darstellung des Amerikanischen nicht nur auf die Reƀexion des interkontinentalen Beziehungsgefüges. Die Denkoptionen bezogen weitere Aspekte mit ein. Gerade das prononciert heilsgeschichtliche Deutungsmodell erlaubte es den Jesuitengelehrten, vertiefende Einsichten in das natur-, geschichts- und religionskundliche sowie völkerrechtliche Proſl des vierten Kontinents zu gewinnen. Charakteristisch für die Deskriptionsmodi war deren hoher Grad an Differentziertheit. Die Ordensgeografen leiteten ihre Kategorien aus der europäischen Landeskunde ab. Sie übertrugen deren Beschreibungs- und Ordnungssystematiken auf die amerikanischen Verhältnisse. Im Kategorialen ergab sich damit eine Aufwertung der Neuen Welt, die jetzt nun nicht mehr als Ort exotischer Ferne erschien (wie etwa in der humanistischen Perspektive), sondern europäische Züge erhielt. Oder besser formuliert: Sie gewann Dimensionen, die sie für ein zeitgenössisches europäisches Bewusstsein greifbar, gewissermaßen kommensurabel werden ließen. Der eben erst entdeckte, noch weithin unbekannte Kontinent konnte sich auf diese Weise zu einem vollwertigen Bestandteil des europäischen Wissens über die Welt entwickeln. Gregor Kolb, vor allem aber Heinrich Scherer repräsentieren in exemplarischer Form die Gliederungs- und Kategorisierungsebenen der Amerikakunde im katholischen Süddeutschland. Unter diesem speziſschen Aspekt lohnt sich daher noch einmal ein genauerer Blick in ihre Werke. Kolb versucht das amerikanische Phänomen vorwiegend auf der Basis historischer und zivilisationstheoretischer Überlegungen zu erfassen. Scherer hingegen konzentriert sich stärker auf das Problem der natur- und staatsräumlichen Einordnung der in der Neuen Welt anzutreffenden Länder und Regionen. 30

Zu diesen Relationen vgl. Scherer, Geographia hierarchica [Atlas Novus II], 37-51 (Afrika), 51-83 (Asien), 83-109 (Nordamerika), 110-130 (Südamerika), 131-211 (Europa).

Kapitel 7: Jesuiten

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Zunächst zum Ansatz von Kolb: Der Freiburger Professor ventiliert in seinem geograſschen Handbuch speziſsche Beobachtungen zum Verhältnis von präkolonialer und kolonialer Geschichte in Amerika. Aufmerksam wendet er sich der Frage nach der Herkunft der präkolonialen Völker zu, wobei das Problem der Gottesebenbildlichkeit der in der Neuen Welt lebenden Menschen und damit ihrer ethnischen Vergleichbarkeit mit den Europäern im Hintergrund steht. Kolb löst die Frage im Sinn der jesuitischen Tradition auf. Im Anschluss an seinen spanischen Ordenskollegen José de Acosta und dessen Historia natural y moral de las Indias (1590) glaubte er an die gemeinsame adamitische Abstammung aller Völker.31 Diese Ausgangsposition nahm Kolb denn auch zum Anlass, die einzelnen amerikanischen Nationen in einer den europäischen Völkern vergleichbaren Weise zu beschreiben, mit jeweils detaillierten Hinweisen zu Gesellschaft, Kultur und Wirtschaftspraktiken: Die voreuropäische Vergangenheit von Amerika sei eine Epoche von eigenem Gewicht. Dies ist insofern bemerkenswert, als die Mehrheit von Kolbs Zeitgenossen den Beginn der amerikanischen Geschichte häuſg erst mit der Ankunft der Europäer ansetzt. Gleichwohl relativiert Kolb nicht den Zäsurcharakter der iberischen Landnahme. Für ihn leitet diese eine neue Phase der Staatsbildung, nämlich maßgebliche Veränderungen im amerikanischen status civilis ein.32 Gleichwohl begreift der Jesuit den kolonialen Prozess nicht als Verdrängungs- und Überwältigungsvorgang, in dessen Folge die indigenen Kulturen verloren gegangen wären. Die Spuren des Indigenen seien in der Gegenwart der spanischen und portugiesischen Kolonialwelt weiterhin vorhanden; sie seien immer noch als Phänomene zu registrieren und daher kategorial darzustellen. Deshalb konnte Kolb seiner Amerikabeschreibung ein ausführliches Kapitel über die Sitten, die gesellschaftlichen und zivilisatorischen Merkmale der Völkerschaften in der Neuen Welt anfügen („De Moribus Americanorum“).33 Mit diesem Interpretationsansatz betrat der Ordensgelehrte innerhalb des zeitgenössischen Amerikadiskurses wirklich Neuland. Denn die amerikanische Zivilisation seiner eigenen Gegenwart war für Kolb keine exportierte und europäisch dominierte Monokultur. Vielmehr stellte sie sich ihm als Hybridkultur dar, die aus eingewanderten europäischen und autochthonen amerikanischen Elementen neu entstanden sei. Der Jesuit verstand die koloniale Ausdehnung der Alten Welt als atlantikübergreifenden Migrationsprozess von europäischer zu amerikanischer 31

32 33

Vgl. Kolb, Compendium, 513: „[U]nde incubuit authoribus multis laborare, ut fatuam hanc mentem malè doctis & parùm in S[ancta] Codice domesticis ingeniis eximerent simúlque palam universis facerent, hoc in terrarum orbe unum omnium hominum parentem Adamum post sese reliquisse Noemum propagatorem humani generis universi.“ Zu Acosta vgl. Küpper, Prä-Empirismus, 1012-1020. Vgl. Kolb, Compendium, 513-516. Kolb, Compendium, 520-524.

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Teil 3: Geograſsche Amerika-Deutungen

Küste, von östlicher nach westlicher Region („ex Provinciis in Provincias migratio“). Dieser Migrationsprozess, der im übrigen mit der spätantiken Völkerwanderungszeit in Europa vergleichbar sei, wirke auf eine kontinuierliche Veränderung der menschlichen Lebensformen und Verhaltensweisen hin („continuò morum mutatio“), die schließlich nicht nur Amerika betreffe, sondern auch Europa erfasst habe. Denn die nach Amerika reisenden Europäer brächten Werte mit, die sie einst von den Griechen und Römern erhalten hätten. So wie das Römische mit dem Germanischen eine Verbindung eingegangen sei, so würden nun das Europäische und Amerikanische eine weitere Symbiose bilden. Aus der Alten werde die Neue Welt, die – langfristig Europa überholend – zu eigenständiger Größe heranwachsen könne.34 Im Vergleich zu Kolb ist bei Scherer die physische Geograſe breiter entfaltet. Amerika ist hier vor allem ein Raum von überwältigender Naturvielfalt. Diese wird jedoch nicht mehr unter der Perspektive des Mirakulösen gesehen, sondern im Rahmen einer umfassenden Systematik beschrieben. Der Dillinger Jesuit betrachtet die verschiedenen physischen, biologischen und botanischen Qualitäten unter dem Aspekt der compositio. Er differenziert zwischen Strukturen im Erdinneren („Structura Mundi inferioris“) und an der Erdoberƀäche („Structura Mundi superioris“).35 Vorgestellt werden etwa der Vulkanismus, die Wasserquellen und Bodenschätze, aber auch alle Formen tierischen und menschlichen Lebens. Hinzu kommen Gewässer und Gebirge, also hydrograſsche und topograſsche Phänomene. Dieses enzyklopädische, sich häuſg tabellarischer Darstellungsarten bedienende Vorgehen erschöpft sich nicht im blinden Aufzählen. Scherer versucht vielmehr die Wechselwirkungen zwischen einzelnen Faktoren, etwa zwischen klimatischen und botanischen Zusammenhängen, herauszuarbeiten: Die Witterung in Mexiko be34

35

Vgl. Kolb, Compendium, 520: „Mores gentium, utì experientia pridem monstravit, cum aris mutantur maximè: quare cùm in America Boreali & Australi diversissimae hodie sint arae, diversi non minùs sunt hominum mores; Catholici nimirum imitantur Europaeos Catholicos, servato tamen etiam inter hos discrimine, quale in Germania inter Germanos, in Gallia inter Gallos, in Hispania inter Hispanos & Lusitanos, atque inter hos & illos universos experiuntur curiosi gentium & nationum observatores. Habent Hinc etiam suos imitatores per Americam Angli, Hollandi, Sueci &c. Americae nimirum id contigit, quod quondam effecerunt, Longobardi, Gothi aliíque populi multarum exterarum Provinciarum victores potentissimi: horum quippe ex Provinciis in Provincias migratio facta est continuò morum mutatio. Excipe tamen, quòd constanter aliquid haereat non modò viris foeminìsque adultis, sed aetati quoque tenerrimae, quam ita imbuit saepe natura mater, ut ‚quo semel est imbuta recèns servet odorem testa diu.’ Quare compertum est, Americanos Europaeorum exemplo didicisse non dumtaxat formare verba, sed & urbes & oppida condere, scientias intelligere, artes & opiſcia exercere, arma tractare, pluris quàm quondam aurum, argentum & quasvis res Europaeis pretiosas aestimare, inter vitra & uniones discrimen facere &c.“ Scherer, Geographia naturalis [Atlas Novus I], 6-30 (Structura Mundi inferioris), 30112 (Structura Mundi Sublunaris Superioris).

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günstige dort den Anbau von Kakao, in Virginia hingegen die Errichtung von Tabakplantagen.36 Der Waldreichtum von Neufrankreich und Neuengland, Ergebnis eines gemäßigten Klimas auf der nördlichen Erdhalbkugel, biete wiederum gute Bedingungen für den von Holzzufuhr abhängigen Schiffbau.37 Damit gewinnt die Deskription analytische Qualitäten, die das Potenzial der Neuen Welt als Gestaltungsraum für den Menschen erklären können. Besonders interessant sind auch Scherers Hinweise auf die juristischen und politischen Verhältnisse („Status utriusque Americae politicus, ejusdemque Gubernatio“). Dabei kombiniert der Gelehrte geograſsche, ethnograſsche und demograſsche Klassiſkationsansätze: Naturräumlich differenziert er zunächst zwischen den einzelnen Teilen des festländischen und insularen Amerika. Von Nord- nach Südamerika listet er die verschiedenen regiones und regna auf. Danach beschreibt er deren Einwohner. Diese Überlegungen zielen darauf ab, den „genius“ und die „conditio habitatorum“, die historischen, kulturellen und religiösen Merkmale der einzelnen Bevölkerungsteile herauszuarbeiten. Demnach zerfällt der amerikanische Ethnos in zwei Hauptgruppen, zum einen in die zugewanderten europäischen Kolonistenpopulationen, zum anderen in die einzelnen autochthonen Nationen. Letztere deſniert der Jesuit – darin bewusst vom zeitüblichen Sprachgebrauch abweichend – eben nicht als „Indianer“ im Sinne der auf Columbus zurückgehenden Gleichsetzung von Amerika mit Indien oder pejorativ als „Barbaren“. Stattdessen verwendet er den neutralen Terminus der Indigenen („indigenae“ = „Eingeborene“).38 Die einheimischen Völker stehen also gleichberechtigt neben den Zuwanderern. Im Ordnungsmodell seiner bereits auf die moderne Bevölkerungssoziologie und Kulturanthropologie vorausweisenden Überlegungen gehört Scherer daher zu den Protagonisten der ethnischen Parität.39 Wie stark der Paritätsgedanke bei Scherer ausgeprägt war, zeigt sich nicht zuletzt bei den staatstheoretischen Klassiſkationen. Im Mittelpunkt steht hier der Begriff des „Dominiums“, einer zentralen Kategorie des von der spanischen Barockscholastik inspirierten Völkerrechts aus dem 16. und 17. Jahrhundert.40 Diese rechtsphilosophische Anleihe, die im zeitgenössischen juristischen Diskurs seines Ordens breit abgesichert war41, ermöglichte dem Jesu36 37 38

Vgl. Scherer, Geographia naturalis [Atlas Novus I], 59, 72. Vgl. Scherer, Geographia naturalis [Atlas Novus I], 71. Zur Verwendung des „Indigenen“-Begriffs vgl. Scherer, Geographia naturalis [Atlas Novus I], 83 u. Geographia politica [Atlas Novus IV], 816. 39 Auch Scherer geht von einer gemeinsamen, d.h. adamitischen Abstammung der Menschheit aus (vgl. ders., Geographia naturalis [Atlas Novus I], 83: „Homines, quantumvis omnes ab ijsdem primis progenitoribus oriundi, multùm nihilominus inter se sunt diversi“). 40 Nach wie vor maßgeblich zur spanischen Barockscholastik vgl. Höffner, Kolonialismus. Neuere Untersuchungen bei Brett, Liberty; Barreda, Evangelizzazione paciſca; Matz, Vitoria, 283-291. 41 Vgl. García y García, Actitudes, 335-339; Gelderen, Grotius, 54-61.

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Teil 3: Geograſsche Amerika-Deutungen

itenprofessor die komplementäre Anordnung von indigenen und europäischen Herrschaften in der Neuen Welt. Die so genannten „dominia Indigenarum“ bilden neben den kolonialeuropäischen regna eine eigenwertige, dabei völlig gleichrangige Größe, auch wenn sie in den Augen von Scherer im Vergleich zu den mehr oder minder straff an ihre Mutterländer angebundenen Kolonien über ein wesentlich geringeres Maß an Staatlichkeit verfügen. Als überseeische Varianten der reipublicae forma sind sie gleichwohl juristisch klassiſzier- und damit wissenschaftlich eindeutig qualiſzierbar.42 Über völkerrechtliche Distinktionen können also die überseeischen Eingeborenenherrschaften als eigenständige Elemente in das zeitgenössische Staatsdenken integriert werden. Die heilsgeschichtliche Deutung des amerikanischen Kontinents verdichtet sich hier wohl am konsequentesten zu einer auf konkrete realgeschichtliche, genauer: auf juridisch-historische Verfasstheiten abhebenden Normenbildung. Hispanisches Nordamerika Zeigt sich in der Analyse der Gliederungssystematik die thematische Bandbreite der Jesuitengeograſe, so ist mit diesem ersten Schritt der Begriffsrekonstruktion noch nichts über die geograſsche Gestalt der Neuen Welt gesagt. Es ist also die Frage zu stellen, welches räumliche Erscheinungsbild Amerika unter den ordnenden Händen der Jesuiten annahm: Welche Wirklichkeit verbanden sie mit der Bezeichnung „Amerika“? Mit diesem Problem ist auch die Frage nach dem speziſsch „Nordamerikanischen“ aufgeworfen: Lässt sich eine genuin auf den nördlichen Teilkontinent bezogene Raumvorstellung belegen? Terminologisch wird – ganz im Sinne eines seit dem späten Humanismus verbreiteten Sprachgebrauchs – zwischen Nord- und Südamerika, zwischen America Borealis und Septentrionalis oder America Australis und Meridionalis differenziert, bei Scherer noch einmal in einer weiteren Variante zwischen America Mexicana für den Norden und America Peruviana für den Süden.43 Unverkennbar knüpft der Raumdiskurs hier wieder an das völkerrechtliche Kalkül an. Die um 1700 bereits untergegangenen Inka- und Aztekenkönigreiche verfügten über eine ausgeprägte Legitimitätsdichte, die nicht hinter den Staatlichkeitstraditionen der europäischen regna zurückstand. So dominierten Mexiko und Peru trotz der tiefgreifenden politischen Veränderungen infolge 42 43

Vgl. Scherer, Geographia politica [Atlas Novus IV], 828f. mit der Deſnition der indigenen Dominien als Gemeinschaften zu eigenem Recht („sui juris“). Vgl. Lindgren, Wege. Zur Quellenterminologie vgl. Scherer, Geographia politica [Atlas Novus IV], 809-812 (Partes Americae borealis sive mexicanae), 812-815 (Partes sive Regiones Americae australis sive Pervanae); ähnlich Niderndorff, Geographia III, 427, 451.

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der europäischen Kolonisierung weiterhin das Feld, während die neuen staatlichen Entitäten als Namensgeber keine Rolle spielten (es ist durchaus bezeichnend, dass Scherer nie von „Neuspanien“ oder „Neuportugal“ spricht). Auch hinsichtlich der kontinentalen Binnengliederung sind speziſsche Sprachregelungen zu beobachten. Bei Scherer besteht Nordamerika aus insgesamt fünf naturräumlichen Teileinheiten („partes“), nämlich Kanada, der Ost- und Westküste, den neuspanischen Gebieten und den Inseln vor Nordamerika (Hispaniola, Haiti, Kuba, Jamaika, Antillen und Bermudas). Innerhalb dieser partes unterscheidet der Jesuit nach „provinciae“, im Fall von Kanada etwa zwischen „Nova Dania“, „Nordwallia“, „Sudwallia“, „Nova Britannia“, „Estotilandia“. Zur Ostküste rechnet er Saginaw, Louisiana, die „Terrae Huronum et Iroquiorum“, ferner Florida, dann die Kolonien Virginia, Neuschweden („Nova Suecia“), Neuengland („Nova Anglia“), Pennsylvania, Maryland („Marilandia“) und Carolina.44 Besonders zu betonen ist die Tatsache, dass Mittelamerika zum Norden gehört. Die Grenze zwischen Nord und Süd verläuft über den Isthmus von Panama. Man kann also von einer mexikanisch bestimmten Nordamerika-Idee sprechen. Für Scherer umfasst Nordamerika das Gebiet des ehemaligen Aztekenkönigreichs bzw. der kolonialen Königreiche Neugranada und Neuspanien (America mexicana), daneben die noch unerschlossenen Räume an der Westküste und Kanada bis zum Atlantik. Die Bedeutung dieser Beobachtung ist kaum zu überschätzen. Das Verständnis des Nordamerikanischen gewinnt eine stark hispanische Färbung. Das jesuitische Begriffsszenario argumentiert vom Süden aus. In Mexiko liegt der geograſsche Schwerpunkt des nördlichen Teilkontinents. Damit ist eine geopolitische Alternative zum angelsächsischen, von der nordöstlichen Atlantikküste aus operierenden Denkmodell formuliert.45 Auch die Modellierungen der politischen Geograſe folgten dieser hispanischen Perspektive. Wie bereits bemerkt, war für die Jesuitengelehrten das Merkmal der Staatlichkeit ein wichtiger Faktor.46 Besonders nachdrücklich griff Scherer auf dieses Ordnungsmoment zurück. So teilte er Amerika in sieben europäische Herrschaftsbereiche (Dominien im völkerrechtlichen Sinn) ein. Dabei bestimmten historisch-politische Überlegungen, aber auch implizite kulturelle Mentalitäten das Denken. Es ist zwar so, dass Scherer prinzipiell von der Gleichrangigkeit aller Dominien ausging. Gleichwohl wird eine Hierarchie greifbar. So rangiert bei ihm das amerikanische Kolonialreich 44 45

Scherer, Geographia politica [Atlas Novus IV], 809-812. Der Begriff America Mexicana antizipiert die heute im kulturgeograſschen Raumdiskurs verwendete Bezeichnung Mexamerica (USA: Kalifornien, Utah, Colorado, Kansas, Oklahoma, Texas, New Mexico und Arizona, Mexiko: Baja California, Sinaloa und Sonora). Vgl. dazu Depkat, Geschichte, 66f., 168-173. 46 Zur staatlichen Institutionalität als kulturelles Denkmuster vgl. Reinhard, Staatsgewalt, 125-140; zum Einsatz dieser Kategorie schon in der Renaissance-Geograſe vgl. ferner Headly, Political Geography, 154-169.

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Teil 3: Geograſsche Amerika-Deutungen

der Spanier an erster Stelle. Dieser Vorrang ergibt sich einerseits aus der Anciennität der spanischen Herrschaftsbildung, andererseits aus der kolonialen Doppelpräsenz der Spanier in der Nord- und Südhälfte des Kontinents. Unübersehbar wurden auch konfessionelle Afſnitäten wirksam, sie zeigen sich in einer deutlichen Präferenz für die katholische Seite. Besonders gut zu erkennen sind diese Konfessionsloyalitäten im Fall von Frankreich. So beschreibt Scherer zuerst die neufranzösischen Besitzungen in Kanada und dann die Kolonien der protestantischen Staaten von England, der Niederlande und Schweden.47 Es stellt sich natürlich die Frage, welchen Platz die indigenen Herrschaften in diesem doch stark von europäischen Macht- und Konfessionssemantiken geprägten System haben konnten. Auch wenn Scherer in den Sozialformationen der Eingeborenen grundsätzlich eine eigenständige Größe erkennen wollte, konnte doch sein stark auf das Anstaltsstaatliche zugeschnittene Begriffskonzept den informellen Charakter der indigenen Lebensgemeinschaften vor allem in Nordamerika kaum erfassen. Als wandernde Personenverbände durchbrachen sie den auf die territoriale Integrität abzielenden Raumbegriff der Europäer. Ließen sich zwischen den ehemaligen regna der Mexikaner oder Peruaner und den europäischen Königreichen noch Analogien herstellen, so waren die Organisationsformen der nordamerikanischen Indianer nicht mehr mit den Institutionalitätskriterien der Alten Welt zur Deckung zu bringen. Daher verwendete Scherer Begriffe, die das Unbestimmte der Verhältnisse betonen, zumal er die territorialen Prätentionen der europäischen Kolonialmächte eben nicht in imperialistischer Überdehnung interpretieren, sondern die Dinge historisch kongruent wiedergeben wollte. Er spricht daher von „terra“ (im Zusammenhang mit den Huronen) oder einfach von den „nationes“, wenn er auf die politischen Gegebenheiten im Nordteil des amerikanischen Kontinents zu sprechen kommt.48 47

48

Zu diesen Hierarchisierungen vgl. Scherer, Geographia politica [Atlas Novus IV], 824 (Dominium Hispanicum in America Boreali, Dominium Hispanicum in America Australis), 825 (Dominium Lusitanicum in Australi America), 825f. (Dominium Gallicum in utraque America), 826f. (Dominium Anglicanum in America), 827 (Dominium Hollandicum in America) u. 827f. (Dominium Suecicum). Vgl. Scherer, Geographia politica [Atlas Novus IV], 828f. Unterschieden wird hier zwischen Dominien mit geringer Staatlichkeit („qui ab invicem segregati atque vagabundi ferarum ritu in sylvis ac spelaeis commorantur omnem planè humanam conversationem ac societatem aversati“) und staatlich stärker verdichteten Gemeinschaften mit dauerhafter Siedlungsweise, Verfassungsstrukturen und formalisierten Verfahrensregeln („qui in turmas, pagos & oppida collecti societatem & quandam Reip[ublicae] formam prae se ferunt: hi proinde suos Magistratus, Praefectos ac Regulos habent, quos ipsi Americani Caziquios appellant, qui reliquis praesunt, jura dicunt, & contra hostes in aciem & ad bella educunt. Verùm qualiacunque ejusmodi regna aut Praefecturae hodie in America supersunt, majestatem Regni antiqui illius Mexicani & Peruviani, quae regis Catholici potentia extinxit, nullatenus adaequant“).

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Um so intensiver konzentrierten sich die Jesuitenautoren daher auf die europäischen dominia, da hier im Rückgriff auf die bereits geschaffenen Verwaltungseinheiten und deren Grenzen auch die Binnenstrukturen und damit die Mikroschichten des Raums leichter zu erfassen waren. Letztlich ist darin auch der entscheidende Grund für das Wahrnehmungsübergewicht zu Gunsten der Spanier zu suchen. Die spanische Verwaltungsgliederung mit ihrem strikt zentralistischen Aufbau lieferte ein Grundgerüst, mit dessen Hilfe sich die Phänomene in ihrer Fülle ordnen und in synoptischer Form darstellen ließen.49 Bei Heinrich Niderndorff kommt dieser Ordnungsgedanke in besonders exemplarischer Weise zum Ausdruck. Ausgangspunkt des Erkenntniswegs ist die kolonialstaatliche Binneneinheit der provincia mit ihren Untergliederungen, also den Teilprovinzen und Städten. Darüber bauen sich die politischen Großräume der regna und regiones auf. Wenn man den Abschnitt über das nördliche Amerika (America Borealis) genauer betrachtet, dann zeigen sich der hohe Grad an Differenzierungsfähigkeit und die Reichweite dieses Modells. Ein eindrucksvolles Beispiel ist etwa die synoptische Beschreibung des Regnum Mexicanum: Drei Audientien (audientiae) auf mittlerer und 18 Provinzen (provinciae) auf unterer Ebene gliedern das neuspanische Königreich. Das topograſsche Fundament bilden dessen urbane Strukturen. Niderndorff zählt insgesamt 51 Städte, die er nach ihrer jeweiligen Provinzialzugehörigkeit anordnet. Auch die differenzierte Funktionalität der kolonialspanischen Stadtlandschaft wird in den Blick genommen. So unterscheidet die Aufstellung für Neuspanien zwischen drei urbanen Typen, nämlich Orten kirchlicher Zentralität wie der Bischofsstadt („urbs Episcopalis“), dem politischen Verwaltungsmittelpunkt („Sedes Gubernatoris“ oder „caput Provinciae“) und der Hafenstadt („urbs cum portu“).50 Kartograſen des Southwest Wie bereits betont, machten die Jesuiten ausgiebig von den Möglichkeiten visueller Wissensrepräsentation Gebrauch. Dies gilt vor allem für Heinrich 49

50

Scherers Geographia politica versteht sich daher als „Synopsin Geographiae Politicae“, die der Unordnung einer „Geographia diffusa“ vorbeugen möchte (vgl. ebd., Vorrede, 1). Zu synoptischen Verfahrensweisen in der frühneuzeitlichen Karten- und Atlas-Produktion vgl. Akerman, Political Territory. Vgl. Niderndorff, Geographia III, 427-432 (Regnum Mexicanum sive Nova Hispania). Die zivilisatorische Überlegenheit des spanischen Städtebaus in Amerika und ihre Nutzbarkeit für die wissenschaftliche Strukturierung des Raums betont auch Scherer (Geographia politica [Atlas Novus IV], 830): „In America amplissima licet mundi parte paucae admodum reperiuntur urbes alicujus splendoris & architecturae, eaeque ferè ab exteris & praecipuè Hispanis aediſcatae; vix enim alibi urbes invenerunt Hispani in America praterquem in Regni Mexicano & Peruviano: in caeteris Regionibus ac Provincijs nil erat nisi mera barbaries & latibula ferarum potiùs, quàm stationes hominum.“ Vgl. dazu auch Kinsbruner, Spanish-American City.

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Teil 3: Geograſsche Amerika-Deutungen

Scherer, dessen Werk sich durch eine besonders reichhaltige Bildausstattung auszeichnet. Der Atlas Novus stützt sich nicht nur auf allegorische, sondern auch auf kartograſsche Visualisierungsstrategien. Für Scherer bestand eine Hauptaufgabe der geograſschen Gelehrsamkeit in der delineatio more geometrico, das heißt in der maßstäblichen und damit naturgetreuen Wiedergabe der Welt auf dem Reißbrett des Kartografen. Diese Art der Weltaneignung zielte gleichermaßen auf realienkundliche wie auf metaphysische Erkenntnis ab. In der Empirie der Bilder sollte der Zeigeſnger des Schöpfergottes (digitus Dei) sichtbar werden. In der bildlichen idea der Welt vergegenwärtigte sich gewissermaßen der göttliche Heilsplan, von der Hand des Kartenzeichners offengelegt und veranschaulicht.51 Als Erkenntnisinstrument stand die Kartograſe daher gleichrangig neben dem Text. Für Scherer waren beide Medientypen aufeinander verwiesen. Die Karten sollten das Narrativ illustrieren, deuten und thesenartig zusammenfassen, der Text wiederum die bildliche Darstellung erläutern und vertiefen. Aus diesem Ansatz heraus erklärt sich die für die zeitgenössische Publizistik singulär reichhaltige Kartenausstattung des Atlas Novus. Das Corpus besteht aus rund 90 Karten. Thematisch handelt es sich bei diesen Graſken nicht nur um allgemeine Weltkarten, sondern auch um regional speziſzierte Detailausschnitte, die sich inhaltlich auf einzelne Kapitel des Atlas Novus beziehen.52 Diese kartograſschen Visualisierungen zählen zu den bedeutendsten Bildzeugnissen der amerikanischen Kolonialgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts. In den USA haben sie immer wieder breite wissenschaftliche Aufmerksamkeit gefunden, während sie in der europäischen Forschung erst nach und nach entdeckt werden.53 Scherer hat bei ihrer Erstellung auf sämtliche, ihm zugängliche Quellen zurückgegriffen. Vor allem die Berichte der im Südwesten der heutigen USA tätigen Jesuitenmissionare waren eine wichtige Informationsgrundlage. Quasi-Autopsie prägt die zumeist um 1700 entstandenen Amerika-Karten, die daher eine ideale Ausgangsbasis für eine weitere Überprüfung der raumgeschichtlichen Theoreme in der barocken Jesuitengeographie bieten. Folgende Fragen sind dabei von besonderem Interesse: Wie ist der amerikanischen Kontinent dargestellt? Wiederholt sich die so 51

Vgl. Scherer, Geographia naturalis [Atlas Novus I], H (Idea Natvralis Americae Borealis Digito Dei Formata Geographice Proposita). 52 Vgl. allgemein zum Funktionsarsenal bildlicher Weltdeutung Appuhn-Radtke, Thesenblatt, 48-55, 256-260. Speziell zur Kartograſe von Scherer vgl. Wild/Schwarz/Oswald, Jesuiten, 218. 53 So etwa durch Herbert Eugene Bolton im Rahmen seiner Forschungen zu den frühneuzeitlichen Spanish Borderlands in Südkalifornien, New Mexico und Arizona. Zu dem von 1911 bis 1944 in Berkeley lehrenden Historiker vgl. Magnaghi, Bolton. Folgende Arbeiten, die sich mit Scherer als Kartograf des kolonialen Nordamerika befassen, wurden von Bolton inspiriert: Bannon, Sonora; Treutlein, Jesuit Travel; zuletzt Greene, Maps.

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stark hervortretende Präferenz für das hispanische Amerika auch in der kartograſschen Inszenierung? Der Atlas Novus enthält vierzehn Karten mit Amerikabezug. Dabei lassen sich inhaltliche Interessenschwerpunkte erkennen. Wie Tabelle 3 zeigt, befassen sich allein vier Karten mit den religiösen Zuständen. Zwei Karten beziehen sich auf die Topograſe der amerikanischen Marienheiligtümer. Auf das Thema der politisch-historischen Raumgliederung entfallen drei Graſken. Hingegen ist das naturgeschichtliche Phänomen mit nur einer Karte deutlich schwächer vertreten. Räumlich unterscheiden sie zwischen Nord- und Südamerika. Selten ist der Zuschnitt enger gefasst. Nur für Neumexiko und Kalifornien bietet der Atlas Novus seinen Nutzern Detailausschnitte. Alle Amerika-Karten folgen einem ähnlichen Grundschema. Sie sind polständig nach Norden orientiert, zeigen Gewässernetz und Küstenverläufe, Gebirgszüge und Waldgebiete. Ferner sind Siedlungskomplexe (Städte, Orte, militärische Stützpunkte, Dörfer und Missionsniederlassungen) ausgewiesen. Weitere Informationen liefert die systematische Beschriftung der Topograſe (Länder-, Gewässer- und Siedlungsnamen). Bemerkenswert ist außerdem der Umstand, dass die eigentliche kartograſsche Projektion (also die Darstellung des jeweiligen Landschaftsraums) von einem aufwendigen Legendenapparat bzw. Bilddekor begleitet wird. Das Rahmenwerk übernimmt interpretierende Funktionen, wobei dieses häuſg ein Viertel, in manchen Fällen sogar die Hälfte des gesamten Bildraums einnimmt. Drei hermeneutische Typen lassen sich unterscheiden, erstens: textuelle Komponenten (Überschriften und Bibelzitate), zweitens: allegorisch-emblematische Elemente, und drittens: Text- oder Bildlegenden. Für den dritten Deutungstypus ist eine gewisse Variantenvielfalt charakteristisch. Die Wahl der graſschen Mittel orientiert sich ƀexibel am jeweiligen Zweck. Auf der Karte zur amerikanischen Naturgeograſe repräsentieren etwa Tiersymbole die Lebenswelt einzelner Geƀügel-, Fisch- und Säugetierarten.54 Das entscheidende Innovationspotenzial des Atlas Novus liegt in der religions- und staatengeschichtlichen Kartograſe. So übertrug Scherer – in konsequenter Fortführung seines Gliederungsansatzes – die Raumkategorien der europäischen Konfessions- und Territorialstaatlichkeit auf Amerika. Besonders im religionsgeographischen Symbolinventar werden entsprechende Analogisierungsbemühungen sichtbar55: In ƀächig aufgetragenen SchwarzWeiß-Schattierungen weisen die Karten die neue christliche Identität der einzelnen amerikanischen Länder aus. Dabei lässt sich Scherer nicht von pole54

55

Vgl. Scherer, Geographia naturalis [Atlas Novus I], H. (Idea natvralis Americae Borealis digito Dei formata geographice proposita cvm svo apparatv volvcrum piscivm et qvadrupedvm). Generell zur Zeichenverwendung in frühneuzeitlichen Karten vgl. Dainville, Langage. Vgl. explizit mit Hinweis auf Scherer Ryan, New Worlds, 537 (Anm. 48).

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Teil 3: Geograſsche Amerika-Deutungen

mischen Zuspitzungen abhalten. Auf einer Konfessionskarte des nördlichen Amerika (Abbildung 3) bezeichnen helle Flächen die Verbreitungsgebiete der katholischen „vera ſdes“, die schwarz schrafſerten Zonen markieren hingegen die Räume des Unglaubens („vmbris immersae sunt“). Dazu gehören nach Auffassung des Jesuiten die Gebiete der noch nicht missionierten Indigenen und die protestantischen Europäersiedlungen: Die Kolonien in Neuengland sind beispielsweise als Dunkelzonen ausgewiesen – ein interessanter Beleg für die Wirksamkeit von konfessionellen Deutungen auch in der Amerika-Kartograſe des späten 17. Jahrhunderts.56 Gleiches gilt für eine weitere Karte von Scherer über die Verteilung der katholischen Institutionen in der Neuen Welt. Bei dieser ging es dem Ordensgelehrten offenkundig darum, die Dichte der kirchlichen Organisation herauszuarbeiten. Die frühneuzeitliche kirchliche Hierarchie mit ihrer Unterteilung in bischöƀiche Sitze und Missionsstationen lieferte ein Klassiſkationssystem, mit dem sich gewissermaßen die Katholizität des amerikanischen Raums im Kartenbild „beweisen“ ließ (Abbildung 4).57 Zur Charakterisierung der weltlichen Staatlichkeit verwendete Scherer andere Darstellungstechniken (Abbildung 5): Im Gegensatz zu seiner Religionskartograſe verzichtete er auf Markierungen der institutionellen Raumorganisation (im Fall der Staatsgeograſe könnten dies etwa Grenzziehungen sein). Umso stärker machte sich Scherer allegorische Interpretationsmodi zu Nutze. Ein Kunstgriff bestand etwa darin, die europäischen Besitzungen in Nordamerika durch in das Kartenbild eingeblendete Personiſkationen repräsentieren zu lassen. In dem hier zitierten Beispiel (Abbildung 6) halten einzelne Figuren als Vertreter der französischen, spanischen und englischen Kolonialmacht dem Betrachter Banderolen entgegen. Auf diesen Fahnen sind noch einmal – in Vergrößerung – die nordamerikanischen Kolonien der drei Großmächte kartograſsch angedeutet. Der Franzose wendet sich dem Leser mit einer Karte von Louisiana zu; der Spanier trägt eine Ausschnittkarte von Neumexiko und Kalifornien; der Engländer zeigt eine Darstellung von Pennsylvania, Maryland und Carolina. Die Dominien der Indigenen sind durch 56

Vgl. Scherer, Geographia hierarchica [Atlas Novus II], K. (Repraesentatio Americae Borealis cvivs provinciae vera ſde illvminatae vmbram non habent, reliqvae vmbris immersae svnt). Dazu vgl. Nebgen, Missionarsberufungen, 24. 57 Charakteristisch die Legende zur Karte über die nordamerikanische Religionsverteilung. Vgl. Scherer, Geographia hierarchica [Atlas Novus II], X.O. (Religionis catholicae in America Boreali disseminatae Repraesentatio geographica). Mit speziſschen Symbolen (Kreis und Kreuz) werden folgende Ebenen ausgewiesen: „Locus & Dominium Catholicum“, „Vrbs Archiepiscopalis“, „Vrbs Episcopalis“, „Mißio Catholica Stabilis“, „Mißio Catholica Tempora[n]ea“, „Locus à Catholicis Mißionarijs frequentatus & excultus“, „Religio Catholica dißeminata & iterum deserta“. Zu den entsprechenden Deutungsmodi in der zeitgenössischen Kartograſe vgl. Dainville, Langage, 236-244, 307-315. Realgeschichtlich zum Aufbau der katholischen Hierarchie seit dem 16. Jahrhundert vgl. Prien, Bistumsstrukturen, 127-139, 152-157.

Kapitel 7: Jesuiten

107

zwei seitlich angeordnete Assistenzſguren vertreten. Sie verkörpern die Huronen („Hvrones“) und Irokesen („Irrochi“).58 Die Kartenallegorie unterstreicht also eine Grundüberzeugung der jesuitischen Amerika-Geograſe: Hier bestehen europäische und indigene Herrschaften nebeneinander. Freilich sind deren Räume im Kartenbild nicht so genau zu erfassen. Denn die Grenzen der einzelnen Herrschaften lassen sich nicht linear oder punktuell ſxieren, womit eine methodische Grundproblematik frühneuzeitlicher Raumverzeichnung und -beschreibung deutlich hervortritt.59 Scherer bediente sich der Allegorie, um dieses Problem zu überbrücken und den unfesten, gleichsam außerhalb europäischer Staatlichkeitsnormen liegenden Organisationsformen der indigenen Nationen Rechnung zu tragen. Bildlichkeit als Instrument der Differenzerfahrung und ihrer Bewältigung – diese Funktion erfüllt also die kartograſsche Allegorese. Daneben sind noch weitere Funktionen zu ſnden. Die Allegorie dient der argumentativen Zuspitzung. Dabei können sich indes Widersprüche zwischen textueller und bildlicher Wissensrepräsentation ergeben. Auch dafür ist die hier interpretierte Karte (Abbildung 5 und 6) ein instruktives Beispiel: Zwar werden die Dominien der Indigenen – wie auf der Textebene – als integraler Bestandteil des territorialen Systems in Nordamerika betrachtet. Die Personiſkationen der Huronen und Irokesen sind als Protagonisten der amerikanischen Ureinwohner vertreten. Sie verharren jedoch in kniender Haltung. Somit beſnden sie sich gegenüber den aufrecht stehenden Europäern in einer visuell untergeordneten Position. Im Bild ist die Gleichordnung zwischen Einheimischen und Auswärtigen aufgehoben. Ist damit auch der von den Jesuiten so nachdrücklich vertretene Gedanke der völkerrechtlichen Parität aufgegeben? Wohl nicht grundsätzlich, denn Scherer wollte die geschichtliche Dynamik der europäischen Ankunft in Amerika hervorheben: Neben die alten, indigenen Machtinstanzen sind neue europäische Handlungsträger getreten. Diese werden die Geschicke des nordamerikanischen Raums maßgeblich mitbestimmen. Insgesamt gesehen erweitern die Symbolfunktionen auf den Karten des Atlas Novus die Spielräume der Interpretation. Sie zielen auf ein multiperspektivisches Panorama der Neuen Welt ab, indem sie deren geograſsches Gefüge als graſsch vielschichtige Struktur freilegen.

58 59

Scherer, Geographia politica [Atlas Novus IV], Z.Z. (Provinciae Borealis Americae non itapridem detectae avt magis ab Evropaeis excvltae). Vgl. Behrisch, Vermessen, 19-25.

108

Teil 3: Geograſsche Amerika-Deutungen

Tabelle 3: Scherer, Geographia Naturalis etc., Bde. 1-7 (1702-1710). Amerika-Karten Band

Karte (Entstehungsjahr)

Signatur

Geographia Naturalis [Atlas Novus I]

1) Idea natvralis Americae Borealis digito Dei formata geographice proposita cvm svo apparatv volvcrum piscivm et qvadrupedvm (1700).

H.

Geographia Hierarchica [Atlas Novus II]

1) Religionis catholicae in America Boreali disseminatae Repraesentatio geographica. 2) Repraesentatio Americae Borealis cvivs provinciae vera ſde illvminatae vmbram non habent, reliqvae vmbris immersae svnt. 3) Delineatio nova et vera partis avstralis Novi Mexici, cvm avstrali parte insvlae Californiae saecvlo priori ab Hispanis detectae. 4) Repraesentatio Americae avstralis cvivs provinciae lvce verae ſdei imbvtae invmbres svnt reliqvae vmbra copertae & vera Fide destitutae.

X.O.

1) America Borealis multis in locis Dei Matrem colit & honorat, et haec suis Cultoribus multos Favores & Beneſcia praestat (1699). 2) America Avstralis Dei Parae Multas Sacras Aedes erexit in quibus magnos ab Illa fauores accipit.

nach 10

Geographia Mariana [Atlas Novus III]

Geographia Politica [Atlas Novus IV]

1) America Borealis (1699). 2) Provinciae Borealis Americae non itapridem detectae avt magis ab evropaeis excvltae. 3) Archipelagi Americani delineatio geographica (1700).

K. D.C.D. L.

nach 12

Z.Z. B.B.B.

Geographia Artiſcialis [Atlas Novus V]

1) America Borealis und America Avs[t]ralis.

T.

Tabellae Geographicae [Atlas Novus VI]

1) America Borealis (1699). 2) Archipelagi Americani delineatio geographica (1700). 3) America avstralis.

B.B.B.

Doch sind die Karten nicht nur ein Indikator für die vorwiegend an kirchlicher und staatlicher Identität interessierten Amerika-Diskurse der Jesuiten. In ihnen manifestiert sich auch eine Präferenz für den Norden der Neuen Welt. Um noch einmal die Quantitäten Revue passieren zu lassen (Tabelle 3): Von den insgesamt 14 Karten im Atlas Novus entfallen zehn auf die nördliche und drei Darstellungen auf die südliche Kontinentalhälfte; eine Karte bezieht sich auf beide Teile. Dieses starke Übergewicht zu Gunsten des Nordens ist auf der Textebene nicht so eindeutig zu fassen (hier stehen sich Nord und Süd paritätisch gegenüber). Kann man diesen Befund bereits als Beleg für eine Nordamerikanisierung der jesuitischen Betrachtungsweisen deuten?

Kapitel 7: Jesuiten

109

Immerhin wäre dies für eine katholische Wahrnehmungsoption eine interessante Nuancierung. Daher seien die Dinge noch einmal einer genaueren Betrachtung unterzogen. Dabei sind bestimmte Wahrnehmungskonzentrationen nicht zu übersehen: Auf den beiden Nordamerikakarten zur konfessionellen und politischen Gliederung (Abbildung 3 und 5) ist die Ostküste – im Gegensatz zu den tatsächlichen Gegebenheiten – wesentlich kleiner dargestellt als die im Westen gelegenen Regionen. Die Länder westlich des Mississippi beherrschen das Raumbild. An erster Stelle steht dabei Kalifornien, das fast ein Fünftel der nordamerikanischen Gesamtƀäche einnimmt. Die Bildregie lenkt die Aufmerksamkeit des Beobachters also bewusst auf die paziſsche Seite der heutigen USA. Sicherlich hängt diese Überakzentuierung des Westens mit Erkenntnislücken zusammen (das noch unentdeckte Amerika nördlich von Kalifornien ist als weiße Fläche ausgewiesen). Dennoch wird man die starke optische Hervorhebung des Westens auch auf einen speziſschen Wahrnehmungsimpuls zurückführen müssen. So war es die Faszination für den Westen, die das Bild der frühneuzeitlichen Jesuiten von Nordamerika bestimmte. Deren Visualisierungsbemühungen lassen sich nicht nur als besonders frühes und eindrucksvolles Beispiel für die Nordamerikanisierung der Perspektiven lesen; die Karte ist auch ein Dokument für die Westverschiebung der Sichtachsen. Ihren Ruhepol ſndet diese Wahrnehmungshaltung weniger im transatlantischen Beziehungsgefüge. Vielmehr ordnet sie die Räume von der inneramerikanischen Seite her. Nicht so sehr Neufrankreich oder Neuengland, also die Europa zugewandten Küstenländer, stehen im Zentrum. Der paziſsche Rand dominiert den Eindruck; insbesondere auf Kalifornien konzentriert sich der Atlas Novus. Man fühlt sich bei den Nordamerika-Karten von Scherer unweigerlich an den West-Mythos der USA, an den berühmten frontier-Begriff von Frederick Jackson Turner (1893) erinnert. Sicherlich wäre dies anachronistisch: Gewiss lag es Scherer fern, den nordamerikanischen Westen als Entfaltungsraum für die angelsächsische Zivilisationsmission zu reklamieren. Wenn man das Konzept der frontier auf die Vorstellungen der Jesuiten anwenden möchte, dann kann das lediglich in einem modiſzierten Sinn geschehen. Bei Scherer war es der Reiz des neuen Wissensraums, der das speziſsche Interesse an Kalifornien motivierte. So eröffneten sich gerade im paziſschen Teil von Nordamerika missionarische Erschließungsmöglichkeiten und – damit einhergehend – neue wissenschaftliche Erkenntnischancen.60 Genau auf diesen Zusammenhang hebt das kartograſsche Programm des Atlas Novus ab. Es ist nämlich auffällig, dass Scherers Werk eine Detailkarte mit einer Ansicht von Kalifornien und Neumexiko enthält (Abbildung 7). Bei 60

Zur Anwendung des frontier-Begriffs auf die Missionsliteratur des 18. Jahrhunderts vgl. Bolton, Mission; Hausberger, Gott und König, 20; Wendt, Einleitung, 7. Zum frontierDiskurs allgemein vgl. Waechter, Erſndung, 28-36.

110

Teil 3: Geograſsche Amerika-Deutungen

der im ausgehenden 17. Jahrhundert entstandenen Darstellung handelt es sich um eines der frühesten gedruckten Bildzeugnisse der kalifornischen Geograſe überhaupt. Sie ist in einem engen Kontext mit der zu Beginn des 18. Jahrhunderts besonders intensiv geführten Diskussion über Kalifornien zu sehen. Im Vordergrund stand dabei die Frage, ob die durch die Spanier von Mexiko aus erschlossene Region als Insel oder Halbinsel zu betrachten sei. Die Debatte gehörte zu den heiß umstrittenen Diskursen der frühneuzeitlichen Amerikakunde. Zugleich ist sie ein Beispiel für die retardierenden Momente im transatlantischen Wissenstransfer des Barock. Nachdem in den 1690er Jahren unter führender Beteiligung des in Ingolstadt ausgebildeten Jesuitenmathematikers Eusebius Franziskus Kino der Halbinselcharakter von (Süd-)Kalifornien empirisch nachgewiesen worden war, dauerte es lange, bis diese Erkenntnis Eingang in die geograſsche Hand- und Lehrbuchliteratur fand. Die Insel-These wurde noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verfochten. Erst 1747 wurde die Diskussion durch ein Dekret des spanischen Königs beendet und der Festlandscharakter der Kolonie gleichsam regierungsamtlich bestätigt.61 Scherers Darstellung im Atlas Novus zeigt nur die Südspitze des Gebiets und den Küstensaum von Sinaloa mit dem dazwischen liegenden Mar Vermeio (Golf von Kalifornien). In der Rahmenkartusche der Karte sind zwei Indianergestalten zu erkennen, die gemeinsam ein Kruziſx in den Händen halten und damit auf die maßgeblich vom Jesuitenorden getragenen Christianisierungsbemühungen im Südwesten der heutigen USA anspielen. Der missions- und heilsgeschichtliche Deutungsanspruch der Karte wird auch noch an anderer Stelle sichtbar. So wurde sie in den Band über die kirchliche Geograſe (Geographia hierarchica) eingefügt. Außerdem verzeichnet sie Missionsstationen (nach dem Stand um 1700). Dennoch zielte die Kalifornien-Karte nicht nur auf den missionsgeograſschen Aspekt. Sie verstand sich auch als originärer Forschungsbeitrag. Dem Betrachter sollte der kalifornische, bislang europäischen Augen verschlossene Erdteil auf der Grundlage aller verfügbaren Informationen möglichst genau vorgestellt werden. Folgt man dem Kartentitel, ging es um eine „delineatio nova et vera“, also um nichts weniger als eine vollständige Neufassung der kalifornischen Geograſe.62 61

62

Zur Entdeckung von Kalifornien vgl. Lexikon der Kartographie I, 369 (s.v. Kalifornien); Tooley, California, 3f. Zu den Jesuiten im Southwest vgl. Blackburne, Harvest of Souls; Buisseret, Cartography; Crosby, Antigua California, 8-18; Wade, Missions, 131144. Zu Kino vgl. ANB 12 (1999) 731f.; Duhr, Geschichte III, 355f.; Huonder, Jesuitenmissionäre, 110f.; NDB 11 (1977) 625f.; Sommervogel/De Backer/De Backer, Bibliothèque IV, 1044f. Scherer, Geographia hierarchica [Atlas Novus II], D.C.D. (Delineatio nova et vera partis avstralis Novi Mexici, cvm avstrali parte insvlae Californiae saecvlo priori ab Hispanis detectae).

Kapitel 7: Jesuiten

111

Deshalb legte der Gelehrte, wie in der geograſschen Wissensproduktion des 18. Jahrhunderts kaum sonst zu beobachten, die Entstehungsbedingungen seines Entwurfs, die Archäologie seiner Erkenntnisse offen. In einem ausführlichen quellenkritischen Kommentar zur Karte hebt er hervor, dass sein Wissen über die nordamerikanische Paziſkküste auf unmittelbar aus Kalifornien übersandten Nachrichten beruhe. Scherer beruft sich auf den süddeutschen Jesuiten Kino. Dessen Korrespondenz aus dem Spätjahr 1684 nennt er als Hauptquelle für seine Erörterungen. Er spricht von einer Zeichnung und einem Bericht aus Kalifornien, die er beide auf dem Briefweg („in aliquot epistolis“) von Kino, seinem ehemaligen Schüler („olim discipulo meo“), direkt aus der Neuen Welt erhalten habe. Ausdrücklich betont er dabei die Zuverlässigkeit von Kinos Beobachtungen („quae tantò majorem merentur ſdem, quantò certiora sunt illa“), nicht zuletzt deswegen, weil dieser alles selbst mit eigenen Augen vor Ort gesehen habe („quae oculis suis praesens ipse inspexit“).63 Bei der erwähnten Kartenzeichnung handelt es sich offensichtlich um eine Darstellung von Baja California, die ihm der Missionar zur Publikation überlassen hatte.64 Der transatlantische Wissensaustausch der beiden süddeutschen Jesuiten war Bestandteil eines engmaschigen Kommunikationsnetzwerks, das Kino seit Beginn seines Amerika-Aufenthalts im Jahr 1681 vor allem mit seinen ehemaligen Ingolstädter Professoren unterhielt.65 Inhaltlich bezogen sich diese Korrespondenzen auf die Kalifornien-Expeditionen, die zwischen 1683 und 1685 im Auftrag des spanischen Königs Karl II. stattgefunden hatten, um den paziſschen Küstenverlauf nördlich und westlich von Neuspanien zu erschließen. An diesem Projekt war auch Kino beteiligt. Die Forschergruppe konnte zunächst bis zum 26. Grad nördlicher Breite vordringen. Sie erreichte ungefähr die geograſsche Mitte des heutigen mexikanischen Bundesstaats Baja California Sur. In einer weiteren, von 1698 bis 1701 dauernden Kampagne gelang es Kino dann, den Beweis für die halbinsulare Gestalt des Gebiets zu erbringen, indem er die Mündung des Colorado in den Golf von Kalifornien entdeckte. Damit konnte er entsprechende Annahmen früherer Jesuiten, 63 64

65

Scherer, Geographia hierarchica [Atlas Novus II], 101. Zum transatlantischen Kommunikationsnetzwerk zwischen Scherer und Kino vgl. Scherer, Geographia hierarchica [Atlas Novus II], 101-103, hier besonders: „Huc usque Missionarius […] ex Insula California sive Carolina anno 1684. perscripsit, qui praesens ipse omnibus interfuit, sed & tabulam Geographicam (quam exhibeo in Fol[io] D.C.D. paulò elegantiùs expressam) ipse suâ manu primò delineatam mihi communicavit.“ Dabei handelt es sich um folgenden Brief: BayHStA Jesuitica 607/128 (Kino an Scherer, 1684 IX 25); UCB BANC MSS C-B 840, Bolton Papers, Carton 14/4, Oversize Box 25 (Kopien); Edition bei Stitz, Briefe, 124f. Zum Kontakt zwischen Kino und Scherer vgl. Burrus, Cartography, 62f.; ders., Reports, 10-12; Bolton, Rim, 35; Hausberger, Jesuiten, 211, Nrr. 46, 47. Vgl. BayHStA Jesuitica 607/127 (Kino an Paul Zingnis, 1683 XII 15); 607/130 (Kino an dens., 1684 X 6); 594/17 (Kino an Wolfgang Leinberer, 1685 IV 9).

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Teil 3: Geograſsche Amerika-Deutungen

vor allem bei Athanasius Kircher, aber auch bei seinen beiden Ingolstädter Lehrern Adam Aigenler und Beat Amrhyn, empirisch erhärten.66 In der 1703 publizierten Kalifornien-Karte von Scherer wurde freilich noch der ältere Erkenntniszustand festgehalten, da die Entdeckungen von Kino nur langsam nach Europa vordrangen.67 Auch wenn damit Schatten auf die Aktualitätsnähe des Atlas Novus fallen, bestätigt sich noch einmal eindrucksvoll der Grundzug der Jesuitengeograſe. Am Kalifornien-Beispiel zeigt sich die hohe Bedeutung biograſscher Netzwerke für die Generierung von Amerika-Wissen auch in Süddeutschland. Die Informationsübermittlung stützte sich auf konkrete Kommunikationskanäle. Damit war ein neuer Grad an Realitätsschärfe gegeben, den rein kompilatorische Formen der Weltbeschreibung nicht zu erreichen vermochten. Diese Beobachtung führt zum Wissenschaftsbegriff des jesuitischen Gelehrtenmilieus. Dessen entschiedene Ausrichtung am Empirismus begründete gesteigerte Ansprüche an die Authentizität des zu Überliefernden. Rigide Quellenkritik bestimmte den Umgang mit Wissen. Auf diese Weise konnten die Ordensgeografen zu einer vielschichtigen Amerika-Deutung vorstoßen: Authentizität und Empirie, Dokumentation und Differenzierung – diese Momente bildeten also die Kernelemente der jesuitischen Amerika-Wahrnehmung. KAPITEL 8: ULMER PIETISTEN Theodizee und Weltbeschreibung Auf den ersten Blick scheinen sich die Konzeptionen der süddeutschen Jesuiten und der Ulmer Geografen Johann Ulrich Müller (Abbild- und Vorstellung der Gantzen Welt, Kleiner Atlas), Johann Caspar Funck und Christoph Benjamin Häckhel (Allgemeine und Neueste Welt-Beschreibung) kaum voneinander zu unterscheiden. Wie die Jesuiten sahen alle drei Autoren den primären Erkenntniswert der Universalgeograſe in der religiösen Sinnstiftung. Ebenso kam das Argument des sprunghaften Wissensanstiegs wieder zum Einsatz. So 66

67

Zu der Kalifornien-Expedition vgl. Buisseret, Cartography, 117-122; Burrus, Kino and Manje, 21-34; Hausberger, Jesuiten, 204f.; Stitz, Briefe, 113f. Für den Kalifornien-Diskurs der süddeutschen Jesuiten Aigenler und Staudhamer vgl. dies., Tabula, 5f. (Darstellung Kaliforniens als Halbinsel von 1668); Findlen, Books, 346-348. Die erste Kalifornien-Darstellung nach neuem Kenntnisstand wurde 1705 in den Lettres édifiantes et curieuses und den Mémoires de Trevoux (beide Paris) abgedruckt. Vgl. dazu Burrus, Cartography, 46-50; Buisseret, Cartography, 120. Zum Druck seiner Karten vgl. auch die Favores celestiales von Kino: UCB BANC MSS M-M 1716, Papers relating to the Jesuits 26; UCB BANC C-B 840, Bolton Papers, Oversize Box 32; Edition des Texts bei Burrus, Reports, 107-125, hier 114.

Kapitel 8: Ulmer Pietisten

113

stützte sich das Bestreben um Neufassung des überkommenen kosmograſschen Genres auch hier auf die Erfahrung der rasanten Veränderungen im Informationshaushalt der (europäischen) Menschheit: Die Unwahrhaftigkeit der alten und „einfältigen Mährlein“, die Weiterentwicklung der Erkenntnismöglichkeiten nach der „Eröffnung der Archiven, und denen darinnen gefundenen alten Handschrifften“, ferner die „Untersuchungen und gemachten Entdeckungen der Reysenden“68 – diese Faktoren verweisen auf einen Neuorientierungsbedarf in der Geograſe. Bei Funck und Häckhel mündete das Innovationsbestreben in die kritische Auseinandersetzung mit der lokalen Wissenschaftstradition ein. So meldet ihre Allgemeine und Neueste Welt-Beschreibung (1739/40) konkrete Revisionswünsche an: Das von Funck begonnene, nach seinem Tod von dem Ulmer Ratskonsulenten Häckhel weitergeführte Werk sollte die Cosmographia Mundi Mirabilis Tripartiti von Eberhard Werner Happel ersetzen.69 Dessen Erdbeschreibung war zwischen 1687 und 1689 in Ulm bei Matthäus Wagner und Daniel Bartholomäi erschienen.70 Das neue, im gleichen Verlag aufgelegte Buch sollte den inzwischen erfolgten Erkenntnisfortschritt dokumentieren und die Fehler von Happel bereinigen.71 Für ihre Innovationsrhetorik bemühten die Ulmer Autoren – den Jesuiten vergleichbar – das interdisziplinäre und praxisbezogene Potenzial der Weltbeschreibung: Philosophie, Geschichte, Politik und Poetik ließen sich ohne geograſsche Kenntnisse nicht verstehen. Ohne entsprechendes Wissen könnten weder die „grossen Herren“ in der Staatsverwaltung, noch die Soldaten im Krieg, noch die Bürger im Alltag bei der Lektüre von Historienbüchern, Romanen und Zeitungen, „ihr Unternehmen glücklich und erwünscht“ bestehen, wie Johann Ulrich Müller in seinem 1692 veröffentlichten Kleinen Atlas zu bedenken gibt.72 Man könnte diese Liste der Konvergenzen zwischen monastisch-katholischem und reichsstädtisch-protestantischem Gelehrtenumfeld leicht fortsetzen. Wenn man jedoch den Blick auf die Tiefendimensionen der Erkenntnisvoraussetzungen lenkt, dann treten freilich diskursive Speziſzierungen zwischen den beiden Wissensmilieus hervor. Besonders deutlich fallen die Verschiebungen bei Funck und Häckhel aus. Vor allem die religiösen Semantiken sorgen für ein anderes ideelles Klima – mit beträchtlichen Konsequenzen für die Intonation des amerikanischen Themas. Von welcher theologischen Basis 68 Herttenstein, Allgemeiner Vorbericht, in: Funck/Häckhel, Welt-Beschreibung II, 7v. Zum Verfasser des Vorberichts, dem Augsburger Ratskonsulenten Ludwig Bartholomäus von Herttenstein († 1764), vgl. A. Kraus, Bürgerlicher Geist, 364. 69 Vgl. Funck/Häckhel, Welt-Beschreibung I, Vorrede, [3r]. Dazu vgl. Meusel, Lexikon V, 20. 70 Zu Happel († 1690) vgl. Ferraris, Neue Welt; Neuber, Fremde Welt, 45f., 233f. 71 Vgl. Herttenstein, Allgemeiner Vorbericht, in: Funck/Häckhel, Welt-Beschreibung II, 10r. 72 J. U. Müller, Kleiner Atlas I, Vorerinnerung, 5r.

114

Teil 3: Geograſsche Amerika-Deutungen

aus entfaltete sich also der amerikakundliche Diskurs der Ulmer Gelehrten? Diese Frage verdient auch deswegen eine sorgfältige Antwort, weil es sich bei Funck um einen Theologen vom Fach handelte: Als langjähriger Münsterprediger und Professor für Katechetik am Ulmer Gymnasium illustre gebot er über theologische Perspektiven, die sich in seiner geograſschen Konzeption widerspiegeln.73 Häckhel, sein Fortsetzer, weist von seinem akademischen Werdegang her zwar ein stärker historisch-politisch bestimmtes Interessengepräge auf. Gleichwohl hielt er an der religiösen Grundfärbung der Weltbeschreibung fest.74 Erst in der Neuauƀage von Johann Daniel Bartholomäi (1753) traten die theologischen Deutungszusammenhänge zu Gunsten einer ausschließlich aktualitätsorientierten Faktenberichterstattung zurück.75 Ausgangspunkt der Argumentation ist die Vorstellung von der Offenbarung Gottes in seiner irdischen Schöpfung: Der Kosmos, wohleingerichtet und harmonisch geordnet, deute auf die Transzendenz. Gott gebe sich als prima causa in der „Beschaffenheit dieses Welt-Gebäudes“ zu erkennen. Aus dieser Grundposition leite sich der Wert der Weltbeschreibung ab76: Das Lesen im Buch der Natur biete dem Christenmenschen die Möglichkeit, der Schönheit und Vollkommenheit in der Schöpfung „immer näher zu kommen“77. Mit dieser Verkoppelung von empirischer Gelehrsamkeit und ontologischem Denken bewegt sich der wissenschaftliche Ansatz der Ulmer Gelehrten noch ganz im zeitüblichen Reƀexionsumfeld. Funck beruft sich in konfessionsübergreifender Perspektive auf die Hauptrepräsentanten der barocken Kosmologie, Athanasius Kircher und Gottfried Wilhelm Leibniz. Bei dem römischen Jesuitenprofessor ebenso wie bei dem protestantischen Universalgelehrten kann er seine Ansicht bestätigt ſnden, dass „die Menschen, durch Betrachtung der Natur […] aufgemuntert werden, denjenigen über alles schön und vollkommen zu seyn beſnden, biß dann weiter in so vorbereiteten Gemüthern auch das Glaubens-Licht angezündet wird“.78 Eine dezidiert pietistische Wendung ergibt sich aus dem weiteren Argumentationsverlauf. Im Rückgriff auf Johannes Arndt und dessen Vier Bücher vom wahren Christentum und internationaler Pietistenautoritäten wie William Derham sehen Funck und Häckhel die Geograſe unmittelbar unter die Theo73 74 75 76 77 78

Vgl. Appenzeller, Münsterprediger, 340-344; Pfeifer, Geschichtsschreibung, 155; Weyermann, Nachrichten, 256f. Über Häckhel, einen Juristen und Philologen, vgl. Herttenstein, Allgemeiner Vorbericht, in: Funck/Häckhel, Welt-Beschreibung II, 11v; Weyermann, Nachrichten, 280f. Bartholomäi (Welt-Beschreibung, Vorbericht, 2) bezeichnet Achenwall als sein Vorbild. Vgl. Funck/Häckhel, Welt-Beschreibung I, 3f. mit Bezug auf Paulus, Röm 1,20 und Ps 19,1 (heute Ps 19,2): „Die Himmel erzehlen die Ehre GOTTES, und die Veste verkündiget Seiner Hände Werck.“ Funck/Häckhel, Welt-Beschreibung I, 6. Funck/Häckhel, Welt-Beschreibung I, 8f.

Kapitel 8: Ulmer Pietisten

115

dizee gestellt.79 In diesem Sinn fallen ihr drei Aufgaben zu, erstens: die Ordnung des bereits Bekannten, zweitens: die Heuristik zum Zweck weiterer Wissensförderung, und drittens: das Gotteslob im Vorgang des Erkennens. Das buchmäßige Suchen, Sammeln und Ordnen der Schöpfung versteht sich somit als Akt fortdauernder Kontemplation. Geograſsches Denken und Arbeiten sind eine welthaltige Form des Gottesdienstes. Welchen Platz nimmt die amerikanische Geograſe in diesem Szenario ein? Im Gegensatz zu den Jesuiten gehen für Funck und Häckhel von den amerikanischen Ereignissen keine zentralen Impulse für eine Neuformierung des Genres aus. Auf eine Inszenierung der Neuen Welt in allegorischer oder kartograſscher Form verzichtet das Werk weitgehend. Ebenso wenig weicht die Werkgliederung von den bekannten Linien ab – trotz des in der Vorrede beschworenen Aufbruchs aus der Unwissenheit der Altvorderen. Die Hauptleistung ihres Werks liegt in der Ordnung des Neuen auf der Grundlage bewährter Techniken der topischen Wissensverortung. Zugleich geht es um Reinigung und Verbesserung mit den Instrumenten der historischen Kritik. So sollen die geograſschen Informationen stärker in ihre geschichtlichen Dimensionen eingebettet und die eigenen Erkenntnisbedingungen durch das Anfügen bibliograſscher Apparate für den Leser transparent gemacht werden.80 Insgesamt gesehen bewegt sich das Werk in den Bahnen der Kosmograſe von Happel, jedoch unter Anpassung an die Standards der zeitgenössischen Avantgarde unter den landeskundlich arbeitenden Geografen. Philipp Clüver und Johann Hübner werden als Autoritäten für die Adaptionsbemühungen genannt.81 Der Werkinhalt verteilt sich auf neun Bücher. Von den naturwissenschaftlichen Grundlagen bis zu den landesspeziſschen Besonderheiten – diesem Duktus entspricht die Gliederung: Den astronomischen, chronologischen, klimatischen und geologischen Bedingungen gelten die ersten vier Abschnitte. Weitere vier Bücher befassen sich mit den einzelnen Kontinenten, und zwar in einer eurozentrisch bestimmten Perspektive von Europa über Asien und Afrika bis Amerika. Bei der Kontinentalbeschreibung wiederholen sich bekannte Muster: Auf Überlegungen zu Name, Lage, Größe und Grenzen, zu Ethnos und Geschichte, Witterung, Sprachen, Religionen und Regierungsformen folgen Bemerkungen zu den Teilräumen und Gliedländern des jeweiligen Kontinents. 79

80

81

Vgl. Funck/Häckhel, Welt-Beschreibung I, 10. Zu Arndt vgl. BBKL 1 (1990) 226f.; Schmidt-Biggemann, Modelle, 407; Wallmann, Arndt. Zu Derham vgl. Vollhardt, „Verweltlichung“, 77f. Zu Ulm als Zentrum des Pietismus vgl. Brecht, Württembergischer Pietismus, 239. Herttenstein (Allgemeiner Vorbericht, in: Funck/Häckhel, Welt-Beschreibung II, 6v-7r) geht von der Notwendigkeit einer stärkeren historischen Verankerung der geograſschen Erkenntnisbemühungen aus. Sittliche Richterfunktion und moralische Exemplarik begründen den Wert der Geschichte. Vgl. Herttenstein, Allgemeiner Vorbericht, in: Funck/Häckhel, Welt-Beschreibung II, 8v. Zu Hübners Konzept der „geograſschen Pädagogik“ vgl. Sperling, Fragen.

116

Teil 3: Geograſsche Amerika-Deutungen

Vor dem Hintergrund dieser sehr schematischen Vorgehensweise ist Skepsis angebracht: Verliert sich der pietistisch inspirierte Impetus kontemplativer Naturbetrachtung nicht doch in einer rigiden Ordnungssystematik? Tatsächlich sind die speziſschen Tendenzen nur indirekt fassbar. Sie lassen sich vor allem in thematischen Akzentuierungen erkennen, die man wiederum auf charakteristische religiöse Interessen und Bindungen zurückführen kann. Gerade das Kapitel über Amerika erscheint als Paradebeispiel für diese nur implizit ablaufenden Deutungsprozesse. Hier zeichnen sich Wahrnehmungsoptionen ab, die insbesondere im direkten Vergleich mit den Jesuiten auf eine andersartige räumliche Strukturierung der Neuen Welt abzielen. Pietistische Fluchträume an der Ostküste Aus dem Gesamtarrangement der Ulmer Weltbeschreibung ergeben sich eigenständige Akzente für das Amerika-Bild: Während die Jesuiten stärker den Konnex zwischen Alter und Neuer Welt betonen, wird der amerikanische Kontinent bei Funck und Häckhel als isoliertes, aus seinen transatlantischen Bezügen herausgelöstes Phänomen gesehen. Dies zeigt sich bereits an der Tatsache, dass die Neue Welt zwar im Rahmen der Kontinentalbeschreibung thematisiert wird, innerhalb der europäischen Geograſe und Geschichte jedoch keine Rolle spielt. Als Faktor der europäischen Expansionshistorie wird Amerika nur im Kontext der spanischen Expeditionen nach Westen unter Christoph Columbus erwähnt.82 Für die Frage nach den speziſschen Wahrnehmungsebenen ist außerdem das Problem der begrifƀichen Distinktion und damit der binnenräumlichen Auffassung relevant. Im Grundsatz folgt die Beschreibung dem zeitgenössischen wissenschaftlichen common sense. So gehen auch Funck und Häckhel von der Zweiteilung des Kontinents in eine Nord- und eine Südhälfte aus. Die Grenze zwischen beiden Teilen verläuft über den Isthmus von Panama. Als eigene Einheit kommen noch die Inseln in der Karibik hinzu.83 Im Hinblick auf die inneren Verhältnisse machen die beiden reichsstädtischen Autoren jedoch andere Gegebenheiten aus. Für sie ist Südamerika durch drei Großlandschaften geprägt, die ihre Identität aus den historischen Raumformationen des peruanischen Inka- bzw. mexikanischen Aztekenkönigreichs ableiten. Eine weitere Größe bildet das portugiesische Brasilien.84 Im Fall von Nordamerika werden die Dinge in ähnlich großzügige Dimensionen gefasst: Der Subkontinent teilt sich in vier Großregionen auf: in 82 83 84

Vgl. Funck/Häckhel, Welt-Beschreibung I, 1331-1399, hier speziell mit Bezug auf Columbus 1386. Vgl. Funck/Häckhel, Welt-Beschreibung II, 4602: Amerika ist „in zwey grosse Theile abgetheilet“, nämlich in Nord- und Südamerika. Vgl Funck/Häckhel, Welt-Beschreibung II, 4655-4662 (Peru), 4661-4674 (Chile), 4673-4680 (Brasilien).

Kapitel 8: Ulmer Pietisten

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Mexiko oder Neuspanien, Neumexiko, Florida und Kanada. Politisch-administrative Ordnungsformationen werden nur unterschwellig erkennbar, so etwa bei Mexiko, dessen Teile in der institutionellen Abfolge der von den Spaniern eingeführten Verwaltungsgliederung (Audientien, Provinzen) beschrieben werden. Hingegen bleiben die Aspekte der kirchlichen (katholischen) Raumordnung ohne Berücksichtigung.85 Von besonderem Interesse sind die Textpartien über Florida und Kanada. Hier zeigt sich in aller Deutlichkeit, dass die Rezeption der Neuen Welt von terminologischen Vorentscheidungen abhängig war. Gelang es den Jesuiten, mit ihrem nach geograſschen, kirchen- und völkerrechtlichen Kategorien differenzierenden Zugriffsmodus ein möglichst facettenreiches Bild des nordamerikanischen Kosmos entstehen zu lassen, so zeichnet sich das Vorgehen in der Ulmer Kosmograſe gerade durch systematische Reduktion aus. Das auf Naturräume abhebende Modell fasst unter den beiden Oberbegriffen Florida und Kanada ganz unterschiedliche territoriale Wirklichkeiten zusammen: Unter Florida werden die spanischen Besitzungen um St. Augustine und Pensacola, das französische Louisiana sowie das englische Carolina und Georgia verstanden. Unter dieses Einteilungskriteriums werden auch die indianischen „Wilden“ subsumiert, ohne dass dabei deren staatsrechtlicher Typus näher bestimmt wäre, etwa im Sinn der von den Jesuiten verwendeten Kategorie der dominia.86 Unter dem Namen Kanada ſrmieren Virginia, Maryland, New Jersey, Pennsylvania, New York, die Kolonien in Neuengland und Neuschottland, ferner Neufrankreich, Labrador, Neu-Wallis und Neu-Dänemark.87 Auffällig bei den beiden Ulmer Gelehrten ist ferner die starke Fokussierung auf die Ostküste. Hierin dürfte ein besonders markanter Unterschied zu den Jesuitenautoren liegen: Deren Interesse an Nordamerika war primär von den neuen Explorations- und Erkenntnismöglichkeiten im Südwesten des Teilkontinents bestimmt. In der reichsstädtischen Geograſe kommen diese Aspekte dagegen nur am Rande zur Sprache. Das Kalifornien-Problem, also die Frage, ob es sich bei diesem Landesteil um eine Halb- oder um eine Vollinsel handelt, wird lediglich kurz angerissen und mit einer hinhaltenden Antwort bedacht, die den um 1739, also im Erscheinungsjahr des Werks aktuellen Forschungsstand nicht annähernd widerspiegelt.88 Dass das Hauptaugenmerk auf die Ostküste gelegt wurde, lässt sich auch an den Textquantitäten ablesen: Die Abschnitte über die britischen Kolonien in Nordamerika, insbesondere zu Virginia und Pennsylvania, sind umfassend 85 86 87 88

Vgl. Funck/Häckhel, Welt-Beschreibung II, 4613f., ferner 4614-4628 (Mexiko), 46274630 (Neumexiko, Nova Mexico), 4629-4634 (Florida), 4635-4646 (Canada). Vgl. Funck/Häckhel, Welt-Beschreibung II, 4632 (spanisches Florida), 4633f. (französisches Florida: Louisiana), 4633f. (englisches Florida: Carolina, Georgia), 4634 („wildes“ Florida). Vgl. Funck/Häckhel, Welt-Beschreibung II, 4635. Vgl. Funck/Häckhel, Welt-Beschreibung II, 4629f.

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ausgearbeitet.89 Ein deutliches Nachlassen der Textdichte ist hingegen für den Westen und Norden zu konstatieren. Das französische Kanada ſndet weit weniger Aufmerksamkeit als die englischen Siedlungskomplexe. Ähnlich verhält es sich mit dem mittleren Westen. Dieser Raum, speziell die Region um die Fünf Seen (Regio Pentilimnis), fällt ganz aus der Ulmer Weltbeschreibung heraus. Selbst die spätere Fortführung von Bartholomäi behält die dezidierte Ostküsten-Fokussierung bei.90 Dabei lassen sich speziſschere Gewichtungen registrieren: Detailliert sind die Hinweise zu den Kolonien am südlichen und mittleren Atlantik. Im Vordergrund stehen Georgia, Carolina und Pennsylvania. Sehr viel schwächer ist dagegen das Nachrichtenproſl zu New York und Neuengland ausgeprägt. Selbstverständlich haben diese Disproportionalitäten nichts mit Informationsdeſziten zu tun. Ganz im Gegenteil: Das von den beiden Ulmer Geografen herangezogene Quellenmaterial wird dem Anspruch wissenschaftlicher Vollständigkeit gerecht. Die Textauswahl entspricht den üblichen Standards. Wie das bibliograſsche Verzeichnis im Anhang des Amerika-Kapitels belegt, stützen sich die Autoren auf das gesamte Spektrum der zeitgenössischen Universalgeograſe, angefangen bei Abraham Ortelius und Olfert Dapper über Jean de Laët und Georg Horn bis zu William Hughes.91 Als Quellen benennen Funck und Häckhel ferner die Nordamerika-Karten der französischen Westindien-Kompanie oder des Nürnberger Verlegers Homann.92 Für die bemerkenswerte Ostküsten-Präferenz müssen andere Faktoren, nämlich programmatische Erwägungen in Anschlag gebracht werden. So ist es kein Zufall, dass es sich bei den stark in den Interessenfokus gerückten Kolonien Georgia, Carolina und Pennsylvania um Siedlungsgebiete deutscher Lutheraner, Salzburger Protestanten bzw. reformierter Pfälzer handelte. Die Beschreibung dieser Kolonien fußt also in erster Linie auf einem deutsch-amerikanischen Migrationszusammenhang. Den Residuen lutherischer, speziell pietistischer Selbstbehauptung galt das Hauptaugenmerk, während über die dominante angelsächsische Kultur nur dilatorisch berichtet wurde. Funck und Häckhel interessierten sich für jene Auswandererzentren, die in den Ohren der pietistischen Öffentlichkeit in Europa, besonders in den entsprechend orientierten Kreisen der oberdeutschen Reichsstädte, einen hellen Klang hatten: Genannt werden etwa Germantown und Neu-Sommershausen in Pennsylvania, die beiden Gründungen von Franz Daniel Pastorius. Eben-Ezer, die Hauptniederlassung der „nach Georgien gekommene[n] Saltzburgische[n] Emigranten“93 in

89 90 91 92 93

Vgl. Funck/Häckhel, Welt-Beschreibung II , 4635-4637 (Virginia), 4638-4641 (Pennsylvania). Vgl. Bartholomäi, Welt-Beschreibung, 205-208. Vgl. Funck/Häckhel, Welt-Beschreibung II, 4703f. Vgl. Funck/Häckhel, Welt-Beschreibung II, 4701-4703. Zu Homann vgl. Kapitel 9. Funck/Häckhel, Welt-Beschreibung II, 4634.

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der Nähe von Savannah, darf in diesem Raster speziſsch konfessionell begründeter Wahrnehmungen ebenso wenig fehlen. Für das Amerika-Bild der Ulmer Variante zeichnet sich damit ein bemerkenswerter Befund ab: Die Rezeption der Neuen Welt wurde nachhaltig von nationalen und konfessionellen Betroffenheiten gesteuert. Landsmannschaftliche und religiöse Motive lenkten den Blick auf die Ostküste. Dem reichsstädtischen Gelehrtenmilieu, gleichermaßen patriotisch wie pietistisch gestimmt, öffnete sich hier ein virtuelles Refugium, in dem das Deutsche und Pietistische ein Fluchtgehäuse ſnden konnte. Indes war diese Deutungsmöglichkeit auf ein enges Terrain an der Ostküste am mittleren Atlantik verwiesen, vor allem im Vergleich mit den wesentlich „gesamtamerikanischer“ gefärbten Perzeptionen der Jesuiten. Angloamerika Wie bereits angedeutet, sind die visuellen Repräsentationsformen in der Ulmer Universalgeograſe nur in geringem Maße vorhanden. Dennoch hat man hier nicht generell auf bildliche Darstellungen des amerikanischen Raums verzichtet. Ein Beispiel dafür sind die beiden, noch vor der Erdbeschreibung von Funck und Häckhel veröffentlichten Atlanten des Mathematikers Johann Ulrich Müller.94 Man kann die Frage formulieren: Wie ging Müller kartograſsch mit Amerika um? Und wurde bereits hier der Grundstein für die so markant konfessionell konnotierten Betrachtungsweisen von Funck und Häckhel gelegt? Zunächst zur Gliederungssystematik der beiden Atlanten: Sowohl die Abbild- und Vorstellung der Gantzen Welt (1692) als auch der Kleine Atlas (1702) orientieren sich an zeitüblichen Gattungsmustern. Neben einleitende Bemerkungen über die physischen und naturräumlichen Merkmale der Welt stellen sie Kurzbeschreibungen der einzelnen Kontinente. Die Darstellung beginnt mit Europa; es folgen Asien, Afrika, Amerika und die Polarländer (Arktis und Antarktis). Am Kartencorpus lässt sich einmal mehr der Interessenvorrang für den alten Kontinent, für „unser allgemeines Vatterland“, wie Müller bekennt, ablesen.95 So entfallen in der Abbild- und Vorstellung der gantzen Welt 53 Karten auf Europa (bei insgesamt 95 Karten). Trotz der europhilen Tendenzen werden auch Sensibilitäten für überseeische Phänomene greifbar. Dass Afrika nur am Rande Beachtung ſndet (mit 8 Karten), fällt nicht aus dem Rahmen des bisher Beobachteten. Bemerkenswert ist indes die Tatsache, dass Amerika mit sieben Darstellungen für den nördlichen Subkontinent und neun Projektionen für den Südteil in überraschend deutlicher Weise präsent 94 95

Vgl. Klemp, Nachwort. Vgl. J. U. Müller, Abbild- und Vorstellung der Gantzen Welt, Vorrede, [3r].

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ist. Die Neue Welt nimmt so den gleichen Rang wie Asien ein. Dieser Erdteil ist ebenfalls mit 16 Karten vertreten.96 Der Ulmer Kartograf war durchaus von dem neuen Gewicht des vierten Kontinents überzeugt, wobei er sich bei dieser Einschätzung interessanterweise von jesuitischen Bewertungen leiten ließ, gab er doch hier vor allem den von den französischen Jesuiten Nicolas Sanson und Pierre Duval aufbereiteten Wissensstand wieder. Diesen brachte er in „compendiöse“, für die Allgemeinbildung nutzbare Formen.97 Von einer umfassenderen ideellen Fundierung seiner Erkenntnisse sah er indes ab. Wie die Vorrede des Kleinen Atlas ausführt, bestehe der Hauptzweck der geograſschen Wissensvermittlung darin, im Publikum „Belustigung“ durch die Darbietung von „politisch- und historische[n] Ergötzlichkeiten und Curiositäten“ hervorzurufen.98 Eine den Gegenstand transzendierende Weltdeutung war also offenkundig nicht beabsichtigt, auch wenn sich die Vorrede selbstverständlich zugute hält, ihren Lesern als Schlüssel zur göttlichen Schöpfung zu dienen.99 Damit ist nicht nur der Hauptunterschied zwischen Müller und den Jesuiten, sondern auch jener zwischen Müller und Funck/Häckhel markiert: Letzteren ging es gerade darum, mit Hilfe der Geograſe pietistische Identiſkations- und Loyalitätsmuster zu stärken. In diesen Zusammenhang gehört noch eine weitere Beobachtung: Die Karten haben keine allegorischen Funktionen. Sie kennen keine übergeordnete Visualisierungsebene, von der aus die Dinge in den Blick genommen werden könnten. Vielmehr begnügen sie sich mit der Wiedergabe der physischen Raumsituation, unter Betonung von Gewässernetz und Gebirgsrelief. Daneben werden die Ordnungskomponenten menschlicher Siedlungstätigkeit bezeichnet, vor allem Städte und Grenzverläufe von politisch-staatlicher Qualität. Angezeigt werden ferner Residenzen und Universitäten. Um es auf den Punkt zu bringen: Die Kartograſe wurde auf wenige Aspekte der räumlichen Gliederung beschränkt, dabei freilich in Hervorhebung des staatlichen und urbanen Deſnitionskriteriums. Man kann also sagen, dass Müller den amerikanischen Raum in einer säkularisierenden Perspektive erfasste. Jedenfalls verzichtete er im Gegensatz zu den Pietisten und Jesuiten auf eine betont konfessionalisierte Wahrnehmung. Gewiss ist mit dieser Tendenz ein Verlust an interpretatorischem Potenzial verbunden. Gleichwohl lag in der Sakralferne Müller’scher Geograſe ein Hauptgrund für den ungewöhnlichen Markterfolg

96

97 98 99

Vgl. Klemp, Nachwort, VI. Zu den Karten vgl. J. U. Müller, Abbild- und Vorstellung der Gantzen Welt, Nrr. III (Nordamerika), IV (Kanada), V (Virginia), VI (Florida), VII (Neumexiko), VIII (Mexiko), IX (Antillen), X (Nordamerika), XI (Castilla d’Oro), XII (Guajana), XIII (Peru), XIV (Chile), XV (Brasilien), XVI (Tucuman), XVII (La Plata), XVIII (Terra Magellanica). Vgl. J. U. Müller, Abbild- und Vorstellung der Gantzen Welt, Vorrede, [2r]. J. U. Müller, Kleiner Atlas I, Vorerinnerung, [3v], [7v]. Vgl. J. U. Müller, Kleiner Atlas I, Vorerinnerung, [3v].

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der beiden Werke.100 Die Reduktion der kartograſschen Bedeutung auf naturund staatengeograſsche Dimensionen, somit auf Bereiche, die zwischen den beiden Hauptbekenntnissen unumstritten waren, begünstigte offensichtlich die interkonfessionelle Verbreitung des Werks. Trotz dieser irenischen Grundausrichtung sind bei Müller Wahrnehmungspräferenzen zu erkennen, die für das reichsstädtische Wissensmilieu protestantischer Prägung besonders kennzeichnend waren. In der Kartenauswahl des Kleinen Atlas wird nämlich ein Übergewicht des angloamerikanischen Themas manifest. Für Müller lag der Schwerpunkt von Amerika eindeutig am nördlichen Atlantik. Die Ostränder sind in den Vordergrund gerückt. Allein drei der insgesamt sechs Nordamerika-Karten beziehen sich auf die Küstenverläufe von Kanada, Virginia und Florida.101 Die Perspektive des oberschwäbischen Mathematikers lässt sich also in folgender Formel zusammenfassen: Nordamerika begrenzte die atlantische Welt im Westen. Aus Sicht der Europäer musste daher in erster Linie den Ländern an der Ostküste Aufmerksamkeit zukommen, während die kontinentalen Binnenzonen im Numinosen verschwanden (womit ein weiterer zentraler Unterschied zu den „paziſschen“ Modellen der Jesuiten benannt wäre). Gleichwohl sollte man die Spannkraft dieses Entwurfs nicht unterschätzen, vor allem nicht im Ulmer Kontext: Mit seiner Fixierung auf den nordamerikanischen Osten leistete Müller einen wichtigen Beitrag zum reichsstädtischen Verständnis der Neuen Welt. Auf seinen Vorarbeiten beruhten die Überlegungen von Funck und Häckhel. Diese beiden Autoren konnten das von Müller ausgearbeitete Ostküstenparadigma weiterentwickeln, indem sie es im Sinne pietistischer Amerikasympathie anreicherten. Auch die Anknüpfungspunkte für dieses Rezeptionsmotiv sind im Kleinen Atlas präformiert. Denn der Verweis auf die Quäkerkolonie in Pennsylvania als ein später von den Pietisten beachtetes und positiv bewertetes Glaubensexperiment ſndet sich schon bei Müller.102 Die anglophile Partikularisierung des amerikanischen Raums gleichsam als Gegenbewegung zur universalistischen Auffassung der Jesuitengeografen – diese Entwicklungslinie der Rezeption deutet sich hier bereits umrisshaft an.

100 Vgl. Klemp, Nachwort, IV. 101 Dagegen kritisiert J. U. Müller (Kleiner Atlas II, 164) die „tyrannisch[e]“ Haltung der Spanier, deren „Grausamkeit und Geld-Hunger“. Die spanischen Gebiete in Nordamerika sind mit lediglich zwei Karten vertreten (nach 172: Neumexiko, 174: Mexiko). 102 Vgl. J. U. Müller, Kleiner Atlas II, 167.

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KAPITEL 9: NÜRNBERGER KARTOGRAFEN Weltatlanten Im Rückblick auf die Ulmer Amerika-Rezeption drängt sich die Frage nach der Verallgemeinerungsfähigkeit dieses reichsstädtisch-protestantischen Beitrags auf. Als Gegenstand für vergleichende Sondierungen bietet sich Nürnberg an. Nicht nur die gemeinsame Konfessionszugehörigkeit, sondern auch ähnliche wissenschafts- und kommunikationsgeschichtliche Verhältnisse legen ein solches Vorgehen nahe. Hier wie dort existierte eine vielfältige akademische Infrastruktur. Nürnberg unterhielt im benachbarten Altdorf eine eigene Universität. Mit der Ritterakademie im brandenburgischen Erlangen (Christians-Erlang), der Vorgängerinstitution der dort 1743 errichteten Hochschule, verfügte der Nürnberger Raum über eine weitere hochschulähnliche Einrichtung. Daneben nahm die Stadt an der Pegnitz eine zentrale Position im frühneuzeitlichen Druck- und Verlagsgewerbe ein. Insbesondere für die Träger universalgeograſscher und globalkartograſscher Interessen bestanden hier günstige Bedingungen, wie sich an der auffälligen Verdichtung entsprechender Unternehmungen beobachten lässt. An folgende Gelehrte ist zu erinnern: an Johann David Köhler, der 1724 eine für den hier zu diskutierenden Zusammenhang besonders einschlägige Anleitung zu der verbesserten Neuen Geographie auf den Markt brachte; ferner an Johann Gabriel Doppelmayr, der bis zu seinem Tod im Jahr 1750 Mathematik am Nürnberger Gymnasium Aegidianum lehrte.103 Außerdem ist zu verweisen auf den Erlanger Professor Johann Christian Martini, dessen Kurtze und deutliche Anweisung zur Neuen Staats-Geographie von 1723 einen wichtigen Beitrag zur Staatenkunde in Süddeutschland darstellt. Diese Autoren kooperierten teilweise eng mit den Nürnberger Verlegern, insbesondere mit Johann Baptist Homann und Christoph Weigel.104 Homann trat zusammen mit Doppelmayr als Initiator großer Weltatlas-Projekte in Erscheinung. Deren wichtigstes Gemeinschaftswerk ist der 1707 erstmals veröffentlichte Neue Atlas über die gantze Welt. Unter verschiedenen Titeln (Großer Atlas über die gantze Welt, Atlas geographicus maior) erlebte er bei ständiger Erweiterung seines Kartenrepertoires bis in das frühe 19. Jahrhundert hinein zahlreiche Neuauƀagen.105 Die Nürnberger Publikationen setzten also stark auf visuelle Vermittlung. Sie verfolgten in erster Linie den Zweck der popularisierenden Veranschaulichung von geograſschem Wissen. Weniger ging es um die allegorische Interpretation wissenschaftlicher Ordnungssystematiken. Der im handlichen Ok103 Vgl. Gaab, Doppelmayr, 55; Seiderer, Formen, 103-105, 222. 104 Vgl. dazu M. Heinz, Geschichte; Lexikon der Kartographie I, 315f. (s.v. Homann, Johann Baptist); ebd. II, 877 (s.v. Weigel, Christoph d. Ä.). 105 Vgl. Gaab, Doppelmayr, 66-69; M. Heinz, Atlanten, 82-88; ders., Beobachtungen, 86; Sandler, Homann, 54f.

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tavformat veröffentlichte Band von Köhler gibt seine pragmatische Zweckbestimmung schon im Untertitel zu erkennen. Das Buch sollte zum Gebrauch der Weigelischen Land-Charten, etwa des 1718 von Köhler bei Weigel publizierten Bequemen Schul- und Reisen-Atlas, anleiten.106 Funktional war Köhlers Werk in das Produktprogramm eines auf kommerziellen Erfolg ausgerichteten Verlags eingepasst, der seine Kunden mit der entsprechenden Begleitlektüre aus dem eigenen Haus versorgt sehen wollte. Der Neuen Geographie ist daher eine detaillierte Preisliste aller von Weigel herausgegebenen Atlanten angefügt.107 Köhler bietet gewissermaßen einen Textkommentar zu diesen Kartensammlungen. Das Werk von Doppelmayr und Homann verstand sich hingegen als Atlas im engeren Wortsinn. Die Ausgabe von 1753/59 enthält 275 Karten.108 Die Sammlung sollte den Leser über „alle bißher zu Wasser und Land geschehene[n] Land-Entdeckungen“ informieren.109 Sie nahm damit einen explizit expansionsgeograſschen Standpunkt ein. Mit der Widmung an Kaiser Karl VI. (erstmals in der Ausgabe von 1716) deutet sich zugleich der besondere Wirkungsanspruch des Werks an: Es zielte auf eine repräsentative Reichsöffentlichkeit. Damit war der Atlas auch Ausdruck eines speziſschen reichsstädtischen Kulturbewusstseins. Strukturell betrachtet besteht der Homann-Atlas aus zwei Teilen: einer Einleitung von Doppelmayr110 und dem Kartencorpus selbst. Die Einführung liefert einen Überblick über Aufgaben- und Wissensbereiche der Geograſe. Doppelmayr unterscheidet zwischen mathematischer, physischer und historischer Erdbeschreibung. Neben der Einleitung stehen die Karten. Für die Geschichte der Amerika-Rezeption ist der Weltatlas von hohem Wert. Denn einerseits handelte es sich bei den von Homann publizierten Karten häuſg um Nachdrucke französischer, englischer und niederländischer Vorlagen. Sein Atlas bildete daher ein wichtiges Forum des kartograſschen Wissensaustauschs auf dem europäischen Buchmarkt des 18. Jahrhunderts.111 Andererseits kann die Sammlung aufgrund ihrer zahlreichen Neuauƀagen als Indikator für Wahrnehmungsverschiebungen dienen. In welchem Ausmaß Amerika im Kartenbestand präsent ist, ob sich Präferenzen für bestimmte Raumkonstellationen abzeichnen – diese Grundfragen lassen sich hier mit besonderem Gewinn untersuchen. Weniger deutlich tritt der bildmediale Charakter bei 106 Das Werk erzielte zwei weitere Auƀagen (1719, 1734). Vgl. dazu European Americana V, 718/97, 719/90, VI, 734/113. Sehr knapp zu den Geograſen von Köhler vgl. Nicklas, Köhler, 85. 107 Vgl. Köhler, Anleitung, 11r-21v. 108 Vgl. M. Heinz, Beobachtungen, 86 109 Homann/Doppelmayr, Neuer Atlas. Zitiert wird nach der in der SuStB Augsburg beſndlichen Ausgabe des Homannschen Weltatlas (Signatur: 2° S 152-1-6). 110 Vgl. Doppelmayr, Einleitung, in: Homann/Doppelmayr, Neuer Atlas I, 1-42. 111 Zu den Beziehungen zwischen Homann und der Pariser Kartograſe vgl. Pedley, Commerce, 160, 183.

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Martini hervor. So enthält seine Anweisung kein Kartenmaterial. Vielmehr ist sie dem Ziel der Verknappung verpƀichtet. Martinis Absicht war es, den Diskurs von Informationsüberfülle zu befreien und damit dem intendierten Adressatenkreis – jungen Standespersonen und Jugendlichen – einen soliden Grundstock von geograſschen Kenntnissen an die Hand zu geben. Indes versteht sich auch das Kompendium von Martini als bildpropädeutischer Leitfaden: Seine Leser sollen einerseits in die geograſschen, historischen und genealogischen Grundbegriffe, andererseits in die vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten von „Land-Carten“ eingeführt werden.112 Neue Welt und reichsstädtische Identität Die amerikakundlichen Beobachtungen der mittelfränkischen Gruppe sind in ein breiteres soziokulturelles Gefüge eingebunden. Daher ist zunächst nach den Intentionen der geograſschen Wissensvermittlung zu fragen. Am ausführlichsten äußert sich Köhler dazu. Bei ihm tauchen die bereits bekannten Argumente wieder auf. So sieht er eine Kernleistung der geograſschen Gelehrsamkeit in der kontinuierlichen Überprüfung der wissenschaftlichen Erkenntnisprozesse. Auch die Überzeugung, dass die Geograſe erst im Verbund mit der Geschichte ihr volles Deutungspotenzial entfalten könne, ist nicht neu.113 Bemerkenswert ist allerdings die Tatsache, dass Köhler das heilsgeschichtliche Moment völlig übergeht. Dass sich im Kosmos die Schöpferhand Gottes zeige – für diese Ansicht lassen sich bei ihm keine Anhaltspunkte ausmachen. Mit seiner Reserve gegenüber religiösen Interpretationsmustern stand Köhler nicht allein da. Auch Doppelmayr und Martini verzichteten auf theologische Verknüpfungen. Sie begnügten sich mit der Beschreibung des unmittelbar Sichtbaren, wozu sie zwar durchaus die religiöse Lebenspraxis rechneten, jedoch nur im Sinne eines wissenschaftlich zu klassiſzierenden Phänomens. Sie behandelten das Religionsthema entweder im Rahmen der politischen Staatengeograſe (Martini114) oder im Kontext der historischen Geograſe (Doppelmayr115). Man kann die Tragweite solcher Beobachtungen kaum überschätzen: Die Nürnberger Vorstellungen bewegten sich in einem säkularen Rahmen. Damit waren sie von den Jesuiten wie von den Pietisten gleichermaßen weit entfernt. In ihrer betont „laikalen“ Auffassung beschritten die drei fränkischen Repräsentanten einen eigenen Erkenntnisweg neben der 112 Martini (Anweisung, 831) bezieht sich dabei ausdrücklich auf die Kartenwerke von Homann, die er seinen Lesern besonders empſehlt. Zu Martini vgl. Mengin, Ritter-Academie, 82. 113 Vgl. Köhler, Anleitung, Vorrede, [2v]-[4v]. 114 Martini (Anweisung, 850) behandelt die Religion als Teil „des politische[n] Zustande[s] in America“. 115 Vgl. Doppelmayr, Einleitung, in: Homann/Doppelmayr, Neuer Atlas I, 41f.

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im engeren Sinne christlichen Position. So stellt sich die Frage, wie diese betont säkulare Konzeption von Geograſe auf die außereuropäische Wirklichkeit reagieren konnte. Wenn der heilsgeschichtliche Zugang entſel, welcher Ersatz bot sich dann an? Einen bedeutsamen Anknüpfungspunkt für Amerika-Wahrnehmungen lieferte zunächst das wissenschaftsgeschichtliche Umfeld. In Nürnberg bestand ein in den weltweiten Geschäftsverbindungen der Handelsmetropole begründetes Bedürfnis nach universalgeograſschem Wissen. Die Reichsstadt gehörte deshalb zu den Hauptumschlagplätzen entsprechender Informationen. Die Nürnberger Verlags- und Buchlandschaft war auf Welt- und Erdbeschreibung spezialisiert. Bereits für das späte 17. Jahrhundert lassen sich Protagonisten des universalgeograſschen Genres benennen, so an erster Stelle Erasmus Francisci (von Finx).116 Der Polyhistor trat als Verfasser einschlägiger Kompilationen hervor, so etwa des Ost- und West-Indischen wie auch Sinesischen Lust- und Stats-Gartens. Das dreibändige Werk wurde 1668 erstmals aufgelegt. Auf Francisci ging auch der Geschicht-, Kunst- und Sitten-Spiegel ausländischer Völcker zurück. Das 1670 gedruckte Werk widmet sich den politischen und sozialen Praktiken, daneben den religiösen Gewohnheiten der einzelnen Weltvölker, unter anderem auch der Mexikaner und Brasilianer. Beide Werke können als typische Erzeugnisse einer „curiös-erbaulichen Narrativik“ über die Neue Welt im späthumanistischen Sinn gelten.117 Hinzuweisen ist außerdem auf Franz Nigrinus, der 1678 einen Schauplatz der gantzen Welt veröffentlichte. Das Kompendium nahm wesentliche Methoden der jüngeren Universalgeograſe vorweg, etwa die Präsentation des Stoffs in der Reihenfolge der Kontinente. Nigrinus verwandte im Titel seines Buchs auch den Begriff America, was in größerem Umfang so erst für das 18. Jahrhundert zu beobachten ist.118 Im Näheren bestimmten diese Voraussetzungen auch das konkrete Arbeiten über Amerika. Dabei erweiterten sich diese Motive um wirkungsvolle politische Komponenten. Das Schreiben über die Neue Welt bezog nachhaltige Impulse aus dem reichsstädtischen Bildungs- und Kulturpatriotismus. Eine wichtige Rolle für die transatlantische Bewusstseinsschärfung spielte außerdem das protonationale Sentiment des 18. Jahrhunderts. Die amerikanischen Sensibilitäten stützten sich auf die ausgeprägte Kaisernähe des reichsstädtischen Milieus. Freilich: Wie konnten Amerika-Interesse und Reichsempathie, kommunaler Bürgerstolz und „internationales“ Bewusstsein zusammengehen? Wie verbanden sich diese auf den ersten Blick inkompatiblen Identiſkationspole zu einem System der reichsstädtischen Amerika-Deutung? In der Widmungsepistel des Weltatlas von Homann zeigen sich die Motivationsschichten des Diskurses besonders deutlich. Der an Kaiser Karl VI. 116 Zu Erasmus Francisci (von Finx) († 1694) vgl. ADB 7 (1877) 207. 117 Vgl. Neuber, Fremde Welt, 217f., 231-233, 268 (hier Zitat); Ferraris, Neue Welt. 118 Vgl. Nigrinus, Schauplatz.

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gerichtete Text ist eine wichtige Quelle für das Amerika-Verständnis der Nürnberger Eliten. Der Brief steht in Verbindung mit einem großformatigen Frontispiz (Abbildung 8). Widmungsepistel und Titelkupfer bilden eine inhaltliche Einheit, die vor allem die Intentionen von Johann Baptist Homann, dem Urheber von Bild- und Textprogramm, widerspiegelt.119 Zuerst zur Bilddarstellung: Vor einem Vorhang erscheint Kaiser Karl VI. in einem Ganzſgurenporträt. Der Monarch trägt eine Ritterrüstung, darüber einen Purpurmantel. Links von ihm ist ein Podest zu erkennen. Darauf sind mit dem Reichswappen und den Kroninsignien die Attribute der kaiserlichen Würde angeordnet. Um die Reichskrone ist ein Band mit der Aufschrift „Me DeCet Coróna SeXtI“ drapiert. Der Text bezieht sich auf die kleinen Büstenporträts auf dem Vorhang.120 Diese zeigen die gleichnamigen Vorgänger des Habsburgers auf dem Kaiserthron von Karl dem Großen bis zu Karl V. Im Bild erscheint außerdem ein Globus mit den Kontinenten Amerika, Europa und Afrika. Der Globus übernimmt die Stelle des sonst üblichen Reichsapfels. Der ebenfalls in das Bild kommende Götterbote Merkur hält diese Erdkugel in axialer Drehung dem Leser entgegen. Dabei blickt Merkur zu Karl IV. auf; der Kaiser deutet mit seinem Marschallstab auf den Globus. Die Weltkugel steht als emblematisches Zeichen im Zentrum des Bildgeschehens. Auf sie ist der Text der Widmungsvorrede zugeschnitten. Sie wird einerseits als „Sinn-Bild“ für die „mit so vielen Kriegs-Wolcken umgebene Reichs-Kugel“ interpretiert, andererseits verweist sie auf die Regierungsleistungen der Habsburger, die die „grosse Reichs-Last gleich einem tapfern HERCULI“ getragen hätten und auf deren Schultern die Verantwortung für „die alt- und neue Welt“ seit „viel hundert Jahr“ ruhe.121 Frontispiz und Widmungsepistel enthalten zugleich teleologische Dimensionen. Im Rückgriff auf das Motto des Widmungsempfängers („Constantia et Fortitvdine“) erkennt der kundige Beobachter in der habsburgischen Herrschaft eine eschatologische Größe: Das Regiment des österreichischen „Ertz-Hauses“ reiche bis an das zeitliche und räumliche „Ende der Welt“ und damit auch an die Weltenden jenseits des Atlantiks.122

119 Laut Bildunterschrift geht der Entwurf für das Frontispiz auf den Augsburger Kupferstecher Jacob Weisshoff zurück. Homann bezeichnet sich darin als Verleger des Titelkupfers und Autor des Widmungsbriefs. Der Bild-Textkomplex steht wohl in unmittelbarem Zusammenhang mit der Ernennung von Homann zum kaiserlichen Geografen im Jahr 1715 (vgl. Pröll/Hirschmann, Homann, Nrr. 10f.; M. Heinz, Geschichte, 37). 120 Aus den typograſsch hervorgehobenen Buchstaben des Chronogramms ergibt sich die Zahl 1711, das Jahr des Amtsantritts von Kaiser Karl VI. 121 Homann/Doppelmayr, Neuer Atlas I, Widmungsvorrede, [4rv]. Zur Deutung Karls VI. als Herkules vgl. Matsche, Kunst I, 343-371. 122 Homann/Doppelmayr, Neuer Atlas I, Widmungsvorrede, [4r]. Die Verknüpfung von habsburgischer virtus und Weltreichsidee ist vielfach belegt. Vgl. zuletzt Neuber, Fremde Welt, 283-306; ders., Plus Ultra.

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Text und Bild erfüllen also geschichtsdeutende Funktionen. So wird die historische Erinnerung an die habsburgische Universalmonarchie aufgerufen. Insbesondere der Rekurs auf den Mythos des Herkules und seine Verwertung durch Kaiser Karl V. nimmt diese Deutungslinie auf. Die Anspielung bezieht sich auf die Säulen des Herkules im Wappen Karls V. und dessen Wahlspruch Plus ultra, den die Zeitgenossen als Schlachtruf der transatlantischen Westexpansion begreifen konnten. Damit werden gleichzeitig typische Motive der im Nürnberger Literaturbarock tief verankerten Habsburger-Panegyrik variiert.123 Und noch mehr: Es sind Assoziationen an das Lebensideal des gerade amtierenden Kaisers Karl VI. zu erkennen, der im Rahmen einer umfassenden Bau- und Kunstpolitik den Begriff der habsburgischen Weltgröße (die „karolinische“ Idee) zu revitalisieren versuchte.124 Amerika ist damit in der habsburgischen Geschichtsinszenierung ein eindeutiger Platz angewiesen: Der Neuen Welt fällt die Aufgabe zu, den weltumspannenden Geltungsanspruch der Casa d’Austria zu illustrieren. Dass 1717, im Publikationsjahr des Emblems, der politische Verlauf (Spanischer Erbfolgekrieg), längst eine andere Entwicklung genommen hatte – davon blieb Homann offenbar unbeeindruckt. Obschon mit dem Frieden von Utrecht (1713) die spanische Thronfolge zu Gunsten der Bourbonen entschieden wurde, ventilieren Titelkupfer und Widmungsepistel die österreichische Sicht der Dinge, eben den Anspruch der Habsburger auf das spanische Erbe und die dazu gehörigen Besitzungen in Übersee. In der Darstellung manifestiert sich also eine markante Trendwende: Die Neue Welt ist nicht nur Objekt wissenschaftlicher Innovationen oder missionarischer Interessen, wie etwa in der jesuitischen Erdteilallegorese.125 Vielmehr wird sie aus reichspatriotischen Stimmungslagen heraus als mächtepolitisches Argument im Sinn prohabsburgischer Öffentlichkeitsarbeit eingesetzt. Damit ist der Weg in die Politisierung des amerikanischen Themas beschritten. Im Argumentationsarsenal der Nürnberger hatten auch wissenschaftliche Perzeptionsmuster ihren Platz. Dazu zählt der Versuch, zwischen der Vergangenheit der fränkischen Reichsstadt und der Gegenwart der Neuen Welt eine direkte, geschichtlich begründete Beziehung herzustellen. Die Überlegungen schneiden dabei ein prinzipielles, für die reichsstädtische Identität geradezu existenzielles Problem an. Im Mittelpunkt steht die Frage, wer als Urheber der amerikanischen Entdeckungen anzusprechen sei, der Portugiese Ferdinand Magellan, der Genuese Christoph Columbus oder der aus Nürnberg stammende Kosmograf Martin Behaim. Doppelmayr, der Autor der wissenschaftlichen Einleitung zum Homann-Atlas, reklamierte in diesem vorwiegend von süddeutschen Exponenten geführten Disput ein his123 Vgl. Henkel/Schöne, Emblemata, 1197f., 1199; Bosbach, Monarchia Universalis, 3563, 122f.; Laufhütte, Umgang mit der Antike. 124 Vgl. Matsche, Kunst I, 249-253. 125 Vgl. Kapitel 7.

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torisches Urheberrecht der Nürnberger. In der Historischen Nachricht von den Nürnbergischen Mathematicis und Künstlern hat er diesen Anspruch breit entfaltet. Dieses Werk wurde von Doppelmayr 1724, unmittelbar im Anschluss an den Homann-Atlas, veröffentlicht. Es handelt sich dabei um ein biograſsches Kompendium zur reichsstädtischen Gelehrtengeschichte seit dem Humanismus. In seinem Artikel über Behaim entwickelt Doppelmayr eine umfassende Deutung der europäischen Expansionsereignisse seit dem späten Mittelalter.126 Dabei geht es ihm darum, die Vorreiterrolle des Nürnberger Gelehrten gegenüber Magellan und Columbus herauszuarbeiten. Doppelmayr schreibt dem Kosmografen die Entdeckung von Brasilien (1485) und der Magellan-Straße zu. Als weiteren Beleg für die maßgebliche Initiative des Nürnberger Humanisten führt er den Behaim-Globus an.127 Behaim erscheint als intellektueller Wegbereiter der Transatlantikpassage, Columbus hingegen als Nutznießer älterer Erkenntnis, der nur bereits Erforschtes weitergeführt habe und deshalb die Entdeckertat nicht für sich beanspruchen dürfe. Daraus leitet Doppelmayr die Forderung ab, den amerikanischen Kontinent umzubenennen. Einen Vorschlag des ebenfalls aus Nürnberg stammenden Naturhistorikers Michael Friedrich Lochner aufgreifend, plädiert er dafür, den Terminus America occidentalis durch die in seinen Augen historisch passgenauere Bezeichnung Bohemia occidentalis zu ersetzen.128 Ob aber wohl die mehreste bishero uns fast durchgehends, den Ruhm der ersten Entdeckung diesen beeden zugeeignet [Magellan, Columbus, RB], so müssen doch […] mit mehrern Recht selbige unserm Beheimio zuerkennen, und gleuben, daß er der erste gewesen, der andern den Weg zu weitern Untersuchungen, die ebenfalls ihr gebührendes Lob verdienen, trefƀich gebahnet, dahero auch um desto billicher solchem neuen Lande der Name unsers Auctoris, als denen nachfolgenden hätte mögen beygeleget werden.129

126 Doppelmayr stützte sich v.a. auf Wagenseil, Synopseos, 528-530: Der Altdorfer Professor postulierte hier das Erstrecht von Behaim an der Entdeckung von Amerika (vgl. Willers, Leben und Werk, 183; Baginsky, German Works, Nr. 274A; Brandt, Behaim). 127 Vgl. Doppelmayr, Historische Nachricht, 28; Knefelkamp, Behaim-Globus, 123-125. Zusammenfassend zur Darstellung der Neuen Welt auf Globen des frühen 16. Jahrhunderts vgl. Horst, Entdeckungsreisen. 128 Vgl. Doppelmayr, Historische Nachricht, 29 (Anm. zz) mit Bezug auf dessen 1713 publizierte Schrift über die Ananas (Commentatio de Ananasa). Vgl. auch Lochner, Commentatio, 1f.: „[E]x India, […] quae nunc vulgo quidem America dicta, rectius autem, secundum […] Wagenseilium, occidentalis Bohemia ideo nominanda, quod Martinus Bohemus, e familia hujus urbis Patricia […] oriundus, jam ante Christophorum Columbum et Ferdinandum Magellanum, Oceani hactenus cogniti terminos ac ſnes, metasque hominum extremas et ultimam Thulen praetervectus, Azores Insulas detexit, Fretumque Patagonicum, vell Magellanicum, Lusitaniae Regi radio prius delineavit, quam Magellanus de Expeditione sua cogitasset.“ Zu Lochner vgl. Will, Gelehrten-Lexikon II, 485489. 129 Doppelmayr, Historische Nachricht, 29.

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Auch wenn diesem Revisionsversuch kein Erfolg beschieden war, wirft die Behaim-Debatte doch ein bezeichnendes Licht auf die Wahrnehmungskonstellationen im reichsstädtischen Süddeutschland. Die Neue Welt war nicht nur Gegenstand des hier besonders stark verbreiteten weltpolitischen Interesses. Sie konnte sogar auf die Agenda der lokalen Identitätsdiskurse vordringen, indem sie kompensatorische Funktionen für den im reichsstädtischen Deutschland des 18. Jahrhunderts greifbaren politischen und ökonomischen Bedeutungsverlust übernahm. Doch nicht nur das: Bei Doppelmayr verbindet sich mit der Vorstellung von Amerika als einer verborgenen reichsstädtischen Bohemia occidentalis auch ein nationales Anliegen. Indem er die Entdeckung der Neuen Welt gegen die Portugiesen und Spanier für die Nürnberger in Anspruch nimmt, hebt er zugleich den Anteil der Deutschen an der Weltgeschichte hervor. Dass das Alte Reich mit der intellektuellen Brillanz seiner Humanisten, der herkulischen Tugend seiner habsburgischen Kaiser, nicht zuletzt mit dem gelehrten Eifer seiner reichsstädtischen Universalgeografen maßgeblichen Einƀuss auf die atlantische Ausweitung der europäischen Welt genommen habe – hierin verdichtet sich die Argumentation von Doppelmayr. In der gleichermaßen reichsstädtischen wie reichspatriotischen Überformung des Amerika-Bilds zeigt sich zugleich eine weitere Stufe der Politisierung. Selbst das wissenschaftliche Argument wird in den Dienst der kommunalen und nationalen Selbstvergewisserung gestellt. Diese Form des Raisonnierens war für die reichsstädtische Rezeptionshaltung insgesamt charakteristisch. Im Vergleich zwischen Ulm und Nürnberg wird dies besonders deutlich: Figurierte dort Amerika als Fluchtraum für die bedrängten pietistischen Glaubensbrüder aus der Heimat, so fungierte hier die Neue Welt als geistiges Eigentum der Deutschen.130 Nordamerika und die Deutschen Wie wirkten sich diese Überlegungen auf den konkreten Umgang mit dem amerikanischen Raum aus? Grundsätzlich hielten die mittelfränkischen Exponenten an der durch die Gattungstradition vorgezeichneten Interpretation fest. Die Vierteilung der Welt in Europa, Asien, Afrika, und Amerika, dabei die zivilisatorische Überhöhung von Europa („der edelste und vornehmste“ Kontinent131), und speziell auf Amerika bezogen: die Differenzierung zwischen einer Nord- und einer Südhälfte – alle diese Elemente tauchen wieder auf. Jedoch sind auch speziſsche Pointierungen zu erkennen. Man kann die Reihe der feinen Unterschiede mit den quantitativen Aspekten eröffnen. Dabei ist 130 Zur Wirksamkeit regionaler Perspektiven für die Wahrnehmung der Neuen Welt vgl. Depkat, Welt, 269f., 291f. 131 Doppelmayr, Einleitung, in: Homann/Doppelmayr, Neuer Atlas I, 11.

