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German Pages 248 Year 2013
Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung Schriftenreihe des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
47
Insa Kringler
Die gerettete Welt Zur Rezeption des Cambridger Platonismus in der europäischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts
De Gruyter
Herausgeber: Daniel Fulda, Ulrich Barth, Harald Bluhm, Robert Fajen, Wolfgang Hirschmann, Andreas Peþar, Jürgen Stolzenberg, Heinz Thoma, Sabine Volk-Birke Wissenschaftlicher Beirat: Wolfgang Adam, Roger Bartlett, Gunnar Berg, Reinhard Brandt, Lorraine Daston, Laurenz Lütteken, Jean Mondot, Alberto Postigliola, Paul Raabe, Peter Hanns Reill Redaktion: Bianca Pick Satz: Kornelia Grün
ISBN 978-3-11-029697-6 e-ISBN 978-3-11-029716-4 ISSN 0948-6070 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Ich glaube, dass nur ein Träumer, der weder das Leben noch den Tod fürchtet, dieses winzige, kleine Jota Kraft entdecken wird, das den ganzen Kosmos in die Luft sprengt, und zwar augenblicklich. Henry Miller
Für Etta, Theda und Anna
Danksagung
Dieses Buch ist vielen Menschen zu Dank verpflichtet. An erster Stelle möchte ich mich bei meinem Doktorvater Prof. Dr. Wilhelm Schmidt-Biggemann für die freundliche Betreuung meines Dissertationsprojektes bedanken. Genauso sehr gilt mein Dank meinen Betreuern in Halle, namentlich Prof. Dr. Ulrich Barth, der zudem das Zweitgutachten für diese Arbeit anfertigte, und Frau Neugebauer-Wölk für die immer hilfreiche Kritik meiner entstehenden Arbeit. Ganz herzlich danke ich dem Exzellenznetzwerk Aufklärung – Religion – Wissen an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, deren großzügige finanzielle Förderung zum einen das Schreiben dieser Arbeit erst möglich gemacht hat, zum anderen durch einen Druckkostenzuschuss für die Publikation des vorliegenden Buches gesorgt hat. Dem Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung danke ich für die Aufnahme dieses Buches in die Reihe der Halleschen Beiträge. Bianca Pick und Kornelia Grün danke ich für die freundlich-akribische redaktionelle Betreuung. Für die regen Diskussionen, Anmerkungen und Ermutigungen ist dem gesamten Graduiertenkolleg zu danken, besonders der Shaftesbury-Arbeitsgruppe bestehend aus Melinda Palmer Kolb und Katja Battenfeld. Bei der Forschergruppe Esoterik bedanke ich mich für den freundlichen Austausch, insbesondere bei Dr. Hanns-Peter Neumann, der diese Arbeit erst angeregt hat. Herrn PD Dr. Rainer Godel danke ich für die nette und konstruktive Betreuung als wissenschaftlicher Koordinator, Frau Jummrich und Frau Neumann für ihre unermüdliche organisatorische Unterstützung. Dank auch an die Bibliothek des IZEA, sowie der Philologischen Bibliothek in Berlin, den Staatsbibliotheken in Berlin und Hamburg für das Schaffen von günstigen Arbeitsmöglichkeiten. Angela Egli danke ich für ihren tollen Französischunterricht. Jan Jansen hat dankenswerterweise diese Arbeit gründlich Korrektur gelesen, für etwaige Fehler bin natürlich trotzdem ich verantwortlich. Mein Dank gilt auch Freunden und Familie, besonders meinen langjährigen Freunden Steffi und Jan sowie meinem Bruder Tjarko, die nie daran gezweifelt haben, dass diese Arbeit fertig werden wird. Ohne meine Tochter wäre die Fertigstellung dieses Buches mir nicht als eine so wunderschöne Zeit in Erinnerung. Meinen Eltern, die mich immer in jeder Hinsicht unterstützt haben, möchte ich an dieser Stelle für alles danken, was sie v.a. in den letzten Jahren für mich getan haben. März 2012
Insa Kringler VII
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Exposition des Themas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Zur Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Konstellationsforschung . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1.1 Die Cambridge-Konstellation . . . . 1.2.1.2 Die Rezipienten-Konstellation . . . . 1.2.2 Der Begriff der Rezeption . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Topik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Forschungsstand und Gliederung der Dissertation
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2 Welt und Geist bei den Platonikern von Cambridge . . . . . . . . . . . 2.1 Der Begriff der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Die Stellung der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Der Ursprung der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Möglichkeit der Erkenntnis der Welt – Eine Verschiebung von Deutungshoheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Die ewige Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Das Corpus Hermeticum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Atome und physikalischer Monadenbegriff – Zum Überlieferungszusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3.1 Zur Person: Ralph Cudworth . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3.2 Cudworths pythagoreischer Atomismus . . . . . . 2.2.3.3 Zur Person: Henry More . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3.4 Mores Geschichte der Weisheit . . . . . . . . . . . . 2.3 Der metaphysische Aufbau der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Die materielle Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1.1 Cudworths Atome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1.2 Mores kleinste Teilchen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1.3 Der Raum der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Die immaterielle Urmonade – zur geistigen Durchdringung der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.1 Cudworths geistiges Lebensprinzip und Mores ausgedehnter Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.2 Cudworths plastische Natur . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.3 Mores Geist der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IX
2.3.2.4 Naturwissenschaftliche Implikationen des spirit of nature . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Zwischenergebnis und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3 Die Plastische Natur bei Jean Leclerc und Pierre Bayle . . . . . . . . . . . . 3.1 Bearbeitungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Leclercs Bibliothèque Choisie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1.1 Zur Person: Jean Leclerc . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1.2 Hinführung zu einem ehrgeizigen Übersetzungsunternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1.3 Analyse der Übersetzungsleistung . . . . . . . . . . . . . 3.1.1.4 Vollständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1.5 Wortwahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1.6 Bewertung der Übersetzungsleistung . . . . . . . . . . . 3.1.1.7 Weiterführende Bearbeitungsstrategien . . . . . . . . . . 3.1.2 Alternative Textvarianten des True Intellectual System . . . . 3.1.2.1 Wises An Abridgement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.2 Mosheims Systema Intellectuale . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Exkurs: Baumgartens Predigtensammlung . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die Debatte um die plastische Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Übersetzungen bezüglich der plastischen Natur bei Leclerc . 3.2.1.1 Article I – Plastische Natur unter falschen Vorzeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1.2 Article II – Positive Reinterpretation des plastischen Prinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Debatte um die plastische Natur zwischen Bayle und Leclerc 3.2.2.1 Bayles Positionierung gegen die plastische Natur . . . 3.2.2.2 Leclercs Positionsnahme für die plastische Natur . . . 3.2.3 Bezugnahme auf die Bayle-Leclerc-Debatte . . . . . . . . . . . . 3.2.3.1 Wises Auseinandersetzung mit der Debatte um die plastische Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3.2 Mosheims Kommentare hinsichtlich der plastischen Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3.3 Exkurs: Windheims Bemühungen der Weltweisen . . 3.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4 Vernunftkonzeption und Innate Ideas . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Zur Person: Lady Masham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Die Rezeption der Debatte um die plastische Natur . . 4.2.1 Der Leibniz-Masham-Briefwechsel . . . . . . . . . 4.2.2 Verortung der Frage nach der plastischen Natur
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4.2.2.1 Die Frage nach der plastischen Natur unter erkenntnistheoretischen Voraussetzungen . . . . . . . . 4.2.2.2 Verortung der plastischen Natur im theologischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Aspekte des Weltverhältnisses: Das Erkennen der Welt . . . . . . . . 4.3.1 Bestimmung der Vernunft bei den Cambridge Platonists . . . 4.3.1.1 Zur Person: Benjamin Whichcote . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1.2 Der Vernunftbegriff bei Whichcote . . . . . . . . . . . . 4.3.1.3 Zur Person: John Smith . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1.4 Der Vernunftbegriff bei Smith . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1.5 Cudworths Verständnis von Vernunft . . . . . . . . . . . 4.3.2 Der Topos der innate ideas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.1 Cudworths Entwicklung einer natürlichen Gottesidee im True Intellectual System . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.2 Die angeborene Gottesidee bei More . . . . . . . . . . . 4.3.3 Die Kritik Lockes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3.1 Zur Person: John Locke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3.2 Der Begriff des Verstandes bei Locke . . . . . . . . . . . 4.3.3.3 Lockes Kritik der innate ideas . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4 Der Vermittlungsversuch Mashams . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4.1 Ein schwankender Vernunftbegriff . . . . . . . . . . . . . 4.3.4.2 Innate Ideas? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.5 Die Frage der innate ideas beiLeclerc, Wise und Mosheim . . 4.3.6 Ausblick: Leibniz’ und Shaftesburys Positionierung in der Frage der innate ideas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Die Theodizeefrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Zur Person: Gottfried Wilhelm Leibniz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Die plastische Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Der Leibniz-Masham-Briefwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1.1 Exkurs: Rorarius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1.2 Die plastische Natur im letzten Leibnizbrief an Lady Masham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Leibniz’ Auseinandersetzung mit der plastischen Natur in Manuskripten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Die Debatte um die plastische Natur in der Theodizee . . . . . 5.2.4 Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Aspekte des Weltverstehens: Die Frage nach dem Schlechten in der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Cudworths Auseinandersetzung mit dem Theodizee-Problem 5.3.1.1 Gott und Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5.3.1.2 Die menschliche Vernunft und ihre Standortgebundenheit . . . . . . . . . . 5.3.1.3 Gut und Böse . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1.4 Theodizee und plastische Natur . . . 5.3.2 Bayles Manichäer . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Leibnizens Theodizee . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3.1 Die menschliche Vernunft . . . . . . . 5.3.3.2 Gott und Welt . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3.3 Böse und Gut . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4 Ausblick: Shaftesbury . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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6 Der Moral Sense . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Zur Person: Anthony Ashley Cooper, Dritter Earl von Shaftesbury 6.2 Shaftesbury zur Frage der plastischen Natur . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Shaftesburys emphatischer Naturbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Schönheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Aspekte des Weltverstehens: Die Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.1 Religion und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.2 Moral und Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.3 Moral und Vernunft – Whichcotes Select Sermons . . . . . . . . 6.4.4 Das Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.5 Shaftesburys Moral Sense . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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7 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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8 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung
Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und finster war es auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag. Gen. 1.1–5
1.1 Exposition des Themas „Wherefore is speech, but for communication?“,1 fragt Benjamin Whichcote in einer seiner Predigten. Whichcote gilt als Begründer des Cambridger Platonismus, womit Ernst Cassirer folgend eine Gruppe englischer Theologen bezeichnen wird, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts antike, v.a. platonische Philosophie ins Christentum integrierten. Für Whichcote bestimmt sich der Mensch in erster Linie durch moralisches Verhalten und in moralischer Hinsicht kann der Mensch nicht allein sein. Entsprechend sieht Whichcote den Menschen immer als Mensch unter Mitmenschen. Verständigung und Kommunikation ist somit für ihn unentbehrlich, ja wesentlich, obwohl das, was den Menschen zum Menschen macht, kaum zu kommunizieren ist, Kommunikation in essentiellen Fragen immer defizitär bleiben muss.2 Wahrheit ist in diesem Sinne diskursive Wahrheit. Sich widersprechende Meinungen sind Whichcote sogar willkommen, weil sie das Gespräch der Wahrheit näher bringen: „Discourse is as soon ended as begun, where all say the same; whereas he that speaks after, and says a new thing, searcheth the former. So no truth will be lost for want of being offered to consideration.“3 Erst die Unterbrechung des Gesprächs wird zur Sünde, ist sie doch ein Abbruch des Bemühens um Wahrheit: „by sin, there is a disturbance in God’s family: it is an interruption of that intercourse and communication there ought to be amongst creatures“.4 1 2
3 4
Benjamin Whichcote: The Works (1751). 4 Bde. New York, London 1977, hier Bd. IV, S. 358. „[I]n matters of this nature, ’tis every body for himselfs: for these perfections of the mind, virtue and goodness, are not communicable, as other things are […] but pass by mental illumination, by proposing each to other, and by the receiver’s consideration, and his own imbibing of which is offered“ (vgl. Whichcote: The Works. Bd. I, S. 153). Whichcote: The Works. Bd. II, S. 26. Whichcote: The Works. Bd. I, S. 141.
1
In der Perspektive des 18. Jahrhunderts, als dem Jahrhundert der Aufklärung, kann eine solch religiös motivierte Weltanschauung, wie sie Whichcote formuliert und wie sie für den gesamten Cambridger Platonismus prägend ist, einerseits bestenfalls als antiquiert gelten. Andererseits jedoch haben die Cambridge Platonists, wie der Verweis auf das moderne Cambridger Wahrheitsverständnis bereits nahelegt, viele kantige Gedanken für im 18. Jahrhundert relevante Fragen als Gesprächsanschlüsse im Sinne Whichcotes bereitgehalten. So soll anhand der Rezeption der Cambridge Platonists, zu denen neben Whichcote v.a. Ralph Cudworth und Henry More zu zählen sind, gezeigt werden, dass die Entwicklung zur Aufklärung keine eindimensionale, gradlinige war, vielmehr an das 17. Jahrhundert anknüpfend verschiedene Paradigmen Geltung beanspruchen konnten. Leitende Fragehinsicht dieser Untersuchung ist, inwiefern und in welcher Form die Schriften der Cambridge Platonists rezipiert worden sind und die Diskussionsprozesse zu Beginn des 18. Jahrhunderts mitbestimmt haben. Dabei geht es gemäß des von Whichcote gepredigten Wahrheitsbegriffs nicht um die Richtigkeit oder Falschheit von Denkpositionen, sondern darum, wie sie Debatten bereichert haben und welche Funktion den Argumenten der Cambridge Platonists in einem sich wandelnden Glaubens- und Erfahrungshorizont zukam. Rogers schlägt in diesem Sinne vor, das Denken der Cambridge Platonists im Kontext einer „Geschichte der nicht enden wollenden Anläufe […], das neue Wissen und die alte Theologie zu harmonisieren“5 zu verstehen. Besonderes Augenmerk liegt auf vier Debatten, die das sich im Umbruch befindende Verhältnis von Theologie, Philosophie, Naturwissenschaft und Mathematik widerspiegeln. Besonders ist die Debatte um die plastic nature hervorzuheben, die sich im Anschluss an Ralph Cudworth und Henry More zwischen Jean Leclerc, Pierre Bayle, Lady Masham und Gottfried Wilhelm Leibniz entspann, von Johann Lorenz Mosheim und Anthony Ashley Cooper Third Earl of Shaftesbury in unterschiedlicher Form reflektiert wurde und zum Ziel hatte, ein tieferes Verständnis von dem, was Welt meint, zu erlangen. Kern der Debatte ist das Verhältnis von Atomen und Organismen, die Beziehung von Geist, Leben und Materie. Davon ausgehend beschäftigt sich diese Studie mit drei Debatten, die das beginnende 18. Jahrhundert geprägt haben. Erstens die Debatte um die innate ideas, sie zeigt das sich verändernde Menschenbild der Zeit, der Mensch versucht sich aus seiner Abhängigkeit von Gott zu emanzipieren und einen Platz in einem sich wandelnden Weltbild zu finden. Zweitens findet das Theodizeeproblem in diesem Zusammenhang Betrachtung, wird doch Gottes Gerechtigkeit in dem Moment zum Problem, wenn sie vor menschlichen Maßstäben zu bestehen hat. In der dritten
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Graham Alan John Rogers: Die Cambridge Platoniker und das neue Wissen. In: Theo Kobusch, Burkhard Mojsisch: Platon in der abendländischen Geistesgeschichte. Neue Forschungen zum Platonismus. Darmstadt 1997, S. 155–169, hier S. 156.
Debatte ist die Ethik als Ausprägungsort einer auf Werkgerechtigkeit beruhenden Religionsauffassung zu betrachten. Quer durch diese Debatten hindurch zeigt sich, dass in den Schriften der Cambridge Platonists eine Rationalisierung des Religiösen vollzogen wurde, zum einen durch die Reduktion der Religion auf eine rational begründete Ethik, zum anderen durch die Betonung eines an der neuplatonischen Philosophie geschulten Vernunftbegriffes. Verknüpft mit einem wachsenden Interesse an neuer Naturwissenschaft, vollzog sich dieser Prozess jedoch gleichsam in Rückgriff auf eine Tradition, der esoterische und hermetische Elemente nicht fremd waren, wodurch diese Versatzstücke auch in die Diskurse des 18. Jahrhunderts mit einflossen. Zu nennen sind naturphilosophische, anthropologische und theologisch-kosmogonische Versatzstücke der ägyptischen Arkantheologie, der pythagoreisch-(neu)platonischen Metaphysik sowie das Corpus Hermeticum.
1.2 Zur Methodik Methodisch soll sich der Rezeption der Cambridge Platonists in Anlehnung an zwei Theorien genähert werden. Zum einen greife ich auf die Ideen der Konstellationsforschung zurück, zum anderen wird die Topik als die Lehre von den Fragestellungen, der Bedeutungsfülle und der Perspektivenvielfalt eines jeden Arguments relevant. Die Konstellationsforschung erscheint als aufschlussreich, weil sie sich mit der Analyse von Debatten und Diskussionssträngen beschäftigt und die Gedanken der Protagonisten in Bezug aufeinander entfaltet werden. Sowohl die Cambridge Platonists als auch die hier betrachtete Gruppe ihrer Rezipienten waren miteinander als Teil der république des lettres auf vielfältige Weise verbunden. Die Gelehrten überall in Europa korrespondieren miteinander, kannten sich zum Teil persönlich, kommentierten ihre jeweiligen Positionen publizistisch und inspirierten sich so gegenseitig. Das gilt für die Biographien der behandelten Autoren ebenso wie für ihre Gedanken und Werke. Auf die Topik wird zurückgegriffen, um der Bedeutungsfülle der hier betrachteten Topoi von plastic nature, innate ideas, Theodizee und moral sense in ihren Umbruchsbestimmungen zur Wende zum 18. Jahrhundert näher zu kommen. Darüber hinaus war die Topik bis um 1700 als methodisches Konzept maßgebend und erst die Reflexion dieser Methodik lässt die Argumente der zu betrachtenden Autoren verständlich werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass unsere Autoren in einer Übergangsepoche lebten und dachten, die vom Methodenwandel hin zu kausallogischen Erklärungen im Anschluss an Descartes geprägt war. So bleibt zu prüfen, inwiefern hier noch topisches Denken als solches anzutreffen ist, oder ob und in welcher Weise es von einem anderen Wissenschaftsparadigma überlagert wird. Topik ist in dieser Studie also nicht ausschließlich methodisches Konzept, sondern 3
gleichsam ein historischer Faktor, den es kritisch mit zu bedenken gilt. Damit bedarf es eines zweiten Methodenstranges, dem zugetraut wird eine historische Kontextualisierung zu leisten. Hier kommt die Konstellationsforschung ins Spiel. 1.2.1 Konstellationsforschung Mit Konstellationsforschung ist eine relativ neue Forschungsrichtung gemeint, die ihren Fokus statt auf einzelne große Denker auf das Zusammenwirken verschiedener Denker lenkt, die also mit der Analyse von Diskussionen und Gesprächslagen befasst ist. Sie ist als Methode ein von Dieter Henrich an einem paradigmatischen Anwendungsfall, dem deutschen Idealismus, schrittweise entwickeltes Verfahren. Er versucht das Moment des „Symphilosophierens“ gegenüber den großen Gestalten und Systemen stark zu machen und auf detektivische Weise die verborgenen Weichenstellungen und wechselseitigen Einflüsse zu bestimmen.6 An Henrich schließt die methodologische Aufsatzsammlung Konstellationsforschung von Martin Mulsow und Marcelo Stamm an, der sich dieser Studie verpflichtet fühlt.7 Mulsow formuliert: Eine philosophische Konstellation kann man definieren als dichten Zusammenhang wechselseitig aufeinander einwirkender Personen, Ideen, Theorien, Probleme oder Dokumente, in der Weise, dass nur die Analyse dieses Zusammenhangs, nicht aber seiner isolierten Bestandteile, ein Verstehen der philosophischen Leistung und Entwicklung der Personen, Ideen und Theorien möglich macht.8
Konstellationen sollen „von Beginn an als vielschichtige Komplexe begriffen werden, die sowohl Personen und ihre Motivationslagen als auch Ideen, Probleme und Theorien sowie deren Niederschläge in Dokumenten umfassen“.9 Deshalb kann auch keine ausschließende Orientierung an einem methodischen Paradigma wie Biographik, Ideengeschichte, Problemgeschichte oder Diskursarchäologie ausreichen, vielmehr muss eine produktive Bündelung und Verflechtung dieser Ansätze angestrebt werden. Konstellationen entstehen, wenn in einer Gruppe eine intensive Diskussionskultur besteht und so erst die Gruppe als Gruppe hervortritt. Einem solchen Phänomen liegt häufig eine Spannungslage zugrunde, beispielsweise werden lebensweltliche Probleme philosophisch durchdacht, die Infragestellung eines brüchig gewordenen Weltbildes reflektiert oder eine philosophische Herausforderung angenommen. 6
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Vgl. Dieter Henrich: Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789–1795). Stuttgart 1991, S. 45. Vgl. auch Dieter Henrich: Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus: Tübingen – Jena 1790–1794. 2 Bde. Frankfurt a.M. 2004. Vgl. Martin Mulsow, Marcelo Stamm (Hg.): Konstellationsforschung. Frankfurt a.M. 2005. Martin Mulsow: Zum Methodenprofil der Konstellationsforschung. In: Mulsow, Stamm: Konstellationsforschung, S. 74–97, hier S. 74. Mulsow: Konstellationsforschung, S. 74.
„Denn die Motivationslage in diesen Gruppen ist intrinsisch mit der persönlichen Aneignung von ungelösten Sachproblemen verbunden, deren philosophische Spannung als Antrieb wirkt“,10 so Mulsow. Bei den Cambridge Platonists wie auch ihren Rezipienten können das erstarkende Weltbeschreibungsparadigma des Mechanismus und seine gefürchtete Konsequenz des Atheismus als Antriebsfedern dieses intensiven Diskussionszusammenhangs gelten. Dabei wird die Frage nach gemeinsamen Gegnern sowie nach gemeinsamen Sprachcodes virulent. Es stellt sich außerdem die Frage, wo eine Konstellation ihre Grenzen hat. Briefliche Kontakte können es ermöglichen, dass Konstellationen über große räumliche Entfernung bestehen, jedoch spielen persönliche Beziehungen auch in dieser Form eine gewichtige Rolle. Sarah Hutton hat in ihrem Aufsatz Eine Cambridge-Konstellation? Perspektiven für eine Konstellationsforschung zu den Platonikern von Cambridge11 darauf aufmerksam gemacht, dass sich das methodologische Konzept der Konstellationsforschung dazu eignet, die Beziehungen und das Zusammenspiel von Ideen in Bezug auf die Cambridge Platonists zu analysieren. Sie hebt dabei v.a. auf den Zirkel um Anne Conway in Ragley Hall ab, dessen Protagonisten Henry More, Franz Mercurius van Helmondt, George Keith und Christian Knorr von Rosenroth waren, und beschreibt ihn als „ein[en] abgelegene[n] Außenposten des Platonismus von Cambridge […] als entscheidende Schaltstelle zwischen dem intellektuellen Leben in Europa und England, zwischen der christlichen Kabbala von Sulzbach und dem christlichen Platonismus von Cambridge“.12 Der Fokus dieser Studie liegt auf zwei Konstellationen: Zum einen bezieht sich das Forschungsinteresse auf die Cambridge Platonists selbst, zum anderen und v.a. aber auf den Kreis ihrer Rezipienten, die selbst wiederum miteinander vielfältig verflochten waren, was in der Zeit der république des lettres allerdings nicht überraschen darf. Rezeption wird also in gewissem Sinne als konstellationsbildend über Zeitgrenzen hinweg verstanden.
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Mulsow: Konstellationsforschung, S. 75. Vgl. Sarah Hutton: Eine Cambridge-Konstellation? Perspektiven für eine Konstellationsforschung zu den Platonikern von Cambridge. In: Mulsow, Stamm: Konstellationsforschung, S. 340–358. Ebd., S. 357.