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zunächst ein ernüchternder Befund festzuhalten: Trotz des in Vorreden und Titelkupfern breit bekundeten Amerika-Interesses fällt das Echo im Gesamtcorpus der drei hier behandelten Werke relativ schwach aus. Besonders extrem sind die Verhältnisse bei Martini. Die transkontinentalen, amerikanischen Bezüge kommen lediglich sporadisch vor. Die Textproportionen lassen keinen Zweifel über die tatsächlichen Präferenzen des Gelehrten aufkommen: Rund 90% der Staatenbeschreibung sind für die europäischen Länder reserviert, während die außereuropäische Welt nur marginal repräsentiert ist. Auf Amerika entfallen keine 3% des Textbestands.132 Auch im Rahmen der europäischen Geograſe schenkt Martini den Kolonialbesitzungen der Spanier, Briten oder Franzosen keinerlei Beachtung. Die transatlantischen Verknüpfungen zwischen Europa und Amerika bleiben unberücksichtigt. Ebenso wenig kann Martini mit detaillierten Informationen über die Neue Welt selbst aufwarten. Der Wahrnehmungsradius ist auf die Kernbereiche, auf die Entdeckung und europäische Landnahme, daneben auf den natürlichen, politischen und historischen Zustand begrenzt. Nicht anders stellt sich die Situation bei Köhler dar. Eindeutig stehen die europäischen Regionen im Vordergrund, wobei die Akzente auf „Teutschland“ gelegt sind, da „wir uns doch unser Vatterland am ersten und meisten bekannt machen sollen“133. Dieser Primat des Nationalen setzt sich als programmatische Leitlinie im Bequemen Schul- und Reisen-Atlas fort. Hier dominieren die kartograſschen Darstellungen zu den einzelnen Reichsständen, die nicht zuletzt den Forschungsschwerpunkt des gleichermaßen auf das Ius publicum wie auf die Landes- und Territorialgeschichte spezialisierten Historikers bildeten. Sie rangieren weit vor den übrigen europäischen Ländern. Innerhalb dieser hauptsächlich reichsgeschichtliche Interessen widerspiegelnden Konzeption können die amerikanischen Räume nur eine periphere Rolle beanspruchen.134 Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Atlas von Homann. Prinzipiell kommt dessen darstellerischer Duktus zwar den Kriterien einer universalistisch verstandenen Geograſe entgegen; Amerika fällt ein durchaus bedeutender Rang zu. Im Großen und Ganzen erreichen die Ausführungen jedoch lange nicht den Umfang, wie er für die Jesuiten oder die Ulmer charakteristisch ist. So drängt sich ein Verdacht auf: Erweist sich die gleichsam früh132 Auf Europa entfallen 706, auf Asien 33, auf Afrika 26 und auf Amerika 20 Seiten. Diese Proportionen spiegeln auch die Tatsache wider, dass der Gelehrte die außereuropäischen Räume „gleichsam nur berühre[n]“ möchte, während Europa, „welches wir vornehmlich zu kennen Ursach haben“, im Vordergrund stehen soll. Vgl. Martini, Anweisung, 66-772 (Europa), 772-805 (Asien), 805-831 (Afrika), 831-851 (Amerika); zu den Zitaten ebd., Vorrede, [7v]. 133 Köhler, Anleitung, Vorrede, [5rv]. 134 Vgl. Köhler, Bequemer Schul- und Reisen-Atlas (Ordo Mapparum geographicarum): Von insgesamt 95 Karten entfallen sieben auf die Neue Welt, jedoch 37 auf Zentraleuropa (unter Einschluss der Niederlande und der Schweiz).

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nationale Funktionalisierung des amerikanischen Arguments als Hemmschuh für die wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung mit der Neuen Welt? Zu klären ist diese Frage nur dann, wenn man weitere Aspekte der Raumerfassung berücksichtigt. Vor allem die Art und Weise, wie die mittelfränkischen Protagonisten den amerikanischen Binnenraum gliedern, verdient Interesse. Zunächst zeigen sich hier keine großen Unterschiede gegenüber den üblichen Wahrnehmungsformen des frühen 18. Jahrhunderts. Martini folgt in seiner Aufteilung der nordamerikanischen Kontinentalhälfte in vier Zentrallandschaften dem Zeittypischen. Er differenziert zwischen Mexiko, Neumexiko, Florida und Kanada. Den Raumbegriff des Kanadischen legt er expansiv aus. Er versteht darunter die Gebiete englischer und französischer Kolonialzugehörigkeit, von Louisiana im Süden bis Labrador im Norden. Dazu rechnet er die Länder der „Americaner/ welche noch ziemlich in Wildniß leben“135. Mehr Aussagekräftiges lässt sich hingegen auf der quantitativen Ebene erkennen: Martini wendet dem Norden von Amerika eine deutlich höhere Aufmerksamkeit zu als der südlichen Kontinentalhälfte. Dabei sind die britischen Kronkolonien im Gegensatz zu den spanischen oder französischen Territorien in den Vordergrund gerückt.136 In dieser Interessenpräferenz für den englischen Norden scheint eine Grundtendenz der Nürnberger Kartografen auf. Im Atlas von Doppelmayr und Homann und in der Weltbeschreibung von Köhler zeichnet sich ebenfalls eine Dominanz des Nordamerikanischen ab. Dem Nutzer wird ein ausgesprochen feingliedriges Modell der nordamerikanischen Verhältnisse angeboten. Köhler etwa unterscheidet zwischen sechs nordamerikanischen Landschaften, wobei er sich im Schwerpunkt auf den Raum bezieht, der von Martini noch recht pauschal als „Kanada“ bezeichnet wird. Der Altdorfer Professor kann neben Kanada im engeren Sinn („Neu-Franckreich“) noch „Neu-Britannien“ (Labrador) und „Neu-Engelland“ ausmachen. Neuengland wiederum besteht für ihn aus Carolina, Virginia, Maryland, Pennsylvania, New Jersey, New York, dem „eigentliche[n] so genannte[n] Neu-Engelland“, und Neuschottland.137 In den Textquantitäten ſndet das besondere Interesse Köhlers an Nordamerika seine Parallele: Den englischen Kolonien widmet er zehn Seiten, während er für das spanische Mexiko drei, für das französische Kanada sogar nur zwei Seiten veranschlagt. Dagegen kann Köhler die Geograſe von Südamerika auf gerade einmal 15 Seiten zusammenfassen.138 Der Eindruck programmatischer Sympathien für Nordamerika und die dortigen englischen 135 Martini, Anweisung, 843. 136 Vgl. Martini, Anweisung, 834-840 über Südamerika, 840-848 über Nordamerika: Auf den Norden entfällt mehr als die Hälfte der Seiten. Quebec und Louisiana sind Martini nur einen knappen Abschnitt wert, die englischen Kolonien hingegen zwei Seiten. 137 Köhler, Anleitung, 270f., 283f. 138 Vgl. Köhler, Anleitung, 271-274 (Mexiko), 276-285 (englische Kolonien), 285-287 (Frankokanada), 297-312 (Südamerika).

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Dominien ist kaum von der Hand zu weisen. Ähnlich deutlich fällt der Befund für den Homann’schen Atlas aus. Auch hier liegt der Akzent eindeutig auf dem Norden, und zwar auf „Neu Engeland“ und den „übrigen Provinzen, die der Cron von Engeland zugethan sind“139. So erweitert sich das Bild um neue ideelle Komponenten. Für die Nürnberger war mit Amerika nicht nur die Aussicht verbunden, die Ansprüche des habsburgischen Universalismus intellektuell abzustützen oder sich selbst eine globale Wissenschaftstradition beizulegen. Der vierte Kontinent wurde darüber hinaus zur Projektionsƀäche für anglophile Sympathien. Dass diese proenglische Tendenz weniger von konfessionellen Gemeinsamkeiten zwischen lutherischer Reichsstadt und englischer Krone, sondern vielmehr von nationalen Afſnitäten und damit von genuin politischen Intentionen bestimmt war, erweist sich auf der Ebene der Kolonialbeschreibung. Vor allem die Passagen über Pennsylvania können hierfür als exemplarisch bezeichnet werden. Wie die Ulmer Gelehrten interessieren sich auch die Nürnberger intensiv für die „Teutschen“ in der von Pastorius gegründeten Stadt Germantown.140 Anders als bei den schwäbischen Autoren stehen hier jedoch nicht so sehr die religiösen Dimensionen im Mittelpunkt. Die Kolonien der Deutschen werden eher unter patriotischen Aspekten gesehen, gleichsam als Brückenköpfe eines nationalen Siedlungsprojekts, das von der englischen Monarchie gefördert wird und deshalb als Symbol einer engen deutsch-britischen Symbiose gelten kann. Darüberhinaus kann man davon ausgehen, dass hier auch zeitgeschichtliche Reƀexe auf den Spanischen Erbfolgekrieg fassbar werden. Hinter der doppelten Perspektive – Amerika einerseits als terra der Habsburger, andererseits als Schauplatz englischer Kolonialaktivitäten – zeichnen sich die Umrisse der Bündnissolidaritäten ab, wie sie während der Konƀikte um die spanische Thronfolge Bestand hatten. Man könnte durchaus formulieren: Amerika erscheint als weltpolitisches Exerzierfeld gleichberechtigter österreichischer und britischer Interessen, eben als Raum, in dem die kolonialen Prätentionen der Franzosen, also des gemeinsamen Kriegsgegners, abzuwehren waren. So ist die Deutung der Neuen Welt im prohabsburgischen Sinn auf der einen und die Begeisterung für die Fortschritte in den britischen Kolonien – für Köhler immerhin die „ƀorisantesten Plantagien“ in ganz Amerika141 – auf der anderen Seite kein Widerspruch. Vielmehr handelt es sich um Wertungen, die aus Nürnberger Sicht gut miteinander in Einklang zu bringen waren. Die positive Doppelprojektion des habsburgischen und englischen Amerika waren die berühmten zwei Seiten der einen Medaille.

139 Doppelmayr, Einleitung, in: Homann/Doppelmayr, Neuer Atlas I, 12. 140 Vgl. Doppelmayr, Einleitung, in: Homann/Doppelmayr, Neuer Atlas I, 41. 141 Köhler, Anleitung, 382.

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Diese anglophile Interpretation des amerikanischen Kontinents hatte in Nürnberg eine lange Tradition. Bei Köhler und seinen Kollegen konkretisierte sich nur das, was hier schon mindestens seit einer Gelehrtengeneration zur opinio communis gehörte. Das Bewusstsein für die kommende Größe des britischen Königreichs als imperialer Vormacht im atlantischen Raum war früh ausgeprägt. Dieses lässt sich bereits in einer 1690 bei David Funck erschienenen Publikation erkennen. Dabei handelt sich um ein Werk, in dem die weltweite Bedeutung von „Thron und Kron Groß-Britanniens“ vorgestellt wird. Funck sah vor allem in den „Americanisch-Englischen Ländern“ einen wichtigen machtpolitischen Baustein für den britischen Aufstieg. Der Besitz „dieser köstlichen Landschafften/ woraus Engelland einen unglaublichen Gewinn schöpffet“, war für den Nürnberger Verleger der Hauptgrund für die neue britische Weltrolle.142 Interessanterweise verknüpfte sich diese Euphorie für die Erfolge britischer Kolonialexpansion mit einer wichtigen begriffsgeschichtlichen Problematik. In anglophiler Tendenz arbeitete der Nürnberger Gelehrte der Gleichsetzung des Gesamtkontinents mit Angloamerika vor („Americanisch-Englische Länder“). So muss man als wichtiges Ergebnis festhalten: Die Verschiebung des Rezeptionsinteresses vom amerikanischen Süden auf den Norden ist nicht erst als Folge der Revolutionsereignisse von 1776 zu bewerten. Sie lag bereits um 1700 als Wahrnehmungsalternative zum Begriffsmodell des hispanischen Amerika im Bereich der Denkmöglichkeiten. Imperiale und revolutionäre Bildpräsenzen Der Interessenvorrang für die nördliche, von den Briten dominierte Hemisphäre der Neuen Welt spiegelt sich in der Kartenauswahl der Nürnberger Weltatlanten wider, auch wenn natürlich zu betonen ist, dass Amerika insgesamt gesehen in der Kartenhierarchie weiterhin nur den vierten Platz hinter den drei „alten“ Kontinenten besetzte.143 Um die Relationen mit entsprechenden Daten zu untermauern: Im Atlas von Köhler beziehen sich sieben Karten auf das amerikanische Thema. Bei einem Gesamtvolumen von 140 Karten fällt also für den neuen Kontinent nur wenig Material ab.144 Ähnlich stellen sich die Dinge für die Weltatlanten aus der Ofſzin von Homann dar. Das Hauptgewicht liegt klar auf der Alten Welt, an erster Stelle auf dem Heiligen Römischen Reich. Für die Ausgabe des Großen Atlas von 1716 hat man etwa 142 Funck, Thron, 217. 143 Vgl. dazu grundlegend M. Heinz, Karten, 136; ders./Zeilinger, Ordnung, 217; Kugler, Identiſkationsmuster. 144 Vgl. Köhler, Bequemer Schul- und Reisen-Atlas, Nrr. 8 (Amerika), 103 (Nordamerika), 104 (Louisiana), 105f. (Antillen), 107 (Südamerika), 140 (Französischer Aktienhandel in Louisiana).

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folgende Werte errechnet: 6% des Kartencorpus beziehen sich auf außereuropäische Regionen. Weit über 88% entfallen hingegen auf Europa, davon wieder mehr als die Hälfte auf Deutschland (Reichskreise, Territorien, Städte).145 Erhärtet sich hier nur einmal mehr der Verdacht des massiven Eurozentrismus? Auch wenn sich diese Tendenz kaum übersehen lässt, so sind doch gerade die Homann’schen Atlanten ein Beispiel für die amerikanophilen Dynamiken des Zeitalters. Denn anhand der für das Nürnberger Verlagshaus nahezu lückenlos überlieferten Verkaufskataloge lässt sich eine Zunahme des Amerika-Interesses während des 18. Jahrhunderts konstatieren.146 Zwei Beispiele können diesen Bedeutungszuwachs schlaglichtartig belegen: Die ältesten überlieferten Verkaufskataloge von 1714/15 nennen 3 Amerika-Karten (bei einem Gesamtvolumen von etwas mehr als 100 Karten).147 Für das Produktionsjahr 1787 weisen die Verlagsverzeichnisse dann 16 Amerika-Karten aus. Auf das Gesamtcorpus von über 380 Karten bezogen handelt es sich dabei zwar immer noch um einen verschwindend geringen Anteil (4%); qualitativ gesehen zeichnet sich indes eine breite inhaltliche Diversiſzierung ab. Neben Amerika als Kontinent rücken nun auch die Einzelglieder (Nord- und Südamerika), daneben die verschiedenen europäischen Kolonien (Mississippi, Neuengland oder Virginia), in den Vordergrund.148 Die Wirksamkeit dieses Trends zeigt sich vor allem im Vergleich mit den anderen Erdteilen: Asien ist im Verkaufsprogramm von 1787 mit 20, Afrika mit 6 Karten vertreten.149 Zwar lag Amerika gegenüber Asien im Rückstand, was mit der religiösen Konnotation dieses Kontinents als Schauplatz der biblischen Geschichte zusammenhängt.150 Gegenüber Afrika ſel der Vorsprung der Neuen Welt jedoch deutlich aus. Betrachtet seien nun die amerikakundlichen Proſlierungen im Einzelnen, so zunächst bei Köhler. Hier wird das Bestreben nach enzyklopädisch umfassender, zugleich regional differenzierter Vergegenwärtigung spürbar. Der Nutzer ſndet zunächst drei allgemeine Kontinentaldarstellungen vor. Die erste behandelt Gesamtamerika, die zweite und dritte hingegen die Nord- und Südhälfte des Erdteils. Alle drei Karten gehen auf die Entwürfe des bekannten 145 Vgl. M. Heinz, Atlanten, 88. 146 Grundlage für die systematische Auswertung sind die den Atlanten beigebundenen Verkaufskataloge der Ofſzin Homann. Mit ihrer Hilfe lässt sich das Anwachsen der Amerika-Karten im Produktprogramm des Nürnberger Verlags im zeitlichen Verlauf quantiſzieren. Vgl. dazu M. Heinz, Homann-Bibliographie, 256-258. 147 Vgl. UBM 2° Mapp. 67 (Beil. [Catalogus Aller Homanns-Charten], Nrr. 10 (Amerika), 82 (Mexiko), [Catalogus aller Homännischen Charten], Nr. 26 (Konfessionen in Amerika); vgl. dazu Sandler, Homann, 57-59. 148 Vgl. Catalogvs Mapparvm 1787, Nrr. 136-150. 149 Vgl. Catalogvs Mapparvm 1787, Nrr. 112-130 (Asien), Nrr. 131-135 (Afrika). 150 Immerhin drei der Asien-Karten beziehen sich auf Israel (vgl. Catalogvs Mapparvm 1787, Nrr. 116-118).

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französischen Kartografen Guillaume Delisle zurück.151 Die übrigen Darstellungen betonen Einzelaspekte: Zwei Karten zeigen die Antillen, eine weitere Louisiana. Auch das um 1724 aktuelle Thema des Aktienhandels in Louisiana wird aufgegriffen. Diese Karte illustriert den misslungenen Versuch des schottischen Bankiers John Law, durch den Verkauf hochspekulativer Wertpapiere auf den Überseebesitz in Louisiana die Einnahmen der französischen Staatskasse zu steigern.152 Diese kartograſsche Darstellung ist gleichsam als Warnzeichen vor den unseriösen Geschäftspraktiken der von Law geführten Compagnie des Indes wie überhaupt als Kritik an den Kapitalbeschaffungsmaßnahmen der westeuropäischen Kolonialmächte zu verstehen. Damit brachte Köhler ein wirtschaftsgeograſsches Element in den Bilddiskurs ein: Im süddeutschen Kontext setzte er einen ökonomischen Kontrapunkt gegen die bei den Jesuiten dominierende konfessionskundliche Kartograſe. Bei Homann war das Interesse am amerikanischen Norden noch stärker entwickelt. Das Kartenverzeichnis des Nürnberger Verlegers von 1787 berücksichtigt die Nordhälfte mit elf Karten. Der südamerikanische Part ist mit zwei Karten zu Peru und Brasilien bzw. Chile und Paraguay deutlich unterrepräsentiert.153 Dabei spielt der religiöse Faktor nur eine Nebenrolle. Das Verzeichnis von 1787 nennt lediglich zwei Religionskarten (bei insgesamt 16 Amerika-Karten).154 Interessanterweise verzichtete Homann in seinen Religionskarten auf maximalistische konfessionelle Positionen, etwa in dem Sinn, dass er die Neue Welt als Zugewinnzone für die eine oder andere Glaubensgruppe reklamieren würde. Kennzeichnend ist vielmehr ein betont interkonfessioneller Zugang. Ohne apologetische Absichten zeigen die Karten in farblicher Absetzung die Verbreitungsräume der katholischen Kirche in den französischen und spanischen Kolonien (gelb) und der lutherischen und reformierten Kirche in den englischen Herrschaftsgebieten (blau). Davon sind in Dunkelrot die Verbreitungsräume der indigenen Religionen abgesetzt (Abbildung 9). Diese Deutung ist letztlich auf kommerzielle Motive zurückzuführen. Dem Nürnberger Verleger Homann musste es daran gelegen sein, die speziſschen Informationswünsche sämtlicher Konfessionen abzudecken, um damit die Absatzchancen seines Werks zu erhöhen. Den Bedürfnissen des katholi151 Vgl. Lexikon der Kartographie I, 158-160 (s.v. Delisle, Guillaume); Pedley, Commerce, 56. 152 Zum Hintergrund vgl. Cellard, Law; Murphy, Law, 211-324; Wellenreuther, Ausbildung, 46f., 207. 153 Folgende Karten auf Nordamerika bezogen: Catalogvs Mapparvm 1787, Nrr. 138 (USA), 139 (Mississippi), 140 (Neuengland), 141 (englische Kolonien), 142 (englischer Inselbesitz), 143 (Virginia), 144 (Westindien), 145f. (Kanada), 147 (Mexiko), 150 (Martinique); folgende Karten auf Südamerika bezogen: ebd., Nrr. 148 (Peru, Terra ſrma, Brasilien), 149 (Chile, Paraguay). 154 Vgl. Catalogvs Mapparvm 1787, Nr. 137 (Amerika nach Religionen, zwei Teilkarten).

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schen Publikums kamen seine Karten insoweit entgegen, als sie das Florieren der Alten Kirche in der Neuen Welt und dabei besonders die Leistungen des Jesuitenordens herausstellten: Auf einer der beiden Religionskarten zeigt die in den linken oberen Bildrand eingerückte Kartusche einen Jesuitenprediger (Abbildung 9). Er steht stellvertretend für die Missionsbemühungen der Europäer in Amerika. Der in die Kartusche inserierte Text betont zudem den katholischen Charakter der Neuen Welt: Sie sei eine „Europa Nova“, in der die römische Religion blühe („Floret hic Religio Catholica à Missionarijs feliciter propagata“)155. Protestantische Käuferschichten mochten sich dagegen von dem Umstand angesprochen fühlen, dass auf der Karte die englische Ostküste als geschlossen reformatorisches Territorium ausgewiesen ist. Pietistisch sensibilisierte Zeitgenossen konnten sich etwa in der detaillierten topograſschen Aufnahme ihrer amerikanischen Brüdergemeinden, insbesondere der Salzburger Exulantenkolonie von Eben-Ezer in Georgia, wiederſnden. So ist auf anderen Karten des Homann-Atlas das kleine deutsche Pietistenzentrum gleichberechtigt neben die großen Metropolen Philadelphia, New York oder Boston gestellt.156 Im Zentrum des Homann’schen Kartenwerks stehen jedoch die säkularen Proſle der Neuen Welt. Regional gesehen liegt der Hauptakzent auf den englischen und französischen Kolonien an der Ostküste. Bereits ab 1716 bot Homann Karten zum Mississippi-Gebiet, Neuengland, Maryland, Virginia und Carolina an. Ab 1755 umfasste das Programm auch zwei Karten zum westlichen und östlichen Teil von Neufrankreich: zu den Ländern im Gebiet der Fünf Seen und zu den Meeresküsten an der Mündung des Lorenzstroms. Die kolonialen Hauptstützpunkte der Franzosen am Unterlauf des St. Lorenz sind ebenfalls erfasst. Die Ausgabe von 1756 enthält Stadtpläne von Quebec, Louisbourg (Isle Royale) und Halifax.157 Diese Städte waren seit dem zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts zwischen Briten und Franzosen heftig umstritten. Offenkundig ging es Homann darum, die Konƀiktzonen im nordamerikanischen Kräftemessen zwischen dem britischen Empire und der französischen Monarchie für seine deutschen Kunden sichtbar zu machen. Zugleich verweist das kartograſsche Arrangement auf die weltpolitisch geschärften Sensibilitäten im Nürnberger Gelehrtenumfeld des mittleren 18. Jahrhunderts. Geradezu seismograſsch registrierte Homann die Ereignisse in Amerika, und zwar mit eindeutigen politischen Sympathiebekundungen. Denn die Kartenauswahl hebt das kontinuierliche Anwachsen der englischen Macht und – par155 Homann/Doppelmayr, Neuer Atlas I (Totius Americae Septentrionalis […] Repraesentatio). 156 Vgl. Homann/Doppelmayr, Neuer Atlas VI (Johann Matthias Hase, Americae Mappa generalis, 1746). Zum Autor dieser Karte, dem Leipziger Mathematiker Hase († 1742), vgl. Dörƀinger, Geschichtskarten, 152-155. 157 Vgl. Homann/Doppelmayr, Neuer Atlas VI (Vorstellung einiger Gegenden und Plätze in Nord-America unter Französisch und Englische Jurisdiction gehörig, 1756).

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allel dazu – den Niedergang der französischen Position hervor. In den Karten zu den britischen Kolonien wird dies noch deutlicher: Sie stehen unter dem Leitmotiv der „Britannorum industria“ und illustrieren die kolonisatorischen, zivilisatorischen und ökonomischen Leistungen der englischen Krone in der Neuen Welt.158 Mit dieser Hervorhebung der zeitgenössischen Kolonialbildungsprozesse – es handelt sich um eine visualisierte Form von politischer Zeitgeschichte – verschoben sich auch die kartograſschen Inszenierungsformen. Die Karten sind bei Homann erheblich nüchterner gestaltet als etwa bei den Jesuiten. Die barocke Bilderpracht ist stark gedämpft. Homann verzichtete weitgehend auf allegorische Einrahmungen. Seine Darstellungen konzentrieren sich auf die geophysischen und politischen Merkmale. Die möglichst authentische Wiedergabe von Wasser- und Gebirgsverläufen, vor allem aber von territorialen Demarkationslinien zwischen den englischen und französischen Kolonien bestimmt das Konzept. Durch die Betonung von Grenzverläufen sollen die strategischen Optionen der jeweiligen Kolonialmacht visuell hervortreten.159 Dabei veränderte sich die Wahrnehmung auch noch in anderer Hinsicht: So haben die indigenen Völker in diesem kolonial-staatlich-geopolitisch ſxierten Raumdenken kaum noch Platz. Die Absicht, die Erfolge der britischen Herrschaftsverdichtung zu dokumentieren, lässt die nicht-europäischen Phänomene völlig aus dem Blickfeld des Kartenbetrachters treten. Die Neue Welt erscheint nur noch als kartograſscher Appendix der Alten Welt, ausgestattet mit allen raumsymbolischen Orientierungspunkten, wie sie für das alteuropäische Landschaftsbild charakteristisch sind. Auch die topograſschen Detailkarten rücken primär die kolonisatorischen Infrastrukturen in den Vordergrund. Beispielhaft können die Stadtpläne von Quebec und Halifax dieses völlig europäisch geprägte Amerika-Verständnis illustrieren (Abbildung 10). Beide Niederlassungen erscheinen als Siedlungen, die in exemplarischer Weise über die Errungenschaften der europäischen Stadt verfügen: Im Fall von Quebec werden die militärisch-administrativen Anlagen (Festung und Sitz des französischen Gouverneurs) und die Zusammenhänge der kirchlichen Raumgliederung berücksichtigt. Dargestellt sind bischöƀiche Residenz, Pfarrkirchen sowie Klöster der Jesuiten, Ursulinen und Franziskaner-Rekollekten.160 Bei Halifax, dem 1749 gegründeten bri158 In den kartograſschen Darstellungen ist explizit die Rede von „britischem Fleiß“ („Britannorum industria“) bzw. „blühender Kolonie“ („colonia ƀorentissima“): Homann/ Doppelmayr, Neuer Atlas V (Virginia, Marylandia et Carolina in America Septentrionali Britannorum industria exculta; Nova Anglia Septentrionali Americae implantata Anglorumque coloniis ƀorentissima, beide 1716-1724). 159 Zu diesem Darstellungsprinzip Landwehr, Einheit; U. Schneider, Visualisierung der Staatskräfte. 160 Vgl. Homann/Doppelmayr, Neuer Atlas VI (Vorstellung einiger Gegenden und Plätze in Nord-America unter Französisch und Englische Jurisdiction gehörig, 1756).

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tischen Vorposten in Kanada, ist der Schwerpunkt auf den Plancharakter der Siedlung gelegt. Der Stadtgrundriss zeigt die einzelnen Baulose (lots); ebenso sind die Planstellen für Militärkommandantur, Gouverneurssitz, Lagergebäude und Kirche markiert. Hervorgehoben wird außerdem der militärische Wert der Anlagen. So präsentiert sich Halifax als urbane Mustersiedlung innerhalb des britischen Empires.161 Der englisch-französische Konƀikt um die Herrschaft im Nordatlantik und der imperiale Aufstieg der britischen Seemacht – diese beiden Themen bildeten bedeutsame Elemente des Nürnberger Amerika-Diskurses. Sie blieben aber nicht die einzigen. Homann konnte sich der Faszination des letzten atlantischen Schlüsselereignisses im 18. Jahrhundert nicht entziehen. Auch die Folgen der amerikanischen Revolution von 1776 fanden im Nürnberger Kartenkompendium ihren Niederschlag. So zeigt der Homann-Atlas eine auf 1784 datierte Karte der 13 Staaten der amerikanischen Union.162 Nun ist die hohe Zeitnähe, mit der Homann auf die erst wenige Jahre zuvor erfolgte Staatsgründung reagierte, an sich schon eine bedeutsame Tatsache. Noch bemerkenswerter ist der Umstand, dass die neue völkerrechtliche Konstellation den Anstoß für eine Totalrevision des Verlagsprogramms gab. Der Verlagskatalog von 1787 reƀektiert nämlich die kartograſschen Konsequenzen, die sich aus der Revolution von 1776 ergeben haben: Aufgrund aktueller historischer Entwicklungen seien neue Karten „statt der alten ausgetilgten […] eingerücket worden“, nämlich „statt Nordamerica“ nun „die 13. vereinigten Staaten“163. Deutlicher könnte die Resonanz auf die revolutionären Ereignisse jenseits des Atlantiks (und man muss wohl auch sagen: die verborgene Sympathie mit dem dort gerade entstandenen Gemeinwesen) nicht zum Ausdruck kommen. Sie läuft letztlich auf eine visuelle Legitimierung des neuen Staats hinaus, der in den Kreis des Völkerrechts und damit in den Bereich der geograſsch-kartograſsch fassbaren Einheiten getreten ist. Aber auch hinsichtlich des Amerika-Begriffs ist ein Weltbildwandel zu konstatieren: Der Terminus des Amerikanischen wuchs aus seinen ursprünglich gesamtkontinentalen Bezügen heraus; er verengte sich auf den Raum der englisch-französischen Hegemonialkonkurrenz (Amerika = Nordamerika), um dann nach deren Zusammenbruch in die neuen politischen Dynamiken der nordamerikanischen Staatsbildung einzumünden (Amerika = USA).

161 Vgl. Homann/Doppelmayr, Neuer Atlas VI (Plan of the Town of Halifax in Nova Scotia). Zu Halifax im 18. Jahrhundert vgl. Lennox, Empire, 379-410. Dabei ist zu bedenken, dass es sich bei vielen Amerika-Karten von Homann um Wiederabdrucke von französischen Originalen handelte. Die starke Orientierung am Kolonial-Thema hat also auch mit rezeptionsgeschichtlichen Abhängigkeiten von der westeuropäischen, namentlich Pariser Kartograſe zu tun. Vgl. dazu Pedley, Commerce, 168. 162 Vgl. Catalogvs Mapparvm 1787, Nr. 138. 163 Catalogvs Mapparvm 1787, Vorbericht, 3.

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KAPITEL 10: GEOGRAFISCHE ENZYKLOPÄDIEN Zeitungslexika Für den geograſschen Diskurs über Amerika – auch und gerade in Süddeutschland – war die Vielfalt der gattungsgeschichtlichen Zugänge charakteristisch. Neben den klassischen Typen der gelehrten Wissensrepräsentation, den Gesamtdarstellungen und Kartenwerken, kam lexikograſschen Formen, insbesondere den so genannten Zeitungslexika, eine große Bedeutung zu. Diese Enzyklopädien zeichneten sich durch einen pragmatischen Umgang mit der Information aus. Sie waren als Topograſen angelegt, das heißt sie lieferten Beschreibungen von Ländern, Städten, Gewässern und Gebirgen. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, dem nicht-wissenschaftlich gebildeten Publikum die Erkenntnisse der Wissenschaft, vorzugsweise der Landeskunde als moderner Leitdisziplin des 18. Jahrhunderts, zu erschließen. Sie waren Produkte einer programmatisch auf Wissenspopularisierung zielenden Nachrichtenvermittlung.164 Damit reagierte die auf humanistische und barocke Vorläufer zurückgehende Gattung auf den Aufschwung der periodischen Publizistik während der späteren Frühneuzeit. Speziell war sie auf die Lektüreanforderungen der Zeitung zugeschnitten. Die Zeitungslexika sollten – wie es in einer zeitgenössischen Deſnition heißt – „sowohl zur nützlichern Lesung der Zeitungen, als auch zur allgemeinen Aufklärung“ beitragen. Zugleich spiegelte sich im Aufkommen der Gattung das Bedürfnis nach einer „handlichen“ Komprimierung des Wissens über die Welt wider. Die Zeitungslexika sollten dem Zeitgenossen das Gefühl verlässlicher intellektueller Orientierung vermitteln. In der eben zitierten Deſnition heißt es weiter: Das Nachschlagewerk soll auf unkomplizierte Weise „Begebenheiten“ aus aller Welt, aus „den entfernten Königreichen“ ebenso wie „den angrenzenden Ländern“, erläutern. Damit verstand sich das Genre als Leitfaden, das prägnante Einsichten in die Haupt- und Staatsaktionen der Politik, in die Strategien der „öffentlichen Feldzüge“ ebenso wie der „geheimen Kabinette“ gewähren sollte.165 Für die Geschichte der süddeutschen Amerika-Deutungen ergeben sich aus dieser knappen Skizze folgende Konsequenzen. Erstens: In den Zeitungslexika war der amerikanische Kontinent nur ein Aspekt neben vielen anderen. Man muss sich auf eine detaillierte Analyse einlassen, um den Stellenwert der Neuen Welt innerhalb dieser Gattung herauszudestillieren. Damit ist ein Unterschied zu den universalgeograſschen Synthesen der Epoche benannt. Eher hat man es mit reƀexartigen Reaktionen auf Amerika als mit breit ausgearbeiteten Überlegungen zu tun. Zweitens: Trotz ihres betont topograſschen, auf 164 Vgl. Böning, Zeitungslesen, 47; Hass-Zumkehr, Wörterbücher, 301-303; W. Jones, Dictionaries; Polenz, Deutsche Sprachgeschichte, 376-378; Wilke, Zeitungssprache. 165 So etwa [Rieger], Neues geographisches Zeitungslexicon, Vorrede, [2r].

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Städte und Ortschaften ausgerichteten Zugriffs integrierte die Darstellung auch die politisch-historischen Kontexte. Damit ergibt sich die methodische Chance, Wahrnehmungskonzentrationen bzw. deren Verschiebungen unter raumgeschichtlichen Gesichtspunkten zu beobachten. So wird es möglich sein, im Vergleich zwischen der Weltbeschreibung und dem Atlas, den beiden Hauptformen des geograſschen Denkens im 18. Jahrhundert, den Stellenwert des Amerikanischen weiter zu präzisieren.166 An dieser Stelle kann es natürlich nicht darum gehen, die ganze Bandbreite der reich ƀießenden enzyklopädischen Produktion vorzustellen. Vielmehr sollen einzelne süddeutsche Protagonisten herausgegriffen werden. Die hier näher zu untersuchende Gruppe setzt sich aus drei Autoren zusammen. An erster Stelle zu nennen ist der pfalz-sulzbachische Rat Johann Heinrich Seyfried mit seinem Hauptwerk, den Poliologia. Dieses Lexikon wurde 1683 erstmals aufgelegt. Bis 1709 folgten noch drei weitere Ausgaben, was für den anhaltenden Markterfolg dieses wohl ambitioniertesten Projekts der frühneuzeitlichen Topograſk in Deutschland spricht.167 Das Kompendium von Seyfried kann nicht als Zeitungslexikon im engeren Sinn gelten. Vielmehr steht es in der langen Kontinuität der lexikalischen Stadtbeschreibung. Im Titelbegriff „poliologia“, einem nur bei Seyfried belegten Neologismus, deutet sich die Stoßrichtung des Werks an. Erläutert werden Infrastrukturen der gebauten Umwelt mit herausragendem funktionalem Wert für die menschliche Zivilisation, wie sie Städte, Festungen, Klöster, Märkten, Pässe oder Brückenbauten darstellen.168 Damit ist das Ganze auf die Zwecke eines Reisehandbuchs hin ausgerichtet: Politikern, Händlern, Studenten, überhaupt allen, die im Rahmen ihrer beruƀichen Tätigkeiten häuſg unterwegs sind, sollen die Poliologia gewissermaßen als navigatorisches Hilfsmittel dienen.169 Vertrat also Seyfried die zwischen topograſschen und apodemischen Motiven angesiedelte Enzyklopädik des ausgehenden 17. Jahrhunderts, so können die beiden anderen Beispiele Ausblicke auf die Aufklärung des späten 18. Jahrhunderts bieten, so zunächst Wolfgang Jäger. Der Altdorfer Professor für Rhetorik und Übersetzer von Voltaire veröffentlichte zwischen 1782 und 1784 ein Geographisch-Historisch-Statistisches Zeitungs-Lexicon (Neuauflage 1791/93). Das Nachschlagewerk gilt als besonders charakteristisches 166 Zu den Auswertungsmöglichkeiten von zeitgenössischen Lexika vgl. Gerstenberger, Iberien, 15-17. 167 Seyfried trat auch als Verfasser naturkundlicher Nachschlagewerke in Erscheinung, so bspw. 1679 mit seiner Schrift Medulla Mirabilium Naturae (2. Auƀ. 1694). Das Werk beschreibt zahlreiche Aspekte der Neuen Welt, darunter die Hydrologie, die Geologie sowie die Tier- und Pƀanzenwelt. Es soll hier jedoch nicht näher behandelt werden. 168 Vgl. Seyfried, Poliologia I, Vorrede, [3r]. 169 Vgl. Seyfried, Poliologia I, Vorrede, [2v]. Die Poliologia wurden von Bildungsreisenden aus dem höſschen Umfeld stark rezipiert. Vgl. dazu Stannek, Brüder, 37.

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Beispiel für die Gattung der Zeitungslexika.170 Dabei machte es sich Jäger zur Aufgabe, „statistische Nachrichten“ mit einer „kurze[n] Erzählung von dem Ursprung und den vornehmsten Veränderungen und Schicksalen der Reiche und Staaten“ zu verbinden.171 Bei dem dritten Werk handelt es sich um das Neue geographische Zeitungslexicon, das 1790 als anonymer Verlagsdruck bei dem Augsburger Buchhändler Matthäus Rieger erschienen ist172 und das über den engeren Rahmen der gelehrten Kultur höſscher oder universitärer Prägung hinausführt. In ihm spiegeln sich die ideellen Optionen im Umkreis der süddeutschen Verlagspublizistik wider. Dieser kulturgeschichtliche Umstand macht das Augsburger Zeitungslexikon zu einem besonders interessanten Untersuchungsobjekt. Europäische Stadträume in Amerika Eröffnet seien die Betrachtungen mit den Poliologia von Johann Heinrich Seyfried. Zum grundlegenden Wissensbestand des 17. und 18. Jahrhunderts über Amerika gehörte die Auffassung, dass sich dieser Kontinent aus zwei Hälften, nämlich aus einer nördlichen und einer südlichen, zusammensetzt. Auch Seyfried schließt sich diesem allgemeinen Meinungsbild an. In der Einleitung seiner Poliologia liefert er zudem eine genaue Aufstellung der einzelnen Landesteile, die auf bekannte Auffassungen zurückgreift: Zum nördlichen Amerika zählt er sechs Großräume, nämlich „Canada oder Neu-Franckreich“, Virginia, Florida, Neumexiko und Altmexiko (oder Neuspanien), ferner die Antillen. Bei Südamerika kommt er auf folgende Länder und Landschaften: „Castilla d’Oro/ Gujana/ Peru/ Chili/ Paraguay, Terra Magellanica, und Terra del Fuogo, zusamt Tucuman/ Plata und Brasilien“173. Obschon das Lexikon als alphabethisch strukturiertes, stadtgeograſsch orientiertes Nachschlagewerk keine regionalräumlichen Ordnungsebenen kennt, spielt der Begriff des Landes, oder wie es in der zeitgenössischen Terminologie heißt: der „Landschaft“, eine entscheidende kategoriale Rolle. Jeder Artikel enthält detaillierte Angaben zur geograſschen Lage der jeweiligen Stadt im Gesamtgefüge des amerikanischen Doppelkontinents. Auch wenn die deſnitorische Schärfe immer wieder zu wünschen übrig lässt – wie etwa im Fall von Philadelphia, das Seyfried abwechselnd Kanada, Neuengland und dem kurzlebigen Kolonialkonstrukt von „Nova Suecia“ zuschlägt174 –, ver170 Vgl. Polenz, Deutsche Sprachgeschichte, 378; zu Jäger als Professor in Altdorf vgl. Niefanger/Schnabel, Gruppenbildungen, 292, 303f. 171 Jäger, Zeitungs-Lexicon I (1782), Vorrede, [2r]. 172 Zum Verlagshaus Rieger vgl. Künast, Dokumentation, 1276. 173 Seyfried, Poliologia II, Allgemeine Beschreibung der übrigen drey Theile der Welt, [20rv]. 174 Seyfried, Poliologia II, 447.

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mittelte dieses topograſsche Verweissystem dem Nutzer des 18. Jahrhunderts genaue Vorstellungen über die Neue Welt. Auch dem modernen Historiker kommt diese Vorgehensweise entgegen, erlaubt sie ihm doch die Rekonstruktion der zeitgenössischen Wahrnehmungspräferenzen. Wenn man nämlich die einzelnen Ortsartikel der Poliologia unter Zugrundelegung der von Seyfried verwendeten regionalräumlichen Zuordnungen statistisch erfasst, dann ergeben sich instruktive Gesamtperspektiven. Mit insgesamt 19 Nennungen ist der Fokus vor allem auf die Städte des neuspanischen Königreichs gerichtet. An zweiter Stelle stehen die europäischen Siedlungen in Kanada, das neben Kanada im modernen Sinn auch den ganzen Nordosten der heutigen USA umschließt. Die Städte der englischen Ostküste (New York) rechnet Seyfried ebenso dazu wie Quebec, Montreal oder Port-Royal. Größere Aufmerksamkeit ſnden ferner die Häfen der Karibik, die wie Havanna oder Puerto Rico als wichtige ökonomische Stützpunkte galten und die für Seyfried die wachsende Bedeutung des Karibikhandels illustrieren konnten.175 Viel schwächer sind hingegen Virginia, Florida und Neumexiko repräsentiert. Für Virginia erwähnen die Poliologia lediglich zwei Orte, nämlich Jamestown, die älteste englische Niederlassung, und den Gouverneurssitz Williamsburg. Im Fall von Florida nennt Seyfried die drei spanischen Seehäfen S. Augustino, S. Matteo und S. Pedro. Neumexiko ist nur mit einer Stadt (Granada) vertreten. Im Hinblick auf die Stadtregionen in Nordamerika sind die Wahrnehmungen also paritätisch gewichtet. Seyfried konzentriert sich einerseits auf die urbanen Landschaften unter spanischer Vorherrschaft. Andererseits liegt der Akzent auf den Verstädterungszonen in den englischen und französischen Kolonien. Iberisches und anglofranzösisches Element sind gleichermaßen berücksichtigt. Damit entwickelt Seyfried eine Rezeptionsalternative zu den sonst in Süddeutschland geläuſgen Mustern der Amerika-Deutung. Betrachteten die Jesuiten das nordamerikanische Phänomen eher von Süden und Westen aus und interessierten sich die Ulmer und Nürnberger Gelehrten stärker für Angloamerika, so zeigen sich in den Poliologia Kompromisstendenzen: Hier der Ruhm der spanischen Krone, dort das Ansehen der britischen und französischen Throne – so lässt sich das raumpolitische Programm zusammenfassen. In religionsgeograſscher Hinsicht wählt Seyfried eine betont interkonfessionelle Linie. Minutiös verzeichnen die einzelnen Stadtartikel des Lexikons die konfessionellen Afſliationen der jeweiligen Orte und Städte. Durchgängig unterschieden wird zwischen katholischem und reformiertem Bekenntnis. Genannt werden ferner die einzelnen Strömungen des protestantischen dissent, die Quäker und Independenten, jedoch nicht die Vertreter der übrigen protestantischen mainline churches, etwa des deutschen Luthertums oder der englischen Hochkirche, deren bedeutender Anteil vor allem unter den angel175 Zu Havanna vgl. Seyfried, Poliologia II, 242.

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sächsischen Einwanderern unbeachtet bleibt. Überhaupt verfährt Seyfried im Detail seiner Konfessionsgeograſe nicht immer ganz schlüssig. Die religiöse Szene von New York sieht er von den Reformierten dominiert, ebenso jene von Philadelphia. Hingegen erwähnt er den maßgeblichen, gerade um 1700 kulminierenden Einƀuss der Quäker auf die damalige Hauptstadt von Pennsylvania mit keinem Wort, während er für New York eine namhafte Gruppe von Angehörigen dieser und anderer „in Engelland bekannte[n] Secten“ ausmachen kann.176 Insgesamt betrachtet ergibt sich aus den Darlegungen ein System der konfessionellen Pluralität. Wenn man die Konfessionstopograſe kartograſsch umsetzen würde, dann entstünde ein Bild von religiös relativ homogenen Gebietseinheiten: Im frankophonen Nordosten wäre eine Zone von dichter Katholizität zu erkennen, zentriert um Quebec und Montreal.177 Südlich davon schlösse sich ein breiter Landkorridor von reformierter Dominanz an, lediglich an einzelnen Stellen durchbrochen von Elementen abweichender Konfessionalität wie den bereits genannten dissenters. Im iberischen Süden und Westen schälte sich dann wieder ein katholisch bestimmter Raum heraus, der für Seyfried zentral auf Mexiko-Stadt, die „Haupt-Stadt von gantz Neu-Spanien/ als auch des Ertz-Bistums Mexico/ und vieler anderer dort herum liegender Länder und Bistumen“, ausgerichtet ist.178 So mündet die politische Dichotomie in eine konfessionelle Dialektik ein: Auf der einen Seite steht der iberisch-katholische Block mit dem neuspanischen Königreich von Mexiko im Zentrum, auf der anderen Seite die angloprotestantische Konkurrenzmacht an der Ostküste. Von Norden her schiebt sich dann noch der katholische Teil von Frankokanada ins Bild. Die analytischen Anleihen am Raummodell des Konfessionsstaats des 17. und 18. Jahrhunderts sind unverkennbar. Der Autor arbeitete mit den Kategorien der alteuropäischen Konfessionstopograſe, um seinen Lesern die religiösen Verhältnisse in der Neuen Welt zu veranschaulichen. Mit welcher Ausschließlichkeit Seyfried auf die Aussagefähigkeit europäischer Ordnungsvorstellungen setzte, wird daran deutlich, dass er den indigenen Religionsfaktor vollkommen überging. Diese Leerstelle wirkt auch deshalb so frappierend, weil alle anderen geograſschen Modelle des süddeutschen 18. Jahrhunderts zwar das Muster der europäischen Bi- oder Trikonfessionalität auf die amerikanischen Gegebenheiten anwendeten und dabei immer auch die indianische Religionstradition als eigenständige Größe berücksichtigten. Natürlich muss man wieder nach den Motiven für diese speziſsche Ausformung der Amerika-Perspektiven fragen: Basiert die Konzeption eines bipolaren Amerika auf der Idee einer europäischen, gewissermaßen transatlantisch verschobenen balance of powers? Lässt sich etwa im religiösen Bereich 176 Seyfried, Poliologia II, 401 (New York), 447 (Philadelphia). 177 Zum Katholizismus in Quebec vgl. Sautter, Getreu Gott und Rom, 417-422. 178 Seyfried, Poliologia II, 364.

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Ähnliches erkennen? Kommen in den Poliologia die irenischen Intentionen einer Gelehrtenkultur zum Vorschein, wie sie für das bikonfessionelle Fürstentum Pfalz-Sulzbach, Seyfrieds Herkunfts- und Wirkungsort, prägend waren?179 Gewiss sind solche Annahmen naheliegend. Historisch zu belegen sind sie allerdings nicht. In den beiden Vorreden der Poliologia ſnden sich keine Anhaltspunkte für eine solche Interpretation. Daher wird man die Ursachen für die Vielschichtigkeit im Amerika-Bild der Poliologia eher in den methodischen Konſgurationen suchen müssen. Seyfried wollte die urbanistischen Qualitäten der einzelnen Erdteile systematisch darstellen. Folglich ſelen jene Weltregionen, die keine oder nur marginal entwickelte Stadtstrukturen vorweisen konnten, durch das Wahrnehmungsraster, während urbanistisch intensiv durchformte Räume in den Vordergrund rückten. Die auffälligen Konzentrationen in der Amerika-Rezeption hingen unmittelbar mit dem Werkkonzept selbst zusammen. Sie leiteten sich aus dem frühneuzeitlichen Ideal der Stadt ab, das Seyfried nicht als interkulturelle, sondern als alteuropäisch-okzidentale Kategorie verstand.180 Mit anderen Worten: Indianische Siedlungen auf dem Gebiet der heutigen USA fanden keine Beachtung. Hingegen wurden jene Niederlassungen, die dem europäischen Maßstab entsprechend als (proto-)städtische Formationen zu gelten haben, im Lexikon berücksichtigt. Es musste sich dabei nicht notwendigerweise um koloniale Gründungen handeln. Bereitwillig öffneten sich die Poliologia auch für indigene Siedlungsphänomene, soweit sie über den Eigenschaftskanon zivilisatorisch gehobener Urbanität verfügten, wenn sie also dem europäischen Stadtbild möglichst nahe kamen. Seyfried sah diesen Fall bei Manhattan, der Vorgängersiedlung von Neu-Amsterdam (New York), gegeben.181 Noch eindeutiger lagen für ihn die Verhältnisse bei Mexiko-Stadt, dem indianischen „Tenochtitlan“. Die vorkoloniale Existenz der Metropole als „Residentz der Könige von Mexico“ weise ihr Qualitäten zu, die sich im Vergleich mit den europäischen Zentren durchaus sehen lassen können.182 Das Beispiel von Mexiko-Stadt ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich.183 Denn der einschlägige Ortsartikel kann einen genauen Eindruck dessen vermitteln, was für Seyfried zu den Voraussetzungen urbaner Kultur in Amerika gehörte. Neben dem Moment historischer Kontinuität, also der Tatsache, dass der Ort bereits während der indianischen Epoche als dauerhafte Siedlung bestanden hat, benennt der Autor die Kriterien von günstiger geopolitischer Lage, Größe (Häuser- und Einwohnerzahl184), Verkehrsinfrastruktur 179 180 181 182 183 184

Vgl. Rank, Religionsgeschichte, 134-148. Zu frühneuzeitlichen Stadtidealen vgl. Behringer/Roeck, Bild der Stadt. Vgl. Seyfried, Poliologia II, 332. Seyfried, Poliologia II, 364. Vgl. Seyfried, Poliologia II, 364-369. Vgl. Seyfried, Poliologia II, 367: „In denen 4. Haupt-Theilen der Stadt [Mexiko] wohnen über 4000. Spanische Bürger/ und 30000. Indianischer Haus-Gesind; der andern

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(Brücken, Straßen- und Wegenetz), militärisch-strategischer Bonität (Fortiſkationssysteme aus Holz oder Stein) und die Existenz von zentralen Funktionsbauten. Damit können administrative Pole gemeint sein, etwa das Rathaus oder der Palast des Vizekönigs. Hinzu kommen ökonomisch relevante Anlagen, beispielsweise Lagerhäuser, Hafen- oder Marktplätze. Besondere Aufmerksamkeit verwendet Seyfried auf die kirchlichen und akademischen Einrichtungen. So werden die Konvente der Franziskaner, Augustiner, Dominikaner und Jesuiten, die Niederlassungen der Frauenorden, daneben die Infrastrukturen des Hospitalwesens aufgelistet. Als architektonische Höhepunkte erscheinen die Bauten des „Ertz-Bischoffs Pallast“ und der Universität. Ebenso wenig sei das „Gebäu der H. Inquisition […] zu verachten“185. So ist die Valenz des Städtischen durch zentralörtliche Funktionen bestimmt, durch politische, wirtschaftliche, religiöse und kulturelle Versorgungsaufgaben für das Umfeld des urbanen Knotenpunkts, womit eine seit dem Humanismus bekannte Vorstellung aufgegriffen ist.186 Der Befund für Mexiko-Stadt lässt sich durch ähnliche Beispiele für das angelsächsische und französische Amerika bestätigen. Im Fall von Williamsburg hält Seyfried die universitären Infrastrukturen bzw. die Tatsache, dass man hier „eine Academie aufgerichtet/ und […] Doctores creiret“ habe, für besonders erwähnenswert. An Jamestown lobt er die Vielzahl von Gebäuden. New York zeichne sich hingegen durch seine militärische wie ökonomische Bedeutung aus. Ein Beispiel für politische Zentralörtlichkeit ist das neuenglische New Haven: Die Funktion dieser Kolonistensiedlung sei vor allem dadurch charakterisiert, dass hier vor kurzem „ein Parlament angeleget worden“ sei.187 Die für die Poliologia so kennzeichnende Mehrdimensionalität der Raumvorstellungen ist eine Folge der methodischen Konzeption. Hervorgehoben sind die vergleichsweise städtereichen Zonen in Mexiko und Kanada. Deren relative Vielfalt an administrativen und kirchlichen Referenzpunkten ist Gegenstand eingehender Betrachtung. Dagegen bleiben der mittlere Westen und vor allem die Westküste – beiden fehlt das Element durchdringender kolonialer Besiedlung – ohne größere Resonanz. Das von Spanien, Frankreich und England urbanisierte Amerika erscheint als Ergebnis eines umfassenden Modernisierungs- und Zivilisationsprozesses, während dem indigenen Faktor als einem offenbar historisch überholten Moment nur noch eine passive, lexikalisch kaum mehr ſxierbare Rolle zufallen kann.

Theile zu geschweigen.“ 185 Seyfried, Poliologia II, 368. Zur frühneuzeitlichen Stadtbeschreibung von Mexiko insgesamt vgl. Bechtloff, Imago mundi, 79f.; Gresle-Pouligny, Mexico-Tenochtitlan, 69154; Mattos-Cardenas, Ciudad hispanoamericana; ders., Modello biblico. 186 Vgl. Arnold, Städtelob; Kleinschmidt, Textstädte. 187 Seyfried, Poliologia II, 255 (Jamestown), 400f. (New Haven, New York), 574 (Williamsburg).

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Revolutionäre Erinnerungsorte Lässt sich bei Seyfried der Versuch erkennen, die langfristigen raumgeschichtlichen Wirkungen der Übersee-Expansion im Sinn eines europäischen Urbanitätsideals zu bewältigen, so steht das enzyklopädische Projekt von Wolfgang Jäger unter dem Eindruck aktueller historischer Veränderungen. Für die Interpretation seines Werks muss es von Bedeutung sein, dass Jäger als Zeitgenosse der amerikanischen Revolution über die Neue Welt geschrieben hat. Sein Lexikon erschien erstmals zwischen 1782 und 1784, also nur sechs Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung. Daher wird zu fragen sein, ob und in welcher Weise die amerikanischen Umwälzungen Eingang in die Werkkonzeption gefunden haben. Diese Frage verdient auch deshalb Interesse, weil Jäger – noch mehr als sein Vorgänger aus dem 17. Jahrhundert – die Nähe zum Zeitgeschehen zum maßgeblichen Kriterium seiner Darstellung erhob. Das Zeitungslexikon von Jäger enthält Artikel sowohl zu Städten als auch zu Ländern, Kontinenten und sogar Ethnien.188 Es muss nicht eigens betont werden, dass mit dieser inhaltlichen Verbreiterung ein erheblicher Gewinn an Präzision verbunden ist. Für Jäger lassen sich insgesamt 24 Stadtartikel mit nordamerikanischem Betreff nachweisen. Zwanzig Lemmata behandeln einzelne Landschaften, Regionen und Länder, sieben Artikel Besonderheiten des Ethnos oder des Naturraums (Flüsse und Gebirge). Insgesamt 51 Artikel beziehen sich also auf Nordamerika. Bei Seyfried lässt sich zwar mit 44 Treffern ein ähnlich hohes Artikelquantum für das nördliche Amerika konstatieren; indes sind Seyfrieds Raumvorstellungen wesentlich weiter gefasst als bei Jäger. Während der pfalz-sulzbachische Rat auch die karibische Inselwelt dem nordamerikanischen Kontinent zuschlägt, versteht Jäger darunter ausschließlich das Festland innerhalb der heutigen USA und in Kanada.189 Bereits in diesen einleitenden Beobachtungen zu Begriffs- und Sprachgebrauch kündigt sich der fundamentale Bedeutungswandel in den AmerikaVorstellungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts an. In programmatischer Weise wird die perspektivische Zuspitzung auf den Norden der Neuen Welt greifbar. Der Altdorfer Professor assoziiert das Amerikanische mit den dreizehn Gründerstaaten der USA. Besonders plastisch tritt diese Wahrnehmungstendenz in den thematisch einschlägigen Länder- und Regionalartikeln hervor. Ein eindrucksvolles Beispiel für die Blickumkehr – weg vom lateinischen Amerika des Entdeckungszeitalters hin zu den angloamerikanischen Kolonien der Revolutionsära – bieten die Ausführungen zur geograſschen Grundgestalt des Kontinents.190 Zwar hält Jäger an der bis dato üblichen Inter188 Vgl. beispielsweise zu den Irokesen Jäger, Zeitungs-Lexicon I (1782), 765. 189 Vgl. Seyfried, Poliologia II, Allgemeine Beschreibung der übrigen drey Theile der Welt, [20r]. 190 Vgl. Jäger, Zeitungs-Lexicon I (1782), 91-95.

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pretation des gesamtamerikanischen Raums grundsätzlich fest: Auf die präkoloniale Phase mit ihrer charakteristischen herrschaftsgeschichtlichen Schwerpunktbildung in Peru und Mexiko folgt nach der welthistorischen Zäsur der Entdeckungen im 16. Jahrhundert die Epoche der europäischen Kolonisierung. Mit diesem Prozess ist eine tiefgreifende Umstrukturierung des Kontinents, nämlich dessen Aufteilung in eine spanische und britische Hälfte verbunden. Freilich bilden diese Entwicklungsschritte nur eine historische Zwischenetappe. Sie münden in die amerikanische Unabhängigkeit ein und begründen mit der Entstehung der USA eine völlig neuartige, sich von europäischen Einƀüssen zunehmend emanzipierende Raumkonſguration. So leitet Jäger seinen Lexikonartikel über „America“ mit einer umfassenden Würdigung der Revolution und ihrer historischen Topograſe ein. Als Ort dynamischer politischer „Bewegungen“, als Entfaltungsraum einer „unabhängigen Republik“ hätten die „13. vereinigten Provinzen“ das Heft des geschichtlichen Handelns an sich gezogen.191 Das neue Gemeinwesen könne daher den Gesamtkontinent in authentischer Weise repräsentieren. Das von der Idee des historischen Fortschritts erfüllte Raumverständnis des Professors trägt den „weltbewegenden“ Vorgängen in den (ehemaligen) englischen Kolonien auch noch in anderer Form Rechnung: Obschon Jäger zugeben muss, dass das „Schicksal“ der amerikanischen Republik „für itzt noch nicht ganz entschieden ist“192, betrachtet er die USA bereits in der 17821784 publizierten Erstausgabe seines Lexikons als autonome staatliche Größe. Neben den einzelnen Regionen – etwa Pennsylvania, Virginia, Maryland, Georgia usf. – ist auch die Republik (Vereinigte dreyzehn Provinzen in Nordamerica) als eigenes Lemma erfasst.193 Inhaltlich wiederholt dieser Text den Tenor des Amerika-Artikels. Jäger resümiert die Ereignisse des Unabhängigkeitskriegs; er charakterisiert die Gründerstaaten in ihrer individuellen historisch-juristischen Verfassung; er verweist darauf, dass die britische Krone sich 1783 „endlich“ dazu „bequemt“ habe, die Unabhängigkeit der Staatenunion völkerrechtlich anzuerkennen.194 Unter dem Vorzeichen des revolutionsgeschichtlichen Paradigmas stehen nicht zuletzt die Einzelporträts zu den Staaten und Städten der jungen USA. 191 Jäger, Zeitungs-Lexicon I (1782), 92: So „thaten sich in den englischen Colonien allerhand Bewegungen hervor. Eine von dem großbritannischen Parlamente ihnen, ohne ihre Bewilligung, aufgelegte Steuer war die Ursache oder der Vorwand, daß sie […] endlich im J. 1775. die Waffen mit solchem Eifer und solcher Thätigkeit ergriefen, als wenn sie schon lange dazu vorbereitet gewesen wären. In dem J. 1776. errichteten die meisten Colonien des festen Landes, d. 4. October, eine allgemeine und beständige Verbindung und erklärten sich für eine unabhängige Republik.“ 192 Jäger, Zeitungs-Lexicon I (1782), 92. 193 Vgl. Jäger, Zeitungs-Lexicon II (1784), 337f. In der Neuauƀage von 1791/93 ist der USA-Artikel um Bemerkungen zur Einwohnerstatistik (nach dem Stand von 1787), zum Staatshaushalt, zur Religionsverfassung und zur Währung erweitert. 194 Jäger, Zeitungs-Lexicon II (1784), 338.

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Insgesamt gesehen folgen sie den gattungsüblichen Vorgaben. Bemerkungen zu Grenzen und Naturräumen wechseln sich mit Hinweisen zur (europäischen) Vergangenheit und den Verhältnissen in der Gegenwart ab. Ein besonderer Schwerpunkt liegt – das ist durchaus als Anleihe an der zeitgenössischen Kameralistik zu verstehen – auf den Einwohnerzahlen, der Konfessionsstatistik, den ökonomischen Merkmalen und den klimatischen Bedingungen. Für Jäger ist es nun bezeichnend, dass er über diesen engeren Berichtsrahmen häuſg hinausgeht und auch die Faktoren der revolutionären Geograſe berücksichtigt. Im Vordergrund steht immer wieder die historische Verbindung einzelner Orte und Räume mit den Ereignissen der amerikanischen Staatswerdung. So bestimmt sich der Rang von Philadelphia einerseits durch herausragende urbane Qualitäten, andererseits aber durch die hauptstädtische Funktion als „Sitz des Congresses der vereinigten Staaten in America“195. Hinzu kommt die kulturelle und wissenschaftliche Vorreiterrolle. Für Jäger ist Philadelphia nicht nur eine der schönsten Städte in den USA, sondern auch deren intellektueller Zentralort. Vor allem die Tatsache, dass Benjamin Franklin hier seinen Wirkungsmittelpunkt habe, sei ein Indiz für das sich hier gleichsam topograſsch verdichtende Ideenpotenzial der new republic.196 Dagegen kann Virginia als geopolitisches Epizentrum der revolutionären Bewegung gelten, weil die „Virginier“ im Konƀikt mit England immer „sehr freymüthig und entschlossen“ für die Sache der Kolonisten gekämpft hätten und außerdem der „berühmte Washington“ aus dieser Provinz „gebürtig“ sei.197 Eine ähnlich bedeutsame Rolle in den Auseinandersetzungen mit den Briten kann Boston für sich beanspruchen, wurde hier doch – wie Jäger formuliert – 1774 in der Boston Tea Party „das gährende Mißvergnügen der Americaner zur Widerspänstigkeit und endlich zur Empörung gebracht“198. Mit New York bringt der Gelehrte noch einen weiteren Revolutionsschauplatz ins Spiel. Allerdings geht er dabei eher von der englischen Seite des Problems aus. Vor allem die strategische Funktion als „Haubtsitz der Englischen Truppen, die wider die Americanischen Provinzen gebraucht wurden“, charakterisiere das revolutionsgeschichtliche Proſl der Stadt.199 New York erscheint gewissermaßen als „englisch-loyalistischer“, man könnte beinahe sagen: negativer Gegenpol zu den positiv konnotierten, weil von „proamerikanischen“ Identitäten getragenen Insurgentenmetropolen Boston und Philadelphia. So entfaltet das fränkische Zeitungslexikon ein erstaunlich breites zeitgeschichtliches Panorama. Auch wenn noch andere Kriterien eine wichtige Rolle spielen, etwa wenn in Jägers starkem Interesse an den deutschen Kolo195 196 197 198 199

Jäger, Zeitungs-Lexicon II (1784), 274. Vgl. Jäger, Zeitungs-Lexicon II (1793), 212f. Jäger, Zeitungs-Lexicon II (1784), 842. Jäger, Zeitungs-Lexicon I (1782), 247. Jäger, Zeitungs-Lexicon II (1784), 142.

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nistensiedlungen in Georgia (Eben-Ezer und Savannah) oder Pennsylvania (Germantown) nationale Sensibilitäten für die deutsche Sache in Nordamerika schlaglichtartig aufscheinen200, ist die prinzipielle Ausrichtung doch eindeutig. Dem Professor aus Altdorf ging es um eine aktualitätsnahe Berichterstattung, die auf das Geschehen der 1770er und 1780er Jahre orientiert war und dem Nutzer eine positive Sichtweise der amerikanischen Ereignisse nahelegte. In das konzeptionelle Korsett der topograſschen Enzyklopädik eingebettet, entstand so eine Geograſe der amerikanischen Revolution, ihrer Schauplätze und Repräsentanten. Sicherlich kam das Zeitungs-Lexicon damit den Erwartungen des zeitgenössischen Lesers entgegen, zumindest insoweit es ihm Hilfestellungen für die Lektüre entsprechender Karten- und Textmaterialien offerierte. Darüber hinaus erweist es sich aber auch als Dokument der süddeutschen, speziell reichsstädtisch verankerten Amerikanophilie, die mit der Beschreibung der revolutionären Erinnerungsorte ein Identiſkationsarsenal für entsprechende Sympathien bereitstellte und damit zur politischen Bewusstseinsbildung beitragen konnte. Antirevolutionäre Tendenzen Ein ganz anderes Bild wird hingegen im Neuen geographischen Zeitungslexicon von Matthäus Rieger sichtbar. Zwar sind auch in diesem Werk vielfältige Amerikabezüge nachzuweisen. Im Gegensatz zu Jäger sind die Perspektiven kaum von zeitgeschichtlichen Interessen berührt. Man kann sogar noch entschiedener formulieren: Die Absenz des Aktuellen, die deutliche Distanz gegenüber den zeitgenössischen Entwicklungen in der Neuen Welt ist für das Amerika-Bild von Rieger charakteristisch. Zunächst ist wieder nach den Grundlinien zu fragen: Welche Teile von (Nord-)Amerika wurden hier in den Blick genommen? Unter welchen terminologischen Kriterien wurde der Kontinent erfasst? Dabei drängt sich der Vergleich mit dem Lexikon von Jäger geradezu von selbst auf. Denn der Augsburger Enzyklopädie liegt eine ähnliche Konzeption zu Grunde. Wie im Nürnberger Projekt sind Fluss-, Stadt-, Landschafts- und Ländernamen aufgenommen. Amerika als Kontinent ist ebenso vertreten wie einzelne Siedlungen, von Albany am Hudson bis Williamsburg in Virginia. Erfasst sind sämtliche Kolonien an der englischen Ostküste. Auch auf Florida, Kalifornien und Mississippi kommt das Lexikon zu sprechen. Insgesamt bietet das Werk von Rieger ein relativ hohes, den topograſschen Zeitstandards durchaus entsprechendes Informationsniveau, zumindest auf der Ebene der Begriffs- und Raumerfassung. Markante Unterschiede werden jedoch im in200 Vgl. Jäger, Zeitungs-Lexicon I (1782), 495 (Eben-Ezer), 598 (Germantown), II (1784), 636 (Savannah).

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haltlichen Zuschnitt greifbar. Thematisch beschränken sich die Artikel auf die geograſschen Parameter im engeren Sinn. Sie konzentrieren sich auf Hinweise zur Lage der Orte, Städte und Länder. Sie beschreiben deren naturräumliche und kolonialstaatlich-administrative Gliederung. In Einzelfällen werden Herkunft und Varianten der Namen sprachgeschichtlich erläutert, so beispielsweise bei Albany in der Provinz New York: Das Lexikon kennt neben der englischen auch die unter den niederländischen Kolonisten gebräuchliche Bezeichnung („Fort Orange“201). Ebenso ſnden urbane Funktionstypen Beachtung. Rieger klassiſziert das nordamerikanische Siedlungsnetz – er hat dabei immer nur die europäischen Gründungen vor Augen – nach fünf Grundformen, nämlich „Factoreyen“, „Forts“, „Häfen“, „Städten“ und „Hauptstädten“.202 Dabei erschöpfen sich die Angaben in einem reinen Begriffsglossar. Selten gewinnt der Text analytische Qualitäten. Inhaltlichen Tiefgang erreicht das Lexikon nur an wenigen Stellen. Ein Beispiel für eine detailliertere Erfassung ist der Eintrag zum Stichwort „America“.203 Hier ist daher ein unmittelbarer Vergleich mit dem Zeitungslexikon von Jäger möglich. Dabei werden markante Unterschiede zwischen den beiden nahezu zeitgleich erschienenen Werken sichtbar. Während Jäger das revolutionäre Phänomen ebenso aktualitätsnah wie positiv einbindet, begnügt sich Rieger mit dem konventionellen Abspulen der frühneuzeitlichen Entdeckungsgeschichte: Amerika ist für den Augsburger Verleger „der vierte Haupttheil unserer Erdkugel“, „uns Europäern allererst im 15ten Jahrhundert bekannt geworden“. Als speziſsches, süddeutsch eingefärbtes Lokalkolorit kann man den historischen Verweis auf Behaims Anteil an der europäischen Entdeckung der Neuen Welt lesen. Hingegen fallen die Bemerkungen über Ethnos und Religion weit hinter den Stand des im späten 18. Jahrhundert Üblichen zurück. Die „natürlichen“ Einwohner seien nichts anderes als „blinde und dumme Heyden“. Retardierend fallen auch die Äußerungen zum politischen Geschehen aus. Das „weltliche Regiment“ liege bei den Kolonialmächten, repräsentiert durch den „Vice-Re und [die] Gouverneurs“. Es ist daher nur folgerichtig, dass der Zusammenbruch der englischen Herrschaft während der amerikanischen Revolution und die staatliche Unabhängigkeit der ehemaligen Kronkolonien in dem 1790 (!) aufgelegten Lexikon verschwiegen werden.204 Wie zurückhaltend die Augsburger Enzyklopädie auf das Geschehen in der eigenen Gegenwart reagiert, zeigt sich noch an anderer Stelle. Zwar werden die nordamerikanischen Kolonien im Einzelnen vorgestellt, jedoch nicht 201 [Rieger], Neues geographisches Zeitungslexicon, 13. 202 Vgl. zum Beispiel [Rieger], Neues geographisches Zeitungslexicon, 13 (Factorey: Albany in Kanada), 42 (Fort: St. Augustin), 179 (Hafen: Halifax), 46 (Stadt: Baltimore), 91 (Hauptstadt: Charlestown). 203 [Rieger], Neues geographisches Zeitungslexicon, 24f. 204 Alle Zitate [Rieger], Neues geographisches Zeitungslexicon, 24.

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als Aktionsräume von revolutionären Vorgängen. Es sind primär wirtschaftliche Proſle, die das Bild der nordamerikanischen Kolonien prägen: Virginia wird auf seinen ökonomischen Status als Tabaklieferant der Alten Welt reduziert.205 Philadelphia, „ein großer und schöner Handelsplatz“, erscheint als Umschlagplatz des transatlantischen Handels mit Lebensmitteln.206 Das bei Jäger so stark betonte Element der politischen und kulturellen Zentralität spielt bei Rieger überhaupt keine Rolle. Die Schiffbarkeit der Flüsse interessiert den Herausgeber weitaus stärker als etwa die akademischen Strukturen vor Ort.207 Riegers Zeitungslexicon verzichtet auf jegliche Universitäts- oder Hochschultopograſe, selbst dort, wo dies in der zeitgenössischen Lexikograſe gang und gäbe war, so etwa im Fall von Williamsburg (College of William and Mary) oder Cambridge (Harvard). Alles ist in den Dienst des ökonomischen Arguments gestellt; das wirtschaftsgeograſsche Raisonnement überlagert die politischen Dimensionen. Diese bleiben entweder ganz ausgespart oder sie reichen über den Faktenstand der 1760er Jahre nicht hinaus. Denn im Fall der ehemaligen französischen Kolonie Louisiana dokumentiert der Artikel die territorialen Konsequenzen des Pariser Friedens von 1763, also die Annektierung der östlich des Mississippi gelegenen Teile durch England sowie der Abtretung der sich westlich davon erstreckenden Landmassen an die spanische Krone. Die Gegenprobe mit Quebec führt zu einem ähnlichen Ergebnis. Auch hier endet die Geschichte des nördlichen Amerika mit dem Frieden von Paris, in dessen Folge es zum Besitzwechsel von „ganz Canada“ an das britische Empire kam.208 Für die Nordamerika-Rezeption im Neuen geographischen Lexikon sind also drei Momente entscheidend. Erstens: Der Blick auf die Nordhälfte der Neuen Welt wird von ökonomischen Utilitätserwägungen dominiert. Berichtenswert war vor allem das, was den Europäern wirtschaftliche Vorteile verschaffen konnte. Der Beitrag der Ostküstenkolonien zum transatlantischen Handel bildet das maßgebliche Wahrnehmungskriterium. Dieses wirtschaftsgeograſsche Modell versteht den Kontakt zwischen Europa und Amerika nicht als Beziehung zwischen ranggleichen Partnern. Vielmehr sieht es die Neue Welt in einer untergeordneten Funktion. Sie ist Warenlieferant für die Märkte der Alten Welt. Es ist daher kein Zufall, wenn die von Europa abgekehrten Küsten des Teilkontinents, so vor allem Kalifornien209, zwar erwähnt, jedoch kaum breiter beschrieben werden. Zweitens: Auch in historischer Hin205 Vgl. [Rieger], Neues geographisches Zeitungslexicon, 528: Virginia sei eine „englische Kolonie […] welche fast ganz Europa mit Tabak versorgt, und dadurch reich geworden ist“. 206 [Rieger], Neues geographisches Zeitungslexicon, 357. 207 Vgl. [Rieger], Neues geographisches Zeitungslexicon, 102 (Connecticut), 241 (Lorenzstrom). 208 [Rieger], Neues geographisches Zeitungslexicon, 261 (Louisiana), 385 (Quebec). 209 Vgl. [Rieger], Neues geographisches Zeitungslexicon, 79.

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sicht bleiben die Denkweisen einem dezidiert eurozentrischen Weltverständnis verhaftet. Amerika tritt nicht als eigenständige Größe hervor. Vielmehr konservieren die Überlegungen den um 1790 längst anachronistischen Ereigniszustand der 1750er Jahre. Man könnte diese Perspektivenverkürzung auf Informationsdeſzite zurückführen. Mit ebenso viel Berechtigung lässt sich dahinter aber auch eine kalkulierte politische Aussage vermuten: Die Neue Welt hat weiterhin als Annex der Alten zu gelten. Drittens: Mit Hilfe dieses Erklärungsmusters wäre dann auch das auffällige Übergehen der historischen Ereignisse, insbesondere der amerikanischen Revolution, zu deuten. Denn viel zu nachdrücklich betont Rieger den kolonialen Status der nordamerikanischen Provinzen, als dass es sich dabei bloß um einen Zufall handeln könnte. Die Verdrängung der Revolutionshistorie und ihrer topograſschen Phänomene lässt sich geradezu als Paradebeispiel für ein systematisches Verdrängen anführen. Das Zeitungslexikon des Augsburger Verlegers ist ein charakteristischer Beleg dafür, dass man aufklärerische Grundhaltung und Revolutionsempathie nicht immer gleichsetzen kann.210 Es zeigt sich deutlich, dass es im reichsstädtischen Fluidum nicht nur positive Reaktionen auf die Umwälzungen im fernen Amerika gab. Mehr noch: Das Werk von Rieger ist von einem beharrlichen, um 1790 indes obsoleten Festhalten an der Idee eines englischen Imperiums in Amerika geprägt. Freilich: Wie am Beispiel der Nürnberger Geografen zu erkennen war, bediente Rieger mit dieser dezidiert probritischen Option ein politisches Sentiment, das den reichsstädtischen Kreisen in Süddeutschland keinesfalls fremd war. KAPITEL 11: KATHOLISCHE AUFKLÄRUNG Geograſe der Glückseligkeit Im vorangehenden Kapitel deutete sich bereits die ambivalente Haltung der süddeutschen Aufklärungsgeograſe gegenüber dem amerikanischen Revolutionskosmos an. Dieses Befundbild stützt sich indes nur auf das schmale Quellentableau der reichsstädtischen Enzyklopädik. Um einen zuverlässigen Eindruck von den Verhältnissen zu gewinnen, empſehlt es sich, die empirische Basis in die territorialstaatlichen Nachbarlandschaften der süddeutschen Aufklärung zu verbreitern. Dafür bieten sich zwei Kommunikationsräume an: die Gelehrtenwelt der katholischen Geografen in Bayern und deren Kollegenkreis an den protestantischen Universitäten in Franken. Zunächst zur katholischen Aufklärung, genauer: zu den rezeptionsgeschichtlichen Voraussetzungen, unter denen es hier zu einer Begegnung mit 210 Zur Revolutionskritik in der deutschen Publizistik des 18. Jahrhunderts vgl. Depkat, Amerikabilder, 289-301.

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der Neuen Welt kommen konnte. In Kurbayern blieben die Versuche der Göttinger Kameralistik, das Amerika der Revolution durch Ausbildung einer eigenen wissenschaftlichen Teildisziplin zu erfassen, ohne Widerhall. Diese Feststellung bezieht sich allerdings weniger auf den allgemeinen historischen Rahmen; denn selbstverständlich stießen die Ergebnisse der Kameralistik im süddeutschen Fachdiskurs auf (sogar starkes) Interesse. Der Verweis auf Deſzite betrifft vielmehr die Tatsache, dass sich für das katholische Gelehrtenmilieu des späten 18. Jahrhunderts kaum monograſsche Darstellungen im Sinn einer genuin „amerikakundlichen“ Textgattung nachweisen lassen. Natürlich wäre es falsch, diesen Mangel auf ein generelles Internationalitätsmanko zurückzuführen. Die Vorgänge in Nordamerika verfehlten ihre Wirkung auf die süddeutsche Öffentlichkeit nicht; man konnte sich mithin ein recht detailliertes Bild von den amerikanischen Entwicklungen machen. So vermittelten die großen bayerischen Bibliotheken die gängige Amerika-Literatur aus englischer, französischer oder norddeutscher Hand.211 In der kulturellen Szene stießen die Revolutionsereignisse auf ein unmittelbares Echo. So brachte etwa der Dramatiker Josef Marius Babo 1779 eine Komödie über die deutschen Leihsoldaten im Unabhängigkeitskrieg (Das Winterquartier in Amerika) am Münchner Hoftheater zur Aufführung.212 Die bislang kaum beachteten Korrespondenzen zwischen einzelnen bayerischen Persönlichkeiten und Benjamin Franklin belegen die Regelmäßigkeit der transatlantischen Verbindungen im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts.213 Auch im Süden Deutschlands galt Franklin als Inspirator der „Liberty republican“ und als ein außerordentliches Beispiel von „Knowledges and […] Humanity“ (so etwa für den bayerischen Salinenunternehmer Joseph Utzschneider).214

211 So formuliert Greindl (Bibliothek, 208) im Hinblick auf die Amtsbibliothek der bayerischen Landstände in München, die auch eine Gesamtausgabe der Werke von Benjamin Franklin besaß. 212 Vgl. Babo, Winterquartier. Zu Babo vgl. Schaich, Staat, 198-200, 452-454; Wimmer, Geschichtsdramen. 213 Die Briefe wurden meist von Persönlichkeiten verfasst, die dem Illuminatenorden nahestanden und im zeitlichen Umkreis des Unabhängigkeitskriegs mit Franklin in Kontakt traten. Häuſg handelt es sich um Stellengesuche in den USA. Vgl. dazu sehr knapp Dippel, American Revolution, 222 (Anm. 68). Vgl. im Einzelnen zu den Briefpartnern: APSL Franklin Papers LX, 105 (Johann Georg von Grünberger an Franklin, 1778 V 4) [Regest in: Papers of Benjamin Franklin 26, 43]; LX, 52 (F.J. an Franklin, 1778 XII 14) [Regest in: Papers of Benjamin Franklin 28, 267f. (Anm. 6 )]; XIII, 227 (Von Forstner an Franklin, 1779 III 28) [Regest in: Papers of Benjamin Franklin 29, 34]; XX, 63 (Von Kemtenstrauss u.a. an Franklin, 1780 V 9); XX, 63 (ders. an Franklin, 1780 XI 5). 214 APSL Franklin Papers XXVIII, 22 (Joseph von Utzschneider an Franklin, 1783 IV 10) [Abdruck in: Victory, Franklin, 137]. Utzschneider versuchte bis 1816 mehrfach, in den USA geschäftlich Fuß zu fassen: APSL American Philosophical Society Archives (ders. an die American Philosophical Society, 1816 IX 17); Broadside Collection, Nrr. 362f. Dazu ADB 39 (1895) 420-440 (s.v. Utzschneider, Joseph); Sang, Utzschneider.

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Wenn also im Süddeutschland des Aufklärungszeitalters überseeische Kontakte häuſg zu Stande kamen, sich aber keine eigenständige Amerikakunde entfalten konnte, ist nach den Alternativen zu fragen: Auf welcher Ebene entfaltete sich der geograſsche Diskurs über den amerikanischen Kontinent? Die Antwort ist ebenso einfach wie naheliegend: Man setzte einfach weiterhin auf die seit dem 17. Jahrhundert praktizierten Methoden. Die traditionelle Universalgeograſe beherrschte die Rezeption. Mehr noch: Gerade die von der katholischen Aufklärung nachhaltig forcierte Didaktisierung der wissenschaftlichen Erkenntnis im Dienst einer breitenwirksamen Pädagogik am „gemeinen Mann“ begünstigte nicht nur diese Kontinuitäten, sondern sie verhalf dem universalgeograſschen Genus sogar zu neuer Konjunktur.215 Dennoch dürfen diese offenkundigen Traditionslinien nicht über die Umbrüche des ausgehenden 18. Jahrhunderts hinwegtäuschen. Zwar blieb der Gattungsrahmen erhalten. Die Träger des globalgeograſschen Wissenstransfers aber wandelten sich in tiefgreifender Weise. An die Stelle der für den süddeutschen Amerika-Diskurs besonders bedeutsamen Jesuiten traten andere Vermittlungsinstanzen. Diese konnten sich nicht mehr auf die internationalen Kommunikationsnetzwerke des Ordens stützen. Speziell für die Entwicklung der Amerika-Wahrnehmungen in der kurbayerischen Wissenschaftslandschaft ist daher die Aufhebung der Societas Jesu im Jahr 1773 gar nicht zu überschätzen. Mit der Auƀösung des Ordens ſelen gut eingespielte Infrastrukturen für globale Informationskompetenz weg.216 Für die süddeutsch-katholische Aufklärung lassen sich deshalb nur zwei Kreise benennen, die sich intensiver mit der Neuen Welt auseinandersetzten: die Benediktinerprofessoren an der Universität Salzburg und die Intellektuellen der Akademie der Wissenschaften in München. In Salzburg dominierte eine Sonderform der monastischen Gelehrsamkeit, die stark von spätaufklärerischen Tendenzen bestimmt wurde. Die Münchner Akademiegelehrten repräsentierten ein laizistisches Wissenschaftsverständnis, das teilweise antiklerikal, in jedem Fall jedoch radikal antijesuitisch eingefärbt war.217 Diese Gegebenheiten wirkten sich nachhaltig auf den amerikakundlichen Diskurs aus. Exemplarisch geben sich die Positionen von Reformkatholizismus und Akademieaufklärung in den Texten des Salzburger Benediktinerprofessors Raphael Kleinsorg und des Münchner Akademiesekretärs Lorenz Westenrieder zu erkennen. Ihren Werken muss daher ein besonderer Stellenwert zukommen. Bei Kleinsorg und Westenrieder steht die Geograſe vor einem tiefgreifenden Paradigmawechsel: Beide lösten das geograſsche Denken aus seiner 215 Vgl. Benz, Landesgeschichte. 216 Insgesamt zu den Folgen der Jesuitenaufhebung für das Bildungswesen vgl. Wi. Müller, Auswirkungen, 711f. 217 Für Salzburg vgl. Hammermayer, Erzstift Salzburg; Keck, Aufklärungspädagogik. Für München vgl. Hammermayer, Geschichte I, 237-265.

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ontologischen Verankerung. Anders als noch die Jesuiten und Pietisten verlor die Weltbeschreibung ihre unmittelbare Verweisfunktion für das Göttliche. Das Buch der Natur hat als Zeugnis des Schöpfungsplans ausgedient, auch wenn beide Autoren – darin eine Grundüberzeugung der katholischen Aufklärung assimilierend – an der prinzipiell religiösen Orientierung allen Wissens festhielten. Dies gilt insbesondere für Kleinsorg. Wie der Benediktiner in seinem Abriß der Geographie ausführt, kann er sich das menschliche Glück nicht ohne den Glauben an den einen Gott vorstellen. Gerade in der Religion liegt für ihn ein unverrückbarer moralischer Maßstab, mit dessen Hilfe sich die Entwicklungen des europäischen Expansionszeitalters bewerten lassen. Dabei stellt sich die historische Bilanz in düsteren Farben dar. Sie erscheint als Geschichte der „beschränkte[n] Mensch[en]“, die entweder als „tollkühne Weltstürmer“ oder als „barbarische Schwärmer auf feindlichen Zügen“ und blöde Despotenknechte […] unermeßlich grosse Erdstriche auffanden; aber das Geheimniß, durch Religion und Aufklärung Völker mit Völkern zu verbinden, und von Erweiterung der Erdkunde wahren Nutzen zu ziehen, so schlecht verstanden, daß sie auf Scheiterhaufen den Glauben an einen Gott der Liebe, die Abschwörung der Menschenrechte und die Anzeige verborgener Schätze erzwingen wollten.218

Indes resigniert Kleinsorg nicht vor der Ambivalenz der menschlichen Natur. Der Missbrauch geograſscher Erkenntnisse für falsche, etwa menschenrechtswidrige Praktiken kann nicht das Vertrauen in die positive Substanz der Wissenschaft zerstören. Vielmehr müssen die Fehler der Vergangenheit Anlass zu konsequenter Erneuerung sein. So könne die Geograſe aus dem „Reich der Unwissenheit, des Unsinns, der Barbarey und des Fanatismus“ herausführen. In richtiger Wendung – und damit wäre ein weiterer charakteristischer Perspektivenwechsel gegenüber älteren Zielmodellen vorgenommen – soll sie „den Weg zur dauerhaften Gründung einer einzigen, durch gleiche Absichten und Vortheile verbundenen“ Weltgesellschaft bahnen. Das Glück der Menschheitsfamilie, gegründet auf der unablässigen Bemühung um geograſsche (und historische) Bildung, beherrscht die Überlegungen des Salzburger Gelehrten.219 Im Vergleich zu der euphorischen Fortschrittsrhetorik des Benediktiners gibt sich Westenrieder in seiner Erdbeschreibung für die churbaierischen Realschulen (1776) zwar wesentlich nüchterner. Doch wird die Idee, dass Wissen Tugendhaftigkeit vermitteln kann, ebenfalls deutlich artikuliert. Auch der Münchner Intellektuelle fasst den Nutzen der wissenschaftlichen „Denkungsart“ in unmittelbar auf das Menschenglück ausgerichteter Weise auf.220 So beziehe die geograſsche Erkenntnis ihren Gehalt nicht nur aus dem kognitiven Mehrwert. Allein auf das enumerative Erfassen der Wissensobjekte zu 218 Kleinsorg, Abriß I (1797), Vorrede, 2rv. 219 Alle Zitate Kleinsorg, Abriß I (1797), Vorrede, 2v. 220 Vgl. Westenrieder, Erdbeschreibung für die Realschulen I, Vorbericht, 6.

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setzen, käme einem Akt akademischer Pedanterie gleich. Vielmehr erfülle sich die Aufgabe der Geograſe in der rechten Herzensformung. Indem die Erdbeschreibung auf die Vielfalt der menschlichen „Lebensart, ihrer Sitten, ihrer Gewohnheiten und Vortheile“ aufmerksam mache, könne sie den bildungswilligen Bürger dazu bringen, „von aller Welt billig und liebvoll zu denken“221. Der Umgang mit geograſschen Sachverhalten soll den Sinn dafür stärken, dass die Menschen „alle von einer Art“ seien: Alle Völker hätten „das nämliche zum Entzweck, den Verstand aufzuklären, das Herz zu bessern, und den Menschen glücklich zu machen“222. Im Gegensatz zu Kleinsorg, der seine Leser als „Weltbürger“ anspricht223, hat Westenrieder vor allem den (kur-) bayerischen Staatsangehörigen im Blick. Bereits der Entstehungsrahmen der Erdbeschreibung von 1776 deutet auf diese Adressatenbezüge hin. So verfasste der Gelehrte sein Werk im Auftrag des kurfürstlichen Schuldirektoriums als Lehrkompendium für den Geograſeunterricht an Realschulen und Gymnasien. Das Lehrbuch ist in den historischen Kontext der territorialstaatlichen Aufklärung eingebettet. Deren Ziel bestand darin, durch die Verbreitung von geograſschen (und historischen) Kenntnissen das Landesbewusstsein zu heben und die Loyalitätsbindungen an die regierende Dynastie zu stärken.224 Für die Amerika-Rezeption ist damit eine ganz neue Konstellation gegeben, vor allem gegenüber den Bedingungen des frühen 18. Jahrhunderts: Fand hier die Neue Welt einerseits als „Errungenschaft“ der europäischen Wissensexpansion, andererseits als Kernproblem der wissenschaftstheoretischen Reƀexion von vornherein große Aufmerksamkeit (bei den Jesuiten), so hat sich nun das Interessengefüge grundsätzlich verschoben: Das Amerika-Thema war nun in den umfassenden Betrachtungsrahmen der globalen Menschheitsgeschichte und ihrer universalen Emanzipationsprozesse eingebunden. Überdies musste es sich unter dem Vorzeichen der kulturellen Hegemonieansprüche des absolutistischen Territorialstaats gegen die Konkurrenz der regionalen Binnenperspektive behaupten.225 Die Frage nach der begrifƀichen und räumlichen Kategorisierung der amerikanischen Phänomene stellte sich daher in der katholischen Aufklärung mit ganz neuer Brisanz. 221 222 223 224

Westenrieder, Erdbeschreibung für die Realschulen I, Vorbericht, 8f. Westenrieder, Erdbeschreibung für die Realschulen I, Vorbericht, 47f. Kleinsorg, Abriß I (1797), Vorrede, 3r. Vgl. ähnlich Westenrieder, Erdbeschreibung der baierisch-pfälzischen Staaten, Vorerinnerung, VI. Vgl. auch Haefs, Westenrieder, 86-95; A. Kraus, Frühzeit, 32-49; M. Wittmann, Schulbuchautor. 225 Vgl. dazu auch die Einschätzung bei Westenrieder, Erdbeschreibung der pfälzisch-baierischen Staaten, Vorerinnerung, III: „Um einigen Schülern […] eine beschwerliche, und unnützliche Mühe, welche sie auf die erlernung, größthentheils entbehrlicher Dinge wenden müßten, zu ersparen, habe ich die Beschreibung von Amerika, Asien ec. so kurz, als möglich, zusammengezogen.“

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Benediktinische Revolutionseuphorie Wenn man das Werk von Kleinsorg näher in Augenschein nimmt, dann fällt zunächst einmal das nachhaltig eurozentrische Wirklichkeitsverständnis auf. Die große Menschheitsgeschichte spielt sich primär in Europa ab. Weder die Kritik an den Fehlgriffen des europäischen Kolonialismus noch die Einsicht, dass (Nord-)Amerika „für uns Europäer“ zu einem „höchst wichtige[n] Erdtheil“ geworden ist, vermag den Glauben des Aufklärers an die Führungsrolle der Alten Welt zu erschüttern.226 Kleinsorg bemüht zwar nicht mehr das Argument der zivilisatorischen oder kulturellen Überlegenheit der europäischen Welt. Im Rahmen der Wissensanordnung aber bleibt deren Bedeutungsvorsprung gewahrt. Ein Blick auf das Kapitelarrangement und die Textquantitäten kann diese Beobachtungen erhärten. In der dritten, 1797 erschienenen Auƀage seines Geographischen Abrisses behandelt Kleinsorg zuerst die europäischen Länder. Dann nimmt er, in der üblichen Reihenfolge, Asien, Afrika, Amerika und – als neuen, fünften Weltteil – Australien durch. Zwar kann Europa nur noch knapp 60% des Seitenumfangs beanspruchen, während sich mehr als ein Fünftel des Texts auf Asien, Afrika und Australien bezieht. Gleichwohl relativieren sich diese Proportionen, wenn man bedenkt, dass rund 10% der Weltbeschreibung für die Geograſe des Erzstifts Salzburg reserviert sind. Das gleiche Quantum entfällt auf das amerikanische Thema.227 Das amerikanische Phänomen ist also nicht markanter hervorgehoben als im Barock. Im Vergleich zu den Jesuiten sind die amerikanischen Belange sogar deutlich schwächer repräsentiert. Zumindest in quantitativer Hinsicht führte die Perspektive der aufklärerischen Menschheitsgeograſe kaum zu einer stärkeren Sensibilität für das amerikanische Thema. Selbstverständlich ist mit diesem Befund lediglich eine Teiltendenz ermittelt. Weitere Betrachtungen müssen der thematischen und begrifƀichen Kodierung gelten. Am besten eignet sich dafür die dritte Auƀage des Geographischen Abrisses von 1797. Die früheren Auƀagen des Lehrbuchs (1782, 1787) registrieren zwar mit wachsender Intensität die einzelnen Schritte der US-amerikanischen Staatswerdung228, weshalb sie auch ein wichtiger Beleg für die rasche Rezeption der zeitgeschichtlichen Umwälzungen nach 1776 sind. Deren Folgewirkungen treten jedoch erst in der dritten Werkfassung in ihrer ganzen Tragweite hervor. Kleinsorg rückt hier die Revolution in das Zentrum seiner Darstellung. Die Entstehung und Verbreitung von republikanischen Staatswesen („vereinigten Staaten“), angefangen bei den Schweizer Kantonen über die niederländischen Generalstaaten bis hin zu den „Nordame226 Kleinsorg, Abriß II (1797), 727. 227 Vgl. Kleinsorg, Abriß I (1797), 97-554 (Europa), II (1797), 555-672 (Asien), 673-726 (Afrika), 727-802 (Amerika), 803-820 (Australien). Der Text über Salzburg ist dem zweiten Band mit eigener Paginierung beigebunden (3-80). 228 Vgl. Kleinsorg, Abriß (1787), 669.

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rikanischen Freystaaten“ – diese revolutionstheoretische Figur gibt seinen Betrachtungen eine teleologische Konsequenz.229 In der Anordnung der Gegenstände spiegelt sie sich wider. Gewiss berücksichtigt der Geographische Abriß sämtliche Wissensbereiche seiner Disziplin. Weder die mathematischen noch die physischen Aspekte kommen zu kurz. Gleichwohl betont der Benediktiner jene Faktoren, die detailliert die „bürgerlichen Beschaffenheit[en] der Erde“230, die historische Logik der revolutionären Bewegung, im Fall von Nordamerika „den heißen Kampf für Freyheit wider das furchtbare Großbritannien“231, erklären können. Dazu gehören vor allem die Schlüsselkriterien der politischen Geograſe – für Kleinsorg einerseits die religiöse und staatsrechtliche Verfassung, andererseits der Verlauf der Grenzen, die Entwicklungen in Handel und Staatshaushalt, außerdem ideelle Standortfaktoren wie Gelehrsamkeit und Tugendhaftigkeit des jeweiligen Gemeinwesens.232 Für sich genommen, ist keines dieser Kriterien neuartig. Neu ist jedoch der kompositorische Satz, in dem diese Elemente zum Zweck der emanzipationsgeschichtlichen Analyse zusammenspielen. Sie fügen sich zu einem Deskriptionsmodus zusammen, mit dessen Hilfe die Dynamiken der globalen Aufklärung beschrieben werden können: Es gehe darum, die „Freyheit“ in ihrem geograſsch messbaren Fortschritt zu dokumentieren.233 Die Ausrichtung am Emanzipationsideal wirkt sich auch stark auf die religionstopograſschen Projektionen aus. Am deutlichsten zeigt sich diese Neubewertung in der veränderten Wahrnehmung der kirchlichen Institutionalität. Das Vordringen der römischen Hierarchie als Gradmesser des zivilisations-, kultur- und missionsgeschichtlichen Fortschritts – auf diese für die katholische Barockgelehrsamkeit so charakteristische Kategorie verzichtet der Aufklärer aus Salzburg. Hinweise zur kirchlichen Organisation (Bistümer, Ordensprovinzen, Wallfahrtsziele) sucht man vergeblich.234 Im Fall von Nordamerika erfährt der Leser nichts über die sich nach der Staatsgründung der USA erheblich beschleunigenden Prozesse der Gemeindebildung. Weder geht der Autor auf die Errichtung des katholischen Bistums Baltimore unmittelbar nach der Revolution (1789) ein235, noch berichtet er über die vielfältigen Entwicklungen im Protestantismus. Indes ist Nordamerika für Kleinsorg keine religiöse Leerstelle. Gegen die kirchenrechtlich inspirierten Differenzierungen der älteren Universalgeograſe führt er eine neue Kategorie ein, 229 230 231 232 233

Kleinsorg, Abriß I (1797), 84. Kleinsorg, Abriß I (1797), 73. Kleinsorg, Abriß II (1797), 748. Vgl. Kleinsorg, Abriß I (1797), 73. Vgl. Kleinsorg, Abriß II (1797), 748. Zu den prorevolutionären Stimmungslagen im Salzburg der katholischen Aufklärung (insbesondere im Blick auf die Französische Revolution) vgl. Brandl, Schrifttum, 88-94. 234 Mit Ausnahme von Mexiko, Brasilien, Peru und Quebec. 235 Vgl. Spalding, Premier See, 28-65.

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nämlich das Kriterium der allgemeinen, nicht mehr konfessionell oder christlich verstandenen Religiosität. Allenfalls in der Frage des mono- oder polytheistischen Gottesbilds lassen sich die einzelnen Religionsgruppen voneinander unterscheiden oder von den „kühnsten Freydenker[n]“ als einer dritten Gruppierung methodisch abheben. Mit Blick auf die Verhältnisse in den jungen USA kann Kleinsorg daher festhalten: Der „Nordamerikanische Freystaat“ ist der „Hauptsitz aller dieser Religionspartheyen“. Ähnliche Gegebenheiten kennzeichneten die religiösen Mentalitäten in den „Besitzungen der Britten“ und „Fränkischen Kolonien“.236 Angesichts der auch dort vorherrschenden Synkretismen und Pluralismen haben sich für den Professor die Kategorien der konfessionstopograſschen Zuordnung überlebt. Die ihnen ursprünglich zu Grunde liegenden Identitäten hätten sich in einer amerikanischen Gesamtreligion aufgelöst. Die Überzeugung, dass in Nordamerika ein neues Kapitel der Menschheitsgeschichte aufgeschlagen sei, bestimmt schließlich den Zuschnitt der ethnograſschen und siedlungsgeograſschen Beobachtungen. Auch hier deuten sich die Umrisse einer neuartigen amerikanischen Identität an, die ältere Versuche der kategorialen Weltbewältigung als methodisch überholt erscheinen lassen muss. In den Diskursen über die Indigenen und die deutschen Auswanderer treten diese Tendenzen besonders markant zu Tage. Zunächst zu den Indianern: Erfreuten sich die Eingeborenen in der Geograſe des frühen 18. Jahrhunderts noch eines ausführlichen Interesses, so taucht das Thema bei Kleinsorg nur noch am Rande auf.237 Sicherlich geht er auf die Siedlungsräume der eingeborenen Amerikaner ein (er zählt etwa die einzelnen Völker auf). Auch erfasst er den autogenen Rechtscharakter ihrer Herrschaftsgebiete in einer Weise, die an die Semantiken des frühneuzeitlichen Völkerrechts erinnert. Der europäische Siedlerstaat der USA, die kolonialen Dominien der Spanier und Briten – sie alle könnten sich auf keine höhere Legitimität als die Gemeinwesen der Indigenen berufen.238 Überdies beklagt er die schlechte Situation der Indianer, die sich „durch die grausame und unkluge Intoleranz der Europäischen Ankömmlinge“ noch verschlimmert habe.239. Dennoch ist ein auffälliges Deſzit zu konstatieren: Die religiösen, sprachlichen und sozialen Proſle der Eingeborenen bleiben merkwürdig konturlos.240 Insbesondere gegenüber den ausgeprägt ethnograſsch angelegten Werken der Jesuiten fallen die Informationsstandards sogar markant zurück. Ein ähnlicher Eindruck ergibt sich auch für das zweite Leitthema der geograſschen Amerika-Reƀexion, nämlich für das Phänomen der deutschen Kolonialbewegung. Anders als noch bei den protestantisch-reichsstädtischen 236 237 238 239 240

Kleinsorg, Abriß II (1797), 746. Vgl. Kleinsorg, Abriß II (1797), 741-743. Vgl. Kleinsorg, Abriß II (1797), 773-778. Kleinsorg, Abriß II (1797), 742. Sehr knapp zur Sprachgeschichte vgl. Kleinsorg, Abriß II (1797), 743f.

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Protagonisten spielt dieses Problem für Kleinsorg offenkundig keinerlei Rolle mehr. Nur summarisch benennt er die Herkunfts- und Siedlungsräume der verschiedenen europäischen Kolonistengruppen. Die Deutschen und ihre Niederlassungen in Pennsylvania und Georgia stoßen auf kein größeres Echo. Kleinsorg hebt auf eine ganz andere Entwicklung ab. Er sieht eine Ära der Ethnogenese heranbrechen: Die einzelnen Völker in Amerika, die Eingeborenen nicht weniger als die europäischen Migrantenpopulationen, befänden sich längst auf dem Weg zu einer einheitlichen Staatsnation. Sie würden in einem „neuen Vaterland“ aufgehen, selbst wenn sie sich – wie Kleinsorg vor allem im Hinblick auf die Europäer vermerkt – noch in vielem „an die Sitten und die Lebensweise ihres Geburtslandes halten“241. Die Eigendynamik der zeitgeschichtlichen Entwicklung entwertet also die Vorgaben der älteren geograſschen Konzeptionen. Die Denkſguren von Fortschritt und Freiheit bringen neue Zielsetzungen ins Spiel. Die Schattenseiten dieser Rezeptionshaltung dürfen indes nicht verschwiegen werden. Das aufklärerische Paradigma verwirklicht sich häuſg auf Kosten der wissenschaftlichen Genauigkeit, womit die Sensibilität für den Eigensinn des Anderen verloren geht. Jedenfalls sind die Verluste an Wissenssubstanz unübersehbar, gleichgültig, ob es sich nun um das Kirchliche, den Ethnos oder – und das ist im Folgenden noch näher zu illustrieren – um den räumlichen Gesamtblick auf Amerika handelt. Denn auch diese Begriffsebene ist zu befragen: Was konkret versteht Kleinsorg unter „Amerika“? Obschon der Salzburger Gelehrte kurz auf die sich seit den 1760er Jahren in der Geograſe immer stärker durchsetzende Dreiteilung des Kontinents (Nord-, Mittel- und Südamerika) eingeht242, folgen die Erörterungen insgesamt dem bekannten Schema: Kleinsorg beschreibt die räumliche Gliederung des Kontinents von Norden nach Süden. Dabei differenziert er genau zwischen der Nord- und der Südhälfte.243 Der Norden selbst besteht wiederum aus zwei Teilen, dem „bekannten“ und dem „unbekannten“ Nordamerika. Das bekannte Nordamerika setzt sich aus vier Raumkörpern zusammen: den britischen Kolonialgebieten in Kanada („Gouvernement von Quebec“), Neufundland und Neuschottland, den USA, außerdem den spanischen Gebieten in Florida, Louisiana, Neu- und Altmexiko. Als vierte Gruppe stehen daneben die „Länder der Eingeborenen“. Im südamerikanischen Fall liefern die territorialen Geltungsbereiche der spanisch-portugiesischen Kolonialherrschaften einen geograſschen Ordnungsrahmen.244 241 Kleinsorg, Abriß II (1797), 741f. 242 Der Begriff des „Mittelamerikanischen“ bezieht sich ausschließlich auf das insulare Amerika im Golf von Mexiko bzw. in der Karibik (vgl. Kleinsorg, Abriß II (1797), 778783, vgl. dazu auch Depkat, Geschichte, 16-24). 243 Vgl. Kleinsorg, Abriß II (1797), 751-778 (Nordamerika), 784-802 (Südamerika). 244 Vgl. Kleinsorg, Abriß II (1797), 758-761 (Britisch-Nordamerika), 761-767 (USA), 767773 (Spanisch-Nordamerika), 773-778 (Indianergebiete), 784-793 (Spanisch-Südame-

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Von entscheidender Bedeutung ist nun die Tatsache, dass die Hauptakzente auf den nordamerikanischen Ländern liegen. Dabei ist der Fokus ganz auf die amerikanische Republik gerichtet. Das Kapitel über die USA gehört überhaupt zu den umfangreichsten im ganzen Werk des Salzburger Gelehrten. Inhaltlich bietet es eine facettenreiche Landeskunde. Hinzu kommen ein Bericht über die Revolutionsereignisse und eine Analyse der Bundes- und Länderverfassungen, verbunden mit ausführlichen verfassungstheoretischen Reƀexionen. Einer von den Zeitgenossen häuſg bemühten Analogie folgend erörtert Kleinsorg die amerikanische Verfassung im Vergleich mit den Grundordnungen der Schweiz und der niederländischen Generalstaaten.245 Die Kolonien der Briten und Spanier treten deutlich hinter die USA zurück. Die Konstellationen liegen also klar auf der Hand: Der Begriff „Nordamerika“ ist für Kleinsorg mit den „Freystaaten“ identisch. Er ist als Gegenbegriff zu Südamerika zu verstehen, und das nicht nur im Sinne einer naturgeograſschen Unterscheidung. Die Grenze zwischen Norden und Süden markiert eine tiefe kulturelle Diskrepanz: Während die Vereinigten Staaten als Exempel der Freiheit positiv gezeichnet werden, gilt die iberoamerikanische Welt als Unort des Despotismus, dem die Antriebe zu aller Aufklärung, die „Moralität“, die Neigung zu „Industrie“, die „Liebe zur Ordnung“, überhaupt „Mässigung und Humanität“, fehlten.246 Bemerkenswert ist ferner der Umstand, dass sich der Inferioritätsverdacht auch gegen Mexiko richtet247, womit eine weitere bedeutsame Verschiebung im süddeutschen Amerika-Diskurs greifbar wird: Die Demarkationslinie zwischen Fortschritt und Rückschritt verläuft nicht mehr über den Isthmus von Panama, sondern entlang den Grenzen der jungen USA. Jenseits von Georgia und Virginia – dort beginnt für Kleinsorg das Reich des spanischen Despotismus. Welche Attribute verbinden sich nun mit den USA? Kleinsorg sieht in der new republic die typischen Staats- und Gesellschaftskonzeptionen der Aufklärung verwirklicht. Auf drei Feldern zeichnet sich für den Benediktiner die künftige Führungsrolle der Vereinigten Staaten ab, nämlich im militärischen, ökonomischen und kulturellen Bereich. Zunächst zur Kriegsmacht: Die Salzrika), 793-798 (Brasilien). 245 Vgl. Kleinsorg, Abriß II (1797), 763. Zur Analogiebildung zwischen USA und Eidgenossenschaft vgl. Hutson, Sister Republics, 15-26. 246 Kleinsorg, Abriß II (1797), 788f., 793. In Peru „führen die Spanier großentheils eine sehr weichliche Lebensart […]. Noch weniger Moralität zeigt sich bey den Creolen, die Mestizen, Mulatten, Neger und eingeborenen Unterthanen sind vollends eine abergläubisches, faules und unmäßiges Gesindel: die letzten ins Besondre dienen zum Beweise, zu welcher Verwilderung ein Volk unter dem Despoten-Drucke herabsinken kann: haben sie einmal, was ihre kümmerliche Nothdurft fodert [!], so ist Trinken und Tanzen ihre einziges Geschäft: mich hungert nicht, dieß ist die Antwort, wenn man sie zur Arbeit dingen will.“ 247 Vgl. Kleinsorg, Abriß II (1797), 772: Als „herrschende Nation“ hätten sich die Spanier in Mexiko „nicht den beßten Ruf erworben“.

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burger Universalgeograſe sieht die USA langfristig in jene atlantische Hegemonialfunktionen hineinwachsen, die bis zur Revolution noch das britische Reich innehatte. Zumindest sei die Tatsache, dass die „nunmehrigen 13 Freystaaten […] den Kampf für Freyheit einige Jahre ohne auffallende fremde Hülfe, meistens bloß mit eigener Macht […] kämpfen konnten“248, ein Beweis für die militärischen Entwicklungspotenziale des neuen Staates. Im Erfolg der nordamerikanischen Siedler offenbare sich eine empſndliche Schwäche der Briten. Noch weniger als die Briten seien jedoch die Indianer und Spanier dazu in der Lage, ein Gegengewicht zu den USA aufzubauen. Den Indigenen mangele es an technologischen Kompetenzen. Geradewegs aus dem Zeitalter der „Streithammer und Pfeile“ in die Gegenwart von Kanone und Schießgewehr katapultiert, bildeten sie keine kohärente Macht, die es mit den Vereinigten Staaten aufnehmen könne. Den Spaniern fehle es „an Betriebsamkeit und Industrie“, um ihre Interessen angemessen zur Geltung zu bringen.249 So zeige sich im Vorgehen der US-Amerikaner ein überlegenes Maß an militärischer Organisationsfähigkeit, das sowohl die Kapazitäten der europäischen Führungsmächte übersteige als auch das atavistische Kriegswesen der Indigenen weit hinter sich lasse. Zweitens: Das Problem der mächtepolitischen Verschiebungen sei eng mit den ökonomischen Verhältnissen verbunden. Zwar hätten die Spanier, Portugiesen und Engländer nach wie vor Anteil am transatlantischen Warenaustausch. Doch auch hier bahnen sich für Kleinsorg tiefe Veränderungen an: Die Vereinigten Staaten gewännen an Bedeutung, während die Briten in Amerika ihre „schönsten und blühendsten Kolonien“ verloren hätten. Welche „unermeßliche[n] Schätze“ sie künftig „entbehren müssen“, versucht der Benediktiner mit einer detaillierten Aufzählung der Exportgüter zu belegen.250 Konsequent wird das nationalökonomische Argument eingesetzt, um die Verlagerungsprozesse im atlantischen Raum, die Aufstiegsdynamik der USA und den Niedergang Großbritanniens, zu illustrieren. Im Kultur-Diskurs schließt sich der Kreis: Auch hier übernähmen die Vereinigten Staaten eine Vorreiterrolle. Dabei variiert der Salzburger Aufklärer die alte Vorstellung der translatio studii. Die Künste und Wissenschaften würden – ihrer Wanderungsbewegung von Asien nach Europa folgend – zuletzt Amerika erreichen. Obschon die Neue Welt – wie der Gelehrte in zeittypischer Anthropologie festhält – „bey der Europäer Ankunft“ dem „Zustand der Menschen in der Kindheit der Welt“ ähnlich gewesen sei, werde sie als „Sitz von Gelehrsamkeit, Macht und Grösse“ ihre älteren Vorläufer übertreffen. Vor allem die angelsächsisch dominierte USA – und nicht etwa die spanischen Kolonien, die an „wahre[r] Gelehrsamkeit noch wenig gewonnen“ 248 Kleinsorg, Abriß (1787), 658. 249 Kleinsorg, Abriß (1787), 657f. 250 Alle Zitate Kleinsorg, Abriß (1787).

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hätten – werde sich zum Zentrum einer erneuerten Antike entwickeln. Dort sieht Kleinsorg Institutionen und Städte entstehen, „so gelehrt, als Athen, so prächtig, als Rom und Palmyra“251. Realgeschichtlich bezieht sich der Benediktiner auf die Universitäten und Bibliotheken von Philadelphia, Boston, Williamsburg und Cambridge (Harvard) sowie auf die Druckereien und Zeitungsverlage in New York.252 Die Beobachtungen verdichten sich zu einem Idealbild der angloamerikanischen Kulturlandschaft. Die Maßstäbe sind aus dem neohumanistischen Bildungsbegriff abgeleitet. Auch wenn deren Repräsentanten nicht ausdrücklich benannt werden, nimmt Kleinsorg, vermittelt durch seine Gewährsleute aus der norddeutschen Staatenkunde (Gatterer, Schlözer), offensichtlich Basisvorstellungen der amerikanischen Aufklärung auf.253 Insbesondere in der Gleichsetzung von amerikanischer Republik und antik wiederbelebter Gelehrsamkeit spiegeln sich Argumentationsstrategien wider, wie sie für den „klassischen Diskurs“ in den jungen USA nicht charakteristischer sein könnten.254 So hat die Geograſe des Salzburger Professors als besonders frühes Beispiel für die Rezeption solcher Assoziationskomplexe zu gelten. Auf markante Weise stellt sie den unmittelbaren Zusammenhang zwischen der USamerikanischen Staatengründung und dem allgemeinen Kulturfortschritt im Zeichen einer neoantiken Wende heraus. Ihre Stoßrichtung ist politisch auf die Vereinigten Staaten als Verwirklichungsraum der Humanität bezogen. Die Prozesse von Nordamerikanisierung und Säkularisierung durchziehen den Text in geradezu musterhafter Weise. Die Gelehrsamkeit ſndet – gleichsam als säkularisierte Heilschiffre – ihr Ziel in den Vereinigten Staaten, und zwar als Verkörperung des sich in der westlichen Welt kondensierenden menschlichen Fortschritts. „Monumente edler Seelen“ Obgleich Westenrieder als Zeitgenosse der amerikanischen Revolutionsereignisse über die Neue Welt schrieb, ſel sein Echo auf diese Umwälzungen bemerkenswert schwach aus: Dass die tiefgreifenden Veränderungen in Amerika in der 1776 veröffentlichten Erdbeschreibung für die churbaierischen Realschulen auf keinerlei Resonanz stießen, lässt sich noch mit dem vergleichsweise frühen Zeitpunkt der Publikation (im Jahr der Unabhängigkeitserklärung) erklären. Dass Westenrieder jedoch dann in seiner 1784 publizier251 Kleinsorg, Abriß (1787), 660. Zur Idee der translatio studii in der amerikanischen Aufklärung vgl. Kilian, New Wine, 144f. 252 Vgl. Kleinsorg, Abriß (1787), 660. 253 Zu den Rückbezügen auf die Göttinger Aufklärung vgl. Kleinsorg, Abriß I (1797), Vorrede, 3v. 254 Vgl. Hannemann, Antike, 41-45; Schild, Res Publica Americana.

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ten Universalgeograſe die staatliche Unabhängigkeit als Faktum kurz notierte255, aus dieser Verschiebung des amerikanischen Raumgefüges aber keine weiteren Konsequenzen ableitete – diese Beobachtung muss gleichwohl zu denken geben. Im Unterschied zu seinem Salzburger Kollegen Kleinsorg maß der Münchner Gelehrte den amerikanischen Entwicklungen am Ende des 18. Jahrhunderts offenbar keine größere Bedeutung bei. Für Westenrieder präsentierte sich die Neue Welt um 1784 nach wie vor als Schauplatz europäischer Kolonialpolitik, die den Einheimischen als den „rechtmäßigen Herren“ einst das Landesregiment „durch Gewalt“ entrissen habe und nun ihrerseits den Machtverlust durch Revolution und Rebellion befürchten müsse. Als Beispiel für eine solche historische Dialektik von Aufstieg und Niedergang deutet er die Erhebung der „engländische[n] Küstenländer“, die das britische „Mutterland“ zu verdrängen versuchten.256 Indes schien Westenrieder von dem dauerhaften Erfolg der Insurgenten nicht recht überzeugt gewesen zu sein. Denn wie anders lässt sich die Tatsache erklären, dass der Autor zwar einerseits korrekt die einzelnen Mitgliedsstaaten der USA aufzählt, andererseits aber den Unionsstaat Carolina zum britischen Kolonialbesitz rechnet?257 Wenn also die revolutionären Gegebenheiten keine Anhaltspunkte für die Erfassung und Deutung des amerikanischen Raums bereitstellen konnten – Westenrieder bezog damit eine Gegenposition zu Kleinsorg –, dann ist nach den Alternativen zu fragen: Welche Faktoren bestimmten seine Vorstellung von der Neuen Welt? Vor allem das Kompendium von 1776 befasst sich ausführlich mit Amerika. Im quantitativen Proſl schneidet das Lehrwerk nicht schlecht ab. Auch wenn die Geograſe von Bayern eindeutig dominiert258, ist der amerikanische Kontinent doch gut vertreten. Insbesondere im direkten Vergleich mit den anderen Weltteilen fällt die amerikanische Vorzugsstellung ins Auge: Auf Afrika entfallen mehr als 10% des Textumfangs. Für Asien liegt der entsprechende Wert bei 16%, für Amerika hingegen bei fast 24%.259 Auch die binnenkontinentalen Wahrnehmungskonstellationen lassen sich in Daten ausdrücken: Das Amerika-Kapitel der Erdbeschreibung von 1776 umfasst 52 Seiten. Davon entfällt rund ein Drittel auf Nordamerika; zwei Drittel beziehen sich auf Südamerika.260 Damit wird eine weitere Dimension im geograſschen Entwurf des Aufklärers sichtbar: So wie das Revolutionsereignis von Westenrieder kaum thematisiert wurde, so schien das Bewusstsein für 255 256 257 258 259

Vgl. Westenrieder, Erdbeschreibung der baierisch-pfälzischen Staaten, 92f. Westenrieder, Erdbeschreibung der baierisch-pfälzischen Staaten, 92. Vgl. Westenrieder, Erdbeschreibung der baierisch-pfälzischen Staaten, 85, 92f. Vgl. Westenrieder, Erdbeschreibung für die Realschulen I, 52-159. Vgl. Westenrieder, Erdbeschreibung für die Realschulen II, 5-40 (Asien), 41-66 (Afrika), 67-119 (Amerika). Ähnlich ders., Erdbeschreibung der baierisch-pfälzischen Staaten, 65-76 (Asien), 76-83 (Afrika), 83-95 (Amerika). 260 Vgl. Westenrieder, Erdbeschreibung für die Realschulen II, 71-88 (Nordamerika), 88119 (Südamerika).

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Angloamerika nur schwach entwickelt zu sein. Westenrieders Interessenschwerpunkt lag eindeutig auf den spanischen und portugiesischen Kolonien. Damit begab sich der Akademiegelehrte in einen auffälligen Gegensatz zur Grundtendenz der protestantischen oder reformkatholischen Landesbeschreibung des 18. Jahrhunderts. Diese ging von einem rapiden Bedeutungszuwachs des englischen Nordens und von einem markanten Gewichtsverlust des spanischen Südens aus. Daran zeigt sich, dass die Nordverschiebung der Rezeptionsachsen auf die britischen Kolonien und von dort auf die Republik der amerikanischen Revolutionäre kein Selbstläufer war. Bei Westenrieder, einem Autor, der die Lehrinhalte im kurbayerischen Schulwesen nachhaltig prägte, wurden vielmehr hispanophile Züge wirksam. Diese prononciert spanische Färbung seines Amerika-Bildes war in speziſschen Denktraditionen des kurbayerischen Raums verankert. Leider verzichtete er auf den Nachweis seiner wissenschaftlichen Quellen. Aber man kann vermuten, dass er an das einƀussreiche Werk des bayerischen Benediktinergelehrten Anselm Desing anknüpfte. Desing verfocht die Idee von der kulturellen Suprematie des spanischen Amerika besonders nachdrücklich.261 Wie ist der konkrete Sachgehalt von Westenrieders Werk zu bewerten? Welche Informationen über Amerika konnte der Leser mitnehmen? Von vornherein ist festzuhalten, dass Westenrieder nur Konventionelles bot. Ohne Rücksicht auf die empirischen Erkenntnisfortschritte seines Zeitalters schrieb der Aufklärer den Kenntnisstand des späten 17. Jahrhunderts aus. Oft konnte er noch nicht einmal mit diesen bereits in den 1780er Jahren veralteten Standards mithalten: Beispielsweise schlägt er Virginia, Maryland und Pennsylvania Kanada zu.262 Kalifornien ist für ihn „ein noch ziemlich unbekanntes Land“263, obwohl auch in Süddeutschland aufgrund der von den Jesuiten intensiv betriebenen Forschung zum nordamerikanischen Westen weitaus differenziertere Informationen zur Verfügung gestanden hätten. Zudem erstrecken sich die Beobachtungen ausschließlich auf den Naturraum. Zur politischen und territorialen Ordnung des amerikanischen Raums ſnden sich kaum Anhaltspunkte. Westenrieder beschränkt sich auf Kursorisches. Aufgezählt werden die Kolonien der Briten und Spanier; daneben erwähnt er die indigenen Herrschaften, ohne jedoch deren geograſsche Konturen näher herauszuarbeiten. Gleiches gilt für die Topograſe. Die Ausführungen reichen nicht über leicht Einprägsames hinaus. Westenrieder listet die Hauptsiedlungen der einzelnen Regionen auf. Die Ortsbeschreibung skizziert nur knapp einzelne administrative oder ökonomische Funktionen. Im Fall von Philadelphia begnügt sie sich etwa mit dem Hinweis auf den dortigen Überseehafen. Ähnliches lässt 261 Zum Verhältnis von Westenrieder und Desing vgl. Haefs, Westenrieder, 88; zu Desing vgl. Kapitel 19. 262 Vgl. Westenrieder, Erdbeschreibung für die Realschulen II, 71-81. 263 Westenrieder, Erdbeschreibung für die Realschulen II, 82. Vgl. ähnlich ders., Erdbeschreibung der baierisch-pfälzischen Staaten, 86.

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sich für New York und Boston beobachten. Auf die Harvard-University bei Cambridge in Massachusetts geht der Autor nur sehr knapp ein.264 Eine ausführlichere Reminiszenz ist ihm jedoch die Auswanderung der Salzburger wert. Ferner erwähnt er in seiner Erdbeschreibung die Emigrantenkolonie Eben-Ezer.265 Den wissenschaftlichen Gehalt der Erdbeschreibung wird man kaum als hoch einstufen können. Das Werk orientiert sich strikt an den didaktischen Verwendungsintentionen eines Schulbuchs. Westenrieder präsentiert Wissenskondensate, die sich an einen schulischen Adressatenkreis richten. Der Aufklärer bereitete dabei lediglich das auf, was er für das gesellschaftliche und beruƀiche Vorankommen, für das landesbürgerliche Bildungsproſl im sozialen Milieu des süddeutschen Territorialstaats der Spätaufklärung für nützlich hielt. Wie am Beispiel von Eben-Ezer zu erkennen ist, bestimmten vor allem die Bezüge zur eigenen National- und Regionalgeschichte den Tenor der Amerika-Wahrnehmung und so wurden auch in der Erdbeschreibung in erster Linie die Verbindungen der amerikanischen Gegenwart mit der deutschen Vergangenheit hervorgehoben. Aus dieser „nationalen“ Sichtweise näherte sich Westenrieder dem protestantischen Standpunkt an. Spätestens an dieser Stelle ist nach den umfassenderen Perspektiven zu fragen. Immerhin weist der Münchner Gelehrte der geograſschen Bildung einen besonderen Erkenntnisauftrag zu. Diese solle Einsichten in humanitäre Grundzusammenhänge fördern und das Bewusstsein für die Gemeinschaft aller Menschen schärfen. Wie fügen sich daher die verschiedenen geograſschen Realien zu einem Gesamtporträt der Neuen Welt zusammen? Westenrieder greift in seinem Werk auf ein klassisches rhetorisches Mittel der frühneuzeitlichen Geograſe zurück. Er baut die wissenschaftliche Darstellung in den ſktionalen Reisebericht eines Ich-Erzählers ein, zum einen, um einen höheren didaktischen Effekt zu erzielen, zum anderen, um hier jene Lebenslehren unterzubringen, die den Kern aller menschlichen Bildungsanstrengungen ausmachen (Güte, Toleranz, Herzenswärme).266 Als besonders effektvoll erweist sich der Umstand, dass Westenrieder die ſktive Reise seines anonymen IchErzählers in München, also in einem lokalen Lebensumfeld, beginnen lässt.267 In einer langen Kette von Einzelkorrespondenzen nach Hause berichtet der Erzähler von seinen Reiseerlebnissen aus Europa, Afrika, Asien und Amerika. Besonderen Wert legt er dabei auf seine Begegnungen mit moralisch vorbildhaften Menschen. Im Mittelpunkt des Berichts stehen diese Persönlichkeiten als „Monumente edler Seelen“. Durch deren Betrachtung soll der Leser in empſndsame Bewegung und damit in einen Prozess der universalmenschlichen Aufklärung versetzt werden. Hingegen erwartet Westenrieder 264 265 266 267

Vgl. Westenrieder, Erdbeschreibung für die Realschulen II, 75. Vgl. Westenrieder, Erdbeschreibung für die Realschulen II, 81. Vgl. Haefs, Westenrieder, 87f. Vgl. Westenrieder, Erdbeschreibung für die Realschulen I, 53; Haefs, Westenrieder, 88.

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von der Aufbereitung trockener Daten – er spricht in diesem Zusammenhang von „Trümer[n]“ – keine humanisierende Wirkung.268 Die Erdbeschreibung versteht sich somit als „Topograſe der Tugend“, in der die geograſschen Gegenstände nur noch als Assoziationshilfen für moralische exempla fungieren. Der empirische Begriff der Welt weicht einem utopischen Raumideal.269 Vor diesem ideengeschichtlichen Hintergrund gewinnt die Frage nach dem speziſschen Proſl des Amerikanischen neue Relevanz: Welche Monumente edler Seelen hat der vierte Kontinent aufzubieten? Wie bestimmt sich das Verhältnis zwischen Amerika und Europa, gerade unter den Aspekten des Zivilisatorischen und Moralischen? Im Kern zeichnen sich drei große Diskursbereiche ab. Sie beziehen sich mit der ethnischen, natur- und bildungsräumlichen Ebene auf typische Horizonte des zeitgenössischen erdkundlichen Denkens. Dass dabei das kirchliche Moment völlig ausgespart bleibt, zeigt den säkularisierten Zuschnitt der Amerika-Vorstellungen. Die bürgerlichen Werte von Herzensgüte und Empſndsamkeit haben die Sensibilität für die religiösen Verfassungszustände der Menschheit vollständig verdrängt.270 Zunächst zum ethnischen Gefüge des Kontinents. In den Augen des ſktiven Reisenden hebt sich Amerika als Exempel der Völkervielfalt positiv von den Verhältnissen in der übrigen Welt ab. So berichtet der Ich-Erzähler von den Impressionen seiner Schiffspassage in die Neue Welt. Er betont das Erlebnis gelungener menschlicher Gemeinschaft, das sich hier auf engstem Raum eingestellt habe, trotz der ihn zuerst verstörenden Tatsache, dass auf „dem Schiffe […] beynahe von allen bekannten Ländern des Erdkreises Menschen zugegen“ seien, „die alle eine verschiedne Mundart, verschiedne Gebräuche, Gewohnheiten, und Meynungen haben“. Dieses identitätsstiftende Gemeinschaftserlebnis bestärkt den Bildungsreisenden nicht nur in seiner Überzeugung, „mit der Welt zufrieden zu seyn, und alle Nationen derselben als eine einzige Familie zu betrachten“271. Gleichnishaft deutet es auch auf die humanitäre Größe des amerikanischen Kontinents voraus: Amerika sei ein Ort, wo man „unter gemeinen Leuten einen großen Kopf“ antreffen könne, wo sich „groß gesinnt[e], und zu weit aussehenden Unternehmungen aufgelegt[e]“ Menschen zusammenfänden.272 Speziell bei den nordamerikanischen Indianervölkern sieht der Schüler dieses Tugendideal verwirklicht.273 268 Westenrieder, Erdbeschreibung für die Realschulen II, 66. 269 Zur Verräumlichung der aufklärerischen Wertewelt zu einer Aufklärungstopograſe in der zeitgenössischen Amerika-Literatur vgl. Garber, Deutsche Intelligenz. 270 Vgl. Haefs, Praktisches Christentum, 273f. 271 Westenrieder, Erdbeschreibung für die Realschulen II, 67. 272 Westenrieder, Erdbeschreibung für die Realschulen II, 88. 273 Vgl. Westenrieder, Erdbeschreibung für die Realschulen II, 76: „Ich habe von diesen Wilden eine beßere Meynung, als ich ehemals in meinem Vaterlande hatte, und bin ihnen sehr gut, seit ich so viel Gutes von selben gehört habe. Außer dem, daß sie uns an

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Aber auch in jenen Menschen, die als Opfer der hart kritisierten Sklaverei auf der Schattenseite des Lebens stehen, wird das herausragende Potenzial der Neuen Welt sichtbar. So könne man hier „unter Ketten“ zahlreiche „edle Herzen“ entdecken.274 Die sich in der Vielfalt der menschlichen Typen, Kulturen und Völker widerspiegelnde Größe Amerikas ſndet ihre Parallele im Naturraum. Die Fülle der Pƀanzen- und Tierarten ist ein weiterer Beleg für den besonderen Rang der Neuen Welt, auch und gerade im Vergleich mit den anderen Kontinenten. Es ist für Westenrieders Argumentation bezeichnend, dass die Kommentare des jungen Reisenden auf eine systematische Deskription von Fauna und Flora verzichten. Das Naturbild ist vielmehr als locus amoenus gezeichnet. Die Erzählung entfaltet ein Landschaftsidyll, das einen passenden Rahmen für utopische Explorationen abgeben kann. Die Nützlichkeit der amerikanischen Natur bemisst sich nämlich nicht nach den Kriterien einer vordergründigen Utilität, etwa als Lieferant marktfähiger Rohstoffe. Im Gegenteil: Ihr Wert besteht darin, den empſndsamen Seelen einen Freiraum für Gemütserhebungen zu eröffnen. Dass der konkrete Informationsgehalt der Erdbeschreibung dadurch stark beschnitten ist, liegt auf der Hand. Tatsächlich arbeitet die Landschaftsbeschreibung von Westenrieder mit literarischen Versatzstücken, die dem Stoffarsenal der Anakreontik entliehen wurden. So evoziert sie eher die Anmutung einer Pastorale als einen realistischen Eindruck von den naturräumlichen Verhältnissen im nördlichen Amerika.275 Wie sehr die Bedingungen der Amerika-Rezeption bei Westenrieder vom Wunschdenken der aufklärerischen Utopie diktiert wurden, wird auch auf der letzten Diskursebene seines Werks, dem Problem der Bildungstopograſe, deutlich. Die Beschreibung setzt auffälligerweise an einem Beispiel aus Südamerika an. Die geograſsche Situierung ist durchaus ungewöhnlich. Denn unter den Bildungsreformern des späten 18. Jahrhunderts erfreute sich der südliche Subkontinent kaum des Rufs besonderer pädagogischer Innovationsfähigkeit. Dennoch versetzt der Autor sein Lesepublikum nach Potosi in Peru. Hier stößt der Reisende aus München auf eine weitere humaniLeibskräften und Gesundheit weit übertreffen, so besitzen sie manche Eigenschaften, welche den gesittesten Nationen zum Muster dienen können.“ 274 Westenrieder, Erdbeschreibung für die Realschulen II, 88. 275 Vgl. Westenrieder, Erdbeschreibung für die Realschulen II, 85: „Hier lieg ich an dem schönsten Sommerabend auf einer kleinen Anhöhe unter dem Schatten einer einsamen Cypreße im weichen Gras, und um mich herum düften sanfte Rosen, stille Violen; hinab die schönsten Reben; unter mir ein kleiner Fluß im anmuthigsten Feld, und ein einzelner Meyerhof hie und da; weiter hinaus das Meer, und in unabsehlichen Tiefen die untergehende Sonne, die in jeder Woge schwimmt; rings um mich ein tiefes Stillschweigen, wo sich nichts bewegt, als ein bunter Schmetterling, oder ein einsamer Vogel; – Und hier lieg ich, zieh ich den erfrischenden Athem der Natur an mich: der Himmel umwölbt mich, und mein Blick durchstreift seine endlosen Tiefen. Mein Gemüth ist wieder offen, ist wieder still und unbewölkt.“

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täre Errungenschaft der amerikanischen Welt. Jedoch entspricht deren Gehalt nicht den Erwartungen, die sich üblicherweise mit dem Namen von Potosi verbinden. Zwar streift der Reisebericht die hier beſndlichen Silberbergwerke, die die historische Basis für den legendären spanischen Überƀuss an Edelmetallen bilden. Doch wendet sich der Ich-Erzähler rasch von diesem Phänomen ab. Denn als Ursache für die von den Europäern mit aller Härte praktizierte Ausbeutung der Einheimischen wäre das „Metal“ nach Meinung des Reisenden „besser“ im Boden „verborgen geblieben“276. Das Hauptinteresse gilt vielmehr den Schulen von Potosi. Hier kann der Protagonist aus Deutschland Vorbildliches registrieren. Er besucht eine Schule, die alle Ansprüche zeitgemäßer Pädagogik erfüllt, angefangen bei einem „Hain“ im Stil eines englischen Landschaftsparks, über die Ausstattung des Schulgebäudes mit „Portrait[s] berühmter Männer […] und Statuen, welche große Ideen ausdrückten“, bis hin zu den pädagogischen Maximen, in deren Sinn die Schüler erzogen werden.277 Um das Exemplarische dieser Erziehungsanstalt zu untermauern, wurde der Passage eine Sammlung dieser Maximen angefügt.278 Westenrieder zeigt erneut ein Ideal auf, das stärker auf die Vorstellungen des kurbayerischen Gymnasialreformers abhebt, als dass es mit den tatsächlichen Gegebenheiten in Übersee zu tun hätte. Dass dieses schulische Idealkonstrukt im Süden des amerikanischen Kontinents angesiedelt ist, kann jedoch kein Zufall sein. Die Seelenreise des Münchner Zöglings erreicht in der Schule von Potosi ihren inneren Höhepunkt. Sie soll abermals die moralischen Entwicklungschancen der Neuen Welt offenlegen: In Amerika sind nicht nur autochthone, gleichsam urwüchsige Talente der Tugend unter Indianern und Sklaven anzutreffen. Vielmehr geht Westenrieder noch einen entscheidenden Schritt weiter: In Amerika (und implizit schwingt mit: allein in der Neuen Welt) lassen sich die edlen Herzen sogar systematisch kultivieren, wenn nur die Voraussetzungen stimmen, also die (aus Europa importierten) Maximen der guten und gerechten Erziehung in die Tat umgesetzt werden können. Das gilt selbst für Potosi, das wie kaum ein anderer Ort in Amerika zu einem Topos für menschliche Habgier und Bosheit geworden ist. Für das Werk von Westenrieder ergibt sich damit folgendes Zwischenergebnis: In der konsequenten ſktionalen Überformung der Erdbeschreibung trieb der Münchner Gelehrte den geograſschen Amerika-Diskurs an seine Gattungsgrenzen. Programmtisch wurde die Schwelle vom Empirischen zum Visionären überschritten. Die Amerika-Deutung erweiterte sich zu einer utopischen Denkſgur, die mit der Stilisierung der Neuen Welt als Bildungs- und Tugendrepublik ein wirkmächtiges, freilich in der Konzentration auf den Sü276 Westenrieder, Erdbeschreibung für die Realschulen II, 91. 277 Westenrieder, Erdbeschreibung für die Realschulen II, 92. 278 Vgl. Westenrieder, Erdbeschreibung für die Realschulen II, 94-97.

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den charakteristisch abgewandeltes Motiv der transatlantischen Aufklärung aufgriff. KAPITEL 12: PROTESTANTISCHE AUFKLÄRUNG „Gemeinnüzige“ Geograſe In der protestantisch-fränkischen Aufklärung ſelen die Initiativen und Formen der Amerika-Wahrnehmung intensiver und vielfältiger aus als in der katholischen Aufklärung. Das lag zum einen an den engen biograſschen Kontakten der fränkischen Gelehrten mit den mittel- und norddeutschen Aufklärungsuniversitäten (Halle, Göttingen). Viel deutlicher als in Kurbayern wirkten sich beispielsweise die Impulse der modernen Kameralistik aus, mit der Folge, dass in Franken originäre Beiträge zu einer systematischen Amerikakunde entstehen konnten. Auch der traditionelle universalgeograſsche Diskurs wurde noch nachhaltiger als in München und Salzburg von kameralwissenschaftlichen Modellen überformt. Insbesondere deren empiristische Methodologien stießen auf ein großes Echo. Zum anderen lässt sich sogar so etwas wie ein landesfürstliches Interesse an der Erforschung der Neuen Welt beobachten. Die geograſsch-statistische Erfassung des amerikanischen Kontinents wurde durch staatliche Stellen angeregt, die konkrete Forschung in Form von Reisestipendien für Gelehrte gefördert. In Kurbayern und Salzburg hingegen blieb amerikakundliches Wissen doch eher ein Nebenprodukt der universalwissenschaftlichen Kompilatorik. Diese speziſschen Konstellationen spiegeln sich idealtypisch in den Werkproſlen der beiden hier ausgewählten Autoren wider. Der brandenburgisch-ansbachische Militärarzt Johann David Schöpf und der Erlanger Universitätsprofessor Johann Ernst Fabri können exemplarisch für die Optionen der fränkischen Amerika-Rezeption im Zeichen der protestantischen Aufklärung stehen.279 Mit seiner 1788 publizierten Reise durch einige der mittleren und südlichen vereinigten nordamerikanischen Staaten vertritt Schöpf das Genus der amerikanischen Landeskunde. Der Mediziner und Naturforscher rückte also expressis verbis die Geograſe der gerade erst gegründeten USA in den Vordergrund. Hervorzuheben ist die Tatsache, dass Schöpf seine Eindrücke auf Autopsie stützen konnte. Sein Werk ist als Reisebericht angelegt und versteht sich als wissenschaftliche Dokumentation einer Forschungsexpedition. Diese Reise unternahm der Autor im Anschluss an seine Tätigkeit als Regimentsarzt der ansbachischen Auxiliartruppen im Unabhängigkeitskrieg zwischen 1783 und 1784, und zwar im Auftrag seines Landesherren Christian Friedrich Carl Alexander von Brandenburg-Ansbach-Bayreuth. Der Druck des Werks, von Schöpf „dem gütigsten Fürsten“ als Rechenschaft von „Verwendung meiner 279 Zuletzt unter diesem Aspekt zu Schöpf und Fabri vgl. Seiderer, Formen, 75, 273.

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Zeit“ in Amerika gewidmet, wurde maßgeblich von landesherrlicher Seite unterstützt.280 Zeithistorische Umstände, nämlich das Bündnis von AnsbachBayreuth mit der britischen Krone während des Unabhängigkeitskriegs (das Markgraftum stellte bekanntermaßen große Truppenkontingente für die Engländer), aber auch das ausgeprägte landesfürstliche – ein gewissermaßen staatsgeograſsches – Interesse an den Verhältnissen jenseits des Atlantiks, lieferten wichtige Motive für die Forschungen von Schöpf.281 Johann Ernst Fabri repräsentiert hingegen den Typus des für den schulischen und universitären Gebrauch schreibenden Gelehrten. Ihm ging es um eine zeitgemäße Wissenschaftspopularisierung, während Schöpf die fachinterne Öffentlichkeit im Blick hatte und auf „zweckfreie“ Grundlagenforschung zielte. Für Fabri, den Schüler von Gatterer, Schlözer und Büsching mit Studien- und Lehrerfahrungen an den Universitäten Halle, Göttingen, Berlin und Jena, war der Rückgriff auf die aufklärerische Statistik bestimmend. So handelt es sich bei seinen Werken vor allem um universalgeograſsche Lehrkompendien, etwa das Handbuch der neuesten Geographie und das Geographische Lesebuch zum Nutzen und Vergnügen (1782-1787), die für den Gebrauch speziell der brandenburgischpreußischen Universitäten und Gymnasien gedacht waren. Zudem besteht das Œuvre aus gelehrter Publizistik.282 Dafür charakteristisch sind das Geographische Magazin (1783-1785), das Neue Geographische Magazin (1785-1787) oder das Magazin für Geographie, Geschichte und Staatenkunde.283 Dabei war die Neue Welt immer Bestandteil einer länderübergreifenden Erdbeschreibung. Fabri strebte keine landeskundlich speziſzierte Darstellung an. Bei Schöpf zeigt sich das Gegenteil. Bestimmend war hier ein prononciert regionalräumlicher Zugriff. Im Mittelpunkt standen jedoch nicht die USA als Gesamtphänomen, sondern vielmehr einzelne Bundesstaaten, nämlich New Jersey, Pennsylvania, Maryland und Delaware, daneben das spätere Ohio und Kentucky, Virginia, die beiden Carolinas einschließlich des noch spanischen Florida und der Bahamas. Diese regionalspeziſsche Einschränkung rechtfertigte Schöpf mit der Forschungslage: New York und Neuengland seien bereits häuſg Gegenstand umfassender Darstellungen gewesen.284 Er verschob also 280 Vgl. Schöpf, Reise I, Widmungsvorrede, [2r]. Schöpf wurde von dem Wiener Naturkundler Franz-Joseph Märter begleitet, der im Auftrag von Kaiser Joseph II. mitreiste. Zu Schöpf vgl. Geus, Schoepf, 95-99. Zu Märter vgl. Carozzi/Carozzi, Märter; Hühnel, Botanische Sammelreisen, 64-70. 281 Vgl. dazu Baasner, Staatsgeographus. 282 Nicht ohne Grund widmete Fabri sein Handbuch der neuesten Geographie dem preußischen Justizminister und Oberkurator des brandenburgischen Schulwesens Carl Abraham von Zedlitz. Zu Zedlitz vgl. Mainka, Zedlitz. 283 Für eine bibliograſsche Übersicht zum Werk von Fabri vgl. ADB 6 (1877) 499-501, hier 500. 284 Vgl. Schöpf, Reise I, Vorrede, [10v] unter Hinweis auf den Reisebericht des schwedischen Amerika-Reisenden Pehr [Peter] Kalm. Vgl. dazu Depkat, Reisen, 535f. Zu Kalm vgl. Wellenreuther, Ausbildung, 423.

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den traditionell „gesamtstaatlich“ ausgerichteten Fokus auf die föderale Ebene (im Sinn einer „Landesgeograſe“). Daher verstand sich der Arzt als Protagonist einer erneuerten Amerikakunde, in der methodische Standards der Kameralistik mit politischen Sensibilitäten für die föderalen Speziſka amerikanischer Verfassungsstaatlichkeit verbunden werden sollten. So begründet Schöpf sein Buchprojekt mit dem Mangel zeitgemäßer Darstellungen: Unmittelbar nach dem [Unabhängigkeits-]Kriege […] wurden die vereinigten amerikanischen Staaten von verschiedenen europäischen Gelehrten und andern aufgeklärten Männern besuchet und bereiset, welche erst damals absichtlich und ausdrücklich herüber gekommen waren. Deutsche, Schweden, Franzosen, Engländer und Holländer […] hatten sich eingefunden, um die Wunder der neuen Staaten zu beschauen, und wanderten beynahe immer mit der Feder, oder dem Reißbley in der Hand. Nun nach Verƀuß verschiedener Jahre, hat es noch keinem derselben gefallen, das Publikum mit den Resultaten ihrer Beobachtungen zu beschenken.285

Trotz ihres jeweils auf Innovatorisches zielenden Ansatzes standen die beiden protestantischen Autoren aus Franken – ganz im Gegensatz zu ihren katholischen Kollegen – weitergehenden politischen Bekenntnissen distanziert gegenüber. Freiheits- und Revolutionsrhetorik wird man bei ihnen vergeblich suchen. Damit ist bereits eine unmittelbare Konsequenz der relativ stark ausgeprägten Staatsnähe der beiden fränkischen Autoren benannt. Vor allem Schöpf deutet dieses Spannungsmoment an, dem er sich als Kosmopolit auf Weltreise ausgesetzt sah. Zwar möchte er als Experte die Ergebnisse seiner Arbeit in aller Offenheit darstellen können. Dabei beruft er sich explizit auf das Vorbild der USA, „wo Freyheit zu denken, zu reden und zu schreiben, allgemein anerkannte Rechte sind“286. Zum anderen ist er sich der tiefgreifenden Unterschiede in der politischen Kultur diesseits und jenseits des Atlantiks bewusst: In Deutschland sei die Situation eben eine andere als in Amerika. Daher lege er sich Zurückhaltung bei allen Werturteilen auf.287 Der Abstinenz im Politischen entspricht eine Neigung zum Positivistischen. Schöpf geht es um „einfache Thatsachen und trockene Wahrnehmungen“, nicht um „auffallende Abentheuer“, „wundersame Erscheinungen“, „gesuchte Raisonnements oder erbauliche Betrachtungen“288. Auch wenn der Wissenschaftler der „Überzeugung“ ist, dass in den „Columbischen Staaten […] viele Menschen […] wahrhaft glücklich leben“, so möchte er sich nicht die „Absicht aufbürden“, Amerika „blos von der glänzendsten Seite zu schildern“289. Die USA gleichsam als halkyonische Gegenwelt zu einem korrumpierten Alteuropa zu inszenieren – diese Versuchung weist er nachdrücklich ab, und zwar nicht nur 285 Schöpf, Reise I, Vorrede, [5v]-[6r]; vgl. auch Häberlein, Nachrichten, 1134f.; Depkat, Amerikabilder, 82; Doll, American History, 469, 494. 286 Schöpf, Reise I, Vorrede, [10r]. 287 Vgl. Schöpf, Reise I, Vorrede, [10r]; Reese, Schöpf, 213. 288 Schöpf, Reise I, Vorrede, [9r]. 289 Schöpf, Reise I, Vorrede, [9r].

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aus politischen Gründen, sondern auch im Namen der wissenschaftlichen Redlichkeit. Schöpf setzt sich ironisch mit den Protagonisten einer solchen Amerika-Sicht auseinander. Er entlarvt die Prätentionen von Voltaire und Rousseau als realitätsfremd: Voltaire hätte etwa in Penn einen veritablen „Menschen-Heiligen“ erkennen wollen. Indes lehre ein kühler Blick auf die Tatsachen, dass sich die „damalige Geschichte Englands“ mit „vielerley Umstände[n]“ hätte vereinigen müssen, um den „Entwürfen und Ausführungen“ (den Toleranz- und Humanitätsidealen) von Penn jene „Wendungen zu geben, die sie nahmen“290. Das Plädoyer für empirische Wirklichkeitsnähe und historische Tatsachentreue ſndet auf der inhaltlichen Ebene seine konsequente Fortsetzung. So interessiert sich Schöpf vor allem für die Naturgeograſe, genauer: für die Botanik und Geologie von Nordamerika. Dafür bringt er gewichtige Argumente in Anschlag. Denn die Konzentration auf das Naturräumliche wird scheinbar den objektiven Gegebenheiten gerecht. „[P]rächtige Palläste, schöne Gärten, grosse Bibliotheken, reiche Kunst- Naturalien- Alterthumsund andere Sammlungen, Fabriken und andere öffentliche schauwürdige Anstalten“ – diese Merkmale der Kulturgeograſe seien für die „älter bewohnten Länder[n]“ kennzeichnend, nicht jedoch für Amerika.291 Daher möchte Schöpf die Nachrichten über den „sittlichen, politischen, ökonomischen und mercantilischen Zustand“ der USA auf das Notwendigste beschränken.292 Die Zeit für solche Betrachtungen sei noch nicht reif. Über die künftigen Entwicklungen in den USA seien die „Urtheile und Meynungen noch sehr getheilt“, die „statistischen Nachrichten […] unzuverlässig“, die „Aussichten für den Handel noch unbestimmt und schwankend“293. So rückt die Gattungsfrage in das Blickfeld: Der Reisebericht war für Schöpf vor allem deshalb eine ideale Präsentationsform, weil er auf diese Weise neben dem Authentischen auch das Vorläuſge und Unvollendete aller Erkenntnisbemühungen andeuten konnte. Im Gegensatz zu Westenrieder, der seinen ſktionalen Reisebericht ganz in den Dienst der Utopie stellte, erblickte Schöpf im provisorischen Charakter des Genres eine Garantie gegen allzu glatt aufgehende Amerika-Bilder. Um den antiutopischen Ansatz seiner Darstellung noch weiter herauszuarbeiten, versorgte er das Publikum mit Realien. Nicht zuletzt enthält der Reisebericht Quellenanhänge, die dem Leser Gelegenheit zur Nachprüfung aller Einzelerkenntnisse bieten sollen. Diese Anhänge bestehen aus Kartenbeilagen und regierungsamtlichen Dokumenten.294 290 291 292 293

Schöpf, Reise I, 77f. Schöpf, Reise I, Vorrede, [8v]. Schöpf, Reise I, Vorrede, [9v]. Schöpf, Reise I, Vorrede, [9v]. Zu diesen gattungsspeziſschen Problemen bei überseeischen Reiseberichten vgl. Stagl, Passagier, 371-376. 294 Vgl. etwa Schöpf, Reise I, vor 1 (A MAP of the United States of N[orth] AMERICA). Diese Karte zeigt die westlich der Apalachians gelegenen territories, die künftigen Bun-

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Schöpf orientierte sich also bewusst an historiograſschen Methoden. Innerhalb der Amerika-Geograſe des 18. Jahrhunderts gehörte er zu den nachdrücklichsten Verfechtern eines systematisch quellenbasierten Vorgehens. Auf den Empirismus beruft sich auch Fabri, obschon der Professor insgesamt kaum durch übertriebene Theorieneigungen auffällt. Der Gelehrte sieht seine Aufgabe ganz in praktische Verwendungszusammenhänge eingebettet. Dabei bemüht er jene Topoi, mit denen von jeher der Erkenntniszweck der Universalgeograſe gerechtfertigt wurde: Sie richte sich gleichermaßen an Lehrer und Schüler, an „einzelne Militair- und Civilpersonen“, an den „spekulativen Ökonomen“, den „Kauf- und Handelsmanne“, überhaupt an jeden „geschäftsvollen Hausvater“295. Bewusst reƀektiert Fabri die Rolle der „durch verschiedentliche Ereignisse herbeygeführte[n] mehr oder minder erhebliche[n] Veränderungen von Land- und Völker-Trennungen“296. In diesem Zusammenhang kann er nachhaltige Auswirkungen der amerikanischen Revolution beobachten. Vor allem im Gebrauch des Amerika-Begriffs registriert er eindeutige semantische Verlagerungen. Die Gründung der Vereinigten Staaten erscheint als Urereignis, in dessen Nachgang ein tiefgreifender raumgeschichtlicher Paradigmawechsel zu konstatieren sei. So heißt es in der achten Auƀage des Handbuchs der neuesten Geographie von 1803: „Seit 1782 versteht man in Staats- und andern Schriften bisweilen unter Amerika im engern Verstande nur die vereinigten nordamerikanischen Staaten“297. Die Nordverschiebung und staatsförmige Verdichtung des Amerika-Begriffs stellt sich damit als Problem der angemessenen methodischen Reaktion dar. Für Fabri kann der Wandel in der Neuen Welt nur durch intensivierte Ordnungsanstrengungen adäquat erfasst werden. Die Instrumentarien systematischer Klassiſkation sind anzuwenden, um der Vielfalt der Wissensinnovationen gerecht zu werden: Für die Beschreibung der Tierarten empſehlt der Erlanger Professor das System nach Joachim Friedrich Blumenbach, bei den Pƀanzenarten die von Carl von Linné entwickelten Kriterien.298 Die Sektoren des PolitischÖkonomischen, Sittlich-Religiösen und Ethnischen möchte er ebenfalls berücksichtigt wissen. Die kategorialen Einheiten dafür soll die Kameralistik liefern, wobei er das tabellarisch-quantiſzierende Element – etwa im Zusammenhang mit der Dokumentation volkswirtschaftlicher Faktoren – für besonders aussagekräftig hält. Für didaktisch aufbereitete „Lektionen“ und

295 296 297 298

desstaaten „Metropotamia“ (Indiana), „Polypotamia“ (Ohio), „Illinoia“ (Illinois), „Michigania“ (Michigan). Fabri, Geographie, Vorbericht, VII. Fabri, Handbuch I (1803), Vorrede, VI. Fabri, Handbuch I (1803), 296. In der ersten Auƀage des Werks von 1784/85 ist von diesem Zusammenhang noch nicht die Rede. Vgl. Fabri, Geographie, Vorbericht, IX. Zu den Klassiſkationssystemen von Blumenbach († 1840) und Linné († 1778) und deren Bedeutung für den aufklärerischen Überseediskurs vgl. Bitterli, „Wilde“, 211-217.

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„Romane[n]“ hat Fabri dagegen wenig übrig.299 So zeigen seine Werke eine extreme Tendenz zum Faktograſschen. Dennoch wäre es verfehlt, die Texte der beiden fränkischen Autoren allein als reine Daten- und Faktensammlungen abzutun. Es ist immer zwischen der Selbstdeſnition des Autors (in der Vorrede) und den immanenten Textstrukturen (im Gesamtwerk) zu unterscheiden. An solchen Diskrepanzen lassen es auch die hier behandelten Werke nicht fehlen. Wieder ist ein Blick auf Schöpf instruktiv: Überraschend ist etwa die Tatsache, dass der Gelehrte zwar in scharfer Wendung gegen Voltaire und Rousseau die Legitimität geschichtsphilosophischer Reƀexionen in Zweifel zieht, zugleich aber den Begriff der „gemeinnüzigen Geschichte“ zum Kernprinzip des geograſschen Denkens erhebt. Darunter versteht er die Pƀicht zu sachbetonter Berichterstattung (im Sinn einer „gründliche[n] und unpartheyische[n] Geschichte“). Darüber hinaus verbirgt sich hinter dem Begriff des „Gemeinnützigen“ ein Programm aufklärerischer Geschichtsteleologie: Die Fortschritte des Menschengeschlechts, wie sie sich im „schnelle[n] Anwachs der Volksmenge“, in der „geschwinde[n] Ausbreitung des Handels“, in den „Fortschritte[n] der Künste und Wissenschaften“, in der „Vereinigung und Verträglichkeit so verschiedener und Entstehung selbst neuer Religionssekten“ und in der „allmählige[n] Verbesserung des Geschmacks und der Sitten“ abzeichnen, sollen als methodische Leitproſle sichtbar werden.300 Damit ist die Grenze einer rein positivistischen Auffassung überschritten. Hinter der angeblich „ideologiefernen“ Statistik zeichnen sich eben doch aufklärerische Ideale ab.301 Die Amerika-Reise als pursuit of happiness Bei Schöpf sind die geograſschen Betrachtungen über Amerika Ergebnis einer Forschungsexpedition. Diese besondere Ausgangslage hat für die Proſlierung des Weltbilds weitreichende Konsequenzen. Die amerikanischen Projektionen beschränken sich auf jenen Raum, den der Regimentsarzt als Augenzeuge tatsächlich bereist hat, fallweise ergänzt durch Informationen, die er der zeitgenössischen Literatur entnommen hat. Wie bereits gesehen, handelt es sich bei dieser Konzentration um eine Einschränkung aus forschungsstrategischem Kalkül. Dieser Aspekt ist hier erneut zu betonen, weil die sich bei Schöpf so markant andeutende Interessenpriorität für die mittlere und südliche Ostküste der USA nicht allein mit politischen Optionen erklärt werden kann. Die Präferenzen haben auch mit wissenschaftlichen Desideraten zu tun, die der Autor erklärtermaßen erfüllen möchte. Außerdem wird die Kategori299 Vgl. Fabri, Handbuch I (1784), Vorbericht, [2r]. 300 Schöpf, Reise I, 75. 301 Vgl. Reese, Schöpf, 214; mit Blick auf aufklärerische Idealisierungen vgl. ferner Depkat, Reisen, 543-546.

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enbildung wesentlich durch das Reise-Motiv bestimmt. Das inhaltliche Gerüst der Beschreibung orientiert sich nicht an der im 18. Jahrhundert üblichen Gliederung der Welt- und Landesbeschreibung (mit ihrem in der Regel hierarchisch-deduktiven Zugriff); maßgeblich ist vielmehr die (chronologische) Stationenfolge des Reiseverlaufs. Diesem Raster ist die Detailinformation zugeordnet, auch wenn Schöpf – wie noch zu zeigen sein wird – nicht einfach auf die Distinktionskriterien der Geograſe verzichtet.302 Daraus ergibt sich als weiteres Moment: Der amerikanische Raumbegriff wird vorwiegend topograſsch gedacht. Als Fixpunkte der Gliederung erscheinen Ansiedlungen, Gewässer und Gebirgszüge oder Schauplätze des Unabhängigkeitskriegs. Daneben lassen sich chorograſsche Ordnungsmerkmale erkennen. Dabei passt Schöpf diese klassische Kategorie der geograſschen Analyse an die neuen politischen Bedingungen an. Er identiſziert den regionalen Raum – darin das Eigengewicht der föderalen Ebene in den USA berücksichtigend – mit dem Territorium der einzelnen Unionsstaaten. So kombiniert der Reisebericht in neuer Weise die klassischen Genera von Städte- und Staatenbeschreibung. Interesse verdient zunächst das Itinerar303: Der erste Teil des insgesamt zweibändigen Berichts fasst die Erfahrungen der Sommerreise von 1783 zusammen. Die Expeditionsroute lässt bereits verschiedene Themenproſle hervortreten. Sie verknüpfte mit dem Ausgangspunkt in New York und ihrem Endpunkt in Philadelphia die beiden größten Metropolen der damaligen USA. Damit reagierte Schöpf einerseits auf die politische Geograſe des jungen Staats. Mit Philadelphia wird die Hauptstadt in den Vordergrund gerückt. Andererseits war der Etappengang von naturgeograſschen Interessen vorgegeben. Besondere Aufmerksamkeit erfahren etwa die Eisen- und Kupfergruben von New Jersey (Braunschweig, Boundbrook, Rockyhill), ferner die Bildungstopograſen dieses Bundesstaats. So unternahm Schöpf auch einen Abstecher nach Princeton, um das dort seit 1756 bestehende college zu besuchen.304 Für den weiteren Reiseverlauf durch Pennsylvania schälen sich ebenfalls bestimmte Interessenschwerpunkte heraus. Ausführlicher beschrieben werden Philadelphia, Germantown, Bethlehem, Nazareth, Schöneck und Christiansbrunn.305 In dieser Konstellation zeichnen sich die Umrisse des Pennsylvania Dutch Country ab. Bereits das Itinerar ventiliert also speziſsche, nämlich national geprägte Wahrnehmungshaltungen: Schöpf interessierte sich offen302 Der Zusammenhang von Reiseautopsie und landeskundlicher Beschreibung ist hier viel systematischer angelegt als bei Westenrieder. Bei Westenrieder ſguriert die Reise nur als erzählerische Rahmenhandlung. 303 Zusammenfassende Hinweise bei Reese, Schöpf, 214. 304 Vgl. Schöpf, Reise I, 19-21 (Braunschweig), 23-28 (Boundbrook), 34-49 (Rockyhill), 49-57 (Princeton); vgl. dazu Lloyd, Schoepf, 88f. 305 Vgl. Schöpf, Reise I, 74-178 (Philadelphia), 179f. (Germantown), 203-231 (Bethlehem), 231-239 (Nazareth), 239-242 (Schöneck), 290-292 (Christiansbrunn).

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kundig in besonderem Maß für die Siedlungsgebiete der deutschen Auswanderer. Dieser Eindruck bestätigt sich, wenn man die übrigen Punkte der in Richtung Pittsburgh und Kentucky weiterführenden Reise näher betrachtet: Allentown, Kutztown, Reading, Lebanon und Carlisle säumten den Weg des Gelehrten nach Westen.306 Bei diesen Orten handelte es sich durchweg um Siedlungen mit einem signiſkanten Anteil an deutscher Kolonialbevölkerung. Gleiches trifft auf Lancaster und Ephrata zu.307 Das nationale Moment ist nicht das einzige Reise-Motiv. Mit Kentucky bzw. den „hintere[n] Anpƀanzungen“ (gemeint ist der westlich der Appalachen gelegene, heutige Bundesstaat Ohio) sind zwei Regionen in das Programm aufgenommen, die für ihre vielfältige Naturausstattung stehen. Weitere Reiseabschnitte führten Schöpf nach Maryland und Delaware, wobei die Erinnerungen an Baltimore einen herausgehobenen Stellenwert einnehmen.308 Der zweite Teilband beschäftigt sich mit den Südstaaten. Im Vordergrund stehen Virginia, North und South Carolina. Zur Jahreswende 1783/84 brach der Arzt von Philadelphia nach Süden auf.309 Schrittweise bewegte er sich vom Landesinneren (Leesburg) an die Küste (Charleston). Die Routenplanung wurde einerseits von den widrigen Witterungsverhältnissen beeinƀusst. Andererseits zeigen sich wieder jene Wahrnehmungsmuster, wie sie bereits bei den mittelatlantischen Bundesstaaten zu beobachten waren. Urbane Kerne und akademische Infrastrukturen banden hier das Interesse des reisenden Arztes, so Richmond, die Hauptstadt von Virginia, Charleston als ökonomischer, zivilisatorischer und kultureller Gegenpol zu Philadelphia, daneben Williamsburg in Virginia und die deutsche Kolonie New Bern in North Carolina.310 Mit den Bodenschätzen und agrarischen Strukturen taucht ein weiteres Leitmotiv auf. In Virginia umfasst die Spannbreite der einschlägigen Beobachtungen die Mineralienquellen ebenso wie den Tabak- und Baumwollanbau mit seinen Schwerpunkten um Peterborough.311 Bemerkenswerterweise fehlt ein Schlüsselstaat des Südens: Schöpf übergeht Georgia, obgleich die Kolonie im 18. Jahrhundert doch zu den besonders häuſg bemühten Themen der deutschen Amerika-Berichterstattung gehörte.

306 Vgl. Schöpf, Reise I, 295 (Allentown), 298f. (Kutztown), 299-310 (Reading), 313-317 (Lebanon), 328-331 (Carlisle). 307 Vgl. Schöpf, Reise II, 16-30. 308 Vgl. Schöpf, Reise I, 393-444 (Ohio), 444-576 (Maryland mit Baltimore), 576-612 (Delaware). 309 Vgl. Carozzi/Carozzi, Märter, 9f. 310 Vgl. Schöpf, Reise II, 75-102 u. 108-111 (Richmond), 258-304 u. 308-351 (Charleston), 133-135 (Williamsburg), 200 u. 210f. (New Bern). Speziell zur Beschreibung von Charleston vgl. Reese, Schöpf, 220f. 311 Schöpf, Reise II, 104-106 (Mineralien in Virginia), 111-120 (Peterborough). Zu Schöpf und seinem Interesse an der amerikanischen Geologie und Mineralogie Greene/Burke, Science, 22; Spieker, Schöpf, 1333.

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Der Schlussteil der Reisebeschreibung ist durch die Tendenz zur Verknappung gekennzeichnet: Im Übergang der Expedition von den Südstaaten nach Florida und den Bahamas vergrößern sich die Wahrnehmungsradien. Das Netz der Analyse wird weitmaschiger. An die Stelle der ortskundlichen Detailaufnahme rückt die großƀächige Landesbeschreibung. Die Ursache dafür ist in den verkehrstechnischen Gegebenheiten zu suchen: Anstatt wie bisher über Land zu reisen, nutzte Schöpf nun den Seeweg. Seine Ausführungen konzentrieren sich daher auf einzelne Punkte, die ihm bei seiner Expedition als Basis dienten, so etwa St. Augustine in Florida oder die Inseln Abaco und Nassau.312 Um zu einer ersten Zwischenbilanz vorzustoßen: Das topograſsche Inventar des Reiseberichts verweist auf speziſsche Prioritäten. Pennsylvania, Maryland, Virginia und die beiden Carolinas stehen als Determinanten im Zentrum der Darstellung. Eine ähnliche Beobachtung lässt sich für verschiedene Städte machen: Philadelphia und Baltimore, Richmond und Charleston, also jeweils zwei Metropolen in der Mitte und im Süden der Ostküste prägen das urbane Amerika-Proſl. Man kann diese Akzentuierungen sogar quantitativ erfassen: Mehr als die Hälfte des ersten Bandes ist für die Beschreibung von Pennsylvania reserviert, wobei ein Großteil auf Philadelphia entfällt. Viel niedriger liegen die Anteile der vergleichsweise städtearmen Bundesstaaten New Jersey und Delaware, während Maryland – nicht zuletzt wegen Baltimore – recht umfassend vertreten ist. Für den zweiten Teil des Reiseberichts über die Südstaaten lassen sich ähnliche Verhältnisse ermitteln: Rund 60% des Textumfangs beziehen sich auf Virginia, North und South Carolina (mit Quoten von jeweils 20%).313 Wieder spielt dabei das Interesse für die Stadt eine maßgebliche Rolle. So nimmt die Beschreibung von Charleston breiten Raum ein, vor allem deswegen, weil sie für den süddeutschen Besucher „eine der schönsten amerikanischen Städte“ war. Ihre Attraktivität in der „heitereren und gefälligeren Anlage“ sei durchaus geeignet, Philadelphia „den Vorzug streutig“ zu machen.314 Insgesamt gesehen, zeichnet sich das Bild der USA durch eine räumliche Bipolarität aus. Die amerikanische Ostküste stellt sich als elliptisches Gefüge mit zwei regionalen Brennpunkten dar: Pennsylvania und den Southern States. Sie bilden die beiden intensiv erforschten Zentrallandschaften der USA. Schöpf verbindet seine topograſschen Präferenzen mit zeithistorischen Beobachtungen. Denn seine orts- und landeskundliche Deskription öffnet sich zur politik-, religions-, kultur- und wirtschaftsgeschichtlichen Enzyklopädik. Seine Bewertungsmaßstäbe entnimmt Schöpf dem Konzept der „gemeinnützigen Geschichte“. Sie liefert die Indiziengrundlage für die Dokumentation des Fortschritts, dessen Verlauf Schöpf am Bei312 Vgl. Schöpf, Reise II, 360-395 (St. Augustine), 407 (Abaco), 413-416 (Nassau). 313 Schöpf, Reise I, 1-69 (New Jersey), 70-393 (Pennsylvania mit Philadelphia) u. II, 45157 (Virginia), 158-245 (North Carolina), 245-351 (South Carolina). 314 Schöpf, Reise II, 258.

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spiel einzelner Städte und Staaten aufzeigen möchte. Auf diese Weise baut der Ansbacher Intellektuelle seinen Reisebericht zu einer Art „Topograſe des Menschheitsfortschritts“ aus. Insbesondere in Philadelphia konzentriert sich für Schöpf die Quintessenz des Amerikanischen. Zwar folgt die Darstellung dieser Metropole dem im 18. Jahrhundert gängigen Schema der Stadtbeschreibung.315 Für die aufklärerische Spannkraft der Überlegungen ist aber die Tatsache entscheidend, dass der Duktus – im Sinne des Fortschrittsideals – ganz auf den Entwicklungsbegriff abhebt. Beleuchtet werden jene Bereiche der Stadtgeograſe, in denen aufklärerische Aufbrüche zu konstatieren sind. Dass Schöpf der amerikanischen Metropole grundsätzlich einen hohen Symbolwert für die Geschichte des menschlichen Glücks beimisst, wird bereits in den einleitenden Formulierungen greifbar: Emphatisch beschwört der sonst so nüchterne Kameralist den zum historischen Mythos geronnenen Ruf der Stadt: „Wer, in unserem deutschen Vaterlande, sollte wohl niemals von Philadelphia gehört haben? Und wem verdiente nicht diese vorzüglichste der Nordamerikanischen Städte bekannt zu seyn?“ Schließlich habe die Gründung des William Penn einen „so schäzbare[n] Beytrag zur Geschichte der Menschheit“ erbracht.316 Worin erfüllt sich nun der Vorbildcharakter der amerikanischen Metropole? An erster Stelle ist sicherlich das architektonische Phänomen zu nennen: Eine exemplarische Funktion kann Philadelphia schon deshalb beanspruchen, weil die Stadt bereits in ihrem physischen Erscheinungsbild einen positiven Gegenentwurf zur Alten Welt darstellte. Als Idealentwurf auf „schön[em] und regelmässig[em]“ Grundriss repräsentiere sie Zweckmäßigkeit, Ordnung und Harmonie, während sich die europäische Stadt häuſg im „Ungefähr“ planlos wuchernder Strukturen verliere.317 An diese städtebauliche Beobachtung knüpft sich ein weiteres typisches Element des aufklärerischen Diskurses an. Mit der architektonischen Schönheit korrespondiert ein speziſsches Hygiene-Ideal: Gepƀasterte Wege, Straßenbeleuchtung und Abwasserkanäle sorgten für günstige Lebensbedingungen. Der Brandschutz – der Arzt erinnert an die einschlägigen Erſndungen von Benjamin Franklin – käme der Sicherheit der Einwohner zugute.318 Der allerorts vorherrschende Eindruck von „Bequemlichkeit“ und „Reinlichkeit“ sei kein Zufall319: er lasse sich auf mentale Prägungen zurückführen, die ihren Ursprung im speziſschen religiösen Umfeld hätten. Die Ethik der Quäker käme in der Nützlichkeit der städtischen 315 Vgl. Kleinschmidt, Ordnung des Begreifens. 316 Schöpf, Reise I, 74. 317 Schöpf, Reise I, 77. Zu Philadelphia als urbaner Idealvorstellung der Aufklärung vgl. Lewis, Philadelphie. 318 Vgl. Schöpf, Reise I, 81-83. Der fränkische Aufklärer bezieht sich v.a. auf den „Franklin-Ofen“, eine freistehende, transportable Heiz- und Kochstelle (ebd., 82f.). Vgl. dazu zuletzt Krider, Franklin’s Science, 176-178; Edgerton/Cohen, Franklin Stove. 319 Schöpf, Reise I, 81.

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Einrichtungen ebenso wie in der Solidität der Lebensweisen zum Ausdruck. Zurückhaltung gegenüber „zeitverderblichen Vergnügungen“, Betriebsamkeit und Fleiß, der ausgeprägte Sinn für das Gemeinwohl, verbunden mit einem lebhaften Streben nach „Aufklärung“ (Förderung wissenschaftlicher Aktivitäten) – diese Tugenden deſnieren nach Schöpf den Habitus der Ostküstenmetropole.320 Überhaupt besetzt die Kategorie des Religiösen eine wichtige Rolle im geograſschen Diskurs. Schöpf entdeckt in diesem Thema weitere speziſsche Dimensionen der amerikanischen Aufklärung, so zunächst das Phänomen der Bekenntnispluralität: Für die religiöse Verfassung von „Pensylvanien, und folglich Philadelphia“ sei es charakteristisch, dass hier alle „Religionssekten eine ruhige Freystädte“ hätten. Neben den Episkopalen und verschiedenen Spielarten des Protestantismus lebten in diesem Bundesstaat – rechtlich „beynahe [in] nichts eingeschränkt“ – Juden und Katholiken.321 Freilich haben diese Verhältnisse der religiösen Diversität nicht mehr viel mit der aus Europa bekannten Mehrkonfessionalität zu tun. Während sich das europäische Religionsmodell gleichsam durch fest gefügte, sowohl staatlich als auch territorial fundierte Ordnungssysteme auszeichnet, betont Schöpf für die amerikanischen Strukturen den obrigkeitsfreien Status der Religionspraxis.322 Daraus ergibt sich für ihn – übrigens in ähnlicher Weise wie bereits für Kleinsorg – eine weitreichende hermeneutische Konsequenz: In Amerika versagten die aus den europäischen Erfahrungen des konfessionellen Konƀikts abgeleiteten Kriterien der kirchlichen Ordnung. Für die Neue Welt seien vielmehr Formen der betont antirituellen Religiosität typisch. Diese fänden ihre letzte Basis in der Selbstorganisation der Gläubigen auf der Gemeindeebene. Vor diesem Hintergrund müssten alle Versuche, so vor allem jene der Anglikaner, an die staatskirchliche Kontinuität der kolonialen Ära unter den Bedingungen der konfessionsneutralen Republik anzuknüpfen, zum Scheitern verurteilt sein.323 Schöpf steht diesen Verhältnissen jedoch nicht skeptisch gegenüber. Vielmehr sieht er mit der amerikanischen Entwicklung ein neues Kapitel der Religionsgeograſe aufgeschlagen. An die Stelle europäischer Konfessionsstaatlichkeit und Staatskirchlichkeit träten Mischungsverhältnisse von vielfältiger Gemengelage. Die „Toleranz“ biete daher die einzige Möglichkeit, innerhalb dieser gleichsam zerklüfteten Religionslandschaft zu einem modus vivendi zu gelangen. Dabei bezeichne dieses Prinzip, dessen „Vortheile nur izt erst in einigen der Europäischen Reiche erkannt“ würden, einen Tugendwert.324 Darüber hinaus versteht Schöpf unter Toleranz zugleich einen 320 321 322 323

Schöpf, Reise I, 85f. Schöpf, Reise I, 92f. Vgl. Schöpf, Reise I, 164f. Vgl. Schöpf, Reise I, 164f. Zu den Religionen in Pennsylvania vgl. Schwartz, Mixed Multitude; Wellenreuther, Ausbildung, 464-466. 324 Schöpf, Reise I, 92.

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theoretischen Begriff, mit dessen Hilfe sich die religiösen Mentalitäten der Einwohner von Philadelphia wissenschaftlich beschreiben lassen. Im Kern zielt der Terminus nämlich auf das zivilreligiöse Proſl des amerikanischen Selbstverständnisses ab. Das Bestreben, in allen Fragen des alltäglichen Lebens den „heilige[n] Geist […] ausser Betrachtung“ zu lassen, kennzeichne den Toleranzgedanken, auf den sich deshalb alle Religionen verständigen könnten.325 Somit ist in der Vielheit wieder eine Einheit gefunden, die mit ihrer Betonung des Konsensfähigen im Nützlichen – hier assimiliert Schöpf die Idee des common good – Frieden und Eintracht, Wohlstand und Moral zu fördern vermag.326 Die positiven Erträge einer solchen Haltung kann Schöpf auf vielen Feldern registrieren. Sie treten ihm in den vorbildlichen sozialen Einrichtungen ebenso entgegen wie in den wissenschaftlich-akademischen Infrastrukturen, die aus dem religiös inspirierten Philantropismus entstanden sind und überdies die intellektuellen Entwicklungssprünge der amerikanischen Menschheit demonstrieren. In der ihm eigenen realienorientierten Methodik listet der Arzt zahlreiche Beispiele auf. Sie reichen von den modernen medizinischen Einrichtungen (erwähnt wird das „Pensylvanische Hospital“) bis zu den Besserungsanstalten für Jugendliche und Entwurzelte („Bettering or Workinghouse“). Aufklärerische Bestrebungen begegnen ihm in den vielen gelehrten Sozietäten, so etwa in der American Philosophical Society, die ihre „Entstehung dem arbeitsamen und fruchtbaren Genie des in Wissenschaften und Staatshändeln gleich bekannten D[ominus] Franklin verdankt“327, daneben in der University of Pennsylvania. Nicht weniger kann Schöpf im Bibliotheksund Verlagswesen, in der Zeitungspublizistik und im Buchhandel, also auch unter „diese[n] zur allgemeinen Aufklärung beytragende[n] Anstalten“ eine bemerkenswerte Fülle an einschlägigen Initiativen namhaft machen.328 Der Arzt nimmt die Situation von Philadelphia zum Anlass, um zu einer umfassenden Typologie der nordamerikanischen Gelehrtenszene vorzustoßen. Die Position der Metropole innerhalb der Wissenschaftslandschaft der USA, etwa im Vergleich mit Harvard, Yale oder dem College of William and Mary, ist Schöpf ausführliche Reƀexionen wert.329 Das besondere intellektuelle Ge325 Schöpf, Reise I, 92. 326 Zu den Vorstellungen des common good bei den deutschen Auswanderern in Pennsylvania vgl. Roeber, Law. 327 Schöpf, Reise I, 110. 328 Schöpf, Reise I, 124; vgl. ferner ebd., 124-128. 329 Ähnliche Ansätze lassen sich auch in der aufklärerischen Universitätsgeograſe nachweisen: Die 1789 in Nürnberg erschienene Geographia academica von Immanuel Gottfried Göz betont ebenfalls die wissenschaftliche Vorreiterrolle der USA, und zwar unter Verweis auf folgende Einrichtungen: Cambridge (Universität, Academy of Sciences and Arts), Boston (Harvard College), Newport (College), New York (College, Ökonomische Gesellschaft), Philadelphia (Universität, American Philosophical Society), Lanca-

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wicht der damaligen amerikanischen Hauptstadt steht für ihn außer Frage.330 In langen Datenreihen versucht der Autor, den Elitestatus der Metropole zu belegen: Etwa zählt er die gelehrten Köpfe in Philadelphia auf (von Benjamin Rush bis David Rittenhouse).331 Die Beobachtungen zur aufklärerischen Topograſe von Philadelphia überschreiten die Grenze zum Politischen, obgleich Schöpf auf explizite Kommentierungen verzichten möchte. Vorsichtig bettet er daher seine Überlegungen in den Tugend-Diskurs ein: Die „Philadelphier“, und mit ihnen alle Pennsylvanier, seien nicht nur zur religiösen Toleranz oder gelehrten Aktivität berufen; sie zeigten – „von brittischer Herkunft angeerbt“ – eine besondere Neigung zur republikanischen Tugend. Als „starke und unternehmende Republikaner von jeher“ seien sie durch den Genius der „Freyheit“ ausgezeichnet, dessen kaum zu bändigende Kraft sich gerade in der zeitgeschichtlichen Aktualität des Unabhängigkeitskriegs und der erfolgreichen Loslösung der nordamerikanischen Kolonien vom britischen Mutterland deutlich erwiesen habe.332 So kommt bei dem Ansbacher Gelehrten eine kühne Denkſgur zum Vorschein. Ohne den in europäischen Fürstenohren anstößigen Begriff der „Revolution“ zu übernehmen, mündet seine Argumentation in ein freiheitstheoretisches Paradigma ein. Am Ende der geograſschen Analyse steht die Entschleierung der amerikanischen liberty als wirkmächtiges Prinzip der Geschichte. Dieses verwirkliche sich an konkreten Orten, in Pennsylvania und Philadelphia. Beide Räume könnten so zu Chiffren für den humanitären Fortschritt werden. Somit ist für Schöpf die Geograſe der amerikanischen Aufklärung nicht von ihrem ethnischen Hintergrund zu trennen. Gerade in einem Gemeinwesen, das wie die USA aus einer kolonialen Migrationsgesellschaft hervorgegangen ist, könnten die Akteure und Träger der republikanischen Tugend besonderes Interesse beanspruchen: Neben den Quäkern werde die „deutschpensylvanische Nation“ als besonders einƀussreiches Element erkennbar.333 Das Verhältnis der verschiedenen Einwanderermilieus stelle sich als gelungenes Miteinander dar. Verschmelzungsvorgänge verliehen dem Bild charakteristische Konturen. Eine kulturell wie mental höchst erfolgreiche „Verbindung“ bestehe vor allem zwischen Quäkern und Deutschen. Im Fleiß und in der Sparsamkeit teilten die Kolonisten Komponenten des quäkerischen Tu-

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ster (College), Baltimore (Universität), Williamsburg (Universität), Savannah (theologisches Seminar). Vgl. Göz, Geographia academica, 185-187. Vgl. Schöpf, Reise I, 109: Philadelphia „hat sich […] immer noch eines verdienstlichen Vorschritts in Ausbreitung und Bearbeitung nüzlicher und wohlthätiger Kenntnisse zu rühmen.“ Vgl. Schöpf, Reise I, 105-108, zu Benjamin Rush vgl. ebd., 106f., zu David Rittenhouse vgl. ebd., 108f. Schöpf, Reise I, 142f. Schöpf, Reise I, 149.

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gendideals. Auf diese Weise könnten sie einen wesentlichen Beitrag zum „lobenswürdigen Volkscharakter“ der Pennsylvanier erbringen.334 Ohne die Deutschen wäre „Pensylvanien nicht das […], was es ist“. Man beneide das Land um seine im Vergleich zu den übrigen US-Bundesstaaten „grössere Menge“ an Einwanderern aus dem Reich.335 Die Deutschen als ethische Stützen der amerikanischen Republik – in dieser Variante des ethnograſschen Diskurses zeigt sich selbstverständlich auch ein Stück nationaler Selbstvergewisserung. Deutlich ist zu erkennen, dass der Zugang zum Amerikanischen maßgeblich von patriotischen Betroffenheiten gesteuert wird. Im Moment der Autopsie erfährt dieses Rezeptionsmotiv noch eine Wirkungssteigerung. Wie sich bereits bei der Analyse des Itinerars herausgestellt hat, erscheint die Reise des Gelehrten als Fahrt zu den Quellen des Deutschen in Nordamerika. Der räumliche Schwerpunkt liegt auf deren Siedlungszonen in Pennsylvania, im Fall der Stadtbeschreibung von Philadelphia auch auf den Sozialeinrichtungen der deutschen Einwanderer. Minutiös zählt Schöpf seine persönlichen Begegnungen mit den führenden Repräsentanten der dortigen deutschen Gemeinde auf, so vor allem mit Johann Christoph Kunze, Professor an der University of Pennsylvania und Mitglied der 1764 in Philadelphia gegründeten German Society of Pennsylvania.336 Überhaupt werden die deutschen Netzwerke, aber auch die Informantenzirkel des Ansbacher Amerika-Reisenden selbst zum Thema der ethnograſschen Bestandsaufnahme. In diesen Rahmen fügen sich die ausführlichen Bemerkungen über seine Kontakte mit den lutherischen Geistlichen, insbesondere mit der Familie Mühlenberg, ein.337 Gemeinsame naturgeograſsche Interessen brachten Schöpf mit Gotthilf Heinrich Ernst Mühlenberg, einem Sohn von Heinrich Melchior Mühlenberg, dem Vorsteher der deutsch-lutherischen Gemeinde von Lancaster, in Verbindung.338 Die Begegnung mündete in eine intensive Korrespondenz ein, die Schöpf nach seiner Rückkehr nach Bayreuth über mehrere Jahre hinweg führte und in deren Mittelpunkt geologische und botanische Probleme standen.339 Auch besuchte Schöpf auf seinem Weg durch 334 335 336 337

Schöpf, Reise I, 149 Schöpf, Reise I, 151. Vgl. Schöpf, Reise I, 161-164. Generell zu Kunze vgl. Haussmann, Seminarium, 15-19. Vgl. Schöpf, Reise II, 17f. Zu Heinrich Melchior Mühlenberg († 1787), ab 1742 Leiter der deutsch-lutherischen Gemeinden in Nordamerika, vgl. Wellenreuther, Mühlenberg, 48f. 338 Im November 1783 besuchte Schöpf zusammen mit seinem Reisegefährten Franz Joseph Märter den lutherischen Geistlichen in Lancaster. Vgl. dazu die Korrespondenz Mühlenbergs V, Nr. 924, 607-613 (Gotthilf Heinrich Ernst an Heinrich Melchior Mühlenberg, 1784 I 2). 339 Vgl. HSP Society Collection, Schöpf an Heinrich Melchior Mühlenberg (1786 IV 3); ders. an Heinrich Melchior Mühlenberg (1786 IX 1); ders. an Heinrich Melchior Mühlenberg (1787 III 3); ders. an Heinrich Melchior Mühlenberg (1787 V 2); ders. an Gotthilf Heinrich Ernst Mühlenberg (1788 III 7); ders. an Gotthilf Heinrich Mühlenberg

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Pennsylvania die mährischen Brüdergemeinen von Bethlehem und Nazareth. Ausführlich würdigt er deren soziale und ethische Qualitäten. Die Lebensweise der Brüderunitäten erscheint ihm als musterhafte Symbiose von amerikanischem Tugendrepublikanismus und deutscher Solidität.340 Indes erliegt Schöpf nicht der Gefahr, die Dinge romantisch zu verklären. Die Neigung zum empirischen Beobachten gibt dem Reisebericht eine kritische Wendung. Nüchtern lenkt der Gelehrte den Blick des Lesers auf die Deſzite der deutschen Kolonistengruppe. Im Vergleich mit den Engländern registriert er empſndliche Mängel in den Umgangsformen und Bildungsproſlen. Er beklagt die sprachliche Devianz der Deutschen, die ihre Muttersprache zu Gunsten eines „Bastard-Kauderwelsch“ aufgäben und so ihrer kulturellen Assimilierung durch die angelsächsisch dominierte Umwelt Vorschub leisteten.341 Die Ursache für diese Probleme sieht Schöpf in der schwachen sozialen Basis der Einwanderer, die sich zumeist aus den unteren gesellschaftlichen Schichten rekrutierten.342 Der Arzt verweist zugleich auf die Maßnahmen, mit denen die Eliten der Pennsylvania-Deutschen diesen Verfallserscheinungen – letztlich Symptome einer mangelhaften Aufklärung – begegnen wollten: Die Gründung eines deutschsprachigen college in Lancaster und verstärkte Bildungsangebote in Philadelphia (so der Aufbau einer Volksbibliothek bei der German Society of Pennsylvania) sollten den nationalen Auszehrungsprozess aufhalten.343 So enthüllt sich in der perspektivischen Ausrichtung auf die Rolle der deutschen Einwanderer die Grundthese der Reisebeschreibung: Die sich in Pennsylvania verdichtende Geograſe der Aufklärung sei maßgeblich von den Deutschen mitgeprägt. Sie verleihe dem Ideal der Freiheit eigene Konturen. So gewinnt das Amerika-Bild eine entschieden nationale Färbung, gegenüber den älteren Protagonisten aus der reichspatriotischen Wahrnehmungsgruppe jedoch mit fundamentalen Umdeutungen: Amerika ist nicht mehr Objekt utopisch entrückter Großmachtprojektionen, sondern ein integraler Bestandteil der deutschen Lebenswirklichkeit. So wie Schöpf einerseits den Anteil der Deutschen am amerikanischen Experiment hervorhebt, so ist er andererseits von der nachhaltigen Wirkung der amerikanischen Vorgänge auf die europäischen und deutschen Verhältnisse überzeugt. In seinen geograſschen Erörte-

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(1788 XI 17); ders. an Gotthilf Heinrich Ernst Mühlenberg (1789 VI 23). Zu diesen Verbindungen vgl. auch Mears, Herbarium, 155, 168; Geus, Schoepf, 116. Vgl. Schöpf, Reise I, 204. Schöpf, Reise I, 157. Vgl. Schöpf, Reise I, 150f. Welche Bedeutung Schöpf diesen Bestrebungen beimisst, zeigt sich im Anhang der Reisebeschreibung. Hier sind zwei Texte von Kunze und Mühlenberg ediert, nämlich das Gründungsprogramm der German Society of Pennsylvania und der Hochschulplan für Lancaster. Vgl. Schöpf, Reise I, 630-644 u. II, 503-521. Zu Kunze vgl. Haussmann, Seminarium; zur German Society of Pennsylvania vgl. Pƀeger, Ethnicity, 5-20.

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rungen zeichnet sich das Modell einer transatlantischen Überzeugungsgemeinschaft ab. Verankert ist dieses Netzwerk auf verschiedenen Ebenen, so im Topograſschen, eben in Philadelphia und Pennsylvania, ferner im Prosopograſschen, also in den aufklärerischen Gesinnungszirkeln diesseits und jenseits des Atlantiks. Kanonisierung der USA Auch Fabri war sich der raumgeschichtlichen Konsequenzen der US-amerikanischen Staatsgründung bewusst. Im Gegensatz zu seinem Ansbacher Kollegen ſel seine Reaktion auf die Ereignisse gleichwohl deutlich reservierter aus. Dieser zurückhaltende Umgang mit dem amerikanischen Thema ist indes mit den unterschiedlichen Betrachtungsansätzen zu erklären: Schöpf bewegte sich mit seinem Reisebericht im Rahmen einer exklusiv auf den amerikanischen Aspekt zugeschnittenen Staatenkunde, hatte also gleichsam von Haus aus das Partikulare im Blick. Fabri hingegen stand in der Kontinuität des Genus der Weltbeschreibung – einem Genre, das bei aller Aufgeschlossenheit für das Aktuelle das Ganze berücksichtigen, den Ausgleich zwischen der Weiterentwicklung überlieferter und der Einführung neuer Wissensfelder leisten musste. Die Linien der Wahrnehmung bildeten dabei ein wirkmächtiges Traditionskorsett, das lediglich Variationen innerhalb eines insgesamt festgefügten Erkenntniskanons zuließ. Gerade Fabri, der mit seinen universalgeograſschen Beiträgen auf ein primär schulisches Publikum abzielte und damit von vornherein auf kanonisierte Wissensstoffe festgelegt war, machte hier keine Ausnahme. Hinzu kam noch sein synthetisches Wissenschaftsverständnis. So war es ihm vor allem darum zu tun, das Neue mit dem Alten zu verknüpfen. Die Wissensinnovation stellte sich als Problem der Adaption dar. Es ging darum, das Neue in das überlieferte Klassiſkationsmodell einzufügen, ohne die Grundlagen der Raum- und Zeitordnung aufzugeben. Beispielhaft für dieses Vorgehen ist etwa das Beharren auf dem europäischen Vorrang in der Welt. Gewiss war Fabri darum bemüht, das Wissen über die „neuen“ Erdteile in Übersee aufzunehmen. Immer wieder betont der Gelehrte, dass er seine häuſg in hohen Neuauƀagen publizierten Werke dem veränderten Informationsstand angepasst habe, insbesondere die Kapitel über „Africa und America“ regelmäßig „in allen Abschnitten ganz neu ausgearbeitet“ habe.344 Nur wenige Geografen des späten 18. Jahrhunderts waren von der Notwendigkeit zur Remedur so überzeugt wie Fabri. Gleichwohl änderte der damit einhergehende Bedeutungszuwachs der überseeischen Räume nichts an der hergebrachten Vormachtstellung Europas. Noch der 1809 in zwölfter Auƀage erschienene Abriß der Geographie propagiert das Übergewicht des alten Kon344 Fabri, Handbuch (1790), Vorbericht, XVII.

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tinents, und zwar in einer Weise, die selbst die radikalen Eurozentristen des frühen 18. Jahrhunderts weit übertrifft: Nahezu zwei Drittel des Textvolumens sind Europa gewidmet. Weit abgeschlagen rangiert Asien mit rund 18% auf dem zweiten Platz. An dritter Stelle erscheint Amerika mit knapp 9%. Afrika liegt völlig im Windschatten der Weltgeschichte. Nur 6% des Texts beziehen sich auf diesen Erdteil, der damit ein nur unwesentlich höheres Interesse als Australien (2%) für sich verbuchen kann.345 In den universalgeograſschen Diskursen der protestantischen Aufklärung war man von einer paritätischen Behandlung der einzelnen Erdglieder weit entfernt. Von einer Hinwendung zum Anderen und Fremden – etwa unter dem Vorzeichen eines aufklärerischen Universalismus – ist wenig zu bemerken: Amerika ist nur die Peripherie von Europa. Um jedoch der tatsächlichen Bedeutung der amerikanischen Dimension auf die Spur zu kommen, wird man bewährte analytische Muster anwenden müssen. Weitere Aufschlüsse kann die Untersuchung der Amerika-Kapitel in den Weltbeschreibungen von Fabri liefern. Als dafür besonders geeignet erscheint das Handbuch der neuesten Geographie. Dieses Lehrwerk hat zahlreiche Folgeauƀagen erlebt. Daher ist es es möglich, die Amerika-Vorstellungen in begriffsgeschichtlicher Hinsicht systematisch zu untersuchen. In der ersten Auƀage des Handbuchs von 1784/85 zeichnet sich zunächst einmal Altbekanntes ab: Fabri geht von einem zweiteiligen Amerika-Begriff aus. Im traditionellen Sinn unterscheidet er zwischen Nord- und Südamerika.346 Unter den Terminus des „Südamerikanischen“ fallen die gegen Ende des 18. Jahrhunderts noch bestehenden Kolonialreiche der Spanier und Portugiesen. Fabri hebt deren fortdauernde Anbindung an Europa hervor. So beschreibt er die südamerikanischen Gebiete nicht nur im Amerika-Kapitel, sondern verweist auch im Kontext der europäischen Staatengeschichte auf deren Existenz. Südamerika gilt ihm als Extension des Europäischen, als territoriale Basis, auf die sich der Bedeutungsanspruch der einzelnen Großmächte in der Alten Welt stützt.347 Eindeutig höheres Gewicht misst Fabri Nordamerika bei. Auffälligerweise kommt diese Perspektive in der ersten Ausgabe des Handbuchs noch stärker zur Geltung als in den späteren, nach 1800 gedruckten Auƀagen: Hier beziehen sich rund zwei Drittel des entsprechenden Abschnitts auf die Nordhälfte des Kontinents. In der achten Auƀage von 1803 sind es weniger als 60%. Dieser Rückgang in der Wahrnehmungsdichte ist kaum als Beleg für eine wachsende Distanz gegenüber den nordamerikanischen Phänomenen zu werten. Der Grund liegt vielmehr in einer 345 Vgl. zu diesen Relationen Fabri, Abriß, 21-148 (Europa), 149-185 (Asien), 186-198 (Afrika), 199-216 (Amerika), 217-222 (Australien). 346 Vgl. Fabri, Handbuch II (1785), 280-305 (Nordamerika), 305-320 (Südamerika). 347 Vgl. Fabri, Handbuch II (1785), 40 (französische Kolonialgebiete), 49f. (spanische Kolonialgebiete), 53 (portugiesische Kolonialgebiete), 61 (Guyana), 79 (britische Kolonialgebiete), 87 (dänische Kolonialgebiete).

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kategorialen Neugliederung des Raums. In der achten Auƀage seines Werks führt Fabri den Begriff des „Mittelamerikanischen“ ein, um den naturräumlichen Gegensatz zwischen dem Festland und den karibischen Inseln schärfer zu akzentuieren.348 Bereits für die erste Auƀage seines Handbuchs ist die intensive Berücksichtigung der westindischen Inseln, der Bahamas und der Bermudas, charakteristisch.349 In diesem Gesamtszenario nehmen die USA eine wichtige Rolle ein. Ihre begrifƀiche Präsenz ist von Anfang an gegeben. In der 1784/85 erschienenen Ausgabe des Handbuchs sind sie unter dem Terminus des „Nordamerikanische[n] Freistat[s]“ erfasst.350 In der dritten Auƀage von 1790 nähert sich Fabri dem revolutionären Sprachgebrauch noch stärker an. Das entsprechende Teilkapitel über die USA ſrmiert unter der Überschrift der „nordamericanischen vereinigten Staaten“.351 Diesen terminologischen Usus behält Fabri dann in den Folgeauƀagen bei. Parallel zu der sich intensivierenden, dabei unmittelbar auf das zeitgeschichtliche Geschehen reagierenden Begriffspräsenz ist auch ein Anwachsen der Textvolumina zu beobachten. In der ersten Auƀage (1784/85) entfallen auf die USA bereits 24%. Bis zur achten Auƀage steigert sich ihr Anteil auf 30% (1803).352 Immer rangieren die Vereinigten Staaten auf dem ersten Platz der nordamerikanischen Territorialformationen und prägen so das Proſl des (Teil-)Kontinents. Ausführliche Erläuterungen gelten den um 1800 noch bestehenden europäischen Kolonien in Nordamerika, etwa Kanada oder den spanischen Dominien in Neu- und Altmexiko. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass Fabri an der Kategorie der „freye[n] Indianerländer“ festhält.353 Dass den indigenen Herrschaften ein völkerrechtlicher Charakter zukommt, dass sie damit in der politischen Geograſe der amerikanischen Staaten und Mächte als Faktoren von eigener juristischer Relevanz aufscheinen, ist für den aufklärerischen Diskurs in Süddeutschland durchaus ungewöhnlich. Für Kleinsorg – um nur an ein besonders prominentes Gegenbeispiel zu erinnern – hebt sich der völkerrechtlich fassbare Wert der Indigenen im Bild des „edlen Wilden“ auf.354 Mit ihrer in der Aufklärung weit verbreiteten Utopisierung verloren die amerikanischen Ureinwohner ihren konkreten geograſschen Ort. Bei Fabri gewannen sie ihn – unter dem Einƀuss des statistischen, also auf objektivierbaren Kategorien basierenden Denkens – wieder zurück. 348 Vgl. Fabri, Handbuch II (1803), 299-332 (Nordamerika), 332-344 (Mittelamerika), 344366 (Südamerika). 349 Vgl. Fabri, Handbuch II (1785), 299-304. 350 Fabri, Handbuch II (1785), 287. 351 Fabri, Handbuch (1790), 435. 352 Zu diesen Prozentwerten vgl. Fabri, Handbuch II (1785), 287-293 (25 Seiten zu Nordamerika) und II (1803), 308-318 (33 Seiten zu Nordamerika). 353 Vgl. Fabri, Handbuch II (1803), 299-332. 354 Vgl. Kapitel 11.

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Fabri kann den USA auch ideelle Aspekte zuordnen, vor allem dort, wo sich der Gelehrte mit dem Regierungssystem des „demokratische[n] Freistat[s]“ auseinandersetzt (so in der Ausgabe von 1784/85).355 In den Neuauƀagen erweitern sich diese Anmerkungen zu einer Verfassungsgeschichte der USA. Deren „glücklich[er]“ Verlauf stößt auf immer stärkere Resonanz. In der Ausgabe von 1803 gibt Fabri einen ausführlichen Überblick über die Ereignisse und Entwicklungen seit der Unabhängigkeitserklärung von 1776.356 Dabei zielt er darauf ab, die positiven Folgen der amerikanischen Republikgründung im Namen des allgemeinen Fortschritts zu dokumentieren. Besonders deutlich kommt diese Tendenz in der Stadtbeschreibung von Philadelphia zum Ausdruck. Betont werden jene Zusammenhänge, die das Proſl der Metropole als Vorort der Aufklärung belegen können. Die systematische Auflistung der „gottesdienstliche[n] Versammlungshäuser“ und der einzelnen Konfessionen soll die dort herrschende Toleranz unter den Religionen aufzeigen. Der Hinweis auf die Sozialeinrichtungen, vor allem die Krankenhäuser und „nützliche[n] Vereine“, soll die günstigen Auswirkungen des Philanthropismus illustrieren. Mit der Aufzählung der akademischen Einrichtungen hebt die Darstellung auf die Bedeutung des aufklärerischen Bildungsgedankens ab. Das Argument des ökonomischen Erfolgs wird ebenfalls aufgerufen. So präsentiert Fabri eine genaue Aufstellung der Ein- und Ausfuhrquoten. Sie soll die herausragende Verteilerfunktion der Hafenmetropole für den US-amerikanischen Handel verdeutlichen.357 Die Parallelen zur Städtebeschreibung im Reisebericht von Schöpf sind kaum zu übersehen.358 So übernimmt er nicht nur deren Informationsstandards, sondern greift auch die dort ventilierten Werthaltungen auf. Freilich verknappt er das Szenario, indem er das erzählerische Moment zu Gunsten des statistisch Beschreibbaren auƀöst: Die aufklärerische Valenz der nordamerikanischen Metropole sei hieb- und stichfest anhand intersubjektiv nachvollziehbarer Datenreihen nachzuweisen – dieser Eindruck soll sich bei dem Leser festsetzen. Im Bild der Zahlen erweisen sich die humanen Potenziale der USA. In der numerischen Statistik der Nützlichkeit und des Fortschritts ist die Substanz der amerikanischen Bewegungen erfasst. Neben den Topograſen der Revolution (Jäger) und der Tugend (Westenrieder, Schöpf) ſndet Fabri mit seinem Modell zu einer weiteren Variante des aufklärerischen Amerika-Diskurses in Süddeutschland. 355 Fabri, Handbuch II (1785), 288f. 356 Vgl. Fabri, Handbuch II (1803), 308. 357 Alle Zitate Fabri, Handbuch II (1803), 312f. Zum Interesse an der ökonomischen Bedeutung von Philadelphia vgl. auch Fabri, Magazin I (1797), Handlungsnachrichten von Philadelphia, von dem Jahr 1795, 319 (nach: Daily Advertiser, New York, Ausgabe von 1796 I 5/6). 358 Ausdrücklich bezieht sich Fabri bei seiner Philadelphia-Beschreibung auf Schöpf. Vgl. dazu Fabri, Handbuch II (1803), 295; ders., Lesebuch, 161-177 (Teilabdruck der Stadtbeschreibung von Schöpf).

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KAPITEL 13: ZUSAMMENFASSUNG Wenn man nach den Grundtendenzen des geograſschen Amerika-Denkens im 18. Jahrhundert fragt, dann kristallisieren sich folgende Komponenten heraus. Zunächst lässt sich ein substanzieller Raumbegriff der Neuen Welt ausmachen. Eindeutig fassbar wird das Bestreben, die Phänomenologie des vierten Kontinents mit Hilfe eines hoch differenzierten landeskundlichen Methodeninstrumentariums zu ordnen. Bereits um 1700 stellte sich Amerika den Zeitgenossen als vielgestaltige Wirklichkeit dar. Die Leistungen der barocken Landeskunde nahmen die Ergebnisse der aufklärerischen Statistik vorweg. Insbesondere die Jesuiten entwickelten mit ihrem zwischen heilsgeschichtlichem Impetus, empiristischem Verismus und synthetischem Ordnungsanspruch oszillierenden Zugang eine umfassende Wissens- und Deutungssystematik. An vielen Stellen zeigt sich die besondere Analysefähigkeit dieser „barocken“ Verfahrensweisen. So waren sie in der Lage, die Neue Welt in der Vielschichtigkeit ihrer naturkundlichen, historisch-politischen, ethnischen, religiösen und ökonomischen Raumfacetten zu erfassen (oder besser gesagt: ein Verständnis für deren räumliche Komplexität zu erzeugen). Kontinentale und regionale Perspektiven, sowohl auf Gesamtamerika als auch auf einzelne Regionen bezogen, standen als voll ausgearbeitete Interpretationsmöglichkeiten zur Verfügung. Mit dieser systemlogischen Ebene ist ein weiterer bedeutsamer Aspekt verbunden: Zu Beginn des 18. Jahrhunderts hatte Amerika den Charakter einer numinosen Größe am fernen Zivilisationsrand längst verloren; die Neue Welt war bereits tief in die Horizonte der europäischen Zeitgenossen integriert. Sie konnte auftreten als revolutionierender Faktor der frühneuzeitlichen Wissensgesellschaft (so bei den Jesuiten), als Chiffre für heilsgeschichtliche Dynamiken (gleichermaßen bei Katholiken wie bei Protestanten), als Motor politischer und ökonomischer Bewegung, nicht zuletzt als idealisierter Raum einer menschheitsgeschichtlichen Moderne, wie sie aufklärerische Denker postulierten. Allen diesen Anmutungen war ein Moment gemeinsam: Sie gingen von einem Ineinandergreifen, von einer Vernetztheit der amerikanischen wie der europäischen Weltteile aus. Der geograſsche Diskurs war durchgängig „westernisiert“, obschon dessen süddeutscher Ausprägung ein entscheidender Anker, nämlich die imperiale Erfahrung der großen westlichen Kolonialmächte, fehlte. Interessanterweise konnten jedoch gerade speziſsche regionale Mentalitätskonstellationen dafür Ersatz schaffen: Die schwäbischen, fränkischen und bayerischen Jesuitenautoren sahen sich als Repräsentanten einer „transkontinental“ ausgerichteten Wissens- und Forschungsgemeinschaft. Sie hatten dabei die von Süddeutschland ausstrahlenden Missionsbewegungen ihres Ordens vor Augen. Das Bewusstsein, auf einen jeweils größeren, mithin amerikanischen Kontext verwiesen zu sein, prägte auch die pietistischen Zirkel in den Reichsstädten oder die aufklärerischen Funktionärs-

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eliten im süddeutschen Fürstenstaat. Für besonders originell muss man dabei die Vorstellungen der Nürnberger Universalgeograſe halten. Die Atlantisierung der Denkrahmen stützte sich hier auf das kulturelle und politische Ferment der reichsstädtischen Lebenswelt. Drei Impulse förderten deren Einbau in den „regionalen“ Horizont. Erstens: die reichspatriotische Loyalität für das Haus Habsburg; zweitens: das Bewusstsein für den eigenen Nürnberger Beitrag zur Entdeckungsgeschichte (Martin Behaim); und drittens: die konfessionell instrumentierten Solidaritäten mit den Briten als internationaler Schutzmacht des Protestantismus. Diese vielfältigen Rezeptionsvoraussetzungen in den unterschiedlichen Kommunikationsmilieus wirkten auch auf das Wissensobjekt selbst zurück. Die konkrete geograſsche Gestalt der Neuen Welt nahm unter den Händen ihrer Betrachter jeweils andere Formen an: Für die Jesuiten lag das Zentrum des vierten Kontinents eher im spanischen Süden, oder genauer: im Südwesten der nördlichen Kontinentalhälfte (Mexiko, Kalifornien). Die Protestanten dachten stärker in britischen Dimensionen. Ihr Augenmerk konzentrierte sich auf die Ostküste – gleichgültig, ob man mit dieser Option eher politische Sympathien (für die Briten) oder religiöse Erwägungen (protestantische Missionen und Kolonien in Angloamerika) verband. Die Aufklärer lebten wiederum vom topograſschen Dualismus zwischen „aufgeklärtem“ (englischem) Norden und „verkommenem“ (spanischem) Süden, wobei gerade einzelne süddeutsche Aufklärer (Westenrieder) diesen kulturgeograſsch inszenierten Gegensatz auch unter umgekehrtem Vorzeichen lesen konnten: der Süden als Synonym für eine eudämonistische Lebenshaltung, die dem kühlen, egoistisch berechnenden Norden entgegenzuhalten war. Die aufklärerische Dialektik zwischen Räumen der Fortschrittlichkeit und Rückschrittlichkeit hatte indes schon ihre Vorläufer in den konfessionstopograſschen Repräsentationen des Kontinents: Je nach konfessioneller Zugehörigkeit unterschieden Jesuiten und Pietisten (in jeweils positiver wie negativer Wendung) zwischen Ländern kommenden Heils und noch „unerleuchteten“ (paganen oder fremdkonfessionellen) Zustands. Die Indienstnahme der amerikanischen Geograſe für das weltanschauliche Argument (unter Übertragung alteuropäischer Kriterien auf den amerikanischen Raum) kennzeichnete den intellektuellen Diskurs des gesamten 18. Jahrhunderts. Dem kolonialen Amerika sollte es darin nicht anders ergehen als dem Amerika nach der Revolution oder jenem des 19. und 20. Jahrhunderts. Indes muss auch gesagt werden: Die geograſschen Projektionen des 18. Jahrhunderts stellten die Neue Welt im Großen und Ganzen günstig dar. Gerade das heilsgeschichtliche Raisonnement brachte dem vierten Kontinent Optimismus und Hoffnung entgegen. Der amerikanische Raum funktionierte als positive Gegenchiffre zum zunehmend negativ besetzten Europa. Selbst das stereotype Festhalten an der Vorstellung eines kulturell wie zivilisatorisch überlegenen Europas (bei allen Autoren, quer durch alle soziokulturellen und konfessionellen Milieus) kann nicht darüber hinwegtäuschen,

Kapitel 13: Zusammenfassung

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dass Amerika doch zunehmend als Sitz eines erneuerten Europas, gewissermaßen als zweite Chance einer depravierten Alten Welt, betrachtet wurde. In diesen Zusammenhang fügt sich noch eine letzte zentrale Beobachtung ein: die Nordamerikanisierung der Perspektiven. Das geograſsche Text- und Kartencorpus hat eindeutig gezeigt, dass die Staatswerdung der USA im Jahr 1776 nur die letzte Etappe auf dem langen Weg der Synonymisierung von Gesamtamerika mit Nordamerika war. Die Wahrnehmungsdrift vom Süden in den Norden setzte wesentlich früher ein. Sie ist auf die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert zu datieren und stand in unmittelbarem Zusammenhang mit den Auf- und Abstiegsdiskursen der alteuropäischen staatstheoretischen Reƀexion (bzw. deren Ausläufern in den geograſschen Diskurs hinein). Letztlich hing die Einschätzung von der Gewichtsverteilung zwischen Nord- und Südamerika von der historischen Bewertung des Verhältnisses zwischen England und Spanien ab. Nahezu alle hier präsentierten Autoren (auch die katholischen) gingen von einem Bedeutungsgewinn des britischen Imperiums aus, und zwar auf Kosten des spanischen Kolonialreichs. Damit verlagerte sich die Rezeptionsachse tendenziell vom spanischen Süden in den englischen Norden. Konfessionelle Optionen konnten diesen Prozess noch unterstützen: Protestantische Reichsstädter interessierten sich naturgemäß eher für den Norden als die Jesuiten. Doch auch bei Letzteren ist eine Hinwendung zum Norden unübersehbar, wobei den Jesuitengeografen gerade das konfessionelle Argument zupass kam. Gestützt auf die Forschungsexpeditionen ihres Ordens reklamierten sie einfach den Mittleren Westen, das Mississippi-Gebiet und den Südwesten der heutigen USA für die spanisch-katholische Seite. Speziell die Dillinger Universitätsgeograſe verlieh Nordamerika hispanische Dimensionen. So ließ sie den Norden wieder zu einer Sache des Südens werden.

TEIL 4: HISTORIOGRAFISCHE AMERIKA-DEUTUNGEN KAPITEL 14: JESUITEN Missionsgeschichte In der amerikanischen Geschichtsschreibung der Jesuiten bündelten sich die im 18. Jahrhundert geläuſgen Formen der Wissenssicherung. Das Textcorpus bediente alle Spielarten des historiograſschen Darstellens. Es verband universalchronistische Zugänge mit dokumentarischen Bestrebungen. Der Hauptakzent lag auf Erfassung, Bereitstellung und Interpretation von Quellenzeugnissen. Die Jesuiten boten eine anspruchsvolle Wissenschaftspublizistik, die sich gleichermaßen an ein ordensinternes, allgemeines wie fachlich interessiertes Publikum wandte. Die jesuitische Variante der Amerikahistoriograſe entfaltete vielfältige intentionale und kommunikative Bezüge. Ihren Hauptimpuls bezog sie – wie die Jesuitengeograſe – aus Missionsaktivitäten. Dass die Historiografen – ebenso wie ihre Kollegen von der Geograſe – auf das globale Nachrichtensystem des Ordens zurückgreifen konnten, sicherte ihren Bestrebungen ein hohes Maß an empirischer Qualität. Ganz unterschiedliche disziplinäre Ansätze verknüpften sich zu einem enzyklopädischen Projekt. In ontologischer Grundausrichtung fügten sich hier missionshistoriograſsche, kirchen- und kulturgeschichtliche, landeskundliche, aber auch ethnograſsche und wirtschaftshistorische Reƀexionsebenen zu einem stringenten Weltpanorama zusammen, weshalb die kürzlich vorgebrachte Charakterisierung als „quellenkritisch schwach“ und „apologetisch“ den Verhältnissen auch nicht annähernd gerecht werden kann.1 Vielmehr hat die Jesuitenhistoriograſe, mit Wirkungsradien weit über das engere katholische Milieu hinaus, als normensetzend für ihre Zeit zu gelten. Wenn es um amerikageschichtliche Positionen im Reich des 18. Jahrhunderts geht, muss sie daher an der ersten Stelle der Betrachtungen stehen. Die jesuitischen Bemühungen um die missionsgeschichtliche Erfassung und Deutung des Weltgeschehens verdichteten sich gerade in Süddeutschland. Sie kulminierten im Neuen Welt-Bott, einer Sammlung von Missionskorrespondenzen aus allen Weltteilen. Dieses großangelegte Editionsprojekt 1

Vgl. das pauschale Verdikt von Ka. Müller, Katholische Missionsgeschichtsschreibung, 28. Dagegen spricht Völkel (Geschichtsschreibung, 219f.) von der „Überlegenheit der katholischen Kirchengeschichtsschreibung“ im 18. Jahrhundert. Vgl. ähnlich die Einschätzung bei Wendt, Einleitung.

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Teil 4: Historiograſsche Amerika-Deutungen

wurde durch den schwäbischen Jesuiten Joseph Stöcklein begründet. Das Werk erschien zwischen 1726 und 1761 als Periodikum in vierzig Bänden in Augsburg, das vor allem dieser europaweit vertriebenen Materialsammlung seine herausragende Position als Verlags- und Druckort für Catholica im frühneuzeitlichen Reich zu verdanken hatte. Der Neue Welt-Bott erweist sich als Musterbeispiel für innovatorische editionswissenschaftliche Praktiken im 18. Jahrhundert. Stöcklein druckte hier Originalberichte ab, die er von Ordensmissionaren aus Europa, Amerika, Afrika und Asien persönlich erhalten hatte. Ferner übernahm er bereits an anderer Stelle publizierte Beschreibungen, so etwa aus den Lettres édifiantes et curieuses, einem Periodikum der französischen Jesuiten.2 Der Gelehrte verwendete größte Sorgfalt auf die systematische Bearbeitung der Texte; je nach Bedarf kürzte er sie. Um die Authentizität des Originals zu bewahren, stellte Stöcklein jedem Textstück ein Kopfregest voran. Die Angaben informieren über den Brieſnhalt; immer vermerkt wurden Sender und Empfänger, Datum und Herkunftsort. Die Texte wurden aus ihrer jeweiligen Originalsprache (Latein, Italienisch, Französisch, Spanisch) ins Deutsche übersetzt. Somit erfüllte der Neue Welt-Bott eine wichtige Funktion für den Transfer zwischen den unterschiedlichen Kulturen des romanischen und deutschen Katholizismus. Die Edition enthält ein beeindruckendes Briefcorpus. Sie deckt einen mehr als einhundertjährigen Berichtszeitraum ab (von 1642 bis 1758). Die Teilbände zählen insgesamt 812 Textnummern auf rund 4500 Folio-Seiten.3 Historisch beziehen sich die Korrespondenzen auf die Hochphase der jesuitischen Missionsexpansion im 17. Jahrhundert. Gleichfalls berücksichtigt wurde die späte, bereits von heftigen Anfeindungen begleitete Schlussperiode der frühneuzeitlichen Societas Jesu ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Den Antijesuitismus bekamen die Herausgeber des Neuen Welt-Botts unmittelbar selbst zu spüren. Nach dem Tod von Stöcklein 1733 wurde die Edition zwar fortgesetzt, kam dann allerdings nur noch langsam voran.4 An eine Fertigstellung des Unternehmens war nicht mehr zu denken. Das ambitionierte Editionsprojekt wurde ein Opfer von staatsabsolutistischer Repression 2 3

4

Die Lettres édifiantes erschienen von 1701 bis 1781 in Paris. Vgl. dazu Borja González, Jesuitenautoren, 75; Collani, Parishes, 671; Reichler, Préface, 12-14; Vissiere/Vissiere, Peaux-Rouges, 7-12; Wendt, Einleitung, 12f. Vgl. zusammenfassend Borja González, Jesuitische Berichterstattung, 124-145; Classen, Jesuit Missionaries, 279-281; Collani, Survey, 18-20; Dürr, Welt-Bott; M. Müller, Elite im Zeichen des Kreuzes, 145f. Zu den inneren und äußeren Merkmalen der Edition vgl. Collani, Parishes, 671; Gier, Buchdruck, 512f.; Häberlein, Monster, 370. Unter Stöcklein erschienen die ersten 20 Teile (1726-1732). Die Teile 21 und 22 wurden 1736 von Carl Meyer herausgebracht. 1739 übernahm Peter Probst die Verantwortung für die Teile 23-28. Danach redigierte Franz Keller den Neuen Welt-Bott (Teile 29-36), gefolgt von Franz Xaver Socher (Teile 39, 40). Diese beiden letzten Teile erschienen nur noch als Bürstenabzug. Zur Publikationsgeschichte vgl. Stöcklein, Welt-Bott III/2122, Vorrede, [2r], IV/25-28, Vorrede, [2rv]; ferner Collani, Survey, 18f.

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und aufklärerischer Jesuitenfeindschaft. Mit dem Ende des Welt-Botten 1761 ſel ein bedeutsames, gerade in Bayern und Österreich maßgebliches Kommunikationsforum für die Verbreitung von überseegeschichtlichen Nachrichten weg.5 Zu den bedeutenden Amerika-Medien süddeutsch-jesuitischer Provenienz sind auch die Rudimenta historica von Maximilian Dufrène zu rechnen, die als universalgeschichtliches Lehrbuch für die Gymnasien der oberdeutschen Ordensprovinz konzipiert wurden.6 Die didaktische Absicht tritt deutlich hervor. Zum Einsatz kamen etwa chronologische Ereignislisten, weshalb man Dufrène zu den typischen Protagonisten der Tabellenhistorie im katholischen Süddeutschland zählen muss. Der Pädagoge hatte zeitweise als Präzeptor der Adelsfamilie Fürstenberg gearbeitet. Die Rudimenta verdankten ihre Entstehung primär diesem Kontext.7 Das sechsbändige, erstmals zwischen 1726 und 1730 in Augsburg, dann in zahlreichen Neuausgaben bis 1780 aufgelegte Studienkompendium ist als lateinisch-deutscher Paralleldruck aufgebaut.8 Der Ereignisbericht ist fünf Ebenen zugeordnet: der biblischen Geschichte (Bd. 1), der Geschichte der vier Monarchien einschließlich des römisch-deutschen Reichs (Bde. 2 und 3). Der vierte Band handelt von den „Königreichen“ und „Landschafften der Welt“; der fünfte Band konzentriert sich auf die Geograſe der Weltregionen (in der Reihenfolge Europa, Asien, Afrika und Amerika). An letzter Stelle steht die Geschichte der (katholischen) Kirche. Die amerikakundlichen Bezüge verteilen sich auf die verschiedenen Ebenen der Gesamtdarstellung, nämlich auf die Staaten-, Kontinental- und Kirchengeschichte.9 (Nord-)Amerika im Heils- und Erkenntnisfortschritt Der Missionsimpuls war eine wichtige Grundlage für das überseegeschichtliche Interesse der Societas Jesu. Es ist nun bemerkenswert, dass diese Tatsache den Zeitgenossen selbst bewusst war und konsequent im Sinn einer Rezeptionstheorie reƀektiert wurde. Vor allem Renate Dürr hat als Interessenmotivationen für die Herausgeber des Neuen Welt-Bott den christlichen „Wis5 6 7 8 9

Vgl. Borja González, Jesuitenautoren, 74; Dürr, Welt-Bott, 466. Zum Antijesuitismus vgl. Beales, Europäische Klöster, 155-161; Dülmen, Antijesuitismus; C. Vogel, Untergang. Vgl. Neddermayer, Mittelalter, 92. Zum biograſschen Proſl von Dufrène vgl. Duhr, Geschichte IV/2, 391f.; Mauerer, Reichsadel, 276; Sommervogel/De Backer/De Backer, Bibliothèque III, 263-270; Steiner, Ordnung, 192. Bislang lassen sich fünf Auƀagen nachweisen (1729-31, 1733, 1750, 1755, 1780). Vgl. dazu European Americana VI, 727/71, 728/59, 729/77, 730/78, 733/82, 733/83, 735/85, 738/81, 750/102. Vgl. Dickerhof, Land, 70; Neddermayer, Mittelalter, 97.

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senschaftsoptimismus“ des Barock und den Konnex von „Naturerkenntnis und Gotterkenntnis, Erkenntnis der Welt und Selbsterkenntnis“ herausarbeiten können.10 Wenn die Rede an dieser Stelle noch einmal auf die Vorbedingungen des jesuitischen Wissenschaftsverständnisses kommen soll, dann geschieht dies nicht in der Absicht, die von der Forschung ausreichend geklärten Sachverhalte zu wiederholen. Vielmehr ist daran gedacht, die Frage der Erkenntnisvoraussetzungen erneut mit dem speziſschen Problem der AmerikaWahrnehmung zu verknüpfen. Es geht darum, im universalhistorischen „Wissensmarketing“ der Jesuitengelehrten (im Neuen Welt-Bott taucht die Metapher vom „Jahrmarkt der Informationen“ auf11) den Ort des Amerikanischen ausſndig zu machen. Dies geschieht auch und gerade vor dem Hintergrund der bereits näher beleuchteten Jesuitengeograſe. Zu fragen ist daher: Kommt der Neuen Welt als wissenschaftsrevolutionierendem Faktor hier eine ähnlich tragende Bedeutung zu? Für die Verortung des amerikanischen Themas ist zunächst das Titelkupfer des Welt-Botten von Interesse. Die Graſk inszeniert das Werkprogramm in allegorischer Form. Die Vorrede liefert dazu einen ausführlichen Kommentar.12 Zunächst sei der Bildkomplex näher beschrieben (Abbildung 11): Am linken Rand ist eine anakreontische Landschaft zu erkennen. Dieser Raum präsentiert sich als Kulturlandschaft im europäischen Sinn. Klar getrennt wird zwischen kultivierter Natur und ummauerter Urbanität. Ebenso verweist das Symbol des ruhenden Stiers auf die europäische Prägung des Landes. Die rechte Bildhälfte ist durch den Ozean ausgefüllt. Auf ihm fährt ein Segelschiff, das direkt auf Europa zusteuert und vier Tiere (Kamel, Löwe, Leopard und Elefant), daneben eine Fülle von „Briefen/ Schrifften und Reis-Beschreibungen“ an Bord mitführt. Die Tierpersoniſkationen vertreten Afrika, Asien und Amerika. Damit repräsentieren sie jene Kontinente, aus denen den Europäern neues Wissen zuströmt (eben in Gestalt von Briefen, Schriften und Reisebeschreibungen). Die Darstellung setzt also die Erfahrung globalisierter Kommunikationsverbindungen allegorisch um. Für die metaphorische Inszenierung dieser Prozesse ist auch der von rechts in das Bild eingeblendete Leuchtturm von Bedeutung. Das Schiff bewegt sich nämlich im Lichtschein seines Leuchtfeuers auf das Festland zu, womit sich der Nachrichtentransfer von Übersee nach Europa als Erhellungs- und Aufklärungsvorgang darstellt. 10

Dürr, Welt-Bott, 466. Vgl. ähnlich auch Lederle, Transfer, 181-183, 186f. Deren These, dass die Jesuiten mit dem Neuen Welt-Botten ein kirchliches Verbot des Wissenstransfers umgangen hätten, kann freilich kaum überzeugen. 11 Nach Stöcklein (Welt-Bott I, Eingang, II. Absatz. Allgemeine Vorrede, [3v]) sei es Aufgabe der Edition, „nutzliche Kundschafften zu ertheilen/ dergestalt/ daß gleichwie auf einem großen Jahrmarck ein jeglicher unterschiedliche zu seiner Handthierung taugliche Waaren/ also auch hier jedermann etwas/ so in seinen Kram dienet/ antreffen wird.“ 12 Vgl. die Interpretation bei Dürr, Welt-Bott, 448-453; vgl. ferner Collani, Survey, 17; Kastner, Rüstkammer, 412.