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1.2.1.1 Die Cambridge-Konstellation Die Cambridge Platonists waren Universitätsgelehrte im England des 17. Jahrhunderts, die als akademische Lehrer, theologische Schriftsteller und Prediger wirkten und durch gemeinsame intellektuelle Interessen sowie persönliche Freundschaft verbunden waren. Allgemein akzeptiert ist, Benjamin Whichcote (1609–1683), Ralph Cudworth (1617–1688), Henry More (1614–1687) und John Smith (1618– 1652) zu den Cambridge Platonists zu zählen. Ihr nicht unproblematischer Bezug zu Descartes, ihre Opposition zu Hobbes und ihre grundsätzliche Offenheit gegenüber naturwissenschaftlicher Forschung kombinierten sich mit einem starken Interesse an antiken Texten in florentinischer Interpretation.13 Als gemeinsame Denkgrundlagen können außerdem die folgenden Punkte ausgemacht werden: eine Reduktion der Theologie auf die Moral, die prominente Stellung der Vernunft, gestützt durch eine platonische Interpretation des Christentums und die Verteidigung des Schöpfungsgedankens gegen naturwissenschaftliche, rein mechanistische Interpretationen durch Zugrundelegen eines physiko-theologischen Ansatzes. Trotzdem zeichnet sich jeder der vier Protagonisten durch ein starkes eigenes intellektuelles Profil aus, so dass sich bei allen Gemeinsamkeiten eine recht heterogene Gruppe von Denkern hinter dem Etikett Cambridge Platonists verbirgt. Es ist zwar unstrittig, dass noch weitere Personen wie z.B. John Worthington (1618– 1671), Nathanael Culverwel (1619–1651), Joseph Glanwill (1636–1680) und John Norris (1657–1711) zu diesem Kreis gehören, da sie aber in Bezug auf die Rezeption der Ideen der Cambridge Platonists nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben, können sie im Folgenden nur am Rande Betrachtung finden. 1.2.1.2 Die Rezipienten-Konstellation Da nicht der Anspruch erhoben werden kann, die Rezeption der Cambridge Platonists erschöpfend zu beschreiben, wird vielmehr auf die Rezeptionslinien bestimmter Topoi abgehoben. Damit richtet sich das Augenmerk auf eine kleine Gruppe von Denkern, die sich durchaus kontrovers auf die Cambridge Platonists bezogen haben und aus diesem Bezug heraus sich den Fragen und intellektuellen Herausforderungen ihrer Zeit stellten. Sie knüpften an die von den Cambridge Platonists diskutierten Probleme um die plastische Natur, die angeborenen Ideen und die Stellung der Religion an und überführten ihre Argumente in einen sich verändernden Diskussionshorizont. Pierre Bayle, Jean Le Clerc, Lady Masham, 13
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Vgl. für die zwiespätligen Reaktionen der Zeitgenossen auf diese offene Geistestätigkeit beispielsweise Simon Patrick: A Brief Account of the New Sect of Latitude-Men: Together with some Reflexions upon the New Philosophy in answer to a Letter for his Friend at Oxford. London 1669 (Mikrofilm 1977). Für das deshalb angehaftete pejorative Etiket Latitudemen vgl. John Gascoigne: Cambridge in the age of the Enlightenment. Science, religion and politics from the Restoration to the French Revolution. Cambridge 1989, S. 4f.
John Locke, Leibniz und der dritte Earl von Shaftesbury sind die Hauptakteure dieser Debatten. Auch ihr Bezug auf Descartes ist ein schwieriger, Spinoza ist anstelle Hobbes’ zum Hauptgegner in der Atheismusdebatte aufgerückt. Die Herausforderung, die die neuen Naturwissenschaften für ein theologisch geprägtes Weltbild bedeuten, stellt das Verhältnis von Welt, Mensch und Gott immer mehr in Frage. Weltrettung wird zur Aufgabe im Dienste von Menschenbild und Gottesglaube. 1.2.2 Der Begriff der Rezeption Um zu beschreiben, wie sich diese beiden Konstellationen zu einander verhalten und sich der vielgestaltige, produktive Bezug von Bayle, Le Clerc, Lady Masham, Leibniz, Shaftesbury und Mosheim auf die Cambridge Platonists fassen lässt, bedarf es einiger Überlegungen zum Begriff der Rezeption. Rezeption ist eine Transformationskategorie. Es geht nicht nur um die Integration fremder Denkfiguren in andere Diskussionszusammenhänge, sondern darüber hinaus um ihre aktive Aneignung, Umwandlung, Interpretation, um ein Weiterdenken oder Sich-Abstoßen. Rezeption heißt somit nicht notwendig Zustimmung. Rezeption ist produktive Auseinandersetzung. Mit der Bestimmung des Unterschieds von Rezeption und Wirkung kommt man der Perspektive und der Bestimmung der Protagonisten dieser Dissertation ein ganzes Stück näher. An Hans Robert Jauß anknüpfend ist der Begriff „Wirkungsgeschichte“ ein in sich missverständlicher. Er erweckt nämlich den Anschein, als ob die Wirkung eines Kunstwerkes monologisch sei, also von ihm allein ausgelöst, beabsichtigt und getragen wäre. Die Wirkungsgeschichtsschreibung schicke sich an, Einflüsse zu beschreiben, der Schein einer selbstständigen Tradition bleibe somit undurchschaubar, argumentiert Jauß.14 Er schreibt: „Im Dreieck von Autor, Werk und Publikum ist das letztere nicht nur der passive Teil, keine Kette bloßer Reaktionen, sondern selbst wieder eine geschichtsbildende Energie.“15 Auf diesen „realen Leser“ konzentriert sich die von Jauß initiierte Rezeptionsgeschichte, er unternimmt somit den Versuch einer Literaturgeschichte des Lesers.16 Auch Perspektive und Ausrichtung von Rezeption ist somit beschrieben: „Die Fragerichtung der aneignenden Rezeption verläuft vom Leser zum Text“,17 wohingegen Wirkung das vom Text bedingte Element zu beschreiben sucht. Im Zusammentref-
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Vgl. Hans Robert Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt a.M. 1984, S. 738. Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt a.M. 1970, S. 169. Vgl. Hannelore Link: Rezeptionsforschung. Eine Einführung in Methoden und Probleme. Stuttgart 1980, S. 45. Ebd., S. 740.
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fen von Text und geneigtem Leser zeige sich der „dialogisch-intersubjektive Charakter“, der jede Rezeption auszeichnet.18 In unserem Kontext ist es v.a. die Doppelrolle von Leser und Autor, die den Begriff der Rezeption in Hinblick auf die Debatten um die plastic nature in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts sinnvoll erscheinen lässt: Denn erst durch seine Vermittlung tritt das Werk in den sich wandelnden Erfahrungshorizont einer Kontinuität, in der sich die ständige Umsetzung von einfacher Aufnahme in kritisches Verstehen, von passiver in aktive Rezeption, von anerkannten ästhetischen Normen in neue, sie übersteigende Produktion vollzieht.19
Weder Bayle noch Le Clerc übernehmen lediglich die Ideen der Cambridge Platonists, wie schon diese denken sie spannungsvolle Topoi neu, geben ihnen so eigene Gestalt. An diesem Umgestaltungsprozess sind Shaftesbury und Leibniz nicht weniger beteiligt. So ist es unter anderem der Blick in die Vergangenheit, der erst Zukunft zu generieren vermag. In diesem Sinne ist zu zeigen, wie die Auseinandersetzung mit den Werken der Cambridge Platonists sich für die hier behandelten Autoren der Frühaufklärung als äußerst fruchtbar erwiesen hat. Um diesen gedanklichen Umgestaltungsprozess inhaltlich zu konkretisieren, wird die Topik als hermeneutisches Paradigma herangezogen. 1.2.3 Topik „Rezeption“ wird in einer relativ materialistischen, handfesten Lesart verstanden, das soll heißen: Vage Einflüsse und Parallelen sind nicht das, was unter Rezeption gefasst werden soll. In Detektivarbeit sind Spuren zu sichern; es soll herausgearbeitet werden, wo sich entweder positiv auf die Cambridge Platonists bezogen wird oder sich aber negativ von ihnen abgegrenzt wurde. Die topische Erschließung von Denkfiguren ist eine Möglichkeit ein rezeptives Aneignungsverhältnis zu bestimmen und zu beschreiben, das sich in Form von kritischer Debatte, produktiver Auseinandersetzung, Abgrenzung und Übersetzung zeigt. Es sind die Figuren der plastic nature, der innate ideas und der Theodizee, denen hier das Interesse gilt und die im Folgenden in ihrer topischen Argumentationsfülle und damit in ihrer Transformation und Konstanz durch ihre Rezeption in der Frühaufklärung zu verfolgen sind. Dabei ist zu bedenken, dass die Problemkomplexe, die sich aus der Verhältnisbestimmung von Welt, Mensch und Gott ergeben, älter sind als ihre Bearbeitung durch die Cambridge Platonists und die Tiefendimension dieser Denkkonzepte erst zutage treten kann, wenn ihre Aneignung und ihre Bedeutungsverschiebung zur Zeit der Cambridge Platonists ausgelotet ist.
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Vgl. Jauß: Ästhetische Erfahrung, S. 738. Jauß: Literaturgeschichte, S. 169.
So wird, um auch auf inhaltlicher Ebene Rezeptionszusammenhänge beschreiben zu können, auf das Konzept der Topik zurückgegriffen. Hiermit ist die antike Methodik der Fragestellungen und Perspektivenvielfalt gemeint, welche versucht, Denkfiguren in ihrer Bedeutungsfülle zu erschließen: Anstatt der Definition einer Sache, wird die vollständige Prädikation eines Begriffs angestrebt. Die Topik erlebte einen ihrer Höhepunkte in der Frühen Neuzeit, wurde aber durch Descartes’ klare Distinktionen krisengeschüttelt und erlebte nach 1700 einen Rückzug in den Untergrund. Bei der Betrachtung der Debatten, in welche die hier genannten Protagonisten involviert waren, muss also von einem gebrochenen oder zumindest von einem nicht mehr unproblematischen Topikverständnis und methodischen Herangehen ausgegangen werden. Gleichzeitig darf begründet vermutet werden, dass das alte Methodenverständnis noch Tragkraft besessen hat. Ein Topos kann mehrerlei sein, ein Klischee, eine Sehgewohnheit, ein Bild- oder ein Handlungsmotiv, ein intellektueller Habitus, ein Leitbegriff, ein Klassifikationsvorschlag, ein Sprichwort, ein Zitat, eine Illusion, eine Geschichte, kurz das, was sozusagen zum gebildeten Fundus gehört,20
schreibt Wilhelm Schmidt-Biggemann mit Recht weitreichend unbestimmt. Warum im Grunde genommen alles zum Topos werden kann, deutet der Definitionsvorschlag von Lothar Bornscheuer an: „Ein Topos ist ein inhaltlicher oder formaler Gesichtspunkt, der in vielen konkreten Problemerörterungen verwendbar ist und der die verschiedenartigsten Argumentationen bzw. amplifikatorischen Explikationen ermöglicht.“21 In der Antike war die Topik eine Verfahrenslehre, die um systematische Zusammenschau aller Perspektiven und Gesichtspunkte eines Arguments bemüht ist, um einen Sachverhalt angemessen beurteilen und darstellen zu können. Aristoteles sieht die Topik der Rhetorik und der Dialektik vorgelagert. Sie ist ansässig im Bereich des Meinens. Ihr Auswahl- und Katalogverfahren geht vom jeweiligen Diskussionssujet aus. Topoi sind in diesem Zusammenhang das, worauf in einem bestimmten Kontext argumentierend zurückgegriffen werden kann.22 Cicero spricht von loci communes, von Gemeinplätzen. Loci communes sind auf verschiedene Fälle anwendbare Gesichtspunkte und dienen der Amplifikation. Sie sind keine formalen, sondern thematische, bedeutungsreiche Aspekte. Den Topoi ist ein bestimmter Ort, eine bestimmte Stelle im System zu eigen, was ihre Charakterisie-
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Wilhelm Schmidt-Biggemann: Apokalypse und Philologie. Berlin 2007, S. 230. Lothar Bornscheuer: Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft. Frankfurt a.M. 1976, S. 99. Vgl. Aristoteles: Organon Bd. 1. Topik. Topik, neuntes Buch oder Über die sophistischen Widerlegungsschlüsse. Hg., übers., mit Einl. u. Anmerkungen versehen v. Hans Günter Zekl. Griechisch – Deutsch. Hamburg 1997.
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rung ermöglicht, aber auch Beweglichkeit, Ortswechsel denkbar werden lässt. Rezeption ist in diesem Sinn ein Ortswechsel.23 In der Topik spielen die gelehrten Verfahren humanistischer und barocker Wissenschaft eine entscheidende Rolle: Inventio und Judicium, Sammlung bzw. Erfindung und Ordnung bzw. später dann: Kritik.24 Ordnung bedeutet das Erkennen des Gesamtzusammenhangs: „Die methodische Konstruktion von Argumenten war zugleich die Konstruktion der Universalharmonie auf einer anderen Ebene“.25 Die Möglichkeit des Erkennens eines solch universalen Zusammenhangs ist an den neuplatonischen Teilhabegedanken geknüpft: „Mit der platonisierenden theologischen Parallelsetzung von Erkenntnisordnung und Sachordnung durch die Identität des Schöpfungssinns konnte der artistische Begriff von Systema auch auf die Ordnung der Welt übertragen werden.“26 Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch der Titel von Cudworth’ Monumentalwerk: The true intellectual System of the Universe. Es schickt sich, vielmehr von Toposkatalogen zu sprechen anstatt nur von einem Toposkatalog, gibt es doch mehr als nur den juristischen bei Cicero und Quintillian. Das Mittelalter prägte die Suchörter (a persona, a re, a loco, a circumstantiis, a causa, a modo, a tempore) für den Schulgebrauch in handlicher Hexameterformel, die eine weite Verbreitung sicherte: quis, quid, ubi, quibus auxiliis, cur, quomodo, quando. Als Schöpfer dieser Formel gilt Matthieu de Vendome. Jeder Topos, also jeder Suchort, jede Fragehinsicht kann wiederum eine eigene Reihe von Unterkategorien ausbilden, die in veränderter Kommunikationssituation zur Primärtopik werden kann. So ist die Topik a persona mit ihren Kategorien genus, natio, sexus, aetas, educatio, habitus corporis, natura animi, nomen für die auf den Kriminalfall bezogene juridische Rhetorik eine sekundäre Reihe, für die auf das Personallob festgelegte panegyrische Rhetorik eine Primär-Reihe.27 Welt, Mensch und Gott sind die elementarsten Topoi, die ausladensten Gemeinplätze, hinter die nicht mehr zurückgegangen werden kann. Um sie und ihre Verhältnisbestimmung zueinander kreisen die Debatten einer Zeit, in der Weltbilder durch die Naturwissenschaften und ihre neuen methodischen Ansprüche fundamental erschüttert wurden und deshalb das spannungsvolle Zusammenspiel von Schöpfungstheologie, Neuplatonismus, Hermetismus, philosophia perennis und Naturwissenschaft als denkgeschichtlich prägende Kräfte der Zeit neu bestimmt werden mussten. Damit nicht bei diesen Klischees stehen geblieben wird, stützen 23 24 25 26 27
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Vgl. Marcus Tullius Cicero: Topik. Übers. u. mit einer Einl. hg. v. Hans Günter Zekl. Lateinisch – Deutsch. Hamburg 1983. Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Topica Universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft. Hamburg 1983, S. XV. Ebd., S. 146. Ebd. Vgl. Conrad Wiedemann: Topik als Vorschule der Interpretation. Überlegungen zur Funktion von Topos-Katalogen. In: Dieter Breuer, Helmut Schanze (Hg.): Topik. Beiträge zur interdisziplinären Diskussion. München 1981, S. 233–255, hier S. 239–240.
sich die folgenden Analysen auf bestimmte Denkfiguren, die zu den bestimmenden Topoi dieser Debatten wurden und selbst wiederum topisch begründet worden sind. Der Fokus liegt in Bezug auf die Welt auf dem Konzept der plastischen Natur, weitere wichtige Denkfiguren sind Monade, Atom und Organismus. In Bezug auf den Menschen stehen die angeborenen Ideen und die Vernunft im Zentrum, hinsichtlich Gottes liegt der Schwerpunkt auf der Theodizee und dem Moralbegriff.
1.3 Forschungsstand und Gliederung der Dissertation Bezüglich der Rezeption der Cambridge Platonists ist bislang kaum Forschung geleistet worden. Arbeiten, die sich explizit dieses Themas annehmen, sind schwer zu finden. Bezüge auf die Rezeption der Cambridge Platonists finden sich fast ausschließlich verstreut in Anmerkungen. Andererseits ist eine Fülle von Sekundärliteratur zu Locke, Leibniz und Shaftesbury vorhanden, die die hier behandelten Fragestellungen oftmals berührt. Außerordentlich hilfreich war außerdem, dass der benötigte Quellenkorpus meist in modernen Editionen erschlossen ist. Im Folgenden soll jene Literatur, der eine besondere Bedeutung für diese Studie zukommt, gewürdigt werden. Für die Cambridge Platonists selbst ist Tullochs Rational Theology and Christian Philosophy in England in the 17th Century immer noch das Standardwerk und auch Cassirers Studie gibt noch heute Denkanregungen.28 Forschung neueren Datums ist v.a. von Sarah Hutton geleistet worden.29 In Bezug auf Leclerc und Bayle schuldet diese Studie besonders den Untersuchungen von Colie und Simonutti Dank.30 Hutton und Widmaier verfassten zu Lady Masham je einen interessanten Artikel.31 Die Arbeit Schmidt-Biggemanns zum Theodizeeproblem ist hinsichtlich des Leibniz-Kapitels hervorzuheben.32 In Bezug auf Shaftesbury ist die Arbeit von Grossklaus zu nennen.33 Für den Gesamtzusammenhang von Ethik im 17. und 18. 28
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Vgl. John Tulloch: Rational Theology and Christian Philosophy in England in the 17th Century. 2 Bde. Bd. II: The Cambridge Platonists. Hildesheim 1966 und Ernst Cassirer: Die Platonische Renaissance und die Schule von Cambridge. Leipzig, Berlin 1932. Vgl. Sarah Hutton (Hg.): Henry More (1614–1687). Tercentary Studies. Dordrecht 1990. Vgl. Rosalie L. Colie: Light and Enlightenment. A study of the Cambridge Platonists and the Dutch Arminians. Cambridge 1957 und Louisa Simonutti: Bayle and Leclerc as Readers of Cudworth. Elements of the Debatte on Plastic Natur in the Dutch learned Journals. In: Geschiedenis van de Wijsbegierte in Nederland 4/2 (1993), S. 147–165. Vgl. Sarah Hutton: Damaris Cudworth, Lady Masham: between Platonism and Enlightenment. In: The British Journal for the History of Philosophy 1/1 (1993), S. 29–54 und Rita Widmaier: Korrespondenten von G.W. Leibniz, 8. Damaris Masham, geb. Cudworth. In: Studia Leibnitiana 18 (1986), S. 211–227. Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Theodizee und Tatsachen. Das philosophische Profil der Aufklärung. Frankfurt a.M. 1988. Vgl. Dirk Grossklaus: Natürliche Religion und aufgeklärte Gesellschaft. Shaftesburys Verhältnis zu den Cambridge Platonists. Heidelberg 2000.
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Jahrhundert ist Isabel Rivers zweibändige Studie Reason, Grace, and Sentiment unentbehrlich geworden.34 Diese Studie gliedert sich v.a. durch die Entfaltung verschiedener Aspekte des Topos’ der plastischen Natur. Das erste Kapitel zeichnet den Weltbegriff von More und Cudworth nach, wie er sich im Zusammenspiel der Topoi von Atomismus und plastischer Natur zeigt. Das zweite Kapitel behandelt dann die Veränderungen, die das Weltverständnis zu Beginn des 18. Jahrhunderts erfährt, anhand der Übersetzungen des True Intellectual Systems und der Debatte um die plastische Natur zwischen Bayle und Leclerc. Vom dritten bis zum fünften Kapitel werden die Verästelungen der Debatte um die plastische Natur ausgeführt und gezeigt, welchen Einfluss die Rezeption der Cambridge Platonists in anderen philosophischen Diskussionen der Zeit zeigte. So wird im dritten Kapitel beleuchtet, wie Lady Masham, die Tochter Cudworths, auf die plastic-nature-Debatte reagierte, wovon ausgehend die Rezeption der innate ideas und ihrer zugrunde liegenden Vernunftkonzeption unter besonderer Berücksichtigung der Kritik Lockes dargestellt wird. Das vierte Kapitel widmet sich Leibnizens Auseinandersetzung mit dem Theorem der plastischen Natur und gelangt von hier aus zur Behandlung des Theodizeeproblems bei Leibniz, King und Shaftesbury in Bezug auf den Theodizeeversuch Cudworths. Abschließend wird im fünften Kapitel mit Bezug auf Shaftesburys Naturbegriff, der starke Parallelen mit der plastischen Natur des Cambridger Platonismus aufweist, die Frage der Ethik behandelt.
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Vgl. Isabel Rivers: Reason, Grace, and Sentiment. A Study of the Language of Religion and Ethics in England (1660–1780). 2 Bde. Bd. I: Whichcote to Wesley. Cambridge 1991. Bd. II: Shaftesbury to Hume. Cambridge 2000.
2 Welt und Geist bei den Platonikern von Cambridge
Es wird damit begonnen, Begriff, Position und Ursprung der Welt als Schlüsseltopoi dieser Arbeit zu erschließen, um dann beschreiben zu können, wie sich Cudworth und More die Welt vorstellten. Hierbei zeigt sich, dass der Fokus ihres Denkens bei aller Aufgeschlossenheit gegenüber naturwissenschaftlichen Forschungsansätzen auf der geistigen Dimension des Weltlichen lag.
2.1 Der Begriff der Welt „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“1 – In Anlehnung an Wittgenstein ist mit Welt all das gemeint, was natürlicherweise um uns herum ist und als Äußeres unser Leben bestimmt. Die Natur, den Kosmos, das Universum und die Schöpfung schließt der Begriff Welt genauso mit ein wie die ihr zugrunde liegenden Strukturen, Gesetzmäßigkeit und Muster sowie auch das, was uns fehlerhaft und dunkel erscheinen mag. Mit Cudworth kann man formulieren, die Welt ist das True Intellectual System of the Universe. Wittgenstein unterscheidet zwischen Tatsachen, deren Gesamtheit die Welt ausmacht, und den Dingen. Tatsachen befinden sich in einem logischen Raum.2 Logisch meint in unserem Zusammenhang einen mit der Vernunft zu erfassenden Sachverhalt. Wie im Folgenden noch gezeigt wird ist, ist der Vernunftbegriff der Cambridge Platonists nicht auf rationales, logisches Erkennen beschränkt, sondern transzendiert dieses. Deshalb ergibt sich auch für das Prädikat „logisch“ eine umfassendere Bedeutung: Schon ein sinnstiftendes, sinnbehaftetes Verhältnis kann gemeint sein. Die Tatsachen, die die Welt ausmachen, sind also nicht nur das physikalisch-mechanische Gerippe der Welt, sondern die verschiedensten Sichtweisen, Interpretationen und Ausdeutungen der Welt, die ernst nehmen, dass die Gesamtheit der Tatsachen mehr ist als die Summe aller Dinge. Mit Welt ist eine lebendige
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Ludwig Wittgenstein: Logisch-philosophische Abhandlung. Tractatus logico-philosophicus. Kritische Edition. Hg. v. Brian McGuinness u. Joachim Schulte. Frankfurt a.M. 1989, S. 4. Trotz des so berühmten Anfangs ist der Begriff der Welt nicht ins Wittgenstein-Lexikon aufgenommen worden. Vgl. Hans-Johann Glock: Wittgenstein-Lexikon. Aus dem Engl. übers. v. Ernst Michael Lange. Darmstadt 2000. Vgl. Wittgenstein: Tractatus, S. 4. Vgl. auch Gottfried Wilhelm Leibniz: Die Theodizee. Übers. v. Arthur Buchenau. Einführender Essay von Morris Stockhammer. Hamburg 1968, S. 101, wo sich eine andere Besetzung von Begriffen findet: „‚Welt‘ nenne ich hier die ganze Folge und das ganze Beieinander aller bestehenden Dinge“.
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Welt gemeint, keine Welt, die die Physik als „die gesamte Wissenschaft der leblosen Natur“3 beschreiben könnte. 2.1.1 Die Stellung der Welt Die Welt steht in einem notwendigen aber auch schwierigen Verhältnis zum Menschen und zu Gott. Die Beziehungen dieser Daseinspole, die gleichzeitig als die grundlegenden Topoi des Denkens angesehen werden, sind harmonisch und spannungsgeladen.4 Wie das Weltbild das Menschen- und Gottesbild mitbestimmt, so haben auch die Vorstellungen von Gott und Mensch Einfluss auf das Verständnis von Welt.5 An der Wende zum 18. Jahrhundert ereignete sich nun eine fundamentale Neubestimmung dessen, was unter dem Begriff der Welt zu verstehen ist. Horizonte wurden weiter, das Weltall unendlich, die Struktur der Pflanzen und Tiere unvorstellbar komplex, und Mathematik wie Astronomie erweckten den Anschein eines harmonischen, berechenbaren Zusammenspiels der himmlischen Körper. Ausgehend vom Denken der Cambridge Platonists soll in diesem Kapitel die philosophische Deutung und Aufarbeitung dieses die Welt betreffenden Gedankenumsturzes, exemplarisch am Leitfaden der Debatte um die plastische Natur nachvollzogen werden. Absichtlich sind die Protagonisten dieses Kapitels wie auch der folgenden keine Naturwissenschaftler bzw. empirisch forschende Naturphilosophen, sondern Denker, die den neuen Methoden und Denkansätzen zwar aufgeschlossen gegenüberstanden, gleichzeitig aber sich einer alten Weisheit verpflichtet fühlten und deshalb zu einem spannungsvollen Spagat im Denken gezwungen waren. In diesem Sinne wird mit Burtt angenommen: „The world-view of any age can be discovered in various ways, but one of the best is to note the recurrent problems of its philosophers“.6
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Eduard Jan Dijksterhuis: Die Mechanisierung des Weltbildes. Berlin, Heidelberg u. New York 1983 (ND der dt. Erstausg., Göttingen 1956), S. 1. Maria Magdalena Miller weist im Vorwort ihrer Übers. des Corpus Hermeticum auf die triadische Formel Gott – Welt – Mensch hin, „die wie ein Grundthema in mancherlei Abhandlung durch die hermetischen Schriften durchgeht“. Vgl. Maria Magdalena Miller (Hg.): Die Traktate des Corpus Hermeticum. Owingen 2004, S. 49. Für das Auftreten dieser Trias vgl. beispielsweise Asclepius 10. Der Textabschnitt ist mit der Überschrift „Die Abfolge: Gott – Kosmos – Mensch“ versehen, vgl. Carsten Colpe, Jens Holzhausen: Das Corpus Hermeticum Deutsch. Übers., Darst. u. Komm. in drei Teilen. Teil 1: Die griechischen Traktate und der lateinische Asclepius. Stuttgart – Bad Cannstatt 1997, S. 265– 267. Diese Zusammenhänge gilt es bes. in Kap. drei bis fünf zu beschreiben. Vgl. Edwin Arthur Burtt: The Metaphysical Foundation of Modern Physical Science. A Historical and critical Essay. London 1959, S. 1.