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Damit ist nur eine von mehreren möglichen Sinndimensionen enthüllt. Denn die Allegorie von Schiff und Leuchtturm verweist auch ganz allgemein auf das Verhältnis zwischen Europa und der Welt. Diese Beziehung erscheint in der Form eines wechselseitigen Gebens und Nehmens. So erhalten die Europäer nicht nur Wissen aus aller Welt, sie exportieren auch selbst Wissen und geben der globalen Kommunikationsgemeinschaft Information zurück. In der Schiffsbeƀaggung ist emblematisch angedeutet, um welche Art von Wissen es sich dabei handelt: Die Fahnen auf dem Hauptmast und dem Hinterschiff sind „beyde in dem Hertz-Schild mit dem Nahmen JESUS gezeichnet/ welchen ihr [gemeint sind die Missionare der Societas Jesu, RB] denen Heyden überbracht habt“.13 Es ist also das Wissen über das Christentum, das die Europäer als Missionare nach Asien, Afrika und Amerika bringen. Der Gedanke der bilateralen Kommunikation unter religiös-wissenschaftlichem Vorzeichen wird in einer neuen allegorischen Variante noch einmal durchgespielt. Die obere Hälfte des Kupferstichs zeigt eine christianisierte Figuration des antiken Götterboten Merkur. In seiner Linken trägt er die Missionskorrespondenzen der Jesuiten; in seiner Rechten hält er den Heroldsstab, durch das Christusmonogramm als Symbol der Glaubensverkündigung ausgewiesen. In diesem Zusammenhang tritt ein weiteres Attribut hervor: die große Weltkugel, die Merkur hinter sich herzieht. Auf dieser sind die Herkunftsräume der Information, die Ursprungsländer der im Neuen Welt-Botten abgedruckten Briefe und Berichte vorgestellt, nämlich „America“, „Europa“, „Africa“ und „Asia“. Ihren entscheidenden Sinngehalt bezieht die MerkurGruppe aus dem beigeordneten Textmotto. Es handelt sich dabei um die Adhortation an die Hirten aus der Weihnachtsperikope nach Lukas II, 10: „Ich verkünde eüch grosse Freüd“. Der Weltbote Merkur wird zum Verkündigungsengel einer sich in der gelehrten Quellenarbeit aktualisierenden Weihnachtsbotschaft. So wird der wissenschaftliche Erkenntniszuwachs als eine andere Form der göttlichen Offenbarung charakterisiert, durchaus vergleichbar mit der Geburt Jesu Christi als Inkarnation des göttlichen logos. Das Editionsunternehmen von Stöcklein erhält damit eine heilsgeschichtliche Einrahmung. In der Lichtmetaphorik des Leuchtturms wird dieser Gedanke wieder aufgegriffen: Er ist nicht nur „Pharus intellectus“ im Sinn von Francis Bacon (ein Zeichen für den empirischen Erkenntnisfortschritt), sondern auch Symbol für Christus selbst, das „Licht der Welt“. Denn der kommentierende Untertitel des Titelkupfers, ein Zitat aus Lukas XIII, 29 („Sie werden kommen von Auf- und Nidergang, von Mittag und Mitternacht“), verknüpft das Programm des Wissenstransfers mit der eschatologischen Idee vom kommenden Reich Gottes.14 13 14

Stöcklein, Welt-Bott I, Eingang, II. Absatz. Allgemeine Vorrede, [3v]-[4r]. Die gelehrte Verarbeitung der Missionsinformationen gewinnt damit einen „apostolic value“ (Harris, Confession-Building, 306); vgl. ferner Dürr, Welt-Bott, 448-450.

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Für die Einordnung des amerikanischen Themas sind diese Zusammenhänge in zweierlei Hinsicht von Bedeutung. Die Nachrichten über die Neue Welt tragen – wie alles Wissen aus Übersee – einen heilsgeschichtlich relevanten Wert in sich. Im Spiegelbild der von dort eintreffenden Missionskorrespondenzen lässt sich historisch das Wachstum des Christentums, theologisch jedoch die Größe der göttlichen Schöpfung erfassen. Mit dieser Ontologie des Wissens ist eine Grundposition eingenommen, die sich bereits für die zeitgleiche Jesuitengeograſe nachweisen ließ.15 Außerdem besteht für Stöcklein kein zivilisatorischer oder kultureller Rangunterschied zwischen den einzelnen Kontinenten. Alle Weltteile, das heißt alle Menschen stehen gleichberechtigt nebeneinander. Ihre historische Entwicklung verdient als Ausweis der einen Wahrheit ungeteilte Aufmerksamkeit. In der Erdkugel des Merkur manifestiert sich diese Überzeugung auf allegorische Weise: Europa, Afrika, Asien und Amerika stehen hier nebeneinander. Sie sind Teile eines gemeinsamen Forschungs-, Dokumentations- und Wahrnehmungsverbunds. Freilich drängt sich die Frage auf, ob in diesem jesuitischen Weltreich des Wissens das Speziſsche des Amerikanischen nicht unterzugehen droht. Bei genauerem Hinsehen wird bei Stöcklein eine amerikanophile Grundtendenz erkennbar. Die nähere Analyse der Vorreden erhärtet diesen Eindruck: Das bereits bei Scherer vorkommende Argument von der America christiana wird auch hier sichtbar. Anders als Scherer entwickelt Stöcklein diese Vorstellung nicht aus wissenschaftstheoretischen Überlegungen (die Neue Welt als Auslöser der Wissenschaftsrevolution), sondern aus historischen Betrachtungen zum globalen Religionszustand heraus. Stöcklein deduziert seine proamerikanischen Auffassungen aus der Erfahrung interreligiöser Konƀikte. Dabei stellt er die Verhältnisse in Asien jenen in Amerika gegenüber: In Asien sieht er die „Christenheiten“ durch harte muslimische Verfolgung gefährdet. In Amerika, „wo des Mahomets Lehr bißhero keinen vesten Fuß hat setzen können“, zeige sich dagegen eine Offenheit für die Botschaft des Neuen Testaments, weshalb Stöcklein hier „von dem Bestand aller Missionen […] desto bessere Hoffnung schöpfen“ kann.16 An anderer Stelle fasst er die Entwicklungen ähnlich zusammen: „Gleichwie der wahre Glaub in China immer abnimmt: also greifft er in Sud-America täglich weiter um sich“.17 Man kann also sagen: Auch im Neuen Welt-Bott deutet sich die zunehmende Amerikanisierung der jesuitischen Perspektive nach 1700 an. Stand vorher noch die Bedeutung Asiens, speziell Chinas als Brückenkopf für die globale Ausdehnung des Christentums außer Frage, so brach diese Zukunftsperspektive im frühen 18. Jahrhundert in sich zusammen. Dabei spielten die traumatischen Erfahrungen des Ritenstreits eine maßgebliche Rolle. 1716/17 15 16 17

Vgl. Kapitel 7. Alle Zitate Stöcklein, Welt-Bott I, Eingang, II. Absatz. Allgemeine Vorrede, [5r]. Stöcklein, Welt-Bott II/11, Vorrede, [5r].

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hatte die Kurie die von der Societas Jesu propagierte Akkommodation der kirchlichen Kulttraditionen an die autochthonen Religionsriten verboten, was zur abrupten Abkehr der chinesischen Eliten von dem zuvor mit Interesse aufgenommenen Christentum führte.18 Zwar bringt Stöcklein dieses heikle Thema nicht unmittelbar zur Sprache. Gleichwohl ist seine Enttäuschung über den Rückgang des Christentums in China nicht zu verkennen. Sie lässt bei ihm den Wunsch nach Kompensationen in anderen Weltteilen wach werden. Die Nachrichten aus der Neuen Welt kommen diesem Bestreben entgegen, weil sie von Missionserfolgen berichten können: In Amerika entsteht aus der Sicht von Stöcklein neu, was in Asien verloren gegangen ist. So wandelt sich die China-Begeisterung in eine proamerikanische Empathie um.19 Doch nicht nur auf dem religionsgeschichtlichen Sektor sortieren sich die kontinentalen Interessensphären in neuer Weise. Amerika ist auch ein Raum, in dem Humanität, Kultur und Recht tief verankert sind. Interessanterweise macht Stöcklein diese Attribute nicht an den Vorgängen der europäischen Kolonisierung fest, sondern an den Indigenen. Diese seien Träger humanitärer, kultureller und juristischer Werte. Aus den Berichten der Missionare sieht er etwa ein authentisches, für die Europäer sogar partiell vorbildhaftes Rechtsverständnis der Indigenen hervorgehen: Zwar müsse man deren Rechtspraktiken in manchen Teilen für problematisch halten; gleichwohl aber könnten die „Satzungen“ der dort lebenden Völker doch „viel herrliche Beyspiel einer ausbündigen Gerechtigkeit“ geben. Überhaupt habe man mit Amerika einen Kontinent vor sich, der „von wohlgestalteten und vernünfftigen Heyden“ bewohnt sei, wie Stöcklein im Hinblick auf Kalifornien bemerkt.20 Die Amerika-Vorstellungen im Neuen Welt-Botten können noch genauer differenziert werden. Da die Edition Datierung und Provenienz der einzelnen Missionsbriefe nennt, ist es möglich, deren chronologische und topograſsche Streuung und damit die räumlichen Wahrnehmungsproſle der jesuitischen Geschichtsdiskurse quantitativ genau zu bestimmen. 183 Textnummern beziehen sich auf die amerikanischen Missionen; immerhin ein knappes Viertel

18

19 20

Zu den Auffassungen der Jesuiten über Asien vgl. Lach/Van Kley, Asia in the Making of Europe, 510-515; Osterhammel, Entzauberung Asiens, 99-101, 130f., 253f.; speziell bei den süddeutschen Jesuiten vgl. Römmelt, Reich, 80-91. Zum Ritenstreit vgl. Standaert, Controversy; Demel, Fremde, 257-286; Beckmann, Glaubensverbreitung, 329343. Vgl. dazu auch Collani, Parishes, 674f.; Demel, China-Bild, 228f. Vgl. mit ähnlichen Ergebnissen Borja González, Jesuitische Berichterstattung, 145-149. Zur indigenen Rechtskultur in Amerika und speziell zur Vernunft der Kalifornier vgl. Stöcklein, Welt-Bott I, Eingang, II. Absatz. Allgemeine Vorrede, [3v]; ähnlich ebd. III/21, Vorrede, [3r]. In diesen Auffassungen spiegeln sich natürlich zentrale Aussagen des kirchlichen Lehramts wider. Etwa vertrat die päpstliche Bulle Sublimis Deus (1537) die naturrechtliche Idee von einer unteilbaren, allen Menschen gemeinsamen Vernunft. Vgl. dazu Downes, Jesuitenmissionare, 346; Panzer, Popes.

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entfällt auf den amerikanischen Kontinent.21 Im Vergleich dazu: Für den chinesischen Raum ist ein etwas höherer Anteil, nämlich die Zahl von 187 Korrespondenzen, ermittelt worden.22 Amerika rangiert also mit leichtem Abstand hinter China – eine Beobachtung, die dem oben konstatierten Wandel vom asiatischen zum amerikanischen Paradigma auf den ersten Blick zu widersprechen scheint. Dieser Widerspruch löst sich jedoch auf, wenn man das chronologische Moment der Überlieferungssituation näher betrachtet. In der zeitlichen Dimension wird die immer stärkere Sensibilisierung für das amerikanische Thema greifbar. Wie aus der nebenstehenden Graſk hervorgeht (Tabelle 4), ist für die Sendejahre nach 1716 – dem Zeitpunkt des römischen Ritenverbots – eine deutliche Zunahme der Amerika-Korrespondenzen zu erkennen. Obschon die Zahl der China-Berichte ebenfalls stark anstieg, ist doch die Tatsache zu unterstreichen, dass im zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts zwischen dem Westen und dem Osten eine Wahrnehmungsbalance herrschte. In den späten 1720er und frühen 1730er Jahren übertraf die Quote der Amerika-Briefe sogar jene der aus Asien stammenden. Überhaupt verstetigte sich der Informationszuƀuss. Nach 1740 erreichte die Korrespondenzwelle aus der Neuen Welt zwar nicht mehr die Spitzenwerte der vorangegangenen Jahrzehnte; sie verlief jedoch gleichmäßiger als die chinesische, die nach der Jahrhundertmitte schlagartig abbrach. Auch im Vergleich zur Situation der 1680er und 1690er Jahre zeigt sich die auffällige Stabilisierung der transatlantischen Kommunikationsströme. In der Amerika-Berichterstattung des ausgehenden 17. Jahrhunderts sind nämlich – bei starken Ausschlägen nach oben und unten – noch große Überlieferungslücken zu beobachten. Die einerseits heilsgeschichtlich, andererseits wissenschaftlich begründete Aufwertung des vierten Kontinents seit dem frühen 18. Jahrhundert wird also auch in den quantitativen Proportionen des Briefcorpus sichtbar. Auch hinsichtlich der inneramerikanischen Wahrnehmungsdispositionen sind quantiſzierende Aussagen möglich, da Stöcklein seine Edition nach regionalräumlichen Kriterien eingeteilt hat. So unterscheidet er systematisch zwischen Texten süd- und nordamerikanischer Herkunft. Wenn man unter diesem Aspekt das jeweilige Briefaufkommen berechnet, dann ergibt sich ein klares Übergewicht zu Gunsten der Südhälfte. So sind 120 Textnummern dem Süden zuzuordnen, während nur 63 Briefe auf den Norden entfallen.23 In diesen Relationen scheinen sich die konfessionell orchestrierten Präferenzen des katholischen Amerika-Diskurses zu wiederholen. Der Hauptakzent liegt auf den eng mit der katholischen Kirche verbundenen Kolonien in Brasilien, Peru, Chile und Paraguay. Demgegenüber ist das Interesse für den angelsächsisch-protestantisch dominierten Norden erheblich schwächer ausgeprägt. 21 22 23

Wenn man die Gesamtzahl von 812 Korrespondenzen zu Grunde legt. Für eine Bestandsaufnahme der China-Korrespondenzen vgl. Collani, Survey, 22-40. Vgl. Dürr, Welt-Bott, 446.

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Freilich verschieben sich die Konstellationen, wenn man sie wieder im chronologischen Längsschnitt betrachtet (Tabelle 4). Ab den 1730er Jahren ist ein starker Anstieg der aus dem nördlichen Amerika stammenden Berichte zu beobachten. Die Dekaden zwischen 1685 und 1725 bilden eine Hochphase der Südamerika-Rezeption, die dann – in der Folgeperiode von 1730 bis 1755 – von einer Epoche intensiver Nordamerika-Wahrnehmung abgelöst wird. Diese Perspektivenverlagerung lässt sich auch an anderen Indizien erkennen, etwa an den Ordnungsverhältnissen innerhalb der einzelnen Bände: Führen in den ersten vier Teilbänden des Neuen Welt-Botten die Berichte aus Südamerika das Feld an, so dreht sich die Reihenfolge im fünften Teilband um: Hier führt Nordamerika die Spitze an. Dass es sich dabei um Kalkül handelt, wird an der Vorrede des 1761 erschienenen Bandes deutlich. Diese begründet den Wandel im Textarrangement mit der gestiegenen Exemplarik der nordamerikanischen Verhältnisse: Die dort gelegenen Länder Mexiko und Kalifornien böten nun mehr „gelehrte Ergötzung und Christliche Erbauung“ als die südamerikanischen Regionen.24 Tabelle 4: Stöcklein, Welt-Bott, Bd. 1-5 (1725-1761). Amerika- und China-Korrespondenzen Anzahl der Briefe aus Südamerika

aus Nordamerika

aus China

16

12

8

4

0

16 16 16 16 16 17 17 17 17 17 17 17 17 17 17 17 17 17 17 17 80 84 88 92 96 00 04 08 12 16 20 24 28 32 36 40 44 48 52 56 Sendejahre

Mit Mexiko und Kalifornien sind jene Räume benannt, die für das speziſsche Nordamerika-Verständnis des Welt-Botten von hoher Relevanz sind. Auf ihnen liegt das Hauptaugenmerk der Edition, jedenfalls statistisch gesehen: Nahezu jede zweite Korrespondenz bezieht sich auf Mexiko. Immerhin ein Viertel behandelt Ereignisse in Kalifornien und Sonora (heute: Arizona, New Mexico). Am unteren Ende der Skala rangieren dagegen die Berichte aus den 24

Stöcklein, Welt-Bott V/38, Vorrede, [2r].

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übrigen Landschaften des Subkontinents. Nur ein Zehntel des Briefcorpus betrifft Louisiana, Illinois und Quebec. Die Karibik ist mit vier Korrespondenzen (6%) vertreten.25 Der Schwerpunkt der Berichterstattung liegt eindeutig auf dem paziſschen Südwesten und Neuspanien. Der Midwest und Northeast liegen an den Peripherien des Interesses, trotz der beachtlichen Leistungen, die dort während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vor allem von den französischen Mitgliedern der Societas Jesu – etwa bei der Entdeckung des Mississippi – erbracht wurden. In aller Klarheit zeigt sich daran, dass die Herausgeber des Neuen Welt-Bott die Konzeptionen ihres französischen Vorbilds, der Lettres édifiantes, nicht einfach übernommen, sondern weitgehend verändert haben. Während in der Pariser Briefsammlung die Nouvelle-France, das Mississippi-Gebiet und Guyana, also die kolonialstaatlichen Interessenzonen der Bourbonenkrone, in den Vordergrund der Wahrnehmungsagenda gerückt wurden26, schlugen die Autoren der Augsburger Edition einen anderen Weg ein. Im Mittelpunkt steht hier das hispanische Nordamerika. Damit schloss die Briefedition exakt an jene Mentalitäten an, wie sie für die Amerika-Rezeption der süddeutschen Jesuiten insgesamt prägend waren. So war es vor allem die Faszination für die Pionierrolle des süddeutschen Kalifornien-Missionars Eusebius Kino, die das ausgeprägte Nordamerika-Interesse der Verfasser des Neuen Welt-Botten begründete. Stöcklein selbst stellt diesen Konnex her: Kino sei es gewesen, der die Frage, ob Kalifornien, „eine Insul oder Halb-Insul seye“, schlüssig zu Gunsten des Halbinsel-Charakters entschieden und damit ein maßgebliches Problem der zeitgenössischen Geograſe geklärt habe.27 Im Vergleich zu Heinrich Scherer, der sich ebenfalls auf Kino beruft, erweitert Stöcklein den Rekurs auf die amerikakundlichen Forscherleistungen der Jesuiten: Kino sei auch eine nationale Lichtgestalt, ein „Teutsche[r] Jesuiter und Missionario“.28 Hier kommt eine nationale Tönung ins Spiel, die für die protestantische Amerika-Deutung typisch, für die katholische gleichwohl ungewöhnlich war. Stöcklein ging es also nicht nur um die Jesuiten, sondern auch um die Deutschen, die sich um Nordamerika verdient gemacht haben.29 Und der Duktus des Nationalen setzt sich fort; geradezu leitmotivisch durchzieht er die Briefsammlung. Nachhaltig wirksam wird der nationale Interessenimpuls etwa auf der Ebene der Autorenauswahl. So druckte Stöcklein in erster Linie Amerika-Schriften von deutschen Missionaren ab, während die 25 26 27 28 29

Bei einer Gesamtzahl von 63 Nordamerika-Korrespondenzen beziehen sich 31 auf Mexiko, 24 auf Kalifornien/Sonora und sieben auf die französischen Kolonien. Zu diesen Zahlenverhältnissen vgl. auch Classen, Jesuit Missionaries, 280. Vgl. Vissiere/Vissiere, Peaux-Rouges. Stöcklein, Welt-Bott I/3, Vorrede, [3v]. Stöcklein, Welt-Bott I/3, Vorrede, [3v]. Vgl. zu ähnlichen Beobachtungen Borja González, Jesuitische Berichterstattung, 159164.

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spanischen und französischen Protagonisten deutlich seltener berücksichtigt wurden. Die Nordamerika-Korrespondenzen von Missionaren aus Österreich, Bayern und Böhmen wurden in der Quellenauswahl vorrangig beachtet. Es genügt, sich diese Zusammenhänge an wenigen Beispielen zu vergegenwärtigen. Abgedruckt sind etwa die Briefe des aus der böhmischen Ordensprovinz stammenden Adam Gilg aus Sonora an die Jesuiten in Prag. Ebenfalls im habsburgischen Umfeld bewegt sich der von Stöcklein umfassend berücksichtigte Briefwechsel zwischen dem in Neumexiko wirkenden Johannes Ratkay und Nikolaus Avancini, dem Jesuitendramatiker am Hof von Kaiser Leopold I. Publiziert sind außerdem die Kalifornien-Korrespondenzen des Österreichers Joseph Bonani, schließlich die Reiseberichte von Franziskus Inama, die neben den Briefen von Kino zu den bedeutendsten landeskundlichen Zeugnissen über das frühneuzeitliche Kalifornien gehören. Dem nordamerikanisch-bayerischen Kommunikationskreis sind hingegen die Briefe von Joseph Kropff, Franz Xaver Weiss, Jakob Sedlmayr und Anton Maria Benz zuzuordnen. Mit dem Schreiben von Kropff enthält der Neue Welt-Bott auch einen Schlüsseltext der zeitgenössischen Karibik-Literatur. Die Korrespondenzen von Weiss vermitteln Einblicke in die Mentalitäten eines süddeutschen Mexiko-Missionars. Auch die beiden Berichte von Sedlmayr und Benz haben die Verhältnisse in Neuspanien zum Gegenstand.30 Wie ist diese auffällige Konzentration auf das Deutsche zu erklären? Vor dem Hintergrund ihres universalen Selbstverständnisses ist es doch ungewöhnlich, dass sich die Jesuitenhistoriker auf einen betont nationalen Wahrnehmungsstandpunkt einließen. Die Gründe dafür sind auf dem Feld der konfessionellen Kontroverse zu suchen. Die Rezeption des Amerikanischen stand ganz unter dem Vorzeichen des religiösen Konkurrenzdenkens. Stöcklein reagierte hier auf den Versuch der Protestanten (insbesondere der Pietisten), die Idee des wissenschaftlichen Fortschritts mit der eigenen Konfession und der deutschen Nation zu identiſzieren. Seine Sammlung sollte dagegen zeigen, dass auch katholische Gelehrte aus dem Mutterland der Reformation bestimmenden Anteil an den großen Entdeckerschritten im nördlichen Amerika hatten. Die in den Korrespondenzen der deutschen Jesuitenmissionare beschriebenen Beispiele von Bekennermut (bis in den Märtyrertod), Beharrungsvermögen und Gelehrsamkeit sollten die protestantischen Reichseliten vom Wert des Katholizismus überzeugen, sie gegebenenfalls zum Übertritt in die römische Kirche bewegen.31 30 Vgl. das Korrespondenzregister bei Hausberger, Jesuiten, 122-125 (Ben[t]z), 128f. (Bonani/Bonanni), 152-156 (Gilg), 186-188 (Inama von Sternegg), 226 (Krop[f]f), 227-279 (Ratkay), 289-297 (Sed[e]lmayr), 335-338 (Weiss). 31 Etwa führt Stöcklein das Beispiel eines lutherischen Geistlichen aus Augburg an: Dieser habe nach der Lektüre des Neuen Welt-Botten „die Augspurger-Confession […] verworfen/ und den Catholischen Glauben angenohmen“ (ders., Welt-Bott III, Allgemeine Vorrede, [2r]).

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In diesem Revindikationsmotiv ist dann auch der Hauptgrund für die überraschende Ausweitung des Nordamerika-Begriffs in Richtung Ostküste zu sehen. Denn in geograſscher Hinsicht beschränkt sich die Korrespondenzsammlung nicht auf die klassischen Bereiche der jesuitischen NordamerikaExpansion. Ganz im Gegensatz zu Heinrich Scherer, dem Protagonisten des Southwest, zielen die Perspektiven nicht nur auf den hispanisch-paziſschen Westen, also dorthin, wo die Präsenz der deutschsprachigen Jesuiten besonders ausgeprägt war; sie erschließen auch die angloamerikanische Welt: So beleuchten drei längere Korrespondenzen die Situation in Pennsylvania um die Mitte des 18. Jahrhunderts, und zwar aus der Sicht der dort unter der kleinen katholischen Minderheit tätigen Missionare. Diese Jesuiten stammten aus dem Westen und Süden des Reichs: Wilhelm Wappeler kam vom Niederrhein, Theodor Schneider aus Geinsheim in der Pfalz, Ferdinand Steinmayer (Farmer) aus der Nähe von Augsburg.32 Mit dieser Ausweitung des Berichtshorizonts auf Pennsylvania drang die Edition von Stöcklein programmatisch in die Wahrnehmungszonen des deutschen Protestantismus ein. Freilich muss gefragt werden: Machen sich diese für den Jesuiten-Diskurs neuartigen Erkenntnismomente auch auf der Ebene der einzelnen Brieftexte bemerkbar? Welche individuellen Erfahrungen ƀossen in die Reiseberichte ein? Und wie wirkten sich diese auf die Strukturierung des AmerikaBildes aus? Es muss nicht betont werden, dass sich solche Sondierungen zum historischen Entstehungshintergrund und zur Epistemologie von JesuitenKorrespondenzen nur exemplarisch durchführen lassen.33 Hier soll ein Beispiel vorgestellt werden, das für die jesuitischen Reiseberichte aus Amerika insgesamt repräsentativ ist. Es soll um die Briefe der oben genannten Pennsylvania-Missionare gehen. In deren Korrespondenzen spiegelt sich paradigmatisch die Nordamerikanisierung der Jesuiten-Perspektive wider. Dabei wird zu untersuchen sein, inwieweit mit der Öffnung für das Angloamerikanische auch eine ideelle Option verbunden war, das heißt ob man beispielsweise eine Annäherung an das vorrevolutionäre Autonomiebewusstsein der Kolonisten an der Ostküste beobachten kann. Freiheit in Pennsylvania In den britischen Kolonien des 18. Jahrhunderts herrschte für die Jesuiten im Vergleich zu Iberoamerika eine völlig andere Ausgangslage vor. Das lateini32

33

Vgl. Stöcklein, Welt-Bott V/40, Nr. 784, 1-9 (Wilhelm Wappeler an einen Jesuiten der Niederrheinischen Ordensprovinz, 1741 X 29, 1742 VIII 5); V/40, Nr. 785, 10-18 (Theodor Schneider an Joseph Grisling und an Theodor Weber, 1742-1750); V/40, Nr. 786, 18-20 (Ferdinand Steinmayer an seinen Bruder, 1755 XII 24). Allgemein zu Jesuiten-Reisen und ihren epistemologischen Voraussetzungen vgl. Glüsenkamp, Reiseberichterstattung; Harris, Role of Travel.

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sche Amerika bot der Societas Jesu einen Raum gesicherter katholischer Institutionalität. Zumindest bis zu den Umbrüchen der Aufklärung wurden die Missionsaktivitäten von den Kolonialautoritäten wohlwollend gefördert. Die Pennsylvania-Korrespondenten Wilhelm Wappeler, Theodor Schneider und Ferdinand Steinmayer standen hingegen unter dem Eindruck einer radikalen Diaspora-Situation und der Verdrängung in die Halblegalität. Zwar war 1733 in Philadelphia eine Ordensniederlassung errichtet worden. Diese Gründung entwickelte sich zu einer Keimzelle der katholischen Kirche in Pennsylvania. Gleichwohl vollzogen sich diese Anfänge auf bescheidenen Grundlagen. 1757 erreichte die Zahl der praktizierenden Katholiken in der Kolonie des William Penn kaum mehr als 1300 Personen (rund 1% der Gesamtbevölkerung). Auch wenn die 1701 von William Penn initiierte Charter of Liberties Bekenntnis- und Religionsfreiheit garantierte, gab es in der protestantischen Mehrheitsbevölkerung massive Vorbehalte gegenüber den so genannten „Papisten“, die sich in teilweise gewalttätigen Übergriffen gegen die katholische Minderheit entluden.34 Ein weiteres Speziſkum der nordamerikanischen Jesuitenmission war die um 1700 nachhaltig einsetzende Einwanderung von Europäern. Während die Missionierungsbemühungen in den spanischen und portugiesischen Kolonien auf die Evangelisierung der Indigenen gerichtet waren, zielten sie in den britischen Territorien auf die europäische Einwanderungsbevölkerung ab. Diese Situation hatte gerade für Pennsylvania eine große Bedeutung, da die Verhältnisse hier – im Gegensatz zu dem homogeneren, nämlich von britischen Puritanern dominierten Neuengland – von einer größeren ethnischen Vielfalt geprägt waren. Entsprechend hoch war der Bedarf an Geistlichen, die etwa auf die sprachlichen Belange der deutschen Kolonisten in Pennsylvania eingehen konnten. Nachdem sich in Iberoamerika die Mission ganz in den spanischen oder portugiesischen Kulturkontext integriert hatte (selbst deutsche Jesuiten wie Kino übernahmen das Spanische als Umgangssprache), orientierte sich die Pastoral in den angelsächsischen Kolonien schon früh an den einzelnen sprachnationalen Gruppen. Die ethnische Differenzierung des religiösen Lebens war nicht nur ein bestimmendes Merkmal der verschiedenen protestantischen Gemeinschaften, sondern auch der an sich supranational organisierten katholischen Kirche.35 34

35

Allgemein zur Geschichte der katholischen Kirche in den britischen Kolonien vgl. Dolan, Experience, 69-97; Ellis, Catholics, 315-380; Zöller, Washington, 22-39, in Pennsylvania Quigley, Catholic Beginnings; Cushner, Jesuits, 171-190; J. Schmid, Bilder, 406-408. Zu den Katholiken-Verfolgungen vgl. Bosworth, Anti-Catholicism; Casino, Anti-Popery. Zum Prozess der nationalen Diversiſzierung im katholischen Pfarrwesen von Philadelphia vgl. Lehner, Grässl, 14-31. Die „great necessity of German Missionaries“ wurde bereits im 18. Jahrhundert betont: AAB Archbishop John Carroll Papers 3 Q 4 (Ferdinand Farmer [= Steinmayer] an Carroll, 1786 III 2).

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Dieser Befund zeichnet sich bereits in den Biograſen der drei JesuitenKorrespondenten ab: Wappeler und Schneider wurden 1741 als Geistliche für die deutschen Katholiken nach Pennsylvania gerufen, und zwar zunächst in die Grafschaft Lancaster, eine der Kernzonen der pfälzischen Einwanderung in Nordamerika.36 Schneider ging später nach Philadelphia, um dort bis zu seinem Tod 1764 die deutsche katholische Gemeinde zu leiten. Da deren Zahl rasch zunahm, wurde Steinmayer 1752, zusammen mit einem weiteren deutschen Jesuiten, dem aus Schwaben stammenden Matthias Sittensperger, nach Pennsylvania abgeordnet.37 Steinmayer, der seinen Nachnamen mit Rücksicht auf die prekäre Stellung der Jesuiten zu „Farmer“ anglisierte, konnte die katholische Gemeinde erfolgreich in die amerikanische Republik hineinführen. Als er 1786 verstarb, fand seine Beerdigung unter großer Anteilnahme der Öffentlichkeit statt. Sogar die von Benjamin Franklin herausgegebene Pennsylvania Gazette verweigerte sich nicht dem hohen Ansehen des Missionars, obwohl sie die Einwanderung von Deutschen und Katholiken immer wieder mit Ressentiments quittiert hatte.38 Dass der Katholizismus in den Eliten von Philadelphia an Boden gewinnen konnte, hing auch mit den herausragenden intellektuellen Qualitäten der ersten deutsch-amerikanischen Jesuitengeneration zusammen. So zeichneten sich Theodor Schneider und Ferdinand Steinmayer durch eine beachtliche Bildung aus. Schneider konnte auf eine erfolgreiche europäische Universitätslaufbahn zurückblicken: Der Sohn eines bischöƀichen Zehntverwalters aus Speyer hatte in Heidelberg und Würzburg studiert. 1738 erhielt er eine Professur für Theologie in Heidelberg; ein Jahr später wurde er zum Rektor der Universität gewählt.39 Steinmayer hatte in Ingolstadt Philosophie und Medizin gehört. 1743 trat er in das Missionsnoviziat der oberdeutschen Jesuiten in Landsberg am Lech ein. Nach seiner Ankunft in Amerika suchte er die Verbindung mit der wissenschaftlichen Szene von Philadelphia. 1768 wurde er Mitglied der American Philosophical Society, 1779 trustee der University of Pennsylvania.40 Als 36

37 38

39 40

Zur deutschen Jesuiten-Mission in Pennsylvania vgl. GUL Maryland Province Archives 83/1; John Carroll Papers, 403-408; Häberlein, Oberrhein, 151-166. Zu Schneider vgl. Holt, English Jesuits, 222, Huonder, Jesuitenmissionäre, 165. Zu Wappeler vgl. GUL Maryland Province Archives 3/7, 71v; Gleis, Missionaries, 201f. Vgl. BayHStA Jesuitica 579/24; GUL Maryland Province Archives 83/1. Zu Steinmayer vgl. Daley, Missionary; Bell, Jr., Patriot-Improvers (im Druck); Huonder, Jesuitenmissionäre, 165. Zu Sittensperger (Manners) vgl. Holt, English Jesuits, 230. Vgl. Pennsylvania Gazette, Ausgabe 1786 XII 23 (Wednesday), Nr. 2934, 213-216 (Steinmayer als „Father of his People“ und „friend of civilized humanity“). Zu Franklins ambivalenter Position gegenüber Deutschen und Katholiken vgl. Aldridge, Nature’s God, 223; Frasca, Germans; Mulford, Ethnic Origins, 153-158; Weaver, Franklin, 539f. Vgl. Drüll, Gelehrtenlexikon, 137f.; Sommervogel/De Backer/De Backer, Bibliothèque VII, 834. Vgl. AAB Archbishop John Carroll Papers 3 P 9 (Ferdinand Farmer [= Steinmayer] an Carroll, 1785 V 10); ferner Bell, Jr., Patriot-Improvers (im Druck); University of Penn-

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Mitglied der American Philosophical Society vermittelte er Kontakte zu dem Jesuiten Christian Mayer, dem Hofastronom von Kurfürst Karl Theodor in Mannheim. Auf Vermittlung von Steinmayer konnte der pfälzische Gelehrte sogar einen Beitrag über den Venusdurchgang in den Transactions of the American Philosophical Society veröffentlichen. Auch sonst spielte Steinmayer eine herausragende intellektuelle Rolle, etwa als Korrespondent von John Carroll, dem ersten katholischen Bischof von Baltimore und Gründer der späteren Georgetown University.41 Die Gelehrsamkeit des Missionars wurde von den Zeitgenossen stark beachtet. In einem Nachruf von 1786 heißt es, dass „his learning“ die breite Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit gefunden habe.42 Die Wahrnehmungen der drei deutschen Jesuiten wurden von diesen historischen und kulturellen Rahmenbedingungen maßgeblich beeinƀusst. Man kann deren Briefe geradezu als Reƀexe auf ihre Lebensumstände lesen. Das zeigt sich bereits an ihrer thematischen Gliederung. Diese folgt zwar grundsätzlich dem im Neuen Welt-Botten auch an anderer Stelle zu Beobachtenden. So handelt es sich auch hier vor allem um landeskundlich-historische Betrachtungen. Auch Adressatenbezug und Wirkungsintention folgen Mustern, wie sie für die jesuitische Missionskorrespondenz insgesamt typisch waren: Wappeler, Schneider und Steinmayer wollten dem Ordensnachwuchs in Deutschland ein zutreffendes Abbild von den Verhältnissen in der Neuen Welt übermitteln. Sie richteten sich daher primär an die deutsche Ordensleitung.43 Darüber hinaus sollten die Förderer der Mission, vorwiegend die inner- und vorkirchliche Öffentlichkeit, einen zuverlässigen Eindruck von den Gegebenheiten gewinnen können. Dennoch unterscheiden sich die Briefe aus Pennsylvania auch wieder von den gattungstypischen Vorgaben, insofern ihr Hauptakzent auf der religiösen Zeitgeschichte liegt. Die totale Minderheitensituation der Katholiken und die konfessionelle Pluralität in der Kolonie des William Penn bildeten zwei zentrale Erfahrungsbereiche. Schwächer sind hingegen die im engeren Sinn landeskundlichen Wissensebenen repräsentiert, also jene Felder, die sich mit der kolonialen Gründungsgeschichte, mit dem Regierungs- und Wirtschaftssystem oder mit den naturräumlichen Merkmalen der Landschaft befassen.

41

42 43

sylvania, XIIf. Zum Kontakt mit Mayer vgl. APSL American Philosophical Society Archives (Ferdinand Farmer [= Steinmayer] an Thomas Bond, 1772 XII 31); ebd. (Christian Mayer an Farmer [= Steinmayer], 1774 V 4); Early Proceedings, 75, 98, 204; Moutchnik, Forschung, 356-359. Zu den Verbindungen mit Carroll vgl. AAB Archbishop John Carroll Papers (24 Schreiben aus dem Zeitraum von 1784 bis 1787). Zu Carroll selbst vgl. Hennesey, Bishop. Vgl. Molyneux, Funeral Sermon, 5; GUL Maryland Province Archives 57/5 (John Carroll an Charles Plowden, 1787 II 28); Schmandt, Catholic Intellectual Life, 587. Alle drei Briefe sind an Mitglieder der Societas Jesu gerichtet, darunter an Theodor Weber, den Rektor des Mainzer Jesuitennoviziats.

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Wappeler und Schneider berichteten zeitlich ungefähr parallel, nämlich ab 1741/42, aus der amerikanischen Kolonie. Während Wappeler sich auf die schwierige Lage der Katholiken und die ersten Erfolge des zunächst als aussichtslos erscheinenden Missionsunternehmens konzentrierte44, beleuchtete Schneider stärker die allgemeinen landeskundlichen Aspekte. Beide Textstücke stellen daher eine konzeptionell aufeinander abgestimmte Einheit dar. Ganz anders verhält es sich mit dem etwas jüngeren Brief von Steinmayer. Hier kündigt sich eine atmosphärische Wende an. Der Text wurde 1755 verfasst, verweist also bereits auf eine veränderte historische Ereignislage: Berücksichtigt wurden hier auch die Folgen des in Pennsylvania unmittelbar an Leib und Leben spürbaren French and Indian War. Intensiver erfasst wurden außerdem die politischen Rahmenbedingungen für das kirchliche Wirken. Hierbei konnte Steinmayer zu einer dezidiert positiven Würdigung der nordamerikanischen Verfassungsverhältnisse, vor allem hinsichtlich des Prinzips der „uneingeschränkte[n] Freyheit“, gelangen.45 So erweist sich die Frage nach den Realitäten des interkonfessionellen Zusammenlebens, und damit eng verbunden: nach der Religionsfreiheit, als zentrale Problematik der Briefserie. Die drei süddeutschen Jesuiten leisteten einen maßgeblichen Beitrag zum Verständnis der rechtlichen, politischen und sozialen Verhältnisse in der vorrevolutionären Phase der nordamerikanischen Kolonien. Ihr Umgang mit dem Freiheitsbegriff verdient daher genauere Aufmerksamkeit. Zunächst also zu den Berichten von Wappeler und Schneider: Bei Ersterem überwiegt die negative Einschätzung der „Freyheit in GlaubensSachen“. Sie begünstige zwar den ökonomischen Fortschritt, indem sie – unabhängig von seinem religiösen Bekenntnis – jedem Kolonisten ein Maximum an persönlichem Gestaltungsspielraum eröffne. Gleichwohl erkennt Wappeler in der Glaubensfreiheit eine „Haupt-Quelle aller Laster“, weil sie den Irrenden frei gewähren lasse. Im Ergebnis laufe dieses Prinzip auf die totale moralische Blindheit des Staats hinaus, der zwischen Wahrheit und Unwahrheit kaum noch unterscheiden und deshalb seiner Hauptaufgabe, nämlich dem Gemeinwohl zu nutzen, nicht mehr entsprechen könne. Die Konsequenzen dieser Entwicklung zeichnen sich für Wappeler auf verschiedenen Ebenen ab. Sie betreffen einerseits die Rechtsordnung, die in chaotischen Zuständen zu versinken drohe. Andererseits beziehen sie sich auf die religiöse Situation im engeren Sinn, wo „ein ärgerliches Mischmasch verschiedener Sectierer“ vorherrsche.46

44 45 46

Vgl. Stöcklein, Welt-Bott V/40, Nr. 784, 6f. (Wappeler an einen Mitbruder der Niederrheinischen Ordensprovinz, 1741 X 29, 1742 VIII 5). Vgl. Stöcklein, Welt-Bott V/40, Nr. 786, 20 (Steinmayer an seinen Bruder, 1755 XII 24). Alle Zitate nach Stöcklein, Welt-Bott V/40, Nr. 784, 6f. (Wappeler an einen Mitbruder der Niederrheinischen Ordensprovinz, 1741 X 29, 1742 VIII 5).

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Bei Schneider ist der Blick noch deutlicher auf die „schändliche Unordnung und Verwirrung“ auf dem kirchlichen Sektor konzentriert; für den ehemaligen Heidelberger Professor präsentiert sich Pennsylvania in einem Zustand totaler religiöser Zerrissenheit.47 Seine negative Diagnose verknüpft der Missionar mit einer systematischen Konfessionskunde, die sich als Sektenhistorie versteht. Obgleich der Jesuit auf dem ausschließlichen Wahrheitsanspruch der katholischen Kirche beharrt, enthält er sich konfessionalistischer Schärfe und nimmt die einzelnen Glaubensgemeinschaften durchaus differenziert wahr. Für seine Beobachtungen ist gerade der Ansatz systematisch-methodischer Deskription charakteristisch, weshalb der Bericht zu den besten zeitgenössischen Religionsbeschreibungen von Pennsylvania im deutschsprachigen Umfeld des 18. Jahrhunderts zählt.48 Schneider orientiert sich entweder an den Schriften der einzelnen Religionsstifter, die er einer genauen Musterung unterzieht, oder er hält sich an den persönlichen „Augenschein“.49 Beispielsweise kann er die Anglikaner mit einer gewissen Sympathie sehen, weil sie in Zeremoniell und Liturgie mit der „wahren Catholischen Kirch“ übereinstimmen und in Philadelphia über ein „eigenes, sehr zierliches Betthaus“ verfügen. Entschieden widerspricht er jedoch deren Anspruch, in apostolischer Sukzession und damit in direkter Kontinuität zur vorreformatorischen Kirche stehen zu wollen.50 Sehr kritisch geht Schneider mit den Quäkern um, die er zu den „eitelst, schändlichst und betrüglichste[n]“ Gruppen des nordamerikanischen Protestantismus zählt. Deren Verzicht auf eine wissenschaftlich abgesicherte Theologie, ihre Betonung der Zungenrede („Glossolalie“), und nicht zuletzt: ihr Beharren auf der individuellen Glaubenserleuchtung („inwendige[s] Licht“), begründen für Schneider ein irrationales Fehlverständnis der Religion.51 Zurückhaltender fällt das Urteil über die einzelnen protestantischen Strömungen im deutschen Einwanderermilieu aus: Neutral berichtet der Missionar etwa über die Gemeindegründung der 47

48 49 50 51

Vgl. Stöcklein, Welt-Bott V/40, Nr. 785, 10 (Schneider an Joseph Grisling und an Theodor Weber, 1742-1750): „Ich glaube nicht, daß es unter der Sonne ein Volk gebe, von dem man mit grösserem Fug sagen könnte, daß ein zerissen und zertrennteres Volk, Gens divulsa & dilacerata, seye, als die Pensylvanier, welche in der Glaubens-Lehr also unter einander getrennet und uneinig seynd, daß man hier wohl 50. verschiedene Secten zehlet, deren jede etwas anderes, nach eigenem Gutgedunken, einige aber gar nichts glauben.“ Umgekehrt werden in vergleichbaren zeitgenössischen Beschreibungen aus protestantischer Feder die Katholiken von Philadelphia nicht erwähnt. Eine Ausnahme bildet die Reisebeschreibung von Johann David Schöpf (vgl. Kapitel 12). Stöcklein, Welt-Bott V/40, Nr. 785, 10f. (Schneider an Joseph Grisling und an Theodor Weber, 1742-1750). Stöcklein, Welt-Bott V/40, Nr. 785, 10f. (Schneider an Joseph Grisling und an Theodor Weber, 1742-1750). Stöcklein, Welt-Bott V/40, Nr. 785, 11 (Schneider an Joseph Grisling und an Theodor Weber, 1742-1750).

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Mährischen Brüder („Herrnhuter“) in Pennsylvania. Nicht ohne Bewunderung verfolgt er die Bemühungen der Eremiten von Zion und Ephrata um ein gottgefälliges Leben. Diese radikalpietistische, von Konrad Beissel gegründete klosterähnliche Gemeinschaft betrachtet er mit einem gewissen Wohlwollen, weil die „Siebentäger“ ein „sehr rauhes Leben, mit strenger Fasten, vielem Wachen und harter Arbeit führen“52. Die Kritik an der scheinbar chaotischen Pluralität des Religionskosmos – Schneider stellt sie sogar in einen direkten Kontrast zur Wohlgeordnetheit der Naturlandschaft53 – ist natürlich in einem engen Zusammenhang mit der Minoritätserfahrung des frühen Katholizismus in Angloamerika zu sehen. Dass die Katholiken in gleichem Maße wie die Protestanten von der Religionsfreiheit hätten proſtieren können – diese Möglichkeit deutet sich zwar in Schneiders Korrespondenzen wiederholt an54; jedoch überwiegt bei ihm der Eindruck, Zielscheibe öffentlicher Missgunst und Verachtung zu sein. Die beständige Furcht vor Verfolgung beherrscht die Überlegungen: Es waren die heftigen Angriffe reformierter und lutherischer Geistlicher, vor allem die regelmäßig wiederkehrenden Vorwürfe der Proselytenmacherei, der religiösen Wühlarbeit, sogar der Spionage im Dienst der spanischen und französischen Krone, die das Verhältnis der frühen deutschen Jesuiten zu ihrer fremdkonfessionellen Umwelt nachhaltig belasteten.55 Vor diesem Hintergrund musste die Zusicherung der Religionsfreiheit als wohlfeile Formel klingen, die das tatsächlich vorherrschende Klima der Intoleranz kaum überdecken konnte: Die Glaubensfreiheit mochte zwar für alle Spielarten des Protestantismus gelten; den Katholiken wurde sie indes gar nicht oder nur widerwillig zugestanden. Speziell ihre Missionsseelsorger, die neben den Vorurteilen gegen die römische Kirche auch noch die Ressentiments des Antijesuitismus zu ertragen hatten, sahen sich einem permanenten Rechtfertigungsdruck ausgesetzt, wes52 53

54

55

Stöcklein, Welt-Bott V/40, Nr. 785, 10f. (Schneider an Joseph Grisling und an Theodor Weber, 1742-1750), 12. Zur Ephrata-Society vgl. Durnbaugh, Involvement, 34f.; Roeber, Pietismus in Nordamerika, 677f. Vgl. Stöcklein, Welt-Bott V/40, Nr. 785, 13 (Schneider an Joseph Grisling und an Theodor Weber, 1742-1750): „Aus diesem, was ich bishero von dem Religions-Wesen in Pensylvanien kurz gemeldet, werden euer Ehrwürden P. Rector leicht einsehen, wie schlecht diese Landschaft in Geistlichen bestellte seye: ihre natürliche Beschaffenheit ist weit besser, massen die Erde fast alles, was zur menschlichen Unterhaltung nothwendig oder dienlich ist, im Uberƀuß hervorbringet.“ Vgl. Stöcklein, Welt-Bott V/40, Nr. 785, 10f. (Schneider an Joseph Grisling und an Theodor Weber, 1742-1750), 17: „Ich leide annoch jetzt da- bald dorther viele Gegensprüch und Bedrohungen, lasse mich aber in meinem Verrichtungen, und der wie allen, so auch unserer Catholischen Religion zugestandenen Freyheit nicht stöhren.“ Zum Proselytismus-Vorwurf vgl. Stöcklein, Welt-Bott V/40, Nr. 784, 5 (Wappeler an einen Mitbruder der Niederrheinischen Ordensprovinz, 1741 X 29, 1742 VIII 5). Zum Vorwurf der Spionage für die Franzosen vgl. ebd., Nr. 786, 19 (Steinmayer an seinen Bruder, 1755 XII 24). Zum historischen Hintergrund vgl. Daley, Missionary, 111.

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halb Schneider allen künftigen Missionaren in Pennsylvania zu einer zurückhaltenden Ausübung ihres Amts riet.56 Das Urteil von Ferdinand Steinmayer fällt erheblich freundlicher aus. Zwar hat auch er die immer wieder aufƀackernden antikatholischen Stimmungen in den englischen Kolonien registriert; gleichwohl wird bei ihm eine Sympathie für die nordamerikanische Lebenswelt greifbar. Das liegt zum einen daran, dass Steinmayer, nicht zuletzt aufgrund seiner eigenen Bemühungen, eine Festigung der deutsch-katholischen Gemeinden in Pennsylvania erkennen konnte.57 Zum anderen führten die Verschiebungen im außenpolitischen Umfeld zu einer Verständigung mit dem mainstream der Kolonialgesellschaft. Die für Pennsylvania besonders dramatischen Folgen des 1755 einsetzenden French and Indian War ließen Steinmayer an die Seite der Mehrheitsbevölkerung rücken. Mit unüberhörbarer Ironie kommentiert er die Machtrochaden der „Herren Franzosen und Engländer“, die den wohlverstandenen Wünschen der Kolonisten nach Frieden und Wohlstand zuwider liefen. Die Unfähigkeit der britischen Armee, die grausamen Übergriffe der mit den Franzosen verbündeten Indianer gegen die Zivilbevölkerung abzuwehren, stieß auf heftige Kritik. Bei Steinmayer wird ein Überzeugungsproſl greifbar, wie es für das Meinungsklima in Pennsylvania während der 1750er Jahre typisch war. In aller Klarheit tritt das Unbehagen an den englischen Kolonialautoritäten hervor. Deutlich wird die Vorstellung artikuliert, dass die Kolonie eine eigenständige politische und soziale Einheit bilde, die sich innerlich längst vom europäischen Mutterland entfremdet habe.58 Besonders aufschlussreich sind die Briefpassagen über das Verfassungsund Regierungssystem. Zwar bietet Steinmayer keine umfassendere Analyse als sein Ordenskollege Schneider. Nur überblicksartig beschreibt er die staatlichen und juristischen Einrichtungen von Pennsylvania. Ideell hebt sich Steinmayer gleichwohl markant von seinem älteren Mitbruder ab. So stand er der Kolonialgesellschaft nicht mehr distanziert gegenüber, sondern identiſ56

57

58

Vgl. Stöcklein, Welt-Bott V/40, Nr. 785, 18 (Schneider an Joseph Grisling und an Theodor Weber, 1742-1750): „Fragen mich, […] P. Rector, was Eigenschaften ein solcher Arbeiter haben müsse? So diene kurz zur Antwort: […] Nicht gar zu eifrig: in einer Landschaft, wo die allgemeine Religions-Freyheit herrschet, und jeder, ungestraft, glaubt, und lebt, was und wie er will; dann der hitzig und unzeitige Eifer wurde bey Recht- und Irrglaubigen nichts als: Haß, Verachtung, Eifersucht, Kleinmüthigkeit und Verzweiƀung nach sich ziehen. Man muß, wann irgendwo, gewiß hier, langsam darein gehen, und sowol sein, als fremdes Heil, mit vieler Sanftmuth und Gedult würken.“ Vgl. Stöcklein, Welt-Bott V/40, Nr. 786, 20 (Steinmayer an seinen Bruder, 1755 XII 24). Zum Beitrag der deutschen Jesuiten („worthy German Brethren“) am Aufbau der katholischen Gemeinden in den britischen Kolonien vgl. GUL Maryland Province Archives 57/5 (John Carroll an Charles Plowden, 1785 XII 15; ders. an Plowden, 1786 VII 11). Vgl. Stöcklein, Welt-Bott V/40, Nr. 786, 20 (Steinmayer an seinen Bruder, 1755 XII 24). Zum Hintergrund vgl. auch Wellenreuther, Ausbildung, 489-504.

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zierte sich mit deren Institutionen, die für ihn Abbild eines legitimen Freiheitsstrebens waren. Steinmayer hebt die Rechtsstaatlichkeit der Verhältnisse hervor. Als anschauliches Beispiel dient ihm gerade die persönliche Erfahrung als Angehöriger einer Minderheitenkonfession: Trotz der heftigen Anfeindungen, unter denen die Katholiken zu leiden hätten, „ist es noch zu keiner Gewaltthätigkeit [ge]kommen“, weil die „höher[e] Obrigkeit“ unter Verweis auf die allgemeinen, allen Menschen zukommenden Freiheitsrechte den „Catholischen nicht minder, als denen übrigen Gerechtigkeit erfahren lassen, und wider alle Anfechtungen Schutz leisten“. Offenkundig sympathisierte der Jesuit mit den frühdemokratischen Normen in Rechtsprechung und Gesetzgebung. Breit würdigt er das Wahlprinzip, das sowohl die Zusammensetzung des Gerichtswesens als auch der Repräsentativversammlungen auf Grafschafts- und Landesebene („Kreyß-Täge[n]“, „Land-Tag“) bestimmte. Er betont die Tatsache, dass der königliche Statthalter ohne die Zustimmung des Kolonialparlaments keine Gesetze verabschieden dürfe. Und noch weiter: In dem „herrliche[n] Ansehen“, in der „gebietende[n] Macht“ und der „ungeschränkten Freyheit hiesiger Burger“ lägen die Gründe für die Auswanderersehnsucht in Europa, das mit seinen Kriegs- und Steuerlasten „sehr viele […] in diese Landschaft“ treibe.59 Religionsfreiheit, Demokratie und Volkssouveränität als Attraktionsmerkmale der Neuen Welt, Europa jedoch als negativer Gegenpol des überseeischen Wertekosmos – auf diese Kernbotschaft laufen die Beobachtungen hinaus. Der Brief von Steinmayer ist daher ein weiterer Beleg für die intellektuelle Bandbreite der katholischen Amerika-Diskurse. Deutlich zeigt sich, dass die Jesuiten auch den Gedanken demokratischer Verfassungsstaatlichkeit aufnehmen konnten. Keineswegs waren sie nur auf das Prinzip monarchischer Kolonialstaatlichkeit festgelegt. Zu fragen bleibt freilich: Sind damit die anderen Elemente der jesuitischen Amerika-Rezeption verdrängt? Ist etwa der heilsgeschichtliche Wahrnehmungsimpuls ganz aufgegeben? Die Dinge liegen komplizierter, als es auf den ersten Blick scheinen mag: Steinmayer hielt am Missionsziel fest (sein Brief liefert ein konkretes, mit Zahlenmaterial unterfüttertes Bild von der rasanten Zunahme der katholischen Tauf- und Konversionsfälle in Pennsylvania). Zugleich sah er das Evangelisierungsprojekt in den speziſschen Rahmen einer religiös pluralistischen, dabei auf unverrückbaren naturrechtlichen Werten aufgebauten Gesellschaft eingebettet. Diese Rechtsprinzipien (an erster Stelle die Religionsfreiheit) widersprachen jedoch nicht dem Missionsinteresse, sondern schienen ihm eher entgegenzukommen. Sie eröffneten der Kirche Entfaltungsspielräume, die sie im europäischen Konfessionsstaat eben nur dort gehabt hätte, wo sie selbst die Position der Staatskirche einnahm.

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Stöcklein, Welt-Bott V/40, Nr. 786, 19f. (Steinmayer an seinen Bruder, 1755 XII 24).

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Sicherlich sind diese Überlegungen bei Steinmayer lediglich umrisshaft angedeutet. Eine breit ausgearbeitete Theorie des Staat-Kirche-Verhältnisses im vorrevolutionären Angloamerika wird man noch nicht ſnden können. Gleichwohl weisen Tendenzen in diese Richtung. Ein wichtiger Aspekt bezieht sich etwa auf die Tatsache, dass in Pennsylvania auch die katholischen Kleriker in den vollen Genuss der Steuer- und Abgabenfreiheit für Geistliche kamen. Für Steinmayer war dies ein Beleg dafür, dass ein auf Freiheit und Rechtlichkeit beruhendes Gemeinwesen der Kirche günstige Zukunftsaussichten bieten könne.60 So wirft der Briefbericht des schwäbischen Jesuiten ein bezeichnendes Licht auf die mentalen Umwälzungen im frühen nordamerikanischen Katholizismus. Hier wurde jene Spur aufgenommen, die nach 1776 zu einer Interessengemeinschaft zwischen katholischer Kirche und amerikanischer Revolutionsbewegung führen sollte. Gewiss verbindet sich diese Entwicklung in erster Linie mit dem Namen von John Carroll, der sich schon früh als entschiedener Anhänger der amerikanischen Republikgründung positionierte.61 Aber auch Steinmayer gehörte zu den Wegbereitern dieses prorepublikanischen aggiornamento, nicht nur in intellektueller, sondern auch im biograſscher Hinsicht. Der süddeutsche Missionar war einer jener drei Geistlichen, die – stellvertretend für den Klerus von Philadelphia – George Washington 1783 zu dessen Sieg über die englische Armee eine ofſzielle Glückwunschadresse übersandten.62 Mathematisierungen Obgleich der Neue Welt-Bott sicherlich zu den wichtigsten Foren der jesuitischen Überseekommunikation zählte, blieb er im süddeutschen Kosmos der Jesuitenhistorie doch nicht das einzige Medium für Amerika-Wahrnehmungen. Deren Repräsentanten beschränkten sich nicht auf die editorische Erschließung von Nachrichten aus der Neuen Welt. Neben der Briefsammlung und der Quellendokumentation setzten sie auch auf Auswertung und Synthese. Ein frühes süddeutsches Beispiel dafür sind die Werke des Ingolstädter Professors Christoph Ott. Insbesondere für seine Historia Nova Seculi nostri von 1682, eine Fortsetzung der Universalhistorie des italienischen Jesuiten Orazio Torsellini, und seine Ehren-Cron, eine 1686 erschienene Weltkirchengeschichte, nutzte er die ordensinterne Missionskorrespondenz als Quellenba60 61 62

Vgl. Stöcklein, Welt-Bott V/40, Nr. 786, 19f. (Steinmayer an seinen Bruder, 1755 XII 24) Vgl. dazu Hennesey, Vision; Dolan, Experience, 101-124; Hardy, Roman Catholics, 147-156; Hoffman/Mason, Princes of Ireland, 303-333. Zum innerkatholischen Diskurs über das Verhältnis zwischen Kirche und Republik vgl. Light, Rome, 24-27. Vgl. Bell, Jr., Patriot-Improvers (im Druck); Daley, Missionary, 218-225; Ellis, Catholics, 414f., 434f., 440f.

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sis. Ähnlich deutlich zeigt sich die Tendenz zum quellenanalytischen Arbeiten eine Gelehrtengeneration später bei Maximilian Dufrène: Der niederbayerische Intellektuelle kam ebenfalls aus der empiristischen Tradition der Ingolstädter Barockhistorie, die außer dem systematischen Aspekt (der Ordnung der Geschichte) die Rückbindung der historischen Erkenntnis an die Quellen besonders betonte und dabei bevorzugt auf Missionsnachrichten zurückgriff.63 Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen, die Verschränkungen zwischen historischer Edition und historiograſscher Narration disziplinen- und wissenschaftsgeschichtlich aufzuschlüsseln. Zu bedenken ist vielmehr die Frage, ob die Amerika-Diskurse des Neuen Welt-Botten in der zeitgenössischen Geschichtsschreibung auf Widerhall stoßen konnten. Es geht also eher um einen Vergleich zwischen editorischer und narrativ-synthetischer Darstellungsebene. Dabei sollen die Rudimenta historica von Dufrène im Vordergrund der Überlegungen stehen, und zwar aus zwei Gründen: Einmal bietet die Koinzidenz der Veröffentlichungszeiträume einen Ansatzpunkt für vergleichende Betrachtungen. Der erste Band von Dufrènes Werk erschien 1726, also parallel zum Publikationsbeginn des Welt-Botten. Zum anderen eröffnet der didaktische Charakter der Rudimenta interessante Einsichten: Sie waren zum Einsatz im schulischen Wissensumfeld bestimmt. Konkret stellt sich also die Frage nach der Essenz der dort entfalteten Amerika-Bilder: Auf welche Botschaft kam es den Jesuiten im Geschichtsunterricht an? Welche Leitvorstellungen wurden aus der Missionsberichterstattung in die Vermittlungspraxis des bayerischen Jesuitengymnasiums übernommen? Man muss noch einmal daran erinnern, dass das amerikanische Thema bei Dufrène in größere universalhistorische Zusammenhänge integriert ist. In einem eigenen Kapitel über die afrikanischen und amerikanischen Monarchien („Von denen Africanischen und Americanischen Königreichen“) behandelt er die Neue Welt nämlich sowohl im Kontext der jeweiligen europäischen Staatenhistorie als auch im kontinentalgeschichtlichen Rahmen. Dabei legt der Jesuit besonderes Gewicht auf deren historische Geograſe und die Kirchengeschichte. Verbindungen zwischen amerikanischer und europäischer Geschichte, etwa hinsichtlich der Auswandererproblematik, kann er nicht erkennen.64 So ist das Amerika-Thema unterschiedlichen disziplinären Feldern zugeordnet. Man könnte eine breite Erörterung des Phänomens erwarten. Tatsäch63

64

Zu dem 1684 verstorbenen Ott vgl. Boehm, Lexikon, 299f.; Heitjan, Bencard, 762; Sommervogel/De Backer/De Backer, Bibliothèque VI, 1-7. Zu Torsellini, bis 1599 Professor für Geschichte am Collegio Romano, vgl. Neddermeyer, Katholisches Geschichtslehrbuch, 470f., 476f. Zu deren Einƀuss auf Dufrène vgl. Dickerhof, Land (Register). Vgl. Dufrène, Rudimenta IV, 111 (Entdeckung Amerikas als Teil des portugiesischen Aufstiegs zur Weltmacht), 216-219 (Amerika als eigener Kontinent), V, 188-193 (Geograſe der Neuen Welt).

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lich trifft aber das Gegenteil zu. Wo beispielsweise die Missionsbriefe des Neuen Welt-Botten die landeskundlichen Seiten detailliert beschreiben, reduziert Dufrène das Thema auf einen einzigen Aspekt. In den Rudimenta dominiert die konfessionelle Dimension, und zwar so ausschließlich, dass man den bayerischen Jesuiten geradezu als Hauptrepräsentanten der katholischen Kompensationstheorie bezeichnen kann65: Die überseeischen Länder fungieren gewissermaßen als Ersatzräume für jene Gebiete in Europa, die der christlichen, in der Lesart von Dufrène: katholischen Kirche infolge von Reformation und osmanischer Expansion verloren gegangen sind. Bereits das amerikanische Entdeckungsgeschehen ist ganz in diese Perspektive gerückt. Die portugiesischen und spanischen Konquistadoren erscheinen als heilsgeschichtliche Vorboten der globalen, von der Societas Jesu getragenen Christianisierungsbewegung.66 Den Gedanken des konfessionsgeschichtlichen Ausgleichs spielt Dufrène in vielen weiteren Varianten durch. Einmal greift er sogar auf das einprägsame biblische Gleichnis vom Weinstock als dem Reich Gottes zurück: Amerika sei der frische Trieb, der dort neue Frucht hervorbringe, wo die „schädliche[n] Reben-Schoß und unfruchtbare[n] RebZweige“, also die Lehren von Luther und Calvin, abgefallen seien. An anderer Stelle lehnt sich der Gelehrte an die Metaphorik physikalischer Ausgleichsprozesse an: Den Abgang vieler Seelen in Europa „hat GOTT durch die in gröster Anzahl neu-bekehrte[n] Indianer und Americaner […] ersetzet“67. Überhaupt weist Dufrène dem Argument der Zahl einen besonderen Überzeugungswert zu. Seine kirchengeschichtlichen Ausführungen lesen sich wie eine buchhalterische Bilanz von Glaubensverlust und -gewinn. Man kann sagen: Das Denken in Quantitäten wird zur Quelle der heilsgeschichtlichen Gewissheit. Im objektiv mess- und wägbaren Missionsfortschritt offenbare sich die Wahrheit des katholischen Wegs.68 So kann Dufrène der Kirchenspaltung und Schwächung des Papsttums im Europa des 16. Jahrhunderts die Bekehrung von „viel hunderttausend Seelen zum Christ-Catholischen Glauben“ in Asien, Afrika und Amerika gegenüberstellen. Das 17. Jahrhundert 65

Zusammen mit dem Benediktiner Anselm Desing, der die Akzente jedoch anders setzt (vgl. Kapitel 19). 66 Bezeichnend etwa Dufrène, Rudimenta V, 191: „Nachdem aber die gottseeligste Könige in Spanien, Franckreich und Portugall jene neu erfundene Landschafften vor allem zur wahren Kirchen und Glauben, mithin auch unter ihre Bottmässigkeit gebracht, steht die Catholische Religion daselbst allenthalben in großem Flor, und nimmt von Tag zu Tag zu.“ 67 Dufrène, Rudimenta, IV, 171, 222f. Zu dieser gerade unter katholischen Chronisten weit verbreiteten Auffassung (mit Belegen bereits für das 16. Jahrhundert) vgl. Hille, Providentia Dei, 510-513. 68 Zur Anwendung naturwissenschaftlich-mathematischer Kategorien auf die Geschichtsschreibung vgl. A. Kraus, Vernunft und Geschichte, 106f.; I. Schneider, Mathematisierung; zuletzt in großer Perspektive auf die mechanistischen Geschichtsmodelle von Barock und Aufklärung Reill, Vitalizing Nature.

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sieht er sogar durch eine Beschleunigung der katholischen Dynamik gekennzeichnet: Nicht nur in der Neuen Welt fänden „unzahlbar viel Heyden“ zur Kirche. Auch in Europa wendeten sich wieder zahlreiche Länder dem alten Glauben zu, darunter Böhmen, Mähren, Österreich und Pfalz-Neuburg. Im 18. Jahrhundert glichen wiederum Amerika, Indien und Armenien partielle Rückschläge in der China-Mission aus. Im Fazit kann Dufrène daher festhalten, dass die Kirche „jederzeit […] zugenommen“ habe und „daß/ obschon ab einem Ort durch die Ketzerei/ als einen ungestümmen reissenden Fluß/ etwas vom Erdreich weggespület wird/ doch gleich anderstwo dieser Schaden durch Anschüttung und Zuwachs eines neuen Erdreichs überƀüssig ersetzet werde“69. Aus dieser Mathematisierung und Vernaturwissenschaftlichung des (kirchen-)geschichtlichen Vorstellungshorizonts ergeben sich für den Stellenwert des Amerikanischen zwei Konsequenzen. Zum einen verliert der Kontinent seine komplexe Gestalt. Amerika wird zu einer abstrakten Größe, die sich scheinbar problemlos in die Formeln einer globalisierten Konfessionsgeschichte einsetzen lässt. Der Aspekt der Erkenntnisfülle – ein speziſsches Phänomen der jesuitischen Missionskorrespondenzen – tritt bei Dufrène vollständig zurück. Zu Gunsten straffer Didaktisierung spitzt der Pädagoge seine Betrachtungen auf eine Kernthese zu, nämlich auf die Annahme, dass die Zukunft der katholischen Christenheit letztlich in der außereuropäischen Welt liege. Diese Argumentationslinie verfolgt nicht nur kontroverstheologische Absichten, sondern sie steht auch der traditionellen Auffassung nahe, dass die Geschichte ihrem Leser und Hörer Trost zu spenden habe. In diesem Fall geht es letztlich um den Trost der europäischen Katholiken, die in der exemplarischen Betrachtung der Neuen Welt und der dort lebenden Christen einen Grund für die Richtigkeit ihrer eigenen, möglicherweise ins Wanken oder zumindest durch die Kirchenspaltung herausgeforderten Überzeugung ſnden sollen. Dufrène ist sich dennoch der Zweischneidigkeit seiner Argumentation bewusst. Immerhin lässt er die Frage zu, wie denn die christlichen Überzeugungen der Indianer und Amerikaner konkret beschaffen seien. Die Antwort darauf fällt zwar systemkonform positiv aus. Mehr noch: In Amerika lebten viele, die „mit ihrem ungemeinen Eyffer die Europäische laue und kaltsinnige Christen zu schanden“ machen könnten.70 Zugleich deutet sich in dieser Überlegung doch ein speziſsches Problembewusstsein an. Implizit reƀektiert Dufrène den möglichen Zweifel an der Vereinnahmungsfähigkeit der Neuen Welt für den Katholizismus: Es gebe in Übersee viele neue Christen, aber nicht bei allen handelte es sich tatsächlich um innerlich zum Christentum Bekehrte. Theologisch könnte man auch sagen: Für Dufrène ist der vierte Kontinent ein wachsendes, noch nicht vollendetes Reich Gottes. Wenigstens indi69 70

Dufrène, Rudimenta VI, 169, 191, 245. Dufrène, Rudimenta VI, 223.

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rekt reagiert das scheinbar so geschlossene Geschichtsmodell der Rudimenta auf eine wesentliche Erfahrungsdimension der zeitgenössischen Missionskorrespondenz, eben die Erkenntnis, dass die Evangelisierung unter den realen Bedingungen vor Ort ein mühsames Geschäft sein muss, das nur langsam voranschreitet. Der zweite Aspekt betrifft die Indianerfrage: Den Indigenen fällt in der Dufrèn’schen Welthistorie eine entscheidende Rolle zu. Sie sind gewissermaßen die Träger der Kompensation, das neue christliche Volk, das die Seelenverluste unter den Völkern der Alten Welt ausgleichen kann. Der aus Süddeutschland stammende gelehrte Kleriker schwenkt damit auf eine charakteristische Argumentationslinie der Jesuiten ein. So ist sein Werk ein weiteres Beispiel für die Gleichordnung von europäischem und überseeischem Ethnos. Dufrène verweist seine Leser auf den „fast auferbaulichen Lebens-Wandel“ der amerikanischen Einheimischen.71 Ihre menschliche Würde gewännen sie aus der Tatsache, dass sie das Christentum mit neuer Energie beleben und damit als Vorbild für die gleichsam ausgelaugten Europäer dienen könnten. Diese aus dem christlichen Naturrecht abgeleitete Überlegung erweitert der Jesuit noch einmal in speziſscher Weise, indem er sie mit dem Gedanken der Konvertitenhistorie verbindet.72 Er stellt die christianisierten Indianer in eine Reihe mit jenen Protestanten, die während des 16. und 17. Jahrhunderts zum Katholizismus zurückgekehrt sind, wie etwa die Markgrafen von Baden oder die Kurfürsten von Sachsen. Überdies parallelisiert er sie mit jenen Völkern, die gewissermaßen auf die biblische Frühzeit des Christentums zurückgehen und somit zu den ersten Glaubenszeugen gezählt werden können, so etwa die Maroniten in Syrien und die Kopten in Ägypten.73 Dufrène greift dabei ein argumentatives Verfahren auf, das sich bereits in den 1680er Jahren bei dem Ingolstädter Jesuitenhistoriker Christoph Ott beobachten lässt. Bereits hier wurden die getauften Indianerkönige in Peru und Mexiko erwähnt, wobei der intellektuelle Reiz dieser Deutung noch dadurch erhöht wurde, dass diese amerikanischen Zeugen des Christentums als sozial herausgehobene Repräsentanten mit den Dynasten des Alten Europa gleichgesetzt werden konnten.74 Wenn also die Orientalen, die Eliten in Südamerika und die europäische Hocharistokratie als weltumspannendes Zeugenband auf dem Boden der 71 Dufrène, Rudimenta V, 189. Ähnlich in diesen Bewertungen schon die katholische Geschichtsschreibung des 16. Jahrhunderts (vgl. dazu A. Schmidt, Vaterlandsliebe, 178). 72 Zur Neuen Welt im Konversionsdiskurs der Vormoderne vgl. die Beiträge bei Mills/ Grafton, Conversion, hier besonders Greer, Iroquois Christianity. Vgl. ferner Baumgarten, Bekehrung; Lotz-Heumann, Konversionserzählungen. 73 Vgl. Dufrène, Rudimenta VI, 162-189. 74 Vgl. Ott, Ehren-Cron, 17: Die Bekehrung des letzten Indianerkönigs von Peru wird hier als Beispiel für die „Glory der Catholischen“, für den Erfolg des katholischen Glaubens „in allen vier Welt-Theilen“ bewertet. Die konversionsgeschichtlichen Thesen von Ott und Dufrène sind auch vor einem breiteren universitäts- und wissenschaftsgeschichtlichen Horizont zu sehen. Der Wirkungsort der beiden Jesuiten, die Universität Ingol-

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Katholizität stehen, welches Argument kann dann noch die Autorität der römischen Kirche erschüttern? Unter den Jesuitenhistorikern des frühen 18. Jahrhunderts gehört Dufrène sicherlich zu jenen Autoren, die das amerikanische Thema am stärksten auf den konfessionsgeschichtlichen Aspekt konzentrierten. Die Ambivalenzen einer solchen Zuspitzung liegen auf der Hand. Einerseits fand die Neue Welt – als Element des universalen Religionskosmos – breite Beachtung; sie konnte sogar als positives Moment in das (schulisch vermittelte) Geschichtsbild integriert werden. Die Rudimenta zählten zu den eindrucksvollsten Dokumenten für dezidiert amerikanophile Strömungen im frühneuzeitlichen Reich. Auch im Hinblick auf die mentalitätsgeschichtlichen Langzeitwirkungen sollte man sie nicht unterschätzen: Dufrènes „katholischer Indianer“ war gewissermaßen eine Vorform des „guten Wilden“ der Aufklärung. Auf der anderen Seite stehen allerdings markante Deſzite, nämlich das Problem einer rein religionspolitisch motivierten Rezeption und der Mangel an Mehrdimensionalität. Gerade in seiner dezidiert kontroverstheologischen Grundtendenz musste das Werk auf die protestantische Öffentlichkeit provokativ wirken. Tatsächlich gehörten die Rudimenta im 18. Jahrhundert zu den besonders heftig umstrittenen Werken und waren Gegenstand hitziger Gelehrtenkontroversen zwischen Katholiken und Protestanten.75 Hinzu kommt das Problem der extrem reduzierten Weltwahrnehmung. So konnten die Rudimenta, selbst wenn man ihre Rückbindung an den schulischen Unterrichtszweck in Rechnung stellt, den gerade bei den Jesuiten stark ausgeprägten Bemühungen um Wissensdifferenzierung kaum entsprechen. KAPITEL 15: SCHWÄBISCHE PIETISTEN Migrationsgeschichte Der Publikationszirkel um Samuel Urlsperger war im frühen 18. Jahrhundert die einzige protestantische Gruppierung, die eine dem jesuitisch-katholischen Milieu vergleichbare Bedeutung für die Verbreitung von Amerika-Wissen gewinnen konnte. Mit seinen Berichten über die Kolonie der Salzburger Exulanten in Eben-Ezer in Georgia trug der Augsburger Geistliche erheblich zur internationalen Sensibilisierung des damaligen Protestantismus bei.76 Das reichsstädtisch-pietistische Amerika-Projekt wurde von Faktoren bestimmt, die auch für das jesuitische System bedeutsam waren. Urlsperger schloss un-

75 76

stadt, war eines der wichtigsten Zentren für intellektuelle Konvertiten. Vgl. dazu Boehm, Konversion, 535-545. Vgl. Duhr, Geschichte IV/2, 10-15. Vgl. O’Brien, Transatlantic Community; Porter, Church History, 570; Weigelt, Geschichte, 214-225; Wölfel, Evangelische Kirche, 512.

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mittelbar an das Vorbild der von der Societas Jesu publizierten Missionskorrespondenzen an. Wie diese beruhten auch die pietistischen Bestrebungen auf einer transkontinental operierenden Kommunikationsgemeinschaft. Sie bewegten sich im Bereich der wissenschaftlichen Informationsverarbeitung und reagierten auf bestimmte theologische und konfessionelle Orientierungsbedürfnisse. Freilich gab es auch markante Unterschiede gegenüber den Jesuiten. Das publizistische Unternehmen von Urlsperger hing mit der Ausweisung der Protestanten aus dem Erzstift Salzburg 1731 und deren Umsiedlung nach Preußen und Nordamerika zusammen.77 Damit verfolgten die pietistischen Amerika-Schriften zunächst kein missionarisches Ziel. Vielmehr ging es um „Emigrations-Geschichte“, wenn man so will: um eine Migrationsgeschichte in betont religiöser, nationaler und moralischer Tönung.78 Eine weitere Differenz bestand in den geograſschen Berichtshorizonten. So wählte Urlsperger mit der deutschen Kolonistengemeinde von Eben-Ezer einen völlig entlegenen Punkt auf der amerikanischen Landkarte aus. Die Jesuiten hingegen interessierten sich für das Große und Ganze. Bei den Texten des lutherischen Geistlichen sollte man daher weniger von Amerika-Schriften, als vielmehr von „Eben-Ezer-Schriften“ sprechen.79 Denn deren Fokus ist primär ortsund regionalgeschichtlich ausgerichtet. Das Fehlen der Weite muss man indes nicht als Deſzit interpretieren: Mit der Konzentration auf das Lokale bewies die pietistische Publizistik eine besondere Sensibilität für den nordamerikanischen Mikrokosmos. In sonst selten erreichter Tiefenschärfe vermochte sie es, sich den konkreten Phänomenen in der Neuen Welt zuzuwenden.80 Hinzu kommt, dass im Fall der pietistischen Publizistik das regionale Motivations- und Interessengefüge des Amerika-Diskurses, das heißt in diesem Fall dessen speziſsch süddeutsche Rückkoppelung, besonders markant hervortritt. Zwar war das Informationsprojekt von Samuel Urlsperger in ein größeres europäisches Gesinnungs- und Wissensnetzwerk eingebunden. So muss man einerseits auf den Hallischen Pietismus um Hermann August Francke, andererseits auf die 1698 gegründete englische Society for Promoting Christian Knowledge verweisen. Francke betrieb in Zusammenarbeit mit dieser in London ansässigen und vom englischen Königshof massiv unterstützten Missionsgesellschaft die Ansiedlung der Salzburger Exulanten bzw. den Aufbau deutsch-lutherischer Gemeindestrukturen in den britischen Kolo77 78 79 80

Vgl. dazu jetzt grundlegend Haver, Salzburg; ferner Barton, Kirche, 1530-1540; Florey, Salzburger Protestanten; G. F. Jones, Salzburger Saga; Walker, Salzburger Handel; Winde, Einleitung, XXVIIIf. Urlsperger, Nachrichten I, Vorrede, [6r] im Anschluss an Göcking, Emigrations-Geschichte I, Vorrede, [6r]. Vgl. Römmelt, Teutschland, 249. Zum Wert der Eben-Ezer-Schriften für die kolonialzeitliche Geschichtsschreibung über Georgia vgl. Davis, Fledgling Province, 179f.

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nien. Die von Urlsperger gesammelten, in Halle und Augsburg publizierten Korrespondenzen der Amerika-Auswanderer waren das publizistische Echo auf diesen frommen Kolonialismus. Sie sollten in der deutschen Öffentlichkeit Solidarisierungseffekte und propagandistische Verstärkerwirkungen herbeiführen. Innerhalb des pietistischen Milieus sowohl im Reich als auch in England sollte die Unterstützungsbereitschaft für das koloniale Gründungsunternehmen in Georgia stimuliert werden. Doch trotz dieser engen Verbindungen mit dem gesamtdeutschen und englischen „Pietist revival“ (Andrew Porter) arbeitete Urlsperger auch auf eigene, wenn man so will: auf Augsburger Rechnung.81 Über den aktuellen zeitgeschichtlichen Anlass hinaus (eben der Hilfe für bedrängte und verfolgte Glaubensgenossen) verstand der Geistliche seine publizistischen Bemühungen zunehmend als wesentlichen Bestandteil einer Kommunikations- und Interessenverbindung zwischen seiner Heimatstadt und der kleinen Kolonie in Nordamerika. In der Formulierung der „Augspurgerische[n] Ebenezerische[n] Filial“ kommt dieser Anspruch auf eine privilegierte transatlantische Partnerschaft zwischen Schwaben und Georgia zum Ausdruck.82 Urlsperger verknüpfte damit speziſsche konfessionell-religiöse, ökonomische und sogar außenpolitische Interessen. Zum Ersten: Der Geistliche legitimierte seine jahrzehntelange publizistische Aktivität für Eben-Ezer mit dem Nimbus von Augsburg als Sitz der Confessio Augustana, als Vorort des weltweiten Protestantismus: Die Reichsstadt habe eine heilsgeschichtliche Bedeutung für die „Erhaltung und Fortpƀanzung unseres allerheiligsten Glaubens […] in America“. Ihr sei somit eine zentrale religionspolitische Schlüsselfunktion für die Bewahrung dieses Glaubens „in der Nähe und Ferne, in der alten und neuen Welt“, zugewiesen.83 Selbstverständlich muss man diese Überlegungen als Reaktion auf das bikonfessionelle Konkurrenzklima in der paritätischen Reichsstadt werten. Für den ranghöchsten Vertreter des Augsburger Luthertums sollten die Eben-EzerSchriften eine gleichwertige protestantische Alternative zu den ebenfalls in der Reichsstadt stark vertretenen Kommunikationssystemen der jesuitischen Amerika-Kommunikation sein.84

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Zusammenfassend zu den Beziehungen Urlspergers mit Francke, seinem ehemaligen Lehrer, und mit den Briten vgl. Brecht, Francke, 521-527; Huelin, Relationship, 153157; Jeyaraj, Mission Reports, 28-38; Threinen, London Connection, 124-127; Zorn, Urlsperger, 328-330. Speziell zum „Pietist revival“ vgl. Porter, Church History, 570; ders., Religion, 26-30. Urlsperger, Ackerwerk II, Vorrede, [7r]. Urlsperger, Nachrichten I/1, Widmungsvorrede, [3v]-[4r]. Vgl. Brecht, Urlsperger, 171-173; Lederle, Transfer, 183-185; Römmelt, Teutschland, 251f. An anderer Stelle wiederholt der pietistische Geistliche den Gedanken, dass Augsburg als Ort der Confessio Augustana eine besondere Verantwortung für den Weltprotestantismus habe (vgl. Urlsperger, Ackerwerk IV, Vorbericht, [4v]; ders., Kurtze historische Nachricht, hier besonders im Hinblick auf die protestantische Mission in Tranque-

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Zum Zweiten: Urlsperger sah sich auch zur Förderung der transatlantischen „Commercien“ veranlasst. Als Exponent einer betont globalisierungsenthusiastischen Theologie erblickte er im fernen Eben-Ezer einen idealen Partner für die reichsstädtische Wirtschaft. Dieses Plädoyer für einen verstärkten ökonomischen Austausch hatte ganz reale Hintergründe, arbeitete Urlsperger doch eng mit dem Augsburger Bankier Christian von Münch zusammen. Münch unterstützte die pietistische Koloniegründung in Georgia ſnanziell und betrachtete sie durchaus auch mit nüchternem wirtschaftlichem Kalkül: Der Bankier unterhielt eine Firmenrepräsentanz in Savannah. Außerdem hatte er in Georgia Land erworben, um dort eine Seidenraupenzucht einzurichten. Gerade aus Sicht des heimischen Textilgewerbes wollte er so der weiteren Verlagerung der Handelsströme in den atlantischen Westen entgegenkommen und die Konkurrenzfähigkeit der Augsburger Industrie im internationalen Wettbewerb stützen.85 Deutlich zeigt sich also die Kontinuität ökonomischer Perzeptionsmuster im frühneuzeitlichen Amerika-Diskurs der schwäbischen Metropole. Die Augsburger Pietisten griffen hier Motive auf, die bereits den Fuggern bekannt gewesen waren und die im späteren 18. Jahrhundert noch einmal unter dem Vorzeichen aufklärerischer Wirtschaftsförderung wiederbelebt werden sollten.86 Zum Dritten: Urlsperger widmete sein Werk den Trustees for Establishing the Colony in Georgia in America, also eben jener Behörde, die auf britischer Seite das Koloniegründungsprojekt organisatorisch zu verantworten hatte. Damit ordnete sich Urlsperger programmatisch in den Kontext der pietistisch-britischen Internationale ein. Zu erkennen ist eine klare anglophile Tendenz, wie sie für die protestantisch-reichsstädtischen Adepten der Amerika-Kommunikation im 18. Jahrhundert – zu erinnern ist an das Beispiel der Nürnberger Kartografen – insgesamt kennzeichnend war. Ausführlich würdigt Urlsperger den Anteil der Engländer am erfolgreichen Zustandekommen des Eben-Ezer-Projekts, angefangen bei den erheblichen Finanzbeihilfen des Unterhauses bis hin zu den konkreten Unterstützungsmaßnahmen durch die englische Gesandtschaft am Regensburger Reichstag.87 Für die Pietisten ist England der Patron bzw. Angloamerika der Schutzraum lutherischer Existenz, so wie für viele katholische Autoren Iberoamerika und mit ihm die Spanier Garanten des konfessionellen Besitzstands in der Neuen Welt sind. Inter-

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bar). Generell zur Bedeutung der Augustana-Jubiläen für die lutherische Identitätsbildung vgl. Hänisch, Confessio Augustana triumphans; Repgen, Vor Schiller, 117f. Vgl. Urlsperger, Nachrichten I/1, Widmungsvorrede, [4v]; Wilson, Public Works, 358361; dies., Protestant Refugees, 123; Schremmer, Merkantilismus, 571-578; Zorn, Handels- und Industriegeschichte, 38. Vgl. Kapitel 3. Vgl. Urlsperger, Nachrichten I, Widmungsvorrede, [3r]-[5v] u. Vorbericht, 8. Zur britischen Schutzherrschaft über protestantische Reichsstände vgl. Schütz, Gesandtschaft, 45-60.

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essanterweise gibt Urlsperger diesem umfassenderen politischen Zusammenhang wieder eine regionalspeziſsche Wendung. Neben den Briten, den Schutzherrn des Pietismus, sind es die Augsburger Obrigkeiten, die als Widmungsempfänger der Eben-Ezer-Schriften ſgurieren. Dabei ist aber gerade nicht die katholische, sondern die lutherische Elite der paritätischen Reichsstadt angesprochen. Die lokale Konfessionssituation erweist sich einmal mehr als bedeutsamer Resonanzboden für Amerika-Wahrnehmungen im frühen 18. Jahrhundert.88 Das Werkcorpus der Eben-Ezer-Schriften besteht aus zwei Hauptgruppen, nämlich aus Briefeditionen auf der einen und historiograſschen Darstellungen auf der anderen Seite, die das in den Korrespondenzsammlungen aufbereitete Wissen im Sinn einer Kolonialpropaganda bzw. zu wissenschaftlichen Erkenntniszwecken auswerten. Hier zeigt sich eine publizistische Konstellation, wie sie bereits für die Jesuitenhistoriker zu beobachten war. Hinsichtlich der Textgattungen fällt das Informationsangebot breiter aus als bei den Jesuiten. Die beiden großen von Samuel Urlsperger inaugurierten Sammlungen, die Ausführlichen Nachrichten von der Königlich-Groß-Britannischen Kolonie Saltzburgischer Emigranten (1741-1752) und das Ackerwerk Gottes (1754-1760), enthalten nicht nur Korrespondenzen, sondern auch Reiseberichte, Tagebücher (so genannte „Tageregister“), Tabellen (etwa die Geburten- und Sterberegister von Eben-Ezer), ferner Dokumente amtlicher Provenienz, so etwa die Schreiben von James Edward Oglethorpe, des englischen Gouverneurs von Georgia, an die Auswanderer. Urlsperger verbindet in seinen Textsammlungen zwei Authentisierungs- bzw. Autorisierungsstrategien. Neben die Selbstzeugnisse der Kolonisten stellt er ofſzielle Dokumente. Der Originalwortlaut der Zeitzeugen soll zusammen mit dem Autoritätston der britischen Kolonialbehörden die Seriosität des pietistischen Kolonialgründungsunternehmens unterstreichen. Freilich verzichtete der Augsburger Geistliche nicht auf eigene Kommentierungen. In den Manteltexten zu den Briefeditionen wird Urlsperger selbst hör- und lesbar, so vor allem in den Vorreden zu den einzelnen Teilbänden der beiden Textcorpora. Diese nutzte der Editor, um ganz allgemein für die neue Kolonie in Amerika zu werben, die Gründungsvorgänge für sein Publikum theologisch auszudeuten, zugleich aber auch, um auf neue landeskundliche und damit im engeren Sinn wissenschaftsimmanente Erkenntnisse aufmerksam zu machen. Doch beschränkt sich diese Art der Lesersteuerung nicht auf die Paratexte. Sie wird auch implizit in den edierten „Originaltexten“ greifbar. Der Forschung hat durch den Vergleich zwischen der noch weitgehend erhaltenen archivalischen Briefüberlieferung aus Eben-Ezer und den von Urlsperger dann tatsächlich publizierten Korrespondenzen erhebliche redaktionelle 88

Konkret angesprochen ist der evangelische Stadtpƀeger (Bürgermeister) Johann Georg Morell (vgl. Urlsperger, Nachrichten I, Vorbericht, 13f.).

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Abweichungen feststellen können. So glättete der Geistliche die aus Amerika kommenden Briefe in konfessioneller Hinsicht. Antikatholische Polemiken wurden abgemildert, dialektale Besonderheiten bereinigt. Vor allem wurden sie in ihrer didaktischen Aussagequalität verstärkt. Urlsperger stellte sie ganz in den Dienst der lutherischen Reich-Gottes-Propaganda.89 Sie sollten das Publikum von der heilsgeschichtlichen Dimension der Koloniegründung in Georgia überzeugen. Mit dieser stringent theologischen Überformung der Originale schuf Urlsperger die Voraussetzungen für deren weitere propagandistische Verwertung. Einzelne Korrespondenzen wurden nicht nur in den beiden Sammlungen abgedruckt, sondern darüber hinaus auch in der katechetischen Praxis, etwa in der Predigt, eingesetzt. Daneben wurden sie – mit dem Ziel, die Spendenbereitschaft des Publikums für Eben-Ezer zu steigern – auch in Flugschriften publiziert. Die von Urlsperger veröffentlichten Auswandererbriefe spiegeln nur zum Teil den Verständnishorizont der Kolonisten wider. Sie verweisen genauso stark auf die Perspektiven ihres Augsburger Editors zurück.90 Der Fundus der Eben-Ezer-Schriften umfasst also nicht nur die beiden Briefeditionen, sondern auch Gelegenheitsschrifttum aus dem Bereich der Predigt- und Flugschriftenliteratur. Insgesamt lassen sich 15 selbständig erschienene Drucke nachweisen. Diese verteilen sich über einen Zeitraum von 1733 bis 1760.91 Sie decken damit die historische Entwicklung der Salzburger Kolonie in Georgia im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts ab. Charakteristisch für das pietistische Wissensnetzwerk ist außerdem die hohe Zeitnähe, mit der die aus Georgia einlaufenden Informationen publiziert wurden. In der Regel veröffentlichte Urlsperger die Originaltexte binnen Jahresfrist.92 Die publizistischen Aktivitäten des Augsburger Geistlichen können auch im Hinblick auf die verarbeiteten Informationsmengen als imponierende Leistung gelten: Die Ausführlichen Nachrichten und das Ackerwerk Gottes zählen jeweils mehrere tausend Seiten, die in mehreren Lieferungen erschienen sind (die Nachrichten etwa in 19 Teilbänden). Urlsperger stieß mit seinen publizistischen Bemühungen innerhalb des reichsstädtisch-süddeutschen Pietismus auf breites Echo. Im Anschluss an die Eben-Ezer-Schriften des Augsburger Pfarrers kam es zu weiteren Veröffent89 90

Vgl. Blaufuss, Zensur. Beispiele dafür: Urlsperger, Nachrichten I, Vorbericht, 8f. (gegen Negativpropaganda über deutsche Einwanderer in Nordamerika); ders., Kurtze Aufmunterung (Spendenaufruf „[z]u einer christlichen und freywilligen Liebes-Steuer“ zu Gunsten der „[e]vangelische[n] Gemeinde“ von Eben-Ezer). Generell zur Perspektivengebundenheit der Migrationsberichterstattung vgl. Depkat, Amerikabilder, 381-390; Görisch, Werbung und Warnung, 32-41, 232-239. 91 Samuel Urlsperger hat insgesamt 215 Drucke veröffentlicht. Davon lassen sich 15 dem amerikakundlichen Umfeld zuordnen (vgl. dazu Mayer, Verzeichnis, Nrr. 60, 65, 68f., 75, 89-94, 96f., 163). 92 Vgl. Lederle, Transfer, 183f.

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lichungen, die allerdings mehr auf historiograſsche Systematisierung sowie auf Vertiefung des bereits Bekannten zielten. An erster Stelle ist hier das Werk von Johann August Urlsperger zu nennen. Der jüngste Sohn von Samuel Urlsperger verfasste 1747 auf der Grundlage der väterlichen Briefeditionen eine Beschreibung der Salzburger-Kolonie in Georgia.93 Dieser Text entstand als Disputationsschrift am Augsburger Anna-Gymnasium unter Leitung von Gottfried Hecking, dem Rektor der reichsstädtischen Schule. Dieser Gelehrte stand selbst der pietistischen Reformbewegung nahe und unterhielt enge Kontakte zu Hermann August Francke. Mit dem Problem der Salzburger Exulanten hatte sich Hecking bereits früher wissenschaftlich auseinandergesetzt. Die von ihm verantwortete Disputation mit dem Titel De Praestantia Coloniae Georgico-Anglicanae kann daher als Musterbeispiel für das lebhafte amerikakundliche networking im Pietismus gelten.94 In den Kontext der pietistischen Amerika-Publizistik gehören noch die Schriften des in Leipheim bei Ulm tätigen Geistlichen Conrad Daniel Kleinknecht. Dessen 1738 erstmals veröffentlichte Zuverlässige Nachricht über die malabarischen Christen in Indien nimmt auch auf das Emigrationsprojekt in Georgia Bezug.95 Vor allem in der zweiten Fassung von 1749 geht Kleinknecht ausführlicher auf das amerikanische Thema ein. Der lutherische Pfarrer kannte die Probleme der Salzburger Exulanten aus persönlicher Anschauung, da er sich persönlich für die Unterstützung der Auswanderer während ihrer Reise von Augsburg über Ulm nach England eingesetzt hatte. Außerdem stand er pietistischen Zirkeln nahe, war er doch wie der ältere Urlsperger und Hecking ein Schüler von Francke in Halle gewesen.96 Bei den Nachrichten des Predigers handelt es sich ebenfalls um eine Synthese aus den von Urlsperger gesammelten Missionskorrespondenzen. Die historiograſsche Verwertungsabsicht war ein bestimmendes Motiv. Indes schrieb Kleinknecht – im Unterschied zum jüngeren Urlsperger – weniger für ein gelehrtes Publikum. 93

Bereits 1739 hatte der ältere Urlsperger die Notwendigkeit betont, die Informationen der Ausführlichen Nachrichten „in einem Zusammenhang“ darzustellen (vgl. ders., Nachrichten I/3, Vorrede, [3v]). Die Disputation seines Sohnes ist nicht nur – wie G. F. Jones (Urlsperger, 197) annimmt – als „Förderungspamphlet“ zur Anwerbung von Kolonisten zu verstehen. Dass der Text auf Latein verfasst ist und sich gelehrter Methoden bedient (Anmerkungen, Literaturapparat), weist auf wissenschaftliche Absichten hin. 94 Biograſsch zu Hecking vgl. SuStB A 8° Cod.Aug. 77 [Stammbuch]; Gier, Paul von Stetten, 40f.; A. Kraus, Bürgerlicher Geist, 359; Schmidbauer, Stadtbibliothekare, 187199; Weigelt, Geschichte, 305, 371. Zu Heckings Interesse an den Salzburger Exulanten in Nordamerika vgl. auch ders./Köhler, RELIGIONEM VI ET ARMI. 95 Zu den Zitationsnetzwerken zwischen Kleinknecht und Urlsperger vgl. Kleinknecht, Zuverlässige Nachricht (1738), 21, 173, 176, 178; Urlsperger, Nachrichten II/7, Vorrede, [18r]. Zusammenfassend vgl. Weigelt, Pietismus, 526f.; G. F. Jones, Urlsperger, 197. Grundsätzlich zu Kleinknecht vgl. Jeyaraj, Mission Reports, 39-41. 96 Vgl. Kleinknecht, Zuverlässige Nachricht (1749), 219; Urlsperger, Nachrichten II/7, Vorrede, [18r]; Weigelt, Geschichte, 221.

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Vielmehr hatte er eine breitere Öffentlichkeit im Auge. So ging es ihm um die „Europäer“, „Teutsche[n]“ und „Schwaben“, die sich mit dem Gedanken der lutherischen Weltmission vertraut machen sollten. Diese wird der katholischen Evangelisierungsbewegung dialektisch gegenübergestellt. Bei Kleinknecht erweiterte sich also das Panorama von der Exulanten- zu einer expansiv gedachten Kolonisierungshistorie, in der die lutherischen Glaubensprotagonisten in West und Ost, in Eben-Ezer ebenso wie im indischen Coromandel, als Zeugen für die Wahrheit der „Evangelische[n] Lehre“ auftreten sollten.97 Atlantischer Heilstransfer Die amerikakundlichen Interessen der süddeutschen Pietisten bezogen ihre Voraussetzungen aus religiösen Erwartungen. Die publizistischen Projekte des Urlsperger-Kreises erschöpften sich nicht in bloßem Akkumulationseifer. Ihre Vermittlungsbestrebungen beschränkten sich nicht auf die zweckfreie Weitergabe von Wissen. Mit Sicherheit wäre es zu kurz gegriffen, sie bloß unter den Aspekten von kolonialpolitischer Werbungsabsicht zu betrachten. Im Zentrum stand auch die Frage, welche Folgen sich aus der Entdeckung der Neuen Welt, aus der Erfahrung zunehmender transatlantischer Verƀechtung für die intellektuelle und ideelle Verortung der Europäer ergeben könnten. Nicht zuletzt spielte das Verhältnis von Glauben und Wissen eine bedeutsame Rolle: Zerbrach nicht mit den sich sprunghaft erweiternden Wissensmöglichkeiten der alte Gottesglaube? Die Pietisten standen damit vor einem Dilemma, das sich für alle an Amerika interessierten Gruppen in gleicher Form darstellte und das sie in ähnlicher Weise zu lösen versuchten: Das immer tiefere Eindringen in die Geheimnisse der Neuen Welt führte nicht zur Entzauberung des Göttlichen; vielmehr offenbarte sich darin die unerhörte Größe des Schöpfers. Amerika als Ort des Heils und das amerikakundliche Erkenntnisinteresse als Heilsstrategie – diese Ausgangslage bestimmte auch das Informations- und Kommunikationsunternehmen der süddeutschen Pietisten. In Amerika sollte der Leser „viel erbauliches, lehrreiches, erweckliches, angenehmes […] von Dingen“ ſnden, „die so wohl in das Gnaden- als Naturreich des grossen GOttes gehören“98. Die Annahme vom Offenbarungscharakter der Geschichte bildete den Hauptantrieb für das publizistische Großvorhaben, wobei die Erfahrung persönlicher Betroffenheit die entsprechenden Sensibilitäten noch einmal deutlich erhöhte: Das dramatische Beispiel der Salzburger Auswanderer, die schweren Entbehrungen ihrer Amerika-Reise und die mühsamen Anfänge in Georgia erscheinen gleichsam als zeitgeschichtliche Vergegenwärtigungen aus dem universa97 98

Kleinknecht, Zuverlässige Nachricht (1738), Einleitung, 7, ferner 172. Urlsperger/Urlsperger, Ackerwerk II, Vorrede, [4r].

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len Heilsgeschehen. Sie forderten Urlsperger und seine Gesinnungsgenossen zu biblischen Analogien heraus: Der Auszug Israels aus Ägypten wird als Vergleichsfall bemüht; vom „Winck Gottes“ ist die Rede.99 Und noch mehr: Bei den emigrierten Glaubensbrüdern handele es sich um Samenkörner Jesu Christi. Sie seien „als ein in viel Äcker getheiltes Feld oder Land anzusehen, es davon heiße, daß etliches hundertfältige, etliches sechzigfältige, etliches dreysigfältige Frucht trage“100. Dieser heilsgeschichtliche Ansatz lieferte ein bedeutsames Motiv für den stark editionstechnisch ausgerichteten Zugang der pietistischen Publizistik. Sicherlich kamen in dieser Präferenz allgemeine wissenschaftsgeschichtliche Zeitströmungen zum Ausdruck, so vor allem das Misstrauen gegenüber kompilatorischen Techniken der Wissenserhebung ohne positive Rückbindung an die Quellen, daneben der Durchbruch des Empirismus, wie er während des 18. Jahrhunderts allgemein zu beobachten ist. Dennoch wird man in der ausgeprägten Vorliebe von Urlsperger für das Originale – ob nun in Form des Auswandererbriefs oder des Tagebuchs – auch einen Reƀex auf pietistische Wahrnehmungstheorien erkennen können. Urlsperger setzte ganz auf die dokumentarische Autorität des Augenzeugenberichts. Die Quellensammlung konnte in besonderer Weise den Anspruch auf Realitätsnähe einlösen. In den Briefeditionen sind daher die Äußerungen aller Kolonisten vertreten. Festgehalten sind die Erfahrungen jedes einzelnen Auswanderers, der einfachen Menschen ebenso wie der Prediger, unabhängig von ihrer jeweiligen sozialen und beruƀichen Stellung oder geschlechterspeziſschen Zugehörigkeit. Das Wissens- und Meinungsbild der nach Georgia emigrierten Männer und Frauen, selbst der Kinder, war gleichermaßen dokumentationswürdig. Darin liegt ein zentraler Unterschied gegenüber den jesuitischen Vermittlungspraktiken, für die gerade die Wissenschaftlichkeit der Perspektiven kennzeichnend war. Die Jesuitenmissionare schrieben als sorgfältig geschulte Intellektuelle, eingebunden in die dialektischen Denktraditionen ihrer Ordensgemeinschaft, zugleich jedoch in kritischer Distanz zum betrachteten Gegenstand. Das jesuitische Interpretament der Neuen Welt war mehrdimensional und multidisziplinär. Deutlich lassen sich die Reƀexionsebenen voneinander trennen: Amerika kann Objekt des religiösen, staatenkundlichen, ethnograſschen oder auch historischen Erkenntnisinteresses sein. Indes sind diese einzelnen Wissensdimensionen konzeptionell immer klar voneinander geschieden. Dagegen herrscht in den Eben-Ezer-Schriften ein stark integralistisch geprägtes Erkenntnismodell vor. Das Wissen über die Neue Welt stand vor allem im Dienst der religiösen Unterweisung; auf die erbauliche Wirkung des 99

Urlsperger, Nachrichten I, Vorrede, [6v] („Ausgang des Volckes Israel aus Egypten“) u. Vorbericht, 22 („Winck GOttes“). Ähnlich auch ders., Zuverläßiges Sendschreiben, [2r] („Werck Gottes“). 100 Urlsperger/Urlsperger, Ackerwerk II, Vorrede, [5v] in Anlehnung an Matthäus 13,8.

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Textzeugnisses kam es an. Dabei erweist sich gerade die soziale Vielstimmigkeit der Dokumente als probates Mittel zum Zweck. Sie sollte die Unmittelbarkeit des göttlichen Eingriffs in die Geschichte illustrieren. Den Quellen aus Georgia wurde ein offenbarungsähnlicher Charakter zugewiesen. Aus den Berichten der Kolonisten sprach gewissermaßen der Schöpfer selbst. In den Korrespondenzen der Prediger, der Bauern und Handwerker, der männlichen und weiblichen Bewohner wurde „die weise und gnädige Führung unsers GOttes“ sichtbar. In den minutiös erfassten Vorgängen der „Georgianischen Colonisten-Sache“ zeigte sich gleichsam auf Schritt und Tritt das gute Wirken der göttlichen Providenz.101 So musste das Sammeln, Drucken und Lesen der Nachrichten aus Eben-Ezer einem heilsvermittelnden Akt gleichkommen. Theologisch gesehen führte diese Art der Wissensvermittlung zur rechten christlichen Erkenntnis (im lutherischen Sinn): [M]an [soll] erkenne[n], daß, wo das Evangelium in der alten und neuen Welt rein und lauter geprediget wird, und die heilige Sacramenten, Tauf und Abendmahl, nach Christi Einsetzung ausgespendet werden, solches bey […] bußfertiger und glaubiger Annehmung und würdigen Gebrauch, wie in den ersten Zeiten, da die Christliche Religion gepƀanzet worden ist, also auch in den letzten Zeiten, einerley Würkung und Frucht […] zeigen müsse.102

Zugleich sollten die amerikanischen Korrespondenzen den Evangelischen in Deutschland Handlungsanleitungen zum richtigen Leben geben. So erwartete sich Urlsperger von der frommen Lektüre seiner Schriften, dass sie zu „einer wahren Sinnesänderung, zu einem lebendigen und durch die Liebe thätigen Glauben“ und damit – eschatologisch gedacht – zur „Vollendung“ beitragen könne.103 Nicht ohne Grund hebt der Editor in seinen Vorreden immer wieder jene Leserreaktionen hervor, die den katechetischen Erfolg der Schriften belegen können. So zitiert er etwa aus einer Leserzuschrift, die das Eben-EzerProjekt als „gute[s] Exempel der Europäer“ und „erweckende[n] Probe des Christenthums“ bezeichnet.104 Und er verweist auf das Lob eines Theologen, der den erbaulichen Duktus der amerikanischen Nachrichten ausdrücklich bestätigt. Selbst der im engeren Sinn naturgeschichtliche Diskurs stand unter dem Monopol der religiösen Weltdeutung. Um das heilsähnliche Proſl der Amerika-Zeugnisse herauszuarbeiten, schreckte Urlsperger nicht vor bedenklichen redaktionellen Manövern zurück. Besonders deutlich tritt der ganz auf das Erweckungserlebnis zugespitzte Umgang mit den Quellen bei einem Text von Johann Martin Boltzius hervor. Es handelt sich um Nachrichten und Anmerckungen aus dem Reiche der Natur, die dieser zusammen mit den Salzbur101 Urlsperger, Nachrichten I/1, Vorrede, [7r]-[8r]. Zum Providenzdenken im Pietismus vgl. Jakubowski-Tiessen, Eigenkultur, 195f. 102 Urlsperger/Urlsperger, Ackerwerk II, Vorrede, [5r]. 103 Urlsperger/Urlsperger, Ackerwerk II, Vorrede, [6r]. 104 Urlsperger, Nachrichten I/4, Vorrede, [4v].

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gern nach Amerika ausgewanderte Prediger 1752 verfasst und nach Deutschland geschickt hat. In dieser von der Forschung bislang unbeachteten Handschrift beschreibt Boltzius die verschiedenen Gewächse in Georgia. Inhaltlich konzentriert sich der Geistliche auf die botanische Dokumentation. Im Vordergrund stehen innerweltliche Erkenntnisziele, oder, um es in der pietistischen Diktion zu formulieren: die „leiblichen Dinge“. Damit habe er einen langgehegten Wunsch von „Gönnern und Freunden“ aufgreifen wollen, die „es […] lieber sehen, daß Historica, Naturalia et Curiosa a parte berichtet würden“105. Urlsperger, der die Edition dieses Werks mehrfach angekündigt hatte, dann diese Absicht aber fallen ließ, kehrte jedoch den von Boltzius angestrebten Sinn in das glatte Gegenteil um. So akzentuiert er in seiner Editionsankündigung den primär theologischen Erkenntniswert der Naturbeobachtungen: Die Beschreibung des Predigers aus Eben-Ezer sei deswegen von Bedeutung, weil sie der „Verherrlichung unsers allmächtigen und weisen Schöpffers dienen“ könne. Und mahnend fügt er hinzu, dass man bei aller Legitimität des naturkundlichen Erkenntnisinteresses „der Gnade und des Unsichtbaren nicht vergisset, sondern sich im Glauben über die Natur schwinget, und in demselben sich an den hält, der aufgefahren ist über alle Himmel, auf daß er alles erfülle“106. Im Kern bestimmten die Voraussetzungen lutherischer Gnadentheologie die Leitlinien der Amerika-Wahrnehmung. Vor diesem Hintergrund erschien die Neue Welt als religiöse Quelle, die Heilsgewissheiten vermitteln konnte, und zwar nicht nur auf individueller Ebene, sondern auch für das Gruppengefüge. Angesprochen ist die pietistische Gesinnungs- und Überzeugungsgemeinschaft, so vor allem in den süddeutschen Reichsstädten. Urlsperger bezieht sich explizit auf die Kommunikations- und Solidaritätsnetze, die im Zusammenhang mit den vielfältigen Hilfsmaßnahmen für die Salzburger Exulanten in Augsburg, Ulm, Memmingen und Lindau entstanden sind.107 Der theologische Grundgedanke verband sich hier also mit konfessionspolitischen Überlegungen. Die Stärkung reichsstädtisch-protestantischer Loyalitäten spielte eine maßgebliche Rolle. Georgia lieferte gleichsam die Projektionsƀäche für entsprechende Kohäsionsbemühungen. Insofern wird man den hochgespannten Erwartungen der pietistischen Publizistik kaum gerecht, wenn man sie nur als typisches Beispiel für das Paradigma des interkontinentalen „Wissenstransfers“ reklamiert.108 Die Dinge sind viel pointierter zu fassen: Der Transfer-Idee der Pietisten lag die Vorstellung vom Gnadenstrom zu Grunde, der von Georgia nach Süddeutschland ƀoss und den Gläubigen dort – über das Medium der Korrespondenz – Hoffnung auf Erlösung gewähren konnte. Tatsächlich ging es im überseeischen Nachrichtengeschäft des Urls105 106 107 108

Cgm 6106 [Boltzius, Nachrichten und Anmerckungen], 1. Urlsperger/Urlsperger, Ackerwerk II, Vorrede, [4v]-[5r]. Vgl. Urlsperger, Nachrichten II/8, Vorrede, (6). So in zu starker Betonung Römmelt, Teutschland, 265f.

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perger-Kreises um Heilstransfer. Damit war ein Problem von höchster theologischer Qualität in die amerikakundliche Reƀexion hineingenommen, eben die Frage nach den letzten Dingen, nach den Rechtfertigungsmöglichkeiten des Menschen vor Gott. Lutherisches Reich Gottes in Georgia Das stark eschatologisch überformte Weltverständnis der süddeutschen Pietisten bestimmte nicht nur die Rahmenbedingungen der Kommunikation über Amerika. Es wirkte sich auch nachhaltig auf das konkrete Proſl der AmerikaBilder aus. Am konsequentesten verfolgte Samuel Urlsperger die Vorstellung, dass die Neue Welt unmittelbaren Anteil am Heilsgeschehen der Offenbarung habe. In den folgenden Betrachtungen sollen daher seine Überlegungen an erster Stelle stehen. Bei den beiden anderen Repräsentanten des pietistischen Amerika-Denkens, dem jüngeren Urlsperger und dem Ulmer Pfarrer Kleinknecht, verschieben sich die Akzente gegenüber dem Hauptprotagonisten in feinen, aber entscheidenden Nuancen: Urlspergers Sohn orientierte sich bei seiner Beschreibung von Georgia an einem primär landeskundlich ausgerichteten Raster. Im Fall von Kleinknecht dominierte wiederum der universalistische Aspekt. Wie bereits betont, vollzog sich im Werk des Ulmer Geistlichen der Schritt zur globalisierten Konfessionstheorie. Kleinknecht strebte eine Gegengeschichte zum katholischen Universalismus an. Er wollte die protestantischen Alternativen zur Missionsbewegung der Papstkirche ausloten, die er schließlich sowohl in Eben-Ezer als auch in Indien fand. Kontinentalgeschichtlich betrachtet stehen sich daher Asien und Amerika in einem gleichrangigen Verhältnis gegenüber. Bei Kleinknecht überwog zunächst die Euphorie über die protestantischen Missionschancen in Asien. Erst in der zweiten Auƀage seines Buchs von 1749 bricht das Erkenntnisinteresse zu Gunsten der Neuen Welt um. Dabei bleibt jedoch die amerikanophile Perspektive weiterhin nur eine unter anderen Deutungsoptionen. Bei Samuel Urlsperger hingegen setzte sich der Gedanke des amerikanischen Exzeptionalismus, also die Überzeugung, dass der vierte Kontinent vom Schöpfer dazu auserwählt worden sei, dem Volk Gottes eine neue Heimstatt zu bieten, erheblich früher durch. Amerika, oder um genauer zu sein: Georgia verkörperte für den Augsburger Prediger im buchstäblichen Sinn das neue Israel. Als Raum der Heilserwartung rückte Amerika in der Hierarchie der Erdteile an die erste Stelle. Dabei ist das Arsenal der biblischen Assoziationen denkbar breit angelegt; es dominiert die eschatologische Idee vom herannahenden Reich Gottes. Für Urlsperger hat die Heilsverheißung Jesu Christi in der Kolonie der süddeutschen Emigranten eine erste historische Verwirklichung erfahren: Eben-Ezer liege in einem „Immanuels-Land“, von der Providenz dazu ausersehen, das „um des Bekänntnisses willen […] aus

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seinem Vaterlande“ vertriebene Volk der Salzburger aufzunehmen.109 Diese tiefere Zweckbestimmung spiegele sich zum einen in der naturräumlichen Ausstattung von Georgia wider. So heißt es etwa über den Ort des Koloniegründungsprojekts: [D]as Land ist gegenwärtig voll Eichen, Föhren, Cypressen, Büchen, Papplen, Cedern, Castanien, Wallnüsse, Lorbeer-Bäume, Äpffel, Pſrsche, Maulbeern und vielen andern fruchtbaren Bäumen, über das hat es auch Weinstöcke, welche hieselbst sehr wohl gedeyen, und weil es sowohl ein angenehmes als fruchtbares Land ist, könnte es in kurzer Zeit so schön und nutzbar als eine von den besten auswärtigen Colonien gemacht werden, wenn eine gehörige Anzahl Arbeiter dazu employrt würde.110

Unverkennbar knüpft der Prediger hier an die Genesis an. In Georgia wird der Leser (und potenzielle Auswanderer) ein zweites Eden vorſnden. Im Gegensatz zum ersten, durch den Sündenfall verlorenen Paradies wird diese neue Welt jedoch nicht untergehen. Durch zivilisatorische Leistung, durch den ordnenden Eingriff der von Gott aus Salzburg gesandten „Arbeiter“ wird das Land – so die prognostische Anmutung – den ihm zugedachten Platz in der Schöpfung ſnden können. Der Interpretationsrahmen der Paradiestopik ist indes noch weiter gefasst. Denn zum anderen verweist Urlspergers Rede vom Immanuels-Land auch auf die politische und rechtliche Seite der Verhältnisse. Im Mittelpunkt steht die religiöse Frage: Das Leben in der Neuen Welt sei nämlich wesensmäßig mit der Idee der Gewissensfreiheit verbunden. Der Geistliche entwirft das Zukunftspanorama einer religiös befriedeten und politisch sich selbst bestimmenden Gesellschaft: „So werden sie [die Kolonisten] in wenig Jahren ein blühendes und recht glückliches nicht weniger zu aller Zeit freyes Volck seyn und bleiben“111. An anderer Stelle betont er, dass die Salzburger in Georgia nun „frey von aller Gewissenstyranney“ leben könnten. Und im Hinblick auf den weiteren historischen Verlauf hofft er, dass der „Geist des HErrn“ im Sinne der „geystlichen Freyheit“ den Kolonisten weitere „Freystädten“ schaffen wird, „wo kein Tod sich zu ihnen nahen darf“112. In politischer Umwertung der Reich-Gottes-Idee entwickelte Urlsperger hier ein geradezu revolutionäres Gesellschaftskonzept. Die Brisanz verstärkt sich noch, wenn man bedenkt, dass die Rolle der englischen Obrigkeit, ihre absolutistisch geprägten Regulierungsversuche gegenüber den Salzburger Exulanten kaum angesprochen wird.113 Sicherlich betont Urlsperger – schon aus diplomatischem Kalkül – immer wieder den Rückhalt, den die Neusiedler durch die britische Krone erhalten hätten. Im Mittelpunkt des Interesses steht indes die Gemeinde von Eben-Ezer, die als autonome Musterrepublik der 109 110 111 112 113

Urlsperger/Urlsperger, Ackerwerk III, Vorrede, [3v]. Urlsperger, GEORGIA, [2v]. Urlsperger, GEORGIA, [2v]. Urlsperger/Urlsperger, Ackerwerk II, Vorrede, [6r] nach Paulus an die Römer 8,3. Zum teilweise spannungsreichen Verhältnis zwischen Kolonialobrigkeit und deutschen Einwanderergemeinden vgl. Roeber, Palatines, 158-166.

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Stillen im Lande erscheint. In ihr sollte sich – unabhängig von äußerer (kolonial-)staatlicher Beeinƀussung – ein neues Gemeinwesen im urchristlichen Sinn entfalten können. Letztlich verstand sich diese pietistische Gesellschaftsutopie als programmatische Alternative zu den tradierten Formen der europäischen Staatlichkeit in der Alten und Neuen Welt.114 Wie stark diese utopische Tendenz das Amerika-Bild bestimmte, zeigt sich auch an der etymologischen Umdeutung des Kolonienamens „Georgia“. So übersetzte Urlsperger diesen mit „Gottes Ackerwerk“. Diese Herleitung beruht auf einem exegetischen Kunstgriff. So wurde der englische Namen der Kolonie (Georgia) auf eine Stelle im ersten Brief des Paulus an die Korinther bezogen. Dort bezeichnet der Apostel die Gemeinde von Korinth als „Ackerwerk“ oder „Feld Gottes“ (nach der Bibelübersetzung durch Luther). In der griechischen Urfassung des Korintherbriefs lautet der entsprechende Begriff ȖİȦȡȖȚȠȞ („Georgion“), womit sich eine unmittelbare Analogie zu Georgia und damit zur Gemeinde von Eben-Ezer herstellen ließ. Wie die Korinther wurden also auch die Salzburger in der Neuen Welt zum Mitbau am Reich Gottes aufgerufen.115 Doch in der rafſniert inszenierten Sprachallegorie schwingt noch eine weitere Sinnkomponente mit. Indirekt relativierte Urlsperger nämlich den Herrschaftsanspruch der Briten. Dem kolonialen Georgia der Briten – deren Namensgebung spielt ja bekanntlich auf König Georg II. an – stellte er das paulinische Georgion der Frommen gegenüber. So gewann die Neue Welt als Schauplatz der Heilsgeschichte eine Autorität, die sich im Ernstfall der weltlichen Staatsraison nicht mehr zu unterwerfen brauchte. Denn die Legitimität der britischen Kolonialherrschaft hing mit der Schutzfunktion für das Reich Gottes zusammen. Auch wenn Urlsperger das nicht so deutlich ausspricht: Für ihn erlischt diese Legitimität in dem Augenblick, in dem die Engländer ihren Verpƀichtungen gegenüber den Stillen im Lande nicht mehr nachkommen sollten. Damit wurde indirekt eine religiöse Position formuliert, die sich leicht mit dem Postulat nach allgemeiner 114 Kennzeichnend für die pietistischen Stimmungslagen vgl. Urlsperger, Nachrichten II/9, 1243f. (Johann Friedrich Vigera an „einen Bankier“, 1742): Hier ist die Rede von der „stillen und in GOtt höchst vergnügten Einsamkeit“ in Georgia, die sich von der „verführerische[n] und im Grund erlogene[n] und betrogene[n] Welt“ unterscheide. 115 Urlsperger, Nachrichten II/9, Vorrede, [2r] nach 1 Kor 3,9: „Georgion, welches in unserer teutschen Bibel ein Ackerwerk genennet wird, zeiget ein Erdreich und Land an, darauf Früchte angesäet und gepƀantzet werden […] und von welchen auch neue Früchte, Pƀantzen und Bäume genommen werden können, also, daß sie sich vermehren, ausbreiten, und noch andere Orte davon angebauet werden können. Ein solch angebauet Erdreich oder Land heißet dann, nach dem Unterschied der Saamen oder Pƀantzen, ein Acker, Garten oder Weinberg. Und so ist auch EbenEzer in Georgien wegen der daselbst angerichteten Evangelischen Gemeinde, welche durch das Wort Christi lauter und rein, reichlich und kräftig unter sich wohnen lässet, ein Acker GOttes, woselbst guter Saame gesäet wird, und Frucht bringet; ein Garten Christi, woselbst feine Pƀantzen und Bäume der Gerechtigkeit wachsen.“

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politischer Unabhängigkeit verbinden und daher hohe Sprengkraft entwickeln konnte. Gewiss wäre es übertrieben, in den utopischen Fantasien des Augsburger Geistlichen bereits spirituelle Vorboten der Unabhängigkeitserklärung von 1776 erkennen zu wollen. Gleichwohl muss man betonen, dass Urlsperger einen wichtigen Beitrag zur ideellen Emanzipation der Neuen Welt geleistet hat. Zumindest hat er als bedeutender deutschsprachiger Vermittler jener Ideen zu gelten, die für bestimmte Strömungen des Protestantismus in den amerikanischen Kolonien während des 17. und 18. Jahrhunderts prägend geworden sind. Die Anklänge an die Vorstellung von der biblisch begründeten Auserwähltheit des amerikanischen Volkes sind kaum zu überhören. Denn mit der Deutung von Eben-Ezer als göttlicher Republik fügte sich Urlsperger einerseits in Denktraditionen ein, die mit den Konzeptionen des Puritanismus in Neuengland durchaus zu vergleichen sind.116 Gemeinsamkeiten lassen sich andererseits mit dem deutsch-lutherischen Auswanderermilieu in den mittelatlantischen Kolonien erkennen. Zu erwähnen ist vor allem Franz Daniel Pastorius, der Gründer von Germantown bei Philadelphia. Unter Rückgriff auf William Penn bezeichnete Pastorius bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Neue Welt als „Himmlisches Jerusalem“.117 Obschon Urlsperger in keinem direkten Kontakt zu dem deutlich älteren Pastorius stand, wird man davon ausgehen können, dass ihm dessen Unternehmungen und Schriften (insbesondere dessen Kurtze Beschreibung der letztmahls erfundenen Americanischen Landschafft Pennsylvania von 1692) bekannt gewesen sein dürften.118 Überhaupt reagierte die Publizistik von Urlsperger auf die Diskurse des Great Awakening seit den 1730er Jahren.119 Der Rückgriff auf die Eschatologie sollte der inneren Festigung der Salzburger Gemeinde in Eben-Ezer dienen. Der Augsburger Geistliche appellierte mit seinen Schriften nicht nur an die deutschen Leser, sondern auch an die Binnenidentität der Migranten, die in der protestantischen Bekenntnisvielfalt von Britisch-Amerika ihre speziſsche Prägung als Exponenten des deutschen Luthertums bewahren sollten. Denn konfessionell betrachtet befand sich die süddeutsche Auswanderer116 So etwa bei Cotton Mather, der in engem Kontakt mit Francke in Halle stand (vgl. dazu Roeber, Pietismus in Nordamerika, 683f.). Zum Exzeptionalismus vgl. Shafer, Is America different, hier besonders Greely, Phenomen. 117 Pastorius, Send-Brief, 8 (die Quäker von Philadelphia als „friedsame Bürger des Himmlischen Jerusalems/ der herrlichen Stadt Gottes“). Zu Pastorius vgl. Learned, Pastorius, 50-81; Häberlein, Nachrichten, 1126-1128; Trommler, Pastorius. Generell zur Übertragung der Jerusalem-Idee auf Amerika im (radikalen) Pietismus vgl. Bernet, JerusalemVorstellungen; Deppermann, Pennsylvanien als Asyl, 201; Durnbaugh, Radikaler Pietismus; Mack, Pastorius. 118 Vgl. Weigelt, Geschichte, 58f.; Roeber, Palatines, 75. 119 Allgemein zum Great Awakening vgl. Ward, Protestant Evangelical Awakening, 241295; Wellenreuther, Ausbildung, 314-351; Frantz, Awakening of Religion; Roeber, Pietismus in Nordamerika.

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gruppe während ihrer Anfangsphase in einer schwierigen amerikanischen Zweifrontensituation: Auf der einen Seite stand die anglikanische Staatskirche, die von den Exulanten konfessionell Loyalität erwartete. Obschon den Salzburgern ausdrücklich das Recht religiöser Selbstorganisation zugestanden worden war, hoffte man doch insgeheim auf deren Assimilation an bzw. Integration in die englische Kirche.120 Zum anderen sah sich der frühe Pietismus in Nordamerika dem Konkurrenzdruck aus dem eigenen Lager ausgesetzt. Diese Bedrohung hatte ganz konkrete Dimensionen: Als Opponenten eben-ezerischer Einheit und pietistischer Identität im Francke’schen Sinn konnte Urlsperger etwa die Herrnhuter Brüdergemeinen (Moravian Brethren) ausmachen. Unter der Führung von August Gottlieb Spangenberg versuchten diese 1735, also im Umfeld der Koloniegründung von Eben-Ezer, ebenfalls in Georgia Fuß zu fassen. Der Gründungsversuch scheiterte, weshalb die Herrnhuter 1740 nach Norden auswichen und unter Leitung von Nikolaus Ludwig von Zinzendorf zwei Niederlassungen in Pennsylvania (Bethlehem und Nazareth) errichteten.121 Für den Augsburger Geistlichen, der schon früher nicht mit scharfer Kritik an Zinzendorf gespart hatte, kamen die Missionsbestrebungen der Herrnhuter einem Sakrileg gleich. Sie mussten ihm als Einbruch in das eigene Revier, als Angriff auf das Reich Gottes erschienen sein, den es mit Hilfe heilsgeschichtlich gestützter Argumentationslinien abzuwehren galt.122 So enthielten die Eben-Ezer-Schriften auch eine dezidiert kirchenpolitische Ansage. Als Instrumente religiöser Selbstvergewisserung zielten sie auf konfessionelle Identitätssicherung. Man kann sie sogar als Gründungsdokumente bewerten. So bezeugen sie gewissermaßen die Errichtung einer deutsch-lutherischen Kirche auf amerikanischem Boden (auf der Basis einer gemäßigt pietistischen Bekenntnisagenda, wie sie Hermann August Francke propagierte). Im Kern enthüllt sich Urlspergers beharrlicher Rekurs auf das paulinische Georgion in Georgia als ekklesiologische Vision, mit der die Institutionalisierung des lutherischen Protestantismus in der Neuen Welt vorangetrieben werden sollte. Wie sehr dieser Zusammenhang der Öffentlichkeit in den britischen Kolonien bewusst war, zeigt sich an einer prominenten Stimme 120 Zu den Spannungen zwischen deutschem Luthertum und englischer Kirche (in manchen Kolonien genossen die Anglikaner die Vorrechte einer Established Church) aus der zeitgenössischen Sicht von Heinrich Melchior Mühlenberg vgl. Tappert/Doberstein, Journals II, 602; Jackson, Parson and Squire, 47; McConnell, Origins, 1424; Voigt, Religious Conditions, 63-66. 121 Biograſsch zu Zinzendorf vgl. BBKL 14 (1998) 509-547. Zu den Herrnhutern in Amerika vgl. zentral Mettele, Weltbürgertum, 41-112; Atwood, Deep in the Side; Meyer, Zinzendorf, 42-45; Mason, Moravian Church, 5-18; Wessel, Predigtstuhl; speziell in Georgia vgl. G. F. Jones, Salzburger Saga, 35f. 122 Vgl. Weigelt, Geschichte, 219, 225; Wölfel, Evangelische Kirche, 512. Zu den Konƀikten zwischen (pietistischen) Lutheranern und Herrnhutern vgl. T. Müller, Kirche, 97f., 120f.; Fogleman, Moravian Challenge; Tappert/Doberstein, Introduction, IX-XI.

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aus dem zeitgenössischen kolonialamerikanischen Luthertum. Es handelt sich dabei um den bereits mehrfach erwähnten Heinrich Melchior Mühlenberg aus Pennsylvania. Dieser wies den Urlsperger-Schriften eine dogmatische Autorität zu, nach der sich die Organisation des lutherischen Gemeindelebens in Nordamerika richten sollte.123 Zwar bildete der heilsgeschichtliche Duktus nicht die einzige Wahrnehmungsmöglichkeit, mit der die Vorgänge in Georgia erfasst werden konnten. Gerade in den Quellenteilen von Urlspergers Edition, bei den einzelnen Korrespondenzen, Tagebüchern und Reiseberichten, werden auch landeskundliche, ethnograſsche oder politisch-historische Interessendimensionen sichtbar. Ein Beispiel dafür sind etwa die Beiträge des aus Kurhannover stammenden Juristen Philipp Georg Friedrich von Reck. Der später als Regierungsrat in Hessen-Kassel tätige Gelehrte hatte im Auftrag der englischen Krone mehrere Exulantengruppen nach Amerika geführt und bei dieser Gelegenheit detaillierte Beobachtungen über die indigene Bevölkerung und die Sklaverei in den südlichen Kolonien festgehalten. Urlsperger ließ diese Berichte, die zu den entschiedensten Plädoyers für die Sklavenemanzipation im 18. Jahrhundert gehören, ungekürzt abdrucken.124 Gleichwohl wird man betonen müssen, dass seine Quellenauswahl insgesamt doch ganz stringent der redaktionellen Leitlinie folgte, nämlich die einzelnen Etappen des deutsch-lutherischen colony-building in Georgia auf konkret zeit- und übergeordnet heilsgeschichtlicher Ebene herauszuarbeiten. Geradezu paradigmatisch greifbar wird diese Perspektive in den Tageregistern von Johann Martin Boltzius und Israel Christian Gronau, den beiden ersten lutherischen Geistlichen von Eben-Ezer. Die Notizen der Prediger lieferten die Materialbasis, mit deren Hilfe Urlsper-

123 Zu diesen Bewertungen Mühlenbergs vgl. die Quellenbelege bei Tappert/Doberstein, Journals II, 625, 634, 641f.; Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs II, Nr. 138, 71-85 (Mühlenberg an Urlsperger, 1753 IX 6). Zur lutherischen Gemeindebildung in Nordamerika vgl. Splitter, Divide et Impera, 53f.; Wellenreuther, Mühlenberg, 54f., 57f., 61-66. 124 Vgl. Urlsperger, Nachrichten I, 152-173 (Philipp Georg von Reck, Reise-Diarium […] als derselbe von Eben-Ezer in Georgia nach denen Nord-Ländern in America/ und von dar wieder zurück nach England/ Holland und Teutschland gegangen); ebd. I, 174-192 (ders., Kurtze Nachricht von Georgien und denen dasigen Indianern); ebd., I/2, 803-876 (ders., Diarium von […] [der] Reise nach Georgien mit dem dritten Transport einiger im Jahr 1735 […] und […] Nachricht von denen Indianern in America). Biograſsch zu Reck vgl. Adelung/Rotermund, Gelehrten-Lexiko VI (1819) 1519f. Viel zu einseitig die Bewertung von Römmelt, Teutschland, 263: Urlspergers Berichte „gehen auch auf das problematische Thema der Sklaverei ein und nehmen hierzu eine aus heutiger Sicht rassistisch erscheinende Haltung ein“. Zur Haltung der Salzburger Exulanten gegenüber der Sklaverei (prinzipiell ablehnend bei gleichzeitig pragmatischer Akzeptanz) vgl. Haver, Salzburg, 118-145; G. F. Jones, Georgia Dutch, 265-274; Wilson, Land, 237f.; Wood, Colonial Georgia, 59-73. Allgemein dazu vgl. Van Horne, Introduction, 16-25; Wood, Colonial America, 70, 75f.

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ger das Bild von dem lutherischen Gottesreich in Amerika empirisch zu untermauern versuchte. Abschließend sei daher das Argumentationsmodell der Eben-Ezer-Schriften anhand der Tagebücher von Boltzius und Gronau noch einmal näher illustriert. Die literarische Aktivität der beiden Geistlichen muss vor ihrem speziſschen historischen und biograſschen Erfahrungshorizont gesehen werden: Boltzius stammte aus der Niederlausitz. Mit dem Pietismus kam er während seines Theologiestudiums in Halle in Berührung. Nach einer kurzen Phase als Lehrer am Waisenhaus der Francke’schen Stiftungen in Halle und als Pastor in Wernigerode erhielt er 1734 den Auftrag, die Seelsorge der Auswanderer zu übernehmen. Er wurde darin von Israel Christian Gronau unterstützt. Gronau begleitete Boltzius 1734 nach Nordamerika.125 Die beiden Geistlichen errichteten die erste lutherische Kirchenorganisation in Georgia. Neben der Pastoral zielten ihre Aktivitäten auch auf die Wohlfahrts- und Wohlstandsförderung der durch Zuzug vor allem aus der Pfalz rasch expandierenden Kolonie. Es entstand eine umfassende Gemeindeinfrastruktur mit kostenfreier Schule, Krankenstation, Waisenhaus und einer Seidenraupenzucht.126 Zweck der Bemühungen war es, eine autarke wirtschaftliche und soziale Existenzgrundlage zu schaffen, um so die kulturelle (deutschsprachige) und religiöse (lutherische) Homogenität der Salzburger in ihrer fremden Umwelt zu erhalten. Der Inhalt der Tagebücher wurde stark von den religiösen und organisatorischen Herausforderungen der Koloniegründungsphase geprägt. Bei den von Urlsperger abschnittweise veröffentlichten Berichten handelt es sich um so genannte „Amtsdiarien“. Sie umfassen den Zeitraum von November 1733 bis Januar 1759.127 Die Texte verstanden sich als Beitrag zur kollektiven Erinnerung. Dabei lassen sich drei Adressatenebenen erkennen: Erstens richteten sich die Tagebücher an die pietistischen Gesinnungsmilieus in Europa. Sie waren von vornherein für den Zweck der Publikation durch Urlsperger in Augsburg bestimmt. Zweitens sollten sie die Förderer des Siedlungsprojekts, die Londoner Kolonialgesellschaft von Georgia, über die Entwicklungen in Nordamerika auf dem Laufenden halten. Die Tageregister hatten also auch die Funktion eines Rechenschaftsberichts. Drittens dienten sie – dieser Aspekt ist der wichtigste – der memoria der Immigrantenge125 Biograſsch zu Boltzius vgl. Haver, Salzburg, 159-164; ANB 3 (1999) 147-149; BBKL 24 (2005) 312-347. Für einen guten Überblick über die Kolonie bis zu ihrer Auƀösung 1828 vgl. Coleman, Colonial Georgia, 156-162; G. F. Jones, Georgia Dutch; Winde, Einleitung, XXXVII-LII. 126 Vgl. G. F. Jones, Georgia Dutch, 231-257; Tresp, Salzburger Orphanage; Wilson, Pious Traders, 99-128; dies., Protestant Refugees, 122. 127 Vgl. Urlsperger/Urlsperger, Ackerwerk IV, 1. Zu den einzelnen Diarien vgl. Haver, Salzburg, 74-87. Generell zur „Gattung Tagebuch“ vgl. Krusenstjern, Selbstzeugnisse; speziell für den Pietismus vgl. Modrow, Religiöse Erweckung.

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meinde. Sie sollten die Erinnerung an den Gründungsakt der Gemeinde wach halten und so ein positives Bewusstsein für den Wert der eigenen Vergangenheit erzeugen.128 Die Tagebücher verfolgten damit Absichten, wie sie für die Gattungstradition der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen memoria schon immer kennzeichnend waren: Hier wurden, wie auch schon in den klösterlichen Nekrologien, die Toten der Gemeinde vermerkt. Am Jahrestag der Koloniegründung wurde aus den Tageregistern öffentlich vorgetragen. Sie waren also Bestandteil einer ofſziellen Erinnerungsarbeit für die örtliche Gemeinde. Als Produkte unmittelbarer persönlicher Erfahrung wird man die Diarien daher nicht lesen dürfen, auch wenn die Autoren durch den Einsatz rhetorischer Mittel wie den Mikrologismus, das heißt durch die minutiöse Schilderung von Seelenzuständen oder Katastrophenereignissen, genau diesen Eindruck hervorrufen wollten. In affektiver Hinsicht zielten die Berichte auf das Gemeinschaftserlebnis im Sinn des pietistischen Unmittelbarkeits- und Mitleidskults. In kognitiver Hinsicht sollten sie das Wirken Gottes in der Kolonie veranschaulichen und damit den Erfolg von Eben-Ezer illustrieren.129 Daher beleuchten die Tagebücher die Entwicklung nahezu ausschließlich aus der Innenperspektive. Einerseits spielen wirtschaftliche Existenzsicherung und koloniale Organisation, andererseits religiöse Faktoren eine große Rolle. Bereits das erste, von der Mitte 1734 bis zum Jahresende 1735 reichende Amtsdiarium, folgt dieser inhaltlichen Linie. Schon hier verdichten sich die legitimatorischen und identitätsstiftenden Intentionen pietistischer Amerika-Kommunikation auf exemplarische Weise. Detailliert beschreiben Boltzius und Gronau die Anlaufschwierigkeiten der Siedlung, um die Forderung nach kontinuierlicher Unterstützung aus Europa glaubhaft zu untermauern: Die prekäre Nahrungsmittelsituation, der Mangel an sicheren Verkehrswegen, die ungeklärten Besitzverhältnisse, das Fehlen von geeignetem Gerät für die Urbarmachung des Bodens, die Probleme bei der Krankenversorgung und die hohe Zahl an Todesfällen – diese Punkte bestimmen das inhaltliche Amerika-Panorama der Tagebücher.130 Neben diesen bedrückenden Aspekten 128 Vgl. auch die Deſnition des Aufgabenzwecks durch Urlsperger, Nachrichten I/1 (Boltzius/Gronau, Tage-Register vom 18. Jul. 1734. bis zum Ende des 1735sten Jahres), 348. 129 Zur Verwendung der Tagebücher in der Gemeindeöffentlichkeit von Eben-Ezer vgl. Urlsperger, Nachrichten I/1 (Boltzius/Gronau, Tage-Register vom 18. Jul. 1734. bis zum Ende des 1735sten Jahres), 302. Es ist bezeichnend, dass Boltzius neben dem ofſziösen Amtstagebuch noch ein Geheimtagebuch führte. Zwischen den beiden Überlieferungssträngen bestehen erhebliche Diskrepanzen. In seinem Geheimtagebuch geht Boltzius äußerst kritisch mit der britischen Kolonialadministration um (vgl. dazu Wilson, Public Works, 342). Allgemein zur memoria vgl. Völkel, Geschichtsschreibung, 200f.; speziell für die protestantische Perspektive vgl. Brockmann, Vorbild, Lehrer, Prophet; Mettele, Weltbürgertum, 192-194 (memoria als „Erzählgemeinschaft“). 130 Vgl. Urlsperger, Nachrichten I/1 (Boltzius/Gronau, Tage-Register vom 18. Jul. 1734. bis zum Ende des 1735sten Jahres), 245f. (Mangel an Medikamenten), 257 (schwierige

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treten auch positive Erfahrungen ins Bild. Dazu zählen die erfolgreichen Ansätze in der Viehzucht, der Aufbau einer mit Wasserenergie betriebenen Holzsäge, aber auch der Bau von Kirche und Schule.131 Diese positiven Aussichten verbinden sich mit einer religiösen Leistungsschau: Im wachsenden Erfolg der Kolonisten offenbarte sich gewissermaßen die Gnade Gottes, die sich in Form einer inneren Festigung der Gemeinde vergegenwärtigte. Diesen Zusammenhang versuchten die beiden Autoren mit der Beschreibung der religiösen Praktiken nachzuweisen. In geradezu ermüdender Regelmäßigkeit halten die Berichte die Erweckungserlebnisse einzelner Kolonisten fest, geben sie Details aus den Beichtgesprächen verschiedener Gemeindemitglieder preis. Außerdem dokumentieren die Tagebücher das brennende Verlangen der Gläubigen nach Erbauungsliteratur aus Deutschland (von Johannes Anastasius Freylinghausen, Philipp Jakob Spener und Johannes Arndt).132 Demgegenüber erfährt der Leser wenig über die Außenwelt von EbenEzer. Die nahe der Kolonie lebenden indigenen Völker werden nur kursorisch behandelt. Kaum streifen die Diarien die Situation der anderen europäischen Kolonisten – es sei denn in negativer Kontrastierung, wenn es etwa darum geht, die Glaubens- und Tugendlosigkeit der übrigen europäischen Einwanderer herauszuarbeiten. Positiv hebt sich davon nur das Bild von Edward James Oglethorpe, des ersten Gouverneurs von Georgia, ab. Er wird als Schutzherr der Exulanten stilisiert. Gewiss hatte dies mit politischen Rücksichtnahmen zu tun: Auf das Verhältnis zwischen den Salzburgern und den britischen Kolonialbehörden durfte kein Schatten fallen, obwohl die Berichte im Konkreten kein günstiges Bild von den Engländern zeichnen. Nur mühsam können die Tagebücher die Tatsache verdecken, dass zwischen den häuſg der gentry angehörenden, anglikanisch-hochkirchlichen Führungsschichten von Georgia und den Pietisten, bäuerlichen Siedlern aus den Salzburger Alpen, erhebliche soziale und mentale Diskrepanzen bestanden. Nicht zuletzt bleibt der größere politische Kontext ausgeblendet. Lediglich am Rand wird darauf verwiesen, dass Georgia als „Vor-Mauer und Bedeckung anderer Engländischen Plantationen“ gegen die Vorstöße der von Süden kommenden Spanier angelegt worden war.133 Dass dieser Zusammenhang weitgehend übergangen wurde, lag Verkehrswege), 281 (verfaultes Saatgut), 303 (Tod von Neugeborenen), 354 (Mangel an Handwerksgerät). 131 Vgl. Urlsperger, Nachrichten I/1 (Boltzius/Gronau, Tage-Register vom 18. Jul. 1734. bis zum Ende des 1735sten Jahres), 247 (erfolgreiche Schweinezucht), 296f. (Bau von öffentlichen Gebäuden), 403 (Errichtung einer Holzsäge). 132 Vgl. Urlsperger, Nachrichten I/1 (Boltzius/Gronau, Tage-Register vom 18. Jul. 1734. bis zum Ende des 1735sten Jahres), 246 (intensives Gebet), 253 (würdiger Empfang des Abendmahls), 257 (Betstunden und Psalmengesang), 259 (Schriften von Arndt erwünscht), 278 (Lektüre von Spener), 401 (Katechismen von Freylinghausen), 335f. (Beichtgespräche). 133 Urlsperger, Nachrichten I/1 (Boltzius/Gronau, Tage-Register vom 18. Jul. 1734. bis zum Ende des 1735sten Jahres), 362. Zu Oglethorpe vgl. Spalding, Oglethorpe in Ame-

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sicherlich auf der Linie von Urlsperger, hätte doch eine Warnung vor dem kriegerischen Gefahrenpotenzial von Georgia auf künftige Siedlungsinteressenten nur abschreckend wirken müssen. Für die kleine, immer wieder vom Aussterben bedrohte Gemeinschaft neue Kolonisten aus der Alten Welt anzuwerben – dies war eine weitere Aufgabe der Tagebücher. In das auf Werbewirkung berechnete Szenario fügt sich ein anderer Umstand passgenau ein. Wenn von den Außenkontakten der Gemeinschaft die Rede ist, dann nur von den Beziehungen zwischen Alter und Neuer Welt, genauer: zwischen den pietistischen Brückenköpfen in Amerika und Deutschland. Die Tageregister berichten über die Dauer und Häuſgkeit von Brief-, Buch- und anderen Materialsendungen, beispielsweise von Geld, liturgischem Gerät, Medikamenten, Möbeln, Werkzeug und sogar einer ganzen Mühleneinrichtung.134 Die Angaben sind so genau, dass sie eine systematische Rekonstruktion der überseeischen Nachrichten- und Warenlogistik erlauben würden. Für die Zeitgenossen lag der Zweck dieser Informationen freilich woanders. So verstand sich die buchhalterische Bilanz der Kommunikationsaktivitäten nicht nur als reine Statistik, die das europäische Publikum über den Verbleib von Spenden und Stiftungen in Kenntnis setzen sollte. Vielmehr kam es den beiden Geistlichen (und den Herausgebern ihrer Tagebücher) auch auf den psychologischen Effekt an. So sollte sich hier vor allem die Zusammengehörigkeit der pietistischen Gesinnungsgemeinschaft zeigen. Kommunikation als Moment transatlantischer Identitätsbildung – diese Einsicht sollte sich dem Publikum mitteilen. Frommer Kolonialismus Wie entwickelten sich die Wahrnehmungen in der jüngeren Generation des pietistischen Amerika-Netzwerks? Als Ausgangspunkt für entsprechende Sondierungen soll die Disputationsschrift von Johann August Urlsperger dienen. Sie fasst die Publizistik des älteren Urlsperger auf der Basis des bis 1747 Erschienenen systematisch zusammen. Dabei bezieht sie sich vor allem auf dessen Ausführliche Nachrichten.135 Im Vordergrund steht der Gedanke der rica, 22, 26f. 134 Vgl. Urlsperger, Nachrichten I/2 (Boltzius/Gronau, Tage-Register vom 1. Januar bis zum Ende des 1736sten Jahres), 739 (Bücher und Medikamente aus Halle), 750 (Überweisung von Spendengeldern aus Augsburg nach Eben-Ezer), 756 (Spenden aus Saalfeld), 783 (Transport einer Mühle von England nach Georgia). 135 Der Text stützt sich vorwiegend auf eine Auswertung der Tagebücher der beiden protestantischen Prediger Boltzius und Gronau sowie auf die Reiseberichte von Reck (vgl. Hecking/Urlsperger, De Praestantia Coloniae, Praefatio, [1v], Anm. *). Im Fließtext wird der Deutlichkeit halber nur Johann August Urlsperger (und nicht sein – ebenfalls daran beteiligter – Lehrer Johann Gottfried Hecking) als Autor angesprochen, obwohl

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Synthese, wobei das koloniale Gründungsgeschehen von Eben-Ezer mit einem landeskundlichen Interesse verbunden wird. Die Disputation diskutiert in 50 Paragrafen die Entstehung der pietistischen Siedlung, die Umstände der Salzburger Exulantentransporte, die naturräumlichen Bedingungen von Georgia, die landwirtschaftlichen Potenziale, aber auch die Merkmale von Fauna und Flora. Beachtung ſnden außerdem die urbanen Infrastrukturen in Georgia sowie die innere Organisation der Salzburger Kolonie. Hervorgehoben werden dabei die Aspekte der politischen und kirchlichen Verfassung. Ein eigener Abschnitt ist den wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten gewidmet. Ganz im Sinn merkantilistischer Theorien hebt Johann August Urlsperger hervor, dass die ökonomische Zukunft der Exulantengemeinde nur im Export von Wein und Tabak, aber auch in der Ausfuhr von Edelhölzern wie Zedern, Zypressen und Pinien liegen könne.136 Zugleich lehnt er das in den südlichen Kolonien vorherrschende Plantagensystem ab. Zwangsarbeit und Sklaverei seien keine guten Grundlagen für ein efſzientes und nachhaltiges Wirtschaften. Stattdessen bevorzugt er ein Modell, auf das auch die Gründerväter von Eben-Ezer setzten, nämlich auf den Vertrieb von landwirtschaftlichen und handwerklichen Produkten, wie sie im Rahmen kleiner, spezialisierter Familienbetriebe hergestellt werden konnten.137 Überhaupt liest sich das Werk des jüngeren Urlsperger über weite Strecken wie ein ideologisches Kondensat der Eben-Ezer-Schriften. Wissenschaftliche Beobachtung und pietistische Spiritualität gehen hier eine programmatische Verbindung ein. Der Autor verknüpft den frühliberalen Gedanken der Eigentümerökonomie virtuos mit den heilsgeschichtlichen Anmutungen der protestantischen Erweckungsbewegung. Dabei spielt das konfessionelle Deutungsmotiv wieder eine Schlüsselrolle. Einerseits versucht der Gelehrte das Kolonialprojekt in Eben-Ezer mit den zeitgenössischen katholischen Missionsunternehmen zu parallelisieren: Er bezeichnet etwa Georgia als „colonia ad gloriam Dei“138 – ein deutlicher Bezug auf das Ad maiorem Dei gloriam, das Motto der Societas Jesu. Andererseits wird der Gedanke des territorialen Asyls aufgegriffen. Die Neue Welt erscheint als sicherer Schutzraum für lutherische Glaubensƀüchtlinge, die in Europa „ob confessionem euangelicae religionis“ Verfolgung zu erleiden hatten. Auch der Rekurs auf sich bei frühneuzeitlichen Disputationsthesen die Urheberschaft nicht eindeutig zuordnen lässt (vgl. dazu Marti, Einleitung, 13-31). 136 Vgl. Hecking/Urlsperger, De Praestantia Coloniae, 9-11 (Auswandererzüge nach Georgia), 11-18 (Naturraum, Klima, Landwirtschaft), 22f. (Holz als Exportgut), 42f. (Städte), 47 (kirchliche Infrastruktur von Eben-Ezer). 137 Vgl. Hecking/Urlsperger, De Praestantia Coloniae, 44: „Sapientissimum igitur hoc fuit PRAEFECTORVM coloniae consilium, vt iteratis etiam precibus ab hominibus, qui id potius intuentur, quod sibi, quam quod vniuersis vtile sit, solicitati, mancipiorum tamen, in hanc coloniam introducendorum, copiam nemini fecerint, eique legi perpetuam vim atque auctoritatem esse sanciuerint.“ 138 Hecking/Urlsperger, De Praestantia Coloniae, 45.

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die in Eben-Ezer herrschende „disciplina Christiana“ darf nicht fehlen.139 Die Formulierung zielte auf den innerprotestantischen Diskurs ab, sahen sich doch gerade die Pietisten seitens der lutherischen Orthodoxie immer wieder mit dem Vorwurf der Sektiererei konfrontiert. Mit dem Verweis auf die gute Ordnung der kirchlichen Institutionen tritt Urlsperger diesem Vorwurf entgegen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass der Text auch die argumentative Wirkung biblischer Analogien bemüht. Unter Berufung auf das Buch Deuteronomium werden die Verhältnisse in der Neuen Welt mit jenen in Kanaan verglichen: Georgia sei das Land, in dem Milch und Honig ƀießen. Und so wie den Israeliten das Heil in Kanaan prophezeit worden sei, so könnten heute die Salzburger in Amerika auf den Überƀuss und die Gnade Gottes hoffen.140 Es ist also wieder das Bild von der göttlichen Berufung der Neuen Welt, das die Amerika-Wahrnehmung in heilsgeschichtliche Bahnen lenkt und ihr unverwechselbare religiöse Konturen verleiht. Indes wäre es falsch, die Arbeit des jüngeren Urlsperger bloß als blasse Wiederholung altbekannter pietistischer Interpretationsmuster zu deuten. Gegenüber der älteren Eben-Ezer-Generation verschoben sich die Akzente. Andere Akzentuierungen zeigen sich zunächst in den politischen Kontexten. Denn im Unterschied zum Vater verzichtet der Sohn auf die reichsgeschichtliche Einbettung des kolonialen Gründungsvorhabens: Vom reichsstädtischen Patronat für die Aussiedler ist hier nicht mehr die Rede. Ebenso wird der Beitrag der Briten mit demonstrativen Stillschweigen übergangen. Lediglich die Society for Promoting Christian Knowledge wird noch erwähnt.141 Um so markanter rückt dagegen eine andere politische Instanz in das Blickfeld, nämlich das Preußen Friedrich Wilhelms I. Der Anteil des brandenburgischen Kurfürsten und preußischen Königs an der Umsiedlungsaktion wird viel stärker herausgestellt als bei Samuel Urlsperger. Dabei denkt der Autor weniger an die Aufnahme der exilierten Salzburger in Preußen.142 Der jüngere Urlsperger spricht Kurbrandenburg vielmehr als Schutzmacht der amerikanischen Koloniegründung an. Nicht mehr die britische, sondern die preußische Krone erscheint so als Initiatorin des überseeischen Unternehmens.143 Dabei wird das nordamerikanische Kolonialprojekt mit der Entstehungsgeschichte des historischen Preußen und mit den Erschließungsvorgängen der mittelalterli139 Hecking/Urlsperger, De Praestantia Coloniae, 7, 50. 140 Vgl. Hecking/Urlsperger, De Praestantia Coloniae, 26, 52, nach Deuteronomium 8, 8-10, 28, 3-5 und 10-13. 141 Vgl. Hecking/Urlsperger, De Praestantia Coloniae, 42. 142 Vgl. dazu Walker, Salzburger Handel, 157-171. 143 Vgl. Hecking/Urlsperger, De Praestantia Coloniae, 1: „Nostris vero temporibus gloriosissimae memoriae FRIDERICVS WILHELMVS, Borussiae rex, Salisburgensium, e patria ob confessionem religionis euangelicae eiectorum, ingentem multitudinem in regni sui partes, tum temporis ab hominibus infrequentes, deducendam curauit: itaque in coloniam misit Salisburgenses. Georgia itidem anglicana, septentrionalis Americae regio, coloniae nomine venit.“

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chen Ostsiedlung in eine enge Verbindung gebracht: Ähnlich wie das moderne Georgia könne man auch das alte Preußen als Kolonialstaat betrachten. Und so wie sich das europäische Fürstentum aus bescheidenen kolonialen Anfängen zum „regnum“ emporgearbeitet habe, so habe auch die deutsche Exulantensiedlung jenseits des Atlantiks auf aussichtsreiche Zukunftsperspektiven zu hoffen.144 Es waren also borussische Sympathien, die das Denken des jüngeren Urlsperger bestimmten. Der Text traf eine Tonlage, die für das protestantische Bürgertum in den Reichstädten durchaus eine politische Option war – allemal dann, wenn es sich um pietistische Kreise handelte, die in der Hohenzollerndynastie einen Bündnispartner gegen ihre Widersacher vor allem aus dem orthodoxen Lager erkennen mochten.145 Für noch bedeutsamer wird man jedoch die konsequent kolonialgeschichtliche Deutung halten können. Urlsperger rekapituliert nicht nur einfach die Ereignisse der Koloniegründung, sondern ordnet sie in einen breiten Reƀexionshorizont ein. Wanderung und Siedlung sind essentielle Vorgänge der Menschheitsgeschichte. Die Salzburger Exulanten stehen am Ende einer langen historischen Kette, die ihren Ausgangspunkt in der Schöpfung genommen und seitdem den Erfahrungshaushalt der Menschheit entscheidend geformt hat. Interessanterweise beruft sich Urlsperger weniger auf das alttestamentarische Vorbild der Israeliten, des wandernden Gottesvolks, das nach dem Exodus aus Ägypten in Judäa seine alte Heimat wiedergefunden hat. Analog zur jüngeren Staatenhistorie von Nikolaus Hieronymus Gundling und Sigmund Jakob Baumgarten verweist er vielmehr auf die antiken Kolonialmächte der Griechen, Phönizier, Römer und Germanen.146 In der Neuzeit seien die Niederländer, Spanier, Portugiesen und Engländer an deren Stelle getreten, während die modernen Deutschen – wie Urlsperger nicht ohne Bedauern notiert – den Sinn für die Vorteile der Kolonialbildung verloren hätten.147 Denn für Urlsperger entspricht die Gründung von Kolonien einem Gebot höchster staatspolitischer Klugheit. Der junge Gelehrte erkennt deren Nutzen auf drei Feldern. 144 Vgl. Hecking/Urlsperger, De Praestantia Coloniae, 8: „Borussiam vel vt regnum, vel vt coloniam posse considerari […] ex historia probandum erit, Borussiam, cum primum fuerit ab hominibus culta, hoc consilio, ut sede sua ob religionem expulsos aliquando exciperet, coeptam fuisse coli.“ 145 Zu diesen Verbindungen vgl. Brecht, Francke, 498-502; Wilson, Salzbuger Diaries, 344. 146 Vgl. Hecking/Urlsperger, De Praestantia Coloniae, 2 (Anm. *, **). Urlsperger zitiert den 1733 erschienenen Discours über den itzigen Zustand der Europäischen Staaten von Gundling bzw. die von Baumgarten aus dem Englischen übersetzte Universal History from the Earliest Account of Time to the Present (Übersetzung der Allgemeinen Welthistorie, 1744-1758). Der jüngere Urlsperger promovierte später in Halle bei dem pietistischen Theologen Baumgarten. Zu Gundling vgl. H.-C. Kraus, Englische Verfassung, 369f. Zu Baumgarten vgl. Schloemann, Baumgarten, 21, 29-58, 279. 147 Vgl. Hecking/Urlsperger, De Praestantia Coloniae, 3.

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Erstens im Zusammenhang mit den demograſschen Entwicklungen: Auswanderung könne den Druck der Überbevölkerung abmildern und so der Gefahr von Hungersnöten im Mutterland vorbeugen. Urlsperger erinnert hier an die griechische Polis-Expansion in der Antike. Eine weitere verhängnisvolle Folge von hohen Bevölkerungskonzentrationen bestehe in der „discordia“ der Gesellschaft. Diese äußere sich in moralischen Fehltendenzen oder religiösen Spaltungen. In beiden Fällen biete die Erschließung neuer Siedlungsräume ein wirkungsvolles „remedium“ gegen Schädigungen des sozialen Zusammenhalts. Insbesondere konfessionellen Minderheiten verschaffe Auswanderung dauerhaften Frieden, während der Mutterstaat vor den Gefahren des Religionskriegs bewahrt werden könne.148 Es ist bemerkenswert, dass der Augsburger Gelehrte so sehr auf die räumliche Separierung von konfessionsverschiedenen Gruppen setzt. Indirekt rechtfertigt er damit die Ausweisung der Salzburger Protestanten. Im Kern plädiert er für das Modell des herrschaftlich und religiös geschlossenen Staats. Als Beleg für seine Theorie führt er die Quäker an, die in Pennsylvania eine neue Heimat gefunden und mit ihrem Auszug nach Amerika die innere Stabilität des englischen Mutterlands gesichert hätten.149 Kolonien hätten aber – das ist die zweite grundlegende These – auch massive wirtschaftliche Vorteile, obgleich der ökonomische Transfer nicht automatisch zu positiven Effekten führe. Urlsperger diskutiert die Dinge in kritischer Perspektive, wobei er freilich auf häuſg bemühte Argumentationsschablonen zurückgreift. Der spanische Kolonialismus war für den jungen Akademiker – wie für viele seiner Zeitgenossen – ein negatives Beispiel: Die massive Einfuhr von Gold und Silber hemme hier die Entfaltung einer produktiven Nationalökonomie; die starke Auswanderung verursache in Spanien eine Verödung weiter Regionen. Ein Gegenmodell ist Angloamerika. Denn die britischen Kolonien dienen in erster Linie der erfolgreichen Armutsbekämpfung: Indem die englischen Unterschichten kostenlos Land in Amerika erhielten, gewännen sie eine faire Erwerbsmöglichkeit. Ihre Beteiligung am Handel zwischen Kolonie und Mutterland führe insgesamt zu einer für alle Seiten proſtablen Wohlstandssteigerung.150 Die dritte Überlegung von Urlsperger spielt auf das geopolitische Problem an. Der Autor beschäftigt sich hierbei mit der Frage nach der strategischen Bedeutung von Kolonien in der globalisierten Welt. Um deren Stellenwert zu illustrieren, argumentiert Urlsperger zum einen mit dem zeitgeschichtlichen Augenschein: Kuba als militärische Basis des spanischen Atlan148 Zu den Zitaten Hecking/Urlsperger, De Praestantia Coloniae, 4f. 149 Hecking/Urlsperger, De Praestantia Coloniae, 5 (Anm. *). Bei der Bewertung der Verhältnisse in Pennsylvania bezog sich Urlsperger auf den englischen Historiker John Oldmixon, den er in der deutschen, von Theodor Arnold übersetzten Version (Das Brittische Reich in Amerika, 1744) zitierte. Zu Oldmixon Rogers, Life. 150 Hecking/Urlsperger, De Praestantia Coloniae, 6.

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tikhandels, Batavia als Stützpunkt der niederländischen Interessen in Asien – solche Beispiele zieht er heran. Zum anderen beruft er sich wieder auf die Autorität der antiken Erfahrungen, wobei er Reminiszenzen an die römische Vergangenheit Augsburgs einƀießen lässt: Erst die Besiedlung des ehemaligen Hauptorts der Räter und Vindelicer durch italische Kolonen unter Kaiser Augustus habe dauerhaft zur politischen und militärischen Stabilität des Römerreichs nördlich der Alpen beitragen können.151 Ventil für religiöse Minoritäten, wirksames Instrument gegen den Pauperismus und außenpolitischer Stabilitätsfaktor – diese drei Funktionen machen den Zweck von Kolonien aus. Zu fragen ist nun, welche Rolle Eben-Ezer in diesem Gesamtpanorama zukommt: Ist die pietistische Niederlassung dem gleichsam klassischen Erscheinungstypus der Kolonie zuzuordnen oder unterscheidet sie sich von den überlieferten Formen dieser Siedlungsweise? Um es sogleich vorwegzunehmen: Für Urlsperger bezeichnen die Vorgänge in Eben-Ezer etwas grundsätzlich Neues und Anderes. Mit dem Salzburger Exulantenprojekt ist ein eigenes Kapitel in der Kolonialgeschichte aufgeschlagen. Zwar kann der junge Historiograf auch hier traditionelle Motive erkennen. Religiöse und wirtschaftliche Emanzipationsmomente sind zweifellos gegeben: Die Übersiedlung nach Amerika verschaffe den süddeutschen Protestanten religiöse Freiheiten, die ihnen der europäische Konfessionsstaat verweigert habe. Auch das Argument verbesserter ökonomischer Perspektiven lässt er gelten: Natürlich fänden hier die Salzburger Entwicklungsmöglichkeiten vor, die ihnen die Alte Welt nicht bieten könne. Hingegen geht Urlsperger auf den dritten Punkt seiner Kolonialtheorie, den Verteidigungszweck als Gründungsmotiv, kaum ein: Sich die Salzburger Protestanten als Kolonen im römischen Sinne vorzustellen – vor diesem kühnen Gedanken schreckt er doch zurück. Gewiss spielten hierbei Publikumsstrategien eine Rolle. Die Aussicht auf militärische Pƀichten im Dienst der britischen Krone hätte für die Kolonisten, aber auch für weitere Auswanderungswillige aus Deutschland wenig Verlockendes gehabt. Zugleich zielte der jüngere Urlsperger aber auch auf Prinzipielles. Er versteht Eben-Ezer als betont antiimperiale Utopie. Der Ort in der Neuen Welt soll seinen Einwohnern primär Frieden und Wohlstand sichern. Er soll sich zu einem Hort der Zivilität entwickeln. Genau in dieser Wunschvorstellung liegt der Hauptgrund dafür, warum der jüngere Urlsperger das noch bei seinem Vater stark ausgeprägte anglophile Moment zurücktreten lässt. Unter allen Umständen möchte er den Eindruck vermeiden, dass 151 Vgl. Hecking/Urlsperger, De Praestantia Coloniae, 38: „Indicat hoc vel solum eius nomen, quod ab AVGVSTO Imperatore desumtum est, qui victis Rhaetiis Vindelicisque, & hac ipsa nostra vrbe capta, statim colonos hoc consilio in illam misit, vt eo difſlicius seruitutis iugum à ceruicibus excutere hae gentes possent. Nec nouissimorum desunt exempla temporum. Sic Cuba Hispanorum in America, Batauia Batauorum in Asia claustrum est: quod si enim bellum illis gentibus in his inferatur regionibus; haec castra ante omnia debent oppugnari.“

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es sich bei der Pietistensiedlung um eine gefügige Waffe der englischen Kolonialpolitik handelt. Vielmehr sei der Gedanke der sozialen Vorsorge, die Hilfe für die Armen und Entrechteten („salus pauperum“) für die Gründungsidee von Eben-Ezer charakteristisch. Minutiös führt die Dissertation daher die Sozialeinrichtungen an, die den Kolonieangehörigen zur Verfügung stehen: das Waisen- und Armenhaus, die kostenfreien Schulen und Armenkassen.152 Der speziſsche Charakter von Eben-Ezer zeigt sich für Urlsperger auch noch auf anderen Ebenen: Das Siedlungsunternehmen ist Teil der Völkerverständigung, nicht Ergebnis kriegerischer Auseinandersetzungen. Besonders deutlich wird diese These in den Bemerkungen zur Gründungsgeschichte von Eben-Ezer und zum Missionsauftrag formuliert: Historisch gesehen sei die Pietistenkolonie von jeder Schuld („culpa“) und allen Makeln („macula“) frei zu sprechen. Ohne Waffengewalt („sine armis“), Gewaltanwendung („sine vi“) oder Blutvergießen („sine vlla sanguinis profusione“) sei sie gegründet worden.153 Und um die besondere Friedfertigkeit der pietistischen AmerikaAmbitionen noch schärfer ins Licht zu rücken, listet Urlsperger die Gegenbeispiele auf. Wie bei einem dezidiert protestantischen Autor nicht anders zu erwarten, eröffnen die Spanier die Negativreihe. Deren Grausamkeit bei der Unterwerfung Amerikas hebt er hervor. Aufgenommen ist auch der Vorwurf des Indianer-Genozids. Wörtlich qualiſziert der junge Historiograf das Vorgehen der spanischen Konquistadoren als „Niedermetzeln“ („trucidatio“). Dagegen bewertet er die englische Haltung gegenüber den Indigenen deutlich zurückhaltender. Hier ist nur von „velitationes […] cum Indis“, also von Geplänkeln mit den Indianern, die Rede.154 Konsequent lehnt Urlsperger die Gewaltanwendung bei der Glaubensverbreitung ab: So dürfe das Christentum den Einheimischen nicht „vi coacti“ aufgezwungen, sondern lediglich als Angebot unterbreitet werden.155 Glaubensvermittlung könne nur über das gute Vorbild funktionieren. Erstaunlicherweise sind es hier nicht die Verhältnisse in Iberoamerika, an denen Urlsperger Anstoß nimmt. Sein kritisches Augenmerk richtet sich vielmehr auf die Situation in Neuengland. Mangelnde Sensibilität im Umgang mit den Indigenen sei die Ursache dafür, warum es dort bei den Indianervölkern nur 152 Vgl. Hecking/Urlsperger, De Praestantia Coloniae, 7: „Talem enim coloniam orphanotropheum, ptochotrophium, perpetuum pro pauperum salute aerarium licet nominare. Hanc igitur laudem solam sibi posse inter hodiernas colonias tribuere Georgiam.“ 153 Hecking/Urlsperger, De Praestantia Coloniae, 40. 154 Hecking/Urlsperger, De Praestantia Coloniae, 40. 155 Hecking/Urlsperger, De Praestantia Coloniae, 50: „Nec vi coacti, sed vltro supplices venere rogatum, vt christianae religionis instruerentur praeceptis.“ Zu diesem Gedanken auch eine andere Disputationsthese aus der Schule von Hecking: Ders./Köhler, RELIGIONEM VI ET ARMIS, 11f.: „Qui ab Hispanis vi adacti erant Iudaei, ut doctrinam coelestem proſterentur, alii se Christianos simularunt exterius: alii vero, tempori servientes, brevi ad ingenium, fraudes & mendacia redierunt. Nec melior fuit progressus propagati hac ratione in America Evangelii.“

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selten zu Konversionen komme. Und wieder verweist der Autor auf die historische Alternative in Georgia: Hier setze man – im Gegensatz zu den englischen Missionaren – auf stille Überzeugungsarbeit, um im Guten eine Glaubensänderung der Indianer, eine „mutatio ad puriorem Dei cultum“, zu bewirken.156 In der Augsburger Disputation wird das Ideal eines frommen Kolonialismus nicht nur textuell, sondern auch bildlich umgesetzt. Dieses multimediale Vorgehen war für die süddeutschen Pietisten keineswegs selbstverständlich. Zumindest das Werk des älteren Urlsperger ist ausgesprochen bilderarm (auch und gerade im Vergleich mit den Editionen der Jesuiten). Bei dem jüngeren Urlsperger liegen die Dinge anders. Hier übernehmen Bilder als Informationsträger und Deutungslieferanten eine wichtige Funktion. Die knapp 50 Druckseiten umfassende Disputationsthese enthält drei Kupferstiche: Bei der ersten Darstellung handelt es sich um einen Wiederabdruck aus den Ausführlichen Nachrichten. Das Blatt zeigt den Küstensaum von Georgia mit der Kolonialhauptstadt Savannah an der Mündung des gleichnamigen Flusses. Ferner sind weitere koloniale Stützpunkte und die Siedlungsgebiete verschiedener Indianernationen eingetragen. Die Karte aus der Ofſzin des Augsburger Verlegers Tobias Conrad Lotter gehört zu den frühesten Visualisierungen von Georgia.157 Auf dem zweiten Kupferstich sind die Mehl- und Sägemühlen von Eben-Ezer zu sehen. Der Künstler – es handelt sich hier wohl auch um Seutter – legte bei seiner Zeichnung besonderen Wert auf die technologischen Details der Anlage.158 Das dritte, ebenfalls auf Seutter zurückgehende Blatt zeigt einen Plan von Neu-Eben-Ezer, der 1736 entstandenen Nachfolgesiedlung von Alt-Eben-Ezer.159 Dieses Blatt ist mit Abstand das interessanteste, weil die Darstellung die Argumentationslinien des Textes in ein prägnantes Bildformat bringt. Die Ansicht von Neu-Eben-Ezer verdient daher nähere Beachtung (Abbildung 12). Konzeptionell folgt die Abbildung dem nach 1700 weit verbreiteten Typus der Grundriss-Blockdarstellung.160 Zu erkennen ist ein Feld, das in vier grau schrafſerte Quadranten eingeteilt ist. Die Teilsegmente sind ebenfalls gegliedert, einmal durch Straßen und Gassen, zum anderen durch Plätze. 156 Hecking/Urlsperger, De Praestantia Coloniae, 49. 157 Vgl. Hecking/Urlsperger, De Praestantia Coloniae, Karte von Georgia vor dem Titelblatt. Allgemein zu den Georgia-Darstellungen in der pietistischen Publizistik vgl. De Vorsey, Jr., Earliest Maps, 41f. 158 Vgl. Hecking/Urlsperger, De Praestantia Coloniae, Stich mit der Darstellung der Mühle von Neu-Eben-Ezer vor dem Titelblatt. 159 Vgl. Hecking/Urlsperger, De Praestantia Coloniae, vor 44 (Matthias Seutter, Plan Von Neu EBEN-EZER, Augsburg). Der Stadtplan wurde zeitgleich auch von Vater Urlsperger veröffentlicht (vgl. ders., Nachrichten III/13, vor 1). Zur Topograſe und Stadtgründungsgeschichte von Alt- und Neu-Eben-Ezer vgl. Winde, Einleitung, XXXVIII-XL. 160 Zu den Konzeptionen frühneuzeitlicher Stadtpläne vgl. Lexikon der Kartographie II, 772-775 (s.v. Stadtplan); Dainville, Langage, 216-230.

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Diese bilden die Grenzen für die einzelnen Baulose. Durch Buchstabensignaturen, die auf entsprechende Erläuterungen in der Bildlegende verweisen, kann der Betrachter die Funktionen der einzelnen Grundstücke aufschlüsseln. In der unteren, östlichen Bildhälfte – die Karte ist insgesamt nach Westen ausgerichtet – dominieren die Gebäude mit zentralörtlichen Funktionen. Hier liegen jene Institutionen, die den besonderen religiösen und zivilisatorischen Anspruch pietistischer Koloniebildung sichtbar machen können: das Kaufhaus („Store-Hauß“), das Pfarrhaus, die Kirche mit dem Schulgebäude und das Waisen- bzw. Witwenhaus. Bemerkenswerterweise sind in der Karte auch Bauzeilen für noch „komende [!] Vornehme u[nd] Reiche Leuthe“ markiert.161 Hier zeigen sich die sozialen Aspirationen der Kolonisatoren, die auf den Zuzug wohlhabender Klientel aus Europa hofften. So ergibt sich ein Bild harmonischer Verhältnisse. Neu-Eben-Ezer erfüllt im kartograſschen Befund alle Merkmale moderner Urbanität. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn man die Umgebung des städtischen Areals genauer betrachtet. Auch hier kam es dem Kartenautor offenbar darauf an, die zivilisatorischen Leistungen der Kolonisten, die Sicherheit und Funktionstüchtigkeit der Infrastrukturen, herauszustellen: Die Siedlung war umfriedet. Der aus Schindeln gefertigte Zaun sei so hoch, dass er „von ferne der Statt ein ansehen macht als wäre sie verpalisadiert“.162 In unmittelbarer Nähe befanden sich Viehweiden und Gärten. Die graſsche Symbolik betont dabei das rektanguläre Moment. Wie die Bauƀächen der Häuser sind auch die Gartenƀächen als Planquadrate ausgewiesen. Dem aufmerksamen Beobachter sollte deutlich werden, dass die Kolonisten in gesicherten Rechts- und Besitzverhältnissen lebten, der durch ein staatliches Kataster erfasst wurde und daher seinen Inhabern nicht willkürlich entzogen werden konnte. Der Stadtplan enthält aber noch weitere wichtige Informationen: Etwas außerhalb, aber von der Siedlung aus immer noch gut zu erreichen, liegen ausgedehnte Wälder, aus denen sich die Bewohner mit Brennholz bequem versorgen konnten. Im Süden der Stadt – in der linken Bildhälfte – sind überdies die „Plantationes“ zu erkennen. Am linken, oberen Kartenrand ist außerdem unter der Signatur „R“ die Mühlenanlage von Eben-Ezer eingezeichnet. Diese bildete neben der Seidenraupenzucht die Hauptquelle des Lebensunterhalts. An der südwestlichen Ecke ist der Friedhof zu sehen. Den Hygiene-Idealen aufklärerischer Stadtplanung entsprechend, lag er an der Peripherie der Siedlung. Die Botschaft an das europäische Publikum ſel eindeutig aus: In der Kolonie sei für jeden Wechselfall des Lebens vorgesorgt. Alles sei zweckmäßig eingerichtet. Wie ging der Kartenautor in dieser Darstellung mit dem Naturraum und der indigenen Welt um? Zuerst muss man festhalten, dass nur der Stadtgrund161 Hecking/Urlsperger, De Praestantia Coloniae, vor 44 (Matthias Seutter, Plan Von Neu EBEN-EZER, Augsburg). 162 Hecking/Urlsperger, De Praestantia Coloniae, vor 44 (Matthias Seutter, Plan Von Neu EBEN-EZER, Augsburg) (Legende).

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riss maßstabsgetreu wiedergegeben wurde. Das städtische Umfeld wurde dagegen wesentlich abstrakter erfasst. Ein Beispiel dafür sind die Distanzangaben. Während sich der Betrachter von den Größenordnungen der Stadt eine genaue Vorstellung machen kann (Längen- und Breitenmaße in Fuß), bleiben die übrigen Angaben unverbindlich. Zwar sind auch die Nachbarsiedlungen der pietistischen Kolonie, die ebenfalls von deutschsprachigen Siedlern gegründeten Orte Puryburg und Habercorn, abgebildet. Über die tatsächlichen Distanzen zwischen diesen Stützpunkten lässt der Plan den Betrachter jedoch im Unklaren. Lediglich in der Legende ſnden sich knappe Hinweise: Nach Puryburg (Signatur W) sei man „zwey Stunden“ unterwegs. Ähnlich lange müsse man nach Westen reisen, um nach Alt-Eben-Ezer zu gelangen. Die Tendenz zur Abstraktion ist auch bei den hydrograſschen Strukturen zu beobachten. Die Karte verzeichnet das Gewässersystem um Neu-Eben-Ezer, allerdings nur in stilisierter Form. Gezeigt werden der Savannah und der EbenEzer, daneben kleinere Wasserläufe wie der „Mühl Fluß“.163 Hier ging es um etwas Anderes als um Maßstabs- und Wirklichkeitstreue. Entscheidender war der infrastrukturelle Aspekt: Dass die pietistische Kolonie in ein dichtes Netz europäischer Siedlungen eingebaut ist, dass die relativ leichte Erreichbarkeit auf dem Wasserweg mit eigenem Ozeanzugang (über den Savannah) gegeben ist und dass die Siedlung über eine ausreichende Wasserzufuhr verfügt – solche Indikatoren sollten dem Leser in erster Linie vermittelt werden. In den visuellen Landschaften der Neuen Welt sollte er die vertrauten Merkmale der Alten wiederſnden können. Bewusst verzichten die Kartenautoren auf die topograſsche Lokalisierung von Indianersiedlungen. Sie hoben damit – wie übrigens die meisten kartograſschen Vergegenwärtigungen des 18. Jahrhunderts – die unfeste, gewissermaßen ortlose Siedlungsweise der indianischen Völker hervor. Gleichwohl hatten die Indigenen im pietistischen Kolonialkosmos ihren festen Platz. Sie lebten in einem Gebiet, das sich vom Flussufer des Eben-Ezer bis zum rechten Kartenrand hinzieht. In der Erläuterung zur Signatur Q erfährt der Leser, um welchen Raum es sich hier handelt, nämlich um das „[e]igenthumlich[e] Land einer kleinen Nation Indianer“.164 Der Fluss bezeichnet damit eine rechtliche und politische Grenze. Diesseits liegen die Gärten und Häuser der Siedler, jenseits davon die Lebens- und Wohnräume der Indigenen. Aus der Sicht des europäischen Rezipienten (und potenziellen AmerikaAuswanderers) waren damit zwei Probleme gelöst: Der künftige Grundbesitz war katastermäßig erfasst; außerdem bestand ein systematischer Schutz vor möglichen Überfällen aus der indianischen Nachbarschaft. In der Sprache der Karte deutet sich noch ein anderer Zusammenhang an. Die Wasserscheide des Eben-Ezer grenzte den pietistischen vom indianischen 163 Hecking/Urlsperger, De Praestantia Coloniae, vor 44. 164 Hecking/Urlsperger, De Praestantia Coloniae (Legende).

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Raum nicht nur juristisch ab. Sie bezeichnete auch eine Kulturscheide. In der Gegenüberstellung von strenger Ordnung und ungezähmter Natur wurde diese Grenzfunktion allegorisch umgesetzt. Es ist nämlich auffällig, dass der indianische Lebensraum (rechts des Eben-Ezer) durch einen dichten Wildwuchs von Bäumen und Büschen gekennzeichnet ist, während die auf der anderen Flussseite liegenden Gärten der Kolonisten (Signatur N) das geometrische Schachbrettmuster barocker Parkarchitektur aufnehmen. Inhaltlich spielt diese Symbolik auf den Gegensatz zwischen Zivilisiertem und Unzivilisiertem an. In der graſschen Formation der Baumgruppen – zum einen streng linear, zum anderen urwaldartig – spiegelt sich die Spannung zwischen kolonisatorischem und indigenem Prinzip wider. Welche Kernbotschaft soll die kartograſsche Darstellung vermitteln? Sicherlich spielten die bereits oben angedeuteten Faktoren eine wichtige Rolle: die religiöse Verheißung einer (lutherischen) societas perfecta, die Hoffnung auf Wohlstand und Wohlfahrt, nicht zuletzt der politisch-rechtliche Sicherheitsaspekt. Der Stadtplan bediente alle jene Assoziationsebenen, wie sie für das utopische Denken frühneuzeitlicher Prägung charakteristisch waren. So hat man es hier letztlich mit einem urbanen Idealentwurf zu tun, in dem die Allegorie des Himmlischen Jerusalem gewissermaßen empirische Gestalt (und eine städtebauliche Vorbildfunktion für Georgia) gewinnen konnte.165 Doch neben diesen allgemeinen Tendenzen spiegeln sich in der pietistischen Kartograſe auch noch andere Intentionen wider: Es ging darum, den Beitrag des deutschen Reformluthertums in Nordamerika herauszuarbeiten. Dem Publikum sollte verdeutlicht werden, dass das Siedlungsprojekt jeden Vergleich aushalten konnte. Diese Anmutung richtete sich weniger an die Katholiken; von der Stadtvedute durfte sich vielmehr die protestantische Öffentlichkeit angesprochen fühlen: Wie Renate Wilson zu Recht betont hat, handelte es sich bei den Einrichtungen von Eben-Ezer um eine „außereuropäische Replikation“ des Hallischen Vorbilds.166 Mit ihrer Gründung in Georgia wollten die Pietisten zeigen, dass sie dem quäkerischen Jerusalem, der Utopie von William Penn in Pennsylvania, ein gleichwertiges Pendant an die Seite zu stellen vermochten. Eben-Ezer als zweites, pietistisches Philadelphia in Georgia – unter diesem Motiv sind die Intentionen der Augsburger Disputationsschrift von 1747 zu sehen. Propagandakriege um Nordamerika Conrad Daniel Kleinknecht, der letzte hier vorzustellende Protagonist, führte den pietistischen Geschichtsdiskurs über die Neue Welt in zwei Richtungen 165 Vgl. Seibt, Utopica, hier speziell zu den reformatorischen Ausprägungen der JerusalemVision, 182-193. Konkret zu Eben-Ezer vgl. Reps, Town Planning, 277; Spalding, Oglethorpe in America, 20-22. 166 Wilson, Stadt auf dem Berge, 513.

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weiter. Einerseits erweiterte er noch einmal die konzeptionellen Grundlagen des reichsstädtisch-protestantischen Amerika-Bildes. Andererseits vermittelte er dem pietistischen Diskurs eine dezidiert politische Komponente, die ihn in heftige Kontroversen mit dem Ulmer Magistrat stürzen sollte. Die bereits bei den beiden Urlspergern zu beobachtende kolonial- und missionspolitische Überformung der Reich-Gottes-Idee wurde von Kleinknecht bis an die Grenzen des Denkbaren vorangetrieben. Der Ulmer Pfarrer gehörte nämlich zu den entschiedensten Propagatoren der lutherischen Weltmission. Man könnte von einer expansiv geweiteten Amerikakunde sprechen, die zugleich massive auswanderungspolitische Zwecke verfolgte. Denn Kleinknecht versuchte, die Idee einer weltweiten protestantischen Glaubensausbreitung mit Hilfe einer gezielten Auswanderungspropaganda praktisch durchzusetzen. Seine Zuverlässigen Nachrichten über die „Schaaf- und Lämmer-Heerde“ – gemeint sind die Christen in Übersee – haben daher einen stark agitatorischen Einschlag. Dabei hatte der Geistliche die Öffentlichkeit seines unmittelbaren Umfelds vor Augen: In seinem Werk wendet er sich immer wieder an die „Schwaben“. Er spricht sie als Förderer und Mäzene an, wie etwa Marx Anton Baldinger, einen ranghohen Ulmer Beamten, dem Kleinknecht die zweite Auflage seiner Nachricht widmete.167 Zugleich betont er mit Blick auf die oftmals bedrückende ökonomische Situation gerade unter den Kleinhandwerkern auf der Schwäbischen Alb die wirtschaftlichen Chancen, die mit einer Auswanderung nach Amerika verbunden seien.168 So verweist der Pfarrer auf das Beispiel seiner Leipheimer Pfarrkinder Johann Georg Kocher und Johannes Scheraus: Diese beiden Männer hätten sich mit ihren Familien einem Kolonistenzug nach Georgia angeschlossen. „Etliche vergnügte Briefe“ der beiden Auswanderer würden auf gute Lebensaussichten in der neuen Heimat schließen lassen. Kocher sei „alldort“ bereits zum Schulmeister avanciert. Doch nicht nur das: Neben ökonomischen und sozialen Fortschritten verhelfe die Überfahrt in die Neue Welt zu einem neuen „geistlichen Wachsthum“.169 Das intensive Werben des Geistlichen für Mission und Auswanderung stieß nicht nur auf Zustimmung. Im Gegenteil: Dieses Engagement verwickelte Kleinknecht in heftige Konƀikte mit der Obrigkeit. Der Ulmer Rat störte sich an dem Pfarrer. Zwar versagte die Stadtführung den über Ulm nach Nordwestdeutschland führenden Kolonistentransporten aus Salzburg nicht ihre Solidarität. Sie war aber keineswegs bereit, mit dem Durchzug der Exulanten eigene Untertanen an die Neue Welt zu verlieren. Der Rat beantwortete daher die 167 Vgl. Kleinknecht, Zuverlässige Nachricht (1749), Widmungsvorrede, [1r]-[6v]. 168 Vgl. dazu Grees, Rural Weaving, 284-287; Schremmer, Merkantilismus, 578-583; Wüst, Textillandschaften. 169 Kleinknecht, Zuverlässige Nachricht (1749), 221-224. Zur Auswandererbiograſe von Kocher vgl. Müller-Bahlke/Gröschl, Salzburg, Nr. 608, 488 (Gotthilf August Francke an Johann Georg Kocher, 1743 XI 16), Nr. 621, 496 (Kocher an Francke, 1744 VIII 14).

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Öffentlichkeitsarbeit von Kleinknecht mit einer gezielten Gegenpropaganda, die auf die Gefahren des Auswanderns und die ökonomische Existenzunsicherheit in Amerika aufmerksam machen sollte. Zugleich versuchte der Rat, die Öffentlichkeitswirkung des Geistlichen durch Zensurmaßnahmen zu beschneiden.170 Das Werk von Kleinknecht eröffnet deshalb nicht nur Einblicke in die weiteren Karrieren des Amerika-Denkens im pietistischen Milieu. Die Analyse dieses doch recht speziellen, zudem kaum bekannten Textcorpus bietet darüber hinaus singuläre Einsichten in die Vorgänge zeitgenössischer Wissenspopularisierung. Am Ulmer Zusammenhang lässt sich die beträchtliche politische Brisanz aufzeigen, die von der öffentlichen Behandlung des Amerika-Themas ausgehen konnte. Im Abgleich mit den reichsstädtischen Ratsprotokollen und der Ulmer Publizistik (Intelligenzblätter) lässt sich in sonst nur selten zu erreichender Tiefenschärfe der Propagandakampf um Amerika ausloten. Es ist sinnvoll, zunächst den Text näher zu analysieren. So handelt es sich bei der Zuverlässigen Nachricht von Kleinknecht um eine Kompilation von Textsegmenten, Zitaten und Paraphrasen. Diese wurden aus der Hallischen bzw. Augsburger Missionspublizistik übernommen. Kleinknecht zeichnet sich durch ein hohes Maß an wissenschaftlichem Verantwortungsbewusstsein aus. Denn ganz im Unterschied zur weit verbreiteten Praxis des „stillen“ Zitierens gibt er in ausführlichen bibliograſschen Exkursen die Herkunft seiner Informationen an. Sein Werk bietet einen Kommentar zu den seiten- und bandstarken Eben-Ezer-Schriften von Urlsperger, deren Gehalt er pointierend und resümierend zusammenfasst. Nicht ohne didaktisches Geschick kam Kleinknecht den Informationsbedürfnissen des gemeinen Mannes entgegen. Die Zuverlässige Nachricht kann so als weiteres Beispiel für die volksaufklärerischen Bestrebungen der Weltgeschichtsschreibung im 18. Jahrhundert gelten. Für den modernen Rezipienten haben diese wissensorganisatorischen Verfahrensweisen einen hohen methodischen Reiz. Rasch lassen sich die „ideologischen“ Grundtendenzen herausſltern: Auf welche Informationen über Amerika kam es Kleinknecht an? Was machte in seinen Augen die Essenz des Amerikanischen aus? Dabei sind bemerkenswerte inhaltliche Unterschiede zwischen der ersten und zweiten Auƀage der Zuverlässigen Nachricht festzustellen: In der 1738 erschienenen Ausgabe dominierte noch eindeutig das Interesse für die lutherische Asien-Mission (Coromandel). Amerika tritt erst in der zweiten Auƀage von 1749 stärker hervor. Mit dieser Wende reagierte Kleinknecht auf allgemeine Strömungen in der pietistischen Weltdeutung, die im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts durch eine markante Wahrnehmungsverschiebung zu 170 Vgl. Hacker, Auswanderer, 177-180; Wiegandt, Auswanderer, 94-98; Specker, Ulm, 741.

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Gunsten des amerikanischen Kontinents bestimmt war. Wenn man die entsprechenden Abschnitte über die Neue Welt in der ersten Auƀage näher betrachtet, dann fällt die Präferenz für zwei Themenkreise auf: Zum einen stehen die indigenen Phänomene im Vordergrund, zum anderen wird die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Koloniegründung der Pietisten in Georgia gelenkt. Bei der Beschreibung der Indigenen scheint es Kleinknecht vor allem um die moraldidaktischen Facetten gegangen zu sein. Für ihn waren die „Americanische[n] Indianer gar artig“. Bei ihnen könne man vieles ſnden, „das manche so genannte Christen beschämet“. In ihren einfachen, aber einsichtigen, weil auf dem Gedanken der kompensatorischen Gerechtigkeit („Wieder-Vergeltungs-Recht“) beruhenden Grundsätzen erwiesen sich die vermeintlich Primitiven als Repräsentanten einer systematischen Rechtskultur (einer „ordentliche[n] Gerechtigkeit“): Unnachsichtig bestraften sie die Laster, „zum Exempel den Ehebruch mit Nasen- und Ohren-Abschneiden, die Hurerey mit Ohren- und Haaren-Abschneiden“.171 Diese Idealisierungen waren für die Barbarenromantik des frühen 18. Jahrhunderts nicht untypisch. Bei Kleinknecht gewinnt der ethnograſsche Topos vom „edlen Wilden“ aber doch eine gewisse Originalität. So bettete der Pfarrer seine Bemerkungen in den interkontinentalen Vergleich ein. Der westöstliche Doppelblick auf Amerika und Asien eröffnete ihm komparatistische Perspektiven und so konnte Kleinknecht aufgrund seiner Lektürekenntnisse über Asien von den dortigen Ureinwohnern berichten, dass diese in Polygamie lebten, während die Creek in Georgia von dieser Praxis nichts wissen wollten.172 Und es ist klar, welchen Indianern die Sympathien des (pietistischen) Lesers in Europa zu gehören hatten: eben den Creek, nicht den asiatischen Indigenen. Nur die amerikanischen Indianer könnten den Christen ein Vorbild sein. Die Aufwertung des Amerikanischen (und gleichzeitige Abwertung des Asiatischen) stützte sich also ganz auf das ethnograſsche Raisonnement und die damit verknüpften heilsgeschichtlichen Hoffnungen: In Georgia lebten die Menschen in einem protochristlichen Zustand. Sie verfügten jedoch über ein den Christen vergleichbares Wertefundament und seien auf das Kommen des Evangeliums ausgerichtet: Die „Thür zur Bekehrung der Indianer“ sei schon „geöffnet“, wie Kleinknecht im Rekurs auf ein Zitat des englischen Gouverneurs Oglethorpe festhielt.173 Und den Salzburgern ſel in diesem weltgeschichtlichen Szenario – wie übrigens den ihrem Beispiel folgenden Schwaben – die Aufgabe zu, die Türe ganz aufzustoßen und damit zu Trägern der Evangelisierung zu werden. Auf das Ganze der pietistischen Publizistik gesehen, bringt dieser missionsgeschichtliche Ansatz sicherlich nichts grundlegend Neues. Im Vergleich zu Samuel Urlsperger ist aber die 171 Kleinknecht, Zuverlässige Nachricht (1738), 21f. 172 Vgl. Kleinknecht, Zuverlässige Nachricht (1738): „Von der Polygamie wissen sie [die Creek] […] nichts; wie hingegen die Asiatischen Indianer.“ 173 Kleinknecht, Zuverlässige Nachricht (1738), 21f.

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Vorzeichenumkehr bemerkenswert: Bei dem Augsburger Geistlichen stand die Idee des sicheren Glaubensexils für die deutschen Protestanten (Georgia als Georgion der Frommen) im Vordergrund; bei seinem Kollegen aus dem benachbarten Ulm verschoben sich Akzente von der Exulanten- zur Missionsgeschichte: In der Weitergabe der christlichen Botschaft an die Ureinwohner der Neuen Welt bestehe die Berufung der „Europäischen Christen, und Evangelisch-Lutherischen Teutschen, und sonderlich uns[erer] Schwaben“, wie Kleinknecht in der zweiten Auƀage seines Werks formuliert.174 Diese Neuakzentuierung zeigt sich noch schärfer, wenn man die Gegenprobe macht: Was hat Kleinknecht über die Kolonisten, die Einrichtungen und Geschichte von Eben-Ezer berichtet? Die Antwort fällt eindeutig aus: In der ersten Auƀage der Zuverlässigen Nachricht ſndet der Leser kaum Informationen über das Siedlungsprojekt. In der zweiten Fassung von 1749 erfährt man weniges über die Biograſen von Boltzius und Gronau. Die Ausführungen über die kolonialen Infrastrukturen fallen knapp aus.175 Nur die Paradiestopik ist breiter erfasst: Eben-Ezer sei ein neues „Eden“, in dem sich ein gutes geistliches und weltliches Auskommen ſnden lasse.176 Vor allem auf diesen letzten Punkt kam es Kleinknecht scheinbar an, sollten doch zukünftige Kolonisten ein positives Bild von den Lebenschancen in der Neuen Welt erhalten. So hebt der Autor etwa den massiven Mangel an geeigneten Handwerkern und Tagelöhnern in Georgia hervor: Es gebe genügend Arbeit und zahlreiche Verdienstmöglichkeiten, allein an geeigneten Menschen scheine es zu fehlen – so rückt Kleinknecht die Verhältnisse auf dem zeitgenössischen amerikanischen Arbeitsmarkt in ein idyllisches, für seine unterbürgerliche Leserschaft geradezu verheißungsvolles Licht.177 Markant ist in der Ausgabe von 1749 jedoch die konfessionelle Dimension ausgearbeitet, was sich indes mit der dezidiert missionsgeschichtlichen Grundkonzeption der Zuverlässigen Nachricht gut verträgt. Amerika soll und muss eine Bastion der Evangelischen werden – diese konfessionspolitischen Avancen durchziehen den Text wie ein Leitfaden. Detailliert berichtet Kleinknecht über die Vernetzungen der deutsch-lutherischen Geistlichen an der Ostküste. Etwa wird die Biograſe von Mühlenberg breit referiert. Philadelphia ist in den Augen des Ulmer Geistlichen ein positives Beispiel dafür, wie aus ökonomischer Handlungsfreiheit zivilisatorischer Fortschritt entstehen könne.178 Auf Missbilligung stößt freilich das quäkerische Prinzip der schrankenlosen Glaubensfreiheit: Sie begünstige das Entstehen von „Secten, von 174 Kleinknecht, Zuverlässige Nachricht (1749), 239. 175 Vgl. Kleinknecht, Zuverlässige Nachricht (1738), 215-219 (organisatorische Grundlagen der Kolonie), 226 (über die beiden Prediger Boltzius und Gronau), 229 (Förderung von Eben-Ezer durch deutsche und englische Stifter). 176 Kleinknecht, Zuverlässige Nachricht (1738), 215f. 177 Vgl. Kleinknecht, Zuverlässige Nachricht (1738), 216. 178 Vgl. Kleinknecht, Zuverlässige Nachricht (1749), 232.

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denen wir GOtt Lob! in unsern Landen nicht einmal die Namen kenne[n]“. Die weit verbreitete religiöse Schwärmerei in Pennsylvania sei ein Beleg dafür, welche umfassenden Missionsanstrengungen durch den Protestantismus in der Neuen Welt zu leisten seien, oder wie Kleinknecht schreibt: „welch Arbeit ein Evangelisch-Lutherischer Prediger auch in diesen Plantationen habe“179. Ganz im Gegensatz zu dem religiös vorsichtig taktierenden, eher irenisch gesonnenen Samuel Urlsperger, vertritt der Ulmer Pfarrer also einen radikalen Konfessionalismus. So wendet er sich entschieden gegen die Vorstellung, dass Juden und Katholiken in Britisch-Amerika aufgenommen werden könnten: Für Israeliten und „Werkheilige“ solle es hier keinen Platz geben.180 Vielmehr: Als Raum des Protestantischen und Deutschen, oder noch genauer: des Lutherischen und Schwäbischen – so stellte sich der reichsstädtische Geistliche die Neue Welt vor. Wie reagierte nun der Staat auf diese propagandistischen Inszenierungen von der neuen, anderen, besseren Welt in Übersee? Die Auseinandersetzung zwischen Kleinknecht und dem Ulmer Rat war letztlich ein Konƀikt um konträre Amerika-Bilder. In deren Mittelpunkt stand die Frage nach der richtigen Deutung der Neuen Welt. In dem Maße, in dem Amerika als positive Alternative zu den europäischen Lebensverhältnissen gedeutet werden konnte, musste das Thema zu einer Herausforderung für die staatlichen Autoritäten werden. Als Auswanderer-Paradies wurde Amerika zu einer Bedrohung. Die seit den 1750er Jahren vor allem in Südwestdeutschland greifbare Abwanderungsbewegung war ein Menetekel. Diese Abstimmung mit den Füßen schien insbesondere die Lebensfähigkeit der Reichsstädte nachhaltig zu schwächen.181 So zeigt sich am Ulmer Beispiel die Ambivalenz der reichsstädtischen Rezeption: Während die dortigen Pietisten die neuen Spielräume lutherischer Globalexpansion enthusiastisch begrüßten, sahen die kommunalen Führungsschichten diese Entwicklung mit Sorge: Amerika als Bedrohung und Auswanderung als Weg in das sichere Unglück – mit solchen Argumenten versuchten sie der Anziehungskraft der Neuen Welt entgegenzuwirken. Die Ursprünge der Ulmer Amerika-Debatte lagen im Frühsommer 1752. Auslöser war eine Anfrage von Kleinknecht an den Rat, ob er im reichsstädtischen Territorium Emigrationswillige für die Kolonie in Eben-Ezer werben dürfe.182 Die Ratsprotokolle zeichnen die städtischen Reaktionen detailliert nach: Die Ratsmitglieder führten zunächst noch keinen Entschluss herbei, sondern leiteten die Anfrage des Geistlichen an das städtische Herrschaftspƀegamt weiter. Das erbetene Gutachten ſel negativ aus. Denn später hält das 179 Kleinknecht, Zuverlässige Nachricht (1749), 233. 180 Kleinknecht, Zuverlässige Nachricht (1749), 240. 181 Vgl. Brinck, Auswanderungswelle, 153-184. Speziell zu den Verhältnissen im Südwesten vgl. Hippel, Südwestdeutschland, 94-112. 182 Vgl. StA U Reichsstadt Ulm A 3530 (Ratsprotokoll: 1752 V 29), 578v. Vgl. dazu Wiegandt, Auswanderer, 100.

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Teil 4: Historiograſsche Amerika-Deutungen

Protokoll fest, dass man „in Conformität“ mit dem „von dem löbl[ichen] Herrschaftspƀegamt erstatteten wohlvernünftigen Gutachten“ dem „gedachten H[errn] Pfarrer [also Kleinknecht, RB] dieses Vorhaben dissuadiren“ möchte.183 In schroffen Worten wies der Ulmer Rat Kleinknecht auf seine Amtspƀichten als Pfarrer hin, die sich mit politischen Angelegenheiten wie dem kolonialen Gründungsunternehmen in Georgia kaum vertrügen. Die Entscheidung darüber ſele nicht in das kirchliche, sondern in das staatliche Ressort.184 Doch beschränkte man sich nicht auf das faktische Werbeverbot. Der Rat leitete Gegenmaßnahmen ein. Zunächst verfügten die reichsstädtischen Behörden, dass sämtliche Briefe, die zuverlässig Auskunft „deß Unterkommens der in die Neue Welt reisenden leuthen“, also über die Schicksale von Ulmer Auswanderern in Amerika geben könnten, durch reichsstädtische Amtsträger und Geistliche den „Unterthanen auf dem land“ zur Kenntnis gebracht werden sollten.185 Die Befürchtungen vor einer Zunahme der Auswandererpropaganda waren durchaus berechtigt. Denn nur wenige Monate nach den Vorfällen um Kleinknecht trat in Langenau, einer zum Ulmer Untertanengebiet gehörenden Gemeinde, der aus Württemberg stammende Emissär Gottfried Jakob Müller auf. Der im englischen Auftrag arbeitende Kolonialorganisator rekrutierte mit Erfolg unter den von wirtschaftlichen Existenzängsten geplagten Weberfamilien Auswanderungswillige für eine Siedlung in South Carolina. Die Obrigkeit reagierte mit großer Härte: Im April 1753 wurde Müller festgenommen und nach fünfwöchiger Untersuchungshaft wegen versuchten Menschenraubs aus der Reichsstadt ausgewiesen.186 Um die Emigrationseuphorie der Unterschichten zu dämpfen, lancierte die Verwaltung im örtlichen Intelligenzblatt, dem von Johann Conrad Wohler herausgegebenen Ulmischen Anzeigs-Zettel, eine Pressekampagne gegen das Auswandern. Im Februar 1754 veröffentlichte Wohler drei Briefe der Brüder Bartholomäus und Martin Botzenhardt.187 Beide waren im Vorjahr nach Georgia ausgewandert.188 Pikanterweise handelte es sich bei den Brüdern um zwei 183 StA U Reichsstadt Ulm A 3530 (Ratsprotokoll: 1752 VI 23), 598v-599r. 184 Vgl. StA U Reichsstadt Ulm A 3530 (Ratsprotokoll: 1752 VI 23), 599r: Der Rat habe es „für gut angesehen“, Kleinknecht „[…] rescribiren zu lassen, daß man dieses vorhabendes Geschäfft von solcher Eigenschafft beſnde, und ansehe, daß es sich eher für einen Politicum als Theologum schicke, man daher auch halte, es werde bey seinem geistlichen Amt so viele Verrichtungen haben, daß es besser für ihn seyn würde, in dergleichen fremde Dinge sich gar nicht zu meliren.“ 185 StA U Reichsstadt Ulm A 3530 (Ratsprotokoll: 1752 VII 19), 759v-760r. 186 Vgl. Wiegandt, Auswanderer, 100. 187 Vgl. Ulmischer Anzeigs-Zettel, Ausgabe 1754 II 7, Nr. 69 (Bartholomäus Botzenhardt an Johann Conrad Krafft, 1753 VI 3; ders. „an dessen Befreundte“), Ausgabe 1754 II 14, Nr. 70 (Martin Botzenhardt „an dessen Mutter und Geschwistere“, 1753 VI 3), Ausgabe 1754 II 21, Nr. 71 (ders. „an dessen Mutter und Geschwistere“, 1753 VI 3, Fortsetzung). 188 Vgl. Hacker, Auswanderer, 200, Nr. 89; Brinck, Auswanderungswelle, 255.

Kapitel 15: Schwäbische Pietisten

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Weber aus Langenau, also jener Ulmer Landgemeinde, deren Bürger sich 1753 als besonders anfällig für die Verlockungen des amerikanischen Traums erwiesen hatten. Die drei Texte intonieren das Motiv der enttäuschten Hoffnung. Sie sollten – wie es im Zeitungskommentar heißt – „zum Nachdencken dererjenigen“ anregen, „welche in Hoffnung sich glücklich zu machen, aus ihrem Vatterland hinweg- und ebenfalls dahin [nach Amerika, RB] zu ziehen, Lust haben möchten“189. Wie sehr es der Obrigkeit darauf ankam, ein Bild der Desillusionierung zu erzeugen, wird an den Zensureingriffen des Rats deutlich. In den Ratsakten hat sich nämlich noch ein älterer Probedruck der Auswandererkorrespondenz erhalten. Der Vergleich zwischen dieser früheren und der im reichsstädtischen Intelligenzblatt publizierten Fassung zeigt markante inhaltliche Abweichungen: Der erste Druckabzug enthält neben den Botzenhardt’schen Briefen mit ihrer programmatisch negativen Tendenz auch ein verhalten optimistisches Schreiben aus Neuengland. Dieser Text fehlt jedoch im Anzeigs-Zettel von Wohler. Mit hoher Sicherheit ist davon auszugehen, dass der Verleger den positiver gestimmten Brief aus Neuengland auf Verlangen des Rats zurückgezogen hat.190 An welchen Punkten entzündete sich die Amerika-Kritik der Brüder Botzenhardt? Einerseits waren es die Erfahrungen von Hunger und Krankheit, die Amerika in ein schlechtes Licht rückten. Bartholomäus Botzenhardt beklagt etwa die schwere Fiebererkrankung seiner Frau; auch erwähnt er die schlechten Ernährungsbedingungen. Noch schwerer aber wiegt ein anderer Umstand, nämlich der Vorwurf, um das Versprechen von Wohlfahrt und Freiheit gebracht worden zu sein. Die in den Briefen verwendete Rhetorik ist so rafſniert eingestellt, dass man auch hier eine nachträgliche redaktionelle Überarbeitung der Originaldokumente seitens des Rats oder Verlegers vermuten muss. Die Empörung der beiden nach Georgia ausgewanderten Brüder richtete sich nämlich gegen das Modell von Eben-Ezer. Sie entlarvten die idealistischen Verheißungen der pietistischen Amerikaliteratur als leeren Mythos: Die den Siedlern zugewiesenen Landlose seien soweit von jeder menschlichen Behausung entfernt, dass man ein erträgliches Leben kaum führen könne. „Es ist kein Kirch, und kein Schul, und kein Mühlen“ – so stellte sich für Bartholomäus Botzenhardt die bittere Realität von Georgia dar.191 Und sein Bruder Martin hat diese Negativbilanz noch um weitere anschauliche Beispiele ergänzt: Wegen des heißen Klimas schimmele sofort das Brot. Bis zum nächsten Metzger müsse man über 40 Meilen laufen. Im Wasser wimmele es von Krokodilen, an Land von Schlangen. Und wem nutze es, wenn die Flüsse 189 Ulmischer Anzeigs-Zettel, Ausgabe 1754 II 7, Nr. 69. 190 Zu diesem nicht veröffentlichten Schreiben („Auszug eines aus Plaisant-Point in NeuEngelland […] nach Teutschland abgelassenen Schreibens“, 1754 I 22) vgl. StA U Reichsstadt Ulm A 3890 (Ratsprotokoll). Vgl. dazu auch Hacker, Auswanderer, 200. 191 Ulmischer Anzeigs-Zettel, Ausgabe 1754 II 7, Nr. 69 (Bartholomäus Botzenhardt „an dessen Befreundte“).

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Teil 4: Historiograſsche Amerika-Deutungen

voller Fische seien, den Kolonisten aber vor lauter Armut die Anglerboote fehlten, um wenigstens hier ein bescheidenes Auskommen zu ſnden?192 Noch entscheidender als diese Klage über die materiellen Unzulänglichkeiten in Amerika ist aber der radikale Bruch mit der heilsgeschichtlichen Konzeption der Neuen Welt. Wirkungsvoll inszeniert der Korrespondent den fundamentalen Widerspruch zwischen religiöser Erwartung und empirischem Befund. Im Licht der persönlichen Erfahrung erscheine Georgia als „ein wildes, wüstes Land“. Während sich für die Pietisten in diesem Charakter der Ursprünglichkeit der biblische Schöpfungszustand widerspiegelt, kann der Auswanderer nur den brutalen Zivilisationsabsturz konstatieren: Man sei „vom Christenthum ins Heydenthum gezogen“. Ein Jeder lebe in dieser „Wildnis“ für sich selbst. Von der Kirche sei in den undurchdringlichen Wäldern von Georgia weit und breit nichts zu sehen: „Ich hab im gantzen Land noch keinen Lutherischen Prediger angetroffen“ – so lautet das desillusionierte Resümee von Martin Botzenhardt.193 Die Beobachtungen der beiden Ulmer Kolonisten – didaktisch geschickt in die einfachen Worte des aufrechten, aber betrogenen Landmanns gekleidet – münden in eine grundsätzliche Warnung vor den Gefahren des Auswanderns ein: „[K]einem Menschen“ sei zu raten, „in dieses Elend“ zu gehen. Das „Vatterland“ sei Amerika allemal vorzuziehen.194 Bei Bartholomäus Botzenhardt gewinnt diese Überlegung sogar eine dezidiert patriotische Färbung: „[E]s ist kein Land über Teutschland“195. Die Mahnungen der beiden Weber verbinden sich mit einem dringlichen Appell an die Daheimgebliebenen, die Vorhaltungen der reichsstädtischen Obrigkeiten Ernst zu nehmen: Mit ihren Warnungen vor dem Verlassen des Landes hätten die Behörden doch nur Recht gehabt. Hingegen sei den gefährlichen Verlockungen der proamerikanischen Agitation nicht zu trauen: „[H]ätte man uns keine Anleitung darzu [zum Auswandern, RB] gegeben, so wäre keiner in dem Elend“196. Die Ulmer Zeitungstexte bieten einen Gegendiskurs an. Hier verdichtete sich die Kritik an den Projektionen der süddeutschen Pietisten: Gegen das Versprechen ökonomischer Vorteile setzten die Korrespondenzen die Gefahr des wirtschaftlichen und sozialen Scheiterns. Die heilsgeschichtliche Aufwertung der Neuen Welt konterten sie mit dem Hinweis auf den Identitätsverlust. 192 Vgl. Ulmischer Anzeigs-Zettel, Ausgabe 1754 II 14, Nr. 70 (Martin Botzenhardt „an dessen Mutter und Geschwistere“, 1753 VI 3). 193 Alle Zitate Ulmischer Anzeigs-Zettel, Ausgabe 1754 II 14, Nr. 70 (Martin Botzenhardt „an dessen Mutter und Geschwistere“, 1753 VI 3). 194 Ulmischer Anzeigs-Zettel, Ausgabe 1754 II 21, Nr. 71 (Martin Botzenhardt „an dessen Mutter und Geschwistere“, 1753 VI 3, Fortsetzung). 195 Ulmischer Anzeigs-Zettel, Ausgabe 1754 II 7, Nr. 69 (Bartholomäus Botzenhardt „an dessen Befreundte“). 196 Ulmischer Anzeigs-Zettel, Ausgabe 1754 II 7, Nr. 69 (Bartholomäus Botzenhardt an Johann Conrad Krafft, 1753 VI 3).

Kapitel 16: Nürnberger Historiografen

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Am Fall der Ulmer Diskussion zeigt sich noch einmal eindrucksvoll, wie tief speziſsche Interessen die Wahrnehmung der transatlantischen Phänomene zu beeinƀussen vermochten oder umgekehrt: von welchen Außenfaktoren der Amerika-Diskurs des 18. Jahrhunderts abhängig sein konnte. In der schwäbischen Reichsstadt bestimmte die kommunale Obrigkeit maßgeblich die Deutung des vierten Kontinents: Die antipietistische, von politischen Erwägungen um das Gemeinwohl der Untertanen geprägte Position der Stadtväter übersetzte sich in eine antiamerikanische Propaganda.197 KAPITEL 16: NÜRNBERGER HISTORIOGRAFEN Reichsgeschichte Wie die migrationsgeschichtlich inspirierte Amerika-Rezeption der Pietisten hatte auch deren Gegenstück, die traditionell reichshistorisch orientierte Deutungsperspektive, ihre institutionelle Basis in der reichsstädtischen Gelehrtenkommunikation des 18. Jahrhunderts. Dabei rückte eine Stadt in den Vordergrund, die schon für die geograſsche Wissensdiffusion über die Neue Welt eine herausragende Rolle gespielt hatte: die Metropole Nürnberg mit ihrem weiteren fränkisch-mitteldeutschen Einzugsgebiet, so vor allem mit Altdorf und Coburg. Als Initiatoren reichsgeschichtlich angelegter, amerikakundlich auftretender Universalhistoriograſe tauchen hier Namen auf, die bereits in geograſschem Zusammenhang gefallen sind: die Altdorfer Professoren Johann David Köhler und Wolfgang Jäger. Köhler wandte sich in seinen beiden historischen Werken Sculptura Historiarum et Temporum (1726) und Gedenckwürdigkeiten des ietzt lauffenden achtzehenden Jahrhunderts (1739) dem amerikanischen Thema zu.198 Jäger brachte zusammen mit dem Coburger Gelehrten Theodor Berger eine stark auf das überseeische Geschehen reagierende Synchronistische Universal-Historie heraus. Als ebenfalls repräsentativ einzustufen ist der Neu-eröffnete historische Bilder-Saal von Andreas Lazarus Imhof. Das umfassende Werk des pfalz-sulzbachischen Rats erschien zwischen 1692 und 1782 als fortlaufende Weltgeschichte in 17 Bänden. Nach dem Tod von Imhof (1704) wurde es von verschiedenen Autoren fortgesetzt, die meist dem Nürnberger oder Altdorfer Intellektuellenmilieu nahestanden. Der Bilder-Saal kann als organisatorische Glanzleistung des reichsstädtischen Gelehrtenbetriebs im 18. Jahrhundert gelten. Seine Ausstrahlung reichte weit über den deutschsprachigen Kosmos hinaus. Auch in französischen und itali197 Zum Antiamerikanismus im 18. Jahrhundert vgl. Moltmann, Anti-Americanism, 16-18. 198 Zu Köhler als Reichshistoriker vgl. Hammerstein, Jus, 352-356; A. Kraus, Vernunft und Geschichte, 180, 353f. Dagegen fehlt eine Darstellung zu den universalhistorischen Ansätzen des Gelehrten.

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Teil 4: Historiograſsche Amerika-Deutungen

enischen Ausgaben erreichte die Universalchronik ein breites europäisches Publikum.199 Die vier genannten Publikationen sollen als Exponenten des reichsstädtisch-fränkischen Geschichtsdiskurses über die Neue Welt im Blickpunkt stehen. In einer weiteren Variation können sie Antworten auf die Grundprobleme dieser Studie liefern, nämlich einerseits auf die Frage nach den historiograſschen Verortungsmöglichkeiten des (nord-)amerikanischen Phänomens, andererseits nach den Hintergründen solcher Wahrnehmungs-, Deutungs- und Erfassungsversuche. Bereits aufgrund ihrer Machart müssen sich die Nürnberger Universalchroniken für entsprechende Überlegungen eignen. Anders als in den einschlägigen jesuitischen und pietistischen Publikationsunternehmen kam es hier weniger auf dokumentarische Evidenz, das heißt auf das editorische Aufbereiten und Zugänglichmachen von Nachrichten aus dritter Hand, an. Vielmehr ging es um die Interpretation des aus den Editionen gewonnenen Wissens bzw. um dessen Platz im Verständnis der „ganzen“ Geschichte. Die Nürnberger Historiografen zielten darauf ab, den Ereignisfortschritt innerhalb der weltgeschichtlichen Entwicklung mit den Mitteln der Chronologie zu ordnen und damit durchschaubar zu machen. Fast alle hier betrachteten Werke verstehen sich als periodische Schriften, mit denen versucht wurde, dem Moment des zeitlichen Voranschreitens gerecht zu werden, indem sie als Fortsetzungswerke konzipiert wurden. Bevor im Folgenden die Orte des Amerikanischen innerhalb dieser speziſschen Textformationen näher untersucht werden sollen, sei noch ein Überblick auf die Grundanlage der einzelnen Werke vorangestellt. Die Beobachtungen betreffen Epochenbegriff, Intention und Konzeption. Zunächst zum Epochenbegriff: Der Bilder-Saal beschreibt die Geschichte von der Genesis bis an die Schwelle um 1700 in so genannten „periodi“, wobei die Amtszeiten des römischen Kaisertums die maßgebliche Gliederungskategorie bilden. Man hat es also wieder mit der Lehre von den vier Weltreichen zu tun: Das römische Weltreich ist in seiner germanisch-fränkischen Ausprägung das Endreich. Innerhalb dieses Ordnungsrahmens müssen alle Vorgänge des Geschichtlichen ihren zeitlichen und räumlichen Standort ſn199 Zusammenfassend vgl. Van Kley, Discovery, 361; Benz, Modelle, 144. Folgende Autoren lassen sich als Mitarbeiter des Bilder-Saals identiſzieren: die Altdorfer Historiker Eucharius Gottlieb Rinck (Bd. VI) und Georg Andreas Will (Bd. XIV), ferner die in Nürnberg und Altdorf lehrenden Theologen Johann Jacob Hartmann (Bde. VII, VIII), Joachim Negelein (Bde. VIII, IX), Konrad Schönleben (Bd. X), Peter M. Roeder, Georg Philipp Schunter (beide Bd. XI), Christian Gottlieb Richter (Bde. XII, XIII, XV) und Johannes Dreykorn (Bd. XVI). Vgl. dazu Struve/Buder/Meusel, Bibliotheca Historica, 110; Will, Gelehrten-Lexikon II, 41-43, III, 12-19; speziell zu Will vgl. Seiderer, Repräsentant; zu dessen Mitherausgebern (Dreykorn, Hartmann, Richter, Schunter) vgl. Brennecke/Niefanger/Schnabel, Altdorf (Register). Zu den französischen und italienischen Ausgaben des Bilder-Saals vgl. Imhoff, Handelsherren, 37; ferner ADB 14 (1881) 4244 (s.v. Andreas Lazarus Imhof).

Kapitel 16: Nürnberger Historiografen

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den.200 Allerdings lässt sich über das Gesamtwerk hinweg dann doch ein Wandel im Epochenbewusstsein beobachten. Vor allem die das Geschehen ab der Mitte des 16. Jahrhunderts behandelnden Abschnitte sind deutlich enger gefasst. Die Berichtsintervalle erstrecken sich auf Zeiträume von vier bis neun Jahre und lassen damit Raum für Detailbeschreibungen, insbesondere im Hinblick auf die Geschichte der neueren und neuesten Zeit.201 Ähnlich angelegt sind die Gedenckwürdigkeiten des ietzt lauffenden achtzehenden Jahrhunderts von Köhler bzw. Weigel. Auch hier wird die Geschichte in Perioden präsentiert, dabei ebenfalls die „neueste Historie“ – in jeweils 20 Jahre umfassenden Blöcken – hervorgehoben.202 In besonderer Weise betont die Universal-Historie von Berger und Jäger das Problem der „Veränderungen“ in der Geschichte. Beide Autoren ordnen daher das Ereigniskontinuum nicht mehr in reiner Chronologie, sondern nach einzelnen Ländern in synoptisch nebeneinander gestellten Spalten an. Wie bei den anderen Werken bleibt auch hier der Vorrang der Reichsgeschichte gewahrt. Das Reich nimmt innerhalb der tabellarisch aufgebauten Staatengeschichte immer die erste Kolonne ein.203 Zu den intentionalen Aspekten: Alle drei Werke stellen sich in den Dienst der Wissenspopularisierung. Die Nürnberger Historiograſe sieht ihre Hauptaufgabe darin, die Erkenntniszuwächse der europäischen wie überseeischen Geschichte zugänglich zu machen.204 Aus dieser didaktischen Zweckbindung erklärt sich die Vorliebe für visuelle Vergegenwärtigungsformen. Die Nürnberger Welthistorie nutzt ausgiebig Bildelemente und tabellarische Präsentationsweisen: Der Bilder-Saal versteht sich programmatisch als bildliche Inszenierung von geschichtlichen Abläufen. Das Periodikum ist aufwendig illustriert. Dabei erfüllen die Kupferstiche zwei unterschiedliche Funktionen. Sie dienen zum einen der Illustration des Ereignisberichts und erweitern damit das textuelle Wissensangebot durch bildliche Informationsträger (etwa durch Ansichten von Orten oder historischen Schlüsselereignissen). Zum anderen übernehmen sie kommentierende Funktionen: In emblematischen Darstellungen (vor allem in den Titelvignetten) vermitteln sie historiograſsche Wertungen. Bei Köhler hingegen ist der Bildereinsatz stärker an mnemotechnische Erwartungen geknüpft. Das Bild soll als anschaulicher locus die Auf200 Imhof gliedert die ersten Bände des Bilder-Saals folgendermaßen: Bd. I (Genesis bis Geburt Jesu Christi), II (Geburt Jesu Christi bis zur „Translationem Imperii in Carolum Magnum“), III (Karl der Große bis Ludwig der Bayer), IV (Kaiser Karl IV. bis Leopold I.), V (ab Leopold I.). 201 Zur Gliederung der Berichtszeiträume ab 1700 siehe Tabelle 5. 202 Freilich blieb das Werk ein Torso. Nur der erste Teilband (Zeitraum 1701 bis 1720) wurde gedruckt (vgl. dazu Reill, German Enlightenment, 78). 203 Zum Zitat Berger, Universal-Historie (1755), Vorrede, [4r]. Die Chronik wurde zwischen 1729 und 1781 fünfmal mit jeweils beträchtlichen Erweiterungen für die Zeitgeschichte neu aufgelegt (vgl. dazu Dippel, Americana-Germanica, 241; Steiner, Ordnung, 179f.). 204 So explizit Berger, Universal-Historie (1755), Vorrede zur 1. Auƀ., [6v].

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Teil 4: Historiograſsche Amerika-Deutungen

merksamkeit für die narratio sichern. In der bezeichnenderweise im deutschen Untertitel als „Gedächtnüß-Hülƀiche Bilder-Lust“ apostrophierten Sculptura Historiarum et Temporum steht die bildliche Inszenierung sogar gleichberechtigt neben dem Text. Bilder sollen hier historisches Grundwissen vermitteln und „ad Studium Historicum“ vorbereiten.205 Eine weitere Variante der visuellen Geschichtsdarstellung kommt in der Universalhistorie von Berger zur Anwendung. Die historischen Geschehnisse sind synchron in Völkerund Länderrubriken angeordnet. Der Erkenntniswert liegt für Berger darin, dass „alle […] merkwürdige[n] Begebenheiten, welche in einem jeden Staat und Reich zu einer Zeit vorgefallen, auf einmal in den Blick können übersehen werden“. Mithin lasse sich der Synchronismus als eine Art von „Ariadnische[m] Faden und Leit-Stern“ benutzen, um so verborgene historische Zusammenhänge zu entschlüsseln.206 Der Historiker begründet sein methodisches Vorgehen mit der zunehmenden Vernetztheit der atlantischen Welt, die sich gerade in den vielfältigen ſnanziellen und wirtschaftlichen Transaktionen zwischen europäischen Mutterländern und amerikanischen Kolonien zeige. Für den fränkischen Historiker ist damit eine Situation entstanden, die sich nur im „synchronistischen Vortrag“ der Ereignisse, will heißen: im tabellarisch verbindenden Blick auf die einzelnen Kontinentalräume und ihre Geschichte adäquat beschreiben lasse.207 Zum Konzeptionellen: Alle drei Texte gruppieren sich um das heilsgeschichtliche Paradigma. Die Berufung auf die Bibel als historiograſsche Urkunde, das Bestreben, „die biblische Geschichte durch die weltliche zu bestätigen“208, waren den reichsstädtischen Protagonisten ebenso selbstverständliche Anliegen wie die Absicht, sämtliche Entwicklungen der jüngeren Zeitgeschichte in ihrer empirischen Vielfalt einschließlich der geograſschen und religiösen Dimensionen wiederzugeben.209 Man muss sich diese Voraussetzungen noch einmal in Erinnerung rufen, um die letztlich auf die mittelalterliche Universalchronistik zurückweisende Zeitordnung dieser Werke zu verstehen. Die heilsgeschichtliche Sichtweise ist im Bilder-Saal sicherlich am stärksten präsent. Das Werk variiert in repräsentativer Weise die Werte der protestantischen Geschichtspublizistik. Bemerkenswert ist seine Reichs- und Kaisernähe, was sich nicht nur in den Dedikationsepisteln (die einzelnen Teilbände sind dem zum jeweiligen Erscheinungszeitpunkt gerade amtierenden Reichsoberhaupt gewidmet), sondern auch in den Periodisierungsansätzen 205 Köhler, Sculptura Historiarum et Temporum, Vor-Bericht, [4v]. 206 Berger, Universal-Historie (1755), Vorrede zur 1. Auƀ., [6v]. Generell Steiner, 296312; Brendecke, Tabellenwerke, 173-181. 207 Berger, Universal-Historie (1755), Vorrede zur 1. Auƀ., [7v] mit Blick auf den Handel mit Louisiana-Aktien an der Pariser Börse während der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. 208 Berger, Universal-Historie (1755), Vorrede zur 2. Auƀ., [5r]. 209 Berger/Jäger, Universal-Historie (1781), Vorrede, [2r].

Kapitel 16: Nürnberger Historiografen

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zeigt: Die Präeminenz der römisch-deutschen Historie im Sinne der translatio imperii erschien den Verfassern als nach wie vor gültiges Ordnungsprinzip. Konsequent hielt man sich daher bei der Stoffgliederung an die Sedenzfolge der römisch-deutschen Kaiser. Deren Amtszeiten gaben den Rahmen für die weltgeschichtliche Betrachtung vor.210 So wäre in erster Bilanz festzuhalten: Die Amerika-Rezeption der Nürnberger Historiker bewegte sich auf alten Pfaden. Für die Verortung des Amerikanischen in der Geschichte bedeutete dieses Festhalten an überlieferten Deskriptions- und Deutungsmodi freilich noch etwas Anderes. Denn hinter diesen scheinbar obsoleten Persistenzen im Geschichtsbild verbarg sich eine programmatische Absicht, die eigentlich in eine ganz realistische, durchaus angemessene Bewertung der Beziehungen zwischen Alter und Neuer Welt einmündete. Für die Nürnberger blieb Amerika begrifƀich wie räumlich ein Teil Europas. Mehr noch: Der Unterschied zwischen alt und neu war zu Gunsten globaler Gemeinsamkeit aufgehoben. Amerika war ein Gegenstand, der sich in bewährte Deskriptionsmuster einfügen ließ. Mit dem Ansatz war die Chance gegeben, das Neue geräuschlos zu integrieren, weil es als Ingredienz der einen Schöpfung immer schon existent war, auch wenn es dem zeitgenössischen Auge des 18. Jahrhunderts noch weithin entzogen war. Zugleich ist damit ein Kernunterschied gegenüber den universalgeograſschen Schemata – vor allem der Jesuiten – bezeichnet. Das Denken der Nürnberger Welt- und Reichshistoriografen kannte – zumindest auf wissenschaftstheoretischer Ebene – keine Krisenszenarien. Für ihre Repräsentanten ergab sich aus der Tatsache der europäischen Expansion kein Bedarf an konzeptioneller Neuorientierung. Die Notwendigkeit für ein radikales Neu- und Umschreiben der Geschichte entſel. Im kontinuierlichen Fortschreiben der Ereignisse ließen sich die Entwicklungen adäquat fassen. Dennoch konnten die aus diesem Geschichtsbild scheinbar herausfallenden amerikanischen Dynamiken eingebunden werden, etwa in Form des synchronistischen Präsentationsmodells, das gewissermaßen als eine Vorform der international vergleichenden Geschichtsschreibung zu sehen ist. Wie sich nun innerhalb dieses größeren Denkrahmens die europäischen und amerikanischen Wahrnehmungsgewichte konkret zueinander verhielten, darauf wird im Folgenden genauer einzugehen sein. Amerikanische Karrieren Die Beobachtungen seien mit dem Bilder-Saal von Imhof eröffnet. Allein schon der enorme quantitative Umfang der Nürnberger Fortsetzungschronik 210 Zur Weltreichelehre im protestantischen Kontext vgl. Neddermayer, Mittelalter, 84-91; Koch, Europabewußtsein, 338-346; in magistraler Zusammenfassung vgl. Pohlig, Gelehrsamkeit, 134-149.