2.1.2 Der Ursprung der Welt Wie ist die Welt entstanden? Das Alte Testament erzählt, wie Gott am Anfang Himmel und Erde schuf, die Erde zuerst wüst und leer war, Gottes Geist über dem Wasser schwebte und Gott sprach: Es werde Licht!7 Das Neue Testament interpretiert mit Johannes, dass am Anfang das Wort war und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort. „Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist.“8 Zwischen Altem und Neuem Testament liegt die Rezeption der griechischen Philosophie, insbesondere des Platonismus. Johannes hat in diesem Horizont geschrieben und gedacht. In Platons Timaios ist die Welt analog zur biblischen Schöpfungsgeschichte eine von Gott geschaffene. Ihr Werden ist durch und durch vom Logos bestimmt.9 Auch der Neuplatonismus kennt die Einheit als geistigen Ursprung der Welt. Plotin beschreibt den Ursprung des Lebens, den Ursprung des Geistes und den Ursprung von allem als etwas, das sogar über dem Leben steht. Eine Einheit, die noch vor der Vielheit ist. „Der Ursprung ist nämlich nicht alles, sondern es kommt zwar alles aus dem Ursprung, er selbst darf aber nicht mehr alles sein und auch nicht etwas Bestimmtes von allem, damit wirklich alles von ihm erzeugt ist und damit er nicht Vielheit, sondern Ursprung der Vielheit ist.“10 Das Corpus Hermeticum erzählt ganz ähnliche Ursprungsgeschichten, wie sie auch die Bibel berichtet, wählt ähnliche Motive und eine ähnliche Sprache. In der Heiligen Rede des Dreimal-Großen Hermes heißt es: „Denn einst war grenzenlose Finsternis im Abgrund, durch göttliche Macht aber war Wasser und ein zarter Windhauch des Geistes im Chaos. Da sprang ein heiliges Licht empor, und unter dem Sande verdichteten sich aus der wässrigen Substanz die Elemente und alle Götter verteilten die Samenkraft der Natur“.11 Analog zum Johannesevangelium heißt es in Der Mischkrug oder die Eins: „Die ganze Welt schuf der Schöpfergott, nicht mit den Händen, sondern durch das Wort“.12 7 8 9 10 11
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Vgl. Genesis 1,1, zit. nach: Die Bibel. Nach der Übers. Martin Luthers. Bibeltext in der revidierten Fassung v. 1984. Stuttgart 1985, S. 3. Johannes 1, 3. Vgl. Platon: Timaios. Hg., übers. u. mit einer Einl. u. mit Anmerkungen versehen v. Hans Günter Zekl. Hamburg 1992, bes. S. 31–35. Plotin: Über die Natur, die Schau und das Eine. In: Ders.: Ausgewählte Schriften. Hg., übers. u. komm. v. Christian Tornau. Stuttgart 2001, S. 144–163, hier S. 159. Miller: Die Traktate (wie Anm. 4), S. 112. Colpe (wie Anm. 4, S. 39) übers. die Heilige Rede des Hermes: „Denn unendliche Finsternis war in der Tiefe und Wasser und feinstes geistiges Pneuma; all das gab es durch göttliche Kraft im unendlichen Raum. Ein heiliges Licht wurde entsandt, und die Elemente wurden fest auf dem Sand aus der feuchten Natur, und alle Götter belebten die samenträchtige Natur“. Miller: Die Traktate (wie Anm. 4), S. 114. In Colpes Übersetzung heißt es (ebd. S. 47) unter der Überschrift Gespräch des Hermes mit Tat: Der Mischkrug oder die Monade: „Weil der Demiurg den gesamten Kosmos erschaffen hat, nicht mit den Händen, sondern durch das Wort, so nimm also an, dass er gegenwärtig ist, immer existiert, alles erschaffen hat und nur ein einziger ist und durch seinen Willen das Seiende hervorgebracht hat“.
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All diese Spekulationen über den Ursprung der Welt haben miteinander gemein, dass sie das Eine, das Geistige als den Urgrund der Welt begreifen. Dieses chronologische Zuerst meint gleichzeitig einen Vorsprung an Bedeutung, Sinn und Wichtigkeit. Was alt ist, hat mehr Gewicht. Von diesem Primat des Geistes her haben die Cambridge Platonists die Welt betrachtet, beurteilt und bewundert. Dies ist die unverrückbare Perspektive ihres Denkens, ihres Glaubens und ihres Lebens. Henry More erzählt in der Conjektura Cabbalistica von der Schöpfung der Welt in einer Art und Weise, die mit der Interpretation der mosaischen Schöpfungsgeschichte durch Philo von Alexandrien viele Parallelen aufweist.13 Der erste Schöpfungstag wird mit dem pythagoreischen Begriff der Eins, der Monade analogisiert. Am ersten Tag erfolgt die spirituelle Schöpfung der Seminalgründe, die Möglichkeiten der materiellen Welt werden damit geschaffen. More schreibt: And the Earth was nothing but Solitude and Emptiness, and it was a deep bottomless Capacity of being whatever God thought good to make out of it, that implied no contradiction to be made. And there being a possibility of creating things after sundry and manifold manners, nothing was yet determined, but this vast Capability of things was unsettled, fluid and of it self undeterminable as Water.14
Diese fließende vormaterialisierte, vielleicht geistige Gesamtkonzeption, in der Gegensätze zwar schon angelegt, aber noch harmonisch und ununterschieden vereint sind, geht der materiellen Welt als ihr Grund voraus und wird von More als Monade, als Einheit bezeichnet: „A Monad or Unit being so fit a Symbole of the Immaterial nature“.15 Auch Cudworth kennt den geistigen Anfang in der Eins im Sinne der pythagoreischen Philosophie, die die Monade zum ersten Prinzip erklärt. Er legt den Grund der Welt in „God and Good, which is the Nature of Unity, and a prefect Mind“.16 Als Grund für das chronologische Zuerst des Geistes nennt Cudworth den 13
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Vgl. Philo von Alexandrien: Über die Weltschöpfung. In: Ders.: Werke in deutscher Sprache. Hg. v. Leopold Cohn. 7 Bde. Breslau 1909–1938, hier Bd. 1. Zu Philos Verwendung der pythagoreischen Zahlenmystik vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankfurt a.M. 1998, S. 330–344. Henry More: Conjectura Cabbalistica. Or a conjectural Essay of Interpreting the mind of Moses, in the Three first Chapters of Genesis, according to a Threefold Cabbala. In: Ders.: A Collection of Several Philosophical Writings (London 1662). 2 Bde. Bd. I, neu hg. v. Rene Wellek. ND New York, London 1978, S. 16f. Ebd., S. 17. Vgl. zu Henry Mores vielschichtigem Monadenbegriff in ders.: Conjectura außerdem Insa Kringler: Henry Mores Monadenbegriff in der Conjectura Cabbalistica. In: HannsPeter Neumann (Hg.): Der Monadenbegriff zwischen Spätrenaissance und Aufklärung. Berlin 2009. Zum Zusammenhang des Moreschen Monadenbegriffs mit dem Anne Conways vgl. Anne Conway: The Principles of the most Ancient and Modern Philosophy, edited ad with an Introduction by Peter Loptson. The Hague, Bosten, London 1982 und Marjorie Hope Nicolson (Hg.): The Conway Letters. The Correspondence of Anne, Viscountess Conway, Henry More, and their Friends 1642–1684, überarb. Ed. v. Sarah Hutton. Oxford 1992. Ralph Cudworth: The True Intellectual System of Universe (1678). In: Bernhard Fabian (Hg.): Collected Works of Ralph Cudworth. Faks. Edition. Hildesheim, New York 1977, S. 371.
höheren Grad an Perfektion gegenüber dem Körper. Ihm zufolge kann etwas von größerer Perfektion nicht aus einer weniger vollkommenen Substanz hervorgehen: „The First Mind being That of a Perfect Being, comprehending it self, and the Extend of its own Omnipotence, or the Possibilities of all things. So that Knowledg is Older than all Sensible things; Mind Senior to the World, and the Architect thereof“.17
2.2 Die Möglichkeit der Erkenntnis der Welt – Eine Verschiebung von Deutungshoheit Und da Gott gut, allmächtig und gerecht ist, war die Welt schön, gut, wahr und die Erkenntnis des Menschen von Welt und Gott vollkommen. Wäre nicht der Sündenfall gewesen. Hätte Schuld nicht die Welt verdunkelt und wären die Dinge, Tiere, Pflanzen und Steine nicht sprachlos geworden und wäre so nicht die adamitische Sprache, die mächtige Sprache des Erkennens verloren gegangen.18 Walter Benjamin fasst diesen Zusammenhang in poetische Sprache: „Nach dem Sündenfall aber ändert sich mit Gottes Wort, das den Acker verflucht, das Ansehen der Natur im tiefsten. Nun beginnt ihre andere Stummheit, die wir mit der tiefen Traurigkeit der Natur meinen“.19 Die Welt ist nun ein Jammertal. Was jetzt? Ist der Mensch um seine Ebenbildlichkeit gebracht? Im 17. Jahrhundert beherrschte vielmals der Calvinismus mit einem düsteren Bild von der Gnadenbedürftigkeit des Menschen und von der Gnadenlosigkeit Gottes die Gemüter: die Meisten verdammt. Eine vorherbestimmte Verdammnis, der durch nichts zu entgehen ist; kein gutes Werk zählt, gehört man nicht zu den wenigen und unbekannten Auserwählten, denen trotz der Erbsünde Gnade widerfahren ist. Auf die Fragen nach dem Vermögen der menschlichen Erkenntnis, der Stellung des Menschen in der Welt und seiner Beziehung zu Gott wird erst im dritten Kapitel eine Antwort versucht. Nichtsdestotrotz schwingt natürlich die Frage nach dem Blickwinkel auf die Welt auch in diesem Kapitel immer mit. Warum steht der Mensch dann nicht an erster Stelle? Warum werden nicht zuerst, wie in kantischer Manier, die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis der Welt ausbuchstabiert? Weil die Bestimmung der Rangfolge von Mensch und Welt der Frage 17 18
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Ebd., S. 848. Vgl. Walter Benjamin: Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen. In: Ders.: Gesammelte Schriften II.i. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1977, S. 140–157, hier S. 140 u. S. 144. Sprache wird mit Walter Benjamin als „das auf Mitteilung geistiger Inhalte gerichtete Prinzip“ verstanden, wobei sprachliches und geistiges Wesen in einer einseitigen Identitätsbeziehung zu einander stehen. Das geistige Wesen stimmt insofern mit dem sprachlichen überein, als dass es mitteilbar ist. Ebd., S. 155.
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gleicht, ob zuerst das Huhn oder zuerst das Ei da war. Weil man materialistisch auch argumentieren könnte, dass die Welt den Menschen bestimmt. In einem neuplatonisch-christlichen Kontext, der sich bemüht, den Zusammenhang zwischen Welt und Mensch und auch Gott zu wahren, traue ich mich, mit der Welt zu beginnen. Außerdem ließe sich mit der biblischen Schöpfungsgeschichte und auch mit allen anderen alten Ursprungsmythen argumentieren, dass die Welt vor dem Menschen da war. Für den zu untersuchenden Kontext ist allerdings entscheidend, dass es das Bild der Welt war, das ab der Mitte des 17. Jahrhunderts neu befragt wurde, dem neue Perspektiven, Methoden und Forschungshypothesen zugemutet wurden. Descartes, Bacon und Galilei haben das Denken über die Welt in einer Weise verändert, hinter die nicht mehr zurückgegangen werden konnte. Diese Veränderungen im Weltbild blieben nicht ohne Folgen für das Menschenbild. Und letztlich hat sich auch Gott verändert. Das Gottesbild meine ich. So lässt sich vor dem alten Hintergrund der Ursprungsgeschichten und dem neuen Hintergrund der aufkommenden Naturwissenschaften fragen, wie das calvinistische Schreckensszenario von der Erbsünde zu den hellen, geistdurchdrungenen Geschichten vom Ursprung der Welt und zu den empirischen Erkenntnissen über die Schönheit und Harmonie der Natur passt. Und was bedeutet Erlösung? Hat Jesus nur den Menschen erlöst oder auch die Welt? Was kann die Welt (noch) über ihren Schöpfer aussagen? Wie sprachlos sind die Dinge geworden, kann man sie wieder zum Sprechen bringen, ihre Sprache lernen? Um mit Walter Benjamin im Sinne der Cambridge Platonists einen optimistischeren Ausblick auf die Erkenntnismöglichkeiten des Menschen zu gewähren, beenden wir diese erste Reflexion zum Zusammenspiel von Welt und Mensch mit dem folgenden Zitat: Es gibt bei den Chassidim einen Spruch von der kommenden Welt, der besagt: es wird dort alles eingerichtet sein wie bei uns. […] Alles wird sein wie hier – nur ein klein wenig anders. So hält es die Phantasie. Es ist nur ein Schleier, den sie über die Ferne zieht. Alles mag da stehen wie es stand, aber der Schleier wallt, und unmerklich verschiebt sich’s darunter. Es ist ein Wechseln und Vertauschen; nichts bleibt und nichts verschwindet. Aus diesem Weben aber lösen mit einmal sich Namen, wortlos treten sie in den Schreitenden ein, und während seine Lippen sie formen, erkennt er sie.20
2.2.1 Die ewige Philosophie Die Renaissance hat die lichteren Texte der Antike wiederentdeckt. Sie erlaubten ein optimistischeres Bild von der Verfasstheit des Menschen und der Welt, als es der Calvinismus in der Frühen Neuzeit zeichnete. Ficino, Pico und Steuco sind die Gründungsväter der philosophia perennis, der prisca theologia. Sie kennen mehr als nur eine Tradierungslinie der göttlichen Offenbarung, sie lehren die Größe des 20
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Vgl. Walter Benjamin: In der Sonne. In: Ders.: Gesammelte Schriften IV.i. Hg. v. Tillman Rexroth. Frankfurt a.M. 1972, S. 417–420, hier S. 419f.
menschlichen Geistes und die Schönheit der Natur. Sie geben den heidnischen Heiligen eine Stimme und hören ihnen zu.21 „Mir ist immer der Satz in der Philosophie wahr erschienen, dass die Weisheit und die Frömmigkeit aus denselben Quellen stammen, nach demselben Ziel streben und, bei allem Unterschied, doch gleichförmige Argumente haben“,22 schreibt Augustino Steucho in der Widmung an Papst Paul III, zu De perenni philosophia von 1540, das, wie der Titel angibt, die ewige Philosophie und deshalb einzige Wahrheit zu beschreiben suchte und sich besonders im 17. Jahrhundert größter Popularität erfreute. Das Konzept der philosophia perennis meint, dass es parallel zur Wahrheit der biblischen Offenbarungstheologie eine ebenso göttlich inspirierte philosophische Traditionslinie gegeben habe. Mosaische Schöpfungstheologie und hermetische Weisheit sind demnach zwei Ausdrucksweisen der einen göttlichen Wahrheit, wobei Steuco in diesem Zusammenhang natürlich von der Anciennität des Corpus Hermeticum überzeugt ist. Marsilio Ficino und Pico haben mit theologia prisca eine analoge Vorstellung bezeichnet. Sie waren sich sowohl darin einig, dass Platon seine Lehre an der Quelle der ewigen Philosophie gespeist habe, als auch darin, dass er mit den göttlichen Mysterien des Hermes Trismegistos vertraut war.23 Charles B. Schmitt fasst Ficinos Zentralanliegen als Wunsch nach Einheit: „that there is a unity to the world
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Vorrangig wird im Folgenden der Begriff philosophia perennis in der Definition von Wilhelm Schmidt-Biggemann verwendet, er entspricht inhaltlich im Wesentlichen dem Begriff der theologica prisca und umschließt Hermetismus genauso wie Neuplatonismus und Stoa. Den Esoterik-Begriff im Sinne von Monika Neugebauer-Wölk kann man in Bezug auf das Konzept der philosophia perennis als „einen systematischen Geamtbegriff“ verstehen. (Vgl. Monika Neugebauer-Wölk: Esoterik im 18. Jahrhundert – Aufklärung und Esoterik. Eine Einleitung. In: Monika Neugebauer-Wölk (Hg.): Aufklärung und Esoterik. Hamburg 1999, S. 1–37, hier S. 8.) Ein übergeordneter Begriff ist auch insofern von Vorteil, als das sich einige Argumentationsfiguren nicht klar einer bestimmten Denkschule zuordnen lassen, sich in der Spätantike Neuplatonismus, Stoa, Hermetismus und aristotelische Philosophie in bestimmten Punkten vermengen. „Einige Aspekte des philosophischen Hermetismus, z.B. in puncto Emanationslehre, Einheit des Kosmos oder Dualsismus der Schöpfung sind historisch unmöglich von neuplatonischem Gedankengut zu trennen“. So Mirko Sladek: Fragmente der hermetischen Philosophie in der Naturphilosophie der Neuzeit. Historisch-kritische Beiträge zur hermetisch-alchemischen Raum- und Naturphilosophie bei Giordano Bruno, Henry More und Goethe. Frankfurt a.M. 1984, S. 3. Trotz der wichtigen Einflüsse auf die Cambridge Platonists, die nicht (neu)platonischer Natur waren, wird an der heute gebräuchlichen Bezeichnung Platonists festgehalten, da diese Philosophie mit den von ihnen vertretenden theologischen Grundsätzen die größte gemeinsame Basis findet. Vgl. beispielsweise John H. Muirhead: The Platonic Tradition in Anglo-Saxon Philosophy. Studies in the History of Idealism in England and America. London 1965, S. 26: „Platonism might indeed be called the intellectual side of Christianity“. Vgl. Augustinus Steuchus: De perenni philosophia. New York 1972 [ND der Ausg. Lyon 1540]. Vgl. Marsilio Ficino: Florentini Epistolarum, lib. VII. In: Ders.: Opera Omnia. 2 Bde. Torino 1983 [ND der Ausg. Basel 1576]. Bd. I, S. 854.
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which is far more deeply real than the apparent diversity of things“.24 Gegründet auf dieser Einheitskonzeption, kann Ficino Philosophie und Theologie als Schwestern beschreiben und verdeutlicht in der Theologica Platonica diese Vorstellung durch das Bild von zwei parallelen Strömen, die derselben Quelle entspringen und lediglich in der Geschichte unterschiedliche Verläufe genommen haben.25 Da die Einheit und Harmonie der materiellen Welt nicht immer sofort augenscheinlich ist, kann Einheit nur geistig verstanden werden, was unter anderem in Form erzählter Weisheitsgeschichte Ausdruck findet. Dieses Einheitsdenken der philosophia perennis bildet eine Art Unterstrom der frühen modernen Philosophie26 und spielte eine entscheidende Rolle im Denken der Cambridge Platonists. Schmitt beschreibt den Zusammenhang wie folgt: „the concept of perenial philosophy is an outgrowth of the Neoplatonic interest in the prisca theologia and of the attempt to produce harmony from discord, unity from multiplicity“.27 Die prinzipielle Vereinbarkeit von Philosophie und Theologie ergibt sich aus der Annahme ihrer Ursprungsgleichheit, mehr noch, beide Disziplinen stützen sich in ihrem Wahrheitsanspruch gegenseitig: „Philosophia perennis ist Philosophie unter den Rahmenbedingen der Theologie mit der erklärten philosophischen Absicht, die Theologie zu stützen“,28 schreibt Schmidt-Biggemann. Damit wird die Vernunftmäßigkeit von Offenbarungsglauben als gegeben unterstellt. Nur vor diesem optimistischen Hintergrund einer der menschlichen Vernunft angemessenen Welt ist eine topische, d.h. sinnhafte Deutung der Welt überhaupt zu versuchen. Die philosophia perennis ist die historisierende Einheitswissenschaft, die alles umfasst, was tradiert worden ist und dies unter dem Primat der christlichen Offenbarung synthetisiert, aber als vernunftmäßig auch den Heiden zugänglich ist.29 So schreibt Ficino in Condordi Mosis et Platonis der gesamten vorsokratischen Naturphilosophie eine mosaische Schöpfungstheologie zu. In diesem Sinne fasst Ficino in der Theologia Platonica die philosophia prisca in der Nachfolge Moses selbst als Theologie und zählt Zoroaster, Hermes Trismegistos, Orpheus, Pythagoras und Plato zu den großen Theologen. Damit kann er an Eusebius und Clemens von Alexandrien anknüpfen, die beide die Ursprünglichkeit der mosaischen Offenbarung zur Bedingung der Glaubwürdigkeit der platonischen Philosophie gemacht
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Charles B. Schmitt: Perrenial Philosophy: From Agostino Steuco to Leibniz. In: Journal of the History of Ideas 27/4 (1966), S. 505–532. Vgl. Marsilio Ficino: Theologiae Platonicae, de immortalitate animorum. In: Ders: Opera Omnia. Bd. I, S. 78–424. Vgl. Daniel P. Walker: The Ancient Theology. Studies in Christian Platonism form the Fifteenth to the Eighteenth Century. London 1972. Schmitt: Perrenial Philosophy, S. 532. Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis, S. 49. Vgl. Robert Lamberton: Homer the Theologian. Neuplatonists Allegorical Reading and the Growth of Epic Tradition. Berkeley 1986.
haben.30 Die philosophisch-theologische Interpretation des Johannesevangeliums bot Ficino den Rahmen für eine einheitliche Lektüre der Bibel, Platos, Philos, Plotins, Jamblichs und Proklos. Die Philosophie hat dabei von der Offenbarungsreligion die Tradition als ein Glaubwürdigkeitskriterium übernommen. Eine lückenlose Überlieferungskette und damit historische Kontinuität garantieren für die Realität des Offenbarungsereignisses. Zudem wird die Philosophie als Urweisheit zur translatio sapientiae und damit versucht, der paradiesischen, adamitischen Sprache möglichst nahe zu kommen. Rezeption ist somit auch Übersetzungskunst (Kapitel Zwei). Neben Logizität tritt Historizität und damit Wahrscheinlichkeit als ein entscheidendes Kriterium der Wahrheitssuche in den Vordergrund. Die philosophia perennis beschreibt auch noch für das Denken im 17. und 18. Jahrhundert den philosophisch-theologischen Denkraum und erlaubt als solche eine affirmative Lesart der Texte der Antike im christlichen Kontext. Hall beschreibt die zugrunde liegende Lebenshaltung: „For Christian Platonists from Steuco onwards Christianity was not a tight rope of theological doctrine that the true believer must walk with perfect poise, but a matter of life, love and conduct“.31 2.2.2 Das Corpus Hermeticum Diese offene Geisteshaltung gegenüber der antiken Weisheit im Kontext der philosophia perennis verlor nicht an Geltung, trotz der Casaubonschen philologischen Kritik am vorgeblichen Alter des Corpus Hermeticum und dem nicht abzuwendenden Verdacht, es handele sich um eine christliche Fälschung. Eine entscheidende Rolle zur Rettung der Aussagekraft des Corpus Hermeticum spielt Ralph Cudworths Argumentation zu Gunsten der Authentizität des Inhaltes des Textkorpus, die den Altertumsbeweis nicht mehr antreten musste.32 Mit Bezug auf die Religion der Ägypter schaltet sich Cudworth im True Intellectual System in die Debatte um das Corpus Hermeticum ein. Ausgehend vom Stand der damaligen Diskussion, in der die Schriften des Hermes Trismegistos von vielen Gelehrten in ihrer Autorenschaft hinterfragt, von Athanasius Kirchner hingegen als echt und genuin verteidigt worden waren, bezieht Cudworth eine differenzierte, neue und unvermutete Position.33 Cudworth stellt fest, dass das Corpus Hermeticum von Isaac Casaubon zur christlichen Fälschung erklärt wurde, und man trotz Kirchners Rehabilitierung davon ausgehen müsse, dass weite Teile gefälscht seien. Dennoch, so Cudworth,
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Vgl. Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis, S. 59. A. Rupert Hall: Henry More and the Scientific Revolution. Cambridge 1996, S. 5. Zu Casaubon vgl. Anthony Grafton: Defenders of the Text. The Traditions of Scholarship in an Age of Science (1450–1800). Cambridge 1991, S. 145–161. Vgl. Cudworth: True Intellectual System, S. 281, S. 285.