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Teil 4: Historiograſsche Amerika-Deutungen

berechtigt dazu: In 17 Teilbänden mit jeweils mindestens 1.000 Seiten (im Einzelfall bis zu 2.000 Seiten) entfaltet das Werk ein breites Panorama. Angesichts der Materialfülle hat die Analyse zuerst bei der Stoffgliederung, speziell bei den kategorialen und diachronen Aspekten, anzusetzen. Entsprechende Hinweise auf den Stellenwert der Neuen Welt bzw. deren Präsenz im Werkkontext ergeben sich aus der folgenden systematischen Übersicht (Tabelle 5). Danach verteilen sich die amerikanischen Betreffe auf vier Klassiſkationsebenen, nämlich auf die europäische Staatengeschichte seit dem 15. Jahrhundert (ab Band 4 des Bilder-Saals) sowie auf die Kirchen-, Welt- und Kriegsgeschichte. Tabelle 5: Imhof, Bilder-Saal, Bde. 4-17 (1724-1782). Amerikabezüge (graue Flächen) Bd. (Jahr) Zeitraum

Reich

Spanien und Portugal

Frankreich

England

Niederlande

Italien

Geschichten der drey übrigen Welttheile

Von den Englisch-Americanisch-Französisch-Spanischund Holländischen Kriegs-GeAmerika schichten

Kirchengeschichte mit Zeitraum

4 (1733) 1437-1564 5 (1715) 1567-1700 6 (1710) 1700-1704 7 (1719) 1705-1714

1601-1710

8 (1727) 1705-1723 9 (1727) 1724-1728

1723-1733

10 (1744) 1734-1743

1733-1743

11 (1752) 1744-1749

1744-1749

12 (1761) 1749-1756

1749-1756

13 (1762) 1756-1760 14 (1766) 1761-1765

French and Indian War/Siebenjähriger Krieg 1757-1765

15 (1773) 1765-1770 16 (1778) 1771-1775 17 (1782) 1776-1780

Zum ersten Paradigma, der europäischen Staatengeschichte: Hier taucht Amerika als kolonialer Annex in der Nationalgeschichte der einzelnen europäischen Länder auf, nämlich in den Kapiteln über Spanien, England und Frankreich. Aber auch im italienischen, niederländischen und deutschen Zu-

Kapitel 16: Nürnberger Historiografen

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sammenhang ist von Amerika die Rede. Die Neue Welt wurde also nicht nur auf eine passive Statistenrolle beschränkt. Amerika, oder vielmehr: die dort bestehenden Kolonialreiche der Europäer, waren ein Indikator, mit dessen Hilfe sich der Rang der verschiedenen Staaten auf der historischen Bühne der Alten Welt bestimmen ließ.211 Denn abgesehen vom römisch-deutschen Reich, dem die Autoren des Bilder-Saals mit dem Anciennitätsargument der translatio imperii immer den ersten Platz unter den Nationen einräumten, standen die einzelnen Staaten in einer ständigen Konkurrenz zueinander. Im historiograſschen Spiegelbild der Kapitelabfolge – eigentlich eine Stufenordnung von den groß- zu den mindermächtigen Staaten – bilden sich diese Relationen ab. So konnte sich die Position jeder einzelnen Nation im Wahrnehmungsgefüge – je nach Entwicklung ihrer (außenpolitischen) Verhältnisse – im Lauf der Zeit und damit von Band zu Band verschieben. Von diesen Positionsverschiebungen waren nun einerseits Spanien, andererseits England als jeweils führende Hegemone in der Neuen Welt besonders betroffen. Wie das Befundbild in der Tabelle (Tabelle 5) zeigt, schlägt das amerikanische Pendel zunächst zu Gunsten der spanischen Seite aus. Das iberoamerikanische Moment hat seine Kernzeit im 15. und 16. Jahrhundert: Spanien kommt das historische Verdienst der Entdeckung zu. Die spanische Krone hat die amerikanische Welt für den europäischen Bewusstseinskreis geöffnet. So kann Imhof in der Bilanz festhalten: Die Neue Welt ist „die Quelle/ woraus alle die folgende Hoheit und Reichthum von Spanien geƀossen“ sei. Vom Glanz der spanischen Entdeckertat ſel auch Licht auf das Alte Reich, standen doch die Deutschen und Spanier aufgrund ihrer Verbindung im gemeinsamen habsburgischen Regentenhaus (und damit des Hauptträgers der amerikanischen Europa-Expansion) in einer unmittelbaren „Coherentz“.212 Den Spaniern wurde wegen ihrer historischen Entdeckerleistung nach den Deutschen und Franzosen der dritte Platz unter den europäischen Völkern zugeteilt.213 Freilich waren die Dinge veränderbar. Das fragile europäische Mächtekonzert war dem Gebot des Wandels unterworfen. Dabei war es wieder der amerikanische Faktor, dem eine maßgebliche Rolle zukam und der für eine Neujustierung der Verhältnisse sorgte. Mit dem Schlüsseljahr 1700, gewisser211 Vgl. dazu grundsätzlich Klueting, Macht der Staaten, 67-83. 212 Imhof, Bilder-Saal IV, 285. 213 Die spanische Nation kletterte in der historischen Wertigkeit vom siebten (im Berichtszeitraum 1437-1519) auf den dritten Rang (im Berichtszeitraum 1519-1564): „Wir achten derohalben am gerathensten zu seyn/ daß wir die Collocation und Eintheilung der Capituln dergestalt einrichten/ daß wir die Nationes/ so die mehreste Gemeinschaft und Coherentz miteinander haben/ unmittelbahr nach einander setzen. Nemlich erstlich die Hispanische/ als welche nunmehr von dem Glorwürdigen Haus Österreich beherrschet/ und durch ein so starckes Band an Teutschland […] verknüpfet ist“ (Imhof, Bilder-Saal IV, 390).

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maßen mit dem Eintritt des Bilder-Saals in die engere Zeitgeschichte (ab Band 6), wurde aus der spanischen eine englische Dominanz. Parallel dazu verschob sich die binnenamerikanische Balance vom Süden in den angelsächsisch beherrschten Norden. Dem britischen Vormachtstreben wuchsen neue Kräfte zu. Umgekehrt verlor Spanien an Gewicht, nicht zuletzt deswegen, weil es – und hier kommt ein moralisches Stereotyp der protestantischen Geschichtsschreibung zum Tragen – durch grausame Unterwerfungspraktiken des „Americanische[n] Volcks“ den heilsgeschichtlichen Sinn seiner überseeischen Mission verfehlt habe.214 Zwar konnte das spanische Königreich seine Präzendenz unter den europäischen Staaten bis auf weiteres erhalten (wegen der wachsenden Bedeutung seiner afrikanischen Dominien); gleichwohl gewannen die Briten das Alleinvertretungsmonopol auf die amerikanische Geschichte: Amerika trat „mit Engelland auf“ den „Schauplatz“ der Welthistorie (in Band 16), während Asien durch Russland und eben Afrika durch Spanien repräsentiert wurde.215 In dieser Dominanz der angloamerikanischen Bezüge wird ein Wahrnehmungsmuster erkennbar, das für das Denken der Nürnberger Intelligenz im 18. Jahrhundert insgesamt typisch war. Ähnliche Anglophilien kann man auch für die universalgeograſschen Werke aus der fränkischen Reichsstadt belegen.216 Dagegen wurden die französischen Ansätze der Kolonialbildung kaum einer breiteren Würdigung unterzogen. Die Lilienkrone erschien als notorische Gegenmacht zu Kaiser und Reich; sie galt als gefährlicher politischer Faktor, deren Expansionsbestrebungen man mit größter Skepsis begegnete.217 Zur Kirchengeschichte, dem zweiten Rezeptionsfeld für amerikanische Wissensbestände: Damit ist ein aus dem zeitgenössischen geograſschen Diskurs bekanntes Rezeptionsmoment aufgenommen. Im Vergleich mit der Ba214 So beispielsweise Imhof, Bilder-Saal IV, 393f.: „Und ist nur zu betauren/ daß/ da GOtt den Spaniern so reiche und herrliche Länder in America gleichsam ohne SchwerdtStreich und Mühe gegeben/ sie doch wider das arme nackende/ an sich selbst gantz fromm und guthertzige Volck daselbst/ so grimmig und unchristlich gewütet/ und nicht allein das gemeine Volck mit aller ersinnlichsten Grausamkeit ausgetilget/ sondern auch die grösten und mächtigsten Könige des Lands/ theils um ihr Gold und Silber ihnen abzupressen/ theils bloß aus Muthwillen und Ubermuth/ mit den abscheulichen Martern belegt/ gestalten sie unter andern eine gute Anzahl dergleichen Könige/ die sie gefangen bekommen/ einsmal vor sich/ nach ihrer Lands-Art/ tantzen machten/ sie selbsten aber mit bloßen Degen unter ihnen mit herum getantzet/ und/ aus bloßer Kurtzweil/ die arme Americanische Herren niedergestoßen/; und was dergleichen Crudelitäten und Grausamkeiten gewesen/ die/ wann man sie in den Spanischen Scribenten selbsten lieset/ die Haare zu Berge stehen machen.“ 215 Imhof, Bilder-Saal XVI, 1f. 216 Vgl. Kapitel 9. 217 Vgl. Imhof, Bilder-Saal IV, 390 zu Frankreich als Nation, „die gegen das Reich und Hispanien allezeit das Gegen-Gewicht zu halten sich bemühet/ und derohalben in unaufhörliche Kriege mit selbigen sich eingeƀochten“ ist. Zu antifranzösischen Tendenzen in der Reichspublizistik vgl. Wrede, Reich, 537-545.

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rockgeograſe fallen gravierende Unterschiede ins Auge. Insbesondere bei den Jesuitengeografen dominierte ein katholisches Weltverständnis. Im Bilder-Saal herrscht hingegen eine irenische Stimmung vor. Unter der Rubrik „Kirchengeschichte“ werden die Entwicklungen innerhalb der drei reichsrechtlich anerkannten Konfessionen betrachtet (unter Einschluss auch des Judentums). Die Neue Welt tritt als kirchengeschichtlicher Faktor vor allem im Berichtszeitraum von 1600 bis 1765 in Erscheinung, während in den drei letzten Bänden (1765-1780) das Problem der amerikanischen Religion nicht mehr zur Sprache kommt (Tabelle 5). Das inhaltliche Proſl ist stark von den missionsgeschichtlichen Impulsen des 17. und 18. Jahrhunderts bestimmt. Die staatlich angeleiteten Christianisierungsbemühungen der europäischen Kolonialmächte, die Missionsbestrebungen der Orden, einzelner Gruppen oder Individuen bilden einen einschlägigen Wahrnehmungsrahmen, während die indigene Religionslandschaft – auch darin manifestiert sich eine Kerndifferenz gegenüber den Ansätzen der Jesuiten – keine größere Rolle spielen. Die Chronisten des Bilder-Saals nutzten ausgiebig die Informationsressourcen der zeitgenössischen Missionsliteratur, auch wenn in der Quellenauswahl dann doch weltanschauliche Präferenzen erkennbar werden, die den interkonfessionellen Anspruch durchkreuzen. Die Bearbeiter des Periodikums können ihre Verankerung im reichsstädtischen Gelehrtenprotestantismus kaum verleugnen: Zwar fanden die jesuitischen Missionsberichte Eingang in den Text; gleichwohl geschah dies in polemischer Absicht, setzt sich doch der Bilder-Saal kritisch mit den Folgen der spanischen Herrschaft für die autochthone Bevölkerung auseinander.218 Es ging also primär darum, mit Hilfe der konfessionellen Gegenseite die Legitimität des spanisch-katholischen Kolonialregiments insgesamt in Frage zu stellen. Der Rekurs auf die katholische Missionshistoriograſe blieb daher ein Nebenfeld. Viel stärker als katholische fanden protestantische Quellen Beachtung, und zwar mit der erklärten Absicht, einen positiven Eindruck von den Fortschritten der lutherischen Lehre in der Neuen Welt zu vermitteln. Die Autoren des Bilder-Saals stützten sich vorwiegend auf das pietistische Informationsangebot süddeutscher Provenienz. Sie verarbeiteten etwa die Berichte von Urlsperger über die Salzburger Exulanten in Georgia und die Korrespondenzen von Mühlenberg über die deutschen Lutheraner in Pennsylvania.219 Für das religionstopograſsche Wirklichkeitsverständnis der Nürnberger hatte diese Fokussierung weitreichende Konsequenzen: Die Optik verkürzte sich auf die Entfaltungsräume der verschiedenen reformatorischen Glaubensgemeinschaften, auf die britischen Kolonien und damit auf das Gebiet der späteren USA. Diese Option für den Protestantismus zeigt sich zugleich in der 218 Vgl. z.B. die Peru-Berichte des Jesuiten Armand Jean Xavier Niel in Imhof, Bilder-Saal VII, 772. 219 Vgl. Imhof, Bilder-Saal VII, 863 (Bezug auf Mühlenberg), XIV, 852 (Rekurs auf die „schöne und vollständige Nachricht“ von „Hr. Senior Urlsperger in Augspurg“).

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dichten Beschreibung der englischen Missionsleistungen, so etwa in der Societas de promovenda cognitione Christi, deren Aktivitäten für die Glaubenspropaganda unter den Indianern, für die Einrichtung von Bibelgesellschaften und Bibliotheken, hervorgehoben werden. Ein weiteres Argument bezieht sich auf die Errungenschaften der britischen Kulturnation: Die Gründung der Universitäten in New York und Philadelphia wird als Ergebnis einer umfassenden angloprotestantischen Zivilisationsoffensive im bis dato von höheren kulturellen Ambitionen unberührten Nordamerika gedeutet.220 Ganz anders die Situation auf der katholischen Seite der Neuen Welt: Vergleichbare kulturpolitische Prestigeprojekte der französischen oder spanischen Mission werden lediglich kurz angerissen.221 In der kirchengeschichtlichen Darstellung wiederholen sich also die Interpretationsansätze des staatengeschichtlichen Denkens. Unübersehbar ist die anglophile Tendenz, die sich mit einer dezidierten, wenn auch zurückhaltend formulierten protestantischen Konfessionsoption verbindet. Beide Beobachtungsrichtungen erzeugen eine Amerika-Vorstellung, die sehr stark auf die Nordhälfte des Kontinents abhebt. Wie stellen sich nun die Dinge aus Sicht der Kontinentalhistorie, der dritten Erfassungsebene für amerikanische Inhalte, dar? Um diese Frage zu beantworten, ist überhaupt erst zu klären, was die Nürnberger unter „Kontinentalhistorie“ verstanden. Dabei ist zunächst die Begriffswahl von Interesse. So beschrieben die Verfasser des Bilder-Saals die außereuropäischen Vorgänge nicht nur im Rahmen der Staaten- und Kirchengeschichte, sondern führten für die überseeischen Vorgänge auch eine eigene Kategorie ein, nämlich den Sammelterminus der „Geschichten der drey übrigen Welttheile“. Die Protagonisten der Nürnberger Reichspublizistik gingen also von der Vorstellung einer genuin überseeischen Geschichtsidentität aus, die sich von der europäischen Realität kategorial abheben ließ. Indes war das Sensorium für die historische Relevanz der außereuropäischen Welt unterschiedlich entwickelt. Kurz gesagt: Für das 15., 16. und 17. Jahrhundert konstatieren die Autoren des Nürnberger Periodikums eine geringe Bedeutung, für das anbrechende 18. Jahrhundert hingegen eine sich rasch verstärkende. Zunächst dominiert die europäische Geschichte, während der außereuropäischen Wirklichkeit (eben als einer expressis verbis so wahrgenommenen) eher eine Nebenrolle zugeteilt wird. Hinter dieser Perspektive darf man keinen verborgenen ideologischen Eurozentrismus vermuten. Vielmehr wurden hier informationspragmatische Gründe wirksam. So verweisen die Autoren immer wieder auf die Schwierigkeit, an gesicherte Kenntnisse über die außereuropäische Welt heranzukommen. Zugleich war die globalhistorische Erkenntnis für sie kein Selbstzweck, sondern ein Wissen, das in einem dynamischen Zusammenhang 220 Vgl. Imhof, Bilder-Saal IX, 1497 (englische Missionsgesellschaften), 1503 (Indianermission), X, 1523 (Bibelgesellschaften, Bibliotheken), XIV, 777f. (Universitäten). 221 Vgl. Imhof, Bilder-Saal IX, 1459 (Mission in Louisiana), X, 1488 (Jesuitenmissionen in Paraguay, Peru, Guyana und Neufrankreich).

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mit eigenen europäischen Beſndlichkeiten und Bedürfnissen zu stehen hatte. Historisches Wissen über andere Kontinente könne für den Leser in Deutschland nur insoweit von Relevanz sein, insofern tatsächlich Zusammenhänge oder Beziehungen zwischen europäischer und außereuropäischer Geschichte bestünden. Oder, um es mit den Worten des Bilder-Saals zu sagen: So viele wichtige Staats-Veränderungen in denen Europäischen Reichen vorgegangen sind, eben dergleichen abwechselndem Schicksal waren auch die Staaten von Africa, Ost- und West-Indien unterworfen. Je entfernter aber dieselbe von unsern Wohnungen sind, je geringer ihr Einƀuß in unsere Umstände sich zeigt, je sparsamer endlich die gewissen Nachrichten von diesen Ländern zu uns kommen, desto kürzer können wir auch ihre vornehmste Geschichten zusammen fassen.222

Dieses reziprok-relationale Verständnis von Weltgeschichte konnte auch ƀexibel auf Veränderungen im Geschehen reagieren. Sobald die Autoren etwa den Eindruck gewannen, dass die europäische Geschichte sozusagen nicht mehr am Atlantik endete, sondern zunehmend Bestandteil (sogar Objekt) überseeisch-außereuropäischer Wirkungsfaktoren wurde, konnten sie ƀexibel auf die neuen Gegebenheiten reagieren. Dabei war es gerade der amerikanische Faktor, der als Transmissionsriemen des Perspektivenwechsels fungierte, und zwar sowohl hinsichtlich der engeren ereignisgeschichtlichen Einschätzung als auch auf der Ebene der geschichtstheoretischen Reƀexion. Beispielhaft deutlich zeigt sich dieses Adaptionsvermögen im Teilband 12 des Bilder-Saals (Tabelle 5). Hier taucht innerhalb der weiterhin bestehenden Obereinheit „Weltgeschichte“ erstmals eine eigene Teilrubrik zu den „Americanischen Geschichten“ auf.223 Den realhistorischen Hintergrund für diese konzeptionelle Anpassung bildeten die Ereignisse des French and Indian War, die sich seit 1753 (also vor Abfassung des entsprechenden Teilbands) zum internationalen Staatenkrieg zwischen England und Frankreich um Nordamerika steigerten: Amerika sei „das trächtige Feld, auf welchem ein Saame vieler Bitterkeiten zwischen der Crone Engeland und Franckreich ausgesäet worden“ sei. So wurde die Interessenwende zum Amerikanischen im zwölften, 1761 erschienenen Teilband begründet.224 222 Vgl. Imhof, Bilder-Saal X, 1471. Für einen weiteren Beleg für eine solche Bewertung der Dinge vgl. ebd. IX, 1435: „Obschon dieses Capitel [Von den Geschichten der andern Welt-Theile, RB] von dem allergrösesten Theil des Erdbodens handelt, gegen welchen unsere Europäische Länder, nur als ein kleiner District, anzusehen; so kann solches doch allezeit fast am kürzesten gerathen: sintemal […] uns nicht nur, an den Geschichten derselben, nicht so viel gelegen, sondern auch die Nachrichten davon, offt sehr spahrsam, und insonderheit, was die Chronologie betrifft, unrichtig, ja widersprechend, zukommen.“ 223 Imhof, Bilder-Saal XII, 394-397 (Americanische Geschichte), 822-831 (Von Americanischen Geschichten). 224 Vgl. Imhof, Bilder-Saal IX, 822. Zu ähnlichen Einschätzungen im England des 18. Jahrhunderts vgl. Greene, Seven Years’ War, 85f.

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Diesem neuen kontinentalhistorischen, nun eindeutig nordamerikanisch imprägnierten Paradigma folgt auch der dreizehnte Band des Bilder-Saals (Publikationsjahr: 1762). Hier erscheint der amerikanische Kontinent als Brandherd eines weltweit eskalierenden, vor allem Deutschland negativ beeinƀussenden Krisenszenarios. Die Ursachen für den Siebenjährigen Krieg liegen nach Auffassung der Nürnberger Autoren in der Neuen Welt. Im binnendeutschen Gegensatz zwischen Preußen und Österreich bilde sich eine universale Konƀiktkonstellation ab, die sich jenseits des Atlantiks im French and Indian War entlade. Die Tatsache, dass aus dem „glümmenden Feuer“ in Nordamerika „ein schrecklicher Brand“ wurde, dessen „wütende Flammen aus der neuen in die Alte Welt überschlugen“, war für den Chronisten Anlass genug, die historiograſsche Grundkonzeption des Werks noch einmal zu verändern.225 Die transatlantische Verwobenheit der Ereignisse und Schauplätze entwertete den bisher gültigen partikularen einzelstaatlichen und kontinentalgeschichtlichen Beschreibungsduktus. An seine Stelle rückte nun die Ordnungskategorie des global entfesselten, weder nationale noch kontinentale Grenzen schonenden Großkriegs. Der Band 13 des Bilder-Saals wurde daher nur einem einzigen Thema gewidmet, den Ereignissen des Siebenjährigen Kriegs (Tabelle 5). Alle Aspekte wurden auf die Frage ausgerichtet, welche Folgen sich aus dem amerikanischen Krieg in Deutschland und in den „Europäischen Staaten“ ergeben könnten.226 Der Siebenjährige Krieg bewirkte in den Augen der Nürnberger Reichschronisten eine tiefgreifende Wende in der weltgeschichtlichen Dramaturgie. Er gewann einen speziſschen Zäsurcharakter. Ab den 1750er Jahren stieg Amerika zu einem so bedeutsamen Machtfaktor auf, so dass dieser Kontinent nicht mehr auf eine bloße Statistenrolle im britischen Empire reduziert werden konnte. Die Herauslösung des Amerikanischen aus den (Unter-)Ordnungskategorien der europäischen, vor allem englischen Kolonialgeschichte, lässt sich als historiograſscher Emanzipationsprozess im Werkaufriss des Bilder-Saals eindrucksvoll nachvollziehen (Tabelle 5): Die Fortsetzungsbände für die Zeiträume 1761 bis 1765 (Bd. 14), 1771 bis 1775 (Bd. 15) sowie 1776 bis 1780 (Bd. 16) führen das Teilkapitel der „Americanischen Geschichte“ fort.227 Denn nach den Konƀikten des Siebenjährigen Kriegs banden die „Irrungen mit den Colonien in America“, die „Strittigkeiten der mehrern Englischen Colonien mit der Krone Großbritannien wegen der Abschaffung etlicher Imposten“ die ganze Aufmerksamkeit der Chronisten.228 Der Siebenjährige Krieg bildete gewissermaßen den Auftakt zu den Revolutionsereignis225 Imhof, Bilder-Saal XIII, 4. 226 Imhof, Bilder-Saal XIII, 481. 227 Imhof, Bilder-Saal XIV, 399-411 (Von Amerika), 773-791 (Amerikanische Geschichte), XV, 794-809 (Von Amerika), XVI, 684-692 (Von Amerika), 962-972 (Von Amerika). 228 Imhof, Bilder-Saal XV, 479, 794.

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sen in den britischen Kolonien. Mit dieser Fortsetzung des transatlantischen Konƀiktgeschehens verstetigte sich die amerikanische Geschichte zu einer eigenständigen Kategorie. Deren Darstellung habe „einen mehrern Raum […] erfordert“ als etwa die Geschichte von Afrika und Asien.229 Eine weitere Folge der Zäsur von Siebenjährigem Krieg und French and Indian War bestand darin, dass sich die Geschichte der nördlichen Hemisphäre nur noch als interkontinentales Spannungsgefüge, als System gegenoder gleichläuſger Bewegungen verstehen ließ. Amerika wurde zum Partner der Europäer, der Atlantik zu einem Brückenraum für den politischen Handlungsaustrag zwischen Alter und Neuer Welt. In theoretischer Hinsicht ist mit dieser Auffassung der transatlantischen (Konƀikt-)Beziehungen eine vierte Beschreibungsebene für amerikakundliche Inhalte eingezogen. Im letzten Band des Bilder-Saals (1776-1780) bestimmte sie nachhaltig die Wahrnehmungsperspektiven und damit die Auffassung der amerikanischen Revolution. Die Verfasser des Nürnberger Periodikums interessierten sich dabei weniger für die Vorgänge selbst (die Eskalationsstufen des Konƀikts zwischen Kolonisten und englischer Obrigkeit). Selbstverständlich wird der Leser über den Ablauf der Ereignisse informiert. Dabei enthält sich die stark faktograſsch orientierte Darstellung jeder ideologischen Stellungnahme. Prorevolutionäre Sympathien, die Propagierung theoretischer Revolutionsmodelle, die Afſrmation der USA als neuartiges völkerrechtliches Konstrukt (wie sie in der geograſschen Paralleldiskussion der süddeutschen Aufklärung durchaus zu beobachten sind) – all das wird man im Bilder-Saal nicht ſnden. Eher dominiert eine vorsichtig abwartende Haltung, was freilich aus der noch ergebnisoffenen Zeitgenossenperspektive von 1782 durchaus verständlich ist. Teilweise gibt sich der letzte Teilband sogar betont skeptisch, wenn etwa im Zusammenhang mit den Forderungen des nordamerikanischen Kongresses an die britische Regierung von „angemaßte[n] Freyheit[en]“ die Rede ist.230 Es waren vor allem die Außenwirkungen der Revolution, für die sich die Autoren des Bilder-Saals interessierten. Minutiös registriert wurden die Konƀiktkonsequenzen für den weiteren europäischen Umkreis. Durchgriff und Überschlag der Ereignisse auf die einzelnen Nationen in Europa standen im Blickpunkt: Beispielsweise war für die Verfasser die Frage nach Recht und Unrecht des deutschen Söldnereinsatzes in den Revolutionskriegen bedeutsam. Dabei kam es zu heftiger Kritik an diesen Vorgängen. Der Bilder-Saal ventiliert eine Stimmungslage, die in der zeitgenössischen deutschen Öffentlichkeit weit verbreitet war. Das Gefühl nationaler Erbitterung, die Überzeugung, ohne eigenes Zutun in einen fremden Krieg hineingezogen worden zu sein, bestimmt die Sichtweise. Hoch emotionalisierte Semantiken patrioti229 Imhof, Bilder-Saal XV, 794. 230 Imhof, Bilder-Saal XVII, 318.

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scher Gesinnungsrhetorik dringen in den sonst so nüchternen Berichtsstil des Nürnberger Periodikums ein: Amerika wird zum Grab der unschuldigen Söhne „Germaniens“.231 Auch für die übrigen europäischen Staaten macht die Chronik die historische Folgenbilanz auf: Frankreich, aufgrund von Franklins langem Parisaufenthalt Hauptwirkungsraum der jungen US-amerikanischen Diplomatie, tritt als Partner des neuen Staats auf. Ebenso werden die Beiträge der Spanier, Niederländer und natürlich der Engländer registriert.232 Es ist in diesem Zusammenhang nur folgerichtig, wenn sich im weiteren Verlauf der Darstellung der nationalstaatliche Modus der Amerika-Betrachtung erneut in eine globalisierte Perspektive auƀöst. Als Stichwortgeber fungiert wieder der Krieg, als räumliche Bezugsgröße erscheint abermals das transatlantische Kriegstheater, in dem sämtliche maritimen Anrainerstaaten (und darüber hinaus selbst die meerfernen Länder des Reichs, nämlich über den Soldatenhandel) in Freundschaft wie Feindschaft miteinander verbunden sind. In der Kapitelgliederung des letzten Teilbands wurde dieser These strukturell Rechnung getragen (Tabelle 5). So wurden hier die amerikanischen Zusammenhänge unter der Rubrik der „Englisch-Americanisch-Französisch-Spanischund Holländischen Kriegs-Geschichten“ erfasst.233 In den graſschen Darstellungen des Bilder-Saals tritt der transatlantische, speziell auch auf den nordamerikanischen Geschichtsschauplatz zielende Perspektivenwechsel ähnlich eindrucksvoll zu Tage wie in den inhaltlich-konzeptionellen Dispositionen. Die Kupferstichserien beziehen sich wiederholt auf das Sujet amerikanischer Ereignisse und Personen. Zu den Bildthemen gehören die auswandernden Pfälzer ebenso wie das Auftreten indianischer Gesandtschaften in London oder Darstellungen der militärischen Topograſe des French and Indian War oder des Unabhängigkeitskriegs.234 Bemerkenswerter als diese rein illustrativen Darstellungen sind die allegorisch-emblematischen Inszenierungen auf den Titelblättern der einzelnen Bände. Für die Wahrnehmung und Deutung der amerikanischen Position im globalen Mächtesystem besonders aufschlussreich ist etwa das Titelemblem des letzten Teil231 Imhof, Bilder-Saal XVII, 41: „Alleine, wer hätte damals denken sollen, daß zu jenen Rauffereyen sogar Deutschland einige Haare hergeben würde? Wer hätte damals denken sollen, daß die Amerikanische Erde noch deutsches Blut sauffen, und jene Unruhe manchem Sohne Germaniens das Leben kosten würde?“ Zur Wahrnehmung des „Soldatenhandels“ im zeitgenössischen Deutschland vgl. Mauch, Images. 232 Vgl. Imhof, Bilder-Saal XVII, 83, 98f., 211-215, 477-487, 685f., 690-693. Vgl. dazu Bély, Cœur, 54-62. 233 Imhof, Bilder-Saal XVII, 789-838, ferner 318-357 (Von den Englisch-Amerikanischen Kriegsgeschichten). Amerikanische Bezüge werden auch ebd., 313-318 (Von Amerika), 774-788 (Von Amerika) behandelt. 234 Zu den Kupferstichen im Einzelnen vgl. Imhof, Bilder-Saal VII, 393, 526 (pfälzische Auswanderer um 1709/10), 540 (Indianergesandtschaft in London um 1710), XIII, 748 (Stadtansicht von Quebec), 752 (Kriegsszene von 1759), XIV, 322 (Seeoperationen vor Virginia um 1776).

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bands. Die auf den Nürnberger Kupferstecher Ambros Gabler zurückgehende Darstellung liefert dem Betrachter in Verknüpfung mit einem Textkommentar eine eingängige Interpretation der Konƀikte von 1776.235 Dabei ist bereits die Tatsache interessant, dass dieses Motiv an so herausragender Stelle platziert wurde. Im Verbund des Bilder-Saals vergegenwärtigten die Titelvignetten in der Regel den Glanz der Kaiser- und Reichshistorie. Sie fügten sich also ganz in den intentionalen Rahmen einer primär „reichisch“ ausgerichteten Universalgeschichte ein. Dass im letzten Band des Bilder-Saals die nordamerikanische Revolution so prominent in das Bild gesetzt wurde, verweist abermals – und parallel zum Textbefund – auf den Stellenwert, den diese Ereignisse offenbar im Bewusstseinshaushalt der Nürnberger Gelehrteneliten am Ende des 18. Jahrhunderts erreicht hatten. Was ist auf dem Kupferstich zu sehen? Der Bildkomplex besteht aus zwei formal unterschiedlichen Teilen (Abbildung 13). Am rechten Rand des Kupferstichs erscheint unter einer Baldachinarchitektur mit dem Wappen der englischen Monarchie eine Personiſkation der Britannia. Diese sitzt auf einem Thron; sie trägt die Attribute ihrer Herrschaft (Krone, Szepter und Löwe). In perspektivischer Verlängerung zur Thronszene sind im Vordergrund Flottenverbände auf See zu erkennen. Diese nähern sich in raschem Tempo der amerikanischen Küste, die den linken Bildrand einnimmt. Auch hier stellt das Bildinventar vielfältige zeitgeschichtliche Bezüge her. Auffällig ist zunächst einmal die räumliche Anordnung: Amerika wird als Doppelkontinent gezeigt. Der Norden ist durch den Golf von Mexiko deutlich vom Süden abgegrenzt. In dieser geograſschen Trennung zeichnen sich zugleich zwei verschiedene politische Modelle ab: Der Norden vertritt das Prinzip der Revolution: 13 Kinder tanzen als Repräsentanten der nach Unabhängigkeit strebenden britischen Kolonien um einen Freiheitsbaum als Symbol für die Forderung nach staatlicher Eigenständigkeit.236 Der Süden hingegen steht für das koloniale Amerika: Zwei Soldaten, an ihrer Uniform und ihren Attributen als Spanier (mit einem Degen) und Franzose (mit dem gallischen Hahn) zu identiſzieren, vertreten den Anspruch dieser beiden europäischen Kronen auf die Länder in Übersee. Zugleich erscheinen sie als Teilnehmer im Kriegsszenario zwischen England und seinen Kolonien. Die Botschaft des Kupferstichs hebt auf die größeren mächtepolitischen Dimensionen der Auseinandersetzungen im „fernen Nord-Amerika“ ab. Das Bild inszeniert die englisch-amerikanische Auseinandersetzung als tieferen transatlantischen Systemkonƀikt. In der Interaktion der einzelnen Bildkomponenten, in den Blickachsen der Figuren ebenso wie in ihrer Gestik und Mimik manifestiert sich diese Interpretation: Der Kopf der Britannia ist stark 235 Vgl. Imhof, Bilder-Saal XVII. Zu Gabler vgl. Thieme/F. Becker, Lexikon 13, 8f. 236 Vgl. Imhof, Bilder-Saal XVII, Erklärung des Titel-Kupfers, [2]. Zur politischen Symbolik des Freiheitsbaums vgl. Raab, Baum der Freiheit.

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einwärts in die Bildmitte gedreht. Die „Mutter Großbritannien“ blickt in Richtung Nordamerika. Mit einer Zuchtrute droht sie den dort tanzenden Kindern der Revolution, während die in Beobachterposition verharrenden Spanier und Franzosen mehr oder minder verdeckt für die Sache der Kolonisten Partei zu ergreifen scheinen: Der degenbewehrte Spanier „drohet mit erhiztem Blick, – Britannien in Staub zu legen“, der „Gallier winckt Beyfall zu […] Und läßt sie zur Ermunterung, die schönsten Bundes-Flotten sehen“, dabei mit dem rechten Arm auf die aus Europa zum Sukkurs der Amerikaner herannahende Kriegsƀotte hinausweisend.237 Dass es sich bei dem Streit der amerikanischen Kolonisten mit ihrem Mutterland um einen globalen Staatenkonƀikt handelt – diese Überlegung kommt auch in den Textzusätzen auf dem Kupferstich zum Ausdruck. Explizit wird hier vom Umschlag der Ereignisse vom „lis civilis“ („bürgerlichen Streit“) zum „bellum publicum“ („öffentlichen Krieg“) gesprochen.238 Die Eigendynamik der engeren nordamerikanischen Entwicklung scheint sich also in einer globalen Konƀiktallegorie aufzulösen. Bildlich wird damit jene Grundthese bekräftigt, die bereits das Narrativ des Bilder-Saals bestimmt hat: Die atlantische Sphäre ist ein Raum von europäisch-amerikanischer Identität, weil beide Kontinente untrennbar miteinander verkoppelt sind. Hinter dieses Denken in internationalen Großkonstellationen trat die konkrete Frage nach der speziſschen Bewertung der Revolution zurück. Wie bereits im Textzusammenhang zu beobachten war, wurde das Problem der revolutionären Staatswerdung sorgfältig umgangen. Man hielt sich in einer entscheidenden politischen Streitfrage durchaus bedeckt. Freilich soll das nicht heißen, dass bei den Nürnbergern jedes Verständnis für den American cause of liberty fehlte. Untergründig machen sich doch politische Sympathien bemerkbar. Die Verfasser der reichsstädtischen Chronik haben zwar den großen rhetorischen Aplomb gemieden; gleichwohl lassen sie Zweifel am Umgang der Engländer mit den Kolonisten in der Bilddarstellung erkennen. Der beigefügte Bildtext weist jedenfalls in diese Richtung: Demnach habe die „gar zu strenge Zucht“ der Insurgenten die Sache der Briten in Nordamerika ein für allemal verdorben und damit dem Abfall der überseeischen Provinzen Vorschub geleistet. Indirekt hatten sich also die Herausgeber des Bilder-Saals längst mit dem Faktum einer eigenständigen amerikanischen Republik abgefunden. Für das Nürnberger Periodikum waren die gerade erst entstehenden USA bereits ein fester Bestandteil der eigenen Zeitgeschichte.239 237 Imhof, Bilder-Saal XVII, Erklärung des Titel-Kupfers, [2]. 238 Entsprechend dann auch die Deutung in der Auslegung des Kupferstichs. Vgl. Imhof, Bilder-Saal XVII, Erklärung des Titel-Kupfers, [2]: „Dieß [die Konƀiktteilnahme von Frankreich und Spanien, RB] hat den bürgerlichen Streit zum öffentlichen Krieg gemacht.“ 239 Vgl. Imhof, Bilder-Saal XVII, Erklärung des Titel-Kupfers, [2]: Großbritannien „suchte jene Colonien Im fernen Nord-Amerika, mit Ernst und Strenge zu erziehen. Sie aber fühlten sich zu groß, als länger minorenn zu seyn; Sie murreten – und Engelland schlug

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Atlantische Bildergeschichte Sind die für den Bilder-Saal gewonnenen Ergebnisse für die fränkische Universalhistoriograſe insgesamt gültig? Diese Frage ist berechtigt, weil sich die Darstellungsformate der beiden anderen Werke von Berger und Köhler beträchtlich vom Bilder-Saal unterscheiden. Auch wenn sich Letzterer programmatisch als eine Geschichte in Bildern präsentiert, überwiegt hier doch das Narrativ. Noch konsequenter auf visuelle Wissensvergegenwärtigung und Erkenntnisproduktion sind die beiden Werke von Berger und Köhler ausgerichtet. Berger (und Jäger) konstruieren den Ereignisƀuss in tabellarischer Form (als Synchronismus). Bei Köhler wird die historische Aussage überhaupt nur über Bilder transportiert, das heißt dem Text kommt lediglich eine kommentierende Funktion zu. Im Vergleich zur narrativen Geschichtsvermittlung ist die Informationsmenge in ihrer empirischen Masse erheblich reduziert. Beide Werke bieten daher wertvolle Einsichten in die konkrete Topik amerikakundlicher Wissensbestände. Deren lokale Versäulung, temporale Schichtung und visuelle Vergegenwärtigung scheinen in den Kolonnen- und Bildordnungen der graſschen Historie viel unmittelbarer auf als in den Textkonvoluten des historiograſschen Periodikums.240 Um die Grundbefunde sogleich vorwegzunehmen: Die Überzeugung, dass die weltgeschichtlichen Zeitläufe des eigenen 18. Jahrhunderts einem Prozess kontinuierlicher Atlantisierung, Verwestlichung und Nordamerikanisierung unterworfen seien, wird auch in der graſsch verfahrenden Geschichtsschreibung Nürnberger Provenienz greifbar. Im Folgenden sollen die Ergebnisse genauer aufgeschlüsselt werden. An erster Stelle sei der Blick auf die Universal-Historie von Berger und Jäger gelenkt: Der großformatige Druck zeigt alle einschlägigen Merkmale frühneuzeitlicher Tabellenwerke. Die letzte Auƀage von 1781 besteht aus insgesamt 45 aufklappbaren Tafeln. Die Tabellen sind chronologisch aufgebaut; in den jüngeren Auƀagen ist die Zeitschiene mit durchlaufenden Jahreszahlen in den Kolonnenaufbau integriert. Der Ereignislauf ist nach Perioden gegliedert, wobei wieder eine auffällig starke Verkürzung der Zeitschnitte für das 18. Jahrhundert zu beobachten ist. Die mit arabischen Ziffern durchnummerierten Tabellenrubriken folgen dem geograſschen Einteilungsprinzip der Staatengeschichte. Die erste Tabellensäule nimmt das Reich ein. Dabei besetzen Kaiser und Papst als gleichberechtigte Führungsmächte des sacrum imperium jeweils eigene Rubriken. In der weiteren, bis zu 16 Stellen umfassenden Spaltapfer mit der Ruthe drein. Jedoch, das alte Sprichwort sagt: daß allzu scharf nur schartig mache. – Der Mutter gar zu strenge Zucht verdarb auch hier die ganze Sache.“ Die Familienmetapher knüpft an ein weit verbreitetes Motiv des zeitgenössischen AmerikaDikurses an (vgl. dazu Wellenreuther, Niedergang, 8). 240 Zu den topograſschen Verortungsstrategien der Tabellenhistorie vgl. Steiner, Ordnung, 262-288; Stolleis, Geschichte, 272f.

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tenfolge tauchen – in wechselnder Reihung – die einzelnen europäischen Nationen auf: Sardinien, Neapel-Sizilien, Frankreich, Spanien, Portugal, Großbritannien, Holland, Schweden, Böhmen, Ungarn, das Osmanische Reich, ferner Russland, Polen, Preußen, Schweden und Dänemark.241 Die Entwicklungslogik orientiert sich an einem strikt eurozentrischen Maßstab. Das ist nicht weiter verwunderlich, wenn man an den Untertitel des Tabellenkompendiums denkt: Berger versteht sein Werk als Geschichte der „Vornehmsten Europäischen Reiche und Staaten“. Erst unter seinem Fortsetzer Wolfgang Jäger, also ab der fünften Auƀage von 1781, öffnet sich die Perspektive für die überseeischen Weltregionen (der Werktitel spricht nun neutraler von „Vornehmsten Reichen und Staaten“). Allerdings bleibt die Gliederung des historischen Stoffs nach dem Prinzip der europäischen Staateneinteilung auch in der letzten Ausgabe der Synchronistischen UniversalHistorie erhalten. Für das speziſsche Problem der Amerika-Rezeption kann man die Bedeutung dieser Beobachtungen kaum überschätzen. Für Berger ist das Nachdenken über Amerikanisches nur innerhalb europäischer Konſgurationen möglich. Das Wissen über Amerika ist straff in die europäische Geschichte integriert. Die Neue Welt wird ausschließlich in den Ereignisrubriken der alteuropäischen Staatseinheiten erfasst. Von vornherein verbaut ist damit jene hermeneutische Alternative, wie sie bei Imhof zu erkennen ist, nämlich die historischen Entwicklungen mit Hilfe von transkontinentalen Kategorien zu erfassen. Dabei konzentriert sich Berger auf die politische Geschichte. Hinzu kommen noch ökonomische Aspekte, sofern sie für den Ereignisverlauf der Diplomatie- und Kriegshistorie von Belang sind. Hingegen sind die kultur- (und ebenfalls: kirchen-)geschichtlichen Gesichtspunkte auf ein Minimum reduziert. Zwar enthalten die einzelnen nationalgeschichtlichen Rubriken Gelehrtenkataloge; eine umfassende histoire intellectuelle ergibt sich aus diesen nekrologartigen Einträgen mit Angaben zur Biograſe und der vertretenen Fachdisziplin aber noch nicht. Gewiss lagen solche weitergehenden Ansätze außerhalb des Leistungsvermögens und auch des intendierten Wissensangebots frühneuzeitlicher Tabellenwerke.242 Indes sind diese Beobachtungen von einiger Aussagekraft, verweisen sie doch auf den Inhalts- und Verständnishorizont, den ein Produkt des entsprechenden Genres überhaupt aufzubieten hatte. Auf Amerika bezogen heißt das konkret: Die Darstellung bewegt sich primär auf dem Feld der politischen Geschichtsschreibung. Themen wie Mission und Auswanderung, Naturgeschichtliches und Landeskundliches, Sensibilitäten für Fremdes und Anderes (und sei es auch nur unter dem Topos des Exotischen) – diese typischen Gegenstandsbereiche der frühneu241 Vgl. das Schema bei Berger, Universal-Historie (1767), Tabelle 38. Vgl. dazu auch Zimmermann, Synopse, 139. 242 Beispielhaft für dieses Ereignisverständnis vgl. etwa Berger, Universal-Historie (1767), Tabelle 40. Allgemein zu inhaltlichen Interessen frühneuzeitlicher Tabellengeschichtsschreibung vgl. Brendecke, Synopse.

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zeitlichen Amerika-Rezeption bleiben bei Berger und Jäger vollständig ausgeklammert. Im Gegenzug muss man fragen: Welche Vorgänge, welche europäischen Länder repräsentieren nun konkret amerikanische Geschichte? Die Antworten sind nicht überraschend: Amerika tritt als Entdeckung der Spanier und Portugiesen in das Rampenlicht der Weltgeschichte. Die beiden iberischen Königreiche können den überseeischen Expansionserfolg auf dem Konto ihrer jeweiligen Nationalgeschichte verbuchen. In der weiteren Betrachtung relativiert sich dann – wie im Bilder-Saal – der lateinamerikanische Faktor zu Gunsten des nordamerikanischen. So verknüpft sich der Begriff der Neuen Welt immer stärker mit der französischen und englischen Geschichte: Den Beginn des französischen Engagements bringt Berger mit der Errichtung der Handelskompanie von Louisiana in Verbindung (1719). Die Eroberung des spanischen Karibikstützpunkts Portobello durch die Briten (1740) markiert für ihn den Anfang der englischen Geschichte in Übersee. Ein weiterer Einschnitt ist – wieder in Analogie zu Imhof – mit dem French and Indian War, also in den späten 1750er und frühen 1760er Jahren, auszumachen. Der vorläuſge Endpunkt der Entwicklung ist dann im Unabhängigkeitskrieg ab 1776 erreicht.243 In der Gleichsetzung von (nord-)amerikanischer und anglofranzösischer Geschichte, eben in der Zuordnung der entsprechenden Informationen zu den Spalten der beiden westeuropäischen Großmächte, wird indes ein zentraler Unterschied zum Bilder-Saal sichtbar: Von den amerikanischen Angelegenheiten gehen für Mitteleuropa keine Wirkungen aus. Deutlich zeigt sich diese Einschätzung im Zusammenhang mit den Vorgängen des French and Indian War. Die Tabellen von Berger stellen zwar in der synchronen Ereignisanordnung eine temporäre Parallelität zwischen den beiden Konƀikten her; davon, dass die Auseinandersetzungen einen gemeinsamen Ursachenkern haben könnten, ist jedoch nicht die Rede. Vielmehr erscheinen sie als Folge eines französischen und englischen Machtgegensatzes, der Europa allenfalls an seinen Peripherien berührt, dafür aber die Briten – als Sieger des Konƀikts – in den 1760er Jahren auf den „Gipfel ihrer Glückseligkeit“ geführt habe.244 Dieser isolierte – und man muss doch sagen: einseitig anglophil auf den britischen Aufstieg ſxierte – Blick weicht erst unter dem Eindruck der 1773 in den Kolonien aufkeimenden Unruhen einer breiteren Perspektive. Durchaus kann man nun anhand des Tabellenwerks (sicherlich unter dem Einƀuss von Wolfgang Jäger, der 1767 nach dem Tod von Berger dessen Fortführung übernommen hatte) globale Folgen der Revolution erkennen. In den beiden letzten Auƀagen der Universal-Historie wird das transatlantische Übergreifen der revolutionären Ereignisse auf die Alte Welt registriert. Diese führten eine 243 Vgl. Berger, Universal-Historie (1767), Tabelle 26, 31, 34. 244 Berger, Universal-Historie (1767), Tabelle 40.

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Krise der internationalen Beziehungen herbei, die sich „so wohl in Europa, als in America“ in heftigen militärischen Konƀikten äußere. Aus dem ursprünglich allein Großbritannien betreffenden Problem werde ein universaler Vorgang, der fast alle europäischen Länder aus ihrer „Ruhe“ reiße und zu Kombattanten mache. Zu Kriegsbeginn (1776/77) treten England, Frankreich, Spanien und die Generalstaaten als Handlungsteilnehmer auf. Teilweise erscheinen sie – wie die nördlichen Niederlande – als unfreiwillige Opfer, weil sie durch die atlantischen Flottenoperationen der Großmächte in ihrer ökonomischen Basis geschwächt werden (etwa durch Einschränkungen im Seehandel). Mit der Vertiefung der Auseinandersetzung erweitert sich der Kreis der Betroffenen: Für 1780 zählt Jäger neun europäische Nationen auf, die in den Konƀikt involviert sind. Neben den bereits Genannten spielen nun auch die Staaten am süd- und nordeuropäischen Atlantikrand (Portugal, Schweden und Dänemark) eine entscheidende Rolle. Selbst Russland und die Hohe Pforte bekommen die Folgen der Krise zu spüren. Auch sie sehen sich in ihrem wirtschaftlichen Aktionsradius erheblich eingeschränkt. Trotz ihrer Neutralität würden „die Schiffe russischer Unterthanen von den Engländern eben so gewaltthätig und despotisch behandelt, wie diejenigen von andern Nationen“. Nicht weniger störten die Rückwirkungen des transatlantischen Säkularkonƀikts in der türkischen Levante „die Sicherheit und Freyheit der Handlung“.245 Mit dem Herausgeberwechsel von Berger auf Jäger verlagerte sich also der Wahrnehmungsschwerpunkt deutlich auf das Feld der ökonomischen Geschichte. Zugleich verschoben sich die politischen Sympathien: Erscheint Großbritannien – gestützt auf seine amerikanischen Erwerbungen – bis in die 1760er Jahre hinein noch als Vorbild imperialer Großmachtbildung, so deutet sich für den Zeitraum ab 1776 eine wesentlich skeptischere Haltung an. In diesem Szenario ist der Kampf der Briten um den Erhalt der nordamerikanischen Kolonien ein riskantes ökonomisches Unterfangen, das die gedeihliche Entwicklung der europäischen Binnenwirtschaft unnötig aufs Spiel setzt. So gesehen wird die Krise um Amerika zum Belastungsfaktor für das Gleichgewicht in Europa. Dabei bezieht sich diese Wertung weniger auf die Neue Welt selbst. Jäger kann kaum als Kronzeuge für antiamerikanische oder auch nur antirevolutionäre Stimmungslagen gelten.246 Die primär mit ökonomischen Indizien argumentierende Kritik entzündet sich vielmehr am falschen, weil auf Konfrontation setzenden Umgang der Briten mit der amerikanischen Unabhängigkeit. Wie stellen sich die Dinge – so ist abschließend zu fragen – in der Sicht der Bilderhistorie von Johann David Köhler dar? Zunächst ist zu betonen, dass die beiden hier ausgewählten Texte, die Sculptura Historiarum et Temporum und die Gedenckwürdigkeiten, speziſsche Gebrauchsfunktionen erfül245 Berger/Jäger, Universal-Historie (1781), Tabelle 44, 45. 246 Vgl. Kapitel 10.

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len. Die beiden anderen Nürnberger Werke, der Bilder-Saal und die Synchronistische Universal-Historie, bieten welt- (und europa-)geschichtliche Synthesen. Sie treten mit einem diversiſzierten Informationsangebot an das Publikum heran. Köhler hingegen geht es um eine visuell leicht fassbare, didaktisch ansprechende und zugleich erinnerungsfeste Aufbereitung von Wendepunkten der Geschichte. In bildlichen Repräsentationen sollen Schlüsseldaten der Chronologie veranschaulicht werden. Man hat es also mit Konzentraten von historischen Sachverhalten zu tun. In ihnen soll sich ein größeres Ganzes ausdrücken. Mit ihrer Hilfe soll sich scheinbar Komplexes auf einfache Gründe zurückführen lassen. Die häuſg bemühte Metapher von der „Welt in einer Nuß“ verweist auf diese Intention. Mit der Vorstellung, die Weltgeschichte in nuce („in ihrem Kern“) unter Einsatz von wirkungsvoller Illustration erfassen zu können, variierte Köhler eine im 18. Jahrhundert überaus geläuſgen Ansatz.247 Ihrem Selbstverständnis nach bewegte sich diese Art der Geschichtsvermittlung durchaus im Rahmen eines gelehrten Anspruchs. Köhler stellt diese Zusammenhänge her, indem er sich bei seinen „populären“ Werken explizit auf den Bilder-Saal von Imhof beruft, ihn als Quelle und Vorbild für die eigenen Arbeiten benennt.248 Somit steht das bildhistoriograſsche Œuvre des Altdorfer Professors in einer Kette eng miteinander verzahnter Medien- und Textsorten. Gerade diese Kompatibilität macht die beiden Bilderchroniken zu interessanten Untersuchungsobjekten. Im Hinblick auf das hier erörterte Problem kann man nämlich fragen: Was bleibt – gleichsam in der Ideenwanderung durch die unterschiedlichen Formationen der chronistischen Geschichtsaufbereitung – von den umfassenden Amerikavorstellungen der Nürnberger Welt- und Reichspublizistik erhalten? Auf welchen Nenner bringt Köhler deren Gehalt? Noch einmal ist darauf hinzuweisen, dass der Berichtszeitraum der hier zur Diskussion stehenden Darstellungen stark fokussiert ist: Die Gedenckwürdigkeiten reichen bis 1720; ähnlich verhält es sich mit der Sculptura Historiarum, die 1726 gedruckt wurde und deren Verfasser die Weltgeschichte daher nur bis in das erste Viertel des 18. Jahrhunderts erfassen konnten. Der Siebenjährige Krieg und die Revolution lagen außerhalb dieses Erfahrungshorizonts und konnten folglich auch kein Problem der Epochenordnung sein. Insofern ist die Vergleichbarkeit zwischen den einzelnen Werken nur teilweise gegeben. Trotz dieses Unterschieds in den chronologischen Reichwei247 So der Untertitel der Gedenckwürdigkeiten. Mit diesem Titelzusatz bezieht sich Köhler zugleich auf den ebenfalls von ihm herausgegebenen Orbis terrarum in nuce, sive Compendium historiae […] Die Welt in einer Nuss (1722). Vgl. dazu Nicklas, Köhler, 85. Zu Köhler als Repräsentant einer pragmatischen (d.h. anschaulichen, Kausalitäten vergegenwärtigenden) Historie vgl. Reill, German Enlightenment, 42. Generell zum Einsatz von Illustrationen in historischen Werken unter dem Vorzeichen eines „pädagogischen Realismus“ vgl. Strasser, Wissensvermittlung, hier vor allem 193-198. 248 Vgl. Köhler, Gedenckwürdigkeiten, Vorrede, [7r].

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ten sind dennoch charakteristische Gemeinsamkeiten zu erkennen, zumindest insoweit sie sich auf die frühen Phasen der Rezeption von 1400 bis 1720 beziehen. Gewiss ist es nicht weiter bemerkenswert, wenn Köhler der Entdeckung der Neuen Welt eine hohe Bedeutung beimisst und dem Thema eine eigene bildliche Darstellung widmet, gehörte der Entdeckungstopos doch zum selbstverständlichen Inventar der weltgeschichtlichen Beschreibung in der Frühen Neuzeit.249 Vielmehr ist es die weitere Motivauswahl, die das Werk von Köhler zu einem interessanten Exempel werden lässt. Die Chroniken enthalten vier Bilddarstellungen, die amerikanische Entwicklungen zum Gegenstand haben: Neben der Entdeckung durch Kolumbus enthalten die beiden Werke von Köhler Kupferstiche, die die Überfälle niederländischer Kaperfahrer auf die spanische Silberƀotte und den französischen Aktienhandel in Louisiana (1719) zeigen. Eine weitere Illustration thematisiert die pfälzische Massenemigration von 1709.250 Auch wenn dieser – bezogen auf die Gesamtzahl der bildlichen Repräsentationen – sehr überschaubare Motivkreis nicht über die primär reichs- und europageschichtliche Ausrichtung der beiden Werke hinwegtäuschen kann, spiegelt er doch grundlegende Probleme der zeitgenössischen Amerika-Rezeption wider: Zum einen betont Köhler das ökonomische Moment, zum anderen taucht das Phänomen im Zusammenhang mit der deutschen Migrationsgeschichte auf. Durchaus scheint in dieser Konstellation das Grundproblem des universalistischen Denkens in der Frühen Neuzeit auf, nämlich die Frage, ob die Neue Welt das Lebensgefüge der Alten nachhaltig habe beeinƀussen können, oder umgekehrt: ob sich aus Europa historisch dauerhafte Verbindungen nach Amerika entwickelt hätten, ob man von einer transatlantischen Gemeinsamkeit oder wenigstens von einem interkontinentalen, aufeinander bezogenen Raumgefüge ausgehen könne. Systematische Verschränkungen kann Köhler für den ökonomischen Bereich ausmachen. Dabei argumentiert er in erster Linie aus handels- und ſnanzwirtschaftlicher Perspektive. Er gelangt zu einer skeptischen Einschätzung der zunehmenden ökonomischen Verƀechtungen zwischen Alter und Neuer Welt: Den spanischen Silberimport aus Lateinamerika nimmt Köhler zum Anlass für eine kritische Auseinandersetzung mit den aus seiner Sicht schädlichen Folgen des amerikanischen Edelmetallexports. Wie er im Bild249 Vgl. Köhler, Sculptura Historiarum et Temporum, 268f. (Entdeckung der Neuen Welt). Vgl. ähnlich auch ders., Chronologia, Tabelle 24 (die Entdeckung Amerikas wird dabei der „Historia celebrium gentium“ zugeordnet). Speziell zu Köhlers Chronologia vgl. Brendecke, Tabellenwerke, 166 (Anm. 43); Zimmermann, Synopse, 127. 250 Zu den Bilddarstellungen im Einzelnen vgl. Köhler, Sculptura Historiarum et Temporum, 283 (niederländische Kaperfahrten gegen die spanische Silberƀotte); ders., Gedenckwürdigkeiten, 260f. (Louisiana-Aktienhandel); ebd., 106f. (pfälzische Emigration). Speziell zum Hintergrund der pfälzischen Auswanderungswelle von 1709 vgl. Otterness, Becoming German, 37-77.

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kommentar ausführt, verbindet sich mit der Ausbeutung der südamerikanischen Silberminen nicht nur eine humanitäre Katastrophe ersten Ranges (wegen der Versklavung der Indios). Der Silberhandel verweist zugleich auf eine strukturelle Schwäche der spanischen Politik: Indem sie sich ausschließlich auf die vermeintlich unversiegbaren Einnahmen aus den Silberminen verlasse, habe die spanische Monarchie die Möglichkeit zu stabiler Wohlstandssicherung durch die Förderung von Handel und Gewerbe im Mutterland aus der Hand gegeben. Nicht weniger kritisch fällt die Bilanz für das französische Modell der Kolonialwirtschaft aus. Mit dem 1720 zusammenbrechenden Louisiana-Aktienhandel führt Köhler zudem ein Beispiel an, das unter den Vertretern des süddeutschen Amerika-Diskurses, wie etwa bei Theodor Berger, zu den prononciert negativ bewerteten Phänomenen zählt, dabei aber besonders eindrucksvoll die ökonomischen Transgressionen zwischen europäischer und amerikanischer Sphäre demonstrieren kann. Zugleich werden hier für Köhler die verhängnisvollen Konsequenzen der „Begierde, in balden reich zu werden“, sichtbar.251 So erweitert der Altdorfer Professor den reinen historischen Tatsachenbefund, also den spekulativen Verkauf von Anteilspapieren auf zukünftige Gewinne aus der französischen Kronkolonie in Nordamerika, um soziologische und moraldidaktische Betrachtungen: Das Bild der „Vornehme[n] und Gemeine[n]“, die sich auf den Pariser Straßen, im Bankenviertel von Quincampoix drängten, um die begehrten, jedoch bald wertlosen Zertiſkate zu erwerben, illustriere die fatale Psychologie ungezügelten Gewinnstrebens (der dem Text beigegebene Kupferstich zeigt die aufgeputschte Stimmungslage in der Rue de Quincampoix, Abbildung 14). In dem der Darstellung beigefügten Textkommentar rekonstruiert Köhler die ſnanzwirtschaftlichen Rückkoppelungseffekte des Aktienhandels: Daran seien nicht nur die Menschen aus den „Frantzösischen Provintzen“, sondern auch aus den „andern Europäischen Ländern“ beteiligt gewesen. Diese seien nach Paris geeilt, um von den vermeintlich vorteilhaften Geschäften zu proſtieren. Selbst der französische König habe die Hand zur Spekulation gereicht, indem er „verhoffte, durch dieses Mittel am leichtesten die vielen Cron-Schulden abzustoßen“. Das gut Gemeinte habe sich indes in sein schlechtes Gegenteil verkehrt. So habe sich die Hoffnung auf die hohe amerikanische Rendite zerschlagen. Angesichts horrender Deſzite sei Frankreich Hunger und Not nicht erspart geblieben: „So geschwind aber dieser gählinge Reichthum gewachsen, so schnell ist er auch wieder gefallen“ – diese Lebensweisheit gibt Köhler seinen (jugendlichen) Lesern mit auf den Lebensweg.252 251 Köhler, Gedenckwürdigkeiten, 260. Zur Negativwahrnehmung des Louisiana-Aktienhandels in der zeitgenössischen europäischen Öffentlichkeit vgl. auch Adams, Medals, 12-17, 42-47. Zum Hintergrund dieser Ereignisse vgl. Cellard, Law, 195-207, 298-305. 252 Alle Zitate Köhler, Gedenckwürdigkeiten, 260.

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Die Deutung Amerikas als Quelle ökonomischer Fehlentwicklungen ist nur eine Facette in diesem stark von didaktischen Motivationen abhängigen Rezeptionsmodell. In den Gedenckwürdigkeiten ſndet sich auch noch ein anderes Wahrnehmungsmuster, nämlich die Erfahrung der Neuen Welt als Fluchtraum für Exulanten, genauer: als Aufnahmeland für die Flüchtlinge des pfälzischen Erbfolgekriegs (1688-1697). In dieser Deutungsvariante überkreuzten sich zwei verschiedene, für die Nürnberger Diskurse des frühen 18. Jahrhunderts gleichwohl besonders typische Mentalitätsstränge. Einerseits wird hier erneut von der Möglichkeit der nationalen Semantisierung Gebrauch gemacht: Amerika verdiene wegen seiner Rolle als potenzielles Asyl für deutsche Migranten Interesse (und Sympathie). Andererseits taucht wieder das anglophile Moment auf: So erscheint die britische Krone als Patronin der bedrängten Landsleute aus Deutschland, die den Flüchtlingen vom Rhein das Tor zur Neuen Welt öffnet und ihnen damit die Hoffnung auf eine glückliche Zukunft gibt. Es ist daher kein Zufall, dass Köhler im Kommentar zur „Migratio Palatinorum“ (der entsprechende Kupferstich zeigt die Auswanderergruppen auf der Reise zu ihren Sammelplätzen in England) auf statistisches Material aus dem in den Fußnoten zitierten Theatrum Europaeum zurückgreift. Die Migrantenzahlen – der Professor geht von über 15.000 Personen aus – untermauern den bedauerlich hohen Verlust von „viele[n] tausend“ Landsleuten. Zugleich belegen diese Werte für Köhler die „Lieb“ der Engländer; in ihnen manifestiere sich – gewissermaßen empirisch erhärtet – die speziſsche Nähe der Briten zu den Deutschen.253 So sagen diese Imaginationen viel über die Meinungsoptionen des Nürnberger Gelehrten im zeitgenössischen mächtepolitischen Diskurs aus: Das amerikanische Argument eignet sich nicht nur für den moralischen Anschauungsunterricht (hier die Neue Welt als Folie für epochales wirtschaftliches Versagen, dort jedoch als hoffnungsvoller Schauplatz erneuerter Lebenschancen). Bei Köhler verdichtet sich nicht nur ein weiteres Mal die Überzeugung, dass die historische Entwicklung in Europa immer stärker von der amerikanischen mitgeprägt werde. In den Bild- und Textmotiven spiegeln sich auch europapolitische Orientierungen wider. Der Historiker nutzt das AmerikaThema als Vehikel für eine Positionsbestimmung zwischen den verschiedenen soziokulturellen Polen der Alten Welt: Auf der einen Seite stehen die spanischen und französischen Vormächte der Kolonialexpansion. Sie repräsentieren gleichsam den mit schweren moralischen Hypotheken belasteten Teil der Neuen Welt. Auf der anderen Seite beſnden sich die Briten. Sozusagen als „Antitypus“ vertreten sie das gute Regiment. Damit zeichnet sich in der historischen Kolonialgeograſe – und zwar nur in dieser, denn die indige253 Alle Zitate Köhler, Gedenckwürdigkeiten, 106. Generell zu den probritischen Sympathien des Autors, der später auch an der „englischen“ Universität Göttingen lehrte, vgl. H.-C. Kraus, Englische Verfassung, 388f.

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nen Phänomene haben bei Köhler keinen Platz – eine grundlegende Gegensatzkonstellation ab: In Amerika stehen sich romanisches und germanisches Europa und damit zwei konkurrierende Weltentwürfe gegenüber. KAPITEL 17: AUGSBURGER GESCHICHTSPUBLIZISTIK Nationale Semantiken Die reichsstädtische Geschichtspublizistik registrierte nicht nur mehr oder minder distanziert die Verhältnisse in der Neuen Welt (mit entweder verhalten probritischen oder gemessen proamerikanischen Sympathien). Sie beherrschte ebenso den hoch emotionalisierten Diskussionston, wobei neben der bereits im Zusammenhang mit den Pietisten zu beobachtenden religiösen Amerika-Empathie auch säkulare Deutungsmodelle stehen konnten. Ein solches säkulares Interessenmotiv ergab sich etwa aus nationalen Betroffenheiten. Die amerikanische Welt gewann dabei eine bedrohliche Färbung. Sie stieg zu einer als prononciert negativ empfundenen Größe des zeitgeschichtlichen Geschehens auf. Dabei war weniger das Revolutionsereignis Gegenstand des Geschichtspessimismus. Negativ reagierte man vielmehr auf den Siebenjährigen Krieg, dessen Ursprung man in Amerika vermutete. Damit nahmen jene Interpreten einen Faden auf, der in ähnlicher Weise schon in der gerade besprochenen Nürnberger Reichspublizistik sichtbar geworden ist: Amerika gewinnt als neues historisches Handlungssubjekt entscheidenden Einƀuss auf die Begebenheiten in der europäischen Welt. Der andere Kontinent tritt als Kriegsſgur auf die Geschichtsbühne, wobei explizit Deutschland als ferner Rezeptor der französisch-britischen Hegemonialauseinandersetzungen in der atlantischen Hemisphäre seit den 1720er Jahren schwere Opfer zu erdulden habe. Diesen Leidenstenor griff im deutschen Sprachraum des 18. Jahrhunderts der Autor der Flugschrift Americanische Urquelle derer innerlichen Kriege des bedrängten Teutschlands auf. Dieser Text ist ein weiteres Beispiel für die Nachhaltigkeit des Amerika-Interesses in der reichsstädtischen Kulturlandschaft des späten Ancien Régimes. Die in zwei inhaltlich stark voneinander divergierenden Ausarbeitungen gedruckte Schrift erschien erstmals 1760 in Augsburg. Als Verleger trat der an dieser Stelle schon mehrfach genannte Georg Christoph Kilian hervor. Über die Urheberschaft des Textes bestehen einige Zweifel, die sich auch bei intensiver bio-bibliograſscher Recherche nicht beheben lassen: Die Schrift wurde anonym, das heißt lediglich unter

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dem Initialen-Kürzel „C. F. v. d. H.“ publiziert. Die ältere Forschung löst dieses Incognito mit dem Namen von Christian Friedrich von der Heiden auf.254 Damit ist ein Autor genannt, über den sich nur wenig in Erfahrung bringen lässt – mit Ausnahme der Tatsache, dass er – ausweislich der Widmungsvorrede zu der Erstauƀage von 1760 – mit dem reichsstädtischen Kosmos in Süddeutschland gut vernetzt gewesen sein muss. Der anonyme Autor ließ sein Werk in Augsburg erscheinen; er dedizierte seine Schrift dem Nürnberger Patriziat.255 Mit einiger Vorsicht könnte man die Americanische Urquelle dem zeitweise auch in Süddeutschland arbeitenden Nationalökonomen Johann Heinrich Gottlob Justi zuordnen („Heiden“ wäre dann ein Pseudonym für „Justi“). Gewisse Ähnlichkeiten in Diktion und Argumentation der Flugschrift könnten diese Annahme stützen, zumal sich der anonyme Publizist einmal explizit auf Justis staatswissenschaftliche Methodik beruft und Justi selbst immer wieder unter wechselnden Pseudonymen zu Fragen des Siebenjährigen Kriegs Stellung bezogen hat.256 Indes sind dies nur erste Indizien, die sich kaum stichhaltig belegen lassen. Deshalb sei hier weiterhin Heiden als Urheber des Textes angesprochen. In jedem Fall unzweifelhaft ist die Zugehörigkeit der Schrift zum süddeutschen Rezeptionshorizont (zur Augsburger Geschichtspublizistik über Amerika). Darum soll es hier in erster Linie gehen. Wie bereits angedeutet war es der Siebenjährige Krieg, der für die Flugschrift den entscheidenden Wahrnehmungsimpuls darstellte. Der Tenor gibt sich von der ersten Zeile an apodiktisch und kritisch. Schon die Semantik des Werktitels verrät entschiedene programmatische Absichten: Amerika tritt dem Leser als „Urquelle des uns verheerenden Unglücks“ entgegen. Der deutsche Krieg habe interkontinentale Ursachen.257 Das Publikum solle seinen Blick für verborgene globale Wirkungsmechanismen schärfen. Der Publizist wollte die Sensibilitäten für die weltgeschichtlichen Zusammenhänge des zuhause Erlebten und Erlittenen stärken: „Was jener westliche Welt-Theil für einen Einƀuß in den unsrigen habe?“, „wie besonders das Verhältnuß von Deutschland mit jenen Americanischen Länderen beschaffen sey“ 258 und woher „die ursprünglichen Ursachen des Verderbens unsers geliebten

254 Vgl. etwa Baginsky, German Works, Nr. 382; British Museum General Catalogue 100 (1961), 963; Holzmann/Bohatta, Deutsches Anonymen-Lexikon IV, Nr. 8621. Explizit ordnet Gollwitzer (Geschichte, 219f.) die Schrift Heiden zu. 255 Vgl. Heiden, Urquelle, Dem Hochadlichen Patriciat der Weltberühmten Republic und Kayserlichen Freyen Reichs-Stadt Nürnberg, [2r]-[4v]. Diese Vorrede ist – soweit zu sehen – nur im Exemplar der SuStB Augsburg enthalten (Signatur: 4° Gs 1002). 256 Vgl. Heiden, Urquelle, 8. Zu Justi als Verfasser von Pamphleten während des Siebenjährigen Kriegs vgl. Schort, Politik, 336-345; U. Adam, Political Economy, 55-92. Im Zusammenhang mit der Americanischen Urquelle gibt es in der aktuellen Forschung keinen Hinweis auf eine entsprechende Urheberschaft von Justi. 257 Heiden, Urquelle, Vorbericht, 2. 258 Heiden, Urquelle, Vorbericht, 1.

Kapitel 17: Augsburger Geschichtspublizistik

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Deutschlande[s]“ kämen – solche Fragen bestimmen den Zuschnitt.259 Das Werk begreift sich als Produkt einer gleichermaßen auf Aktualitätsnähe, wissenschaftliche Aufklärung und politische Bewusstseinsbildung abhebenden Geschichtspublizistik. Mit der kausalen Herleitung der deutschen Kriegshandlungen aus ihren amerikanischen Ursprüngen wird ein Ton angeschlagen, der in der zeitgenössischen Wahrnehmung des 18. Jahrhunderts fast singulär ist, wenn man einmal von den ähnlichen Projektionen des Nürnberger Bilder-Saals absieht.260 Neben der zeitgeschichtlichen Krisenkomponente stehen freilich noch andere Motive. Diese sind wiederum für den reichsstädtischen Amerika-Diskurs besonders typisch, so vor allem der Rückgriff auf die Diskussion um den Anteil der Deutschen am Entdeckungsgeschehen. In der Americanischen Urquelle kommt das Thema gleich zweimal zur Sprache, nämlich in der Widmungszuschrift und im Rahmen eines eigenen Kapitels über die „Entdeckung von America, erstlich durch die Deutschen, denen hernach andere Völker gefolget“261. In der Widmungsvorrede an die Nürnberger Patrizier reklamiert Heiden die Entdeckerleistung für den Humanisten Martin Behaim. Die allgemeine Auffassung der „Geschicht-Schreiber“ (sie hält ja bekanntlich die Anteile von Columbus bzw. Vespucci für bedeutsamer) stößt hingegen auf Ablehnung; sie erscheint als maßlose „Dreustigkeit“262. Heiden bedient damit ein im reichsstädtischen Milieu Süddeutschlands häuſger wiederkehrendes Argument (zu erinnern ist an das Eintreten des Nürnbergers Mathematikers Johann Gabriel Doppelmayr für Behaim263). In der Americanischen Urquelle verschärft sich jedoch die Tonlage. Das Verschweigen von Behaims Verdiensten sei Ausdruck einer nationalen Katastrophe, deren Konsequenzen weit über das engere wissenschaftliche Problem hinausreichten. Im fahrlässigen Umgang mit der Erinnerung an den Wegbereiter der europäischen Expansion zeige sich, „wie schläfrich wir Deutschen auf unsern Ruhm sind“. Zugleich offenbare sich darin ein noch viel grundsätzlicheres Versagen: Im Gegensatz zu den Westeuropäern mangele es den Deutschen daran, aus der „Wissenschafft“ gezielt ökonomischen und politischen Nutzen zu ziehen und dieses Wissen – nach Maßgabe des eigenen nationalen Interesses – wirkungs259 Heiden, Urquelle, Vorbericht, 5. 260 So vor allem im Vergleich mit der stark auf die deutsche Innenperspektive ſxierten Kriegsgeschichtsschreibung borussischer Provenienz, etwa mit der Geschichte des siebenjährigen Krieges in Deutschland von 1756 bis 1763 (1793) von Archenholz (vgl. dazu Gollwitzer, Geschichte, 219-221). Allgemein zur Publizistik über den Siebenjährigen Krieg in Deutschland vgl. W. Adam/Dainat, Krieg ist mein Lied; Kunisch, Kommentar, 776-789; Mazura, Kriegspropaganda; Schort, Politik, 203-378; ders., Publizistik. 261 Heiden, Urquelle, 10-37. 262 Heiden, Urquelle, Dem Hochadlichen Patriciat der Weltberühmten Republic und Kayserlichen Freyen Reichs-Stadt Nürnberg, [4r]. 263 Vgl. Kapitel 9.

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voll einzusetzen. Die Hauptfolge dieser Deſzienz bestehe in einer verhängnisvollen Machtabstinenz. Während sich „die Grösse des jezo in Europa über das große Welt-Meer herrschenden Engellands“ beständig vermehre, sei Deutschland zu einem weltpolitischen Schattendasein verurteilt. Schlimmer noch: Die Nation werde selbst zum Spielball globaler politischer Entwicklungen, deren Logik sie hilƀos ausgesetzt sei.264 Freilich: Geschichtsblind, wie sie für Heiden in ihrer Summe sind, mögen die Deutschen zwar ihren politischen Beruf und damit die Chance auf ein Leben in Frieden, gestützt auf die eigene Kraft und Autorität, verfehlt haben. Die Verantwortung für das Unglück des „geliebten Vaterlande[s]“ fällt indes auf andere Instanzen zurück.265 Der Publizist verweist auf zwei Faktoren, die maßgeblich zu den negativen Kriegsverwicklungen zwischen Deutschland und Amerika beigetragen hätten: das System der „Staats-Kunst“ und „das Privat-Interesse“ der deutschen Fürsten. An der Staatskunst kritisiert Heiden das Bestreben, sich unter Anwendung völkerrechtswidriger Praktiken in den Besitz unermesslicher Ländermassen zu setzen. Die Neigung zur hemmungslosen „Eroberungs Begierde“ sieht er vor allem mit dem Begriff der „Diversion“ verbunden.266 Für den Publizisten bezeichnet dieser Terminus ein Konzept, das durch systematische Konƀikteskalation den Gegner militärisch an verschiedenen Fronten unter Druck zu setzen versucht, um so Territorialgewinne zu erzielen. Paradigmatisch verwirklicht sieht er dieses Konƀiktverhalten in den englisch-französischen Auseinandersetzungen um die Macht in Amerika. Diese heftigen Spannungen hätten sich dabei transkontinental ausgeweitet, da England und Frankreich mit Hilfe willfähriger deutscher Fürsten einen Stellvertreterkrieg im Reich (zwischen Preußen und Österreich) initiiert hätten. Indem sich die Reichsfürsten – anstatt dem gemeinsamen nationalen Wohl zu dienen – in ein probritisches bzw. profranzösisches Lager aufgeteilt hätten, sei es zur globalen Entgrenzung der Geopolitik gekommen, träten auf einmal Räume miteinander in Verbindung, die „an und für sich selbst […] nicht im geringsten in Gemeinschafft“ stünden. Daher müsse „Deutschland büssen […], was Indien versehn“267. 264 Alle Zitate Heiden, Urquelle, Vorbericht, 12f. 265 Heiden, Urquelle, Vorbericht, 1. 266 Heiden, Urquelle, Vorbericht, 4f. Zum Begriff der „Diversion“ vgl. Zedler, UniversalLexicon VII (1734) 1088: „Diuersion machen, heist einen blinden Lerm machen, Verwirrung anrichten, daß man nicht zurechte kommen kan. Im Kriege heist eine Diuersion machen, wenn der General anderswo einbricht, und also diejenigen, so eine Stadt belagern, von ihrem Vorhaben dadurch abzuwenden gedencket.“ 267 Heiden, Urquelle, Vorbericht, 6: „Ob Franz und Britte siegt, ja tausend Sclaven macht. Wo Mohr und Scithe wohnt, wird nicht von uns geacht, O blieben sie nur da, und liessen uns im Frieden, Wir ließen ihren Zank, auch gerne unentschieden. Welch Schicksahl! Muß die Welt so im Verhältnuß stehn? Das Deutschland büssen muß, was Indien versehn, O Himmel! Wende doch die Noth von unsern Staaten, Und schicke Fried und Ruh, HErr so du wilt aus Gnaden.“ Zum Siebenjährigen Krieg als Inkubationsphase nationa-

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Nationalökonomische Annäherungen Mit Heiden erreichte die Amerika-Reƀexion in der süddeutschen Historiograſe zweifellos eine neue Qualitätsstufe. Auch wenn sich ähnliche geschichtstheoretische Voraussetzungen der Americanischen Urquelle in der Nürnberger Chronistik belegen lassen, ist doch der vergleichsweise hohe Grad an konzeptioneller Durchdringung bemerkenswert. Heiden operiert mit präzisen Kategorien, während sich die Nürnberger, vor allem Imhof und seine Nachfolger, die Begriffe der globalen Konƀikttheorie eher beiläuſg zu Eigen machen. Der Autor des Augsburger Drucks geht von einem substanziellen historischen Wechselverhältnis, von einer Sonderbeziehung zwischen Deutschland und Amerika aus. Auch die Chronisten des Bilder-Saals vermitteln diesen Eindruck. Doch bleibt diese Erkenntnis gleichwohl in den weitgespannten Verständnisrahmen der Weltgeschichte eingebettet. Heiden dagegen bereitet das Problem, methodisch wie thematisch konzentriert, innerhalb einer eigenständigen monograſschen Schrift auf. Wissenschaftsgeschichtlich betrachtet verleiht er damit seinem Gegenstand einen speziſschen disziplinären Rang. So kann der Text als Beispiel für die sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts gerade formierende Amerikakunde im engeren Sinn gelten. Ein weiterer Unterschied betrifft die politische Stoßrichtung: Während die reichsstädtische Universalpublizistik in erster Linie dokumentarische Informationsbedürfnisse befriedigt, dabei Meinungsäußerungen doch nur silhouettenartig hervortreten, stellt die Americanische Urquelle ein Erzeugnis politisch reƀektierter Gelehrsamkeit dar. Durchaus lehnt sich der Text an den propagandistischen Duktus der frühneuzeitlichen Flugschriftenliteratur an. Der auf maximale Öffentlichkeitswirkung zielende Ansatz zeigt sich etwa darin, dass bereits die erste Auƀage der Urquelle in periodischer Form, nämlich in einer Serie von sechs, jeweils bis zu hundert Seiten umfassenden Einzelheften erschien: Mit dem Konƀiktausbruch von 1756 beginnend und chronikalisch bis 1761 reichend, deckt ein Heft je ein Kriegsjahrs ab.268 Erst die zweite Auƀage von 1760 präsentiert sich in bündiger Einheit. Sie bildet ein im physischen Sinn vollständiges Buchformat, auch wenn sie im Einzelnen um neue Informationselemente, so etwa um Aktenstücke zu den Friedenspräliminarien von Hubertusburg, ergänzt wurde.269 Im Fall von Heiden hat man es also auch mit politischer Programmpublizistik zu tun. Die Sorge um den Frieden in der Welt, die Furcht vor dem ler Stereotypen vgl. zuletzt Schort, Publizistik, 336-338; Herrmann, Krieg, 29-34; Wellenreuther, Bedeutung, 164-174. 268 Vgl. die beiden Münchner Exemplare der selten überlieferten Flugschrift (BSB München, Signatur: Hbks F 4c). Die zweite Version enthält nur die Berichtsjahre von 1756 bis 1758 (BSB München, Signatur: Res/4° Eur 279). 269 Vgl. Heiden, Urquelle, 340-348.

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Selbstverlust der Deutschen, die Kritik am zeitgenössischen Fürstenstaat (dabei unterscheidet der Publizist nicht zwischen Preußen und Österreich) – diese Momente prägten das Weltbild. Aus einem reichsstädtisch verankerten Denkhorizont hervorgehend verdichten sie sich zu einem politischen Überzeugungs- und Mentalitätsproſl, das man als „bürgerlich“ bezeichnen könnte. Zugleich kündigen sich bei Heiden unübersehbar – und damit den traditionellen reichspatriotischen Horizont sprengend – frühnationale Tendenzen an. Vor dem Hintergrund dieser brisanten, obrigkeitskritisch aufgeladenen Stimmungslage ist es kaum verwunderlich, dass der Publizist auf die Preisgabe seiner Autorenidentität verzichtete und stattdessen lieber die schützende Anonymität wählte. Für die Amerika-Rezeption ergeben sich aus diesem ideellen Bedingungsumfeld neue Fragen. Es ist zwar so, dass Heiden den amerikanischen Kontinent explizit als maßgeblichen Faktor des historischen Geschehens in Europa und Deutschland benennt, er also mithin die politische Vernetzung der atlantischen Welten erkannt hat. Aber ist mit dieser Einschätzung bereits ein speziſsches Amerika-Bild gewonnen? Kann aus dieser historischen Lagebestimmung eine Vorstellung entstehen, die über das Reƀexartige hinausführt? Oder noch einmal anders gefragt: Verschwimmt das amerikanische Thema nicht in einer nationalen Leidensrhetorik, die der Neuen Welt zwar den Part der Bedrohung belässt, in ihr jedoch keinen Gegenstand von positiver, empirisch konkretisierbarer Erkenntnis sehen kann? Tatsächlich macht sich Heiden das Moment des deutschen Kriegs zu Nutze, um zu einer ausführlichen Landeskunde des vierten Kontinents vorzustoßen. Die Konƀiktkonstellation vermittelt letztlich den Initialimpuls für eine detaillierte Beschreibung der Neuen Welt und ihrer historischen Gegebenheiten. Heiden greift auf die Kategorien des geograſschen Diskurses zurück. Die Geschichte der amerikanischen Welt wird nicht nur genetisch an chronikalischen Ereignisachsen entlang erzählt (ein zentraler Unterschied gegenüber den Nürnberger Historiografen). Ein wichtiges Ordnungskriterium bildet auch das regionale Element. Heiden unterscheidet zwischen einzelnen Teilräumen, deren Entwicklung er dann jeweils gesondert betrachtet. Darüber hinaus enthält die Americanische Urquelle umfassende kartograſsche Beilagen und weist damit ein weiteres charakteristisches Merkmal geograſscher Darstellungen auf. Inhaltlich kristallisieren sich zwei differente Bildtypen heraus: Einerseits handelt es sich um Schlachtenrepräsentationen, genauer: um ausgesprochen detailreiche, zudem aufwendig illuminierte Abbildungen von den Kriegsschauplätzen in Amerika und Europa. Manche Blätter zeigen auch – neben den konkreten topograſschen Zusammenhängen – die strategischen und taktischen Formationen, die dem Ablauf einzelner Feldschlachten zu Grunde lagen. Andererseits dokumentieren die Karten den Raum der Auseinandersetzungen, angefangen bei einer Weltkarte über Kupferstiche mit Darstellungen zu den vier Kontinenten bis hin zu Kartenaus-

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schnitten, die Länder, oder im Fall von Amerika, größere regionale Einheiten vorstellen. Das Thema des amerikanischen Raums erweist sich einmal mehr als Feld für interdisziplinäre Synthesen. Die globalen Interdependenzen, auf deren Entschlüsselung es Heiden so stark ankommt, lassen sich offenbar nur unter einer Doppeloptik erörtern: Historischer und geograſscher Befund – aus diesen beiden Ansätzen entwickeln sich die Interpretationslinien. Freilich ergeben sich für Heiden inhaltliche Schwerpunkte. Bemerkenswert ist die Konzentration auf die wirtschaftsgeograſschen Strukturen. Dabei zeichnet sich der Fokus durch eine bipolare Perspektive aus: Einerseits ist der Blick des Autors kontinental, nämlich auf den amerikanischen Wirtschaftsraum selbst ausgerichtet (wobei der Rohstoffreichtum als Hauptattribut der ökonomischen Verfassung in das Beobachtungszentrum gerückt ist). Andererseits beleuchtet Heiden die Funktion der Neuen Welt für den interkontinentalen Handel. Damit ist ein beziehungsgeschichtlicher Standpunkt gewählt. Es geht um die politischen Auswirkungen des bilateralen Güter- und Warenaustauschs zwischen Amerika und Europa, daneben um deren Bedeutung für den Status der europäischen Kolonialmächte. So ist Heiden von der Tatsache überzeugt, dass die Motive für die epochenprägende Konfrontation zwischen der britischen und französischen Krone letztlich in handelspolitischen Interessendivergenzen zu suchen seien. Daher könne nur die systematische Berücksichtigung wirtschaftsgeschichtlicher Aspekte (als „Geschichte der Handlung“) die entscheidenden Ursachenzusammenhänge zu Tage fördern, während eine ausschließlich militärhistorisch orientierte Darstellungsweise (als „trocken[e] […] Kriegs-Geschichte“) nur die Oberƀächenphänomene andeuten könne. Erst das Einbringen der wirtschaftsgeschichtlichen Komponente kann für Heiden den überraschenden Aufstieg der britischen Monarchie zur Führungsmacht der Alten Welt plausibel erklären, sind es doch vor allem die „Americanischen Producten“, die „das Groß der Englischen Handlung“ ausmachen: „Selbige sind es wodurch Engeland so unermäßlichen Reichthum aus frembden Ländern an sich bringet, und wodurch dessen Macht für den Rest Europens so vorzüglich erscheinet“. Dass in den vitalen ökonomischen Existenzinteressen der Briten der Kern des „Americanischen Krieges“ liege, darauf hebt die Argumentation ab.270 Selbstverständlich war dieser Zugriff in ein speziſsches wissenschaftliches Theoriegefüge eingebettet. Hinsichtlich seines konzeptionellen Proſls erweist sich Heiden als dezidierter Anhänger der im 18. Jahrhundert aufkommenden „pragmatischen“ Historiograſe: Die geschichtliche Reƀexion sollte aus ihren einseitig philosophischen Bezügen herausgelöst und stärker mit den empirischen Strategien der „beobachtenden“ Wissenschaften verbunden werden. Jenseits einer bloß „Theoretische[n] Gelehrsamkeit“ wollte der Publizist 270 Alle Zitate Heiden, Urquelle, 340-348.

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daher auch die lebensweltlichen Gesichtspunkte, die politischen Problemvirulenzen der historischen Erkenntnis herausarbeiten. Explizit knüpfte Heiden hier an Johann Heinrich Gottlob Justi an, weil dieser „der erste“ gewesen sei, „welcher die Käntnüß der Handlung, für einen Theil der Gelehrsamkeit zu würdigen, weißlich eingesehen […]“ habe.271 Die Americanische Urquelle ist ein typisches Produkt der frühneuzeitlichen Kameralistik, freilich erweitert um charakteristische universale Ansätze. Indem Heiden die Beziehungen zwischen Alter und Neuer Welt in den Blick nahm, öffnete er die Nationalökonomie im engeren Sinn zu einer globalen Staats- und Wirtschaftstheorie von speziſsch transatlantischer Kontur. Euro-amerikanische Parallelwelten Selbstverständlich hatten diese theoretischen Grundvoraussetzungen weitreichende Folgen für Heidens raumhistorisches Begriffsverständnis. Vor allem der Gedanke der europäisch-amerikanischen Atlantizität führte zu einer radikalen Regionalisierung der geograſschen Perspektiven: Unter Amerika verstand Heiden in erster Linie die europäischen Kolonialgebiete am Atlantik; vor allem Frankokanada mit Akadien. Diese Landschaft war für den Publizisten die „wahre Quelle“ der „Zwistigkeiten“, in „welche unser deutsches Vatterland verwickelt“ worden sei.272 In systematischer Reihenfolge handelt die Beschreibung dann die einzelnen englischen Kolonien an der Ostküste ab, von Neuengland im Norden bis Florida im Süden.273 Die kartograſschen Darstellungen von Nordamerika bilden – außer den bereits genannten Territorien – auch die nördlichen Ränder des Golfs von Mexiko und die östlichen Teile der Karibik ab.274 Vollständig ausgeblendet ist das spanische Amerika; nicht einmal Mexiko oder die paziſsche Seite (Kalifornien) werden berücksichtigt. In Text und Bild werden letztlich nur jene Räume vorgestellt, die als Operationsgebiete der beiden Hauptkontrahenten Frankreich und England eine zen271 Heiden, Urquelle, 8. Heiden bezieht sich expressis verbis auf die Chimäre des Gleichgewichts in Europa (1758) und die Chimäre des Gleichgewichts der Handlungen und der Schiffahrt (1759) von Justi. Allgemein zu Justi vgl. Burgdorf, Justi; Dittrich, Kameralisten, 103-109; Dreitzel, Beitrag, 161-164. 272 Heiden, Urquelle, 17. 273 Vgl. Heiden, Urquelle, 19-22 (Neuengland), 22-24 (New York, New Jersey), 24f. (Pennsylvania), 25-27 (Virginia), 27f. (Maryland), 28-33 (Carolina), 33-36 (Georgia), 36 (Florida). 274 Vgl. die in einem eigenen Anhang abgedruckten Amerika-Karten, die zum großen Teil von dem Augsburger Kartografen Georg Christoph Kilian hergestellt wurden: Nrr. 5 (Nord- und Südamerika), 6 (Nordamerika), 8 (Golf von Mexiko), 9 (Neufrankreich), 10 (Plan der Schlacht am Ohio, 9. Juli 1755), 13 (Karibik), 18 (St.-Lorenz-Strom von der Mündung bis Quebec), 20 (St.-Lorenz-Strom von Quebec bis an den Ontario), 43 (Stadt Quebec), 55 (Florida).

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trale militärische Rolle in den Auseinandersetzungen ab 1756 gespielt haben. Im Fall von Louisiana beruft sich der Publizist sogar ganz offen auf dieses geopolitische Argument: Alle geograſschen Zusammenhänge außerhalb des Kriegsschauplatzes seien irrelevant. Daher könnten sie ausgeschlossen werden.275 Es kommt also wieder jene Tendenz zum Vorschein, die für das vorliegende Textensemble insgesamt, insbesondere jedoch für das protestantischreichsstädtische Wissensmilieu immer wieder festzustellen ist: Die Nordamerikanisierung der Wahrnehmung tritt überdeutlich hervor. Mit ihr ist – gleichsam systemkonform – eine Fokussierung auf Angloamerika verbunden. Bei Heiden vertieft sich diese Auffassung noch einmal. Die Entwicklung treibt in seiner Schrift sogar auf einen paradigmatischen Wendepunkt zu. Denn Heiden führt die Synonymisierung von Nord- und Gesamtamerika am konsequentesten durch. Was sich in der Nürnberger Chronistik eher unter der Hand andeutet, wird in der Augsburger Geschichtsschreibung zu breit reƀektierter Gewissheit: Mit dem Krieg von 1756 geraten die tradierten Ordnungsmodelle der globalen Geopolitik ins Wanken. So wie sich in Europa das raumpolitische „Systema“ verschiebt, so verändern sich auch auf dem amerikanischen Kontinent die Vorzeichen – mit der Folge, dass hier die überlieferten geopolitischen Perzeptionen einer kritischen Überprüfung unterzogen werden müssen.276 Für Heiden markiert der Beginn des Siebenjährigen Kriegs den Aufstieg Nordamerikas zur ersten Repräsentationsgröße der Neuen Welt. Im historischen Katalysator des britisch-französischen Kolonialkonƀikts um Akadien schält sich gewissermaßen die neue, weltpolitisch relevante Rolle der Ostküste heraus. Mit der programmatischen Nordamerikanisierung der räumlichen Denkhorizonte verbindet sich eine inhaltliche Neuorientierung. Dem kameralwissenschaftlichen Interpretationsansatz entsprechend rücken die wirtschaftlichen Kontexte in den Vordergrund: Welche Produkte die Briten aus ihren nordamerikanischen Kolonien zum Zweck der Rohstoffveredlung beziehen, wie sich die Währungsverhältnisse darstellen, von welchen naturräumlichen Gegebenheiten aus die ökonomische Erschließung der Kolonien auszugehen hatte – diese Probleme ſnden breite Beachtung. Dabei begnügt sich Heiden – im Unterschied zur Landeskunde konventionellen Zuschnitts – nicht mit der lehrbuchartigen Aufzählung einzelner Produkte oder Pƀanzensorten. Vielmehr bringt er die Befunde in einen analytischen Zusammenhang mit dem Kriegsgeschehen. Die statistische Bestandsaufnahme soll die Stärke der britischen Kolonialwirtschaft illustrieren und damit eine wesentliche Ursache für die anglofranzösischen Animositäten erklären. Dass etwa die Franzosen durch ihren hohen Tabakkonsum erheblich zum Aufschwung von Virginia und Ma275 Vgl. Heiden, Urquelle, 36f. 276 Vgl. Heiden, Urquelle, 79.

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ryland und insofern zum Erfolg ihres schärfsten Konkurrenten und späteren Kriegsgegners beigetragen haben – mit dieser ironischen Wendung der Geschichte versucht Heiden die Bedeutung des ökonomischen Faktors für den Konƀiktausbruch plastisch hervorzuheben. Darüber hinaus soll die strategische Rolle der einzelnen Kolonien im Machtsystem der europäischen Übersee-Expansion deutlich werden. Dass sich die ursprünglich von ökonomischen Zielsetzungen geleitete Besiedlung der Ostküste rasch mit handfesten politischen Absichten verbunden hat und diese bald darauf von den imperialen Machtaspirationen des frühmodernen Staats überwältigt wurden – diese Entwicklung sieht Heiden in Georgia beispielhaft verwirklicht: Trotz ihres wirtschaftlich insgesamt bedrückenden Zustands hielten die Engländer an der dortigen Kolonie fest, weil sie der britischen Krone „gleichsam zur Vormauer gegen die Spanier von Florida, und gegen die etwanige Unternehmungen derer Franzosen von Louisiana dienet“277. Mit der Aufwertung der Kriegsökonomie verlieren andere charakteristische Interessenschwerpunkte des historiograſschen Diskurses an Geltung. Diese Wahrnehmungsverlagerungen zeigen sich deutlich im reichsstädtischen Binnenvergleich, so vor allem an der pietistischen Historikergruppe um Hecking, dem jüngeren Urlsperger und dem Ulmer Pfarrer Kleinknecht. Während diese Autoren auf eine heilsgeschichtliche Verortung des amerikanischen Raums zielen, argumentiert Heiden aus einer rein innerweltlichen Sichtweise heraus. Man könnte auch sagen: In seinem Amerika-Bild brechen die säkularen Tendenzen eines ausschließlich von politisch-ökonomischen Kriterien bestimmten Denkens durch. Der Publizist verzichtet nämlich weithin auf die kirchen- und missionsgeschichtliche Kategorisierung der Neuen Welt. Weder der deutsche Reformprotestantismus in Eben-Ezer oder Pennsylvania noch die indigenen Kulte sind eine nähere Betrachtung wert. Dass er – im Rahmen der Gründungsgeschichte von Neuengland – die Pilgerväter („Non-Conformisten“) erwähnt278, widerspricht diesem Befund nicht, sondern ist deren unbezweifelbarer Bedeutung für den europäischen Siedlungsbeginn in diesem Teil von Amerika geschuldet. Wenn die religiösen Umstände der Neuen Welt doch zur Sprache kommen, dann geschieht dies in dezidiert kritischem Tenor. Ein Beispiel dafür bietet der Umgang Heidens mit den Quäkern, einer Glaubensgemeinschaft, die sich unter den süddeutschen Amerika-Autoren – unabhängig von ihrem jeweiligen konfessionellen Standort und quer durch alle Textformationen – nahezu ungeteilt positiver Resonanz erfreuen kann. Das Attribut der Friedfertigkeit, also das Schlüsselmoment ihres guten Rufs, wandelt sich bei Heiden zu einem Menetekel von Schwäche und Illoyalität. Ausführlich verweist er auf die bitteren Konsequenzen, die den Kolonisten während des French and 277 Heiden, Urquelle, 36. 278 Heiden, Urquelle, 20.

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Indian War aus der Kriegsdienstverweigerung der Quäker erwachsen sind: Die hohen Opferzahlen unter den Europäern lastet er dem Paziſsmus dieser Religionsgemeinschaft an, die mit ihrer ostentativ zur Schau getragenen Wehrlosigkeit die Kriegsbereitschaft der Franzosen und der mit ihnen verbündeten Indianer geradezu herausgefordert habe.279 Auch sonst ordnete sich Heidens Darstellung dem politisch-ökonomisch grundierten Interessenprimat unter: Eine Ethnograſe der Urbevölkerung fehlt ebenso wie die präkoloniale Vorgeschichte der Neuen Welt. Die Indigenen treten allenfalls schemenhaft in Erscheinung, entweder als zivilisatorisch längst überholte Repräsentanten einer fernen Vergangenheit oder aber als akute Bedrohung der europäisch-kolonialen Gegenwart. Bezeichnend für die Bewertung der Verhältnisse ist der Sprachgebrauch in der Americanischen Urquelle: Die Einheimischen ſgurieren ausschließlich unter dem pejorativen Begriff der „Wilden“.280 In dessen Verwendung verdichten sich gleichsam die kategorialen Bedingungen des kameralwissenschaftlichen Zugriffs. Als zivilisationsnah und damit im weiteren politischen Sinn als partizipationsfähig (am kulturellen Gefüge globaler Austauschvorgänge) kann Heiden nur das erkennen, was sich durch einen bestimmten Grad an Institutionalität auszeichnet, so etwa die staatlichen und sozialen Einrichtungen der Europäer in den britischen und französischen Kolonien. Zwar folgt deren ausführliche Beschreibung den Diskursstandards der zeitgenössischen Landeskunde; noch stärker ist sie jedoch auf das methodische Grundanliegen der Schrift bezogen: Hinter den von den Europäern begründeten Infrastrukturen stehen messbare, auf ihre Entwicklungsfähigkeit hin überprüfbare Werte und Potenzen, während das indigene Element für Heiden den Einbruch des Chaotischen markiert und sich daher differenzierter kategorialer Erfassung entzieht. Auf der Grundspannung zwischen dem „Gesitteten“ einerseits und dem „Wilden“ andererseits beruht die Darstellung. Konsequent listet sie daher die einschlägigen kulturellen Attribute, man könnte auch sagen: die Errungenschaften der europäischen Zivilisation in der Neuen Welt auf: die Urbanität von Quebec (nicht ohne Grund zeigt die einzige Stadtvedute im Bilder- und Kartenteil der Americanischen Urquelle eine Ansicht der französischen Kolonialmetropole), die Universität und Druckerei von Cambridge in Massachusetts, die Porzellanmanufakturen auf Long Island, die vorbildliche „Regiments-Verfassung“ von 279 Vgl. Heiden, Urquelle, 82f.: „In Pensilvanien wolten die Quäker, Mährische Brüder, Herrenhuther, oder sogenannte schwärmerische Creuz-Luft-Vögelein, durchaus weder Geld hergeben, noch einige Hand zu ihrer Vertheidigung anlegen, damit sie vermöge ihrem scrupuleusen Grund-Säzen hierdurch keinen Grund zum Blutvergiessen legten; Indessen kehrten sich die Französischen Wilden nicht an das einfältige Wesen dieser verkehrten Schaafe, sondern sie rotteten selbige, wo sie hinkamen, mit Stumpf und Stiel aus.“ Zur Ablehnung militärischer Gewalt durch die Quäker (Peace Testimony) vgl. Wellenreuther, Glaube, 217-269. 280 Für das Indigenen-Bild sei exemplarisch verwiesen auf Heiden, Urquelle, 96f., 98, 321f.

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Pennsylvania, die fragile religiöse Toleranz zwischen Katholiken und Protestanten in Maryland oder die „Bibliotec“ von Charleston in South Carolina.281 Indes mündet diese eindeutig von aufklärerischen Maßstäben inspirierte Bestandsaufnahme in keine Apotheose der englischen Kultur- und Zivilisationsmission ein (wie sie etwa für Imhofs Bilder-Saal prägend ist). Aus sozialer und ökonomischer Perspektive kann der Autor der Americanischen Urquelle nämlich problematische Fehlentwicklungen statuieren: In North Carolina bestehe zwar ein beispielhaftes, weil auf John Locke zurückgehendes „LandRecht“; indes biete dessen Umsetzung in der historischen Praxis vielfältigen Anlass zur Kritik, mehr noch: Unübersehbare Konstruktionsfehler wie die Überhöhung des Gouverneurs zum „unumschränkte[n] Monarch[en]“ ließen dem „gemeinen Mann wenig Freyheit“ und führten nur zu dessen „Sclaverey“ unter dem Regiment einer absolutistisch inſzierten Händler- und Beamtenoligarchie, wie man sie gemeinhin aus Europa kenne.282 So ist in der Bilanz auf ein Paradoxon hinzuweisen: Gewiss gibt der Text – wie wenige süddeutsche Drucke des mittleren 18. Jahrhunderts – den Blick auf den Eigenwert des amerikanischen Kontinents frei. Seine substanzielle Rolle in der Zeitgeschichte ist begrifƀich wie kategorial scharf umrissen. Die Wirkung der Neuen Welt auf das Binnengefüge der Alten tritt klar hervor: Nordamerika ist unbestrittener Hegemon in der internationalen Ordnung der 1760er Jahre. Jedoch sollte die von Heiden so programmatisch verfochtene Nordamerikanisierungsthese nicht den Blick für die andere Seite der Medaille verstellen. Denn im Kern handelt es sich bei Heidens Amerika um ein exklusiv europäisches Terrain. Die aus England und Frankreich importierten Kolonialgesellschaften bestimmen das Szenario. Hier wird eine Konsequenz der von Heiden verwendeten Kriterien greifbar: Der Rekurs auf die kameralistischen Ansätze bzw. deren staatshaltige oder doch stark institutionalitätsorientierte Begrifƀichkeit eröffnet zwar Denkmöglichkeiten in komplexen globalisierungstheoretischen Anordnungen. Diese muss jedoch – aufgrund ihres auffälligen inhaltlichen Reduktionismus – vor der empirischen Fülle der amerikanischen Realität kapitulieren. Heidens Blick auf die Neue Welt bleibt auf die nordamerikanische Ostküste ſxiert, worunter er das natürliche raumpolitische Pendant der Alten Welt versteht. Daher kann man das Weltbild von Heiden auf folgende Gleichung bringen: So wie die politische Struktur in Europa (und speziell in Deutschland) als Produkt der Amerikanisierung erscheint, so stellt sich umgekehrt Amerika als durch und durch europäisches Objekt dar. Der Kontinent ist ein integraler Bestandteil der europäischen Kultur, der – gleichsam als deren Filiation – eingebunden ist in die geopolitischen Texturen der Alten Welt. 281 Vgl. Heiden, Urquelle, 20f. (Harvard), 23 (Porzellanmanufakturen), 24 (Verfassung von Pennsylvania), 27f. (religiöse Toleranz in Maryland), 32 (Bibliothek in Charleston). 282 Heiden, Urquelle, 30.

Kapitel 18: Bayerische Hofhistoriografen

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KAPITEL 18: BAYERISCHE HOFHISTORIOGRAFEN Amerikageschichte und Territorialstaat Wenn man nun von den reichsstädtischen Kommunikationszirkeln in die Intellektuellenmilieus des süddeutschen Territorialstaats wechselt, muss man sich zunächst noch einmal dessen speziſsche Ausgangsbasis vergegenwärtigen. Zu betonen ist etwa die Tatsache, dass das amerikakundliche Wissensmarketing weniger mit den unmittelbaren Bedürfnissen institutioneller Art zu tun hatte. Hinter den amerikageschichtlichen Projekten der höſschen Gelehrteneliten standen keine transatlantisch tätigen Ordens- oder Missionsorganisationen. Institutionalisierte wirtschaftliche Interessen, die etwa in den Reichsstädten das Expertenwissen über die Neue Welt nachhaltig förderten, ſelen ebenfalls als Rezeptionsanreize aus. Keineswegs ist es so, dass dem Territorialstaat des 18. Jahrhunderts die systematische Erhebung von historisch-landeskundlichem Wissen fremd gewesen wäre. Man muss nur an den Bereich der Landesdeskription denken. Diese wurde im Rahmen bürokratischer Maßgaben vorangetrieben. Dabei zielte sie auf Verwertung im Sinn einer höheren staatlichen Zweckverwendung. Gerade für Kurbayern sind solche Versuche vielfach belegt. Indes betrafen diese Ansätze eher die Beschreibung der territorialen Binnenwelt. Deren räumliche Identitäten (Grenzen, Zirkumskriptionen) sollten erfasst und illustriert werden. Herrschaftsintensivierung mit den Instrumentarien von Geograſe und Geschichte – dies stand auf der Agenda der gelehrten Bürokratie. Und da lag – um im bayerischen Umfeld zu bleiben – die Geschichte der territorialen Strukturen von Landshut oder Straubing einfach näher als jene der britischen Kolonien an der amerikanischen Ostküste.283 Dennoch kamen aus dem Umfeld der bayerischen Hofgelehrten beachtliche Beiträge zur historischen Amerikakunde. Diese Expertise machte sich indes andere Wissenskanäle zu Nutze als die sonst zu beobachtenden, nämlich die höſsche Historiograſe.284 Dabei kann man von zwei amerikasensiblen Feldern ausgehen: Das erste Einfallstor war die traditionelle Vermittlungsform der Fürstenerziehung. Ein zweiter Zugang ergab sich aus der allgemeinen Gelehrtenkultur, die für eine literarisch interessierte Öffentlichkeit, für schulische Bildungszusammenhänge Wissen über Amerika produzierte. An diesem zweiten Rezeptionskontext waren Intellektuelle aus der bayerischen Hof- und Landesverwaltung maßgeblich beteiligt. Im ersten Fall hat man es durchaus mit einer ofſziösen Geschichtsvermittlung zu tun. Man kann das Amerika-Bild künftiger Entscheidungsträger (eben der Landesfürsten) re283 Vgl. dazu jetzt besonders mit Blick auf die historische Kartograſe Leidel, Kartographie, 22-24; Schlögl, Staat, 4-14; zuletzt Horst, Manuskriptkarten I, hier besonders 66-80. 284 Zur wittelsbachischen Hofhistoriograſe vgl. Benz, Tradition, 471-524; A. Kraus, Grundzüge, 23f.

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konstruieren. Im zweiten Fall geht es eher um Aussagen zum amerikakundlichen Wissensproſl der kurbayerischen Hofeliten im 18. Jahrhundert. Konkret sei hier auf vier Autoren und deren Werke Bezug genommen. Zu nennen wären zunächst Ehrenfried Ferdinand von Schollberg, der langjährige Erzieher von Kurfürst Karl Albrecht (später Kaiser Karl VII.) sowie der Lütticher Jesuit Theodor Smackers, der ebenfalls zum Präzeptorenkreis von Karl VII. gehörte. Mit Smackers ist noch einmal das weite Feld der jesuitischen AmerikaWahrnehmung angeschnitten. An sich wäre er daher an anderer Stelle besser aufgehoben. Indes soll Smackers hier unter die Hofgelehrten gerechnet werden, vor allem deshalb, weil sein Hauptwerk, die zwischen 1712 und 1724 in 30 Bänden entstandene Historia Universalis, ein Ergebnis seiner Lehrtätigkeit in der kurfürstlichen Familie war. Diese lediglich handschriftlich überlieferte Universalgeschichte zielte unmittelbar auf die Hofsphäre. Das Kompendium fungierte gewissermaßen als Transmissionsriemen der Jesuitengelehrsamkeit in die Praxis der Dynastenerziehung hinein.285 Aus der Analyse der Historia Universalis ergeben sich Vergleichsmöglichkeiten mit den Epitome Historiae Universalis (1715) von Schollberg. Bei dem aus Österreich stammenden, von 1696 bis 1701 als Professor für Geschichte an der Ständischen Akademie in Wien lehrenden Prinzenerzieher handelte es sich um einen programmatischen Verfechter frühaufklärerischer Ideen, womit bereits die große Spannbreite höſscher Amerika-Rezeption in Bayern angedeutet ist.286 Die beiden anderen Repräsentanten des höſschen Milieus – der bayerische Jurist Johann Joseph Pock und der Augsburger Stiftskanoniker Johannes Rudolph Conlin – richteten ihre Bemühungen eher an ein breites Publikum. Ihr gemeinsam verfasstes Werk mit dem allegorischen Titel Güldener Denk-Ring variiert den Typus der chronikalischen Weltgeschichtsschreibung, der auf periodische Fortsetzung angelegt und insofern dem Nürnberger Bilder-Saal an die Seite zu stellen ist. Der Denk-Ring erschien zwischen 1723 und 1752 in 34 Bänden. Mit einem Umfang von durchschnittlich 500 Seiten pro Band stieß er in beachtliche Größenordnungen vor. Er gehört zu den bedeutendsten, gleichwohl völlig unbekannten Produkten der süddeutschen Weltchronistik während der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Das Werk ist ganz auf die in der Forschung immer noch viel zu selten gewürdigte Universalgelehrsamkeit innerhalb des frühneuzeitlichen Territorialstaats bezogen. Dies gilt insbesondere für seinen Initiator Pock, der als Rat am kurbayerischen Hof bzw. als Sekretär für die bayerischen Landstände tätig war. Pocks Denk-Ring war Bestandteil eines weit umfassenderen kompilatorischen Œuvres, das sich sowohl auf juristische, 285 Über Smackers am Münchner Hof vgl. Dickerhof, Land, 25; Spindler, Primordia, 14-18. 286 Zu Schollberg als Prinzenerzieher von Karl Albrecht und seinen in diesem Kontext entstandenen Erziehungstraktaten, die allerdings nur in handschriftlicher Form tradiert wurden (es handelt sich insgesamt um vier Werke historischen, geograſschen, juristischen und staatswissenschaftlichen Inhalts) vgl. F. Schmidt, Wittelsbacher, CV, 423; Benz, Tradition, 401f.; Hartmann, Karl Albrecht, 24-29; Winkelbauer, Fürst, 202-207.

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historische und geograſsche Gegenstandsbereiche erstreckte und so etwas wie eine weltbürgerliche Enzyklopädik vertrat. Dessen Bildungsprogrammatik wandte sich an den gelehrten Beamten im Staatsdienst. Neben dem Denk-Ring wären noch Pocks Politisch Catholischer Passagier und der Ehren-Crantz der Kauffmannschafft zu nennen. Beide Texte geben ebenfalls amerikakundliche Informationen weiter, folgen dabei jedoch anderen Gattungsmodellen (der erste dem apodemischen, der zweite dem nationalökonomischen Paradigma). Sie seien hier nur am Rande berücksichtigt.287 Die Vorbemerkungen müssen neben dem institutionellen und biographischen setting für höſsches Amerika-Wissen auch noch die konzeptionellen Rahmenbedingungen näher beleuchten. Grundsätzlich fügt sich das hier zur Diskussion stehende Werkensemble in das universalhistorische Genus ein: Die Ereignisse werden in zeitlich aufsteigender Anordnung präsentiert. Der Erzählstrang setzt mit der Schöpfung ein, er läuft in der Gegenwart aus. Ihr entspricht die periodische Einteilung in die vier Universalmonarchien der Assyrer, Perser, Griechen und Römer. Lediglich Schollberg weicht von diesem Usus ab und unterscheidet – dem Modell von Jean Bodin entsprechend – zwischen Kirchen- und Profangeschichte (Historia sacra, Historia profana). Die Historia sacra beginnt mit der Genesis, leitet dann zur Kirchengründung durch Jesus Christus über und führt schließlich über die Apostelgeschichte (Apostolorum acta) in die Papstbiograſk hinein. Die „Häresien“, die „Kirchenverfolgungen“ sowie die „Konzilien“ bilden weitere Abschnitte. Schollberg hält damit für die katholische Kirchengeschichte den seit Cesare Baronio gültigen Standard ein.288 Im profangeschichtlichen Bereich behandelt er an erster Stelle die Monarchien, dann die Republiken, schließlich in Einzelbiograſen die Kaiser, Könige und Dynastien des Westens, um zuletzt auf die Kriegs-, Wissenschafts- und Stadtgeschichte auszugreifen (Tabelle 6). Smackers hingegen verknüpft – nach dem Vorbild seines Ordenskollegen Giovanni Domenico Musanti – die traditionelle Universal- mit der modernen Staatengeschichte. Einzelne Reichsstände, darunter das Haus Wittelsbach, aber auch die verschiedenen europäischen Nationen, werden im Rahmen der vierten römischen Universalmonarchie beschrieben (Tabelle 7).289 287 Zu Pocks Wissenschaftsproſl vgl. Benz, Tradition, 518f.; Blessing, Lebenswelten, 47f.; Hammerstein, Jus, 303f. (Anm. 38). Sein Werkverzeichnis bei Jöcher, Gelehrten-Lexikon III, 1640. Zum Modell der politischen Enzyklopädismus in der frühneuzeitlichen Elitenbildung vgl. Maier, Staats- und Verwaltungslehre, 180-189; Weber, Prudentia gubernatoria, 10-42. Eine ausführlichere Studie über die amerikakundlichen Bezüge im Gesamtwerk des gelehrten Juristen ist von mir in Planung. 288 Zu diesen Gliederungspraktiken im Hinblick auf den historiograſschen Zeitstandard vgl. Weber, Daniel, 212-219; Zedelmaier, Marginalisierung. Speziell zur Bedeutung von Baronius für die katholische Kirchengeschichtsschreibung im Reich vgl. Benz, Tradition, 38-48; Jedin, Caesar Baronius, 33-48; Völkel, Geschichtsschreibung, 219f. 289 Vgl. UBM 2° Cod.ms. 338 [Smackers, HISTORIAE UNIVERSALIS I], Ingressus, 8; UBM 2° Cod.ms. 343 [Ders., HISTORIAE UNIVERSALIS IX]. Vgl. ganz ähnlich

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Teil 4: Historiograſsche Amerika-Deutungen

Auf den historiograſschen Ort der Amerika-Wahrnehmung bezogen heißt das: Die Neue Welt ist in das Kontinuitätsdenken eingebettet. Dass mit den amerikanischen Entdeckungen ein Epochenbruch verbunden sein könnte, dafür wird man hier keinen Beleg ſnden. Was sich verändert, ist die Perspektive auf die Ereignisse: Deren Erkenntnis kann und muss sich ständig erweitern, und zwar in der Form, dass – in einem Prozess der kontinuierlichen Enträtselung – neue Wissensbestände auftauchen und diese in ein immer breiter ausgefülltes Gesamtbild zu integrieren sind. Der Erkenntnisfortschritt orientiert sich am Ordnungsrahmen der einen, unteilbaren Heils-, Welt- und Menschheitshistorie. Dabei verstanden sich die kurbayerischen Autoren als Repräsentanten einer programmatisch katholischen Historiograſe. Sie markierten damit einen entscheidenden Unterschied gegenüber der protestantisch-reichsstädtischen Universalchronistik. Das zeigt sich etwa an der Gliederungssystematik. Diese ist ganz auf die Papstkirche zentriert: Die Geschichte der katholischen Kirche besetzt in der Kapitelgliederung häuſg die erste, hierarchisch höchste Stelle (Tabelle 6, 7 und 8). Die Perspektiven entwickeln sich aus ihrem römischen Gravitationszentrum heraus. Die Geschichte der vier Weltreiche und damit die Geschichte Amerikas ſndet ihren Fluchtpunkt in der historia sacra der ecclesia Romana. Um sie herum legt sich schichtenartig die Historie der einzelnen Kontinente, Völker, Nationen und Staaten. Die globale Mission der Kirche verkörpert ein Ordnungsmoment, das dem Universalitätsprinzip der Welthistoriograſe entgegenkommt.290 Selbst der Frühaufklärer Schollberg weicht nicht von dieser katholischen Option ab. Zu fragen ist, wie sich dieses Prinzip der dezidierten Katholizität auf die amerikakundlichen Perspektiven ausgewirkt hat: Gelangten die kurbayerischen Protagonisten zu anderen Einsichten als ihre protestantischen Kollegen aus den Reichsstädten? Spanisches oder englisches Modell? Bei Schollberg und Smackers liegt der Beobachtungsschwerpunkt auf dem 16. und 17. Jahrhundert. Ihre Sicht ist von den Zusammenhängen der europäischen Übersee-Expansion bestimmt, während jüngere Erfahrungsschichten von vornherein nicht zur Geltung kommen können: Die Kriegsereignisse des French and Indian War bleiben ebenso wie die Revolutionsvorgänge außerhalb des Berichtshorizonts (beide Werke enden mit den Jahren 1715 bzw. 1723). Dem fürstlichen Auge von Karl Albrecht trat Amerika vor allem als kolonialer Raum entgegen, noch frei von jenen Episoden, die das Bild der schon Musanti, FAX CHRONOLOGICA, Vorrede, [2r]-[7r]; vgl. ferner Sommervogel/ De Backer/De Backer, Bibliothèque VII, 767; Dickerhof, Land, 85-95. 290 Zu dieser Ordnungsvorstellung in der Jesuitenhistoriograſe vgl. Dickerhof, Land, 159164.

Kapitel 18: Bayerische Hofhistoriografen

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Neuen Welt am Ende des 18. Jahrhunderts so stark überformt haben (Amerika als Hort der Humanität, als Quelle transkontinentaler Konƀiktkonstellationen). Es ist noch auf eine weitere Besonderheit hinzuweisen: Schollberg und Smackers verzichteten ganz auf nationale Untertöne. Ein Solidarisierungsakt mit dem Amerika der deutschen Auswanderer ist nicht zu erkennen. Patriotische Reƀexe ſndet man allenfalls bei dem aus Lüttich stammenden Jesuiten, der seine Herkunft nur schwer verbergen kann. Smackers kommentiert etwa die ökonomischen Expansionsbewegungen der holländischen Seestädte mit unverhohlener Sympathie. Breit entfaltet er die Fortschritte der niederländischen Koloniegründung im Amerika des 17. Jahrhunderts. In diesem Zusammenhang taucht das nordamerikanische Nova Hollandia mit der Hauptstadt Novum Amstelodamum (Neu-Amsterdam) auf. Ein weiteres Teilkapitel ist den niederländischen Handelskompanien gewidmet: Sie erscheinen als Instrumente politischer Machtsteigerung und kolonialer Wirtschaftsförderung. Dem Fürstensohn Karl Albrecht werden sie als Lehrbeispiel für staatliche Handlungsmöglichkeiten im Zeitalter des aufkommenden Merkantilismus vorgestellt.291 Es ist überhaupt auffällig, dass die amerikanische Thematik vorwiegend im Rahmen der Historia profana verankert ist (Tabelle 6 und 7), während der kirchengeschichtliche Kontext – anders als es zu erwarten wäre – keine größere Rolle spielt. Hier kommen die Informationsbedürfnisse des landesfürstlich-höſschen Rezeptionsumfelds zum Tragen. Die staatlichen Qualitäten bzw. die außenpolitischen Proſle der Neuen Welt hatten für die frühneuzeitliche Regentenerziehung eine weitaus größere Bedeutung als die kirchengeschichtlichen Belange292. Diesen institutionell vorgegebenen Wissensprioritäten konnte sich vor allem Smackers nicht entziehen. Der religionskundliche Gehalt seiner Universalhistorie beschränkt sich auf Basiskenntnisse über die katholische Mission. Er kann sich daher kaum an seinen jesuitischen Kollegen (vor allem Scherer und Stöcklein) messen lassen. Neben diesen Gemeinsamkeiten – der Konzentration auf das koloniale Amerika, der ausgeprägt vornationalen Perspektive und der am Informationszweck des weltlichen Fürstenstaats orientierten Interessendisposition – lassen sich zwischen Schollberg und Smackers aber auch klare Trennlinien ausmachen. Diese Unterschiede betreffen drei Punkte: die Frage nach der Urheberschaft des Christentums in der Neuen Welt, die Bewertung des Entdeckungsgeschehens und den geopolitischen Zuschnitt des amerikanischen Raums.

291 Vgl. UBM 2° Cod.ms. 347 [Smackers, HISTORIAE UNIVERSALIS XVII], 153 (niederländische Niederlassungen in Brasilien), 182 (Neuholland, Neu-Amsterdam), 186 (niederländische Handelsgesellschaften). 292 Vgl. zu den Proſlen frühneuzeitlicher Fürstenerziehung Boehm, Konservativismus und Modernität.

298

Teil 4: Historiograſsche Amerika-Deutungen

Tabelle 6: Schollberg, Epitome Historiae Universalis,Pars III (1715). Amerikabezüge (graue Flächen)

Sectio IV: Miscellanea Profana

Sectio III: Personae Clariores

Sectio II: De Regnis aliis praeter Imperia

Sectio I: Imperatores Occidentis

Sectio VII: Miscellanea Sacra

Sectio VI: Personae Sanctitate aut Doctrina eximiae

Sectio V: Instituta et Ritus

Sectio IV: Concilia

Capvt II Historia Profana

Sectio III: Persecutiones

Sectio II: Haeretici

Saeculum

Sectio I: Pontifices

Capvt I Historia Sacra

XV (1400-1500)

Castellae Reges

In America

XVI (1500-1600)

Angliae Reges

In America

XVII (1600-1700)

Angliae Reges

extra Europam

Zum ersten Problem, der historiograſschen Verortung der Missionsvorgänge: Für Smackers wie Schollberg bildet die Christianisierung – hier selbstverständlich als katholische Missionsbewegung verstanden – ein Kernereignis. Sie ist unmittelbar mit den Entdeckungsvorgängen verknüpft. Sie lässt die Neue Welt überhaupt erst als geschichtliche Größe hervortreten. Freilich fallen die Meinungen über die historische Urheberschaft an diesem Prozess weit auseinander. Der Lütticher Jesuit weist seinem Orden eine zentrale Bedeutung zu. Seine knappen Ausführungen zur amerikanischen Historia ecclesiastica deuten die Christianisierung aus vorrangig ordensgeschichtlicher Perspektive. Sie begreifen die Missionsbewegung als Gründungswelle von Jesuitenkollegien.293 Mit dieser Argumentation – sie betont die kulturraumordnende Leistung – hebt Smackers die zivilisatorische Funktion der Societas Jesu hervor. Zugleich arbeitet er den wissenschaftlichen Beitrag seines Ordens heraus, wenn auch nur indirekt mit den Mitteln der bio-bibliograſschen Bestandsaufnahme. So enthält die Historia Universalis ein nahezu vollständiges Verzeichnis der zeitgenössischen Missionspublizistik aus den amerikanischen Niederlassungen der Gemeinschaft. Genannt werden insgesamt 28 Autoren und Texte, darunter Andreas Perez de Ribas, Cornelius Hazart, Jérôme Lallemant oder Jean de Brebeuf, aber auch die Litterae Annuae, das zentrale Kommunikationsorgan der Societas Jesu. Sicherlich sollte diese bibliograſsche Aufstellung in erster Linie Referenzzwecke erfüllen.294 Dennoch ist da293 Vgl. UBM 2° Cod.ms. 340 [Smackers, HISTORIAE UNIVERSALIS V], 132. 294 Vgl. UBM 2° Cod.ms. 340 [Smackers, HISTORIAE UNIVERSALIS VI], 454-521.

Kapitel 18: Bayerische Hofhistoriografen

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von auszugehen, dass Smackers mit seiner Literaturdokumentation die intellektuelle Erschließungsleistung der Jesuiten bzw. deren Anteil an der wissenschaftlichen Beschreibung der Neuen Welt in das rechte Licht rücken wollte. Man kann dieses Vorgehen als Reƀex auf den bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts weit verbreiteten und im zeitgenössischen kurbayerischen Umfeld virulenten Antijesuitismus sehen. Mit Schollberg war sogar im engsten Kollegenkreis des Lütticher Ordensklerikers ein besonders scharfzüngiger Vertreter der zeitgenössischen Jesuitenkritik vertreten.295 Dass Smackers allen Grund hatte, in Schollberg einen entschiedenen geschichtspolitischen Opponenten zu vermuten, zeigt sich im Textvergleich. In den Epitome Historiae Universalis übergeht der österreichische Autor die missionsgeschichtliche Rolle der Societas Jesu mit demonstrativem Schweigen. Bei ihm beherrschen hingegen die Dominikaner das Feld. Deren Erfolge als transkontinentale Vermittler christlicher Glaubensüberzeugungen, und noch wichtiger: als Architekten einer eigenständigen amerikanischen Kirchenhierarchie, werden ausführlich dargestellt.296 Freilich schlägt Schollberg – und dies markiert einen weiteren Unterschied zu Smackers – diese Zusammenhänge der Allgemeingeschichte zu. Träger der Christianisierung seien die Kronen von Spanien und Portugal. Kategorial werden die Missionsbewegungen als Teil der Historia profana, nämlich als Faktor der spanischen und portugiesischen Geschichte, erfasst.297 Sie sind als Ergebnisse staatlicher Lenkung und Steuerung klassiſziert, während sich die Mission für Smackers als eine Leistung kirchlicher Selbstorganisation darstellt, die zwar von den Spaniern gestützt, im Kern jedoch von Rom aus inspiriert und strategisch durch die Jesuiten vorangetrieben wurde. In diesen gegensätzlichen Ordnungsdispositionen bilden sich die kirchenpolitischen Wertungsdualismen des innerkatholischen Diskurses ab. Die religiösen Verhältnisse auf dem amerikanischen Kontinent werden zum Konƀiktfeld zwischen universalkirchlich-römischer (Smackers) und dezidiert staatskirchlicher Auffassung (Schollberg).298 295 Dieses Konƀiktverhältnis entlud sich in einer diffamierenden Polemik. 1706 hatte sich Schollberg in der anonym erschienenen Europäischen ASTRAEA mit dem Einƀuss der „Jesuiter-Zunfft“ („Flöh’ und Läuse“) auf die europäischen Höfe auseinandergesetzt. Zu den Zitaten ebd., 10. Vgl. zuletzt zum Phänomen des Antijesuitismus Niemetz, Bildpublizistik, 152-161. 296 BSB Clm 9421 [Schollberg, EPITOME HISTORIAE VNIVERSALIS], 306. 297 Vgl. BSB Clm 9421 [Schollberg, EPITOME HISTORIAE VNIVERSALIS], 236; vgl. auch ebd., 253: „Indias occid[e]nta[le]s per Christophorum Columbum, et Americum Vesputium detectas subdidit tam sibi, quàm Christo“, ferner 289: „1500 […] Sub idem tempus Novi Orbis Insulae per Hispanos Ascetas catechizati discussâ errorum crassissimorum caligine verum Numen agnoscere coeperunt: idolis ultra 100000. confractis, et Sacrâ Christi Salvatoris efſgie substituta […].“ Vgl. ähnlich der geograſsche Erziehungstraktat des Prinzenerziehers über Amerika (BSB Cgm 1288 [Schollberg, GEOGRAPHische Fragen], 691-716). 298 Zu den staatskirchlichen Tendenzen von Schollberg vgl. Benz, Tradition, 401.

300

Teil 4: Historiograſsche Amerika-Deutungen

Zur zweiten Frage, der Einschätzung des Entdeckungsgeschehens: Wie bereits festgestellt, verstehen Smackers und Schollberg den neuen Kontinent als integrales Element der europäischen Kolonialgeschichte. Besonders deutlich wird dies bei dem Jesuiten, der seinen historischen Ausführungen in konsequenter Anwendung landeskundlicher Deskriptionsmodelle eine Beschreibung des jeweiligen „Status geographicus“ mit Informationen über den Besitzstand der niederländischen, spanischen, französischen und britischen Kolonialmächte in Amerika angefügt hat (Tabelle 7). Dennoch zeigen sich speziſsche Akzentuierungen. Insbesondere in der Bewertung der Entdeckungen treten unterschiedliche Positionen hervor: Smackers rückt die Rolle der Kolumbus-Fahrt stärker in den Vordergrund. Das Jahr 1492 tritt als Schlüsseldatum hervor, das die historische Entwicklung des Imperium Romanum – im Sinn der danielischen Geschichtsprophetie – auf einen neuen Höhepunkt zuführt. Der Jesuit ordnet dieses Ereignis daher der Gliederungsrubrik der vier Weltreiche zu.299 Die Entdeckung wird als Element von universalhistorischer Bedeutung identiſziert. Darüber hinaus erscheint sie als Moment der überstaatlichen Menschheitsgeschichte. Schollberg hingegen betont den nationalspanischen, oder genauer: den kastilischen Charakter der Vorgänge (Tabelle 6). Die „Castellae Reges“, allen voran König Ferdinand V., sind als maßgebliche Faktoren herausgestellt. Zugleich bringt er den Begriff des „Amerikanischen“ als eigene Gliederungsgröße ins Spiel („In America“). Freilich sieht er dessen Wirksamkeit nur für das 15.und 16. Jahrhundert gegeben, für das 17. Jahrhundert gibt er ihn wieder auf. Er spricht jetzt nur noch allgemein von den Verhältnissen „in regionibus extra Europam“. Unter dieser Kategorie subsummiert er die französische Inbesitznahme von Kanada (1603) und die Auseinandersetzungen zwischen Portugal und den nördlichen Niederlanden um die brasilianische Seefestung Fernambuco (1630).300 Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass hier zwei unterschiedliche Amerika-Konzeptionen greifbar werden: einerseits das im strengen Sinn universalistische Modell der Jesuiten, das die amerikanische Entdeckung gleichsam als Allgemeingut für die Menschheitsgeschichte reklamiert, andererseits das stärker kontinentalhistorisch ausgerichtete Konzept, das in Amerika – zumindest für die frühe Phase – eine eigenständige Größe erkennen kann. Auch in der Frage der geopolitischen Raumzuordnung, dem dritten hier anzusprechenden Problemfeld, treten unterschiedliche Auffassungen zu Tage. In der Werkgliederung zeichnen sich eindeutige Präferenzen ab (Tabelle 6 und 7): Die Historia Universalis von Smackers geht von einem historischen Vorrang des spanischen Teils aus, zumindest für die ersten beiden Jahrhunderte nach der Entdeckung. Hingegen taucht der angloamerikanische Part im 299 Vgl. UBM 2° Cod.ms. 338 [Smackers, HISTORIAE UNIVERSALIS II], 553 (Entdekkung Amerikas), 569 (Eroberung von Mexiko und Peru), 588 (Brasilien als portugiesische Kolonie). 300 Vgl. BSB Clm 9421 [Schollberg, EPITOME HISTORIAE VNIVERSALIS], 419.

Kapitel 18: Bayerische Hofhistoriografen

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15. und 16. Jahrhundert überhaupt nicht auf (Tabelle 7). Die Fixierung des Jesuiten auf Lateinamerika zeigt sich noch an anderer Stelle: Er handelt die relativ umfassende Landeskunde der Neuen Welt mit Bemerkungen zur Siedlungsgeograſe, zu den religiösen Verhältnissen und ökonomischen Bedingungen im Teilband über Spanien ab.301 Erst mit der Gründung von Virginia durch König Jakob I., also mit dem Beginn des 17. Jahrhundert, kristallisiert sich für Smackers die transatlantische Rolle der Engländer schärfer heraus: Mit dem Übergang der englischen Krone an die katholische Stirps Stuarta gewänne Britannien an weltpolitischem Gewicht. Die Inselnation löse Spanien als koloniale Leitmacht ab – ein Vorgang, dem nun auch das historiograſsche Ordnungsraster Rechnung trägt. Ab 1600 ſrmieren die amerikanischen Angelegenheiten vor allem unter dem Titel der „englischen Geschichte“. Dennoch hält Smackers die übernationalen Aspekte der amerikanischen Entwicklung weiterhin für bedeutend. Für das 17. Jahrhundert verteilt er die amerikanischen Bezüge auf insgesamt drei historische Raumeinheiten: Neben der nordeuropäisch-englischen bildet die Geschichte der vier Weltreiche und der Niederlande einen Referenzrahmen. Geograſsch partizipieren sogar vier Staaten am amerikanischen Phänomen: neben England und den Generalstaaten auch noch Spanien mit Mexiko und Peru sowie Frankreich mit Kanada (Tabelle 7). Schollberg präsentiert den angloamerikanischen Gegenentwurf: Bei ihm bestimmen die Spanier lediglich das Entdeckungssäkulum. Der Wechsel vom spanischen zum englischen Amerika setzt bereits wesentlich früher ein; der entscheidende realgeschichtliche Bruch liegt für den Frühaufklärer im 16. Jahrhundert. Schollberg sieht ihn mit dem Namen von Francis Drake verknüpft. Die Kaperfahrten des britischen Kapitäns seien es gewesen, die die Seehoheit der bis dahin unangefochtenen Spanier zerstört hätten. Drake habe die Wende zur englischen Dominanz eingeleitet und den Weg in das amerikanische Imperium von Königin Elisabeth I. gebahnt. Dessen Beginn datiert Schollberg – ähnlich wie sein jesuitischer Kollege – auf den Anfang des 17. Jahrhunderts, konkret: auf das Gründungsjahr von Virginia (1607). Über Smackers hinausgehend bezieht er auch noch die Folgewirkungen dieses Initialereignisses mit ein: Die britische Dynamik setze sich in weiteren nordamerikanischen Koloniegründungen, besonders signiſkant in der Quäkerniederlassung des William Penn, fort.302 So ist das Wahrnehmungsfeld der kurbayerischen Hofhistoriograſe durch speziſsche Konkurrenzkonstellationen charakterisiert. Zwei unterschiedliche Konzeptionen werden hier sichtbar. Sie unterscheiden sich letztlich in der geograſschen Denkrichtung voneinander: Smackers argumentiert – darin 301 Vgl. UBM 2° Cod.ms 348 [Smackers, HISTORIAE UNIVERSALIS XIX], 135-141. 302 Vgl. BSB Clm 9421 [Schollberg, EPITOME HISTORIAE VNIVERSALIS], 401: „1685 Wilhelmo Pen, Tumultuantium membro praecipuo, indulsit colonias suorum in Americam transplantare, in regionem nondum habitatam, postea Pensylvaniam dictam.“

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Teil 4: Historiograſsche Amerika-Deutungen

eine typische jesuitische Interpretationslinie aufnehmend – vom spanischen Süden aus. Schollberg erweitert – in Annäherung an reichsstädtisch-protestantische Muster – den Rezeptionsradius vom spanischen Süden auf den englischen Norden. Eine binnenkatholische Speziſk zeigt sich im Umgang mit der Missionsgeschichte: Für Smackers war die amerikanische Historia Sacra ein ureigenes Terrain der Jesuiten. Er reagierte damit auf die relativierenden Ansätze bei Schollberg, der die religiöse Formung der Neuen Welt den Dominikanern zuschrieb und – mit Hinweis auf William Penn – auch die außerkatholische Dimension breiter berücksichtigen wollte. Tabelle 7: Smackers, Historia Universalis, Bde. II, V, XVII, XIX, XXI f. (1724). Amerikabezüge (graue Flächen) Geschichte Historia der vier Welt- ecclesiastica reiche (usque ad Imperatores Romanos)

Saeculum XV (1400-1500) XVI (1500-1600) XVII (1600-1700) Status […] Geographicus et politicus

Bd. II

Bd. V

Geschichte der modernen Reiche und Staaten (Imperatores Orientes, Imperatores Germanici, Reges, Duci)

Duci Belgii, Burgundiae et Lotharingiae

Regna Hispa- Regnum niae et alia Francorum regna Hispaniae et alia Austriacae geriti olim subjecta

Regna ad Septentrionem Sita (u.a. England)

Bd. XVII

Bd. XIX

Bd. XXII

Bd. XXI

Reges Aragoniae Reges Castellae

Nova Hollandia

Novum Regnum Galitiae, Novum Regnum Granatense, Imperium Novae Hispaniae, Imperium Peroanum

Canada seu Nova Francia

Stirps Stuarta Insulae Bermudes, Virginia, Nova Anglia, Insulae Carnibes

Moralische Menschheitsgeschichte Pock und Conlin stellen – noch stärker als ihre Kollegen aus dem höſschen Milieu – den moralischen Erkenntnis- und Verwertungszweck historischer Vermittlung in den Vordergrund. Entdeckung und Mission liefern Anknüp-

Kapitel 18: Bayerische Hofhistoriografen

303

fungspunkte für exemplarische Weltdeutungen. Die Nutzung der amerikanischen Geschichte als Arsenal für lehrhafte Historien, als Orientierungshilfe für den Alltag, bestimmt die intentionale Richtung des Denk-Rings. Die beiden bayerischen Autoren bemühen das Modell der Menschheitsgeschichte. Sie variieren damit ein weitverbreitetes aufklärerisches Paradigma, wobei sie sich grundsätzlich an die traditionellen Verfahrensweisen frühneuzeitlicher Universalchronistik halten.303 An den konzeptionellen Dimensionierungen ihres periodischen Werks wird dies deutlich: Die Chronik von Pock und Conlin erfasst die historische Entwicklung bis 1750. Der Darstellungshorizont ist damit breiter angelegt als bei Smackers und Schollberg, die lediglich den Ereignisstand bis 1700 berücksichtigen konnten. Die Zeitgeschichte ist im DenkRing umfassender aufbereitet als in den Traktaten der beiden wittelsbachischen Hofpräzeptoren. Die Stoffeinteilung nimmt das staatengeschichtliche Prinzip auf. Im Gegensatz zum ähnlich strukturierten Bilder-Saal aus Nürnberg ist die Abfolge der einzelnen Staaten jedoch fest ſxiert (Tabelle 8). Die universalhistorische Entwicklung unterliegt einer klaren Hierarchie, die gewissermaßen in eine ontologische Perspektive hinein geöffnet ist. An deren Spitze steht nämlich die Geschichte der (römischen) Universalkirche. Dieser folgen dann die weltlichen Nationen in Europa, unangefochten angeführt von Spanien. Danach kommen Frankreich, Deutschland, die Niederlande, die skandinavischen und slawischen Staaten sowie Ungarn. Auf Mittelosteuropa folgen England, Irland und Schottland sowie Italien. Die Schlussposition besetzen die Sarazenen, die Chinesen, die Tartaren und die Türken – mithin also jene Völker und Länder, die außerhalb des engeren europäischen Umfelds liegen.304 Allerdings sind die Wahrnehmungsweisen nicht so festgefügt, wie es zunächst den Anschein haben könnte. Pock und Conlin legen durchaus eine gewisse Sensibilität für weltgeschichtliche Umwälzungen an den Tag und beweisen theoretische Flexibilitäten. Das Schlüsselproblem liegt bei den Entwicklungen des ausgehenden Mittelalters, das als Wendepunkt der europäischen Geschichte erscheint, und zwar gleich in zweifacher Hinsicht: Einmal begreifen Pock und Conlin das 15. Jahrhundert als Epoche des europäischen Rückzugs aus dem Osten. Der Fall von Konstantinopel 1453 markiere eine tiefe Zäsur, mit der die Entwicklung in einen „periodus fatalis“ eingetreten sei.305 Indes vermerken Pock und Conlin zugleich einen substanziellen europäischen Positionsgewinn im Westen. Diesen bringen sie mit der KolumbusFahrt von 1492 in Verbindung. Der Vorgang ist in den Augen der beiden Chronisten so bedeutsam, dass sie in die rigide Gliederung ihres Werks eine 303 Zu den „volksaufklärerischen“ Konzeptionen im 18. Jahrhundert vgl. Böning, Popularaufklärung, 564-574. 304 Exemplarisch zu diesem Aufbau vgl. etwa J. J. Pock/Conlin, Denck-Ring XXVIII, [5r][7v] (Inhaltsverzeichnis). 305 J. J. Pock/Conlin, Denck-Ring XXVIII, Vorrede, [3r].

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Teil 4: Historiograſsche Amerika-Deutungen

eigene Kategorie, nämlich die „Geschichte der (europäischen) Entdeckungen“, einfügen, und zwar gleich an dritter Stelle hinter der „Geschichte der römischen Kirche“ und der „Geschichte des spanischen Imperiums“, aber vor der „Geschichte der französischen Monarchie“ (Tabelle 8). Das europäische Expansionsgeschehen wird also nicht nur im Rahmen der davon unmittelbar betroffenen Kolonialmächte verhandelt, sondern es wird als Phänomen sui generis konstituiert. Die Verfasser des Denk-Rings bedienen sich eines explizit expansions- und kolonialgeschichtlichen Zugangs. Damit nimmt dieses Werk innerhalb des süddeutschen Autoren- und Werkcorpus eine singuläre Stellung ein. Zunächst beziehen sich die Perspektiven noch gleichmäßig auf die alle globalen Schauplätze der europäischen Entdeckungs- und Kolonialprojekte, eben auf die drei Kontinente Afrika, Asien und Amerika. In den Bänden über das 17. Jahrhundert ist indes eine deutliche Interessenverschiebung zu Gunsten der Neuen Welt erkennbar.306 Auch im kurbayerischen Historiografenmilieu des 18. Jahrhunderts hinterließ die Amerikanisierung des Geschichtsbewusstseins ihre deutlichen Spuren. Trotz dieser innovativen, explizit „entdeckungsgeschichtlich“ ausgerichteten Lösung sind die amerikanischen Horizonte immer noch eng an die europäische Staatenhistorie angebunden. Amerikanische Geschichte ist im DenkRing weithin iberische Geschichte. Im Rahmen ihres expansionsgeschichtlichen Modells schreiben Pock und Conlin ausschließlich über die „Entdeckungen der Portugiesen und Spanier“ (vor allem des 15. Jahrhunderts).307 So präsentierten sich die Verhältnisse auch noch für das frühe 16. Jahrhundert. Erst nach 1550 verändern sich die Positionen für die beiden bayerischen Chronisten, die nun auch die anderen nationalen Träger der europäischen Expansion näher berücksichtigen, so vor allem die Engländer, die mit den Entdecker- und Freibeuterƀotten von Frobisher, Drake und Raleigh die spanische Atlantikhegemonie aufgebrochen hätten.308 Dieser Wissensstand verändert sich dann nicht mehr. Nur das historische Binnenproſl der Neuen Welt differenziert sich weiter aus: Steht in den Bänden über das 15. und 16. Jahrhundert noch das lateinische Amerika im Vordergrund, so wandert der Fokus mit den kolonialstaatlichen Fortschritten der Engländer vor allem ab dem 17. Jahrhundert in den Norden. Dennoch kann dieser auch sonst immer wieder zu beob306 J. J. Pock/Conlin, Denck-Ring XXVIII, 335-356. Diesen speziſsch kolonial- und entdeckungsgeschichtlichen Zugang vertritt Pock auch in seiner ungedruckten Schrift Der Christliche und Staats-Verständige Politicus, UBA III.3.fol.58, 259r-260r. 307 J. J. Pock/Conlin, Denck-Ring XXVIII, 335: „Die von Spaniern und Portugiesen in diesem Periodo von 50. Jahren [1451-1500, RB] geschehenen Entdeckungen neuer Länder längst denen Africanischen Küsten bis nach Ost-Indien und in der neuen Welt, nemlich America, haben solche Gemeinschafft mit den Geschichten dieser Königreiche, daß wir vor nöthig erachtet wegen ihrer Weitläufftigkeit in einem eigenen Absatz davon zu handeln.“ Ähnlich die Tendenz auch bei J. J. Pock, Ehren-Crantz II, 264f. 308 J. J. Pock/Conlin, Denck-Ring XXX, 347f. (Frobisher), 348-350, 352-355 (Drake), 352f., 356f. (Raleigh).

Kapitel 18: Bayerische Hofhistoriografen

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achtende Befund der Vernördlichung und Anglisierung nichts an der Grundposition der Denk-Ring-Autoren ändern: Die Neuen Welt sei eine iberischkatholische Angelegenheit. Ihre historische inventio verdanke sie Südeuropa. Im Schlepptau der römischen Päpste und der spanischen Könige trete Amerika an das Licht der Geschichte. Zu diesem Grundtenor passt auch gut die Tatsache, dass von der Reichsgeschichte keine Wege in die Neue Welt führen. Auf die kühne Konstruktion einer transatlantisch ausgeweiteten deutschen translatio imperii – eine doch häuſg bei den Protestanten hervortretende Position – lassen sich Pock und Conlin nicht ein. Die kurbayerisch-territorialstaatliche Sicht bricht mit diesem reichspatriotischen Kontinuitätstopos und betrachtet die Dinge jenseits des Atlantiks doch eher als spanisches Portfolio. Pock und Conlin schreiben hier eine Linie fort, die sich auch schon für die Auffassung der zeitgenössischen wittelsbachischen Hoferziehung als erkenntnisleitend herauskristallisiert hat.309 Aus der Kategorie der „Entdeckungshistorie“ entwickeln die Verfasser in der weiteren Bandfolge ihres Denk-Rings das Kriterium einer eigenständigen amerikanischen Geschichte. Für Pock und Conlin liegt der Wendepunkt in den Jahren um 1700. Der entsprechende Band des Periodikums (Bd. 33) führt den Begriff des „Amerikanischen“ erstmals als eigene Ordnungsgröße ein. Von 1700 an ist expressis verbis von „amerikanischer Geschichte“ die Rede (Tabelle 8). Historische Sichtbarkeit gewinnt das Amerikanische mit dem Kriegsgeschehen; der Name der „Neuen Welt“ verbinde sich mit einer Kette von Militärkonƀikten, nämlich mit den Auseinandersetzungen zwischen Kolonisten und Indigenen in Neuengland und Carolina, zwischen Briten, Spaniern, Franzosen und Niederländern in der Karibik, mit den Kuba-Aufständen von 1717 und den permanenten Grenzstreitigkeiten zwischen englischer und französischer Krone in Kanada.310 Auf diese Weise steht Amerika – geradezu als Synonym – für die hässliche, kriegerische Seite der menschlichen Geschichte. Doch bleibt dies nicht das letzte Wort. Antithetisch ist dem Negativen Positives gegenübergestellt. In der Kirchen-, genauer: in der Missionsgeschichte scheint eine Alternative auf. Insbesondere die Quäker von Philadelphia, denen sich die beiden Katholiken Pock und Conlin mit großem Interesse zuwenden, aber auch die reformierten Pfälzer in Carolina erscheinen als Ge309 Auch die deutsche Emigration in die Neue Welt bleibt weithin unbeachtet. Wenn dieses Thema überhaupt angeschnitten wird (etwa im Hinweis auf die Salzburger Exulanten), dann vorwiegend im Rahmen der englischen Geschichte. Dieser deutsche Aspekt geht vollständig in der britischen Kolonialgeschichte auf (vgl. dazu J. J. Pock/Conlin, DenckRing XXXIV, 934f.). 310 Vgl. J. J. Pock/Conlin, Denck-Ring XXXIII, 693f. (Indianerüberfall auf Siedler in Neuengland), 699f., 704 (Kolonialkonƀikte um die Herrschaft auf den Karibikinseln Jamaika und Nevis), 705 (englische Kaperfahrten gegen die Spanier), 710 (Rebellion der Indianer gegen die englische Herrschaft in Carolina), 711f. (Aufstand in Kuba gegen den Gouverneur).

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Teil 4: Historiograſsche Amerika-Deutungen

genpole in einem von Kriegsszenarien verdüsterten (Nord-)Amerika-Bild.311 So werde die gefährliche Konƀiktdynamik durch die Erfolge ihrer vielfältigen, Indigene wie Zuwanderer gleichermaßen erfassenden Bestrebungen abgemildert. Sie eröffneten den Weg in eine nach humanitären Maßstäben geordnete Zukunft jenseits einer allein am machtstaatlichen Kalkül orientierten Staatsraison. Zugleich deute sich die Perspektive eines überkonfessionellen Zusammenwirkens an. Das amerikanische Missionswerk sei eine Gemeinschaftsleistung aller christlichen Denominationen. Bei aller offenkundigen Sympathie für das Katholische kannten die Denk-Ring-Autoren also auch irenische Sentiments.312 In der Präsentationsweise der amerikanischen Ereignisse spiegeln sich also die exemplarischen Grundabsichten der Verfasser wider. Hier werden Deutungsproſle wirksam, die für Pock und Conlin Kernattribute jeder historischen Erkenntnisbemühung sind: „Wie man sich gegen GOtt/ und alle Neben-Menschen/ zu verhalten habe/ wann man auf Erden löblich leben/ und dermaleinst seelig werden wolle“ – solche Bedürfnisse nach religiöser und ethischer Bewusstseinsbildung solle die Geschichtsschreibung erfüllen.313 Von diesen Grundvoraussetzungen her erklärt sich die scharfe Dialektik der amerikanischen Perspektiven. Zum einen kann die Neue Welt als Schlachtfeld der modernen Kolonialgeschichte die verhängnisvollen Folgen menschlichen Fehlverhaltens illustrieren. Zum anderen verweist sie als Ort des Heils (vermittelt durch die Missionsanstrengungen aller Christen) auf die grundsätzliche Besserungsfähigkeit des Menschen. In dieser konsequent didaktischen Ausrichtung treibt der katholische Geschichtsdiskurs über Amerika – zumindest soweit er das kurbayerische Umfeld betrifft – auf eine neue Position zu. Dabei kommt eine Auffassung zum Durchbruch, die Schollberg und Smackers weitgehend fremd ist – allein schon deshalb, weil die realgeschichtlichen Bezüge auf Amerika knapp ausfallen und damit die Basis für weitergehende Modellierungen fehlt: Im Geschichtsverständnis der Autoren des DenkRings bildet der vierte Weltteil einen idealisierten Raum. Die sich mit der Neuen Welt verknüpfenden Schlüsselphänomene (Entdeckungen, Kriege und Missionsvorgänge) stehen exemplarisch für die moralische Entwicklung der Menschheit. Aus ihrer Betrachtung lassen sich daher Einsichten in richtiges und falsches Handeln ableiten. 311 Das Verhältnis zu den Quäkern war ambivalent. Abgelehnt wurden die chiliastischen Elemente dieser Bewegung, hingegen positiv bewertet Sparsamkeit, Fleiß und Einfachheit. Die Verfolgungskampagnen der englischen Krone stießen auf scharfe Kritik (vgl. dazu J. J. Pock/Conlin, Denck-Ring XXXII, 198f.; zu den Pfälzern vgl. ebd. XXXIV, 65). Zu Amerika als Ort des Heils (diesmal freilich bezogen auf den „wahren [d.h. katholischen, RB] Christlichen Glauben“) vgl. auch J. J. Pock, Passagier IX, Widmungsvorrede, [5r]. 312 Immer wieder wenden sich die Autoren gegen den „blinde[n] Religions-Eyfer“ (J. J. Pock/Conlin, Denck-Ring XXXI, Vorrede, [4v]). 313 J. J. Pock/Conlin, Denck-Ring I, Vorrede, [5r].

307

Kapitel 19: Benediktiner

XI. Absatz: Geschichte der Sarazenen, Chinesen, Tartaren, Türken und anderer Barbaren

IX. Absatz: England, Irland und Schottland

IV. Absatz: Frankreich

III. Absatz: Entdeckungen der Portugiesen und Spanier (ab 1551: Entdeckungen fremder Länder)

II. Absatz: Spanien

Bd. (Jahr) Zeitraum

I. Absatz: Kirchengeschichte

Tabelle 8: J. J. Pock/Conlin, Denck-Ring, Bde. 28-34 (1745-1752). Amerikabezüge (graue Flächen)

28 (1745) 1451-1500 29 (1746) 1501-1550 30 (1747) 1551-1600 31 (1748) 1601-1650 32 (1749) 1651-1700 33 (1749) 1701-1725

in Asien, Africa und America

34 (1750) 1726-1750

in Asien, Africa und America

KAPITEL 19: BENEDIKTINER Aufklärungshistorie Die Benediktiner wirkten auf den bayerischen Amerika-Diskurs noch anregender als ihre Kollegen aus dem hofhistoriograſschen Milieu ein. Ihre weltgeschichtlichen Synthesen traten wissenschaftlich ambitionierter auf. Bereitwillig öffnete sich die Benediktinerhistoriograſe den aktuellen Horizonten ihrer Entstehungszeit. Die im Folgenden zu besprechenden Werke entstanden alle während des zweiten und dritten Viertels des 18. Jahrhunderts. Die Benediktinergelehrten reagierten mit großer Sensibilität auf die nordamerikani-

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schen Umwälzungen seit den 1770er Jahren. Ihre Positionen gegenüber der amerikanischen Unabhängigkeit reichten von maßvoll positiver Einschätzung über euphorischen Beifall bis hin zu hochskeptischen Äußerungen. Dieses pluralistische Amerika-Verständnis hing damit zusammen, dass die Benediktiner ihre amerikahistorischen Überlegungen in Konkurrenz zu den Jesuiten formulierten und sich dabei ganz bewusst den Ansichten auch der protestantischen Staatswissenschaften öffneten (was nicht ausschloss, dass die Benediktiner zugleich jesuitischen Wahrnehmungsformaten zuneigten, vor allem auch deshalb, weil sie über keine eigenen Missionszentren in Übersee verfügten und daher auf jesuitische Informationskanäle angewiesen waren). Die benediktinischen Projekte fügten sich unter dem Einƀuss von barockkatholischem Erkenntnisoptimismus, gesteigertem pädagogischem Impetus und Göttinger kameralwissenschaftlicher Tradition zu einem aspektereichen Amerika-Bild zusammen. In dessen Proſl spiegelten sich die verschiedenen programmatischen Impulse der katholischen Aufklärung wider.314 Mit den Benediktinern erreichte die historiograſsche Sondierung der Neuen Welt im 18. Jahrhundert einen letzten, speziſsch süddeutschen Höhepunkt. Der Ausblick auf dieses charakteristische, unter globalgeschichtlichen Fragestellungen noch viel zu wenig erforschte Kommunikationsmilieu kann daher den tour d’horizon durch die süddeutschen Amerika-Diskurse in folgerichtiger Weise abschließen. Zuvor seien die Träger und Denkrahmen des benediktinischen Interesses an der Neuen Welt noch genauer skizziert. Globalhistorische Projekte verfolgten vor allem drei Protagonisten, nämlich erstens: Anselm Desing, Professor für Poetik an der Salzburger Universität, später Abt im oberpfälzischen Ensdorf und Mitglied der 1759 gegründeten Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München, mit den Historica Auxilia (1733/35) bzw. deren Neubearbeitung unter dem Titel Auxilia Historica (1741, weitere Auƀage 1747)315, und zweitens: der an der Ritterakademie Ettal lehrende Professor Edmund Pock, nicht zu verwechseln mit seinem hier bereits vorgestellten Bruder Johann Joseph Pock. Insbesondere die Historisch-ChronologischGeographischen Tabellen des Ettaler Gelehrten halten vielfältiges Material über Amerika bereit. Diese wurden 1736 erstmals, 1750 und 1764 erneut aufgelegt und sind als repräsentatives Produkt der katholischen Tabellenhistorie im 18. Jahrhundert einzustufen.316 Eine Generation jünger ist das Werk von Augustin Schelle, einem Benediktiner aus Tegernsee, der Ethik und Geschichte in Salzburg unterrichtete und zum Illuminatenorden gehörte. Hier interessiert vor allem dessen Universalhistorie von 1780/82.317 314 Vgl. dazu Heilingsetzer, Benediktiner; A. Kraus, Geschichtsschreibung, 120-131. 315 Vgl. zu beiden Werken Knedlik, Bibliographie, 323-326, 341f.; ferner Dippel, Americana-Germanica, 243, 480. 316 Vgl. Benz, Tradition, 521; Steiner, Ordnung, 194f. 317 Vgl. zu Schelle Hammermayer, Illuminaten, 331; Keck, Aufklärungspädagogik, 738; Lehner, Enlightened Monks, 183-187. Neben dem engeren Kreis der Klosteraufklärung

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Alle drei Autoren richten weitgespannte Erwartungen an ihre historiograſschen Bestrebungen. Theoreme der philosophia perennis werden ebenso wirksam wie Komponenten der Glückseligkeitsphilosophie: Für Desing bietet die Geschichte einen Weg zur Gotterkenntnis, indem sie das Wirken der göttlichen Providenz in den weltlichen Dingen offenlege. Historisches Wissen könne damit einen wirkungsvollen Beitrag zu einem „vernüfftig[en,] ja Christlichen Leben“ leisten.318 Edmund Pock hingegen möchte die Historie von den Verzerrungen des Konfessionsdisputs befreien, gleichwohl auch den katholischen Standpunkt von den Zeitgenossen sachgerecht beurteilt sehen (im Sinn einer Diskursparität mit den Protestanten).319 Augustin Schelle hingegen nimmt den aufgeklärten „Weltbürger“ ins Visier.320 Geschichte hat dabei moralischen Orientierungsbedarf zu erfüllen. Im Vergleich zu Desing und Pock werden indes deutlich säkularisierende Töne hörbar. Bei Schelle tritt an die Stelle der transzendenten Gotterkenntnis immanente Glückseligkeit: In den historischen Entwicklungen „Gründe zur weisen Mäßigung im Glück, und Trostgründe im Unglück“ zu ſnden, darin bestehe die Hauptaufgabe jeder Geschichtsbetrachtung.321 Geschichte entbinde damit unmittelbar lebensweltlich relevante Potenziale; sie könne für ein denkbar breites Publikum umfassende Lebenslehren bereit halten. Überhaupt war die didaktische Zielsetzung für die benediktinische Universalhistorie ausgesprochen typisch. So wurden die Auxilia von Desing als Lehrbuch an den höheren Erziehungsanstalten des katholischen Deutschland eingesetzt und wirkten auch in vorakademische Schichten hinein, indem sie etwa als Informationsquelle für Auswandererpublizistik nutzbar gemacht wurden.322 Pock wiederum richtete sich

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wäre für Bayern noch auf die universalgeschichtlichen Bestrebungen in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hinzuweisen. Deren Repräsentanten, insbesondere Konrad Alois Prechtl und August Joseph von Törring-Seefeld, liefern jedoch allenfalls amerikakundliche Versatzstücke und sollen daher nicht genauer behandelt werden. Symptomatisch für den Zuschnitt vgl. Prechtl, Religionsgeschichten I, 375 (Nordamerika als Kontinent der „dichteste[n] Unwissenheit“); Törring-Seefeld, Weltgeschichte, 327f. (Kolumbusfahrt), 425 (Amerika als Schauplatz des Siebenjährigen Kriegs). Zu Prechtl vgl. Kirchinger, Preisträger, 383-390. Zu Törring vgl. Spindler, Primordia, 530. Desing, Historica Auxilia (1733), Vorrede, [6r]; vgl. dazu auch Stegmann, Desing, 176258. Die Weltgeschichte solle den „wider uns Catholische sehr passionirten/ sonderbar aber dem Päbstlichen Stuhl höchst abholden […] Federn“ entgegentreten (E. Pock, Tabellen (1736), Vorrede, [1v]). Darunter versteht er den „Gelehrte[n], […] Fürst[en]“, „Unterthan[en], […] Geistliche[n], […] Richter“, ebenso aber den „Kriegsmann“, „Arzt“, „Ehemann“ und „Vater“ (Schelle, Abriß I, 23f.). Schelle, Abriß I, 24; vgl dazu auch Bruch, Ethik, 116-119, 193, 255; Fleischer, Geschichtswissenschaft, 179. Zu verweisen ist auf den Neuen Americanischen Calender des Konstanzer Verlegers Johann Conrad Waibel. Die Verfasser des Handkalenders paraphrasierten Passagen aus den Auxilia historica von Desing; er sollte Auswanderungswillige mit einer „wahr-

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an das Publikum der Ettaler Ritterakademie, einer universitätsähnlichen Bildungseinrichtung für den bayerischen Adel.323 Schelle verfasste seinen Abriß als Lehrbuch für die Salzburger Universität. Die benediktinische Universalhistorie spielt in einer für den Orden speziſschen Variante das Modell des Enzyklopädismus durch. Schelle deſniert die Weltgeschichte als „eine allgemeine historische Enzyklopädie, die uns das ganze Gebieth der vielfältigen historischen Wissenschaften im Kleinen zeigt, und die Elemente aller Spezialgeschichten in sich enthält“324. In programmatischem Anschluss an die französischen Mauriner hatte indes bereits Desing die geschichtliche Methode als eine immanent enzyklopädische Disziplin gewürdigt. Seine Auxilia liefern eine umfassende Bestandsaufnahme der verschiedenen historischen Erkenntnisformen, angefangen bei der Diplomatik, Paläograſe und Heraldik über die Politica bis hin zur Chronologie. Zentral ist für den Benediktiner die Bedeutung der Geograſe.325 Diese sei Ordnungsinstrument für die „Historico-Politica“, das heißt die geschichtliche Stoffgliederung soll immer geograſschen Anordnungen folgen. Sie solle dabei auch die visuellen Repräsentationsmöglichkeiten der Geograſe ausnutzen, etwa die kartograſsche Inszenierung von Ereignissen. Geschichte sei letztlich eine nach Kontinenten, Nationalstaaten und „Provintzen“ angeordnete historischgeograſsche Landeskunde, in der auch die Neue Welt – neben Europa, Asien und Afrika – ihren festen Platz und Rang habe.326 Schelle stimmte dieses Programm des älteren Ordenskollegen mit der Kontinental- und Staatenbeschreibung der Göttinger Kameralisten um Gatterer und Schlözer ab.327 Göttinger Vorbildern sah sich der aufklärerische Benediktiner auch hinsichtlich der chronikalischen Dispositionen verpƀichtet. So teilt Schelle die Geschichte in drei Großepochen ein: Die erste Phase beschreibt demnach die „Urwelt“ (ab der Genesis), die zweite die „Vorwelt“ (im Sinne einer Prähistorie), die dritte die „Geschichte von den Persern bis zu den Germanen“. Bei Letzterer ist in weiterer Differenzierung noch einmal zwischen Altertum, Mittelalter und Neuzeit zu unterscheiden. Der Zäsureinschnitt zwischen Mittelalter und Neuzeit ist durch die „Entdeckung des 4ten Welttheils“ deſniert. Man fühlt sich an die Epochensystematik der bayerischen Hofhistoriograſe erinnert (Johann

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haffte[n] Beschreibung“ der Neuen Welt versorgen (vgl. Neuer Americanischer Calender, Vor-Red, [3r]; Fertig, Lokale Welt, 100). Vgl. E. Pock, Einleitung, Vorbericht, [3v]. Siehe zu Ettal Steiner, Ordnung, 194; ferner Rump, Ritterakademien, 566f. Schelle, Abriß I, 23. Zu Desing als Mauriner vgl. Wo. Müller, Hilfswissenschaften; ders., Akademische Anfänge, 300; Hammermayer, Maurinismus, 414f., 420; zu Desing als Geograf vgl. Dörflinger, Karten, 197f.; ders., Globen, 231-233. Vgl. Desing, Auxilia Historica I (1747), 288-398; Hammermayer, Maurinismus, 419. Schelle sieht bei den Göttingern eine „geläuterte große Notion der Universalhistorie“ vorbereitet, die er übernehmen möchte (vgl. ders., Abriß I, Vorrede, [2r]-[2v]; dazu auch Neddermayer, Mittelalter, 64; Hammermayer, Illuminaten, 344f.).

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Joseph Pock). Diese wies der Entdeckung von Amerika ebenfalls einen neuzeitkonstituierenden Wert zu und bezog damit einen im 18. Jahrhundert noch seltenen Standpunkt.328 Im Gegensatz zu den eher beiläuſgen Überlegungen von Johann Joseph Pock spitzt Schelle die Dinge aber noch einmal zu: Mit 1492 sei ein Zeitalter universaler Verdichtungen angebrochen. Die Entdekkung Amerikas stifte eine bislang unerreichte Nähe zwischen den Menschen, indem „endlich die Adamsöhne der 4 Welttheile in eine Verbindung kommen, die sie seit der Schöpfung nie gehabt haben“329. Daher könne man den „heutigen Zustand Europa’s“ nicht mehr „gründlich einsehen […], ohne Ost- und Westindien zu kennen, wo die Ursachen der größten Europäischen Begebenheiten und Revolutionen müssen gesucht werden“.330 Schelles Annahme von Amerikas neuzeitlicher Weltgeltung ist letztlich für das gesamte Panorama der benediktinischen Geschichtsschreibung im 18. Jahrhundert prägend. Freilich intonierten die drei hier zur Diskussion stehenden Autoren diese Grundmelodie auf unterschiedliche Weise: Bei Desing erscheint die Neue Welt als hispano-katholische Größe (eine im katholischen Epochendiskurs immer wieder hervortretende Sicht). Edmund Pock geht ebenfalls von der neuzeitlichen Eminenz des vierten Kontinents aus. Er bewertet diese Tatsache ausgesprochen kühl. Schelle dagegen – dies war bereits zu erkennen – ist von der Neuen Welt passioniert. Er erblickt in ihr einen Ort erneuerter Humanität. Im Folgenden sollen diese drei Perspektiven näher ausgeführt werden. Hispano-katholische Welten Vor allem in der letzten, 1747 gedruckten Ausgabe der Auxilia Historica entfaltet Desing seine betont hispanophile Deutung der Neuen Welt.331 Zwar beabsichtigt der Benediktiner eine vollständige landeskundliche Deskription des vierten Kontinents (mit Hinweisen zu den ethnograſschen, religionsgeschichtlichen und naturgeograſschen Beschaffenheiten). Tatsächlich konzentriert sich die Argumentation jedoch auf die Frage, „[w]ie die Spanier ihre Herrschung über America haben können vest stellen“.332 Am spanischen Beispiel betrachtet Desing Herausforderungen und Faktoren der kolonialen Herr328 Zum Zitat Schelle, Abriß II, Vorrede, [2r]; vgl. auch Neddermayer, Mittelalter, 99, 331. 329 Schelle, Abriß II, 498. 330 Schelle, Abriß II, Vorrede, [2v]. Neben diesem aufklärerischen Epochenmodell blieb in der benediktinischen Universalhistorie freilich auch noch die Lehre von den vier Weltreichen präsent, so vor allem in der Tabellengeschichtschreibung von Edmund Pock (vgl. ders., Tabellen (1736), Vorbereitung, VII-XI). 331 Vgl. Desing, Auxilia Historica I (1747), 288-336. 332 Desing, Auxilia Historica I (1747), 351-384 (Kapitel III: Wie die Spanier ihre Herrschung über America haben können vest stellen?).

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schaftsbildung in Übersee. Darüber hinaus geht es ihm um eine historische Kosten-Nutzen-Analyse der Expansion, unter Berücksichtigung der „Würckung[en]“, die das Entdeckungsgeschehen nicht nur auf Amerika, sondern umgekehrt auch auf Europa hatte.333 Desing führt also die beiden Zentralstränge der barocken Amerika-Historiograſe zusammen. Einerseits folgt er der expansionsgeschichtlichen Linie, indem er die Neue Welt als Objekt der europäischen (vorwiegend spanischen) Aneignungsbewegung beschreibt. Andererseits ist das transatlantische Beziehungsmoment in den Blickpunkt gerückt. Für Desing muss die Ursache der wachsenden interkontinentalen Verƀechtung natürlich im Entdeckungsgeschehen selber liegen, nachdem er – von der Warte der 1740er Jahre aus gesehen – weder die Kriegsereignisse des folgenden Jahrzehnts noch die Revolution kennen konnte. Die Dominanz der spanischen Idee kommt nicht nur auf der konzeptionellen, sondern auch auf der heuristischen Ebene zum Tragen. Die Kompilation des bayerischen Benediktiners verwertet zum großen Teil spanische und portugiesische Autoren, während französische, englische oder niederländische Historiografen – mit Ausnahme von Hugo Grotius – kaum auftauchen.334 Auch Desings amerikanisches Raumverständnis ist exklusiv iberisch geprägt. Die französischen und englischen Kolonien werden zwar wie die indigenen Herrschaften erwähnt, aber kaum genauer porträtiert. In den Auxilia Historica ſrmiert der vierte Kontinent als einheitlicher lateinamerikanischer Block.335 Der Ordensgelehrte geht so weit, den Interessenten des amerikageschichtlichen Studiums das Erlernen der spanischen Sprache nahezulegen.336 Sicherlich wäre es zu kurz gegriffen, wenn man in Desing nur einen Soufƀeur literarischer Vorlagen und ihrer hispanophilen Tendenzen erkennen wollte. Gerade dieser Benediktiner zeichnet sich durch einen ebenso sicheren wie meinungsfreudigen Umgang mit den Quellen aus (etwa dann, wenn er die spanische Geschichtsschreibung für ihr Schweigen über Martin Behaim und dessen intellektuellen Anteil an der Entdeckung der Neuen Welt tadelt337). Die 333 Vgl. Desing, Auxilia Historica I (1747), 391-397 (Kapitel V: Was für Einƀuß und Würckung America in Europam habe). 334 Desing verarbeitete die zeitgenössische spanische Kolonialhistoriograſe in imponierender Breite. Zu seinen Quellen gehören etwa Gonzálo Fernández de Oviedo (Historia general y natural de las Indias, 1547), die Relationen von Hernan Cortés an Kaiser Karl V., die Historia verdadera de la conquista de la Nueva Espana (1632) von Bernal Díaz del Castillo oder das Teatro eclesiástico de la primitiva iglesia de las Indias Occidentales (1649) von Gíl González Dávila (vgl. die Literaturliste in: Auxilia Historica I (1747), 397f.). Vgl. zu den genannten spanischen Autoren zusammenfassend González Stephan, Early Stages. 335 Vgl. Desing, Auxilia Historica I (1747), 288. Ganz ähnlich die Tendenz in den übrigen Werken des Benediktiners (vgl. ders., Index Poëticus, 1; ders., Collegia, 144f., 174; ders., Schulgeographie, 374-380). 336 Vgl. Stegmann, Desing, 161. 337 Vgl. Desing, Auxilia Historica I (1747), 293-307; ders. Schulgeographie, 470f.

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spanischen Präferenzen des Intellektuellen entspringen einem intensiv reƀektierten, heilsgeschichtlich wie konfessionshistorisch grundierten Weltverständnis. In der Gruppe der katholischen Autoren vertritt Desing wohl am nachdrücklichsten die Vorstellung von der göttlichen Rechtfertigung der iberischen Kolonisationsbewegung. Die „standhaffte Eroberung der neuen Welt“ durch die Spanier sei „ein handgreiƀiches Wunderwerck/ von GOtt zu dem Ende gewürckt/ daß diß arme Volck [die indianische Bevölkerung, RB] aus dem Untergang gerissen würde“. Spanien sei das neue Rom, von Gott dazu auserwählt, in Amerika „die reine Lehre“ zu verbreiten, „ehe noch die Protestanten durch ihre Schiffarthen das Gifft der Ketzereyen allda ausstreuen kunten“. Der westeuropäischen Monarchie falle jene Aufgabe zu, die bereits den Lebenssinn des „alte[n] Römische[n] Kayserthum[s]“ bestimmt habe, nämlich die Kirche so lange zu schützen, bis diese „genugsam gegründet w[ä]re“338. Die Analogiebildung zwischen römischer und spanischer Monarchie hat natürlich weitreichende Folgen für die Interpretation der binneneuropäischen Gegebenheiten. Dem Aufstieg Spaniens im Zeichen der Heilsgeschichte stehe nämlich in dialektischer Wendung der tiefe Fall des Alten Reichs gegenüber. Als Träger der römischen Reichsidee rückten die Spanier an die Stelle der Deutschen. Das Alte Reich verlöre seine Vorreiterrolle an die neue Großmacht im Westen Europas.339 Der Anspruch des Reichs auf weltordnende Autorität sei an den „[r]evolutiones“ und „[c]onversiones“ der frühen Moderne zerbrochen. Diese hätten der Weltgeschichte eine „[n]ova facies“ gegeben, weshalb die Vier-Monarchien-Theorie – zumindest in ihrer auf das römischdeutsche Reich bezogenen Interpretation – nicht mehr aufrecht erhalten werden könne.340 Wo die Ursachen für diese Umwälzungen liegen, lässt sich unschwer erraten: Es ist die Reformation, die dem Reich den Legitimationsboden entzieht, während um das altkirchlich-katholisch gebliebene Spanien herum ein neuer Zentralitätspol entsteht. Angesichts der beträchtlichen territorialen Gewinne der reformatorischen Bewegung sieht Desing den mitteleuropäischen Katholizismus der Gefahr des völligen Existenzverlusts ausgeliefert. Für den Benediktiner geht es bei der Suche nach neuen kirchlichen Lebenswelten in Übersee weniger um missionarischen Triumphalismus; es ist vielmehr das religiöse Krisenbewusstsein, das ihn antreibt: Die Erfahrung der konfessionellen Zerrissenheit in Europa, die Befürchtung vor der Überwältigung der „wahre[n] Kirche Christi“ durch den Protestantismus lässt ihn nach 338 Desing, Auxilia Historica I (1747), 350, 352. 339 Damit knüpft Desing an die spanische Staatsphilosophie (Campanella, Saavedra Fajardo) an (vgl. dazu Delgado, Universalmonarchie, 266-272, 277f.). 340 Vgl. zu diesen Begriffen von Desing UBM 2° Cod.ms. 358 [Desing, Revolutiones], 61r; ebd. 2° Cod.ms. 707, 257v-258v (Perioche Historiae Politicae Gentium maxime Europae, 1746); vgl. dazu insgesamt Stegmann, Desing, 168; Neddermayer, Mittelalter, 86, 92.

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Entfaltungsmöglichkeiten außerhalb Europas Ausschau halten. Damit gewinnt die Deutung der Neuen Welt als künftiger terra catholica ein speziſsches argumentatives Gewicht. Amerika sei nicht nur der Kontinent, der „reiche neue Erndt“ unter fremden Völkern verspreche; die Neue Welt biete zudem eine reelle Chance für das Über- und Weiterleben der katholischen Kirche. Hier könne – und darin überschneiden sich die Überlegungen des Benediktiners mit jenen der Pietisten – die eigene Glaubensgemeinschaft fortbestehen. Mit Amerika ließen sich die erheblichen Positionsverluste der Kirche in der Alten Welt ausgleichen. Diese konfessionelle Kompensationsidee stellt zwar im katholischen Amerika-Diskurs des 18. Jahrhunderts (zu erinnern ist nur an die Jesuiten) eine wohlbekannte Größe dar. Bei Desing ist sie noch schärfer gefasst; sie wird zu einem umfassenden historischen Interpretament ausgebaut.341 Besonders markant tritt die Kompensationstheorie im Bildprogramm der Auxilia Historica hervor. Dieses enthält insgesamt zwei amerikageschichtliche Kartendarstellungen. Die erste Abbildung zeigt die einzelnen Regionen des Doppelkontinents (darunter Kalifornien, Nova Mexico, Louisiana usf.342). Wesentlich interessanter ist indes die Darstellung im religionskundlichen Teil der Amerika-Beschreibung (Abbildung 15). Bei dieser Karte handelt es sich offenkundig um eine (nicht als solche gekennzeichnete) Übernahme aus der Geographia hierarchica von Heinrich Scherer. Sie zeigt die Konfessionszugehörigkeit der Neuen Welt. Wie bei Scherer bezeichnen die weißen Flächen die katholischen Gebiete, während noch nicht christianisierte oder protestantische Länder durch schwarze Schraffuren ausgewiesen sind. Desing gibt dabei die bis 1747 erfolgten Gebietszuwächse der römischen Kirche wieder. Im Unterschied zu der Karte von Scherer (Wissensstand um 1700) sind nicht nur Mexiko, Niederkalifornien, New Mexico, Arizona und Florida als katholische Einƀussbereiche markiert, sondern auch Texas, der Unterlauf des Mississippi mit Louisiana, daneben Alabama und Georgia, ferner die Gebiete des Upper Midwest (wie auch das gesamte spanische, portugiesische und französische Amerika). Die Ausbreitung der alten Kirche in der Neuen Welt stellt sich somit als unaufhaltsamer visueller Siegeszug dar.343 341 Zu den Zitaten Desing, Auxilia Historica I (1747), 352; vgl. ähnlich auch ders., Schulgeographie, 393: „Selber Zeit [während der Entdeckungsphase, RB] hatte die Lutherisch- und Kalvinische Kezerey vielen Seelnschaden getahn. Hingegen verschuff sich GOtt andere Anbether in der neuen Welt, breitete seinen Namen allda aus, und machte den Teuffel zu schanden“; ferner ders./Jann, Universalhistorie (1789), 416: „Die Kirche Christi, so sehr durch den Abfall so vieler Glieder in Europa geschmälert ward, so sehr nahm sie in den übrigen Welttheilen, besonders in Asien durch Bekehrung der Heiden zu, welche vorzüglich der heilige Indianer Apostel Franz Xaver wirkte.“ 342 Vgl. Desing, Auxilia Historica I (1747), nach 288 (V. Haupt-Karte AMERICA oder West Indien oder Die Neu Welt). 343 Vgl. Desing, Auxilia Historica I (1747), nach 340 (Zur V. Haupt-Karte Neben-Karte AMERICA Nach der Religion). Zu ähnlichen Darstellungen bei den Benediktinern vgl.

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Im allegorischen decorum der Karte wird diese Deutungslinie konsequent fortgeführt. Denn der Benediktiner verändert auch das bildliche Rahmenprogramm seiner jesuitischen Vorlage. Während die Karte von Scherer vor allem auf die Schifffahrtsmetaphorik anspielt, um den missionsgeschichtlichen Charakter der amerikanischen Ereignisse hervorzuheben (Abbildung 3), betont Desing die historischen Folgewirkungen dieser Vorgänge. Deren Ergebnis besteht für den Benediktiner in einer universalen Festigung und Erweiterung der katholischen christianitas nach den Erschütterungen des Reformationszeitalters. Deutlich wird dies vor allem in der Architekturallegorie am unteren Kartenrand (Abbildung 15). Sie stellt einen barocken Kuppelbau als Sinnbild für die Kirche vor. Aus dem Kuppeltambour sind drei Säulen herausgebrochen. Die zerbrochenen Stützen symbolisieren die protestantischen Länder „Germania“, „Anglia“ und „Suecia“. Wie die in das Fundament des Gebäudes eingelassene Bildunterschrift andeutet, kann die von der Reformation bedrohte Kirche auf Besserung hoffen: Die alten Stützen können ersetzt werden („Implebitur ruinas“). Neben dem einsturzgefährdeten Bau stehen nämlich die Säulen der drei christianisierten amerikanischen Völker Mexiko, Peru und Brasilien bereit, um die von der Reformation verursachten Lücken auszufüllen und die Kirche wiederherzustellen. Deutlich tritt in diesem Säulengleichnis der Gedanke der Gleichrangigkeit von Alter und Neuer Welt hervor. Desing bringt dieses Deutungsprinzip nicht nur im religiösen Diskurs zur Geltung, sondern formuliert es auch auf zivilisationsgeschichtlicher und anthropologischer Ebene aus. So kann der Historiograf festhalten, dass „alles, was [in Amerika] entdecket […] worden [ist], […] meist schon Christlich/ [und] in so blühenden Stand als in Europa selbst [ist]“344. Es sind die Infrastrukturen, an denen sich die kulturelle Parität zwischen den beiden Kontinenten ablesen lässt. Folglich sind die Elemente der Diözesan- und Kirchenorganisation in den Mittelpunkt gerückt. Besondere Beachtung ſnden auch die „Hohe[n] Schulen“345. Der Benediktiner überträgt also die Kategorien der zeitgenössischen Kulturgeograſe mit ihren stark institutionell orientierten Erfassungsmustern auf das historische Raisonnement. Damit ist ein dezidiert europäischer Maßstab aufgegriffen. Denn im Grunde genommen betrachtet Desing nicht das indigene Amerika. Sein Interesse gilt vielmehr den dort von den Europäern, vor allem von den Spaniern und den europäisierten Einheimischen, geschaffenen Einrichtungen. Methodisch beziehen sich seine Analogien auf das, was im europäischen Sinn als Polleross, Pietas Austriaca, 93f. 344 Desing, Auxilia Historica I (1747), 350. 345 Desing, Auxilia Historica VIII, 226-231. Genannt werden folgende lateinamerikanische Hochschulen: Santo Domingo, Quitoa, Lima, Mexiko und Guatemala. Unerwähnt bleiben die Universitäten im britischen und französischen Amerika (etwa Philadelphia und Quebec) – ein weiterer Beleg für die ausgeprägte Spanien-Orientierung des Benediktiners.

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Zivilisationsgut zu erkennen und damit zu vergleichen ist. Der Benediktiner vertritt einen Interpretationsansatz, der im Umfeld der zeitgenössischen Amerika-Wahrnehmung weit verbreitet war. Bei ihm kehren sich jedoch die ideellen Vorzeichen um: Während etwa die ganz ähnlich argumentierenden Repräsentanten der süddeutsch-protestantischen Aufklärung zu einem positiven Bild des englischen Amerika gelangen können, konterkariert Desing den angloprotestantischen Fortschrittstopos: Im spanischen Amerika bilde sich ein exemplum geglückter europäischer Institutionalität ab, während die Situation an den „englischen Plätzen“ von Rückständigkeit geprägt sei.346 Trotz ihrer grundsätzlich eurozentrierten Perspektive wenden sich die Auxilia auch den Indigenen zu. So sehr Desing von der Gleichrangigkeit der Ethnien ausgeht, so klar benennt er die Unterschiede zwischen europäischen Zuwanderern und einheimischer Bevölkerung. Eine erste wichtige Beobachtung bezieht sich auf den terminologischen Umgang mit den amerikanischen Urvölkern: Der bayerische Benediktiner bezeichnet die Einheimischen grundsätzlich als „Wilde“. Er kann allenfalls Abstufungen im Barbarischen, etwa nach Maßgabe des sozialen Organisationszustands, erkennen: Zivilisierter seien die Peruaner und Mexikaner, da sie während der präkolumbianischen Ära in Monarchien gelebt hätten. Auf der niedrigsten Stufe des Barbarischen stünden hingegen die kanadischen Indianer, weil sie über keine staatliche Normativität verfügten.347 Bereits hierin setzte sich Desing von den zeitgenössischen Jesuiten ab. Diese betonten die prinzipielle Kompatibilität des Indigenen mit dem Europäischen vor allem im Bereich der religiösen Erfahrungen (etwa im Rekurs auf den Eingottglauben als Teil eines gemeinsamen, im Fall der Indianer freilich verdunkelten Offenbarungserlebnisses).348 Wie sehr die Auffassungen voneinander abweichen, zeigt sich gerade an diesem Punkt. Für Desing bietet sich das präkoloniale Religionspanorama der Neuen Welt als Szenario der Irrtümer und des Aberglaubens dar.349 Mit der Evangelisierung eröffne sich die Möglichkeit, diesen indianischen Paganismus zu überwinden, freilich nicht durch behutsame Missionsformen, wie sie Inkulturation und Akkommodation böten. Im Gegenteil: Die Prozesse von Christianisierung und Zivilisierung hingen wesentlich von dem kalkulierten Einsatz machtstaatlicher Mittel ab. Beide Ziele ließen sich nur in der forcierten kolonialen Durchdringung der überseeischen Räume erreichen. Selbst den hohen Preis der militärischen Gewaltanwendung nimmt der Intellektuelle in 346 Vgl. Desing, Auxilia Historica I (1747), 350. 347 Zu einzelnen Belegen aus dem geograſschen Œuvre von Desing vgl. ders., Schulgeographie, 389 (darin heißt es, Mexiko sei ein „mächtiges Reich mit sehr grossen volkreichen Städten“; bewohnt werde es von „wilde[n] und heidnische[n] Einwohner[n]“, die er auch als „wilde Bestien“ bezeichnet). 348 Vgl. Kapitel 7 und 14. 349 Vgl. Desing, Auxilia Historica I (1747), 340f.

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Kauf. Gewiss rechtfertigt er nicht blindlings die brutalen Unterwerfungs- und Ausbeutungspraktiken der ersten Konquistadoren.350 Dennoch zeigten sich in deren Vorgehen moralisch nachvollziehbare, sozusagen aus dem Notrecht abgeleitete Gewissensgründe. Der bayerische Gelehrte hat dabei vor allem die Menschenopfer der Inkas im Sinn. Die Grausamkeit dieser Kultform liefere eine ethische Rechtfertigung für das Vorgehen der Kolonisatoren.351 So erscheint das spanische Regiment als heilsgeschichtlicher Katalysator, der inhumane Strukturen beseitigt und die Indigenen aus ihrer menschenrechtlichen Unmündigkeit befreit. Die Kolonialherrschaft bewirke eine schockartige Anpassung der Indianergesellschaften an die (europäische) Moderne. Sie ebne den nun zivilisierten Wilden den Weg an die Seite der europäischen Kulturmächte. In der Deutung der Auxilia ist das Verhältnis von Alter und Neuer Welt Entwicklungsdynamiken unterworfen. In naturrechtlicher Hinsicht bestehe zwar eine Ranggleichheit zwischen den beiden Weltteilen. Historisch sei diese Parität gleichwohl erst mit der Kolonialisierung des 16. und 17. Jahrhunderts sichtbar geworden. Zudem sei das Gefüge der interkontinentalen Beziehungen vielfältigen Überformungsprozessen ausgesetzt. Desing sieht durch den überseeischen Faktor eine Entwicklung angestoßen, in deren Sogwirkung Europa, das handlungsbestimmende Subjekt des Expansionszeitalters, selbst zu einem Objekt globaler Interaktionen werden kann. Denn es sei keinesfalls sicher, dass Europa seine Leitrolle werde behaupten können. Auf religiösem Feld hätten die transatlantischen Gewichtsverlagerungen bereits begonnen. Weitere Verwerfungen erkennt der Beobachter auf ſskalischem und wirtschaftlichem Gebiet. Im Gegensatz zu den kirchengeschichtlichen Entwicklungen bewertet Desing die Dinge ausgesprochen negativ.352 Die kontinuierlichen Edelmetall- und Edelsteinimporte aus Amerika hätten die Verhältnisse in Europa stark verändert. Teuerung und Geldentwertung bedrohten die binnenökonomische Verfassung, insbesondere in Spanien. Für noch verhängnisvoller hält der Autor aber die sozialen Folgen. Der Kampf um das koloniale Gold habe die Gier der Staaten angestachelt. Das politische Konƀiktpotenzial habe sich damit in Europa beträchtlich erhöht.353 Auch das individuelle Wertesystem sei aus den Fugen geraten. Die Konsequenzen der Ex350 Vgl. Desing, Auxilia Historica I (1747), 375f. 351 Vgl. Desing, Auxilia Historica I (1747), 379: „[D]urch das unmenschliche Götzen-Opfer wurden Jährlich vom König in Mexico allein 20000. Menschen geschlachtet […]. Dises Handwerck würden sie, ohne der Spanier Bezwingung getriben haben hundert und mehr Jahr.“ 352 Vgl. Desing, Auxilia Historica I (1747), 392: „Uberhaupts aber zu reden, so siehe ich (die Fortpƀantzung des wahren Glaubens ausgenommen) nichts als lauter Schaden aus West- und Ost-Indien in Europam herüber ƀießen.“ 353 Vgl. Desing, Auxilia Historica I (1747), 392-396, hier besonders 396f.: „Dise frembde Handlungen haben auch die Eyfersucht und jenes Mißtrauen unter den Europäischen Völckern verursachet, welches niemahl so starck als seit solcher Zeit war.“

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pansion würden nicht nur auf der Makroebene spürbar. Sie drängen zudem in die mikrogeschichtlichen Schichten, in die Alltagserfahrungen ein und fänden etwa in veränderten moralischen Vorstellungen ihren Niederschlag. Einen Indikator für diesen Wertewandel erkennt Desing im Konsumverhalten. Dabei greift er mit seiner Skepsis gegenüber Tabak, Tee, Kaffee und Schokolade ein typisches Motiv des zeitgenössischen Ernährungsdiskurses auf.354 Die massive Einfuhr dieser Luxusgüter aus Amerika ist für ihn kein Kennzeichen gelungener wirtschaftlicher Integration. Vielmehr untergrabe ihr Konsum das Gesundheitsbewusstsein der Europäer. Insbesondere der Adel, so hält der Benediktiner in ständekritischer Pointierung fest, sei durch „zarte Auferziehung, Speiß, Tranck, Kleidung […] zu denen Ungemachen des Kriegs unfähig“ geworden, „wegen welchen sie doch ihre grosse[n] Güter haben“.355 Die zeitgeschichtliche Bestandsaufnahme des transatlantischen Verhältnisses hinterlässt also eine zwiespältige Bilanz: Den Erfolgen der amerikanischen Wende stehen Gefahren gegenüber. Sie deuten sich vor allem in den ökonomischen Entgrenzungsprozessen an. Diese bewirken eine moralische Erosion, die wiederum Europa in den Zustand einer sozialen Dauerkrise versetzt. Man könnte auch sagen: Amerika proſtiert von der transatlantischen Begegnung, während Europa letztlich Leidtragender der Entwicklung, also Schauplatz eines anhaltenden historischen Bedeutungsverlusts ist. Bei Desing ist die Sensibilität für die Tragweite dieser Tendenzverschiebungen intensiv ausgeprägt. Methodisch leitet er diese Überzeugung aus einer Vorform der kultursoziologischen Analyse ab. Im Unterschied zu den protestantischen Reichshistorikern argumentiert er weniger von einer politikgeschichtlichen Position aus. Die Erkenntnis erschließt sich für ihn aus der interdisziplinären Zusammenschau konfessioneller, ökonomischer und mentaler Faktoren. Amerika-Kritik Die verhaltene Skepsis von Desing gegenüber der Neuen Welt schlägt bei Edmund Pock zu offener und systematisch vorgetragener Kritik um. Bevor man diese kritischen Ansätze näher betrachtet, sei zunächst ein Blick auf die Werkstrukturen geworfen. Die Historisch-Chronologisch-Geographischen Tabellen decken hauptsächlich die Zeitgeschichte, das heißt die Geschichte des 18. Jahrhunderts, ab (Tabelle 9). Aktualität war ein besonderer Anspruch des Autors, auch wenn er sich – der universalchronistischen Tradition folgend 354 Vgl. Menninger, Genuß, 263-267. 355 Desing, Auxilia Historica I (1747), 396. Ähnlich ebd.: „Aus America haben wir den Taback, den Zucker, Thee, Coffee, Chocolat, villerley Gewürtz und Salbereyen. Wie schädlich diese Dinge unserer Gesundheit seyen, konte ich der Länge nach darthun, wann es dises Orts wäre. Es wird der Leib verzärtelt, daß er die rauhe Arbeit zu Hauß und im Krieg nicht mehr ertragen kan.“

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– einer bis auf die Genesis zurückreichenden Kontinuität verpƀichtet sah. In der Ettaler Tabellenhistorie wird das Kontinuum in drei Entwicklungsstränge aufgliedert: Die erste Tabellenspalte bezieht sich auf die politische Dimension des okzidentalen (römisch-deutschen) Kaisertums; die zweite Spalte befasst sich mit der Sphäre der Papstkirche; in der dritten Rubrik werden allgemein „Merckwürdigkeiten“ beschrieben.356 Mit diesem Ordnungsansatz unterscheiden sich die Tabellen von Pock grundlegend von der Mehrzahl der gattungstypisch verwandten Werke (diese sind in der Regel geograſsch nach Reichen, Staaten oder Völkern geordnet). Das Kriterium der frühmodernen Staatlichkeit bleibt unberücksichtigt. Vielmehr geht der Benediktiner – mit einer Konsequenz, die selbst für die zeitgenössische Universalhistorie außergewöhnlich ist – von der ungebrochenen Gültigkeit der mittelalterlichen Weltreichslehre aus.357 Das römische Reich und sein geistliches Analogon in der katholischen Kirche bilden zwei Pole, auf die sich das Gros der historischen Zustände beziehen lässt. Im „Synchronismus der Merckwürdigkeiten“ sind dagegen vorwiegend Phänomene erfasst, die außerhalb des politischen oder kirchlichen Interessenprimats liegen. Es kann sich dabei um Naturereignisse wie das Erdbeben von Lissabon (1755) oder um ökonomische Entwicklungen, etwa die Finanzdeſzite der britischen Krone, handeln.358 Außerdem ordnet Pock dieser Kategorie Geschichtsräume zu, die sich für ihn nicht mit dem Begriff des Westens zur Deckung bringen lassen, so beispielsweise das Osmanische Reich.359 Im Distanz- und Differenzeffekt gewinnt diese Ordnungskategorie eine normative Funktion, die „außerrömische“, sprich: außereuropäische, Wirklichkeiten für den Leser als solche leicht erkennbar machen soll. Das speziſsche Zeit- und Raumverständnis wirkt nachhaltig auf das Amerika-Bild der Tabellen zurück. Wie sich im Werkschema herauskristallisiert (Tabelle 9), verläuft die Wahrnehmungskurve zwischen den drei Säulen der Tabelle. Zu Beginn, also während des Entdeckungszeitalters, ſguriert das Thema noch ausschließlich unter der Spalte der „Merkwürdigkeiten“. Sie ist damit als außerokzidental markiert. Mit der Mitte des 18. Jahrhunderts kommt es zum Perspektivenwechsel. Über die Kirchengeschichte dringt die Neue Welt in den Geltungsbereich der römisch-deutschen Geschichte ein. Man kann hier von einer „okzidentalen Wende“ sprechen, in deren Folge das zunächst nur periphere Phänomen in das Zentrum des europäischen Erinnerungsraums rückt. Der amerikanische Zusammenhang steigt zum beherr356 Zu dieser Ordnungssystematik vgl. E. Pock, Tabellen (1736), Vorbereitung, Xf. 357 Zu Edmund Pock als deren besonders entschiedener Verfechter vgl. Neddermayer, Mittelalter, 92. 358 Vgl. E. Pock/Parode/Anonym, Tabellen (1764), 400,3 (Erdbeben von Lissabon), 402,3 (Finanzprobleme der englischen Krone). Zum Erdbeben von Lissabon als Kriterium der Epochendiskussion im 18. Jahrhundert vgl. die Beiträge bei Lauer/Unger, Erdbeben von Lissabon. 359 Vgl. E. Pock/Parode/Anonym, Tabellen (1764), 330,3f.

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schenden Motiv der benediktinischen Universalhistorie auf. Für das Jahrzehnt zwischen 1754 und 1764 lassen sich in der Chronik insgesamt 16 einschlägige Bezüge aufweisen. Davon entfallen 13 auf die Reichs- und Kirchengeschichte sowie drei auf den „Synchronismus der Merckwürdigkeiten“. Man sieht also: Für Pock und seine Fortsetzer erweist sich das 18. Jahrhundert als amerikanisches Säkulum. Denn auch die übrigen Betreffe beziehen sich meist auf Ereignisse, die innerhalb dieses Zeitraums stattgefunden haben, so auf den Frieden von Rastatt und dessen Bestimmungen über Nordamerika (1714), den spanisch-englischen Seekrieg in der Karibik (1739) oder den Konƀikt zwischen britischer und französischer Krone um das geopolitisch bedeutsame Cap Breton an der kanadischen Küste (1744).360 Im Gegensatz dazu fällt das Echo auf die Expansionsbewegungen zu Beginn des 16. Jahrhunderts erstaunlich schwach aus. Von den mehr oder minder umfangreichen Würdigungen der spanischen und portugiesischen Entdeckungsleistungen, wie sie den Entwurf von Desing bestimmen, ist die Welthistorie von Pock weit entfernt. Die Hinweise auf die portugiesischen Expeditionen nach Westindien haben bestenfalls kursorischen Charakter. Ähnliches gilt für den Bericht über die Entdeckung der Magellan-Straße, zumal Edmund Pock die Initiative für deren Erforschung explizit Kaiser Karl V. zuschreibt, es ihm also vor allem darum geht, die Entdeckungsinitiative des Reichs hervorzuheben.361 Über die weiteren kolonialstaatlichen Entwicklungen geht der Autor ebenfalls hinweg. Dabei ist zu bedenken, dass Pock seinem Lehrbuch noch eine geograſsche Vorstellung der Erd-Kugel angefügt hat. Hier wurde das in den Tabellen fehlende landeskundliche Element umfassend berücksichtigt.362 Wie lassen sich die beiden dominanten Tendenzen der Ettaler Tabellenhistorie – einerseits die Konzentration auf das 18. Jahrhundert, andererseits die Integration der Neuen Welt in die Reichsgeschichte – genau erklären? Für Edmund Pock (und seine beiden Fortsetzer) lieferten die außenpolitischen Umbrüche nach 1750 das entscheidende historische Stichwort. Ihre Wahrnehmung orientierte sich an den Ereignissen des Siebenjährigen Kriegs, dessen Ursprung sie unmittelbar mit dem amerikanischen Raum verknüpften. Die Metaphorik des transatlantischen Überschlags, also die Vorstellung, dass die Kriegsvorgänge von den Welträndern her Europa und das Reich im Dominoeffekt einer sich wellenartig ausdehnenden Globalkrise ergriffen hätten – diese Vorstellung beherrschte den Wahrnehmungshorizont. So hält die Chro360 Vgl. E. Pock/Parode/Anonym, Tabellen (1764), 307,3 (Friede von Rastatt), 308,3 (Karibik), 318,3f. (Cap Breton). 361 Vgl. E. Pock/Parode/Anonym, Tabellen (1736), 337,3, 340,3. 362 Erste Auƀage von 1733, weitere Auƀagen 1734 und 1750. Vgl. hier nach der ersten Auƀage die Aufstellungen über die amerikanischen Naturräume: E. Pock, Vorstellung, 3 (Meere), 4 (Meeresbuchten), 5 (Meerengen), 6 (Seen), 7 (Flüsse), 8 (Inseln), 9 (Festland), 10 (Halbinseln), 11 („Erd-Engen“), 12 (Gebirge), 15 (Länder).

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nik für das Jahr 1763 im Ausblick auf den Hubertusburger Frieden fest: „Dieses war das End dieses Kriegs, der sich am Ende der Welt, nämlich in NordAmerica angezettelt, und bis zu den äußersten Mächten von Europa ausgebreitet hat“363. Damit ist ein Standpunkt beschrieben, der an protestantische Wahrnehmungsmuster erinnert. Hier zeigt sich, dass die katholische Historiograſe – selbst in ihrer nicht-jesuitischen, zudem auf die Wissensansprüche einer mittelstaatlichen Elite zugeschnittenen Form (den bayerischen Adel) – durchaus in der Lage war, aktuelle globale Entwicklungsdynamiken aufzunehmen und einzubinden. Gleichwohl setzte die Ettaler Chronistik im Vergleich zur protestantischen Geschichtsschreibung eigene Schwerpunkte. Diese Beobachtung gilt vor allem für das nationale Interpretationsmoment, das bei den Benediktinern – wie insgesamt bei den katholischen Amerika-Autoren – deutlich schwächer ausgeprägt ist. Gewiss tauchen auch hier die typischen, aus der protestantischen Universalhistorie bekannten Motive auf: Die Anwerbung deutscher Söldner, ihre Zwangsteilnahme am englisch-französischen Kriegsgeschehen in Übersee – all das wird mit moralischer Entrüstung quittiert.364 Nicht anders verhält es sich mit der Kritik an der Politik der „Cabineter“. Deren Machenschaften haben für Pock und seine Nachfolger den Krieg überhaupt erst möglich gemacht: Sie hätten daher mit der Enthüllung und Bestrafung ihrer dubiosen Absichten am Tag des Jüngsten Gerichts zu rechnen.365 Das sind Sätze, die man auch bei Heiden lesen könnte, um nur auf ein besonders markantes protestantisches Parallelbeispiel zu verweisen. Dennoch wurde in den Tabellen auf das Spannungsmoment gesteigerter nationaler Erregung verzichtet, wenn von dem French and Indian War und seinen Folgen für das Reich die Rede ist. Einen unmittelbaren, kausalen Zusammenhang zwischen Amerika als Kriegsverursacher und Deutschland als dessen Hauptopfer konnten die Ettaler Historiker nämlich nicht erkennen. Vielmehr erschienen ihnen die synchron verlaufenden Konƀiktvorgänge zwischen Alter und Neuer Welt als Bestandteil einer allgemeinen Systemkrise, von der alle europäischen Länder gleichermaßen betroffen sind. Mit der speziſschen Argumentationslinie und Ordnungssystematik der Tabellen sollte vor allem der strategische Bedeutungszuwachs der Neuen Welt herausgestellt werden: Amerika, so sollte es dem Leser vermittelt werden, sei jetzt zu einem wichtigen Akteur auf der Bühne des okzidentalen Imperiums geworden und nicht mehr bloß exotisches Objekt in einer zivilisationsfernen Welt, wie noch während der Entdeckungsphase des 16. Jahrhunderts. 363 E. Pock/Parode/Anonym, Tabellen (1764), 400,1. 364 Vgl. E. Pock/Parode/Anonym, Tabellen (1764), 362,1f. 365 Vgl. E. Pock/Parode/Anonym, Tabellen (1764), 400,1: „Was Absichten jede der kriegenden Mächte gehabt habe, ist theils aus dem bisher Erzählten abzunehmen, theils bleibt es ein Geheimniß der Cabineter, ein mehrers wird uns der Tag entdecken, an welchem nichts verborgen bleibt.“

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Primär ist das Bild der Ettaler Chronik durch den Trend zur politischen Wahrnehmung geprägt. Für das Amerika-Verständnis waren aber noch weitere Tendenzen bestimmend, nämlich erstens: das Festhalten am Begriff der „Merckwürdigkeiten“, und zweitens: die programmatische Verwendung der kirchengeschichtlichen Kategorie. Trotz der Politisierung der Deutungsmuster blieb die Neue Welt des 18. Jahrhunderts für die Benediktinergelehrten weiterhin ein Gegenstand des Merkwürdigen. Freilich verlagerten sich die ereignisgeschichtlichen Referenzebenen. Die Ordnungskategorie bezeichnete nun stärker das landeskundliche Moment. Sie bezog sich etwa auf die englischen Kolonien in Pennsylvania und Neuschottland, auf ethnograſsche Sachverhalte (Indianer) oder die spanischen Niederlassungen in der Karibik (Kuba).366 Die transatlantischen Entwicklungen hatten für die Benediktiner weitreichende kirchengeschichtliche Konsequenzen. So bewirkte die Nordamerikanisierung nicht nur eine Veränderung in der Machtbalance des Westens, sie setzte auch ungeahnte religiöse Energien frei, die der Papstkirche nach dem Einbruch der Reformation neue Kräfte zuƀießen ließen. Der Gedanke der konfessionellen Kompensation kam so wieder zum Vorschein. Mehr noch: Der empirisch messbare Erfolg der katholischen Missionsmaßnahmen, deren Überlegenheit gegenüber vergleichbaren protestantischen Projekten, wurde zum Beweismittel für die heilsgeschichtliche Richtigkeit des katholischen Wegs. Das amerikanische Argument trat in den Dienst der konfessionellen Kontroverse. Die Autoren sahen im amerikanischen Raisonnement eine Strategie, um die lutherischen Geltungsansprüche gleichsam aus interkontinentaler Perspektive heraus zu entkräften.367 Mit dem Postulat der römischen Universalität reagierten die Benediktiner auf die um die Mitte des 18. Jahrhunderts weiterhin anhaltende Diskurskonkurrenz zwischen den beiden großen Konfessionen (für Edmund Pock be366 Vgl. E. Pock/Parode/Anonym, Tabellen (1764), 336,3 (Pennsylvania), 354,3 (Indianer) und 392,3f. (Kuba). 367 Vgl. E. Pock/Parode/Anonym, Tabellen (1764), 319,2: „Die so grosse Erbitterung einiger Herren Protestanten wider Ihro päbstliche Heiligkeit, und gesamte catholische Geistlichkeit rühret zum Theil auch daher, dieweilen wir mit diesem nicht zufrieden leben, daß wir uns für uns selbst zur catholischen Religion bekennen, sondern auch uns bemühen, andere zu dem catholischen Glauben zu bringen, und von Rom aus Missionarii in alle Welt-Theil zu diesem End ausgesendet werden; allein eben diese der catholischen Priestern in allen 4. Welt-Theilen, und sonderlich in America so gesegnete Arbeit, solle unsern widrigen Glaubens-Genoßen die Augen eröfnen, und ihnen zum klaren Beweiß dienen, daß das Ius mittendi durch Anordnung Christi des HErrn niemand andern, als einzig und allein dem römisch. Stuhl beywohne, demnach unser Glauben allein derjenige seye, welchen Christus geprediget, und erstlich seinen Apostlen, darnach aber derer Heil. Apostlen Nachfolgern zu predigen anbefohlen. Die Protestanten aber seynd von GOtt nicht berufen denen Heyden zu predigen, darum lassen sie es auch bleiben, dann die Missiones der Protestanten in Indien, und America kommen mit dem römischcatholischen Missions-Werck in keinen Vergleich.“

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stand gerade im Einbringen des katholischen Standpunkts ein Hauptziel seiner historiograſschen Bestrebungen). Zugleich ist die programmatische Inanspruchnahme von Amerika für Rom vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Auseinandersetzungen um Aufklärung und Staatsabsolutismus zu sehen. Virulent wird dieser Zusammenhang etwa in der Jesuitenfrage, die breiten Raum einnimmt und die – im Gegensatz zu den beiden anderen jesuitenkritischen Benediktinern Desing und Schelle – mit auffällig starken Sympathien für den tridentinischen Reformorden behandelt wurde. So wird in den Tabellen über die ersten Verfolgungsmaßnahmen der Portugiesen und Spanier gegen die Societas Jesu in den südamerikanischen Kolonien berichtet.368 Ausführlich weisen die Autoren die in der Aufklärungspublizistik immer wieder lancierten Anschuldigungen gegen die Jesuitenreduktionen zurück, so etwa den notorischen Vorwurf der Selbstbereicherung oder der Insubordination gegenüber den kolonialstaatlichen Behörden (im Zusammenhang mit der Legende um den so genannten Jesuitenkönig Nikolaus I. von Paraguay). Kritisch schildern sie die 1759 einsetzende Vertreibung der Societas Jesu aus Brasilien und Portugal. Als Ereignis von geradezu fataler Vorbedeutung rückt das Tabellenwerk die Seligsprechung des mexikanischen Bischofs Juan Palafox durch Papst Innozenz X. (1763) in den Blickpunkt.369 Dieser Vorgang war für die Ettaler Autoren ein weiterer zeitgeschichtlicher Beweis für die wachsende Distanz der Neuen Welt gegenüber den Strömungen des tridentinischen Katholizismus, oder umgekehrt formuliert: für die zunehmenden staatskirchlichen Tendenzen in Amerika. Immerhin gehörte Palafox in der kolonialspanischen Hierarchie zu jenen Klerikern, die sich besonders nachdrücklich für die Aufhebung und Vertreibung des Jesuitenordens eingesetzt hatten.370 Damit gewinnt das Ereignisarrangement der Tabellen eine geschichtsphilosophische Deutungsqualität: So wie sich mit den Missionserfolgen der früheren Jahrzehnte zunächst die Möglichkeit einer America catholica anzubahnen schien, so stand nun die Befürchtung der großen historischen Revision im Raum. Mit der Ausweisung der Jesuiten aus Südamerika deuteten sich revolutionäre Veränderungen an, in deren Folge sich das Rad der Heilsgeschichte zurückdrehen und der frühere Erfolg rasch wieder zur Makulatur werden konnte: Amerika als Ausgangspunkt einer auch Europa erfassenden Dechristianisierungswelle – diese skeptische Perspektive bestimmte zunehmend den Tenor. Über den Amerika-Assoziationen lasteten die Schatten der aufklärerischen Kloster- und Kirchenkritik, die auch und gerade im Entstehungsraum der Tabellenhistorie, im Kurfürstentum Bayern, während der zweiten Hälfte 368 Vgl. E. Pock/Parode/Anonym, Tabellen (1764), 366,2. 369 Vgl. E. Pock/Parode/Anonym, Tabellen (1764), 353,3f. (Nikolaus von Paraguay), 372,2 (Vertreibung der Jesuiten), 397,2 (Seligsprechung von Palafox). Ereignisgeschichtlich zu diesen Hinweisen vgl. Glüsenkamp, Schicksal, 14f., 75f.; C. Vogel, Thema, 155-157. 370 Vgl. Glüsenkamp, Schicksal, 172f.; C. Vogel, Thema, 139-141.

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des 18. Jahrhunderts stark an Boden gewannen.371 Das Vertrauen in die christliche Kompensationskraft der Neuen Welt wurde nachhaltig erschüttert. Tabelle 9: E. Pock / Parode / Anonym, Historische, chronologische und geografische Tabellen (1764). Chronologische und sachliche Einordnung der amerikanischen Geschichte (graue Flächen) Buch V: Von der Römischen Monarchie Kapitel II: Von denen Römischen Geschichten nach aufgerichter Monarchie Occidentalis[che] oder teutZeitachse sche römische Kayser.

Päbste, oder Kirchen-Geschichte.

Synchronismus der Merckwürd[igkeiten].

1495

portugiesische Expeditionen nach Westindien

1520

Entdeckung der MagellanStraße

1714

Folgen des Friedens von Rastatt für Amerika

1739

Krieg zwischen Spanien und England in der Karibik

1744

1749

Salzburger Exulanten in Georgia, katholische Missionserfolge Folgen des Friedens von Paris für Amerika

1750 1754

Konflikt zwischen England und Frankreich um das Cap Breton

englische Kolonien in Pennsylvania und Neuschottland Konflikt zwischen England und Frankreich in Akadien

1755 1756 1757

Jesuitenreduktionen in Südamerika, Indianer in Nordamerika

1758 1759 1760

French and Indian War / Siebenjähriger Krieg

Vertreibung der Jesuiten aus Brasilien

1761

Vertrag zwischen Spanien und Portugal über Kuba

1762 1763

Kuba Beatifikation des mexikanischen Bischofs Juan de Palafox y Mendoza

1764

371 Vgl. zuletzt A. Schmid, Säkularisationspolitik, 89-109.

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Geschichte der Humanität Auf das Ende der Heilsgeschichte in Amerika reagierte Augustin Schelle mit der Teleologie des Fortschritts. Das Prinzip der innerweltlichen Glückseligkeit verdrängte die heilsgeschichtliche Kompensationstheorie. Die Neue Welt fungierte bei dem Salzburger Benediktinerprofessor nicht mehr als Spiegelbild der europäischen Religions- und Konfessionskonƀikte, gleichsam als Ausweichquartier für die eine oder andere Glaubensgemeinschaft. Vielmehr wurde Amerika zum historischen Laboratorium, in dem sich das ethische und materielle Voranschreiten der Menschheit bzw. die retardierenden Momente in diesem Prozess beobachten lassen. Denn für Schelle hat der Historiker primär die vielfältigen Möglichkeiten menschlicher Selbstperfektion auszuloten. Der Gelehrte interessierte sich daher vor allem für die Bedingungen, unter denen moderne Humanität, Fortschritt und Freiheit entstehen können.372 Dabei hob Schelle auf den wirkungsvollen, geradezu dialektisch aufgeladenen Gegensatz von englischem und spanischem Geschichtsprinzip ab. Dekadenz in Iberoamerika, Aufbruch in Angloamerika – auf diese programmatische Alternative läuft seine Darstellung hinaus. Und es ist klar, welchem Teil der Neuen Welt die Sympathien des Illuminaten gehörten. Sie lagen – ganz im Sinne der gerade in diesen Zirkeln weit verbreiteten Anglophilie373 – eindeutig auf der Seite der britischen Kolonien. Zu fragen ist indes, mit welchen Assoziationskomplexen diese beiden Gegenpositionen der amerikanischen Geschichte konkret verknüpft wurden. Oder anders formuliert: In welchen Ereignissen und Merkmalen manifestierten sich englischer Fortschritt und spanischer Rückschritt? Das Amerika der kolonialstaatlichen Epoche wurde in erster Linie von vier europäischen Nationen repräsentiert, von Portugal, Spanien, England und Frankreich (wobei die ehemalige französische Herrschaft in Kanada, den Territorialverschiebungen nach 1763 entsprechend, nur noch als historische Marginalie behandelt wird374). Ältere Schichten der europäischen Koloniebildung, etwa die schwedischen und niederländischen Niederlassungen an der nordamerikanischen Ostküste, wurden in dem stark von zeitgeschichtlichen Deutungsabsichten bestimmten Ansatz nicht mehr berücksichtigt. Freilich ging es dem Autor vor allem darum, die Krisenanfälligkeit, mehr noch: den offensichtlichen historischen Legitimitätsverlust der spanischen Kolonialstaatlichkeit in einer Art von Symptomatik herauszuarbeiten. Deren innerer Sinn – die 372 Vgl. zu diesen Funktionen aufklärerischer Geschichtsdeutung Rohbeck, Funktion. 373 Im Zusammenhang mit den positiven Stimmungen der bayerischen Illuminaten für Angloamerika stand auch deren 1780 geplantes, freilich rasch wieder aufgegebenes Kolonisationsprojekt „Elysium“ in South Carolina (vgl. dazu Neugebauer-Wölk, Bünde, 52f.; Korrespondenz der Illuminaten, 140-142, 154-157, 170f.; APSL Franklin Papers XX, 63 (Kemtenstrauss an Benjamin Franklin, 1780 V 9)). 374 Vgl. Schelle, Abriß II, 378.

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Zivilisations- und Kulturmission – sei längst erodiert. Übrig blieben die leeren Hüllen, die das politische und moralische Vakuum des einstigen Imperiums kaum mehr verdecken könnten. Seit 1598 befände sich die Entdeckernation – im 16. Jahrhundert noch eine Macht „im Übergewicht“ – in einem kontinuierlichen Niedergang. Dieser Verfallsprozess habe sich unter dem habsburgischen und bourbonischen Regiment während des 17. und 18. Jahrhunderts drastisch verschärft. Symptomatisch zeichne sich dieser auf dem iberoamerikanischen Feld ab.375 So stehe den dort an sich günstigen Standortfaktoren, etwa der fruchtbaren und reichen Naturausstattung in Kalifornien und Mexiko376, die fatale Indolenz der spanischen Kolonialbevölkerung gegenüber. Der Autor bietet die diskriminierenden Topoi der schwarzen Legende auf, um im Rundumschlag gegen die kirchlichen und staatlichen Eliten in Süd- und Mittelamerika die Stichhaltigkeit seiner These zu bekräftigen. Es sei der „unwissend[e]“, „übelgesittet[e]“ und „faul[e]“ Klerus, der an der Misere Schuld trage; nicht weniger schlimm seien die „Layen“, das „lüderlichste und bigotteste Volk auf Gottes Erdboden“.377 Bei der spanischen Faulheit handele es sich indes um ein transatlantisches Phänomen. Denn nicht nur die Kolonialspanier, sondern auch ihre europäischen Landsleute seien „faul geworden […], seit dem sie […] die Mauren verjagt haben, und das Amerikanische Gold so reichlich ihnen zuƀießt“378. Antithetisch wird diesem Szenario verpasster Gelegenheiten das positive Gegenbild der Indigenen zugeordnet. Schelle bedient sich am Argumentationsarsenal der rousseauistischen Wilden- und Barbarenromantik, um die Deſzienz der Spanier noch kräftiger zu akzentuieren: Während die weißen Kreolen „kein Herz“ hätten, sie „schwach und weibisch, faul und verschwenderisch“ seien, zeigten sich die „Indischen Völker“ in Kalifornien „artig, höƀich, tapfer, munter und stark“. Kaum anders sei die Situation in Neumexiko, wo „leutselig[e]“, „großmüthig[e]“ und „friedfertig[e]“ Eingeborene zu ſnden seien.379 Dabei geht die Negativbilanz auch zu Lasten der Portugiesen. Denn die brasilianischen Kolonien hätten keinen Beitrag zur positiven Entwicklung der Neuen Welt erbringen können. Die portugiesischen Kolonialherren seien ein 375 Zu den Zitaten Schelle, Abriß II, 329-331; vgl. zu diesen Stereotypen auch Gerstenberger, Iberien, 104-116. 376 Typisch ist die Ausgestaltung von Kalifornien zum locus amoenus (vgl. Schelle, Abriß II, 334f.: „Es hat die schönsten Fluren, aber auch die unbewohnbarsten Wüsteneyen. Es hat die mehrsten Früchten, die man sonst in Amerika ſndet, auch gutes Bauholz und eine Art Manna“). 377 Schelle, Abriß II, 340f.: „Ein Drittel aller weissen Einwohner in Mexiko sollen Priester, Mönche und Nonnen seyn. Überhaupt soll die Clerisey unwissend, übelgesittet und faul: die Layen aber vollends das lüderlichste und bigotteste Volk auf Gottes Erdboden seyn.“ 378 Schelle, Abriß II, 363. 379 Schelle, Abriß II, 335f.

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„in die weichlichste Schwelgerey versenktes Volk, […] voller Scheinheiligkeit und Verstellung, ohne Aufrichtigkeit im Umgange oder Ehrlichkeit im Handel“380. Genau dieser letzte Punkt berühre aber das Kernproblem der Entwicklung: Die Spanier und die Portugiesen seien nicht in der Lage, sich substanziell in den Aufbau der modernen Weltzivilisation einzubringen. Dabei deſniert der Benediktiner den Begriff des „Zivilisatorischen“ ganz im Sinn physiokratischer Kausalitäten: Die landwirtschaftliche Produktion sei so inefſzient, dass sie den landeseigenen Bedarf nicht decken könne; aus den reichlich vorhandenen Rohstoffen würden kaum hochwertige, das heißt exportfähige „Manufakturwaaren“ hergestellt; die Einfuhren überstiegen daher die Ausfuhren, mit negativen ſskalischen Auswirkungen auf Staatshaushalt und Volksvermögen. Nicht zuletzt fehle es an Investitionsmitteln, die zum allgemeinen Fortschritt der Menschheit für den Aufbau wissenschaftlicher Infrastrukturen eingesetzt werden könnten.381 Ein positives Modell könne dagegen das englische Beispiel liefern: Im Vergleich zu den Spaniern und Portugiesen verbreite sich die „Emsigkeit der Britten über alle Gattungen der menschlichen Geschicklichkeit“. Im britischen Exempel scheint sich die Verbindung von militärisch-politischer, ökonomischer und wissenschaftlicher Potenz musterhaft zu verwirklichen. Hier bilde die industrielle Veredelung von kolonialen Rohstoffen eine Grundlage für den Erfolg im Welthandel und damit für die Wohlstandssicherung auf breiter Basis; hier könne sich die Entwicklung auf eine machtvoll ausgreifende Seenation stützen. Dabei ſel wiederum dem britischen Nordamerika eine signiſkante Rolle zu. Nicht nur habe die britische Weltgeltung hier ihre Quelle; auch der universale Fortschritt habe seinen Sitz im englischen Teil der Neuen Welt. An der Ostküste, in Neuengland, vor allem aber in den Kolonien am mittleren und südlichen Atlantik liegen für Schelle die Zentren der okzidentalen Weltbewegung. Pennsylvania, Maryland, Virginia und Carolina ſgurierten in seiner Amerika-Beschreibung als Gegenbilder zu den unzivilisierten Ländern in Mexiko oder Brasilien.382 So bemüht der Benediktiner sämtliche Zusammenhänge, mit deren Hilfe sich das nördliche Amerika als funktionierendes Beispiel aufklärerischer Glückseligkeit identiſzieren lässt. Die von den Physiokraten so nachdrücklich propagierte Bedeutung von Rohstoffgewinnung und Agrikultur für den Wirtschaftskreislauf zeigt sich für Schelle in den Eisen-, Fleisch- und Tabakexporten von Virginia. Die positiven Aspekte konstitutionell geordneter Verfassungsstaatlichkeit begegneten einem in den „Grundgesetzen“ von Carolina, die „von dem berühmten [John] Lo[c]ke“ entworfen worden sind.383 380 Schelle, Abriß II, 327. 381 Vgl. Schelle, Abriß II, 319f. 382 Schelle, Abriß II, 431. Zu diesem England-Bild in Süddeutschland vgl. Deutinger, England, 265-270. 383 Schelle, Abriß II, 422 (Carolina), 431 (Virginia).

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Auch das von der protestantischen Universalgelehrsamkeit häuſg zitierte Beispiel der in Pennsylvania geltenden Religionstoleranz und ihrer günstigen Folgen für die allgemeine Zivilisationsentwicklung taucht bei Schelle erneut auf (einen konfessionellen Bewusstseinsreƀex kann man darin erkennen, dass für den Benediktiner die Wirkungen der Toleranz bis nach Maryland reichen und damit den sonst im britischen Weltreich verfolgten Katholiken zugutekommen).384 Das englische Amerika stellt sich als Hort der Aufklärung dar. Und Schelle konnte sich auf prominente Gewährsleute stützen: Ausgiebig zitiert er aus dem von Edmund und William Burke verfassten Account of the European Settlements in America.385 Damit knüpfte er an den von den britischen Eliten des ausgehenden 18. Jahrhunderts so reich instrumentierten Mythos der okzidentalen Zivilisationsmission unter englischem Vorzeichen an. Freilich zeichnen sich zwischen den Zeilen skeptische Anfragen ab, die auf mögliche Alternativen hindeuten: Werden die ƀorierenden nordamerikanischen Kolonien vom Mutterland nicht doch nur als strategische Vorposten betrachtet? Lässt England den Nordamerikanern etwa zu wenig wirtschaftliche und politische „Freyheit“?386 Zwar ging Schelle in seinem 1782 publizierten Werk nicht explizit auf die Auseinandersetzungen zwischen Kolonisten und Krone ein. Wohl aber bereitete er seine Leser auf die Möglichkeit einer neuen Staatsbildung in Übersee vor: Könnte Großbritannien nicht großzügig auf seine Kolonien verzichten? Verdienen die nordamerikanischen Siedlungen nicht längst die Eigenstaatlichkeit? Mit diesen vorsichtigen Annäherungen an die amerikanische Freiheit gehörte Schelle im katholischen Milieu des 18. Jahrhunderts zu den nachdrücklichen Wortführern der Unabhängigkeitsidee.387 KAPITEL 20: ZUSAMMENFASSUNG Westernisierung und Nordamerikanisierung – diese beiden Grunddeterminanten des geograſschen Diskurses bestimmten auch den Duktus des historischen Denkens über die Neue Welt. Heilsgeschichtliche, politisch-ökonomi384 Zu Pennsylvania vgl. Schelle, Abriß II, 420: William Penn habe „dieses Land durch Toleranz und Güte sowohl gegen die Indier als Pƀänzer zur ƀorisantesten aller Colonien“ gemacht. Zu Maryland vgl. ebd., 420 f: Lord Baltimore „schickte 200 meistens Katholiken dahin, die das Land von den [E]ingebohrnen kauften, es der Königin zu Ehren Maryland nannten, es bebauten, und mit den Indiern in guter Freundschaft lebten und handelten“. Er „richtete alles mit Weisheit, Sorgfalt und Mäßigung ein, duldete alle christliche Religionspartheyen, und schafte dadurch seiner Colonie eine beneidenswerthe Aufnahme“. 385 Vgl. Schelle, Abriß II, 386. Der Account erschien 1757 (vgl. dazu Breisach, Historiography, 225; Burke, Rewriting, 41). 386 Schelle, Abriß II, 415, 427. 387 Vgl. Schelle, Abriß II, 426f., 431.