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lasse sich daraus nicht schließen, dass das Corpus Hermeticum keine glaubhafte Quelle für den Monotheismus der Ägypter sein könne. Denn jeder Betrug wurzle in der Wahrheit, ansonsten sei er nicht glaubhaft. Das Corpus Hermeticum sei no inconsiderable Argument to prove that the Egyptian Pagans asserted One Supreme Deity; because every Cheat and Imposture must needs have some Basis or Foundation of Truth to stand upon; there must have been something truely Egyptian, in such counterfeit Egyptian Writings, (and therefore this at least of One Supreme Deity) or else they could never have obtained credit at first, or afterwards have maintain’d the same.34
Cudworth fand also einen Weg, den Inhalt der hermetischen Schriften weiterhin positiv rezipieren zu können, ohne gleichzeitig am Alter des Textkorpus festhalten zu müssen. Der Inhalt sei alt und echt, nicht aber das Textkorpus. Damit dreht Cudworth das Anciennitätsargument der Topik um – es besagte: Glaubwürdigkeit komme einer Idee, einem Text, einer Wahrheit aufgrund ihres Alters, aufgrund ihrer langen Überlieferungstradition zu. Für Cudworth bürgt nun umgekehrt das Rezipierte, das Jetzt-Gedachte, weil nicht in Frage Gestellte, für das Alte und erlaubt Aufschluss über die Vergangenheit. Um diese Argumentationsfigur zu stützen, braucht Cudworth allerdings ein zweites Argument, nämlich einen ununterbrochenen Überlieferungszusammenhang, der sich nun nur noch unter Rückgriff auf die antike Tradition des PseudoEpigraphentum beschreiben ließ. Cudworths Traditionsschreibung im Geiste der ficinischen theologia prisca beginnt beim ägyptischen Gott Thoth, dem Erfinder der Buchstaben, der Künste und Wissenschaften, dem Begründer der Arithmetik, der Geometrie, der Astronomie und des Hieroglyphischen Wissen.35 Schon Moses selbst soll in Ägypten in diesen Künsten unterrichtet worden sein. Thoth wurde der Erste Hermes genannt. Aber neben den Schriften des Ersten Hermes und denen des Zweiten Hermes, der auch Trimegist genannt wurde, gab es viele Bücher, die nachfolgend von Priestern unter dem Namen Hermes zu Ehren des ersten und zweiten Hermes geschrieben wurden. Cudworth verweist als Quelle auf Jamblich, der beschreibt, dass die Priester ihre Schriften Hermes widmeten, indem sie sie unter seinem Namen veröffentlichten.36 So habe es zwar echte hermetische Schriften gegeben, die auch bei den Kirchenväter erwähnt worden seien, nur sind diese inzwischen verloren und man könne deshalb lediglich auf die pseudoepigraphischen Schriften zurückgreifen, die aber inhaltlich mit den Gedanken ihrer Namenspatrone übereinstimmten. Cudworth fasst schlussfolgernd zusammen: 34 35 36
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Ebd., S. 320. Vgl. ebd., S. 321. Vgl. ebd., S. 322. Mosheim trät die vollständigen Quellenangaben nach: Iamblichus: De mysteriis Aegyptiorum, Sect. VIII, Cap. I.; vgl. Radulphie Cudworthi: Systema intellectuale huius universi seu de veris naturae rerum originibus commentarii quibus omnis eorum philosophia, qui deum esse negant, funditus evertitur. Accedunt religua eius opuscula. Ioannes Laurentius Mosheimus, Omnia ex anglico latine vertit. Ienae 1733, S. 376.
we conceive it reasonable to conclude, that though there have been some Hermaick Books counterfeited by Christians, since Jamblichus his time, as namely the Paemander and The Sermon in the Mount, concerning Regeneration; neither of which are found ceited by any ancient Father; yet there were other Hermaick Books which though not written by Hermes Trismegistos himself, nor all of them in the Egyptian Language, but some of them in Greek, were truly Egyptian, and did for the substance of them contain the Hermaick Doctrin.37
So kann ich Dirk Grossklaus in seiner Interpretation des True Intellectual System nicht zustimmen, wenn er schreibt: Cudworth hielt für seinen Erweis der prisca theologia am hohen Alter und am ägyptischen Ursprung der im Corpus Hermeticum bewahrten Traditionen fest gegen Isaac Casaubons schon 1614 erschienene Schrift, die das Werk als christliche Fälschung entlarvte.38
Hier wird Cudworths geschicktester Schachzug verkannt. Er bestritt gerade nicht Casaubons philologische Kritik am Alter des Corpus Hermeticum, sondern begab sich auf eine andere Ebene als die der Philologie. Er versuchte vielmehr mit philosophischen Mitteln die Casaubonsche Kritik in einen Kontext zu integrieren, der mithilfe von vernünftig begründbaren Rezeptionsverhälnissen den Inhalt anstelle des nicht mehr zu erbringenden Anciennitätsbeweises zu retten versuchte. Es zeigt sich, dass die philosophia perennis nicht nur intellektueller Rahmen und Hintergrund des Denkens im 17. Jahrhundert war, sondern gleichzeitig auch selbst ein Topos ist. Sie ist eine historisch bedingte Argumentationsfigur, deren Anspruch auf Universalität zur Wende zum 18. Jahrhundert trotz aller noch vorhandenen Wirkmacht in Frage gestellt wurde und mit deren Versatzstücken kreativ argumentiert werden konnte. In diesem veränderten Kontext ist die bleibende Wirkmacht der hermetischen Schriften v.a. Cudworth zuzuschreiben. Jan Assmann urteilt: „Hermes Trismegistus hatte ein triumphales Comeback im 18. Jahrhundert. Das war weitestgehend das Verdienst von Ralph Cudworth“.39 2.2.3 Atome und physikalischer Monadenbegriff – Zum Überlieferungszusammenhang Die Cambridge Platonists haben die antike Weisheitsliteratur in sich aufgesogen und konnten sie vor dem Hintergrund der philosophia perennis in ihr Christentum integrieren. Sie fanden so zu einem Glauben, der nicht mehr am calvinistischen Erbsündendogma festhalten musste. Auch die Erkenntnis des Atomismus ist für Cudworth und More nicht eine bloß neuzeitliche, naturwissenschaftliche Errungenschaft, sie bleibt in die ficinische Geschichte der menschlichen Weisheit eingebet37 38 39
Cudworth: True Intellectual System, S. 327. Grossklaus: Natürliche Religion, S. 48. Vgl. Jan Assmann: Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur. München, Wien 1998, S. 41. Auf S. 130 heißt es ferner: „Die hieroglyphischen Texte bestätigen Cudworths Intuitionen in einer Weise, wie er es sich nicht besser hätte wünschen können“.
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tet. So beinhaltet das True Intellectual System „a careful exposition of two different forms of atomism, both which had already been developed in Greek philosophy and revived in his own time“.40 Anders als Whichcote lasen sowohl Cudworth als auch More Plato, Aristoteles, Plotin, die Stoa und Ficino nicht nur im Hinblick auf das Gottes- und Menschenbild, sondern rezipierten ebenso sehr metaphysische und naturphilosophische Gedankensplitter. Gleichzeitig hatten Cudworth und More eine größere Quellengrundlage als die Florentiner und betonten die Naturphilosophie der Vorsokratiker in einem stärkeren Maß: Atomismus war mosaische Physiologie. Nachdem der Begriff der Welt und seine Voraussetzungen beschrieben worden sind, soll nun dargestellt werden, wie Cudworth und More den Weltbegriff inhaltlich zu füllen wussten. Vorab erfolgt eine biographische Annäherung an Cudworth und More. 2.2.3.1 Zur Person: Ralph Cudworth „Unvollendete Projekte sind charakteristisch für den Theologen und Philosophen Cudworth“,41 urteilt Weyer. Nur eine einzige große Abhandlung ist zu Lebzeiten, 1678 veröffentlicht worden, The True Intellectual Sytem of the Universe, das trotz eines Umfangs von 899 Druckseiten nur der erste von drei geplanten Teilen über die Fundamentals or Essentials of True Religion sein sollte. Im Vorwort zum True Intellectual System of the Universe beschreibt Cudworth das Programm seiner geplanten Trilogie: „I intended onely a Discourse concering Liberty and Necessity, or to speak out more plainly, Against the Fatall Necessity of all Actions and Events; which […] will serve the design of Atheism, and undermine Christianity, and Religion“.42 Im zweiten Teil sollten die ewigen und unvergänglichen Ideen der Güte und Gerechtigkeit als Eigenschaften Gottes Darstellung erfahren. Seine Vorarbeiten wurden posthum 1731 als A Treatise Concerning Eternal an Immutable Morality veröffentlicht. Der dritte Teil, der sich mit der menschlichen Willensfreiheit beschäftigen sollte, erschien erst im 19. Jahrhundert als A Treatise of Free Will.43 Zuvor hatte Cudworth nur zwei theologische Studien und zwei Predigten veröfftentlicht.44 Außerdem existierten unveröffentlichte Briefe an den führenden Amsterdamer Arminianer Philippus van Limbroch (1633–1712).
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Lydia Gysi: Platonism and Cartesianism in the Philosophy of Ralph Cudworth. Bern 1962, S. 1. Vgl. Stefan Weyer: Die Cambridge Platonists. Religion und Freiheit in England im 17. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1993, S. 110. Cudworth: True Intellectual System, S. 1. Vgl. Ralph Cudworth: A Treatise of Free Will. Hg. v. John Allen. London 1838. Vgl. Ralph Cudworth: A Discourse concerning the True Notion of the Lord’s Supper. London 1642; Ders.: The Union of Christ and the Church; in a Shadow. London 1642; Ders.: A Sermon Preached before the Honourable House of Commons, at Westminster, 31 March 1647, on John
Infolge seiner ungünstigen finanziellen Situation scheint Cudworth Cambridge Anfang der 1650er Jahre für kurze Zeit verlassen zu haben. 1653 heiratete er. Ab 1654 sicherte ihm seine Wahl zum Master des Christ’s College regelmäßige und zufrieden stellende Einkünfte. Dass Cudworth nicht durch Oliver Cromwell in sein Amt berufen wurde, sondern von den Fellows in einem juristisch unanfechtbaren Verfahren gewählt worden war, bewahrte ihn anders als Whichcote und Worthington bei der Restauration 1660 vor der Amtsenthebung. Er blieb bis zu seinem Tod 1688 Vorsteher des Christ’s College.45 Cudworth war, wie More, inaktives Mitglied der Royal Society und mit den Schriften von Kopernikus, Tycho Brahe, Galilei, Harvey, Boyle und Newton vertraut. Man könnte Cudworth als „einen den Fragestellungen der aufkommenden experimentellen Naturwissenschaft aufgeschlossenen Laien“46 bezeichnen. Aspelin urteilt ähnlich: „he is in no way hostile to that modern science, member of the Royal Society, a learned polyhistorian“.47 Shapiro konstatiert, dass der Zusammenhang zwischen liberalem Religionsverständnis und Aufgeschlossenheit gegenüber moderner Naturwissenschaft keineswegs ein zufälliger ist. Shapiro schreibt: The alliance between latitudinarianism and science, however, went far deeper than a common core of practitioners and a mutual distaste for dogmatism. Fundamentally, the two movements shared a common theory of knowledge, and members of both became the principal proponents of a rationalized religion and natural theology based upon that theory.48
2.2.3.2 Cudworths pythagoreischer Atomismus Cudworth begreift sich als pythagoreischen Atomisten. Im ersten der fünf Kapitel des True Intellectual System erzählt er die Geschichte dieser Tradition. Im Allgemeinen werde die Begründung des physikalischen Atomismus Demokrit and Leukip zugeschrieben, so Cudworth, Aristoteles schreibe beispielsweise, dass sie Fülle und Leere als die ersten Prinzipien aller Dinge gesetzt hätten.49 Ihre Atomtheorie
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II. 3,4. Cambridge 1647 und ders.: A Sermon Preached to the Honourable Society of Lincolnes-Inne, on Corinth. XV. 57. London 1664. Vgl. Weyer: Cambridge Platonists, S. 109. Ebd., S. 117. Gunnar Aspelin: Ralph Cudworth’s Interpretation of Greek Philosophy. A Study in the History of English Philosophical Ideas. Göteborg 1943, S. 4. Barbara J. Shapiro: Probability and Certainty in Seventeenth Century England. A Study of the Relationships between Natural Science, Religion, History, Law, and Literature. Princeton 1983, S. 114. Vgl. Cudworth: True Intellectual System (wie Anm. 16), S. 8. Die atomistischen Schriften gingen früh verloren, ihr Inhalt ist nur aus den Polemiken ihrer Gegner bekannt. Hauptquelle ist dabei Aristoteles. Mosheim (S. 9 u. S. 10) gibt als Quellenangabe an: Metaphysik, Buch I, Kap. IV: „Leucippus cum socio Democrito prima rerum omnia principia plenum & inane (corpus & spatium) docent esse, illudque eus, hoc vero non ens dicunt“. Vgl. Aristoteles: Metaphysik. Erster Halbband: Bücher I (A) – VI (E). In der Übers. v. Hermann Bonitz. Neu bearb. mit Einl. u. Komm. hg. v. Horst Seide. Griechischer Text in der Edition v. Wilhelm Christ. Griechisch – Deutsch. Hamburg 1978, S. 27f.
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bleibt allerdings dem eleatischen Grundgedanken eines einheitlichen Seins insofern treu, als sie die qualitative Einheit des Seienden beibehält, dafür aber die quantitative Einheit opfern muss. „Die Atomisten zerbrechen […] die Seinskugel des Parmenides in kleine Stücke und zerstreuen diese Seinsfragmente in das, was die Eleaten das Nicht-Seiende genannt hatten, den leeren Raum.“50 Nach Meinung dieser Atomisten ist alle Sinneswahrnehmung auf Berührung zurückzuführen, die sinnlichen Ideen von Farben und Geschmack sind lediglich in uns und keine realen Eigenschaften von Objekten.51 Verständlich machen konnte der demokritsche Atomismus Farben, Geschmack, Geruch, Klang und Wärme allerdings genauso wenig wie die Frage, weshalb die Atome überhaupt Körper bilden und nicht frei durch den leeren Raum wirbeln. Für den physikalischen Atomismus ist Körper so nichts anderes als ausgedehnte Materie, „extendet bulk“, der als Eigenschaften lediglich Ausdehnung und Teilbarkeit zukommen.52 Cudworth zufolge schreibt Platon jedoch im Theatet den physikalischen Atomismus nicht Demokrit und Leukip, sondern Protagoras zu.53 Nach Cudworth kann aber keiner dieser Drei der Erfinder des Atomismus gewesen sein, da alle drei Atheisten gewesen wären. Sie hätten diese Theorie nur für ihre Zwecke adoptiert. In Cudworths zeitgenössischem Umfeld war es Hobbes, der für die Wiederauflage dieser Form des Atomismus in seiner atheistischen und materialistischen Spielart stand.54 Wenn man die Theorie des Atomismus allerdings richtig verstehe, sei sie nicht nur mit dem Atheismus unvereinbar, sondern sogar ein wirksames Mittel gegen den Atheismus, schreibt Cudworth. So ist für Cudworth der eigentliche Erfinder der Atomphilosophie Moschus der Phönizier, der vor dem Trojanischen Krieg gelebt hätte und sowohl von Strabo als auch bei Empiricus erwähnt wird.55 John Selden (1584–1654), berühmter englischer Jurist, Antiquar und Orientalist, habe Cudworth zufolge bewiesen „that this Moschus was no other than the celebrated Moses of the Jews“,56 der physikalische Atomismus wäre damit älter als Demokrit
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Dijksterhuis: Mechanisierung des Weltbildes, S. 9. Vgl. Cudworth: True Intellectual System, S. 7 u. 9. Vgl. ebd., S. 7. Vgl. ebd., S. 10. Vgl. Gysi: Platonism, S. 1: „In this debased form it was taken up and developed by Thomas Hobbes.“ Vgl. auch Mosheim, Praefatio: „Multis usus est HOBBESIUS adversariis, iisque egregiis & ingeniosis: at doctiorem num habuerit, qui & ratione hominem coercere, & eruditionis copia ignorantiae multarum rerum simul convincere valuerit, equdem vale dubito“. Vgl. Cudworth: True Intellectual System, S. 12. Mosheim (Systema intellectuale, S. 14) macht folgende bibliographische Angaben: Strabo: Geographiae Libr. XVI und Empiricus: Libr. IX adv. Mathemat. Ebd., S. 12. John Selden ist von Haus aus Jurist. Im dritten Kapitel seines Buches De Dis Syris findet er den Ursprung des Polytheismus anders als Cudworth im Astralkult und in der Heldenverehrung. Mosheim (Systema intellectuale, S. 14) führt allerdings aus, dass die Identität von Moschus dem Phoenizier mit dem biblischen Moses schon unter Cudworths Zeitgenossen umstritten war.
und hätte keinen atheistischen Ursprung. Es ist Descartes, der nach Cudworths Einschätzung diese Form des theistischen Atomismus in der Neuzeit am überzeugendsten wiederbelebt habe.57 Cudworth lobt entsprechend den mechanischen Teil der cartesischen Philosophie: „Elaborated by the Ingenious Author, into an Exactness at least equal with the best Atomologies of the Ancients“.58 Demokrit und Leukip hätten aus dem physikalischen Atomismus ein in sich vollständiges System gemacht, das das ganze Universum aus sinnlosen Atomen, „sensless Atoms“59 bestehen lässt und damit keinen Platz für einen Gott mehr kennt. Zuvor war die Atomtheorie keine vollständige Philosophie, sondern ein Teil, die eine Hälfte des ursprünglichen und göttlich inspirierten philosophischen Systems. Es war darüber hinaus der niedrigere Teil dieser Philosophie, welcher ausschließlich dazu gebraucht wurde, die körperliche Welt zu erklären. So bedarf es Cudworth zufolge ergänzend einer Philosophie der immateriellen Substanzen, die er vorbildlich im Platonismus findet. Er schreibt: „[B]esides which they acknowledged something else, which was […] Immaterial or Incorporeal Substance; the Head and Summity whereof is a Deity distinct from the world“.60 Für Cudworth ist eine Philosophie, die aus diesen beiden Komponenten – Cartesianismus und Platonismus – besteht, die einzig wahre Philosophie. „And this System of Philosophy, thus consisting of the Doctrine of Incorporeal Substance (whereof God is the Head) together with the Atomical and Mechanical Physiology seems to have been the only Genuine, Perfect, and Complete.“61 So sehr sich Cudworth auch im Denkhorizont der philosophia perennis bewegt, so wird doch deutlich, dass die griechischen Philosophen der Antike nicht nur als Erben der hebräischen Weisheit auftreten, sondern gleichzeitig und „on the contrary, they are good Cartesians acting on the directions in Discours de la Methode“.62 So galt Cudworth die Stärke der Vernunft als der eigentliche Grund für die Entwicklung des physikalischen Atomismus. Die Vernunft vermochte es, die Vorurteile, die aus den sinnlichen Eindrücken erwuchsen, zu überwinden und in sich selbst den Unterschied zwischen den beiden grundlegenden Dingen, die die Welt ausmachen, zu erkennen, nämlich zwischen passiver Materie und selbstaktivem Leben.63 Auch an dieser Stelle zeigt sich, dass Cudworths Rezeptionslinien eher eine Rückprojektion frühmodernen Denkens in die Antike darstellen. Cudworth besitzt die Fähigkeit zu finden, was er sucht.
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Vgl. Gysi: Platonism, S. 1. Cudworth: True Intellectual System, S. 175. Ebd., S. 17. Ebd., S. 18. Ebd., S. 51. Aspelin: Greek Philosophy, S. 24. Cudworth: True Intellectual System, S. 27.
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2.2.3.3 Zur Person: Henry More Henry More, „the most spirital and mystical – a soul compact of light and fire“,64 beeindruckte durch theologisch-poetischen Elan. Biographisch betrachtet spielt sich Mores Erwachsenenleben fast zu Gänze in Cambridge ab, seine Abenteuer waren intellektueller und seelischer Natur. 1631 trat More in das Christ’s College ein. Er widmete sich in den ersten vier Jahren seines Studiums v.a. der Philosophie und las unter anderem Aristoteles, Cardanus und Scalinger, was ihn eigener Aussage nach in den Skeptizismus führte. Nachdem er 1635 mit dem B.A. seinen ersten akademischen Grad erhielt, beschäftigt er sich zunehmend mit Autoren, die den Aufstieg des Menschen zu Gott beschreiben, wie die Platoniker, Ficino, Plotin und Hermes Trismegistus.65 „Die in der platonischen Tradition stehenden antiken und neuzeitlichen Autoren schätzte More deshalb, weil sie, ähnlich wie die Heilige Schrift, vornehmlich auf die sittliche Vervollkommnung des Menschen abzielten“,66 schreibt Weyer. Er befasste sich außerdem intensiv mit der Übersetzung der 1516 von Martin Luther herausgegebenen spätmittelalterlichen Theologia Germanica. 1639 erhielt er den M.A., ab 1641 war More Fellow und Tutor. Hinsichtlich der Lehre wurde More als sehr gewissenhaft beschrieben. Enge Bindungen unterhielt er zu Hender Robarts und zu John Finch (1626–1682), v.a. aber zu dessen Schwester Anne, die spätere Viscountess Conway mit Landsitz Ragley Hall in Warwickshire. Dort lernte More den Quäker George Keith kennen und machte die Bekanntschaft mit Franz Mercurius van Helmont machte, der ihn wiederum in Kontakt mit Christian Knorr von Rosenroth brachte. More nahm keinerlei öffentliche Ämter an. Weyer urteilt, „seine Scheu vor einer öffentlichen Tätigkeit lässt sich mit bloßer Weltabgewandtheit nicht hinreichend erklären; vielmehr sah er seine Unabhängigkeit als einen Wert an, den es stets zu bewahren gelte“.67 Dass diese Unabhängigkeit nicht bloße Bequemlichkeit war, zeigte sich, als er sich 1643 weigerte, den vom Parlament geforderten Eid Solemn League and Covenant zu leisten. More war Mitglied der Royal Society, verstand sich aber nicht primär, wie z.B. Robert Boyle, als empirisch arbeitender Naturwissenschaftler im Sinne Francis Bacons. So schreibt More: „I shall evidently trace the visible footsteps of this Divine Counsel and Providence even in all things discoverable in the world“.68 More strebte eine Synthese zwischen den Denkweisen von Christentum, Platonismus und Wissenschaft an, „indem er den Versuch einer Rettung der Prinzipien der Religion und Moral bei gleichzeitiger Assimilierung wissenschaftlicher Denkweisen unter64 65 66 67 68
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Frederick J. Powicke: The Cambridge Platonists. A Study. Hildesheim 1970, S. 150. Vgl. Ward, Richard: The life of the learned and pious Dr. Henry More, late Fellow of Christ’s College in Cambridge. Cambridge 1911 [ND der Ausg. London 1710]. Weyer: Cambridge Platonists, S. 94. Ebd., S. 95. Vgl. Henry More: An Antidote against Atheism. In: Ders.: A Collection of Several Philosophical Writings. 2 Bde., Bd. I. New York, London 1978 [ND der Ausg. London 1662], S. 47.
nimmt“.69 Dies schließt eine Reformulierung neuplatonischer Gedanken aus christlicher Perspektive mit ein. Rogers schreibt in diesem Zusammenhang: „Seine [Platons] Philosophie wurde vielmehr als ein System angesehen, dessen Ontologie und Metaphysik stark genug waren, um die wachsende Bedrohung durch den Mechanismus und Materialismus des modernen Zeitalters abzuwenden“.70 Erstmals trat More 1642 mit Psychzoia Platonica als Poet in Erscheinung, das 1647 unter dem Titel Philosophical Poems erneut veröffentlicht wurde. Das Werk zeigt, wie More in Plato und Plotin den Schlüssel zu Trimegistus und der Chaldäischen Weisheit gefunden hat. 1648 schrieb More den ersten von vier Briefen an Descartes, begeistert von dessen Philosophie. 1660 erschien Explanation of the Grand Mystery of Godliness. Es zeigt, wie More begann, sich verstärkt auf die Bibel zu konzentrieren, sein Interesse lag dabei v.a. auf den apokalyptischen und prophetischen Büchern wie Ezekiel, Daniel und der Offenbarung. 1668 verfasste More das Enchiridion Ethicum, das in englischer Übersetzung 1690 als An Account of Virtue herausgegeben und um 1700 breit rezipiert wurde. 1671 kam das Enchiridon metaphysicum heraus. 1708 wurden seine theologischen Werke in folio publiziert. 1712 kam die vierte Auflage seiner philosophischen Schriften heraus. Aber sein Biograph Ward schränkt diesen positiven Eindruck stark ein „Tis very certain that his writings are not generally […] as much known, and many scholars themselves are in a great measure strangers to them“.71 Auch Tulloch urteilt aus der Distanz heraus ähnlich: More „is the most interesting and the most unreadable of the whole band“.72 H.R. McAdoos Charakterisierung von Mores Selbstverständnis als Autor ist durchaus zutreffend: More „saw his various books as one connected work, having certain linking themes“.73 More benennt im Vorwort zu A collection of Several Philosophical Writings von 1662, den Kerngedanken seines Philosophierens: „the knowledge of God and therein of true Happiness“.74 2.2.3.4 Mores Geschichte der Weisheit Mores Begriff für die ursprüngliche Weisheit lautet Cabbala. Er versteht den Begriff im Sinne der christlichen Kabbala, einer Tradition, die sich stärker an neuplatonischen und pythagoreischen Mustern orientierte als am hebräischen Rabbi-
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Angelica Baum: Selbstgefühl und reflektierte Neigung. Ethik und Ästhetik bei Shaftesbury. Stuttgart 2001, S. 107. Rogers: Cambridge-Platonisten, S. 158. Ward: The life, S. 53. Vgl. Powicke: Cambridge Platonists, S. 155. Henry R. McAdoo: The Spirit of Anglicanism. A Survey of Anglical Theological Method in the Seventeenth Century. London 1965, S. 99. More: Preface General, S.iV.