Kapitel 20: Zusammenfassung

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sche Erwartungen, nationale Solidaritäten, nicht zuletzt der revolutionsoptimistische Pathos der Aufklärung traten erneut als Stichwortgeber des amerikakundlichen Interesses auf. Im Großen und Ganzen bestätigen sich also die Ergebnisse aus dem ersten Hauptteil der Untersuchung. Dieser Grundbefund sollte nicht den Blick für die Speziſka des historiograſschen Diskurses über Nordamerika versperren. So ist zu betonen, dass sich die süddeutsche Amerika-Wahrnehmung auf ein erstaunlich breit gefächertes Methodenfundament beziehen konnte. Der Vielfalt der amerikakundlichen Gelehrtenmilieus entsprach eine hohe Pluralität der Rezeptionsansätze, in denen sich wiederum die jeweils gruppenspeziſschen Interessendispositionen widerspiegelten: Die süddeutschen Jesuiten wählten das Format der Missionshistoriograſe. Sie konnten damit eine Kernkompetenz ihres stark wissenschaftlich geprägten Ethos ausspielen und pragmatisch die globalen Kommunikationsstrukturen ihres Ordens ausschöpfen. Das jesuitische Amerika-Bild verdankte diesen Voraussetzungen ein hohes Maß an empirischer Präzision. In den Editionen der Missionskorrespondenzen konnte der zeitgenössische Leser landeskundliche Detailporträts zu den Verfassungszuständen von Pennsylvania ebenso ſnden wie ambitionierte universalgeschichtliche Entwürfe, in denen Nordamerika als heilsgeschichtliche Alternative zur Alten Welt, zu Asien, Afrika oder Europa, apostrophiert wurde. Die Pietisten hingegen beschritten den migrationsgeschichtlichen Weg und stützten sich damit auf eine maßgebliche Komponente ihrer Lebenswirklichkeit, eben die Erfahrung von religiös bedingter Flucht, Auswanderung und Koloniegründung. Diese besondere Mentalitätskonstellation mündete in ein eschatologisch entfesseltes, stark punktuell orientiertes Amerika-Verständnis ein: Die Neue Welt – das war in pietistischen Augen vor allem Georgia, ein wildes Stück Land, an dem sich die göttliche Heilsverheißung für eine kleine Gruppe von Auserwählten unmittelbar erfüllen sollte. Das Geschichtsattribut der Bewegung konnten auch die reichsstädtischen Publizisten in Amerika entdecken. Freilich in anderer Weise als die Jesuiten und Pietisten, die bei ihren Projektionen doch über Autopsie und damit über einen gewichtigen Informationsvorsprung gegenüber ihren rein kompilatorisch arbeitenden Kollegen in den Reichsstädten verfügten. Diese Publizisten bedienten sich – von Heiden und seiner dezidiert kameralistisch inspirierten Flugschrift einmal abgesehen – traditioneller reichsgeschichtlicher Schemata. Sie ordneten die amerikanische Geschichte in die longue durée der danielischen Weltreichslehre ein, immer darauf bedacht, die Präeminenz des Heiligen Römischen Reichs zu wahren (mit Amerika als Extension des Okzidentalen). Dieses auf den ersten Blick starr anmutende Modell bewies im Laufe des 18. Jahrhunderts eine erstaunliche Offenheit für die Dynamiken des Zeitalters. Bestärkt durch frühnationale Sensibilitäten, wandten sich die Reichshistoriografen entschieden den Welten jenseits des Atlantiks zu und maßen ihnen ereignissteuernde Wirkungen zu. In Phänomenen wie der frühen deutschen

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Teil 4: Historiograſsche Amerika-Deutungen

Auswanderung, dem French and Indian War oder dem Siebenjährigen Krieg erkannten sie Indizien einer sich rasch transatlantisch verƀechtenden Weltgeschichte. Das atlantisch-nordamerikanische Paradigma machte vor den Milieus der territorialstaatlichen Hofhistoriograſe und der Aufklärungshistorie nicht halt. Gleichwohl gewann es auch hier charakteristische, durch einen speziſschen Funktions- und Mentalitätsrahmen vorgeprägte Konturen. In der wittelsbachischen Fürstenerziehung trat die Neue Welt nur als koloniale Größe in Erscheinung. Allgemein nahm man Amerika als Teil des europäischen Mächtekonzerts wahr, wobei zunächst die Spanier, später dann die Briten als Träger des amerikanischen Kolonialimperiums in den Vordergrund traten. Die aufklärerischen, aus dem Benediktinerorden stammenden Gelehrten interessierten sich wieder stärker für die religiösen und „weltanschaulichen“ Potenziale der Neuen Welt. Das Meinungsbild wies dabei eine hohe dialektische Spannbreite auf: Für die einen war Amerika eine spanisch-katholische Entität, die verlorenes altkirchliches Terrain in Europa wettmachen konnte (konfessionelle Kompensationstheorie). Für die anderen verband sich mit der Neuen Welt zunehmend die Assoziation an die angloamerikanische Zivilisationsmission. Bei diesem Motiv handelte es sich um ein weitverbreitetes Muster des aufklärerischen Amerika-Diskurses. Erstaunlich ist indes die rhetorische Wucht, mit der dieses Argument am Ende des 18. Jahrhunderts in den Rängen der katholisch-süddeutschen Aufklärung an Boden gewann.

TEIL 5: PLURALITÄT UND PARTIKULARITÄT – NORDAMERIKA IN SÜDDEUTSCHLAND Gab es süddeutsche Amerika-Bilder? Diese Frage nach der Quintessenz der vorangegangenen Erörterungen ist gewiss nicht in apodiktischer Kürze zu beantworten. Zunächst einmal zeigt sich mit großer Eindringlichkeit, dass die Neue Welt für die gelehrten Zentren im Süden des Alten Reichs – trotz ihrer Randlage im meerfernen Mitteleuropa – ein wichtiger Gegenstand des gelehrten Diskurses war. Die Wahrnehmungen und Deutungen des amerikanischen Phänomens bewegten sich dabei innerhalb eines breiteren europäischen und gesamtdeutschen Rahmens. Die Auseinandersetzung stützte sich auf eine gemeinsame Erfahrungs- und Wissensbasis, die sich nicht so ohne weiteres regional ausdifferenzieren lässt: Auswanderung und Mission, Entdeckungsreisen und ökonomische Expansion, politische und soziale Verƀechtung, aber auch die Erweiterung der naturkundlichen wie überhaupt der wissenschaftlichen Erkenntnis – alle diese historischen Vorgänge förderten in Süddeutschland (nicht anders als im übrigen Reich und in Europa) die intellektuelle Begegnung mit dem atlantischen Gegenüber. Indes werden bereits auf dieser realgeschichtlichen Beziehungsebene regionale Besonderheiten sichtbar: Für die süddeutschen Wahrnehmungen war der Faktor der Mission sicherlich ausschlaggebender als jener der politischen Vernetzung. Die von den oberdeutschen Reichsstädten ausgehende globalwirtschaftliche Verbindung mit den Handelsräumen jenseits des Atlantiks spielte eine größere Rolle als die frühneuzeitlichen deutschen Migrationsbewegungen in die Neue Welt. Zwar waren diese ebenfalls hauptsächlich süddeutschen Ursprungs, betrafen dabei aber weniger die im engeren Sinn bayerischen Territorien, sondern stärker die pfälzischen Gebiete. Diese beziehungsgeschichtlichen Charakteristika verweisen auf die kommunikativen Trägergruppen, die in Süddeutschland für die Aufnahme und Verarbeitung von Amerika-Wissen bzw. für die Formulierung und Propagierung von Amerika-Bildern verantwortlich waren. Markant treten die kirchlichen Institutionen als Agenten transatlantischer Wissens- und Deutungsangebote hervor, und zwar auf beiden Seiten der im 18. Jahrhundert nach wie vor relevanten Konfessionsgrenze: zum einen die Jesuiten und, in schwächerem Ausmaß, die Benediktiner, zum anderen die Pietisten. Die institutionellen Alternativen im amerikakundlichen Nachrichtentransfer, etwa der Fürstenstaat mit seinen Hofgelehrten und gebildeten Beamten, ſelen dagegen stark ab. So zumindest stellen sich die Dinge im Bild der Zahlen dar: Immerhin zwei Drittel aller hier vorgestellten Autoren sind dem kirchlichen, davon wiederum die

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weit überwiegende Mehrheit den Orden und damit einer typisch katholischen, besonders in Süddeutschland verbreiteten Intellektuellenvariante zuzuordnen. Auch die Universitäten und Reichsstädte – Erstere als meist von religiösen Trägern gestützte Anstalten, Letztere als Gelenkstücke eines von ökonomischen Vorprägungen bestimmten Rezeptionsinteresses – übertrafen hinsichtlich ihres Informationsengagements eindeutig den zeitgenössischen Fürstenstaat. Die Ursachen für diese Ungleichgewichte lagen wiederum in den kommunikationsgeschichtlichen Ausgangsbedingungen: Die Welt der katholischen Orden war tatsächlich eine universale. Sie erhielt ihre Impulse aus der weit ausgreifenden Missionsdynamik der römischen Kirche während des konfessionellen Zeitalters – wenn man so will: aus der ersten Globalisierungsoffensive des neuzeitlichen Christentums (Wolfgang Reinhard).1 Schwächer wirkte sich der Missionsantrieb im wesentlich lokaler gestimmten Milieu des süddeutschen Protestantismus aus. Grundsätzlich waren die Verhältnisse doch ähnlich: Die Mission öffnete das Tor zur atlantischen Vernetzung; sie ermöglichte den Wissenstransfer über die Kontinente hinweg; sie schuf ein Bewusstsein für den Eigenwert des Außereuropäischen. Diese Zusammenhänge verdienen besondere Beachtung, da sie die Bedeutung des religiösen Vermittlungsmoments sichtbar werden lassen. Die süddeutsche Rezeption der Neuen Welt wurde eben nicht primär von säkularen Kräften getragen; sie bewegte sich vielmehr auf einem von kirchlichen Interessen und Ansprüchen, von religiösen Erkenntnischancen bestimmten Terrain. In der religiösen Verankerung der kommunikativen Infrastrukturen liegt eine entscheidende Ursache für die deutlich geringere Ausstrahlung der staatlichen Vermittlungsinstanzen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen – sie beziehen sich vor allem auf den im landesfürstlichen Auftrag durch die USA reisenden Johann David Schöpf oder den Polyhistor Johann Joseph Pock – konnte der süddeutsche Territorialstaat nur beschränkte Wissensressourcen zur Verfügung stellen. Von vornherein – jedenfalls im Vergleich zum westeuropäischen Kolonialstaat – in seinen Mitteln, in seiner politischen Agenda beschränkt, ventilierte er kaum amerikakundliche Informationsbedürfnisse: Seine Lage an der atlantischen Peripherie ließ eine intensivere intellektuelle Kontaktnahme mit den überseeischen Regionen kaum als vordringliche Aufgabe der politischen Tagesordnung erscheinen. Eindrucksvoll zeigt sich die Reserve gegenüber dem interkontinentalen Machtkalkül in den Erziehungstraktaten des bayerischen Wittelsbachers Karl Albrecht, des späteren Kaisers Karl VII., der sicherlich auf die europäischen Dimensionen seiner Aufgabe gut vorbereitet war, aber darüber hinaus nur basale Kenntnisse der globalen Geopolitik vorweisen konnte. 1

Vgl. Reinhard, Globalisierung, 18-22. Vgl. ähnlich jetzt wieder Jenkins, Next Christendom, 47-62. Dieser begreift die neuzeitliche Missionswelle der europäischen Christenheit als Bestandteil eines umfassenden Prozesses, der heute noch anhalte und zu einer „Ent-Europäisierung“ und „Versüdlichung“ des Christentums führen werde.

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Wenn man sich also die Frage nach der „Regionalität“, nach der lokalen Rückkoppelung von Amerika-Wahrnehmungen im 18. Jahrhundert stellt, dann ergeben sich für den soziokulturellen Befund schärfende Einsichten. Die Milieus, in denen amerikakundliches Wissen auf Interesse stieß und weitergegeben wurde, lassen sich durchaus als „süddeutsch“ identiſzieren und in ihrem Stellenwert quantitativ wie qualitativ recht genau beschreiben. Schwieriger wird das Geschäft, wenn man die sozial- und kulturgeschichtlich fassbare Ebene der Kommunikatoren verlässt und sich den Deutungen selbst zuwendet, das heißt, wenn man nach den regionalen Bezügen im inhaltlichen Proſl fragt. Gewiss kann es als gesicherte Tatsache gelten, dass das in Bayern und seinen Nachbarstaaten vertriebene Amerika-Wissen den topischen Systematiken der europäischen historia literaria folgte. Selbstverständlich hatten die reichsstädtischen Drucker, die Professoren der Dillinger Universität, der Ettaler Ritterschule oder an der Münchner Akademie, nicht nur ein lokales Publikum im Blick. Ganz im Gegenteil: Sie strebten eine möglichst weite Verbreitung an – was sich an der überregionalen Stellung der in Augsburg und Nürnberg erschienenen Americana ebenso zeigt wie an der Jesuitenpublizistik, die sich noch um die Mitte des 18. Jahrhunderts der lateinischen Sprache bediente und somit auf einen übernationalen, europäischen Lesermarkt abzielte. Trotz dieser Verankerung in der europäischen Kulturtradition – sie ist im Rahmen dieser Überlegungen angemessen berücksichtigt worden – wird man doch so etwas wie eine „regionalspeziſsche“ Komponente in den süddeutschen Amerika-Bildern ausmachen können. So kristallisieren sich Wertungsoptionen heraus, die so nur in Süddeutschland getroffen werden konnten, oder besser formuliert: in denen sich Erfahrungs- und Interpretationshorizonte von süddeutscher Provenienz widerspiegeln. Um die Dinge noch konkreter anzugehen: Greifbar werden insgesamt vier Deutungskonzepte, in denen sich die charakteristischen Konstellationen der altbayerischen, schwäbischen und fränkischen Wissenschaftslandschaft im Sinne einer ideenräumlichen Multiperspektivität andeuten. So sind – erstens – ein katholisches und – zweitens – ein protestantisches Muster zu erkennen; daneben ein reichsstädtisches und aufklärerisches als drittes und viertes Modell. Nun ist die Konfessionalität von Wahrnehmungen – wie im Umfeld des Konfessionalisierungsparadigmas immer wieder betont worden ist – ein Umstand, der für das ganze Reich, für das frühneuzeitliche Europa insgesamt, Gültigkeit beanspruchen kann. Was den süddeutschen Fall jedoch von alledem markant abhebt, ist die starke räumliche Verdichtung der konfessionellen Konkurrenzsituation: Der katholische und protestantische Amerika-Diskurs standen hier in einem engen räumlichen und inhaltlichen Bedingungsgefüge. Die Vorstellungen der Augsburger und Ulmer Pietisten rekurrierten auf die jesuitische Publizistik. Urlsperger reagierte mit seinem transatlantischen Nachrichtenkonsortium nicht nur auf zeitgeschichtliche Herausforderungen (die Koloniegründung der Salzburger Exulanten in Georgia); er antwortete

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auch auf die universalistischen Prätensionen der Jesuiten (und Benediktiner), denen er eine eigene lutherische Konzeption der Neuen Welt gegenüberstellte. Man muss die Text- und Informationskonvolute der jesuitischen und pietistischen Missionspublizistik einer vergleichenden Betrachtung unterziehen, um diesen inneren Zusammenhang zu erkennen. Einen eher säkular gestimmten Rezeptionsweg zwischen diesen beiden konfessionellen Optionen beschritten dagegen die laikal-bürgerlichen Gelehrteneliten aus Nürnberg und Augsburg, bei denen ebenfalls regionale Gesinnungslagen wirksam wurden: Ausgehend von den „zentristischen“ Traditionen des reichsstädtischen Milieus2 verknüpften sie das Interesse für Amerika mit reichspatriotischen Loyalitätsbekundungen. Die konservativeren Vertreter dieses Interpretaments verbanden mit der Neuen Welt die Hoffnung auf den Fortbestand des habsburgischen Imperiums. Sie griffen damit auf ein klassisches Motiv des politischen Denkens in den oberdeutschen Reichsstädten zurück, wobei das örtliche Geschichtsbewusstsein in Nürnberg, die Erinnerung an die humanistische Entdeckerleistung der eigenen Gelehrtenprominenz (Martin Behaim), eine wichtige Motivationsbasis für die Beschäftigung mit der Neuen Welt darstellte. Die „fortschrittlicheren“ Repräsentanten – insbesondere Christian Friedrich von der Heiden – gaben ihren Vorstellungen hingegen eine betont protonationale Wendung: Die Neue Welt der deutschen Einwanderer, aber auch Amerika als Verursacher deutschen Leidens und damit – vor allem im Zusammenhang mit dem Siebenjährigen Krieg – das Reich als Opfer der atlantischen Expansion der weltpolitischen Handlungsarena – solche Perspektiven deſnierten die Wahrnehmungsweisen. Freilich dienten sie weniger einer Erkenntnisvertiefung in landes- oder staatenkundlicher Hinsicht; sie waren vielmehr als Vehikel nationaler Bewusstseinsintensivierung gedacht. Und natürlich standen solche Anmutungen nicht im konfessionsleeren Raum: Das nationale Raisonnement ist weitaus häuſger unter den protestantischen Autoren anzutreffen als unter den katholischen, die sich einer universal geweiteten Identität verpƀichtet fühlten. Das aufklärerische Deutungsmodell scheint sich am wenigsten für die Spurensuche nach „Regionalspeziſschem“ zu eignen. Die großen Diskussionen der europäischen und amerikanischen Aufklärung bilden sich offenbar punktgenau im vorliegenden Textcorpus ab: Bei Johann David Schöpf werden die dreizehn Gründerstaaten der new republic zum exemplum geglückter menschlicher Institutionalität. Die Synonymisierung von Amerika und USA im Namen der Revolution, der teleologische Geschichtsbegriff, der die zivilisatorische und ethische Entwicklung der Menschheit in der Neuen Welt letztlich ihrer Vollendung entgegenstreben sieht – diese für das aufklärerische Weltbild typischen Topoi werden von Autoren wie Wolfgang Jäger, Raphael Kleinsorg und Augustin Schelle umfassend bedient. 2

Vgl. zum reichsstädtischen „Zentrismus“ Hille, Vorsehung, 25.

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Bei näherem Hinsehen treten doch wieder Besonderheiten hervor, wobei die konfessionellen Zuordnungen eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen: Der benediktinische Illuminat Schelle entwickelt – im Gegensatz zu den norddeutschen Gewährsleuten seines proamerikanischen Revolutionsenthusiasmus (Gatterer und Schlözer) – eine speziſsche Sensibilität für die Belange der Katholiken in Nordamerika. Ausführlich beleuchtet er deren Freiheitsmöglichkeiten, die für ihn größer sind als im absolutistischen Europa. Damit bewegt er sich auf die Jesuiten zu, die in William Penns „heiligem Experiment“ – dem Versuch eines positiven Zusammenlebens der Religionen in Pennsylvania – eine gute Alternative zum zeitgenössischen Staatskirchentum der Alten Welt erblicken können. Bemerkenswert ist auch die Position von Lorenz Westenrieder. Das Urteil des Aufklärers über das spanische Kolonialreich fällt weit weniger kritisch aus, als es sonst unter den Zeitgenossen üblich war: Für ihn verkörpert das katholisch-spanische Südamerika ein positives Gegengewicht zum britisch-protestantischen Nordamerika. Mehr noch: In seinem imaginativen Reisebericht verortet er in Potosi, dem berühmten und wegen seiner ausbeuterischen Praktiken verrufenen Zentrum des Silberbergbaus, eine pädagogische Provinz von rousseauistischer Ungezwungenheit. Durchaus drücken sich in dem Wertszenario des kurbayerischen Akademiesekretärs Haltungen aus, die einer allgemeinen politischen Bewusstseinslage im Süden des Reichs zu entsprechen scheinen: Westenrieder stand das Spanische sicherlich näher als das Englische, so wie die große bayerische Politik des Zeitalters engere Bindungen an das südliche als an das nördliche Europa aufwies. Überhaupt orientierten sich die aufklärerischen Amerika-Beobachter stark an den politischen Gegebenheiten ihres unmittelbaren Lebens- und Tätigkeitsumfelds: Trotz seines programmatischen Freiheitspathos wird man bei Schöpf keine offene Parteinahme für die nordamerikanischen Revolutionäre ſnden. Der Ansbacher Mediziner vertrat eher einen gemäßigten, staatstragenden Begriff der Aufklärung. Sein Ton folgt dem Stil nüchterner Deskription; auch beklagt er sich schon einmal über den Mangel disziplinierender Staatlichkeit in den USA, etwa im Zusammenhang mit dem rücksichtslosen Raubbau an den Wäldern von New Jersey, dem Schöpf die ökonomischen Segnungen der Forstordnungen im deutschen Fürstenstaat entgegenhält.3 Gewiss wog für den Arzt die Loyalität zum Dienstherren, dem Markgrafen von Ansbach-Bayreuth, schwerer als die Begeisterung für die ungezügelte Libertät im 3

Vgl. Schöpf, Reise I, 45: „Es giebt in Amerika kein Forst- und Jagd-Regal; keine Forstbeamte. Wer neues Land aufnimmt, aufgenommen hat, oder sonst an sich bringt, erhält es zu seinem vollkommenen Eigenthum, mit allem was drauf, drüber und drunter ist. Es wird daher auch nicht leicht ein Gegenstand der Gesetze werden können, die Bauern und Landbesitzer zwangsweise zu lehren, wie sie mit ihren Waldungen haushalten sollen, damit ihren Urenkeln auch ein Stückchen Holz, den Theekessel drüber zu hängen, übrig bleiben möge. Erfahrung und Mangel müssen hier die Stelle der obrigkeitlichen Vorsicht ersetzen“ (Hervorhebung durch RB).

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jungen amerikanischen Freistaat. Ganz anders stellen sich die Dinge dagegen bei dem Salzburger Benediktinerprofessor Kleinsorg dar: Hier wird die Freiheit zum weltbildbestimmenden Maßstab erhoben. Seine geograſsche Deutung erkennt in den Vereinigten Staaten die ſnale Verwirklichung eines Menschheitstraums. Sie ist von der Hoffnung getragen, dass diese Verhältnisse auch in Europa eine Welle des Umsturzes einleiten und zu einer Veränderung der bisherigen Verhältnisse führen werden. Wesentlich vorsichtiger argumentieren wiederum die Repräsentanten der Nürnberger Gelehrtenaufklärung: Die amerikanische Unabhängigkeit ist für sie ein historisch irreversibler Vorgang, eben das Resultat einer sich seit lange anbahnenden Emanzipationsbewegung vom britischen Mutterland. Dennoch bleibt die Tonlage legitimistisch kühl. Neben dem Registrieren des revolutionären fait accompli steht das Bedauern über die Niederlage der Briten – einer Macht, für die man sich in der fränkischen Handelsmetropole durchaus erwärmen konnte. Die katholischen Aufklärer gaben sich also wesentlich revolutionsfreundlicher als ihre Kollegen aus dem protestantischen Umfeld. In den Reichsstädten war man deutlich zurückhaltender eingestellt als an den Universitäten des reichskirchlichen Deutschland. In der vergleichenden Analyse der einzelnen Wissensmilieus und ihrer Träger zeigt sich eine Vielgestaltigkeit der Amerikabilder, in der sich die konfessionelle und politische Pluralität des Alten Reichs widerspiegelt. Dass die zeitgenössischen Deutungen der Neuen Welt jeweils regionalen Einƀüssen unterworfen waren und sich dabei – mittels kontextualisierender Interpretation – süddeutsche Tönungen herausarbeiten lassen – diese Einsicht gehört daher zur ersten, wichtigsten Erkenntnis der vorausgegangenen Erörterungen. Indes beleuchtet die Untersuchung nicht nur verborgene regionale Sektoren der Amerika-Rezeption. Sie lenkt den Blick auf bislang allenfalls sporadisch berücksichtigte Zeiträume und noch kaum ausgewertete Quellenmaterialien. Mit der Zentrierung des Untersuchungsschwerpunkts auf das „lange“ 18. Jahrhundert – also unter Einschluss der barocken Rezeptionsphase seit dem Westfälischen Frieden – und mit dem systematischen Ausgriff auf die globalgeograſsche und universalchronistische Überlieferung sind Bereiche in den Vordergrund gerückt, die in erheblicher Weise zur Vervollständigung des bisherigen Forschungsrahmens beitragen können. Aus dieser doppelten Perspektivenerweiterung ergeben sich zahlreiche neuartige Aspekte für die kategoriale und thematische Konſguration der amerikanischen Welt im frühneuzeitlichen Gelehrtendiskurs. Insgesamt gesehen verteilen sich diese neuen Erträge auf drei Sachebenen: Sie betreffen zum einen die geograſsche Konzeption des amerikanischen Kontinents, zum anderen die Erfassungsmodi seiner kulturellen, politischen und sozialen Beschreibung. Außerdem beziehen sie sich – in einer weiteren Wendung – auf die Interpretation des europäischamerikanischen Kontakts, also auf die Frage, inwieweit Mitteleuropa, das

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Reich und Süddeutschland bereits von den Zeitgenossen als Bestandteil eines atlantischen Zusammenhangs betrachtet werden konnten. Zum ersten Punkt, der Raumkonzeption der Neuen Welt: Besonders zu betonen ist der Umstand, dass die Nordamerikanisierung der Perspektiven nicht erst das Produkt des revolutionären Umsturzes in den britischen Kolonien und der Gründung der USA am Ende des 18. Jahrhunderts war. Die begrifƀiche Gleichsetzung der nördlichen Kontinentalhälfte mit dem Gesamtkontinent ist vielmehr als Ergebnis eines längeren semantischen Verschmelzungsprozesses zu sehen. Dieser wurde durch bestimmte historische Ereignisse vorangetrieben, außerdem durch speziſsche Wahrnehmungsoptionen konfessioneller und politischer Art gesteuert. Grundsätzlich ist daran zu erinnern, dass man um 1700 zwischen zwei Teilkontinenten unterschied, nämlich zwischen Nord- und Südamerika. Der Begriff des „Mittelamerikanischen“ wird im hier betrachteten Textcorpus erst während des ausgehenden 18. Jahrhunderts wirksam. Da man das neuspanische Königreich Mexiko in aller Regel dem Norden zuschlug, belegte Nordamerika im landeskundlichen Diskurs von vornherein eine herausragende Stelle. Die karibischen Zielpunkte der iberischen Entdeckungsreisen des 15. Jahrhunderts – Hispaniola, Kuba – lagen für die Geografen des 18. Jahrhunderts allesamt in Nordamerika! In der Feinjustierung werden gleichwohl unterschiedliche, eindeutig konfessionell begründete Akzentuierungen sichtbar: Ausgehend von ihren vorwiegend über Mexiko laufenden Kommunikationsverbindungen und beruhend auf den einschlägigen Missionserfahrungen bzw. wissenschaftlichen Forschungsinteressen ihres Ordens wandten die Jesuiten dem Südwesten der heutigen USA besondere Aufmerksamkeit zu. Die katholischen Exponenten dachten vom spanischen Süden her (wenn man einmal die Repräsentanten der kleinen Jesuitenmission in Pennsylvania beiseite lässt). Mit ihrer Vorstellung von einem „Mexamerica“, einem Nordamerika also, dessen Schwerpunkt am mexikanisch-kalifornischen Paziſk zu suchen war, setzten sie einen Kontrapunkt zur anglophilen „Ostküstenideologie“ der süddeutschen Protestanten. In deren geopolitischer Präferenz spiegelten sich natürlich die Erfahrungsräume des dissent wider: Das Hauptaugenmerk galt den britischen Kolonien, die für das pietistische Publikum ein Fluchtort vor religiöser Verfolgung, ein Ort für das religiöse und soziale Experiment eines betont biblizistisch orientierten Lebensentwurfs, sein konnten. Wieder bestätigt sich die fundamentale Bedeutung des missionarischen Moments. In ein umfassendes heilsgeschichtliches Wahrnehmungsmodell übersetzt, vermittelte es den Nordamerikanisierungstendenzen des 18. Jahrhunderts einen nachhaltigen Schub. Man kann mit aller Berechtigung sagen: Die begrifƀiche Verschmelzung von „USA“ und „Amerika“ nahm hier ihren Ausgangspunkt. Die Revolutionsgeograſe der Aufklärer ist nichts anderes als die (säkularisierte) Fortsetzung einer sich um 1700 mit großem Echo ankündigenden Heilstopograſe. Die christliche Wahrnehmung hatte schon lange

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vor den Ereignissen von 1776 in Nordamerika ein besonders zukunftsträchtiges Stück Erde, oder, um im Tenor der Zeit zu formulieren: ein von Gott auserwähltes Land, gesehen. Sicherlich wird man den Anteil der protestantischen Geschichtstheologie an dieser geograſschen Debatte zunächst höher veranschlagen wollen: Hier ſel der Schritt vom christlichen zum revolutionären Nordamerika leichter (wobei man die starke theologische Grundierung der revolutionären Diskurse auf keinen Fall unterschätzen sollte). Aber auch vom Denken der katholischen Geopolitik aus wiesen die Wege in die „Moderne“: Das missionarisch intonierte Interesse der barocken Jesuiten an der America Mexicana – wohlgemerkt: ein zeitgenössischer Quellenterminus! – scheint in geradezu prognostischer Weise den Hispanisierungstendenzen in den gegenwärtigen USA vorauszugreifen. Gegenüber diesen heilsgeschichtlichen Überlegungen wird man indes die Wirkungen des politikgeschichtlichen Raisonnements nicht zu niedrig ansetzen dürfen: Für die meisten Autoren der 1760er Jahre war klar – besonders eindeutig sind in dieser Hinsicht die Chronisten des Historischen Bilder-Saals aus Nürnberg –, dass Nordamerika zum Schauplatz der zeitgeschichtlichen Entwicklung aufsteigen würde. Südamerika prophezeite man dagegen eine anhaltende Agonie, ein langsames Abgleiten in die weltpolitische Bedeutungslosigkeit, während die nördliche Kontinentalhälfte als Raum dynamischer Ereignisverdichtung galt: Die kolonialen Gegensätze zwischen Briten, Franzosen und Spaniern – aus latenten Spannungen schließlich in die offenen Auseinandersetzungen des French and Indian War einmündend – banden die Aufmerksamkeit der zeitgenössischen Historiograſe stärker als die offenbar festgefügten Verhältnisse im Süden der Neuen Welt, zumal diese auch kulturell einem auf (aufklärerische) Fortschrittlichkeit ſxierten Geschichtsbild wenig zu bieten hatten: Der lastende Topos der antispanischen schwarzen Legende behinderte auch im Süden des Alten Reichs die vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit Südamerika. Davon waren selbst katholische Autoren betroffen, obschon sie die iberoamerikanische Welt insgesamt positiver aufnahmen als ihre protestantischen Kollegen. Ihre günstige Einschätzung leiteten sie aus dem Glanz von Mexiko-Stadt ab, eine der größten Metropolen in der westlichen Hemisphäre. Damit bezogen sie sich freilich wieder auf ein Beispiel aus dem Norden der Neuen Welt. Zum zweiten Problem, den Darstellungsmodi des hier entfalteten Quellenpanoramas: Grundsätzlich variieren die süddeutschen Texte das enzyklopädische Muster der frühneuzeitlichen Statistik. Neben dem Merkmal der naturräumlichen Gliederung bildet der Begriff der „Institutionalität“ eine zentrale Kategorie. Staatlichkeit und Kirchlichkeit waren wichtige Elemente der amerikakundlichen Wissens- und Informationsordnung. Die geograſsche und historiograſsche Beschreibung der Neuen Welt knüpfte insofern an das Raumverständnis der Alten Welt an. Das Denken in Hierarchien, in administrativen Einheiten überregionaler und lokaler Ausprägung, die Unterschei-

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dung zwischen Stadt und Land, kurz: die europäischen Normative und Regulative, wurden systematisch auf die amerikanischen Verhältnisse übertragen. Diese Beobachtung trifft unterschiedslos auf alle Wissensgruppen zu. Die Jesuiten bedienten sich statistischer Darstellungsweisen ebenso wie die Adepten der aufklärerischen Amerika-Deutung. Graduelle Unterschiede zeigen sich allenfalls in der konkreten konfessionellen Ausformulierung: Die Jesuiten betonten sicherlich die Rolle der kirchlichen Institutionalität. Ihre Landesbeschreibungen nahmen das Raster der katholischen Hierarchie mit ihrer Unterteilung in Metropolitanprovinzen, Diözesen und Missionsstationen auf. Die Aufklärer protestantischer Provenienz neigten dazu, die Funktion des Staats hervorzuheben. Sie beschrieben vor allem jene institutionellen Faktoren, die in ihren Augen den zivilisatorischen – das heißt von den europäischen Kolonisten nach Amerika vermittelten – Entwicklungsstand dokumentieren konnten, so den Bau von Brücken und Verkehrswegen, Krankenhäusern und Bibliotheken, Universitäten und Kunstakademien. Unverkennbar verdanken sich diese Ordnungsprinzipien der humanistischen Methodik der Wissensgliederung (etwa dem Ramismus). Für die barocken und aufklärerischen Autoren ist die Verfeinerung der Kategorien und die Verwendung visueller Darstellungspraktiken charakteristisch, womit sie auf den empirischen Schock ihres Zeitalters, die sprunghafte Ausweitung der aus der Neuen Welt einströmenden Erkenntnisse, antworteten. Besonders sensibel reagierten die Gelehrten aus der Societas Jesu: Sie bewältigten die neue Wissensfülle nicht nur mit Hilfe umfassender ontologisch ausgerichteter Beschreibungsmodelle, sondern sie strebten auch danach, die amerikanischen Phänomene durch eine detaillierte kartograſsche Inszenierung zu erfassen. Ihre Karten zur religiösen Geograſe mit einer graſschen Bestandsaufnahme der konfessionellen Verhältnisse zählen sicherlich zu den originellsten Schöpfungen der visuellen Amerika-Darstellung in der Frühen Neuzeit. In diesen Zusammenhang gehört noch der Aufschwung des editorischen Genres: Die konzentrierte, den Kriterien einer frühen Quellenkritik folgende Wiedergabe von Missionskorrespondenzen ist ebenfalls als Versuch zu sehen, die empirische Vielfalt von Überseenachrichten zu verarbeiten und zugleich den authentischen Wert der Amerika-Information zu erhöhen. Mit einiger Berechtigung stellt sich hier die Frage, ob nicht der statistische Zugriff mit seiner „institutionalisierenden“ Tendenz zu einer fatalen eurozentrischen Fixierung der Perspektiven geführt hat: Beförderte diese Art der Beschreibung nicht geradewegs die begrifƀiche „Unterjochung“ der autochthonen indianischen Kulturen, die sich in ihrer „Fremdheit“ kaum mit der europäischen Elle messen ließen? Einmal davon abgesehen, dass sich kein Betrachter von seinen Vorprägungen sozialer und kultureller Art völlig loslösen kann, in diesem Sinn „vorurteilsfreies“ Erkennen unmöglich ist, wird man das Problem – je nach Autoren- und Textgruppen unterscheidend – differenziert angehen müssen.

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Interessanterweise waren es gerade die prononcierten Aufklärungsvertreter, die dem Fremden im amerikanischen Ethnos merkwürdig distanziert begegneten: Wenn sie sich auf die Aufgeklärtheit der europäischen Kolonisten in der Neuen Welt (speziell in den britischen Kolonien) konzentrierten, dann ſelen die Indianer überhaupt aus dem landeskundlichen Ordnungsrahmen heraus. Schöpf etwa ignorierte auf seiner Suche nach den Idealen des angloamerikanischen pursuit of happiness weithin die indianischen Nationen. Sie tauchen allenfalls am Rande seines Reiseberichts auf, so etwa als grausame Partizipanten des Unabhängigkeitskriegs. Für die anderen Protagonisten der süddeutschen Aufklärung bildeten die nordamerikanischen Indianer die Verkörperung des Tugendhaften und Heroischen, in denen man nach Rousseau urwüchsige „Wilde“ erkennen wollte. Die jesuitische Ethnograſe versuchte dagegen, die Indianer und ihre Sozial-, Kultur- sowie Religionspraktiken in den Apparat der europäischen Staatenkunde zu integrieren, und zwar als Größe zu eigenem Recht. Darauf verweist einerseits die Begriffswahl. So sah man in den Indianern eben keine „Indianer“, das heißt Bewohner des westlichen Indien, sondern „Indigene“, also Eingeborene im Sinne von „Amerikanern“. Andererseits gelang es den Jesuitengeografen unter Rückgriff auf die völkerrechtlichen Klassiſkationen der spanischen Barockscholastik die (partielle) Gleichordnung zwischen exportierter europäischer Kolonialstaatlichkeit und angestammter amerikanischer Indigenenherrschaft zu erreichen. Der Terminus des „dominium“, einer Form von „Staatlichkeit“, an der alle Einwohner ohne Unterschied ihres jeweiligen zivilisatorischen Entwicklungsstandards teilhaben können, liefert den entscheidenden interpretatorischen Schlüssel. Zum dritten Problemkomplex, dem Thema der transatlantischen Vernetzung: Die Überzeugung, dass die Alte und Neue Welt in einer engen Interaktion standen, beherrschte geradezu leitmotivisch die süddeutschen AmerikaWahrnehmungen. Das Bewusstsein des Gemeinsamen bezog sich gleichermaßen auf das Religiöse wie Politische, das Wirtschaftliche und Soziale. Angesichts der Bedeutung, die der missionarische Impuls für die Entwicklung des süddeutschen Amerika-Interesses hatte sowie vor dem Hintergrund der herausragenden Rolle kirchlicher Kommunikatoren für die Vermittlung von „überseeischen“ Nachrichten ist es kaum verwunderlich, dass der religiöse Beziehungsparameter im Mittelpunkt der zeitgenössischen Überlegungen stand. Abermals zeichnen sich jedoch Unterschiede zwischen den beiden konfessionellen Rezeptionspolen ab. Auf katholischer Seite ſgurierte der amerikanische Kontinent als heilsgeschichtliche Größe, von dem man sich Auswege aus der tiefgreifenden europäischen Religionskrise des 16. Jahrhunderts versprach. Nach den schwerwiegenden Terrainverlusten in der Reformationsära schien sich mit der erfolgreichen Missionierung der Neuen Welt eine grundlegende welthistorische Tendenzwende zu Gunsten der alten Kirche anzubahnen. Der kompensatori-

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sche Gedanke – also die Idee, dass die abgefallenen, lau gewordenen europäischen Christen durch die gerade bekehrten Indianerchristen ersetzt werden könnten – war dabei so ausgeprägt, dass die transatlantische Perspektive die Wertigkeit einer speziſsch katholischen Achse gewinnen konnte. Markant deutet sich diese Verschiebung zu Gunsten des Atlantischen in den Missionseditionen der Jesuiten an – vor allem im Neuen Welt-Bott von Joseph Stöcklein: Asien, das alternative Ziel der altkirchlichen Missionsexpansion, verlor hier seit dem späten 17. Jahrhundert gegenüber Amerika als Informationsgegenstand zunehmend an Resonanz. Gewiss entsprangen diese Ideen den Traditionen des katholischen Universalismus, wobei die Aussicht auf wissenschaftlichen, landeskundlichen und naturgeograſschen Erkenntnisgewinn die theologische Vorstellung einer unter der Papstkirche geeinten Weltchristenheit noch einmal nachhaltig verstärkte. Dennoch ist es verfehlt, diese Funktion der Neuen Welt, ausgehend von den Amerika-Allegorien in den Freskenzyklen des barocken Kirchenbaus, auf dem Konto kruder Weltbeherrschungsfantasien zu verbuchen.4 Völlig abwegig ist der Vergleich mit dem Kolonialismus des 19. und 20. Jahrhunderts. Zurückzuweisen ist die mit enervierender Penetranz vorgetragene, dafür um so schwächer belegte Behauptung, dass die „Einbeziehung Amerikas in die christliche Weltordnung“ den Vorwand für eine viel „rücksichtsloser[e] und brutaler[e]“ Machtentfaltung geboten hätte als deren säkularisierte Variante im „neuzeitlichen europäischen Imperialismus“.5 Vielmehr wird man die genuinen Leistungen des katholischen Amerika-Denkens hervorheben müssen: Indem die kirchliche Lesart die Indigenen als neue Träger des göttlichen Heilsplans ansprach, konnten sie für die Europäer zum welthistorisch nützlichen Exempel, zum Vorbild für das Leben in der Alten Welt werden: Von den Indianern den Glauben neu erlernen – so lautete die Devise. Die Europäer in ihrer zivilisatorischen Selbstgewissheit erschütternd, zugleich zur Umkehr aufrüttelnd – dieser Sinn verbirgt sich hinter dem missionsgeschichtlichen Modell. Wenn das kein Beispiel für Austausch in atlantischer Perspektive ist, wie sollte man sich interkulturellen Transfer sonst noch vorstellen können?6 4 5

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So argumentiert Wellenreuther (Ausbildung und Neubildung, 620-622) bei seinem an sich begrüßenswerten Versuch, die Ausprägungen des Amerika-Bildes im katholischen Süddeutschland anhand der barocken Freskomalerei zu erfassen. Vgl. so pauschal Dippel, Faszination, 86; vgl. dagegen Pietschmann, Aristotelischer Humanismus, 166: „Doch welche, noch so gutmeinende, von Nichtindianern für Indianer konzipierte Entwicklungsvorstellung […] basiert nicht letztlich auch auf einem kulturellen Imperialismus derer, die sie konzipierten, gleichgültig ob diese Vorstellungen von ‚links‘ oder ‚rechts‘ kommen.“ Für Dippel (Faszination, 86) ist die „Einbeziehung Amerikas in die christliche Weltordnung […] Ausdruck des Anspruchs absoluter intellektueller Dominanz, die […] keinerlei kulturellen Austausch zuließ“. Vgl. dagegen jetzt die multiperspektivisch differenzierende Deutung von Michael Sievernich zu den interkulturellen Dimensionen der katholischen (überhaupt christlichen) Mission (als Form der sprachlichen Kommunika-

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Bei den süddeutschen Pietisten ſelen die Projektionen wesentlich lokaler aus: Zwar haben sie das Indianer-Thema nicht grundsätzlich umgangen; auch ventilierten sie die Idee von der neuen Christenheit in Amerika, die sich Verstärkung durch den Zuzug von Indigenen erhoffte. Gleichwohl war der überseeische Heilstransfer primär eine Angelegenheit der (europäischen) Frommen beiderseits des Atlantiks, noch konkreter: zwischen den Stillen in Augsburg und ihrer Filiale in Georgia. Die Vorstellung, dass das Christentum hauptsächlich von deutschen Auswanderern in die Neue Welt getragen werden müsse, um dort ein neues Israel zu errichten, dass also der Glaube im Rahmen missionarischer Kolonisationsanstrengungen verbreitet werden sollte, spielte also eine erheblich größere Rolle als im katholischen Modell. Damit bewegten sich die Pietisten um Urlsperger letztlich in den Bahnen des puritanischen Paradigmas.7 Direkte Verbindungen im Sinne unmittelbarer rezeptionsgeschichtlicher Abhängigkeiten zwischen den neuenglischen Kolonialtheoretikern und dem Georgia-Projekt des schwäbischen Pietistenzirkels lassen sich nicht belegen. Wohl aber wirkten die Süddeutschen in erheblichem Maß an einem Diskurs mit, wie er für den dissentierenden Protestantismus in Nordamerika und Westeuropa während des frühen 18. Jahrhunderts typisch war. Doch auch aus der Beobachtung der politischen Vorgänge leiteten die süddeutschen Amerika-Autoren das Bewusstsein transatlantischer Vergemeinschaftung ab. In der Wellenmetapher, die ihr Erregungszentrum an der (nord-)amerikanischen Peripherie des atlantischen Beckens habe und von dort aus die Situation in Zentraleuropa zunehmend beeinƀusse, verdichteten sich diese Gewissheiten. In der quantitativen Entwicklung der Amerika-Betreffe innerhalb der chronikalischen Überlieferung, aber auch in den aufwendigen graſschen Demonstrationen der Tabellenhistoriker, fand die Überzeugung von der neuen Atlantizität der Weltgeschichte ihren formalen Niederschlag: Mit jedem neuen Jahrgang vervielfachte sich die Zahl der Amerika-Nachrichten in den großen zeitgeschichtlichen Periodika der süddeutschen Universalhistoriker. Immer stärker deſnierte sich die Geschichte der großen europäischen Staaten über ihr Verhältnis zu Amerika. In den nach Nationen gegliederten Ereignisrubriken der zeitgenössischen Tabellengeschichtsschreibung gewann die Neue Welt zunehmend an Boden und zerschnitt ältere Netze der europäischen Beziehungsgeschichte, etwa die Verbindungen mit dem Osmanischen Reich. Zu Gunsten der Westwende wurden aber auch traditionelle binneneuropäische Texturen ausgedünnt: Das geschärfte Interesse am Atlantischen lenkte die Aufmerksamkeit der Chronisten von den Ereignissen in der

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tion, Weg in globale Wissenswelten und Begegnung der Religionen): ders., Mission, 187-240. Zur Anregung transkontinentaler kulturwissenschaftlicher Theorien durch die biblisch-christliche Tradition vgl. jetzt auch Marchand, German Orientalism, hier vor allem 1-52. Vgl. Hochgeschwender, Amerikanische Religion, 42-51; Jennings, Invasion of America.

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italienischen Staatenwelt ab. Der Heilige Stuhl – eine klassische Größe in der humanistischen und frühbarocken Staatenbeschreibung – verschwand von der Bildƀäche (beispielsweise in der Europahistorie der beiden fränkischen Professoren Theodor Berger und Wolfgang Jäger). Trotz der relativ intensiven Wirtschaftsbeziehungen der oberdeutschen Reichsstädte mit dem amerikanischen Handelsraum ſel das Echo auf diese Form der atlantischen Verbindung eher schwach aus. Für die Nürnberger und Augsburger Gelehrten hatte dieser Zusammenhang keine große Bedeutung, da sie sich eher auf die kulturellen und religiösen Seiten des Amerika-Themas konzentrierten. Lediglich die Pietisten konnten mit der süddeutschen Koloniegründung in Georgia weitergehende ökonomische Ambitionen verbinden, die sogar diskursprägende Wirkung entfalteten: In den von Urlsperger edierten Missionskorrespondenzen ſnden sich zahlreiche Hinweise zu dem von einzelnen Augsburger Patriziern betriebenen Projekt, in Eben-Ezer eine Seidenfaktorei zu gründen, um so dem schwäbischen Textilgewerbe neue globale Perspektiven zu eröffnen. Freilich richteten sich diese Aspekte eher auf die praktische Wirtschaftspolitik vor Ort. Das Ausloten der Subsistenzchancen für die pietistische Stadtgründung, letztlich Finanzierungs- und Organisationsfragen des colony-building dominierten das Interesse. Der kameralwissenschaftliche Diskurs über die ökonomischen Gesamtfolgen wachsender transatlantischer Verƀechtung konzentrierte sich dagegen in den Milieus der monastischen und höſschen Amerika-Reƀexion. Im Vordergrund der Überlegungen standen die Silberexporte aus der Neuen Welt, der Reichtum der dortigen Naturressourcen, überhaupt die Verwertungsmöglichkeiten überseeischer Handelsprodukte (Felle, Hölzer, Tabak, Baumwolle). In der konzeptionellen und materiellen Aufbereitung dieser Problematik unterschieden sich die süddeutschen Protagonisten sicherlich nicht von den sonst üblichen Formaten des ökonomischen Globalisierungsdiskurses im frühneuzeitlichen Europa: Ihre listenartigen Kataloge der amerikanischen Exportgüter variieren die Standards kolonialstaatlicher Informationspraktiken, wie sie auf spanischer oder englischer Seite gepƀegt wurden. Insbesondere die für wirtschaftliche Belange durchaus sensibilisierten Jesuiten übernahmen in ihren geograſschen Synthesen entsprechende Muster, womit sie einen beachtlichen Beitrag zur Popularisierung solcher Beschreibungssysteme im Alten Reich leisteten. Auf nachhaltigeren Widerhall als die Wirtschaftsbeziehungen stießen die zeitgenössischen Auswanderungsphänomene. Natürlich hatte dies in erster Linie mit der unmittelbar lebensgeschichtlichen Relevanz der Zusammenhänge zu tun. In den Migrationsbewegungen der Pfälzer und Salzburger wurden die amerikanischen Erfahrungen größerer Bevölkerungsgruppen sichtbar, während die transatlantische Welt der Missionare, allemal der Politiker und Ökonomen, eben doch nur vergleichsweise kleine Eliten berührte. Dass man aufgrund von Armut und Hunger oder wegen politischer und religiöser Unfreiheit zur Auswanderung gezwungen war und sich in Amerika eine Alterna-

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tive zu den depravierten Verhältnissen daheim anbot – diese Perspektive wird vor allem in der Historiograſe regelmäßig hervorgehoben. Die inhaltliche Verknüpfung von Neuer Welt und Auswanderungschance beschränkte sich also nicht auf das Genre der entsprechenden Werbeliteratur. Vielmehr hatte sie auch die gelehrte Publizistik in voller Breite erfasst. Dieser Punkt verdient deswegen besondere Beachtung, weil damit eine Entwicklung bezeichnet ist, die eben nicht erst im 19. Jahrhundert, sondern viel früher – nämlich bereits am Ende des 17. Jahrhunderts – einsetzte. Dabei sind speziſsche Schattierungen zu beachten: Im protestantischen Milieu hatte das Auswanderungsthema größeres Gewicht als im katholischen; im pietistischen Umfeld kommt es zu einer Verquickung von nationaler und religiöser Argumentationsebene. Das Streben nach Amerika-Erkenntnis legitimierte sich aus der Tatsache, dass es dabei um Glaubensgenossen und eigene Landsleute ging. Am eindrucksvollsten zeigt sich dieses Solidaritätsmotiv sicherlich bei dem Ulmer Pfarrer Conrad Daniel Kleinknecht, der sich mit seiner positiven Auswandererpropaganda zu Gunsten eines deutsch-evangelischen Nordamerika freilich die scharfe Rüge der reichsstädtischen Obrigkeiten zuzog. Aber selbst wenn man auch auf migrationsgeschichtlichem Gebiet den amerikakundlichen Interpretationen des 18. Jahrhunderts eine frühe Modernität konzedieren muss, stellt sich doch wieder die Frage nach dem Wechselseitigen: Wurde Amerika hier nicht wieder nur als Objekt europäischer Begierde begriffen? Wie war es um die amerikanische Identität im migrationsgeschichtlichen Transfervorgang bestellt? Ein letztes Mal sei hier an die Societas Jesu erinnert: Für den schwäbischen Jesuiten Gregor Kolb waren – so fasste er den Tenor der Missionskorrespondenzen seiner Ordenskollegen aus der Neuen Welt zusammen – die Wanderungsprozesse eine menschheitsgeschichtliche Grunderscheinung. Sie ließen sich weder aufhalten noch tatsächlich steuern. Sie führten stets zu einer Neukonſguration der kulturellen Codes. Die „migratio“ münde in eine beständige „morum mutatio“ ein, in deren Folge sich durch Imitations- und Adaptionsprozesse zwischen den einzelnen Völkern neue Gemeinschaften bildeten. Genau diese Dynamiken sah Kolb in den atlantischen Wanderungsbewegungen historisch wirksam werden.8 Einmal mehr wird deutlich, dass den süddeutschen Protagonisten des 17. und 18. Jahrhunderts Amerika keinesfalls ferner lag als früheren oder späteren Generationen. Die Unabhängigkeitserklärung von 1776, die amerikanische Revolution brach nicht wie ein unvorhergesehenes Naturereignis über die intellektuellen Räume des Alten Reichs herein. Vielmehr stieß sie auf ein Umfeld, das mit den überseeischen Phänomenen bestens vertraut war. Vor den Augen der zeitgenössischen Universalgelehrsamkeit stellte sie nur ein weiteres Kapitel der Menschheitsgeschichte dar, deren Fortgang in ihren früheren Kapiteln längst angelegt worden war. 8

Kolb, Compendium, 520. Siehe auch Kapitel 7.

TABELLENVERZEICHNIS 1 2 3 4 5 6 7 8 9

Wichtige Druckorte für Amerika-Schriften im Alten Reich (1675-1750) ...................................................................................... Nord- und süddeutsche Druckorte für Amerika-Schriften (1770-1800) ...................................................................................... Scherer, Geographia Naturalis etc., Bde. 1-7 (1702-1710). Amerika-Karten ................................................................................ Stöcklein, Welt-Bott, Bd. 1-5 (1725-1761). Amerika- und China-Korrespondenzen ................................................................... Imhof, Bilder-Saal, Bde. 4-17 (1724-1782). Amerika-Bezüge ........ Schollberg, Epitome Historiae Universalis, Pars III (1715). Amerika-Bezüge............................................................................... Smackers, Historia Universalis, Bde. II, V, XVII, XIX, XXI f. (1724). Amerika-Bezüge .................................................................. J. J. Pock/Conlin, Denck-Ring, Bde. 28-34 (1745-1752). Amerika-Bezüge............................................................................... E. Pock/Parode/Anonym, Historische Tabellen (1764). Amerika-Bezüge...............................................................................

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Heinrich Scherer, Geographia Politica [Atlas Novus, Bd. 4] (1703), vor 451, Kupferstich: Anglorum Indoles Studia et Actiones, UBM: W 4° H.aux. 1609(4 .............................................................. Heinrich Scherer, Geographia Artiſcialis [Atlas Novus, Bd. 5] (1703), Titelkupfer: Allegorie der Geographia Artiſciosa, UBM: W 4° H.aux. 1609(2 .............................................................. Heinrich Scherer, Geographia Hierarchica [Atlas Novus, Bd. 2] (1703), K., Karte: REPRAESENTATIO AMERICAE BOREALIS CVIVS PROVINCIAE VERA FIDE ILLVMINATAE VMBRAM NON HABENT […], UBM: W 4° H.aux. 1607a ................................................................ Heinrich Scherer, Geographia Hierarchica [Atlas Novus, Bd. 2] (1703), X.O., Karte: RELIGIONIS CATHOLICAE IN AMERICA BOREALI DISSEMINATAE REPRAESENTATIO GEOGRAPHICA, UBM: W 4° H.aux. 1607a ................................................................ Heinrich Scherer, Geographia Politica [Atlas Novus, Bd. 4] (1703), Z.Z., Karte: PROVINCIAE BOREALIS AMERICAE […] DETECTAE AVT MAGIS AB EVROPAEIS EXCVLTAE, UBM: W 4° H.aux. 1609(4 .............................................................. Heinrich Scherer, Geographia Politica [Atlas Novus, Bd. 4] (1703), Z.Z., Karte: PROVINCIAE BOREALIS AMERICAE […] DETECTAE AVT MAGIS AB EVROPAEIS EXCVLTAE (Kartenausschnitt), UBM: W 4° H.aux. 1609(4 .............................................................. Heinrich Scherer, Geographia Hierarchica [Atlas Novus, Bd. 2] (1703), D.C.D., Karte: DELINEATIO […] PARTIS AVSTRALIS NOVI MEXICI; CVM AVSTRALI PARTE INSVLAE CALIFORNIAE […], UBM: W 4° H.aux. 1607a ................................................................ Johann B. Homann/Johann G. Doppelmayr, Grosser ATLAS (1725), Titelkupfer: Porträtstich von Kaiser Karl VI., UBM: W 2° Mapp. 67 ...................................................................... Johann B. Homann/Johann G. Doppelmayr, Neuer ATLAS, Bd. 1 (1714), Karte: Johannes B. Homann, Totius Americae

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Abbildungsverzeichnis

Septentrionalis et Meridionalis Novissima Repraesentatio […], SuStB A: 2° S 152-1 ........................................................................ Johann B. Homann/Johann G. Doppelmayr, Neuer ATLAS, Bd. 6 (vor 1780?), Karte: Vorstellung einiger Gegenden und Plätze in Nord-America unter Französische und Englische Jurisdiction gehörig (1756), SuStB A: 2° S 152-6............................................... Joseph Stöcklein u.a., Der Neue Welt-Bott, Bd. 1 (1725), Titelkupfer: allegorische Deutung des interkontinentalen Nachrichtenaustauschs, UBM: 2° H.eccl. 714a(1-4 ............................................................... Johann G. Hecking/Johann A. Urlsperger, De Praestantia Coloniae (1747), vor 44, Karte: Matthias Seutter, Plan von Neu EBEN-EZER, UBM: 4° Philos. 113(12 ................................................................... Andreas L. Imhof u.a., Neu-eröffneter historischer Bilder-Saal, Bd. 17 (1782), Titelkupfer: allegorische Deutung des Unabhängigkeitskriegs, UBM: W 8° Hist. 3094(17 ............................................................... Johann D. Köhler, Gedenckwürdigkeiten des […] achtzehenden Jahr-Hunderts (1739), vor 251, Kupferstich: MEMORABILIA A[NN]O MDCCXIX. Gedenckwürdigkeiten des 1719.ten Jahres (Ausschnitt), UBM: 4° Hist. 2402(2,1 ................................................................... Anselm Desing, AUXILIA HISTORICA, Bd. 1 (1747), vor 341, Karte: […] AMERICA Nach der Religion, UBM: 8° Hist. 294(1 ........................................................................

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ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS AAB ABG ADB AHR AHSI AKG AmST ANB APSL BayHStA BBKL BSB Fasz. Globusfreund GR GUL HJb HSP HZ Imago Mundi JbKG JHVD NDB OSB PMHB Portolan PuN

Archives of the Archdiocese of Baltimore Archiv für Geschichte des Buchwesens Allgemeine Deutsche Biographie, 56 Bde., Leipzig 1875-1912. The American Historical Review Archivum Historicum Societatis Iesu Archiv für Kulturgeschichte Amerikastudien/American Studies. Eine Vierteljahrsschrift/A Quarterly American National Biography, 24 Bde., New York u.a. 1999. American Philosophical Society Library, Philadelphia Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 1 ff., Hamm u.a. 1970 ff. Bayerische Staatsbibliothek, München Faszikel Der Globusfreund. Wissenschaftliche Zeitschrift für Globen- (und Instrumenten-)kunde Generalregistratur Georgetown University Library, Washington DC Historisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft The Historical Society of Pennsylvania Historische Zeitschrift Imago Mundi. The International Journal for the History of Cartography Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte Jahrbuch des Historischen Vereins Dillingen an der Donau Neue Deutsche Biographie, Bd. 1 ff., Berlin 1953 ff. Ordo Sancti Benedicti (Benediktiner) Pennsylvania Magazine of History and Biography The Portolan. Journal of the Washington Map Society Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus

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Abkürzungsverzeichnis

Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte SJ Societas Jesu (Jesuiten) StA U Stadtarchiv Ulm Storia Storia della Storiograſa SuStB A Staats- und Stadtbibliothek Augsburg The William and Mary Quarterly, 3. Series WMQ 3rd Ser. Woodstock Letters The Woodstock Letters. A Record of current events and historical notes connected with the Colleges and Missions of the Society of Jesus UBA Universitätsbibliothek Augsburg UBM Universitätsbibliothek München UCB University of California Berkeley, Bancroft Library UOS Ulm und Oberschwaben. Zeitschrift für Geschichte und Kunst. Mitteilungen des Vereins für Kunst und Altertum in Ulm und Oberschwaben YGAS Yearbook of German-American Studies ZBLG Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte

QUELLEN UND LITERATUR UNGEDRUCKTE QUELLEN Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek 8° Cod.Aug. 77: Stammbuch von Johann Gottfr[ied] Hecking, A[nn]o 1707-[1736] Augsburg, Universitätsbibliothek III.3.fol.58: Pock, Johann Joseph, Der/ Christliche und Staats-Verständige/ Politicus […], s.a. Baltimore, Archives of the Archdiocese of Baltimore Archbishop John Carroll Papers 3 P 9, 3 Q 4 Berkeley, University of California, Bancroft Library Herbert Eugene Bolton Papers, Carton 14/4, Oversize Box 25, 32 Papers relating to the Jesuits in Baja California and other regions in New Spain 26 München, Bayerisches Hauptstaatsarchiv Generalregistratur Fasz. 1620-2 Jesuitica 118, 579/24, 594/17, 595/V/27, 607/127, 607/128, 607/130 München, Bayerische Staatsbibliothek Cgm 1288: Ehrenfried Ferdinand von Schollberg, Geographische Fragen und Beantwortungen Durch welche Der heuntige Zuestand der Weld Länder und Städte mit dehro Merckwürdigkeiten […] wierd vorgestelt, 1713. Cgm 6106: [Johann Martin Boltzius], Nachrichten und Anmerckungen aus dem Reiche der Natur in Georgien von einem Prediger der Colonie Ebenezer, 1752. Clm 9421: Ehrenfried Ferdinand von Schollberg, Epitome Historiae Vniversalis tam Sacrae, quàm Profanae ab Orbe condito usque ad Tempora hodierna in tres partes divisa […] Prout […] Carolo Alberto Electorali Principi, et utriusque Bavariae Duci […] eam tradendam […] concinnavit […], 1715. München, Universitätsbibliothek 2° Cod.ms. 338-342, 347-349: Theodor Smackers, Historiae Universalis […] narratio […] In Usum […] Caroli Alberti Principis Electoralis Bauariae, Bde. 1-8, 19, 21-22, Ingolstadt 1724. 2° Cod.ms. 358: Anselm Desing, Revolutiones seu Conversiones Regnorum Europae (Lusitaniae, Hispaniae, Galliae), [Prag 1745]. 2° Cod.ms. 707: Concepta epistolarum Desingii omnis generis ab an[no] 1743-1749. 4° Cod.ms. 370: Heinrich Scherer, Tractatus Geographicus […], Dillingen 1663. 2° Mapp. 67(Beil.: Catalogus Aller bisher neu-verfertigten Homanns-Charten, 1714; Catalogus aller Homännischen Charten und Atlantum; Register aller Homannischen Karten; Register und ordnung aller mappen, wie sie sollen gebunden werden. Philadelphia, American Philosophical Society Library American Philosophical Society Archives: Briefe von Ferdinand Farmer [Steinmayer], Christian Mayer, Joseph von Utzschneider Benjamin Franklin Papers XII, 28; XIII, 227; XV, 218; XIX, 16; XX, 63; XXIII, 126; XXIV, 10; XXV, 63; XXVI, 65; XXVII, 150; XXVIII, 22; XXVIII, 168; XLI, 43; XLV, 170; LIX, 51; LIX, 75; LX, 52; LX, 105; LXX, 114

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Quellen und Literatur

Broadside Collection, Nrr. 362, 363 Philadelphia, The Historical Society of Pennsylvania Society Collection: Briefe von Johann David Schöpf Ulm, Stadtarchiv Reichsstadt Ulm A 3530, 3890 Washington DC, Georgetown University Library, Special Collections Division The Maryland Province Archives 3/7, 57/5, 83/1

DRUCKE VOR 1800 Adelung, Johann Christoph/Rotermund, Heinrich Wilhelm, Fortsetzung und Ergänzungen zu Christian Gottlieb Jöchers allgemeinem Gelehrten-Lexiko […], 7 Bde., Leipzig: Gleditsch, Bremen: Heyse 1784-1897. Aigenler, Adam/Staudhamer, Johann Franz, Tabvla Geographico-Horologa universalis, problematis Cosmographicis, Astronomicis, Geographicis, Gnomonicis, Geometricis illustrata […], Ingolstadt: Ostermayr 1668. Babo, Joseph Marius, Das Winterquartier in Amerika. Ein Original-Lustspiel in einem Aufzuge […], 1779. Bartholomäi, Johann Daniel, Christoph Benjamin Häckhels […] Allgemeine und Neueste Welt-Beschreibung, aus Herrn Johann Caspar Funckens […] MSC. […], 2 Tle., Ulm: Bartholomäi 1753. Becher, Johann Joachim, Gründlicher Bericht Von Beschaffenheit und Eigenschafft, […] Deß in America zwischen dem Rio Orinoque und Rio de Las Amazonas an der vesten Küst in der Landschafft Guiana, sich […] erstreckenden Strich Landes […], Frankfurt/ Main: Kuchenbacker 1669. Berger, Theodor, Synchronistische Universal-Historie Der Vornehmsten Europäischen Reiche und Staaten […], 38 Tabellen, Coburg u.a.: Otto 21755. Berger, Theodor, Synchronistische Universal-Historie Der Vornehmsten Europäischen Reiche und Staaten […], 40 Tabellen, Coburg u.a.: Findeisen 41767. Berger, Theodor/Jäger, Wolfgang, Synchronistische Universal-Historie Der Vornehmsten Reiche und Staaten […], 45 Tabellen, Coburg u.a.: Ahl 51781. Catalogus mapparvm Astronomicarvm et Geographicarvm […] Homannianorvm Heredvm. Verzeichnis aller Landkarten […] der Homännischen Ofſcin in Nürnberg […], [Nürnberg] 1787. Desing, Anselm, Collegia Geographico-historico-politica, In welchen Von der Welt-Kugel und von dem Jure Naturae & Gentium, Auch Politica, Eine Kurtze Abzeichnung gemachet ist […], Stadt am Hof: Gastl 1744. Desing, Anselm, Hinlängliche Schul-Geographie Für Junge Leute […], Salzburg: Mayr 3 1761. Desing, Anselm, Historica Auxilia, Historischer Behülff Und Unterricht von der Geographia, Politica, Chronologia, Kriegs-Weesen […], Tl. 1, Sulzbach: Holst, Stadt am Hof: Gastl 1733. Desing, Anselm, Auxilia Historica, Oder Behülff, Zu denen Historischen und dazu erforderlichen Wissenschafften, Tle. 1, 7, 8, Stadt am Hof: Gastl 1747. Desing, Anselm, Index Poëticus Continens Nomina Propria, Genealogiam, Mythologiam, Astrologiam, Geographiam Poeticam Et Alia ad Eruditionem, Copiam et Ornatum Orationis Spectantia […], Amberg: Koch, Ingolstadt: De la Haye 1731. Desing, Anselm, Kürziste Universal-Historie nach der Geographia Auf der Land-Karte Zu erlernen […], Freising: Immel 1731.

Drucke vor 1800

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Quellen und Literatur

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Müller, Johann Ulrich, Kurtz-bündige Abbild- und Vorstellung Der Gantzen Welt/ Worinnen Alle […] in Teutschland/ Gelegene Königreiche/ Fürstenthumer/ Provintzen und Landschafften […] bemercket werden […], Ulm: Kühn 1692. Müller, Johann Ulrich, Neu-außgefertigter Kleiner Atlas. Oder Umständliche Beschreibung deß gantzen Erden-Cräyses/ Nach seinen Verschiedenen Theilen/ Kayserthümern/ Königreichen/ Fürstenthümern/ Provinzien/ Staaten und Republiquen […] Oder Umständliche Beschreibung der noch übrigen Drey Erd-Theile/ Asiae, Africae und Americae […], Frankfurt/Main: Andrea 1702. Musanti, Giovanni Domenico, Fax chronologica Ad omnigenam Historiam et dilucidum eiusdem Compendium ab Orbe condito ad Annum Christi 1712 […], Sandomir 41724. Neuer Americanischer Calender, Worinnen dises grossen Welt-Theils (welcher die Neue Welt genannt wird:) Entdeckung, Eroberung, Beschaffenheit deß Lands, der Innwohner, deren Religion […] zu ſnden. Alles gezogen aus R[everendi] P[atris] Anselmi Desing, Aux[ilia] Hist[orica] Auf das Jahr Unsers Herrn Jesu Christi 1751, Konstanz: Waibel 1751. Niderndorff, Heinrich, Generalis Geographia […] Per totum Orbem Terrarum, 4 Tle., Nürnberg: Lochner, Mayer, Würzburg: Kleyer 1739. Nigrinus, Franziskus, Schauplatz der gantzen Welt/ oder Summarische Vorstellung aller Königreiche/ Länder […] So in Europa/ Asia/ Africa und America […] zu ſnden […], Nürnberg: Hofmann, Neustadt/Aisch: Redelhamer 1679. Ordentlich-Wöchentlicher/ Ulmischer Anzeigs-Zettel […], Ulm: Wohler s.a. Ott, Christoph, Unvergleichliche Ehren-Cron/ Welche Der Römischen Catholischen Kirchen in disem sibenzehenden Welt-Gang auß […] Europa, Asia, Africa und America, Durch Ihr Bekehrung zu dem Catholischen Glauben vil gecrönte […] Vnd andere hoch-achtbare Persohnen auffgesetzt haben […], Dillingen: Bencard, Federle 1686. Pastorius, Franz Daniel, Kurtze Geographische Beschreibung der letztmahls erfundenen Americanischen Landschafft Pensylvania […], Nürnberg: Froberg 1692. Pastorius, Franz Daniel, Ein Send-Brief Offenhertziger Liebsbezeugung an die so genannte Pietisten in Hoch-Teutschland, Amsterdam: Claus 1697. Pock, Edmund, Einleitung Zur Universal-Historie Vor Die untere Classen einer Hoch-Adelichen Academie in Ettal, Auß denen […] Historisch-Chronologischen Tabellen P[atris] Edmundi Pock […] zusammen gezogen, Augsburg u.a.: Strötter, Gastel, Ilgers, Kempten: Stadler 1737. Pock, Edmund, Historisch-Chronologisch-Geographische Tabellen, von Anfang der Welt biß auf das jetzt lauffende Jahr […], Augsburg: Wolff 1736. Pock, Edmund/Parode, Bruno, Historisch-Chronologisch-Geographische Tabellen, von Anfang der Welt biß auf das jetzt lauffende Jahr […], Augsburg u.a.: Wolff 21750. Pock, Edmund/Parode, Bruno/Anonym, Historische chronologische und geographische Tabellen/ vom Anfange der Welt/ bis auf das itzt laufende Jahr […], Augsburg u.a.: Wolff 3 1764. Pock, Edmund, Kurtze Vorstellung der Erd-Kugel nach deroselben natürlichen In Erd und Wasser, Wie auch Politischen Eintheilung aller […] Staaten und Republiquen. Zum Nutzen und Gebrauch einer Hochadelichen Ritter-Academie in Ettal […] zusammen gezogen […], Augsburg: Sturm, Wolf 1734. Pock, Johann Joseph, Hochschätzbarer Ehren-Crantz der Kauffmannschafft, Oder Allgemeine Nutzbarkeit/ Freyheit/ Recht/ Gebräuche und Gewohnheiten der Handelschafften durch die gantze Welt […], Tl. 2, München u.a.: Weber 1726. Pock, Johann Joseph, Der Politische Catholische Passagier/ durchreisend Alle hohe Höfe/ Republiquen/ Herschafften und Länder der gantzen Welt. Das ist: […] Unterricht/ was in Politicis, Geographisch-Historisch- und Genealogischen Wesen bey allen Höfen/ Re-

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Quellen und Literatur

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Quellen und Literatur

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PERSONEN- UND ORTSREGISTER PERSONEN Achenwall, Gottfried 25, 56, 114 Acosta, José de 97 Adam 97 Alden, John 50, 63 Aigenler, Adam 112 Amezaga, Urtado Marquis de 48 Amrhyn, Beat 112 Anne, Königin von England 45 Archenholtz, Johann Wilhelm von 25, 283 Arndt, Johannes 114, 237 Arnold, Theodor 242 Augustus, Kaiser 243 Avancini, Nikolaus 203 Babo, Josef Marius 153 Bacon, Francis 197 Baden, Herrscherhaus 217 Baegert, Johann Jakob 60 Baginsky, Paul Ben 50 Baldinger, Marx Anton 249 Baltimore, Lord, George Calvert 328 Baronio (Baronius), Cesare 295 Bartholomäi, Johann Daniel 113f., 118 Baumgarten, Sigmund Jakob 241 Becher, Johann Joachim 40 Behaim, Martin 127-129, 150, 190, 283, 312, 334 Beissel, Konrad 210 Bencard, Johann Caspar 82 Benz, Anton Maria 203 Benzoni, Girolamo 77 Berger, Theodor 71, 80, 85, 257, 259, 260, 273-276, 279, 343 Bissel, Johannes 64, 71 Bitterli, Urs 13f. Blumenbach, Joachim Friedrich 174 Bodenehr, Gabriel 69 Bodin, Jean 295 Bolton, Herbert Eugene 104 Boltzius, Johann Martin 227f., 234-238, 252

Bonani, Joseph 203 Bond, Thomas 207 Bossuet, Jacques Bénigne 80 Botzenhardt, Bartholomäus 254-256 Botzenhardt, Martin 254-256 Bourbon, Herrscherhaus 127, 202, 326 Braudel, Fernand 18 Brebeuf, Jean de 298 Briet, Philippe 77 Brown, John Carter 50 Bry, Theodor de 15 Büsching, Anton Friedrich 80, 171 Burke, Edmund 328 Burke, William 328 Calvin, Johannes 215 Campanella, Tommaso 313 Carroll, John 207, 211, 213 Christian Friedrich Carl Alexander, Markgraf von Brandenburg-AnsbachBayreuth 170, 335 Clemens XI., Papst 92 Clemens August, Kurprinz von Bayern 73 Closen, Ludwig von 48 Clüver, Philipp 115 Colloredo, Hieronymus von 59 Columbus, Christoph 13f., 99, 116, 127f., 172, 278, 283, 299, 300, 303, 309 Conlin, Johannes Rudolph 76f., 294, 302-306 Cortés, Hernan 312 Daniel 27, 300, 329 Dapper, Olfert 79, 118 Degler, Johann 82, 93 Delisle, Guillaume 135 Depkat, Volker 12, 20, 25 Derham, William 114f. Desing, Anselm 66, 71, 78, 84, 165, 215, 308f., 311-318, 320, 323

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Personen- und Ortsregister

Díaz del Castillo, Bernal 312 Dippel, Horst 25, 47, 50, 63 Dobrizhoffer, Martin 65 Doering-Manteuffel, Anselm 15 Doll, Eugene Edgar 25 Doppelmayr, Johann Gabriel 68, 71, 122-124, 127-129, 131, 283 Drake, Francis 301, 304 Dreykorn, Johannes 258 Dürr, Renate 195 Dufrène, Maximilian 64f., 195, 214-218 Duval, Pierre 120 Elisabeth I., Königin von England 301 Embser, Johann Valentin 60 Esch, Johann Thaddäus von 35 Fabri, Johann Ernst 71, 80, 170f., 174f., 185-188 Falckner, Daniel 77 Ferdinand V., König von Kastilien 300 Ferdinand Maria, Kurfürst von Bayern 40 Fernández de Oviedo, Gonzálo 312 Flachenfeld, von (Rot, von) 47 Flohr, Georg Daniel 48 Forstner, von 153 Francisci (von Finx), Erasmus 70, 125 Francke, Gotthilf August 249 Francke, Hermann August 38, 55, 219f., 224, 232f., 235 Franklin, Benjamin 12, 26, 31, 35f., 47-49, 57, 60f., 148, 153, 179, 181, 206, 270, 325 Franz Xaver, Hl. 314 Freylinghausen, Johannes Anastasius 237 Friedrich Wilhelm I., König von Preußen 240 Frobisher, Martin 304 Fürstenberg, von, Fürstenhaus 195 Fugger, Handelshaus 25, 34 Funck, David 133 Funck, Johannes Caspar 67, 71, 78, 112-116, 118-121 Gabler, Ambros 271 Gage, Thomas 79 Gatterer, Johann Christoph 80, 163, 171, 310, 335 George II., König von England 45, 231 Gilg, Adam 203

Göz, Immanuel Gottfried 181 González Dávila, Gil 312 Grabbe, Hans-Jürgen 39 Grisling, Joseph 204, 209-211 Gronau, Israel Christian 234-238, 252 Grotius, Hugo 312 Grünberger, Johann Georg von 153 Gumppenberg, Wilhelm von 90 Gundling, Nikolaus Hieronymus 241 Habermas, Jürgen 63 Habsburger, Herrscherhaus 126f., 129, 132, 190, 203, 263, 326, 334 Häckhel, Christoph Benjamin 67, 71, 78, 112-116, 118-121 Hakluyt, Richard 77 Happel, Eberhard Werner 70, 79, 113, 115 Hartmann, Johann Jacob 258 Hase, Matthias 136 Hazart, Cornelius 298 Heckenauer, Leonhard 93 Hecking, Johann Gottfried 71, 224, 238, 244, 290 Heiden, Christian Friedrich von der 69f., 281-292, 321, 329, 334 Hemmer, Jakob 60 Herkules 14, 126f., 129 Herrera y Tordesillas, Antonio 77 Herttenstein, Ludwig Bartholomäus von 113, 115 Hohenzollern, Herrscherhaus 241 Homann, Johann Baptist 68f., 80, 85, 118, 122-128, 130-138 Horn, Georg 118 Hübner, Johann 115 Hughes, William 118 Imhof, Andreas Lazarus 69, 257-259, 261, 263, 274, 275, 277, 285, 292 Inama von Sternegg, Franziskus 203 Innozenz X., Papst 323 Jäger, Wolfgang 30, 71, 80, 85, 140f., 146-151, 188, 257, 259, 273-276, 334, 343 Jakob I., König von England 301 Jefferson, Thomas 12, 26, 49 Jones, George Fenwick 224 Joseph II., Kaiser 40, 171 Justi, Johann Heinrich Gottlob 282, 287f.

Personen Kalm, Pehr (Peter) 171 Karl II., König von Spanien 111 Karl IV., Kaiser 259 Karl V., Kaiser 126f., 312, 320 Karl VI., Kaiser 123, 125-127 Karl VII., Kaiser 41, 46, 65, 73, 294, 296f., 332 Karl Albrecht, Kurfürst von Bayern, siehe Karl VII. Karl der Große, Kaiser 126, 259 Karl Theodor, Kurfürst von Bayern 49, 207 Keller, Franz 194 Kemtenstrauss, von 153, 325 Kennedy, Ildefons 57 Kéralio, Agathon (Guinement) de 48 Kilian, Georg Christoph 70, 281, 288 Kino, Eusebius Franziskus 110-112, 202f., 205 Kircher, Athanasius 112, 114 Kleinknecht, Conrad Daniel 67, 224f., 229, 248-254, 290, 344 Kleinsorg, Raphael 60, 71, 80, 154-164, 180, 187, 334, 336 Kocher, Johann Georg 249 Köhler, Johann David 29, 68, 71f., 78f., 84, 122-124, 130-135, 257, 259, 273, 276-281 Kolb, Gregor 64f., 87f., 90, 95-98, 344 Krafft, Johann Conrad 254, 256 Kropff, Joseph 203 Kunze, Johann Christoph 183f. Laët, Jean de 118 L’Ainé, David 61 Lallemant, Jérôme 298 Landis, Dennis Channing 50, 63 Law, John 135 Leibniz, Gottfried Wilhelm 114 Leinberer, Wolfgang 111 Leiste, Christian 80 Leopold I., Kaiser 203, 259 Leucht, Christian Leonhard 69 Linné, Carl von 174 Lochner, Michael Friedrich 128 Locke, John 292, 327 Lotter, Tobias Conrad 245 Ludwig der Bayer, Kaiser 259 Ludwig I., König von Bayern 20 Lukas, Evangelist 197 Luther, Martin 215, 231

399

Märter, Franz Joseph 171, 183 Maffei, Giovanni Pietro 77 Magellan, Ferdinand 127f., 320 Maria Amalie, Kurfürstin von Bayern 65 Maria Theresia, Kaiserin 40 Martini, Johann Christian 71, 122, 124, 130f. Mary, Königin von England 328 Mather, Cotton 232 Max Emanuel, Kurfürst von Bayern 73 Maximilian III. Joseph, Kurfürst von Bayern 41, 72 Mayer, Christian 207 Medicus, Friedrich Casimir 60 Mercator, Gerhard 88 Merkur 126, 197f. Meyer, Carl 194 Mittelberger, Gottlieb 43 Mohammed (Mahomet) 198 Morell, Johann Georg 222 Moser, Johann Jakob 69 Mühlenberg, Gotthilf Heinrich Ernst 183f. Mühlenberg, Heinrich Melchior 183, 233f., 252, 265 Müller, Gottfried Jakob 254 Müller, Johann Ulrich 67, 112f., 119-121 Münch, Christian von 221 Musanti, Giovanni Domenico 295 Negelein, Joachim 258 Neuber, Wolfgang 13, 25 Niderndorff, Heinrich 64-66, 71, 87, 89f., 92, 95, 103 Niel, Armand Jean Xavier 265 Nigrinus, Franz 125 Nikolaus I., sog. König von Paraguay 323 Noemus 97 Obwexer, Handelshaus 36 Och, Johann 65 Öglin, Erhard 35 Oglethorpe, James Edward 222, 237, 251 Oldmixon, John 242 Ortelius, Abraham 77, 118 Osterhammel, Jürgen 21 Ott, Christoph 71, 213f., 217 Palafox, Juan 323 Paolucci, Fabrizio 92

400

Personen- und Ortsregister

Pastorius, Franz Daniel 37, 41, 43, 77, 80, 118, 132, 232 Paucke, Florian 65 Paulus, Apostel 114, 230f. Penn, William 173, 179, 205, 207, 232, 248, 301f., 328, 335 Pérez de Ribas, Andreas 298 Pfefferkorn, Ignaz 65 Pieper, Renate 14, 25 Pizarro, Fernando 77 Pock, Edmund 66, 85, 308f., 311, 318-322, 324 Pock, Johann Joseph 73, 76f., 294f., 302-306, 310f., 332 Plowden, Charles 207, 211 Porter, Andrew 220 Prechtl, Konrad Alois 309 Probst, Peter 194 Raleigh, Walter 304 Ramus, Petrus (Ramée, Pierre de la) 88, 339 Ransier, Jacques Lambert 35f. Ratkay, Johannes 203 Raynal, Guillaume Thomas François 80 Reck, Philipp Georg Friedrich von 234, 238 Rehm, Handelshaus 34 Reinhard, Wolfgang 13, 332 Richter, Christian Gottlieb 258 Rieger, Matthias 30, 141, 149-152 Rinck, Gottlieb Eucharius 71, 258 Rittenhouse, David 182 Roeder, Peter M. 258 Rousseau, Jean-Jacques 173, 175, 326, 335, 340 Rush, Benjamin 182 Saavedra, Diego Fajardo 313 Sachsen, Herrscherhaus 217 Sanson, Nicolas 77, 120 Schelle, Augustin 66, 71, 80, 308-311, 323, 325-328, 334f. Scheraus, Johannes 249 Scherer, Heinrich 64-66, 71, 79, 82, 83, 87f., 90-95, 98-112, 198, 202, 204, 297, 314f. Schiller, Friedrich 60 Schirach, Gottlob Benedikt von 80

Schlözer, August Wilhelm 25, 56, 80, 163, 171, 310, 335 Schmidl, Ulrich 35 Schneider, Theodor 204-211 Schönleben, Konrad 258 Schöpf, Johann David 30f., 48, 74, 170-185, 188, 209, 332, 334f., 340 Schollberg, Ehrenfried Ferdinand von 73, 294-303, 306 Schott, Kaspar 64 Schunter, Georg Philipp 71, 258 Schwan, Christian Friedrich 60 Seckendorff, von, Baronin 47 Sedlmayr, Jakob 203 Seutter, Matthias 68f., 245f. Seyfried, Johann Heinrich 30, 74, 140-146 Sievernich, Michael 341 Sittensperger, Matthias 206 Smackers, Theodor 64-66, 73, 294-303, 306 Socher, Franz Xaver 194 Spangenberg, August Gottlieb 233 Spener, Philipp Jakob 237 Sprengel, Matthias Christian 25, 80 Steinmayer (Farmer), Ferdinand 204-208, 210-213 Stöcklein, Joseph 30f., 64-66, 79, 194, 197-200, 202-204, 297, 341 Stuart, Herrscherhaus 301f. Taube, Friedrich Wilhelm von 25 Therese Kunigunde, Kurfürstin von Bayern 66 Thompson, Benjamin, Graf von Rumford 49 Thürriegel, Johann Kaspar von 40 Tiepolo, Giovanni Battista 13 Törring-Seefeld, August Joseph von 309 Torsellini, Orazio 213f. Turner, Frederick Jackson 109 Urlsperger, Johann August 67, 224, 229, 238-245, 249, 290 Urlsperger, Samuel 30, 37, 44, 55, 67, 80, 218-235, 238, 240, 243, 245, 249-251, 253, 265, 333, 342f. Utzschneider, Joseph 153 Vespucci, Amerigo 283, 299 Vigera, Johann Friedrich 231 Voltaire 140, 173, 175

Orte Wagenseil, Johann Christoph 128 Wagner, Matthäus 113 Waibel, Johann Conrad 309 Waldseemüller, Martin 15 Wappeler, Wilhelm 204-208, 210 Washington, George 12, 148, 213 Weber, Theodor 204, 207, 209-211 Weigel, Christoph 68, 80, 122f., 259 Weiss, Franz Xaver 203 Weisshoff, Jacob 126 Welser, Handelshaus 34 Westenrieder, Lorenz 72, 154-156, 163-166, 168f., 173, 176, 188, 190, 335

401

Wilhelm, Pfalzgraf von Zweibrücken 48 Will, Georg Andreas 71, 258 Wilson, Renate 248 Winkler, Heinrich August 15 Wittelsbach, Herrscherhaus 295, 303, 305, 330, 332 Wohler, Johann Conrad 254f. Zedlitz, Carl Abraham von 171 Zingnis, Paul 111 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig von 233

ORTE Folgende Einträge kommen durchgängig vor und wurden daher nicht in das Register aufgenommen: Amerika (mit Nord- und Südamerika und seinen lateinischen Entsprechungen America Borealis und America Septentrionalis), Neue und Alte Welt, Deutschland (mit Nord- und Süddeutschland), dessen historische Bezeichnungen (Altes Reich, Heiliges Römisches Reich) und Europa bzw. Alteuropa. Systematisch erfaßt wurde der Fließtext, nicht jedoch der Text im Bildanhang. Namensvarianten stehen in runden Klammern. Die geograſschen Lemmata verweisen in einzelnen Fällen auch auf Institutionen, Ereignisse und Personengruppen (Völker, Ethnien). Abaco 178 Ägypten (Egypten) 217, 226, 241 Ŧ Kopten 217 Afrika (Africa) 18, 64, 79, 90, 93-96, 115, 119, 126, 129f., 134, 157, 164, 166, 185f., 194-198, 214f., 264, 267, 269, 304, 307, 310, 329 Akadien 288f., 324 Alabama 314 Albany (Fort Albany), Kanada 150 Albany (Fort Orange), New York 149f. Allentown, Pennsylvania 177 Alpen 237, 243 Altdorf 29, 53, 59, 71f., 279 Ŧ Universität 19, 69f., 78, 122, 128, 131, 140f., 146, 149, 257f., 277 Amsterdam 53, 68, 79 Ansbach 30, 48, 74, 179, 182f., 185, 335 Ŧ Markgraftümer (BrandenburgAnsbach-Bayreuth) 47, 74, 122, 170f., 335

Antillen 101, 120, 133, 135, 141 Antwerpen 53f., 77 Appalachen 177 Aragon (Reges Aragoniae) 302 Arizona 101, 104, 201, 314 Armenien 216 Asien (Asia) 34, 37, 64, 79, 90, 93-96, 115, 119f., 129f., 134, 156f., 162, 164, 166, 186, 194-200, 215, 229, 243, 250f., 264, 269, 304, 307, 310, 314, 329, 341 Assyrer 295 Athen 163 Atlantischer Ozean (Atlantik) 11, 18, 33, 47, 55, 66, 97, 101, 118f., 121, 126, 138, 171f., 185, 241, 247, 267-269, 276, 288, 304f., 327, 329, 331, 342 Ŧ Atlantikpassage 12, 128 Attel 82 Augsburg Ŧ Anna-Gymnasium 71, 224 Ŧ Confessio Augustana 203, 220

402

Personen- und Ortsregister

Ŧ Hochstift 58 Ŧ Reichsabtei St. Ulrich und Afra 67 Ŧ Reichsstadt 19, 34-36, 42, 44, 53-58, 60, 64, 67f., 70f., 82, 93f., 113, 123, 126, 141, 149f., 194f., 202, 204, 218, 220f., 223f., 228f., 232-235, 238, 243, 245f., 248, 252, 265, 281-292, 294, 333f., 342f. Australien 157, 186 Azoren 128 Azteken Ŧ Königreich 100f., 116 Baden 39 Ŧ Markgrafschaft 217 Bahamas 171, 178, 187 Baltimore 150, 177f. Ŧ Bistum 158, 207 Ŧ Universität 182 Bamberg 56 Ŧ Universität 58, 71 Banz 67 Batavia 243 Bayern 20, 33, 35, 39f., 48, 65, 164, 203, 331 Ŧ Königreich 20 Ŧ Kurfürstentum 18, 20, 31, 33, 37, 40f., 43, 46, 49, 72f., 76, 152f., 154, 165, 170, 195, 293f., 299, 304, 306, 309, 323f. Bayreuth 56, 183 Berkeley, California 104 Berlin 12, 53, 56f., 74, 171 Bermudas (Insulae Bermudes) 101, 187, 302 Bethlehem, Pennsylvania 176, 184, 233 Böhmen (Bohemia) 203, 216, 274 Ŧ böhmische Jesuitenprovinz 38, 203 Bohemia occidentalis (siehe auch Martin Behaim im Personenregister) 128f. Bonn 15 Boston 136, 148, 163, 166 Ŧ Boston Tea Party 148 Boundbrook, New Jersey 176 Brasilien (Brasilia) 35, 116, 120, 125, 128, 135, 141, 158, 161, 200, 297, 300, 315, 323f., 326f. Braunschweig, New Jersey 176 Brüssel 53f. Buenos Aires 34 Burgund 302

Cadíz 52 Cambridge, Massachusetts 151, 166, 291 Ŧ Harvard University 151, 163, 166, 181, 291 Cap Breton 320, 324 Carlisle, Pennsylvania 177 Carolina 101, 106, 111, 117f., 131, 136, 164, 288, 305, 327 Ŧ North Carolina 171, 177f., 292 Ŧ South Carolina 36, 171, 177f., 254, 291, 325 Castilla d’Oro 120, 141 Charleston (Charlestown), South Carolina 36, 150, 177f., 291 Chile (Chili) 116, 120, 135, 141, 200 China 125, 198-201, 216, 303, 307 Christiansbrunn, Pennsylvania 176 Coburg 71, 257 Colorado Ŧ Bundesstaat 101 Ŧ Fluß 111 Connecticut Ŧ Fluß 151 Coromandelküste 225, 250 Creek 251 Dänemark 274, 276 Delaware 171, 177f. Den Haag 46 Dillingen/Donau 58, 60f., 65, 71, 77, 82, 90, 94, 98, 191, 333 Ŧ Universität 19, 61, 65, 70, 87 Donau 40 Ebenezer (Eben-Ezer), Georgia 30, 67, 118, 136, 149, 166, 218-240, 243-248, 250, 252f., 255, 290, 343 Ŧ Fluß 247f. Eberdingen 43 Eichstätt 65 Elchingen 67 England (Anglia, Großbritannien) 17, 44f., 49, 52, 83, 85, 98, 102, 106, 132f., 136-138, 143, 145, 148, 151f., 158, 162, 164, 173, 182, 191, 220f., 224f., 238, 242, 262f., 264, 266-268, 271f., 274, 276, 280, 283f., 287f., 292, 298, 301-303, 307, 315, 324f., 327f., 336 Englisch-Amerika (Angloamerika, Britisch-Amerika, Dominium Anglicanum) 26, 37, 41f., 48f., 101f.,

Orte

403

117-119, 121, 131-133, 135-137, 142, 146f., 149, 151, 159f., 163-165, 186, 190f., 204f., 210f., 213, 219-221, 224, 232f., 237, 240, 242, 253, 265, 268f., 271, 288f., 291, 293, 300-302, 312, 315f., 322, 324f., 327f., 335, 337, 340 Ensdorf 66, 308 Ephrata, Pennsylvania 177, 210 Erlangen (Christians-Erlang) 59 Ŧ Ritterakademie 122 Ŧ Universität 70f. Estotilandia 101 Ettal 85, 308, 310, 319-323 Ŧ Ritterakademie 66, 308, 310, 333

Germantown (Germanopolis), Pennsylvania 37, 41, 118, 132, 149, 176, 232 Göttingen 12, 17, 49, 56f., 89, 163, 308 Ŧ Universität 25, 29, 49, 56, 71f., 89, 153, 170f., 280, 308, 310 Goten (Gothi) 98 Graz 66, 73 Griechen (Ostrom) 90, 98, 241f., 295 Große Seen (Fünf Seen, Regio Pentilimnis) 45, 118, 136 Guatemala Ŧ Universität 315 Guyana (Gujana, Guajana) 40, 120, 141, 186, 202, 266

Fernambuco 300 Florida 44f., 101, 117, 120f., 131, 141f., 149, 160, 178, 288, 290, 314 Ŧ englisches Florida 117 Ŧ französisches Florida 117 Ŧ spanisches Florida 117, 160, 171 Franken 20, 34, 37, 40, 43, 48, 59, 65, 67-70, 74, 79f., 85, 124, 127, 148, 152, 170, 172, 175, 179, 189, 257f., 260, 264, 273, 333, 336, 343 Frankfurt/Main 53-56, 77, 79 Frankreich (Gallia) 17, 40, 44f., 52, 85, 98, 102, 117, 136, 215, 262, 264, 267, 270, 272, 274, 276, 279, 284, 288, 292, 301, 303f., 307, 324f. Ŧ Mauriner 67, 310 Ŧ Westindien-Kompanie (Compagnie des Indes) 118, 135, 275 Französisch-Amerika (Dominium Gallicum) 42, 45, 102, 131, 135-137, 142, 145, 159, 186, 202, 279, 291, 312, 314f., 325 Freiburg/Breisgau 65 Ŧ Universität 65, 87, 97 Freiburg/Uechtland 66 Freising 82

Habercorn, Georgia 247 Haiti 101 Halifax 136-138, 150 Halle 53-56, 220, 238 Ŧ Franck’sche Stiftungen 38, 55, 219, 224, 235 Ŧ Universität 55, 170f., 232, 235, 241 Hamburg 53f., 56, 80 Hannover Ŧ Stadt 56 Ŧ Kurfürstentum 17, 45, 47, 49, 234 Havanna 142 Heidelberg 206 Ŧ Universität 206, 209 Hessen 39, 54 Ŧ Hessians 47 Hessen-Kassel 47, 234 Hessen-Nassau 39 Hispaniola 101, 337 Hubertusburg Ŧ Friede von 1763 285, 321 Hudson 149 Ŧ Bucht 45 Huronen (Hvrones, Terrae Huronum) 101f., 107

Geinsheim 204 Genua 127 Georgia (Georgien, ȖİȦȡȖȚȠȞ, Georgion) 37, 44, 55, 67, 117f., 136, 147, 149, 160f., 177, 218-241, 244f., 248-252, 254-256, 265, 288, 290, 314, 324, 329, 333, 342f. Germanen 98, 241, 258, 281, 310

Illinois (Illinoia) 174, 202 Indiana (Metropotamia) 174 Indianer (Indios) 13f., 22, 86, 99, 102, 110, 159, 162, 169, 211, 215-218, 234, 244f., 251, 266, 279, 291, 305, 316f., 322, 324, 340-342 Ŧ Indianergebiete (Dominia Indigenarum, freye Indianerländer) 99f., 160, 167, 187, 244f., 247

404

Personen- und Ortsregister

Indien (Ost-Indien, India) 37f., 80, 92, 97, 99, 125, 216, 224, 229, 251, 267, 304, 312, 314, 317, 322 Ingolstadt 60, 90 Ŧ Universität 19, 71, 110-112, 206, 213f., 217 Inka 317 Ŧ Königreich 100, 116 Irland 303, 307 Irokesen (Irrochi, Terrae Iroquiorum) 101, 107, 146 Isle Royale 136 Israel (Judäa) 134, 226, 241 Ŧ Israeliten (Juden) 180, 240f., 253 Ŧ Neues Israel 229, 342 Italien 55, 75, 80, 213, 258, 262, 303, 343 Jamaika 101, 305 Jamestown, Virginia 142, 145 Jena Ŧ Universität 71, 171 Jerusalem 232, 248 Jesuitenreduktionen 323f. Kalifornien (California) 60, 65, 105f., 108-112, 117, 149, 151, 165, 190, 199, 201-203, 288, 314, 326, 337 Ŧ Bundesstaat, USA 101 Ŧ Golf (Mar Vermeio) 110f. Ŧ Südkalifornien (Niederkalifornien, Baja California, Baja California Sur) 42, 101, 110f., 314 Kanaan 240 Kanada (Canada) 42, 45, 101f., 117f., 120f., 131, 135, 138, 141f., 145f., 150f., 160, 165, 187, 300-302, 305, 316, 320, 325 Ŧ Commonwealth 142 Ŧ Frankokanada 131, 143, 288 Ŧ Nova Britannia 101 Kansas 101 Karibik (Insulae Carnibes) 42, 44, 116, 142, 146, 160, 187, 202f., 275, 288, 302, 305, 320, 322, 324, 337 Kastilien (Reges Castellae) 298, 300, 302 Kempten 58 Kentucky 171, 177 Köln 53-56 Konstantinopel 303 Kreolen 161, 326

Kuba (Cuba) 101, 242f., 305, 322, 324, 337 Kutztown, Pennsylvania 177 Labrador 117, 131 Lahn-Dillenburg 39 Lancaster, Pennsylvania 177, 183f. Ŧ County 41, 206 Landshut 293 Langenau 254f. Langobarden (Longobardi) 98 Landsberg/Lech 38, 65, 206 La Plata 120, 141 Lateinamerika (Iberoamerika) 18, 161, 204f., 221, 244, 263, 278, 301, 312, 315, 325f., 338 Lebanon, Pennsylvania 177 Leesburg, Virginia 177 Levante 276 Leipheim 224, 249 Leipzig 53-56, 77, 136 Lima Ŧ Universität 315 Lindau 228 Linz Ŧ St. Florian 82 Lissabon Ŧ Erdbeben von 1755 319 London 46, 52, 68, 219, 235, 270 Long Island, New York 291 Lotharingien 302 Louisbourg 136 Louisiana 42, 45, 101, 106, 117, 131, 133, 135, 151, 160, 202, 260, 266, 275, 279, 288, 290, 314 Ŧ Aktienhandel 133, 135, 260, 278f. Lüttich 35, 65, 294, 297-299 Madrid 20, 44f., 52f. Mähren 216 Ŧ Mährische Brüder (Moravians, Herrnhuter) 36, 184, 210, 233, 291 Magellan-Straße (Fretum Magellanicum, Patagonicum) 128, 320, 324 Mainz 207 Malabarküste 224 Mannheim 60, 207 Ŧ Akademie 60 Mantua 65 Martinique 135

Orte Maryland (Marilandia) 101, 106, 117, 131, 136f., 147, 165, 171, 177f., 288f., 291, 327f. Massachusetts 166, 291 Meißen 89 Memmingen 58, 228 Mexamerica 101, 337 Mexiko (Mexico, America Mexicana) 20, 34, 98, 100-102, 110, 117, 120f., 131, 134f., 145, 147, 158, 160f., 190, 201-203, 272, 288, 300f., 314f., 326f., 338 Ŧ Erzbistum 143 Ŧ Golf 160, 271, 288 Ŧ Königreich (Altmexiko, Regnum Mexicanum) 100, 103, 141, 143f., 160, 187, 217, 316f., 337 Ŧ Stadt (Tenochtitlan) 143-145, 338 Ŧ Universität 315 Ŧ Vereinigte Mexikanische Staaten 101 Michigan (Michigania) 174 Midwest, USA 202 Ŧ Upper Midwest 314 Mississippi Ŧ Fluß 45, 109, 151, 202, 314 Ŧ Territorium 134-136, 149, 191, 202 Mittelamerika 20, 101, 160, 187, 326, 337 Mitteleuropa (Zentraleuropa) 11, 19f., 39, 46, 52, 130, 275, 313, 331, 336, 342 Mittelfranken 124, 129, 131 Mittelmeer 18 Montreal 142f. München 32, 41, 46, 49, 53, 56, 58, 60, 65, 73, 82, 153, 155, 164, 166, 168f., 170, 285, 294 Ŧ Akademie der Wissenschaften 57, 72, 154, 333 Nassau, Karibik 178 Nazareth, Pennsylvania 176, 184, 233 Neapel-Sizilien 274 Neu-Dänemark (Nova Dania) 101, 117, 186 Neuengland (Nova Anglia) 41, 83, 99, 101, 106, 109, 117f., 131f., 134-136, 141, 171, 205, 232, 244, 255, 288, 290, 302, 305, 327 Neufundland 45, 160

405

Neufrankreich (Nova Francia, NouvelleFrance) 45, 99, 109, 117, 131, 136, 145, 202, 266, 288, 302 Neugalizien (Novum Regnum Galitiae) 302 Neugranada (Novum Regnum Granatense) 101, 142, 302 Neuholland (Nova Hollandia, Dominium Hollandicum) 102, 297, 302 Neumexiko (Nova Mexico) 105f., 108, 110, 117, 120f., 131, 141f., 160, 187, 203, 314, 326 Neuportugal 101 Neuschottland (Nova Scotia) 45, 117, 131, 138, 160, 322, 324 Neuschweden (Nova Suecia, Dominium Suecicum) 101f., 141 Neuspanien (Nova Hispania) 101, 103, 111, 117, 141-143, 202f., 302, 312 Neu-Sommershausen, Pennsylvania 118 Neu-Wallis (Nordwallia, Sudwallia) 101, 117 Nevis 305 New Bern, North Carolina 177 New Haven, Connecticut 145 Ŧ Yale University 181 New Jersey 41, 117, 131, 171, 176, 178, 288, 335 New Mexico 101, 104, 201, 314 New Orleans 42, 45 Newport, Rhode Island Ŧ College 181 New York (Neu-Amsterdam, Novum Amstelodamum) Ŧ Kolonie 41, 117f., 131, 150, 171, 288 Ŧ Manhattan 144 Ŧ Stadt 136, 142-145, 148, 163, 166, 176, 181, 297 Ŧ Universität 266 Niederaltaich 67 Niederbayern 39f. Niederlande (Generalstaaten, Holland) 40, 44, 91, 98, 102, 130, 157, 161, 172, 234, 241, 262, 270, 274, 276, 297, 300f., 303, 305 Ŧ südliche Niederlande (Belgium) 51, 54, 302 Niederlausitz 235 Nordeuropa 276, 301 North Carolina, siehe Carolina

406

Personen- und Ortsregister

Northeast, USA 142, 202 Nürnberg 19, 34, 43, 53-60, 68-71, 79, 82, 84, 118, 122-138, 142, 149, 152, 181, 190, 221, 257-283, 285f., 289, 294, 303, 333f., 336, 338, 343 Ŧ Aegidianum 71, 122 Oberaltaich 67 Oberbayern 39f., 82, 85 Oberdeutschland 35, 37-39, 118, 195, 206, 331, 334, 343 Ŧ oberdeutsche Jesuitenprovinz (Germania Superior) 37 Oberösterreich 82 Oberpfalz 66 Oberschwaben 121 Österreich (Austria) 18, 46f., 73, 195, 203, 216, 268, 284f., 294, 302 Ŧ habsburgische Länder 13, 25, 40, 132, 334 Ŧ österreichische Jesuitenprovinz 38 Ohio (Polypotamia) Ŧ Bundesstaat 171, 177 Ŧ Fluß 288 Ŧ Territorium 45, 174, 177 Oklahoma 101 Osmanisches Reich (Hohe Pforte) 215, 274, 276, 319, 342 Ŧ Türken 40, 276, 303, 307 Osteuropa 303 Ostküste, Nordamerika 26, 45, 101, 109, 116-119, 121, 136, 142f., 149, 151, 175, 178, 180, 190, 204, 252, 288-290, 292f., 325, 327, 337 Ottobeuren 67 Palmyra 163 Panama 34 Ŧ Isthmus 101, 116, 161 Paraguay 42, 65, 135, 141, 200, 266, 323 Paris 24, 48, 52f., 68, 79, 88, 112, 123, 138, 194, 202, 270, 279 Ŧ Friede von 1749 324 Ŧ Friede von 1763 45, 151 Ŧ Rue de Quincampoix (Börse) 260, 279 Paziſscher Ozean (Paziſk) 109, 337 Pegnitz 122 Pennsylvania 41, 43, 77, 101, 106, 117f., 121, 131f., 143, 147, 149, 160, 165,

171, 176, 178, 180-185, 204-213, 232-234, 242, 248, 253, 265, 288, 290f., 301, 322, 324, 327-329, 335, 337 Ŧ Pennsylvania Dutch (Country) 42, 176, 184, 205 Pensacola, Florida 117 Perser 295, 310 Peru (America Peruviana, Regnum Peruvianum, Imperium Peroanum) 100, 102f., 116, 120, 135, 141, 147, 158, 161, 168, 200, 217, 265f., 300-302, 315f. Peterborough, Pennsylvania 177 Pfalz (Kurpfalz) 18, 39, 48, 60, 74, 204, 235, 331 Ŧ Auswanderung (Migratio Palatinorum) 206, 270, 278, 280 Ŧ Palatines 39 Pfalz-Neuburg 216 Pfalz-Sulzbach 69, 74, 144 Pfalz-Zweibrücken (Deux-Ponts) 47f., 60 Philadelphia 37, 41, 136, 141, 143, 148, 151, 163, 165, 176-185, 188, 205f., 209, 213, 232, 248, 252, 266, 305, 315 Ŧ American Philosophical Society 31, 181, 206f. Ŧ German Society of Pennsylvania 41, 64, 183f. Ŧ Quäker 36, 41, 121, 142f., 179, 182, 209, 232, 242, 248, 252, 290f., 301, 305f. Ŧ University of Pennsylvania 163, 181, 183, 206 Phönizier 241 Pittsburgh, Pennsylvania 177 Polarländer 119 Ŧ Antarktis (Polum Antarcticum) 92, 119 Ŧ Arktis (Polum Arcticum) 92, 119 Polen 274 Port-Royal 142 Portobello 275 Portugal (Lusitania) 34f., 44, 50, 98, 128, 205, 214f., 262, 274, 276, 299f., 312, 320, 323-325 Portugiesisch-Amerika (Dominium Lusitanicum) 34, 42, 97, 102, 116, 160, 165, 186, 205, 300, 314, 326 Potosi 168f., 335

Orte Preußen (Brandenburg-Preußen, Borussia) 47, 56, 171, 219, 240f., 268, 274, 283-285 Princeton New Jersey 176 Ŧ College 176 Providence, Rhode Island 50 Puerto Rico 142 Purrysburg (Puryburg), South Carolina 247 Quebec 143, 151, 158, 202 Ŧ Kolonie 131, 160 Ŧ Stadt 136f., 142f., 270, 288, 291 Ŧ Universität 315 Quitoa Ŧ Universität 315 Räter 243 Rastatt Ŧ Friede von 1714 320, 324 Reading, Pennsylvania 177 Regensburg 57f., 60 Ŧ Reichsabtei St. Emmeram 67 Ŧ Reichstag 221 Reutlingen 58 Rhein 39, 49, 280 Ŧ Niederrhein 42, 204 Ŧ Oberrhein 39 Rheinland 54 Ŧ rheinische Jesuitenprovinzen (Rhenania Inferior, Superior) 38, 204, 208, 210 Rhode Island 50 Richmond, Virginia 177f. Rio de la Plata 34 Rockyhill New Jersey 176 Rom 90, 163, 299, 313, 322f. Ŧ Collegio Romano 77, 114, 214 Ŧ Päpste 92, 199, 215, 229, 273, 295f., 298, 303-305, 309, 314, 319, 322, 341, 343 Römer (Westrom) 90, 98, 241, 243, 258, 313, 295 Rottweil 65 Russland 264, 274, 276 Saalfeld 238 Sachsen 89, 217 Saginaw, Michigan 101 Salzburg 44, 56, 58f., 80, 154, 158, 170, 230, 237

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Ŧ Erzstift 44, 157, 219 Ŧ Exulanten 37, 44, 55, 67, 118, 136, 166, 218f., 222-225, 228, 230-235, 237, 239-243, 249, 251, 265, 305, 324, 333, 343 Ŧ Universität 58f., 66, 71, 80, 154f., 160-164, 308, 310, 325, 336 San Matheo de Tolapataſ, Florida 142 San Pedro de Mocuma (Cumberland Island, Georgia) 142 St. Augustine (San Augustino, St. Augustín), Florida 117, 142, 150, 178 St. Lorenz-Strom 45, 136, 151, 288 Santo Domingo 34 Ŧ Universität 315 Sarazenen 303, 307 Sardinien 274 Savannah, Georgia Ŧ Fluß 245, 247 Ŧ Stadt 119, 149, 182, 221, 245 Schöneck, Pennsylvania 176 Schottland 57, 135, 303, 307 Schwaben 34f., 37, 39, 43, 55, 65-67, 77, 94, 132, 189, 194, 206, 213, 218-257, 333, 342-344 Schwäbische Alb 249 Schweden (Suecia) 98, 102, 172, 274, 276, 315 Schweiz (Eidgenossenschaft) 37, 39, 91, 130, 157, 161 Sevilla 52 Sierra Morena 40 Sonora 65, 101, 201-203 South Carolina, siehe Carolina Southwest, USA 103-112, 204 Spanien (Hispania) 17, 20, 34, 42, 44f., 52, 85, 98, 145, 191, 215, 242, 262-264, 272, 274, 276, 299, 301-304, 307, 313, 315, 317, 324f. Spanisch-Amerika (Dominium Hispanicum) 37, 42, 65, 102f., 105, 121, 131, 133, 135, 147, 160-162, 165, 186, 190f., 202, 204f., 288, 301f., 314, 316, 335, 337 Spanish borderlands 104 Speyer 206 Straßburg 58 Straubing 35, 67, 293 Südeuropa 276, 305 Syrien 217

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Personen- und Ortsregister Ŧ Maroniten 217

Tartaren 303, 307 Tegernsee 82, 308 Terra ſrma 135 Terra del Fuego (Fuogo) 141 Terra Magellanica 120, 141 Texas 101, 314 Thule 128 Tucuman 120, 141 Tübingen 56, 59 Ulm 39, 58, 61, 67, 71, 78, 112-122, 129f., 130, 132, 142, 224, 228f., 249f., 252-257, 257, 290, 333, 344 Ungarn 40, 274, 303 USA (Amerikanische Republik, Freystaaten) 11f., 15, 18, 25, 28, 31, 35f., 47f., 69, 74, 101, 104, 109f., 135, 138, 142, 144, 146-148, 153, 158-165, 170-173, 175f., 178, 181-183, 185, 187f., 191, 206, 213, 265, 269, 272, 332, 334f., 337f. Ŧ Revolution von 1776 11f., 16, 18, 20, 33, 47-50, 52, 56, 58, 60, 66, 80, 133, 138, 146-153, 157f., 161-165, 172, 174, 182, 187f., 190, 213, 230, 268f., 271f., 275-277, 281, 296, 312, 329, 334-338, 344 Utah 101 Utrecht Ŧ Friede von 1713 45, 127

Venedig 91 Vindelicer 243 Virginia 44, 99, 101, 117f., 120f., 131, 134-137, 141f., 147-149, 151, 161, 165, 171, 177f., 270, 288f., 302f., 327 Washington DC Ŧ Georgetown University 207 Weihenstephan 66 Wernigerode 235 Westeuropa 44, 52, 135, 138, 275, 283, 313, 332, 342 Westindien (Westindische Inseln) 135, 187, 320, 324 Westküste, Nordamerika 101, 111, 145, 288 Wien 56-58, 60, 171 Ŧ Ständische Akademie 73, 294 Wiener Neustadt 66 Williamsburg, Virginia 142, 149, 151, 177 Ŧ College of William and Mary 145, 151, 163, 181f. Windsheim 43 Wolfenbüttel 64 Württemberg 39, 43, 69, 254 Würzburg 13, 56, 70f. Ŧ Hochstift 40, 47, 59 Ŧ Universität 19, 65, 70, 87, 206 Zion, Pennsylvania 210

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Gab es süddeutsche Amerika-Bilder? Rainald Becker nimmt die (Nord-)Amerika-Wahrnehmungen im Süddeutschland des „langen“ 18. Jahrhunderts von 1648 bis 1776 in den Blick. Obwohl hier keine koloniale Basis bestand, spielten sie für das zeitgenössische Bewusstsein eine dominante Rolle. Insbesondere die Kommunikationsmilieus der gelehrten Kultur – Jesuiten und Pietisten, reichsstädtische Eliten und Beamte im Fürstenstaat – befassten sich mit Amerika und verliehen der Neuen Welt eigene Konturen: als Zufluchtsort der Heilsgeschichte, als Szenarium weltpolitischer Konfliktdynamiken oder wissenschaftlicher Umwälzungen. Der Autor plädiert für eine regionalisierte Betrachtungsweise globalgeschichtlicher Interaktions-, Transfer- und Aneignungsprozesse. Jenseits des Exotentopos im Humanismus, lange vor den Freiheitsutopien der Aufklärung erschließt er so den differenzierten Umgang mit der Neuen Welt im süddeutschen Barock: Westernisierung und Nordamerikanisierung – diese beiden schon im 18. Jahrhundert einsetzenden Grundtendenzen erfassten auch süddeutsche Lebenswelten und brachten im meerfernen backcountry der Atlantischen Welt originelle Deutungsansätze hervor.

ISBN 978-3-515-10185-1

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