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nertum.75 Cabbala leitet More etymologisch vom hebräischen kibbel her, das er mit to receive übersetzt, was man mit empfangen oder auch mit rezipieren wiedergeben kann. Die Kette der Rezipienten beginnt bei Moses. „That the Jewish Cabbala is conceived to be a Traditional doctrine or exposition of the Pentateuch, which Moses received from the mouth of God while he was on the Mount with him.“76 Unter Kabbala ist also die Lehre vom verborgenen, vom wahren Sinn der Bücher Mose zu verstehen, in der dieser direkt von Gott unterwiesen wurde, mit Cabbala ist ein „complete system of knowledge which incorporated mystical theology“77 gemeint. Im Begriff der Kabbala drückt sich damit ein immenser Wahrheits- und Geltungsanspruch aus. More erzählt eine mit Cudworth vergleichbare Philosophiegeschichte. Auch er geht davon aus, dass Pythagoras seine Philosophie aus dem Judentum übernommen hat. Bei Demokrit und Leukip hat sich dann der physikalisch-mechanische Teil vom theologisch-metaphysischen abgespalten. Für More gehören beide Teile jedoch essentiell zusammen: „It is therefore very evident to me that the ancient Pythagoreick or Judaick Cabbala did consist of what we call now Platonisme and Cartesianisme, that latter being as it were the Body, the other the Soul of that Philosophy“.78 Sein Ziel ist es, den Platonismus, also Moses’ Seele und den Cartesianismus – Moses’ Körper – wieder zu vereinigen.79 Ganz im Sinne der philosophia perennis liegt für More ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der Tiefe und des Reichtums der mosaischen Philosophie und der göttlichen Moral im ersten Kapitel der Genesis in den pythagoreischen Zahlenmysterien, den „Hieroglyphicks of Numbers“.80 Der Pythagoreismus geht auf Pythagoras von Samos zurück und zeichnet sich durch eine dominierende Stellung der Zahlen und ihrer gegenseitigen Verhältnisse aus. Zahlen sind nach griechisch-mathematischem Sprachgebrauch ausschließlich 75
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More verfasste die Conjectura Cabbalistica bevor er mit Franz Mercurius van Helmondt (1618–1699) und Christian Knorr von Rosenroth (1636–1689) begann, den Zohar für das Projekt der Kabbala denudata von 1677 bis 1684 ins Latainische zu übersetzen. Dadurch gewann More einen Eindruck vom lurianischen Konzept der Kabbala, dem er allerdings kritisch gegenüber stand. So sind seine 16 kabbalistischen Axiome, die er in den Opera Omnia und in der Kabbala denudata veröffentlichte, und die Leibniz durch ein Missverständnis – er interpretierte sie als positive Sätze – dazu führten, More einen Kabbalisten zu nennen, eine kritische Auseinandersetzung, die mit einem Albtraum endet. Vgl. dazu Allison Coudert: A Cambridge Platonist’s Kabbalist Nightmare. In: Journal of the History of Ideas 36 (1975), S. 633–652. Vgl. außerdem Stuart Brown: Leibniz and More’s Cabbalitic Circle. In: Sarah Hutton (Hg.): Henry More (1614–1687). Tercentenary Studies. Dordrecht 1990, S. 77–95, hier S. 81: „In fact, it seems, the orthodox More scarcely did more than flirt with the Cabbala“. More: Cabbala, S. 1. Robert Crocker: Henry More. A Biographical Essay. In: Hutton (Hg.): Henry More. Tercentenary Studies, S. 1–17, hier S. 5. Henry More: General Preface. In: Ders.: A Collection of Several Philosophical Writings. 2 Bde. New York, London 1978 [ND der Ausg. London 1662]. Bd. I, S. xvii. Vgl. More: General Preface. Ebd., S. xviii. More: Cabbala, S. 105, vgl. auch ebd., S. 72.
natürliche Zahlen. Zahlenverhältnisse dienten im Pythagoreismus v.a. dazu, typische Beziehungen auszudrücken, die in Naturerscheinungen zutage traten. Ein klassisches Beispiel ist die Charakterisierung der konsonanten Intervalle Oktave, Quinte und Quarte durch die Verhältnisse 2:1, 3:2 und 4:3. Außerdem spielten Zahlen eine Rolle beim Aufbau der Geometrie, wo sie als Anzahlen von in geometrischen Mustern geordneten Punkten auftreten und dazu gebraucht werden, die Längenverhältnisse von Strecken auszudrücken. Indem er die ordnende und bestimmende Wirkung der Zahl in den Vordergrund stellte, gab der Pythagoreismus zugleich dem von anderen griechischen Denkern schon geahnten Begriff des Kosmos im Sinne einer geordneten und dadurch schönen Einrichtung des physischen Weltalls eine starke Stütze,81
beschreibt Dijksterhuis das Verhältnis der Pythagoräer zu der Welt der Zahlen. Bei Aristoteles findet sich die Position der Pythagoräer wie folgt referiert: „so nahmen sie an, die Elemente der Zahlen seien Elemente alles Seienden, und der ganze Himmel sei Harmonie und Zahl“.82 Eine Vorstellung, die sich in der platonischen Sphärenmusik wieder findet. Die reine Mathematik der Pythagoräer bringt einen Rationalismus hervor, der sich von der empirischen Wirklichkeit insofern befreit hat, als sie die Zahl als die tiefste Ursache, als den Ursprung des Seins betrachten. More parallelisiert den in der pythagoreischen Philosophie so bedeutenden Tetraktys, die Vierheit, in seiner Genesisinterpretation mit dem vierten Schöpfungstag. Jeder in die pythagoreische Philosophie Initiierte habe den Eid des Tetrakys’ schwören müssen, was laut More nur dann verständlich sei, wenn man davon ausgeht, dass es sich dabei nicht bloß um die arithmetische Zahl Vier gehandelt habe, sondern dass hier Bezug auf die Schaffung des Kosmos genommen werde. Für diese These spräche, dass die Pythagoräer die Erde als Planeten angesehen und gewusst hätten, dass sich die Erde um die Sonne bewegt, argumentiert More. Diese für Mores Zeit recht neue astronomische Erkenntnis sei seines Dafürhaltens nach mit aller Wahrscheinlichkeit auch schon Teil der philosophischen Kabbala des Moses gewesen.83 So beschreibe der vierte Schöpfungstag im Symbol des Tetraktys die Ordnung der Materie in Sonnen und Planeten, Monde und Erden, wodurch die körperliche Welt erst eine sinnvolle Ordnung und Form erhalten hat. Die Vierheit steht außerdem für Harmonie, da der erste Körper in Zahlen sich als gleichschenklige Pyramide darstellen lässt, dem Symbol des Lichts.84 Mit der Vier, d.h. mit vier Punkten, können also materielle Körper entstehen, weil in der Form des Tetraktys zum ersten Mal drei Dimensionen ausgedrückt werden können.
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Dijksterhuis: Mechanisierung des Weltbildes, S. 6. Aristoteles: Metaphysik, 1. Halbband, S. 31 (986a). Vgl. More: Cabbala, S. 4. Vgl. ebd., S. 81.
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Dieses Erklärungs- und Aufschlüsselungsverhältnis zwischen Bibel und Pythagoreiismus ergibt sich für More dadurch, dass Pythagoras in die mosaische Theorie eingeweiht war: „Pythagoras was not only initiated into the Mosaical Theory, but had arrived also to the power of working Miracles, as Moses and the succeding Prophets did“.85 More macht damit neben der mechanischen Philosophie der Atome die Wichtigkeit der mathematischen Lehren der Pythagoräer für das Verständnis von Welt stark.
2.3 Der metaphysische Aufbau der Welt The True Intellectual System of the Universe hat sich Tulloch zufolge von einer Betrachtung über Notwendigkeit und Freiheit zu einer rationalen Beschreibung des Universums hin entwickelt, die um die Fragen kreist: Was ist die Stellung des Menschen in dieser Ordnung, was ist die erste und was ist die letzte Ordnung der Dinge?86 Die Ordnung der Dinge ist von Gott abhängig. Alle Substanz ist geschaffen und begrenzt. Der geistigen Substanz kommt allerdings eine Vorrangstellung gegenüber der Materie zu, da sie dem Göttlichen näher ist.87 Cudworth kennt wie Descartes zwei Substanzen, die nicht auf einander zu reduzieren sind. Diese cartesische oder vielleicht richtiger platonische Zweiteilung der Welt entspricht der alten These, dass es unmöglich ist, nur durch das bloße Anhäufen von Quantitäten eine neue Qualität hervorzubringen. Schon Plotin negierte auf diese Weise den antiken Atomismus.88 Diese ersten Prinzipien allen Seins werden bei Cudworth allerdings anders als von Descartes bestimmt: als „Resisting Extention“ und „Life“.89 Cudworth findet damit für das zweite, das zentrale Prinzip der Welt neben dem Körper eine andere, eine weiter gefasste Charakterisierung als Descartes. Der cartesische Begriff der res cogitans schien Cudworth zu eng, um all das zu fassen, was sich nicht durch Ausdehnung und passive, lokale Bewegung bestimmen lässt: „Now we are well aware, that this a Thing which the Narrow principles of some late Philosphers will not admit of, that there should be any Action distinct from Local Motion besides Expresly Conscious Cogitation“.90 Auch für More sind Körper und Geist, dem cartesischen Denkmuster insofern folgend, klar von einander getrennt. „More wanted a metaphysic that remained true 85 86 87
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Ebd., S. 104. Vgl. Tulloch: Rational Theology, S. 241. Vgl. Gysi: Platonism, S. 2: „The substances are created and finite.“ Vgl. Cudworth: True Intellectual System, S. 858: „A Perfect Unterstanding Being, is the Beginning and Head of the Scale of Entity; from whence things Gradually Descend downward; lower and lower, till they end in Sensless Matter“. Vgl. Sladek: Fragmente der hermetischen Philosophie, S. 117. Vgl. Cudworth: True Intellectual System, S. 159. Ebd.
to the strict dualism of his Platonism, but also one that clearly asserted the superiority of the intellect, or creative spirit, over body and matter.“91 Anders als bei Descartes ist für ihn aber nicht die Ausdehnung als Attribut des Körpers das, was die unüberbrückbare Differenz zum Geist markiert. Wie Cudworth setzt also auch Mores kritische Auseinandersetzung mit Descartes bei der Charakterisierung des geistigen Prinzips an. Schon in seinem Brief an Descartes vom 11. Dezember 1648 fragt More, wie eine rein geistige Seele ohne Ausdehnung mit einem Körper als etwas, das einzig Ausdehnung ist, vereinigt werden könne. Die Seele und auch Gott müssten ausgedehnt sein, ansonsten könnten sie nicht in der Welt anwesend sein. In The Immortality of the Soul schreibt More „the Soul has Dimensions“.92 Deshalb sei der Begriff der Ausdehnung unbrauchbar zur Definition der Materie, er sei zu weit gefasst. Denn jede Substanz ist ausgedehnt, also sowohl der Körper wie auch der Geist.93 Jene Cartesianer, die auf die Unausgedehntheit des Geistes beharren, bezeichnet More als nullibisten, da Gott und Geister nirgendwo in der Welt anwesend seien.94 Die Vorstellung einer ausgedehnten immateriellen Substanz war im 17. Jahrhundert alles andere als eine Spukgestalt. So ist das Licht ein passendes Beispiel für Mores Geistesbeschaffenheit. Auch Kepler zufolge ist es immateriell, aber im Raum ausgedehnt und wirkt darüber hinaus auf die Materie und wird von ihr beeinflusst.95 Anschaulichstes Beispiel für eine ausgedehnte immaterielle Substanz wird für More der Raum, auf den wir im Folgenden noch eingehen werden. 2.3.1 Die materielle Welt Zuerst soll die materielle Seite der Welt beschrieben werden, wie sie von More und Cudworth vorgestellt wird, bevor dann das geistige Gesicht der Welt in Erscheinung tritt. 2.3.1.1 Cudworths Atome Cudworth kennt und verwendet wie More die Interpretation von Monaden als physische Atome und nennt als Quellen für diesen weniger spekulativen und auch weniger spektakulären pythagoreischen Monadenbegriff Ekphantus und Aristote91 92 93 94
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Crocker: Henry More, S. 5. Henry More: The Immortality of the Soul. In: Ders.: A Collection of Several Philosophical Writings. 2 Bde. New York, London 1978 [ND der Ausg. London 1662], Bd. II, S. 151. Vgl. Epistola Prima H. Mori ad R. Cartesium. In: More: Several Philosophical Writings. 2. Bde. New York, London 1978 [ND der Ausg. London 1662]. Bd. I, S. 61–66, hier S. 62. Vgl. Henry More: Enchiridion Metaphysicum. In: Ders.: Opera Omnia. 2 Bde. Édité avec une introduction par Serge Hutin. Hildesheim 1966 [ND der Ausg. London 1674], Bd. II,I, S. 131– 334, hier S. 158 u. S. 321. Vgl. Alexandre Koyré: Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum. Frankfurt a.M. 1969, S. 124.
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les. Erster belegt, dass die legendären Monaden nichts anderes gewesen seien als Atome – „were nothing else but Corporal Atoms“,96 der Zweite schreibt, die Pythagoräer hätten angenommen, dass die Monaden Ausdehnung haben.97 Cudworth übernimmt die Definition von Atomen, die er bei Aristoteles findet: „certain moleculae or corpuscula which by reason of their smallness were invisible to us“.98 Cudworth sieht zwei kaum zu überschätzende Vorteile in Bezug auf den Atomismus. Zum einen wird mit ihm die körperliche Welt verstehbar, denn Mechanismus ist intelligibel. Diese Argumentationsfigur zeigt, dass Cudworth von der Logizität der Welt überzeugt ist. Er geht von einer Struktur des Kosmos aus, die nach menschlichen Maßstäben verständlich und damit vorteilhaft, bekömmlich ist. Zum anderen bereitet der physikalische Atomismus den Weg für eine einfache und klare Demonstration der Existenz von unkörperlicher Substanz, da sie aufgrund der klaren Definition dessen, was Körper sind, nun klar vom Körper abgegrenzt werden kann.99 Cudworth formuliert: „He that will undertake to prove that there is something else in the world besides body, must first determine what body is“.100 Nach atomistischer Definition setzen sich Körper aus Atomen zusammen, unterliegen den mechanischen Bewegungsgesetzen und zeichnen sich durch ihre Lage, ihre Dichte und ihre Form aus. Der Geist könne nicht aus einem solchen Körper hervorgehen, weil er wesensmäßig anders verfasst ist: because they [i.e.: the souls of men and animals] are plainly real entities distinct from the substance of matter and its modification, and men and brutes are not mere machins, neither can life and cogitation, sense and consciousness, reason and understanding, appetite and will, ever result from magnitudes, figures, sites and motions, that therefore they are not corporeally generated and corrupted, as forms and qualities of bodies are.101
Ein Vorteil des atomistisch-mechanischen Körperbegriffs liegt also in seiner Griffigkeit begründet, das heißt in seinen klar definierten Grenzen. Der Körper ist in dieser Denkschule kein Moment topischer Zuschreibungen und Ausuferungen von Attributen. Der Körperbegriff bietet eine klare Abgrenzungsfläche für den Geistbegriff. Er ist defizitär für eine sinnvolle Beschreibung des Universums, so dass er einen Gegenpol, den Geist geradezu erforderlich macht. In dieser Defizienz liegt seine eigentliche Stärke. More argumentiert im Enchiridium Metaphysicum in ähnlicher Weise. Als zweite von 18 Möglichkeiten, die Existenz von unkörperlicher Substanz zu demonstrieren, führt More an, „whereby, from the existence of matter and the coalition and
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Cudworth: True Intellectual System, S. 13. Vgl. Mosheim: Systema intellectuale, S. 16: „Monas suas magnitudinem habere dicunt.“ Mosheim verweist auf Aristoteles: Metaphysik, lib. XI, cap. VI. 98 Cudworth: True Intellectual System, S. 34. 99 Vgl. ebd., S. 42. 100 Ebd., S. 49. 101 Ebd., S. 36.
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motion of its parts the existence of some immaterial substance is concluded“102 – auch hier ist die körperlich-physikalische Welt lediglich eine Negativfolie als Beweis einer anderen, einer besseren Welt. Bei aller Kritik und Abgrenzung wird Descartes von Cudworth dafür geschätzt, dass er die atomphysiologische Seite der Philosophie wiederbelebt hat: For Renatus Cartesius first revived and restored the Atomick Philosophy, agreeable for the most part, to that ancient Moschical and Pythagorick Form, acknowleding besides Extended Substance and Corporeal Atoms, another Cogitative Incorporeal Substance […] to make up one entire System of Philosophy.103
Cudworth übernimmt die cartesischen Mechanik als einer Hälfte seiner Philosophie. So schränkt er zwar Descartes’ Wirkbereich ein, modifiziert ihn aber innerhalb dieses Bereichs nicht. Die atomistische Philosophie wird für die Cambridge Platonists nämlich erst dann zu einer atheistischen, wenn Atome und Körper, charakterisiert durch Ausdehnung und bzw. oder Undurchdringlichkeit, zum einzigen Prinzip in der Welt erklärt werden und Bewegung rein mechanisch durch Anstoß, Ruhe und Position von körperlichen Teilen erklärt wird.104 So ist der intellektuelle Hauptgegner für More und Cudworth nicht Descartes sondern Hobbes, der den cartesischen Mechanismus popularisierte und die Gefahr des Atheismus deutlich hervor treten ließ, indem er den cartesischen Dualismus durch das Primats des Körpers ersetzte und alle Bewegungen mechanisch erklärte.105 Hutin folgert: „Le hobbisme peut être considéré comme une sort de généralisation du mécanisme cartésien“.106
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Alexander Jacob: Henry More’s Manual of Metaphysics. A Translation of the Enchiridium Metaphysicum (1679) with an Introduction and Notes. 2 Bde. Hildesheim, Zürich u. New York 1995, S. 71. 103 Cudworth: True Intellectual System, S. 174f. 104 Vgl. Alan Gabbey: Henry More and the Limits of Mechanism. In: Sarah Hutton (Hg.): Henry More (1614–1687). Tercentenary Studies Nr. Dordrecht 1990, S. 19–35, hier S. 19. 105 Vgl. Burtt: The Metaphysical Fondation, S. 118f., vgl. auch Samuel I. Mintz: The Hunting of Leviathan. Seventeenth-Century Reactions to Materialism and Moral Philosophy of Thomas Hobbes. Cambridge 1962, S. 80: „The most systematic and rigorous refutation of Hobbist philosophy was made by the Cambridge Platonists Henry More and Ralph Cudworth.“ Neben der materialistischen Weltsicht war es v.a. die anders gelagerte Kozeption von Vernunft und Rationalität die Hobbes zum Hauptgegner der Cambridge Platonists werden ließ, vgl. dazu Perez Zagorin: Cudworth and Hobbes on Is and Ought. In: Richard Kroll, Richard Ashcraft u. Perez Zagorin: Philosophy, science, and religion in England (1640–1700). Cambridge 1992, S. 128– 148, hier S. 143–145. 106 Serge Hutin: Henry More. Essais sur les doctrines théosophiques chez les Platoniciens de Cambridge. Hildesheim 1966, S. 91, vgl. Auch Robert Kargon: Atomism in England from Hariot to Newton. Oxford 1966, S. 54.
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2.3.1.2 Mores kleinste Teilchen Trotz dieser Neubestimmung der descartesschen Prinzipien hält More an der grundsätzlichen Richtigkeit von Descartes atomistischer Philosophie fest und sieht sie als Neuauflage der mosaischen Naturphilosophie, „the Mosaical Philosophy in the Physiological part thereof is the same with the Cartesian“.107 Dass der Atomismus Teil der Mosaischen Kabbala gewesen sei, leitet More wie Cudworth daraus ab, dass Pythagoras durch die Nachfolger des Moschus von Sidona zum Atomismus gelangt sei. Das sei wiederum dadurch belegt, dass Demokrit Schüler von einem Nachfolger von Pythagoras gewesen sei.108 More schlägt vor, Materie statt durch das Attribut der Ausdehnung durch ihr Verhältnis zu den Sinnen zu bestimmen. Körper sind durch Undurchdringlichkeit und Wahrnehmbarkeit charakterisiert, sie sind „inpenetrable“ und „discerpible“.109 Da der Geist im Gegensatz zum Körper als durchdringlich und nicht wahrnehmbar bestimmt ist, lässt sich eine Koexistenz von Körper und Seele am selben Ort denken, obgleich beiden das Prädikat der Ausdehnung zukommt.110 Das Zusammenspiel von Körper und Geist ist hierarchisch gelöst, da der Körper dem Geist an Perfektion unterlegen und untergeordnet ist. Er wird also von ihm bewegt und gelenkt. Der Körper ist damit ein rein passives Prinzip, ein Instrument des Geistes in der Welt. More behält jedoch den Monadenbegriff, der als Signum der Unteilbarkeit den Geist charakterisiert und als Symbol des geistigen Anfangs der Welt dient, nicht dem geistigen Prinzip vor, da die geschaffene Materie in ihrer Grundstruktur wiederum unteilbar ist. Die physischen Monaden werden also als Atome bestimmt: „[A]ctual perfect Parvitudes and of notheing else, which are so many Physical Monads, and utterly indivisible in themselves, as the incorporeal Beings created the First day are, but seperable, as they likewise are, one from another“.111 Für Descartes bedeutete die Unteilbarkeit von kleinsten Teilchen einen Widerspruch gegen die Allmacht Gottes. More kann das Argument nicht gelten lassen: Die Unteilbarkeit eines Atoms hieße bloß, dass es keine geschaffene Kraft gibt, die es teilen könne, nicht aber, dass Gott es nicht teilen könne, wenn er denn wolle.112 Für More würde vielmehr ein Widerspruch in der nicht endenden Teilbarkeit bestehen, da sich Ausdehnung dann nicht mehr denken ließe und zu einer Ansammlung von Punkten geriete: „that a particle of Matter may be so little that it is utterly incapable of being made less, it is plain that one and the same thing, though
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More: Cabbala, S. 104. Vgl. ebd., S. 104. More: The Immortality of the Soul, S. 21. Vgl. Ben Lazare Mijuskovic: The Achilles of Rationalist Arguments. The Simplicity, Unity, and Identity of Thought and Soul from the Cambridge Platonists to Kant. A Study in the History of an Argument. The Hague 1974, S. 32. 111 More: Cabbala, S. 142. 112 Vgl. More: Epistola Prima H. Mori ad R. Cartesium, S. 63.
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intellectually divisible, may yet be really indiscerpible – otherwise Magnitude would consist of mere points, which would imply a contradiction“.113 Dem mit der Vorstellung von Atomen zusammenhängenden mechanistischen Weltbild kann More allerdings nur bedingt zustimmen. Er ist insofern bereit, auch den Mechanismus anzuerkennen, als er nicht zum alleinigen Motor der Welt wird, sondern eingebunden bleibt in eine höhere geistige Ordnung: „that though the World be a Machina, yet the Mechanick or Artificer is not Matter, but some other Principle in the World of Life“.114 2.3.1.3 Der Raum der Welt Die aus Atomen zusammengesetzten Körper befinden sich Mores Weltverständnis zufolge im leeren Raum, dessen Existenz zuvor von Descartes bestritten wurde. More überwindet damit den horror vacui seiner Zeitgenossen. More begreift den Raum darüber hinaus als absolut. Er bestimmt sich also nicht relativ aus dem Verhältnis der Körper zueinander, sondern die Körper befinden sich in ihm und bewegen sich durch ihn hindurch. Die Körper sind im Gegensatz zum Raum wesentlich begrenzt. Die Existenz eines unendlichen leeren Raums ist die Vorbedingung aller möglichen Existenz.115 Dieser Gedanke erinnert an den Beginn der Welt, Und die Erde war wüst und leer, und finster war es auf der Tiefe. Leer bedeutet aber hinsichtlich des Raumes nur Abwesenheit von materiellen Körpern. Der Raum ist immer und überall gefüllt durch die Präsenz Gottes, also nur in einem bestimmten Sinn als vacuum definiert, in Bezug auf Gott ist er das plenum. Dem Raum kommen bei More folgerichtig die einst Gott vorbehaltenden Attribute zu: Unum, Simplex, Immobile, Aeternum, Completum, Independens, A se existens, Per se subsistens, Incorruptible, Necessarium, Immensum, Increatum, Incircumscriptum, Incomprehensible, Omnipraesens, Incorporeum, Omnia permeans & complectens, Ens per Essentiam, Ens actu, Purus Actus.116
113
More: The Immortality of the Soul, S. 29. Cudworth bleibt unentschieden hinsichtlich der Teilbarkeit der kleinsten Teile der Materie. Im True Intellectual System finden sich beide Positionen nebeneinander, (vgl. Gysi: Platonism, S. 7). 114 More: Cabbala, S. 142. Vgl. auch Alan Gabbey: Cudworth, More and the mechanical analogy. In: Richard Kroll, Richard Ashcraft u. Perez Zagorin: Philosophy, science, and religion in England (1640–1700). Cambridge 1992, S. 109–127. Diese Gedanken zum Zusammenhang zwischen Materie und Geist formulierte More erstmals in seinen Briefen an Descartes 1648, zehn Jahre später, in den Schriften An Antidote against Atheism und The Immortality of the Soul, fanden sie sich in schon deutlicherer Form wieder. Weitere zehn Jahre später erlangten sie im Enchiridium metaphysicum ihre endgültige Form. 115 Vgl. More: Enchiridion metaphysicum, S. 159. 116 Ebd., S. 167.
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So kann Greene die Mores Raumvorstellung als „quasi-divine“ beschreiben.117 Jürgen Klein formuliert in seiner Arbeit zum Verhältnis von Astronomie und Anthropozentrik: „Bei Henry More ist der Raum göttlich geworden“.118 Andererseits ist es der Raum, der zum anschaulichsten Beispiel für die Existenz immaterieller Substanz wird und so für die Existenz Gottes bürgt. Cassirer schreibt, der Raum „bietet den sichersten und unmittelbar anschaulichen Beleg für ein höheres, stoffloses Dasein“.119 So ist der Raum durch die einst göttlichen Attribute aufgewertet und trägt jetzt seinerseits einen Teil der Last des Beweises der göttlichen Existenz. Dem Raum kommt eine geistige, ideele Natur zu, er wird gleichsam zum Vermittler zwischen Gott und Welt und ermöglicht die Präsenz Gottes in der Welt. Da Gott unendlich ist, muss auch der Raum unendlich groß sein, folgert More. Mirko Sladek schreibt treffend zur Charakterisierung des Raumes als Unum: „Der Raum war für ihn eine rein geistige Wesenheit, die man nie zerstückelt, sondern immer nur als eine Ganzheit denken kann“.120 Die Idee des absoluten Raums wird außer von More zeitgleich und unabhängig von ihm sowohl von Isaac Newton in dessen berühmter Philosophiae Naturalis Principa Mathematica entwickelt und findet sich auch bei Isaac Barrow, der in seinen Vorlesungen zur Mathematik, die er 1664 bis 1666 in Cambridge hielt, zur Vorstellung eines absoluten Raums gelangte.121 Im Hinblick auf die vieldiskutierte Frage nach dem Einfluss Mores auf Newton seien nur einige wenige Anmerkungen gemacht. Newton besaß keine Ausgabe der Divine Dialogues oder des Enchiridion Metaphysicum, war aber von The Immortality of the Soul beeindruckt. Newtons Anticartesianismus ist so wahrscheinlich zum Teil auf Mores Einfluss zurückzuführen, Hall schreibt, More „helped Newton to frame his criticism of the established trends of the 1660s and 1670s“.122 Wo More jedoch metaphysisch argumentiert und der Begriff des spirit im Mittelpunkt seines Denkens steht, dort denkt Newton dynamisch und orientiert sich am Begriff der Kraft. So lässt sich mit A. Robert Hall in Bezug auf das intellektuelle Einflussverhältnis von More auf Newton schlussfolgern, „that Newton, if or when he took anything from More,
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Vgl. Robert A. Greene: Henry More and Robert Boyle on the Spirit of Nature. In: Journal of the History of Ideas 23 (1962), S. 451–474, hier S. 466. 118 Jürgen Klein: Astronomie und Anthropozentrik. Die Copernicanische Wende bei John Donne, John Milton und den Cambridge Platonists. Frankfurt a.M. 1986, S. 185. 119 Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. 4 Bde., Bd. 2. Berlin 1911, S. 443. 120 Sladek: Fragmente der hermetischen Philosophie, S. 118. 121 Vgl. Isaac Newton: Mathematische Prinzipien der Naturlehre, übers. u. erl. v. Jakob Philipp Wolfers. Berlin 1872; Isaac Newton: Philosophiae naturalis principa mathematica. London 1687 und Isaac Barrow: The Usefulness of Mathematical Learning Explained and Demonstrated. London 1734. 122 Hall: Scientific Revolution. In: Hutton (Hg.): Henry More, S. 52.
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modified his borrowing to suit his own purposes and mathematical view of Nature, and thereby made it completely his own“.123 2.3.2 Die immaterielle Urmonade – zur geistigen Durchdringung der Welt An die Geschichten vom Beginn der Welt erinnernd, sei bemerkt, dass die Welt der Cambridge Platonists einen geistigen Ursprung hatte, der sich im Symbol der Monade ausdrückte. Dieses geistige, letztlich unteilbare Prinzip ist nicht nur zu Anbeginn der Welt entscheidend, es bestimmt in verschiedenerlei Form, unter verschiedenerlei Namen auch den Lauf der Welt: als plastische Natur bzw. Geist der Natur, als Entelechie, substantielle Form, Seminalform oder Seele. Hier zeigt sich, dass die Cambridge Platonists Träumer im Sinne des in der Widmung zitierten Henry Miller waren, sie haben die Kraft gefunden, das mechanistisch-materialistische Kosmosgehäuse aus den Angeln zu heben. 2.3.2.1 Cudworths geistiges Lebensprinzip und Mores ausgedehnter Geist Leben als zweites weltbestimmendes Prinzip neben der Materie definiert Cudworth mit den Prädikaten Energie und Selbstaktivität. Leben ist unkörperlich, es ist geistig. Mit geistig wird das englische intellectual wiedergegeben, das sich beispeilsweise im Titel von Cudworths Hauptwerk, dem True Intellectual System of the Universe findet und den Gegensatz zu körperlich (corporeal) bildet.124 „No one has ever stated more clearly that life must precede organization and cannot come out of it“,125 schreibt Muirhead hinsichtlich der Cudworthschen Lebensphilosophie. Dieser Betonung der Vorrangstellung des Lebens gegenüber seiner materiellen Ausformung ist zuzustimmen. Es bleibt jedoch zu fragen, ob Leben nicht auch bei Cudworth notwendig an Organisation – in Form von Organen, in Form von Seminalgründen, in Form des Prinzips der Entelechie – gekoppelt bleibt. Es ist dieses geistige Lebensprinzip, das den zentralen Platz in Cudworths Weltbeschreibung einnimmt. Das körperliche inaktive Prinzip und seine mechanische Wirkweise besitzt für ihn neben seiner Bedeutung in der damaligen zeitgenössischen naturphilosophischen Debatte, die ein Absehen vom Mechanismus unmöglich machte, v.a. dadurch Relevanz, dass es eine exaktere Beschreibung des Geistes ermöglicht. Bewusstsein, die cartesische res cogitans, ist lediglich eine der beiden möglichen Ausdrucksformen von Leben, die zweite Form ist die plastische Natur.
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Ebd., S. 52. Zum theologischen Bezug Newtons auf die Cambridge Platonists vgl. James E. Force: Sir Isaac Newton, „Gentleman of Wide Swallow“? Newton and the Latitudinarians. In: James E. Force, Richard H. Popkin (Hg.): Essays on the Context, Nature, and Influence of Isaac Newton’s Theology. Dordrecht 1990, S. 119–143. 124 Vgl. Muirhead: The Platonic Tradition, S. 33. 125 Ebd., S. 38.
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Cudworth füllt den Begriff res cogitans / „what kind of Action Cogitation is“: Phancy, Intellection, Volition, also „an Internal Energie“.126 Ferner ordnet Cudworth dem Körper den Begriff der Teilung zu, während dem Geist der Begriff der Einheit vorbehalten bleibt, weil er der Materie erst Zentrum und Ausrichtung verleiht.127 Leclerc bemerkt aber richtig, dass Cudworth mehr als diese zwei Etres kennt, in seiner Philosophie vielmehr wie auch Nehemia Grew eine Pyramide des Lebens entwickelt: Cudworth kennt verschiedene Abstufungen an Bewusstsein und Aktivität bezüglich der plastischen Naturen, kennt ferner die Seelen von Tieren, Menschen und Engeln. Diese Inkonsequenz in der Argumentation treffe allerdings in dem Punkt wieder zusammen, als beide Modelle gegen den Materialismus gerichtet und dem Bemühen geschuldet seien, zwischen diesen Substanzen zu vermitteln.128 Nichtmaterielle Substanz gilt Cudworth im Gegensatz zu More als unausgedehnt. Er schreibt: „but Life and Understanding, Soul and Mind, are Entities Really distinct from Magnitude, Figure, Site, and Motion of Parts“.129 Unter Unteilbarkeit sind nicht mathematische Punkte oder physisch kleinste Teile zu verstehen.130 Gegen den Einwand, dass das, was keinen Platz und keine Ausdehnung besitzt, auch nicht existiert, wie auch von More vertreten, argumentiert Cudworth mit Platon: „Vulgar Errour, that whatsoever doth not take up Space, and is in no Place, is Nothing“.131 Dieser Fehler rühre daher, dass dem sinnlichen Vermögen zu viel Erkenntniskraft zugeschrieben wird: „from men’s adhering too much to those Lower Faculties, of Sense and Imagination, which are able to conceive Nothing, but what is Corporeal“.132 Es gebe hingegen Vorstellungen von immateriellen Dingen, die ohne Ausdehnung sind: „Now it is certain, that we have Notions of many things which are , altogether Unimaginable, and therefore have nothing of Length, Breadth, and Thickneß in them, as Vertue, Vice &c“.133 126
Vgl. Cudworth: True Intellectual System, S. 831, vgl. auch Jean Leclerc: Article II „De l’Immaterialité de l’Ame, avec la réfutation des objections que l’on fait contre cette doctrine. Sentimens des Anciens Chrétiens, sur cette matiere. Raisons des Immaterialistes Platoniciens & Pythagoriciens, pour l’Immaterialité des Natures Intelligentes. Tiré du même Chapitre de Mr. Cudworth“. In: Ders.: Bibliothèque Choisie. Tome II comprenant les vols. 6–10 (1705–1706). Genève 1968 (Réimpression de l’édition d’Amsterdam 1703–1713), hier Vol. VIII, S. 233– 249, S. 43–106 , S. 247/98, der „internal energy“ mit „l’activité interieure“ übersetzt. 127 Vgl. Cudworth: True Intellectual System, S. 832 und Leclerc: Article II. Vol. VIII. Tome II, S. 247/101. Anmerkung der Verfasserin: Die erste Seitenangabe bezieht sich auf die Zählung des Neudrucks, die zweite Zahl auf die Zählung der Originalausgabe, wobei je vier Originalseiten auf einer Reprintseite Platz finden. 128 Vgl. Leclerc: Article II. Vol. VIII. Tome II, S. 248/102–249/106. Zu Grew vgl. Kap. Zwei dieser Arbeit. 129 Cudworth: True Intellectual System, S. 824; Leclerc: Article II. Vol. VIII. Tome II, S. 244/86: „la Vie & l’Intelligence sont des Etres réels“. 130 Ebd., S. 777; Leclerc: Article II. Vol. VIII. Tome II, S. 233/43. 131 Ebd., S. 779. 132 Ebd. 133 Ebd., S. 827; Leclerc: Article II. Vol. VIII. Tome II, S. 245/92: „comme la Vertu & le Vie“.
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Bei More ist der Geist wie die Materie ausgedehnt. More schlägt auch ihm das definierende Attribut der cartesischen res extensa zu. Wie gelingt es ihm dennoch, eine Verstofflichung des Geistprinzips zu vermeiden und darüber hinaus die Unterscheidung zwischen Geist und Materie aufrecht zu erhalten? „By incorporeal substances I understand spirits properly expressed, or substances in themselves entirely immaterial, and their affections or properties.“134 Geist charakterisiert More als eines der zwei grundlegenden metaphysischen Prinzipien der Welt mit den Attributen selbstdurchdringend (self-penetration), selbstbeweglich (self-motion), selbstwidersprechend (self-contradiction), ausgedehnt (dilation) und unteilbar (indivisibibility).135 Der Geist kann außerdem die Materie durchdringen, sie bewegen und verändern. Im Verhältnis zum Körper charakterisiert More den Geist als von größerer Perfektion: „a spirit is a notion of more Perfection then a Body“.136 Mores ausgedehnter Geist hat die Fähigkeit sich räumlich zusammenzuziehen. Der Geist verliert dabei weder an Ausdehnung noch an Qualität. Seine verminderte Räumlichkeit wird durch die Erhöhung von Wesensdichte, die More als essential spissitude bezeichnet, ausgeglichen.137 „And as what was lost in Longitude was gotten in Latitude or Profundity before; so what is lost here in all or any two of the dimensions, is kept safe in Essential Spißitude: For so I will call this Mode or Property of a Substance, that is able to receive one part of it self into another.“138 Spissitude definiert More als „the redoubling or contracting of Substance into less space then it does sometimes occupy“.139 More beschreibt dieses Zusammenziehen als „fourth Mode“, für sein Verständnis genauso einfach und vertraut wie die drei Dimensionen seinen Sinnen sind.140 Diesen kühnen Begriff habe More eingeführt, als Antwort auf die „Raumnot der Geisterwelt“,141 urteilt Wilhelm Oberdieck. Auch Sladek verteidigt More gegen den Vorwurf, dem dreidimensionalen euklidischen Raum der physischen Welt eine Geisterwelt entgegengesetzt zu haben, die unnötigerweise vierdimensional angelegt ist.142 Mit fourth mode habe More keine neue Raumrichtung einführen wollen, sondern habe „eine Massenverdichtung im Sinne des alchemistischen, sich materi-
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More: An Antidote, S. 3. Vgl. ebd., S. 15. Ebd., S. 16. 137 Vgl. More: Enchiridion Metaphysicum, S. 320. 138 More: The Immortality of the Soul, S. 20. 139 Ebd. 140 Vgl. ebd. 141 Wilhelm Oberdieck: Henry More und die Frage nach Gott im siebzehnten Jahrhundert. Göttingen 1985, S. 77. 142 So interpretiert beispielsweise von Robert Zimmermann: Henry More und die vierte Dimension des Raumes. In: Sitzungsberichte der Kaierlichen Akademie in Wien. Philosophisch-historische Klasse. Bd. XCVIII. o.O. 1881, S. 439. 142 More: The Immortality of the Soul, S. 20.
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alisierenden Äthers“143 im Blick gehabt. Dabei bleibt jedoch zu bedenken, dass es More bei der Figur der spissitude nicht um eine Materialisierung des Geistes gegangen ist. Verständlicher wird Mores Gedankenexperiment, wenn man sich vorstellt, wie der Geist beim Lernen wächst, ohne dafür mehr Raum einnehmen zu müssen. Essential spissitude bezeichnet dann den Unterschied des In-der-WeltSeins von Körper und Geist, auch wenn beide als räumlich ausgedehnt beschrieben werden. 2.3.2.2 Cudworths plastische Natur Cudworth kennt verschiedene Formen, in denen das Leben Ausprägung findet. Zentrales Lebensprinzip ist die plastische Natur. Es handelt sich dabei um ein inneres Lebensprinzip: „as an internal and vital power working immediately upon the passive matter which contains it“.144 Sie ist keine äußere Kraft in einer rein mechanisch-mathematischen Welt, sondern eine interne Wirkmacht, die einer Finalstruktur unterliegt. Die plastic nature wird von Cudworth als mittelnde Instanz bestimmt, ohne Bewusstsein, aber nicht ohne Geist. Mithilfe dieses Begriffs lassen sich Cudworth zufolge Phänomene wie Schlaf genauso wie unbewusste Seelenteile und die Tier- und Pflanzenwelt als lebendig verstehen.145 So kommt nicht allein dem bewussten Denken eine lebendige Wirkmacht zu, auch unbewusste, organische Regungen werden bei Cudworth mit dem Begriff der plastischen Natur schon als lebendig verstanden und zu beschreiben versucht. Die plastische Natur sollte das von Descartes geerbte Problem lösen, dass es zwischen zwei verschiedenen Substanzen, weil sie sich qualitativ voneinander unterscheiden, keinen direkten Einfluss aufeinander geben kann. Die cartesische Theorie der okkasionellen Ursachen kann nicht befriedigen, sucht man nach einer einfachen, einmaligen Lösung, die das Problem nicht bei jeder Bewegung, bei jeder Seelenregung neu stellt. „Cudworth, nevertheless, assumed a reciprocal influence of one substance upon the other in the intermediary sphere of the lower energies of soul“,146 konstatiert Gysi. Dieser paradoxe Sachverhalt ist im Folgenden genauer zu fassen, dabei soll der Grund für die Einführung dieses Prinzips näher erhellt werden, Cudworths Argumentationsstrategie zu Gunsten dieses Prinzips und die Stellung der plastischen Natur zwischen Naturgesetz und Weltseele nachgezeichnet werden. In der Naturphilosophie der Antike fand Cudworth vielfältige Inspiration für die Annahme eines plastischen Naturprinzips. Cudworth stützt sich dabei auf so unter143 144
Sladek: Fragmente der hermetischen Philosophie, S. 123. William B. Hunter: The Seventeenth Century Doctrine of plastic nature. In: Harvard Theological Review XLIII/3 (1950) S. 197–213, hier S. 203 145 „Cudworth sees the decisive mistake of Descartes in that he reduced the substance Cogitation to self-consciousness“ (vgl. ebd., S. 160; vgl. Gysi: Platonism, S. 18). 146 Gysi: Platonism, S. 18.
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schiedliche Autoritäten wie Aristoteles, Plotin und die Stoa. Cudworths Kompilationsstrategie, die er auch zugunsten des plastischen Naturprinzips anwendet, beschreibt Sarah Hutton: To marshal such a diversity of authorities in a single cause is only possible by focusing on apparent similarities within their philosophies, parallels which are observed in isolation from the rest of an individual philosopher’s corpus, and achievable only with homogenised reading of the extracts employed.147
Die plastische Natur als Prinzip gegen den Atheismus „In Abwehr eines atheistischen oder cartesischen Mechaniszismus wird hier der Kosmos von innen heraus mit Leben erfüllt und Gott angenähert“,148 fasst Grossklaus das Cudworthsche naturphilosophische Projekt zusammen. Allerdings kann man Cudworth zufolge auch in atheistisches Fahrwasser geraten, wenn man den Körpern ein über mechanische Bewegung hinausgehendes Leben zugesteht. Allein durch die Annahme einer plastischen Natur gelingt noch kein wahres Verständnis von der Beschaffenheit der Welt. Die plastische Natur muss als dem Leben zugehörig verstanden werden, sie ist somit vom Körper unabhängig und nicht mit ihm identisch. Descartes Methode der Zweiteilung der Welt ist Cudworth beinahe heilig. Andernfalls wird kein Gegenpol zum Körper gedacht, sondern der Körper vereinnahmt sogar die Eigenschaften, die eigentlich den Geist charakterisieren sollten. Diese Form des Atheismus’, der nur Körper, wenn auch lebendige Körper kennt, nennt Cudworth Hylozoismus und schreibt ihn Strato zu.149 Für den Hylozoismus ist die ganze Welt Körper. Leben und Materie werden als zwei inadäquate Konzeptionen ein und derselben Substanz verstanden, nämlich der des Körpers. Alle Teile dieser Materie sind in der Lage, sich selbst zu formen „artificially and methodically“,150 womit der Hylozoismus eine bestimmte Form plastischen Lebens zugesteht, die natürlich nur die Materie betrifft, da kein Geist oder eine unkörperliche Substanz zugelassen werden. So ist auch kein Bewusstsein vorhanden und es bleibt „indeed nothing but a Dull and Drowsie, Plastick and Spermatick life“.151 Cudworth bezeichnet diese Art von Materie als „a piece of very mysterious Non-sense“,152 da hier von etwas gesprochen wird, dass unvereinbare Eigenschaften in sich trägt: „a thing perfectly wise, without any knowledge or consciousness of it self“.153
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Hutton: Classicism, S. 221. Grossklaus: Natürliche Religion, S. 131. Cudworth: True Intellectual System, S. 131. Ebd., S. 105. Ebd., S. 106. Ebd. Ebd.
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Trotz dieser harschen Kritik an der Konzeption einer plastischen Natur glaubt Cudworth sie durch die Kombination mit dem ihr entgegengesetzten Konzept des Atomismus, das für sich genommen ebenfalls die Gefahr des Atheismus birgt, aus dem atheistischen Kontext in einen christlichen überführen zu können: and I must confess, it seems to me no way mis-becoming of a Theist, to acknowledge such a Nature or Principle in the Universe, as may act according to Rule and Method for the Sake of Ends, and in order to the Best, though it self do not understand the reason of what it doth; this being still supposed to act dependently upon a higher Intellectual Principle, and to have been first set at work and employed by it, it being otherwise Non-sense.154
Cudworth macht das einst blinde Prinzip zu Gottes Instrument, zwar immer noch blind und ohne Bewusstsein, aber durch eine höhere, die höchste Macht geführt und bestimmt. So entsteht ein Abstand zwischen Gott und Welt, den die plastische Natur vermittelt und überbrückt, indem sie als geistiges, von Gott bestimmtes Prinzip die Welt durchdringt und organisiert. Die Welt bleibt zwar göttlich durchdrungen, aber Gott fällt nicht mit der Welt in eins und kann in idealem Abstand zu ihr, sowohl in ihr als auch außer ihr sein. „Gott kann bei Cudworth alles in allem sein, ohne andererseits zum Sklaven seines von ihm selbst geschaffenen Weltmechanismus zu werden“,155 folgert Grossklaus. Optimaler könnte der Abstand zwischen Welt und Gott nicht sein. Gott in der Welt Cudworth versucht weniger, die Stärken eines plastischen Prinzips zu verteidigen, seine Argumentationsstrategie lässt sich viel mehr als ein Beweis durch den Ausschluss aller anderen Möglichkeiten beschreiben: Gegen das Gegenteil argumentierend, indem er zu zeigen versucht, dass eine Welt ohne plastische Natur nicht als gut denkbar wäre. Eine solche Welt könnte man sich entweder als gottlos vorstellen, was gar nicht notwendigerweise hieße, dass es keinen Gott gäbe. Er wäre nur so weit von der Welt entfernt, hätte sich soweit aus ihr herausgezogen, dass seine Präsenz in der Welt nicht mehr spürbar wäre. In einem solchen, beispielsweise rein mechanischen Weltbild, einer Weltmaschine, bei der Gott zwar Konstrukteur gewesen wäre und den Startknopf gedrückt hätte, könnte Gott, während die Welt besteht, nur ein selbstgefälliger Zuschauer sein, ein „Idle Spectator“.156 Der Kosmos als Maschine wäre leblos und ohne Magie, „neither vital nor magical at all in it“.157 Eine Welt ohne Gott könnte, wäre sie nicht mechanisch strukturiert, nur eine bloß zufällige sein. Zufall ist wie der Mechanismus sinnlos und darüber hinaus auch geistlos, weil nicht intelligibel. „Every thing comes to pass Fortuitously, and 154 155 156 157
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Ebd., S. 109. Grossklaus: Natürliche Religion, S. 130. Cudworth: True Intellectual System, S. 148. Ebd.
happens to be as it is, without the Guidance and Direction of any Mind or Understanding“,158 schreibt Cudworth. Als einzige denkmögliche Alternative zu einer Welt ohne Gott skizziert Cudworth eine Welt, in der Gott alles selbst schafft. Und zwar nicht einmal und generell, sondern alles einzeln und immer wieder: „that God himself doth all Immediately, and as it were with his own Hands, Form the Body of every Gnat and Fly, Insect and Mite, as of other Animals in Generations“.159 Dieses Weltbild würde zwar nicht der Allmacht Gottes widersprechen, scheint ihm aber in der Perspektive des 17. Jahrhunderts auch nicht angemessen. Es war eines Gottes unwürdig, sich um solche Details kümmern zu müssen. Gleichzeitig wäre es keine rationale Lösung für den Lauf der Welt und schon deshalb einem Gott nicht würdig. Außerdem hätte es zur Folge, dass Gott so sehr mit der Routine der Welt befasst wäre, dass es einer Selbstaufgabe an die Welt gleichkäme.160 Gott ist durch die plastische Natur von der Verantwortung für den alltäglichen Lauf der Welt entbunden, er ist somit frei, Wunder zu wirken oder zu lassen. Im Kontext seiner Auseinandersetzung mit der antiken Transmigrationsvorstellung konstatiert Cudworth allerdings, dass wir durch die Offenbarung der Bibel wüssten, dass Gott die Seelen spontan und aus dem Nichts schaffe.161 Gott behält so seinen „Creative Vigour“ / „Creative Power“162 bei und ist nicht nur Zuschauer. Die Seele verschwinde auch nicht wieder ins Nichts, „notwithstanding their Juniority“.163 Für die Welt bedeutet dies ewige Jugend. Bringt doch so jeder Mensch etwas ganz Neues, Einzigartiges in die Welt, sieht die Welt zum ersten Mal. Den Antiken erschien es hingegen ebenso unwürdig für Gott, jede Generation von Menschen neu zu schaffen, ein Argument das Cudworth nur noch hinsichtlich der Fliegen gelten lässt: Der Mensch hält sich mittlerweile für bedeutender. Die Seele der Welt Cudworth zeichnet ein neuplatonisch inspiriertes Bild der plastischen, sich selbst gestaltenden Natur. Mit diesem weltseelenartigen Prinzip der Selbstgestaltung grenzt sich Cudworth insbesondere gegen den mechanischen Atheismus eines Hobbes ab.164 Hobbes steht dabei stellvertretend für einen Grundzug des neuzeitlichen Denkens, das Cudworth zufolge die lebendigen Erscheinungen aufzulösen versuche und
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Ebd., S. 147. Ebd. „Minds in the seventeenth century found it unworthy of their idea of the Almighty that he should constantly extent himself in such unimportant details“ (vgl. Hunter: The Seventeenth Century Doctrine, S. 202). 161 Vgl. Cudworth: True Intellectual System, S. 43. 162 Ebd., S. 44. 163 Ebd. 164 Vgl. ebd., S. 146.
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durch den wissenschaftlichen Zugriff die Natur in mechanische Gesetze zwinge. Cudworth hält hingegen daran fest, dass es in der Natur etwas gibt, das sich nicht auf mechanische Bewegung reduzieren lässt. So setzt er den mechanischen Bewegungen von Ventilen und Klappen des Herzen, die der Leviathan beschreibt,165 die organischen Bewegungen des fühlenden Herzens und ihre finale Kausalität entgegen. Dieser Gegensatz korrespondiert mit dem verschlossenen Herzen eines mechanischen Gottes, der nur ein unbeteiligter Zuschauer sein kann, auf der einen Seite und mit dem weiten Herzen eines Gottes auf der anderen, wie ihn Cudworth aus der orphischen Tradition übernimmt und der sich in den Signaturen der Dinge offenbart.166 Die plastische Natur wird zur sinnstiftenden Interpretation des göttlichen Es werde!, die Cudworth nicht in eine mechanistische Anstoßmetapher abgleiten lässt: As also, though it be true that the Works of nature are dispensed by a Divine Law and Command, yet this is not to be understood in a Vulgar Sense, as if they were all effected by the mere Force of a Verbal Law or Outward Command, because Inanimate things are not Commandeable or Governable by such a Law; and therefore besides the Divine Will and Pleasure, there must needs be some other Immediate Agent and Executiouer provided, for the producing of every Effect.167
Cudworth klassifiziert die plastische Natur als göttlichen Ektyp, „which though it act exactly according to its Archetype, yet it doth not at all Comprehend nor Understand the Reason of what it self doth“.168 Damit ist das hierarchische Abhängigkeitsverhältnis der plastischen Natur von Gott im Sinne neuplatonischer Emanationsmuster beschrieben.169 Die plastische Natur ist der göttliche Code der Welt „a living Stamp or Signature of the Divine Wisdom“,170 ihr lebendiger Bauplan. Die plastische Natur ist göttliches Naturgesetz, das in seiner Lebendigkeit fern ab von der damals gebräuchlichen und populären Maschinenmetaphorik liegt.171 Als allgemeines Lebensprinzip organisiert und formiert die plastische Natur die Welt, sie belebt sie von innen her, anstatt der Materie von außen ein ihr fremdes Naturgesetz aufzudrücken.
165
Vgl. Thomas Hobbes: Leviathan (1651). Revised student edition. Hg. v. Richard Tuck. Cambridge 1997, S. 14. 166 Vgl. Baum: Selbstgefühl, S. 115f. 167 Cudworth: True Intellectual System, S. 147. 168 Ebd., S. 155. Die logischen Schwierigkeiten, die in der plastischen Natur liegen und sich gerade aus dem Moment der Blindheit gekoppelt mit gleichzeitiger Verantwortlichkeit speisen, werden im nächsten Kapitel im Hinblick auf Bayles Kritik an diesem Konzept zu Sprache kommen, diskutiert und abschließend anhand des Mosheimschen Kommentars reflektiert. 169 Vgl. Alain Petit: Ralph Cudworth, un platonisme paradoxal. La Nature dans la Digression concerning the Platistick Life of Nature. In: Graham Alan John Rogers: The Cambridge Platonists in Philosophical Context. Politics, Metaphysics and Religion. Dordrecht 1997, S. 101–110. 170 Cudworth: True Intellectual System, S. 155. 171 Zur Herausbildung des Begriffs des Naturgesetzes in den sich erst konstituierenden Naturwissenschaften und der Stellung der plastischen Natur zu diesem Kontext vgl. Lutz Bergemann: Naturgesetz, Magie und Liebe: Neuplatonische Transformationen vorsokratischer Philosophie bei Ralph Cudworth (noch nicht veröffentlicht).
46
Es existiert somit keine tote Materie mehr in diesem lebendigen Organismus des Universums. So bedeutete, nach antiken Sprachgebrauch Cudworth zufolge, die Welt als Tier zu beschreiben, „the World’s Animation“,172 es als Metapher für die Lebendigkeit der Welt zu verstehen. Cudworth gibt sich jedoch nicht mit einem generellen, diffusen plastischen Prinzip zufrieden, wie es die neuplatonische anima mundi beschreibt. Er nimmt einzelne plastische Naturen für Pflanzen und Tiere an. Die plastische Natur dieser einzelnen Lebewesen ist weniger als ihr Instinkt oder ihre Seele, sie ist ein organisches Ordnungs-, Lebens-, Wachstums- und Entwicklungsprinzip, „a purely motive organic principle“.173 Die plastische Natur der Tiere und Pflanzen wird in Form der aristotelischen Entelechie beschrieben.174 Sie ist die causa finalis, die den zu verwirklichenden Zweck, das Ziel eines jeden Lebewesens bestimmt und so seine Entwicklung in die Zukunft hinein zieht, Gunnar Aspelin schreibt deshalb von einer „immant finality in matter“175 bei Cudworth. Sie kann besonders in Bezug auf Pflanzen mit der causa formalis, die die zu verwirklichende Form beschreibt, zusammenfallen. Auf makrokosmischer Ebene sind diese in sich geordneten Mikrokosmen in der Weltseele rückgebunden, die sie in harmonische Verhältnisse setzt und die Vereinzelung der verschiedenen plastischen Naturen in einem Gesamtzusammenhang aufhebt. So formuliert Cudworth: Besides this Plastick Nature which is in Animals, forming their several Bodies Artificially, as so many Microcosms or Little Worlds, there must be also a general Plastick Nature in the Macrocosm the whole corporeal Universe, that which maks all things thus to conspire every where, and agree together into one harmony.176
Tulloch sieht in Cudworths plastischer Natur, trotz einiger Unterschiede, die Neuformulierung des alten Traums einer Weltseele.177 Cudworth denkt eine Weltseele, die sich dessen bedient, was zu seiner Zeit als Naturgesetze neu formuliert wurde, aber sich nicht auf diese beschränken lässt und ein Mehr an Freiheit und damit Verantwortung genießt. 2.3.2.3 Mores Geist der Natur More entwickelte mit dem spirit of nature ein Prinzip analog zu Cudworths plastic nature. Zudem findet sich das Wort plastick in dem hier verwendeten Sinn von gestaltend, organisierend und belebend zuerst in Henry Mores Psychozoia von 172 173 174 175 176 177
Cudworth: True Intellectual System, S. 462. Tulloch: Rational Theology, S. 272. Vgl. Cudworth: True Intellectual System, S. 167. Aspelin: Greek Philosophy, S. 13. Cudworth: True Intellectual System, S. 167. Vgl. Tulloch: Rational Theology, S. 272.
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1642, aber noch nicht in Verbindung mit Natur. Hier wird plastick might als Attribut des Äthers verwendet.178 In der Schrift zur Unsterblichkeit der Seele charakterisiert More den spirit of nature mit dem Attribut des plastischen: A Substance incorporeal, but without Sense and Animadversion, pervading the whole Matter of the Universe, and exercising a Plastical power therein according to the sundry predispositions and occasions in the parts it works upon, raising such Phaenomena in the World, by directing the parts of Matter and their Motion, as cannot be resolved into mere Mechanical powers.179
Der spirit of nature verkörpert die kosmologische Dimension von Mores Konzept einer geistdurchfluteten Welt.180 Im Vorwort zur Sammlung seiner philosophischen Schriften beschreibt More den Geist der Natur: „it being the natural Transcript of that which is knowing or perceptive, and is the lowest Substantial Activity from the all-wise God, containing in it certain generall Modes and Laws of Nature for the good of the the Universe“.181 Nach 1668 kann für More kein Phänomen mehr rein mechanisch erklärt werden, jede mechanische Erklärung bedarf nun zwingend der Zuhilfenahme des spirit of nature.182 Der Bruch mit dem einst verehrten Descartes, dessen Bekanntheit in England wesentlich auf More zurückzuführen ist,183 wird im Laufe von Mores intellektuellem Werdegang immer deutlicher und macht sich v.a. an der Suprematie des Geistprinzips in der Moreschen Philosophie auf Kosten des mechanischen Prinzips fest.184 Dem spirit of nature wird zugemutet, die Folgen der Descartesschen Philosophie zu überwinden, da hinter sie nicht zurückgetreten werden kann. In diesem Sinn schreibt Worthington 1667 an More: And seeing they will never return to the old Philosophy, in fashion when we were young scholars, there will be no way to take them of from idolizing the French Philosophy, and hurting
178
Vgl. Henry More: Psychozoia OR The first part of the Song of the Soul, containing A Christiano-Platonicall display of LIFE. In: Ders: Philosophicall POEMS. Cambridge 1647, S. 5 (I, 15): „AEther’s the vehicle touch, smell, sight, / Of tast, and hearing too, and of the plastick might“. Zuerst ist More 1642 als Poet in Erscheinung getreten mit Psychozoia Platonica […], das 1647 unter dem Titel Philosophical Poems erneut veröffentlicht wurde. Das Werk zeigt, wie More in Plato und Plotin den Schlüssel zu Trimegistus und der Chaldäischer Weisheit gefunden hat. 179 More: The Immortality of the Soul, S. 193. 180 Vgl. John Hoyles: The Waning of the Renaissance 1640–1740. Studies in the thought and poetry of Henry More, John Norris and Isaac Watts. The Hague 1971, S. 21. 181 More: General Preface, S. xvi. 182 Vgl. Henry More: Dialogi Divini. In: Ders.: Omnia Opera. Bd. II,1. Hildesheim 1966, S. 639. 183 More war einer der ersten, der Descartes’ Philosophie in England emphatisch zu verbreiten begann, so beispielsweise in den Gedichten Psychodia Platonica von 1642 und Democritus Platonissans von 1647, die den Leser auch mit den Gedanken von Kopernikus und Galilei vertraut machten (vgl. Marjorie Nicolson: The Early Stage of Cartesianism in England. In: Studies in Philology 26 [1929], S. 356–74). 184 Vgl. John Cottingham: Force, Motion and Causality: More’s Critique of Descartes. In: Rogers: Context, S. 159–171.
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themselves and others by some principles there, but by putting into their hands another Body of Natural Philosophy, which is like to be the most effectual antidote.185
Für More gibt es vier Arten von Geistern, die die Pyramide des Lebens in Hinblick auf Bewußtsein oberhalb der Ebene des spirit of nature organisieren. Erstens die Seminalform, sie organisiert die Materie entsprechend der verschiedenen Pflanzenarten. Zweitens gibt es die Tierseelen, die sich vom bloßen Vegetieren der Pflanzen durch die Wahrnehmung abheben. Der dritte Typ Geist setzt sich zusammen aus Vegetation, Wahrnehmung und Vernunft. Sie ergeben zusammen die menschliche Seele. Die vierte Geistform ist die Seele der Engel. Sie kann nicht in einen weltlichen Körper hineingeboren werden, sondern ist mit einem himmlischen Körper verbunden.186 Außerdem ist die Welt von verschiedensten Geistern nur so durchdrungen, so gibt es beispielsweise die Luftgeister, die uns beobachten, von uns aber nicht wahrgenommen werden können.187 Dieser planvolle Aufbau der Natur ist für More nicht mechanisch zu erklären. Allerdings fällt ins Auge, dass der spirit of nature v.a. als negativ bestimmtes Prinzip erscheint. Greene spricht in diesem Zusammenhang von einem deus ex machina, der zur Erklärung all derjenigen Phänomene herhalten muss, für die keine mechanistische Erklärung gefunden werden kann.188 Paradoxerweise besitzt der spirit of nature gleichzeitig die Funktion eines Naturgesetzes, wie in der Einleitung zur Sammlung der philosophischen Schriften bemerkt wird. Damit kommt dem spirit of nature eine zweifache Beschreibung zu, einerseits ist er Naturgesetz, andererseits nicht an Naturgesetzmäßigkeiten gebunden. Eine Beschreibung, die auf den ersten Blick widersprüchlich erscheint und von Greene als Inkonsistenz bezeichnet wird, die jedoch im Über-Rationalen, Trans-Mechanischen, Lebendigen ihren Ort hat. Der spirit of nature ist im Sinne der neuplatonischen anima mundi das umfassendste geistige Prinzip in der Welt, an einigen Stellen seines Werkes nennt More selbst den Geist der Natur „universal soul of the world“.189 Angelegt findet sich die Idee des spirit of nature schon in Mores philosophischen Gedichten der 1640er Jahre ausformuliert, dann in The Immortality of the Soul und naturphilosophisch bearbeitet in den Divine Dialogues (1668) und im Enchiridion Metaphysicum (1671).
185
Richard C. Christie (Hg.): The Diary and Correspondence of Dr. John Worthington. London 1886, S. 254. 186 Vgl. More: The Immortality, S. 34. 187 Vgl. ebd., S. 162. 188 Vgl. Greene: Henry More, S. 460 u. S. 461. 189 More: The Immortality of the Soul, S. 199.
49
2.3.2.4 Naturwissenschaftliche Implikationen des spirit of nature Die Idee einer neuplatonischen Weltseele ist im Spätmittelalter weit verbreitet, Mores Hauptanliegen war ihre Reinterpretation, um ihr einen besseren Stand im Strom der neuen naturwissenschaftlichen Weltbeschreibungen zu verschaffen.190 Der von More beschriebene lebendige Aufbau der Welt spiegelt wider, dass der spirit of nature v.a. dazu herangezogen wurde, die biologischen Funktionen der Lebewesen beschreiben zu können. Allerdings begnügt sich More nicht mit dieser Applikation des spirit of nature. Er zieht ihn gleichsam heran, um die physikalische Dimension der Welt zu erklären. „It was Henry More, […] who first transferred the discussion of the Spirit of Nature from the realm of metaphysical theory and logical analysis into the area of phyics“,191 konstatiert Green. Der spirit of nature zeigte sich More zufolge in allen umfassenderen astronomischen und physikalischen Naturphänomenen wie beispielsweise Ebbe und Flut. Hinweise für das unkörperliche Bewegungsprinzip der Natur sieht More in der materiellen Welt z.B. in sympathetischen Schmerzen,192 in der Schwerkraft193 und den Instinkten.194 Daraus entsteht die merkwürdige Situation, dass More versucht, immaterielles, geistiges Sein auf der Basis von naturwissenschaftlichen Beobachtungen und Experimenten im Bereich der Physik zu beweisen. Robert Boyle, dessen wissenschaftliche Experimente zur Hydrostatik More im 12. und 13. Kapitel des Enchiridicum Metaphysicum zum Beweis des spirit of nature benutzte, erhob gegen ein solches Vorgehen allerdings starke Einwände.195 Henry More, an Hexen und Geister glaubend und gleichzeitig Mitglied der Royal Society, befand sich in einem spannungsvollen Verhältnis zur Methodik der sich etablierenden Naturwissenschaften. Sein naturphilosophisches Fragen ist von Anfang an metaphysisch geprägt. So sind Antworten für ihn auch nicht in Experimenten zu finden, sondern im axiomatischen, quasimathematischen Denken. Die mechanistische Betrachtungsweise der Welt, der More bis zu einem gewissen Grad anhing, ging allerdings mit der Etablierung bestimmter Betrachtungs- und Untersuchungsmethoden einher, denen More befremdet gegenüberstand. Dazu zählen das Experiment als Erkenntnisquelle, die mathematische Formulierung als Beschreibungsmittel und die mathematische Deduktion als Wegweiser zu neuen, durch
190 191 192 193 194 195
50
Vgl. Burtt: The Metaphysical Foundation, S. 133f. Greene: Henry More, S. 451. Vgl. More: The Immortality, S. 193. Vgl. ebd., S. 196. Vgl. ebd., S. 200. Vgl. Robert Boyles Hydrostratical Discourse. Hier antwortet Boyle auf Mores Verwendung seiner Experimente, die Boyle in The Usefulness of Natural Philosophy (1663) beschrieben hatte (vgl. Crocker, S. 9 u. John Henry: Henry More versus Robert Boyle. The Spirit of Nature and the Nature of Providence. In: Sarah Hutton [Hg.]: Henry More [1614–1687]. Tercentenary Studies. Dordrecht 1990, S. 55–76, hier S. 59).
Experimente kontrollierbaren Erscheinungen.196 „Robert Boyle maintained that proper natural philosophical knowledge should be generated through experiment and that the foundations of such knowledge were to be constituted by experimentally produced matters of facts“,197 heißt es bei Shapin und Schaffer in Bezug auf Boyle, einem der wegweisenden Naturwissenschafter der frühen Royal Society. Boyles pneumatische Experimente gelten als paradigmatisch für die Entstehung und Durchsetzung der experimentellen Naturwissenschaft. So wurde auch Boyles naturwissenschaftliches Forschungsprogramm von der Royal Society enthusiastisch aufgenommen. Henry Mores öffentliche Kontroverse mit seinem Freund Robert Boyle zeigt „the metaphysian’s unease with empirical experimentalism“.198 More und Boyle vertraten unterschiedliche Theorien über die Beschaffenheit von Materie. Mores stricktem Dualismus, der die träge Materie durch ein geistiges Prinzip bewegt sah, setzte Boyle entgegen, dass Gott gleichwohl die Materie mit Bewegung und bestimmten Prinzipien ausstatten könne.199 Für Boyle ist eine mechanisch verfasste Welt Zeichen der Allmacht Gottes. Die mechanisch nicht zu erklärende Schwerkraft gilt Boyle als eine mechanical affection, die zwar nicht erklärbar sei, aber von Gott der Materie beigelegt wurde.200 More beharrt hingegen darauf, dass es in der Natur Kräfte gebe, die sich nicht mechanisch herleiten lassen. „As how the Fire ascend upward, or a stone fall downwards, for neither are the motions of these meerly Mechanical, but vital or Magicall, that cannot be resolved into meer Matter.“201 Naturwissenschaft ist für More nicht ohne eine metaphysische Grundlegung denkbar. Experimentelle Ergebnisse können nicht mehr sein als „subsidary physical arguments or ‚proofs‘ supporting more significant metaphysical principles“.202 Der platonischen Tradition anhängend sind für More die Phänomene zweitrangig, sein metaphysischer Ansatz zielt auf die unkörperlichen Substanzen. „Metaphysics is the art of correctly contemplating incorporal substances insofar as they are re-
196
Vgl. Dijksterhuis: Mechanisierung des Weltbildes, S. 1. More und Cudworth standen der Mathematik sehr aufgeschlossen gegenüber. Nur betrieben sie sie im pythagoreischen Sinn, der mit den naturwissenschaftlichen Beschreibungsverfahren nicht in eins zu bringen war. 197 Steven Shapin, Simon Schaffer: Leviathan and the air-pump. Hobbes, Boyle and the experimental life. Princeton 1985, S. 22. 198 Hutton (Hg.): Henry More (1614–1687). Tercentenary Studies. Dordrecht 1990, S. X. 199 Vgl. Henry: Henry More. In: Hutton: Henry More, S. 56. An dieser Stelle zeigt sich erneut, die enge Verzahnung von Welt- und Gottesbild. Boyle hängt einem voluntaristischen Gott an, während Mores Gott an das Attribut der Vernunft gebunden ist und keine Wahl hatte, als die Welt entsprechend der Natur der Dinge zu schaffen. Vgl. zu Boyles Voluntarismus: Robert Boyle: Considerations about the Reconcileableness of Reason and Religion (1675). Die schärfste Attacke gegen Mores spirit of nature als einem anderen geistigen Prinzip neben Gott findet sich in Boyles Free Enquiry into the Vulgarly Received Notion of Nature von 1686. 200 Vgl. Henry: Henry More. In: Hutton: Henry More, S. 61. 201 More: Divine Dialogues I: 34,39. 202 Crocker: Henry More, S. 4.
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vealed in our faculties by the light of nature. Thus, metaphysics is, as it were, natural theology.“203 Jedoch bleibt die Welt für More von Belang, physikotheologisch betrachtet lässt sie Rückschlüsse auf ihren Schöpfer zu. „From the more accurate knowledge of nature or the world we emerge into a sufficiently clear knowledge of God and other incorporeal substances.“204 Es bleibt deutlich, dass bei aller Weltzugewandtheit nicht die körperlich-physikalische Welt von Interesse ist, sondern das, was die Welt als ihre geistigen Prinzipien durchwaltet. So widmet sich More ausgiebig den Hexen und Dämonen, ihre Verbindung zur Geisterwelt gilt ihm als Argument für die Existenz von unkörperlichen Substanzen.205 Unterstützt von Joseph Glanvill betrieb er in dieser Hinsicht durchaus umfangreiche empirische Forschungen. Besonders deutlich findet sich diese Zurückhaltung gegenüber einer sich über Experimente vollziehenden Erkenntnis in Bathynous’ Traum wieder und drückt sich ebenso in seiner Äußerung aus, dass die Baconianer blinde Maulwürfe seien, wenn sie nach brauchbaren Experimenten suchen, um die Natur zu entschlüsseln.206 Diese vehemente, emotional gefärbte Haltung zur Stellung und Aussagekraft von Experimenten macht deutlich, dass die neuen, sich etablierenden Untersuchungsmethoden eine grundsätzlich andere Weltsicht bereithalten.207 A. Rupert Hall macht auf die andere Seite der Medaille aufmerksam. Nicht nur dachte More a priori von der Metaphysik her und maß naturwissenschaftlichen Experimenten geringere Bedeutung bei, nützlich als farbenreiche Beispiele a posteriori zur Untermalung schon gefundener Wahrheiten. Zugleich war es um seine Kompetenz in Bezug auf das Verständnis von experimenteller Wissenschaft dürftig bestellt. As regards his own competence to dispute with them on their own specialist ground, More was simply mistaken. Natural philosophy was becoming increasingly mathematical and experimental in the seventeenth century; More possessed neither mathematical nor experimental abilities.208
203 204 205 206
Jacob: More, S. 1. Ebd., S. 1. Vgl. More: An Antidote, S. 90ff. Vgl. More: Divine Dialogues, S. 247–253 und A. Rupert Hall: Henry More and the scientific revolution. In: Hutton (Hg.): Henry More, S. 37–54, hier S. 41. 207 Vgl. „Durch das alles ist die Mechanisierung der Physik viel mehr als eine interne methodische Angelegenheit der Naturwissenschaft geworden; sie geht die Kulturgeschichte als Ganzes an und verdient daher auch außerhalb des Kreises der Naturforscher Aufmerksamkeit“. Dijksterhuis: Mechanisierung des Weltbildes, S. 1. Andererseits macht Arthur O. Lovejoy darauf aufmerksam, dass nicht nur die Erkenntnisse und methodischen Neuerungen der Physik das Denken herausgefordert und beeinflusst haben, sondern geht soweit den Einfluss „of those originally Platonistic metaphysical preconceptions“ als bedeutender für den Wechsel zur modernen Kosmologie zu werten als die kopernikanische Hypothese (Arthur O. Lovejoy: The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea. Cambridge, Mass. 1957, S. 99). 208 Hall: Henry More, S. 6.
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More und Cudworth setzten dem experimentellen Forschen ein axiomatisches, deduktives Denken entgegen. Besonders prägnant zeigt sich dieser Denkstil bei More im Diskurs über die Unsterblichkeit der Seele, der mit 36 Axiomen arbeitet – „some few Axiomes, of that plainness and evidence, that no man in his wits but will be ashamed to deny them, if he will admit any thing at all to be true“,209 beschreibt More nicht ganz treffend sein voraussetzungsreiches Projekt. Cudworth seinerseits beruft sich wiederholt auf das Axiom, das etwas nicht aus nichts entstehen könne. Hierin sieht er die unbestechliche Logik der Antike verkörpert. Die Vernunft wurde, zumindest Cudworth zufolge, von diesem grundlegenden Axiom der antiken Philosophie sowohl bei der Auffindung der Atome als auch bei der Existenzsicherung des geistigen Prinzips geleitet: „That Nothing could be made out of Nothing, nor reduced to Nothing“.210 Cudworth wie More bleiben trotz ihrer Mitgliedschaft in der Royal Society die neuen Naturwissenschaften vom Gefühl her fremd. In Bezug auf Cudworth formuliert Asplin diesen so anders gelagerten Denkansatz: „To him the universe is not a gigantic mechanism, the laws of which can be set forth in mathematical formulae, but an organism, governed by an all-inclusive universal soul“.211
2.4 Zwischenergebnis und Ausblick Cudworth und More betonen die Geistdurchdringung der Welt. Materie ist lediglich ein passives Prinzip und unterliegt der Direktion des Geistes, der v.a. als plastisches Naturprinzip den Weltlauf bestimmt. Die sich hieraus ergebenen und ungelöst bleibenden Problemkomplexe bestimmen die Rezeption ihrer Philosophie: In welchem Verhältnis stehen plastische Natur und Gott zu einander? Kann die plastische Natur mehr sein als ein bloß passives Instrument? Entlastet ein solches untergeordnetes Geistprinzip Gott von der Verantwortung für die Fehler im Strickmuster der Welt? Es sind v.a. diese Fragen, die Bayle kritisch gegen Le Clercs Billigung dieses Welterklärungsmodells einbringt. Lady Masham, Leibniz und Shaftesbury versuchen im Folgenden weitere Argumente zu finden, um ein solches Geistprinzip in der Welt belassen zu können. In Kapitel Drei kann dann die Frage gestellt werden, wie sich das plastische Seelenprinzip und die Vernunft im Menschen zu einander verhalten, wie in der Rezeption das positive Menschenbild übernommen wird. Abschließend wird zu bestimmen sein, unter welchen Umständen Gott zum Gegenstand der kritischen Vernunft und das Theodizeeproblem in der für das 18. Jahrhundert klassischen Variante formuliert werden konnte. 209 210 211
More: Immortality of the Soul, S. 16. Ebd., S. 16 u. S. 30. Aspelin: Greek Philosophy, S. 16.
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3 Die plastische Natur bei Jean Leclerc und Pierre Bayle
Dieses Kapitel soll die Kontroverse zwischen Jean Leclerc und Pierre Bayle nachzeichnen, die sie zwischen 1703 und 1705 in verschiedenen philosophischen Zeitschriften führten und deren Hauptgegenstand die Frage nach dem von Cudworth vertretenden Konzept der plastic nature war. So zeigt sich hier die Rezeption als kritische Debatte. Der Streit zwischen Leclerc und Bayle war der Kern einer ausgreifenden Diskussion, die zu verschieden ausgeprägten Beschäftigungen mit den Cambridge Platonists geführt hat. Sowohl Lady Masham als auch Leibniz nahmen Bezug auf diese Diskussion um die plastische Natur. Shaftesbury nahm die Debatte zum Anlass Cudworth erneut zu lesen und arbeitete daraufhin The Sociable Ethusiast in die heute bekanntere Fassung mit dem Titel The Moralists um. Mosheim legte seine berühmte lateinische Übersetzung des True Intellectual System vor, um so auch die zweite Digression, die die Trinität betrifft, dem kontinentalen Publikum zugänglich zu machen. Das zweite Kapitel ist also der Bezugspunkt der Kapitel Drei bis Fünf. Jean Leclerc übersetzte in seiner Gelehrtenzeitschrift Bibliothèque Choisie mit der ersten Ausgabe 1703 beginnend im Laufe der nächsten drei Jahre in Form von mehreren Artikeln Ralph Cudworths True Intellectual System of the Universe aus dem Englischen ins Französische.1 Es handelt sich dabei um ein Projekt, das sich bei den zeitgenössischen Lesern großen Interesses erfreute, wie auch Leclerc einleitend zum zweiten Teil der Übersetzung des True Intellectual System im zweiten Band der Bibliothèque Choisie bemerkt. Er schreibt: L’EXTRAIT, que j’ai donné, dans le Tome précedent, du Chapitre I. du Système Intellectuel de feu Mr. Cudworth, a été si favorablement reçu du Public; que je me suis trouvé confirmé, dans le dessein que j’avois de continuer à en publier des Extraits, de la même maniere.2
Nun lässt sich Leclercs ehrgeiziges Projekt jedoch nicht als eine reine Übersetzung beschreiben. Um genauer herauszuarbeiten, was Leclercs Bearbeitung auszeichnet, werden Thomas Wises An Abridgement sowie Johann Lorenz Mosheims Systema
1
2
54
Vgl. Jean Leclerc: Bibliothèque Choisie. Tome I comprenant les volumes 1–5 (1703–1705). Genève 1968 (Réimpression de l’édition d’Amsterdam 1703–1713). Und Jean Leclerc: Bibliothèque Choisie. Tome II comprenant les volumes 6–10 (1705–1706). Genève 1968 (Réimpression de l’édition d’Amsterdam 1703–1713). Jean Leclerc: Article I Histoire des Systemes des anciens Athées, tirée des Chapitres II. & III. du Système Intellectuel de Mr. Cudworth. In: Ders.: Bibliothèque Choisie. Tome I. Vol. II, S. 118–134, S. 11–77.
intellectuale als Vergleichsfolien hinzugezogen.3 Dabei fällt allein die ungewöhnliche Tatsache ins Auge, dass Cudworths True Intellectual System drei prominente Bearbeitungen erfahren hat, die jeweils in ihrer Art mehr sind als eine bloße Neuherausgabe beziehungsweise rein wörtliche Übersetzung des Originals. In einem zweiten Schritt gilt es, die Debatte, die sich zwischen Jean Leclerc und Pierre Bayle hinsichtlich der plastischen Natur entzündete, nachzuzeichnen und dabei die unterschiedlichen Zugänge und Position zum Problem der sich organisierenden Natur zu analysieren. Im Mittelpunkt stehen dabei, der durch Leclerc geschaffene verstärkt naturwissenschaftliche Kontext des plastischen Naturprinzips, die Instrumentalisierung und Mechanisierung der plastischen Natur, sowohl durch Leclerc als auch durch Bayle. Als daraus resultierend wird die Schwächung des einst vorherrschenden platonischen Akzents in der Beschreibung dessen, was plastische Natur ausmacht und motiviert, zu beschreiben sein. Beide Teile hängen insofern untrennbar zusammen, als sich Wise, als Zeitgenosse, und Mosheim, dreißig Jahre nach Leclerc, beide mit Cudworths True Intellectual System befassend, die Debatte um die plastische Natur, wie sie von Leclerc und Bayle geführt wurde, aufgreifen und kommentatorisch für Zeitgenossen und Nachwelt rezipieren. So dienen die Textversionen von Wise und Mosheim gleichzeitig als Quelle in eigener Sache wie auch als erste Sekundärliteratur zur Debatte um die plastische Natur. In dieser Funktion wiederum deuten sie an, wie sich das 18. Jahrhundert in doppelt gebrochener Form die Gedanken der Cambridge Platonists aneignete, erfolgt doch schon hier die Reflexion der Rezeption.
3.1
Bearbeitungen
Im Folgenden soll zunächst Leclercs Übersetzungen des True Intellectual System in der Bibliothèque Choisie betrachtet werden, wobei einige Bemerkungen zum Kontext der Übersetzung und zur Person des Übersetzers vorangestellt werden. Daraufhin findet die englische Bearbeitung dieses Werkes durch Leclercs Zeitgenossen Thomas Wise Betrachtung. Als dritte und für das 18. Jahrhundert prägende Übersetzung wird die lateinische Fassung von Johann Lorenz Mosheim zu untersuchen sein.
3
Vgl. „An Abrigment of Dr. Cudworth’s True“ Intellectual System of the Universe. In which all the Arguments for and against Atheism are clearly stated and examined. To which is prefix’d, An Examination of what that learned Person advanc’d touching the Doctrine of a Trinity in Unity, and the Resurrection of the Body. In Two Volumes. London 1732 (1706) und Radulphie Cudworthi: Systema intellectuale huius universi seu de veris naturae rerum originibus commentarii quibus omnis eorum philosophia, qui deum esse negant, funditus evertitur. Accedunt religua eius opuscula. Ioannes Laurentius Mosheimus, Omnia ex anglico latine vertit, Ienae 1733.
55
3.1.1 Leclercs Bibliothèque Choisie The True Intellectual System of the Universe war durch Cudworths Kontakte zu Philip van Limborch (1633–1712), führender Theologe der Remonstranten in Amsterdam, schon kurz nach seinem Erscheinen einem kleinen Kreis von Remonstranten und hugenottischen Exilanten in Holland bekannt, zu denen auch Jean Leclerc gehörte. Cudworths Bezugnahme auf die zeitgenössische Atheismusdiskussion machte sein Werk für die holländischen Philosophen und Philologen besonders interessant, da dort die Diskussion um Spinozas Atheismus in vollem Gang war. „Interest in the True Intellectual System had its origins in Holland among the ranks of Remonstrants and Huguenot exiles“,4 beschreibt Louisa Simonutti den Beginn der Popularität dieses Buches im 18. Jahrhundert. In diesem ersten Teil versucht Cudworth die Existenz Gottes gegen den Atheismus zu verteidigen. Nur vordergründig richtet sich seine Atheismuskritik gegen antike Autoren wie Anaxagoras, Leukipp, Demokrit und allen voran Epikur, deren Positionen in aller Ausführlichkeit vorgetragen werden. Hauptgegner ist sein Zeitgenosse Thomas Hobbes, der jedoch niemals beim Namen genannt wird, sondern z.B. als „a Modern writer“ angesprochen wird. Ironie der Geschichte: Als Cudworth sein Hauptwerk […] erscheinen lässt – da begegnet dieses Werk, das den ‚Atheismus‘ bis in seine letzten Schlupfwinkel zu verfolgen sucht, dem absurden Vorwurf, als ob es sich in ihm um eine versteckte Rechtfertigung des Atheismus, um eine Art Vereinigung aller seiner Waffen in einem einzigen großen Arsenal, handle.5
Die kleinen Niederlanden und das geographisch isolierte England waren die zwei entscheidenden protestantischen Kräfte in Europa. Auch diese Großkonstellation machte ein großangelegtes Übersetzungsunternehmen, wie es Leclerc verfolgte, nahe liegender. Schließlich bestand eine Art informelle Allianz zwischen den Platonisten in England und den Remonstranten in Amsterdam, da sich beide mit Extremen des Denkens konfrontiert sahen, die ihre Zeit beherrschten.6 In diesem Sinn schreibt auch Shaftesbury 1706 an Leclerc: „There is a mighty light which spreads itself over the world, especially in those two free nations of England and Holland, on whom the affairs of all Europe now turn“.7
4 5 6 7
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Simonutti: Bayle and Leclere, S. 152. Cassirer: Cambridge, S. 26. Vgl. Colie: Light and Enlightenment, S. X. Benjamin Rand (Hg.): The life, unpublished letters, and philosophical regimen of Anthony, Earl of Shaftesbury. London 1900, S. 353. Vgl. auch Peter Gay: The Enlightenment. An Interpretation. Bd. I: The Rise of Modern Paganism. New York 1967, 2 Bde., S. 11.
3.1.1.1 Zur Person: Jean Leclerc Geboren als Johannes Clericus in der Schweiz, ist der Theologe und Publizist Jean Leclerc (1657–1736) bekannter unter der französischen Fassung seines Namens geworden. Berühmt wurde er v.a. durch die Herausgabe der Zeitschrift Bibliothèque Choisie in den Jahren 1703 bis 1713.8 Schon mit der Bibliothèque universelle et historique hatte er 1686 das Gebiet des literarischen Journalismus betreten. Diese Tätigkeit brachte ihn mit zahlreichen Autoren in Verbindung und regte ihn auch dazu an, sich selbst an den philosophisch-theologischen Debatten seiner Zeit zu beteiligen. 1685 schloss er Freundschaft mit John Locke, der ihn ermutigte, seine eigenen Schriften zu veröffentlichen. Seit 1699 pflegte er Bekanntschaft mit Shaftesbury.9 In Amsterdam schufen die Remonstranten für ihn eine philosophische Professur an ihrem Seminar und er predigte in der arminianischen Kirche. Ähnlich den Cambridge Platonists predigte Leclerc ein vernunftbetontes Christentum, das keinen Widerspruch zwischen Vernunft und Offenbarungsglauben kannte. Mitte der 1680er Jahre besaß Leclerc einen ähnlich großen Bekanntheitsgrad wie sein Kollege Philip van Limborch. Colie beschreibt diese beiden so eng zusammen arbeitenden Männer, deren theologische Interessen in der Unterstützung des englischen Platonismus konvergierten, als von unterschiedlichem, sich aber ergänzendem Charakter: „Limborch was a conventional scholar and theologian, in the Erasmian tradition, grave, considerate, philosophical; Le Clerc was an eighteenth-century man of letters, a publicist, eternally active, universal – and in consequence often superficial“.10 In diesen Charaktereigenschaften sieht sie die Voraussetzungen für Leclercs herausragende publizistische Tätigkeit. In seinen Zeitschriften wurde Leclerc immer mehr zu einem Verteidiger der vernünftigen Religion und darüber hinaus zum Promoter der Integration der neueren Naturwissenschaften in den Kontext der Offenbarungsreligion. Dies spiegelt sich auch in seiner Cudworth-Übersetzung wieder. Cudworth stellte somit eine logische Wahl für ein solch umfangreiches Übersetzungsprojekt dar – auch mitbedingt durch Limborchs enge Verbindung zu Cudworth, wie durch Leclercs eigenen Kontakt zu Locke, der ihn wiederum in Kontakt mit Lady Masham und Francis Cudworth Masham brachte.11 Außerdem schätze Leclerc das True Intellectual System aufgrund der Analyse des Atheismus des ausgehenden 17. Jahrhunderts als ein tief moralisches Buch, dem er eine Unterstützung einer liberalen Glaubenshaltung in Holland und Frankreich durchaus zutraute.12 8 9 10 11 12
Vgl. hierzu Guus N.M. Wijngaards: De „Bibliotheque Choisie“ van Jean le Clerc (1657–1736). Een Amsterdams Geleerdentijdschrift ut de Jaren 1703 tot 1713. Amsterdam 1986. In 40 Prozent aller Artikel berichtet Leclerc über England, so Wijngaards: De „Bibliotheque Choisie“, S. 31. Colie: Light and Enlightenment, S. 31. Francis schreibt am 18. Juni 1708 an Le Clerc und drückt seine Freude darüber aus, dass die Ehre seines Großvaters weitergetragen wird. Vgl. Colie: Light and Enlightenment, S. 119f.
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3.1.1.2 Hinführung zu einem ehrgeizigen Übersetzungsunternehmen Il n’y a guere de Livres, en quelque Langue qu’ils soient écrits, qui contiennent un si grand nombre de recherches curieuses & importantes, que le livre intitulé en Anglois: the true intellectual System of the Universe, the first Part, wherein all the reason and Philosophy of Atheism is confuted and its impossibility demonstrated By R. CUDWORTH D.D. C’est à dire, le vertable Système intellectuel de l’Univers, 1. Partie, dans laquelle toutes les raisons, & toute la Philosophie, dont se servent les Athées, sont réfutées, & où l’on montre que ce qu’ils supposent est impossible, par R. CUDWORTH Docteur en Theologie.13
Mit diesem Lob und der Übertragung der Überschrift ins Französische beginnt Leclerc eine Serie von Artikeln, deren Ziel die schrittweise Übersetzung des True Intellectual System ist. Es folgt eine kurze äußere Vorstellung des Werks, es habe 900 Seiten, Vorwort und Indizes nicht mitgezählt, und sei 1678 in London gedruckt worden. Über Mr. Cudworth heißt es, es handele sich um einen inzwischen verstorbenen Gelehrten, der zu Lebzeiten Professor für Hebräische Sprache in Cambridge gewesen sei. Leclerc rühmt daraufhin ausführlich Cudworths vielseitige, tiefe Gelehrsamkeit in Bezug auf Sprachen, Theologie und Philosophie, besonders hinsichtlich der Antike.14 Leclerc umreißt Motivation und Selbstverständnis seines Übersetzungsprojektes. Die Artikelserie sei für diejenigen gedacht, die selbst kein Englisch lesen könnten oder denen das gesamte Werk zu lang erscheine. Hier gäbe es deshalb Auszüge für Interessierte aus dem Gesamtwerk: „Extraits d’un Ouvrage“,15 eine Praktik die typisch ist für Leclercs Gestaltung der gesamten Bibliothèque Choisie. So folgt beispielsweise Leclercs exzerpierende Übersetzung der Cosmologia Sacra von Nehmiah Grew ganz ähnlichen Kriterien, wie jene, die in Bezug auf Cudworths True Intellectual System herauszuarbeiten sind. Leclerc beginnt mit der Übersetzung dieses Werkes ebenfalls im ersten Band der Bibliothèque Choisie, Artikel VI behandelt alle fünf Kapitel des ersten Buches der Cosmologia Sacra in einer gekürzten, aber sehr textnahen Übersetzung.16 Leclerc benennt zu Beginn des
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Jean Leclerc: ARTICLE III Histoire des sentimens des Anciens touchant les Atomes, ou les Corpuscules desquels tous les corps sont composez, & touchant les consequences Théologiques qui en naissent; tirée d’un livre Anglois intitulé: Le Veritable Systeme Intelectuel de L’univers. In: Ders.: Bibliothèque Choisie. Tome I. Vol. I, S. 22–41/S. 63–138, hier S. 63/22. Vgl. ebd., S. 23, S. 64. Ebd., S. 23, S. 65. Vgl. Jean Leclerc: Article VI „Cosmologia Sacra, or a discourse of the Universe, as it is the Creature & Kingdom of God; chiefly Written to demonstrate the truth & excellency of the Bible, wich contains the Laws of his Kingdom, in this lower World. In five Books. By Dr. Nehemiah Grew, Fellow of the College of Physicians & of the Royal Society. A Londres 1701“. In: Ders.: Bibliothèque Choisie. Tome I. Vol. I, S. 64–85/S. 228–314. Für den philologischen Vergleich siehe Nehemiah Grew: Cosmologiea Sacra: Or a Discourse of the Universe As it is the Creature and Kingdom of God. Chiefly Written, To Demonstrate the Truth and Excellency of the Bible; which contains the Laws of his Kingdom in this Lower World. In five Books. London 1701.
zweiten Übersetzungsteils die Cosmologia Sacra betreffend die Intention dieser Artikelserie: Cet Extrait a fait souhaiter à ceux, qui n’entendent pas l’Anglois, d’en voir la suite; qui ne sera pas moindre, que ce que l’on a vû. Les pensées de cet Auteur sont si serrées, & en si grand nombre, qu’il est difficile de les expliquer en moins de paroles, & en un plus petit espace qu’il n’a fait. Il faut néanmoins que nous tâchions de satisfaire ceux qui ne peuvent pas lire l’Original, & d’abreger ce qu’il dit, autant qu’il nous sera possible, pour ne pas nous étendre au delà des bornes de ce Volume, qui est près de sa fin.17
Damit beschreibt Leclerc hier dieselbe Herangehensweise wie bei der Übersetzung des True Intellectual System. Die philologische Analyse zeigte außerdem eine ähnliche Qualität der Übersetzung. Jedoch sollte man sich von der Ankündigung, es handele sich lediglich um eine exzerpierende Übersetzung, nicht dahingehend in die Irre führen lassen, anzunehmen, es handele sich um eine Auswahlübersetzung bestimmter Abschnitte, die in Leclercs Augen die größte Relevanz besitzen. Leclercs Anspruch ist ein weit umfassenderer. In zehn Artikeln über sieben Bände verteilt unternimmt Leclerc die Anstrengung einer das gesamte True Intellectual System betreffenden Übersetzung.18 Die einzelnen Artikel sind zwischen 32 und 116 Seiten lang, so dass die
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Die Übersetzung wird weitergeführt in: Jean Leclerc: Article XIII „Qu’il y a un Monde doùe de Vie, de Sentiment & d’Intelligence, que Dieu a fait. Tiré du II Livre de la Cosmologie Sacrée de Mr. Grew“. In: Ders.: Bibliothèque Choisie. Tome I. Vol. II, S. 203–218/S. 352–411 und Jean Leclerc: Article V „Reflexions sur ce que l’on appelle Science, Sagesse & Vertu, tirée des Chapp. V, VI & VII. de la Cosmologie Sacrée de Mr. Grew, avec quelques remarques“. In: Ders.: Bibliothèque Choisie. Tome I. Vol. III, S. 293–308/S. 278–339. Besonders auf Article XIII, Vol. II wird zurückzugreifen sein, da hier ein Lebensprinzip entwickelt wird, das Leclerc mit der Cudworthschen plastischen Natur gleichsetzt. Leclerc: Article XIII. Vol. II. Tome I, S. 203/S. 352f. Vgl. Leclerc: Article III. Vol. I. Tome I (Kapitel I des True Intellectual System); Jean Leclerc: Article I „Histoire des Systemes des anciens Athées, tirée des Chapitres II. & III. du Système Intellectuel de Mr. Cudworth“. In: Ders.: Bibliothèque Choisie. Tome I. Vol. II, S. 118– 134/S. 1–77; Jean Leclerc: Article II „Preuves & Examen du sentiment de ceux, qui croyent qu’une Nature qu’on peut nommer Plastique a été établie de Dieu, pur former les Corps Organizez. Ceci est tiré d’une Digression du Ch. III. de Mr. Cudworth, à laquelle on a ajouté quelques remarques“. In: Ders.: Bibliothèque Choisie. Tome I. Vol. II, S. 135–148/ S. 78–130; Jean Leclerc: Article I „Que les Payens les plus éclairez ont cru qu’il n’y a qu’un Dieu Supreme. Tiré du Chap. IV. du Système Intellectuel, de Mr. Cudworth“. In: Ders.: Bibliothèque Choisie. Tome I. Vol. III. S. 226–250/S. 11–106; Jean Leclerc: Article II „Réponse aux Objections des Athées, contre l’Idee que nous avons de Dieu, avec des preuves de son Existence, tirées de la Section I. du Chapitre V. du Système Intellectuel de Mr. Cudworth“. In: Ders.: Bibliothèque Choisie. Tome I. Vol. V, S. 447–475/ S. 30–145; Jean Leclerc: Article I „Réfutation des Objections des Athées contre la Création du Néant, tirée du Chap. V. du Système Intellectuel de Mr. Cudworth“. In: Ders.: Bibliothèque Choisie. Tome II. Vol. VII, S. 119–134/S. 19– 80; Jean Leclerc: Article I „Réponse aux objections des Athées, contre l’Immaterialité de Dieu, tirée de la Section III. du ch. v. du Système Intellectuel de Mr. Cudworth“. In: Ders.: Bibliothèque Choisie. Tome II. Vol. VIII, S. 225–233/S. 11–42; Jean Leclerc: Article II „De l’Immaterialité de l’Ame, avec la réfutation des objections que l’on fait contre cette doctrine. Sentimens des Anciens Chrétiens, sur cette matiere. Raisons des Immaterialistes Platoniciens &
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gesamte Serie ein Seitenvolumen von 669 Seiten besitzt, dem Original an Umfang also auf den ersten Blick recht nahe kommt. Es muss allerdings bemerkt werden, dass das Format der Bibliothèque Choisie ein um drei Viertel kleineres war als Cudworths stattliche Folioausgabe. Nach einer kurzen Inhaltsangabe des von Cudworth vorangestellten Vorworts, das die Zielsetzung des Gesamtwerks umreißt, welches sich gegen den Fatalismus wendet, der lediglich dem Atheismus dienen könne, folgt die Übersetzung des ersten Kapitels.19 Wiederum weist Leclerc darauf hin, dass es sich nur um Auszüge handeln könne, in denen die grundlegenden Prinzipien der Physik und der Theologie der antiken Philosophen ausgeführt werden.20 Oder wie schon in der Überschrift angekündigt und inhaltlich so kurz wie präzise umrissen, ist Ziel des ersten Artikel (Article III, Volume I) dieser Übersetzungsserie, das erste Kapitel des Systeme Intellectuel wiederzugeben: Histoire des sentimens des Anciens touchant les Atomes, ou les Corpuscules desquels tous les corps sont composez, & touchant les consequences Théologiques qui en naissent. Diese Überschrift entspricht inhaltlich dem ersten Kapitel von Cudworths Hauptwerk: Cudworth hatte hier zwei Formen des Atomismus ausgemacht, einerseits denjenigen, der mit Demokrit und Leukip in Verbindung gebracht wird und Cudworth zufolge den Atheismus nach sich ziehen muss. Andererseits die ältere Form der atomistischen Weltbeschreibung, die Cudworth auf Pythagoras und Moses zurückführt und als einer theologischen Weltbeschreibung als zuträglich erfährt.21 3.1.1.3 Analyse der Übersetzungsleistung Insbesondere anhand der Analyse des ersten Artikels dieser Serie soll im Vergleich mit der Originalausgabe des True Intellectual System ein Eindruck von Leclercs Übersetzungspraktik gewonnen werden. Über weite Strecken handelt es dabei sich um eine recht genaue Übersetzung, die Satz für Satz vorgeht. So beginnt Leclerc auf der fünften Seite seines Artikels mit der Übertragung des ersten Satzes des
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Pythagoriciens, pour l’Immaterialité des Natures Intelligentes. Tiré du même Chapitre de Mr. Cudworth“. In: Ders.: Bibliothèque Choisie. Tome II. Vol. VIII, S. 233–249/S. 43–106; Jean Leclerc: Article I „Réponse à diverses objections des Athées touchant l’origne du Mouvement, de la Pensée & la Vie, tirées du Ch.V. du Système Intellectuel de Mr. Cudworth, Sect. IV“. In: Ders.: Bibliothèque Choisie. Tome II. Vol. IX, S. 333–343/S. 1–40 und Jean Leclerc: Article II „Réponses aux objections des Athées, sur la Providence Divine, à quelques unes des Questions qu’ils sont sur la conduite de Dieu, & à leurs raisonnemens pour montrer qu’il seroit à souhaiter qu’il n’y a eut point de Religion pur l’interêt du Genre Humain. Tiré de la derniere Section du Ch. V. du Système Intellectuel de Mr. Cudworth“. In: Ders.: Bibliothèque Choisie. Tome II. Vol. IX, S. 343–359/S. 41–103. Vgl. Leclerc: Article III. Vol. I. Tome I, S. 23/66. „On donnera seulement un extrait du Chapitre I. par où l’on verra quels ont été les principes géneraux de la Physique & la Théologie des Anciens Philosophes“ (vgl. ebd., S. 23/S. 66f.). Vgl. Cudworth: True Intellectual System, S. 1–55 und Kap. Eins dieser Arbeit.
True Intellectual System, den er in zwei Sätzen unterbringt, die einen ganzen Absatz einnehmen: CEUX qui croient que toutes les actions des hommes & tous les évenemens sont nécessaires, s’appuyent sur l’un ou l’autre de ces fondemens. Ou ils croyent que tous les Agens agissent, comme ils le sont, par une nécessité interieure de leur nature, & que la Liberté, ou la Contingence est une chose absurde: ou, s’ils reconnoissent de la Liberté en Dieu, ils conçoivent que toutes choses sont nécessairement déterminées, par ses décrets; en forte qu’elles ne peuvent pas n’être point, à notre égard.22
Verglichen mit dem Original zeigt sich zum einen, dass der Inhalt exakt wiedergegeben wird, jedoch zum anderen auch, dass es sich keineswegs um eine durchgängige wortwörtliche Übersetzung handelt: THEY that hold the Necessity of all humane Actions and Events, do it upon one or other of these two Grounds; Either because they suppose that Necessity is inwardly essential to all Agents whatsoever, and that Contingent Liberty is , a Thing Impossible or Contradictious, which can have no Existence any where in Nature; The sence of which was thus expressed by the Epicurean Poet. – Quòd res quaeque Necessum Intestinum habeat conctis in rebus agendis, &c. That every thing Naturally labours under an Intestine Necessity: Or else, because though they admit Contingent Liberty not only as a thing Possible, but also as that which is actually Existent in the Deity, yet they conceive all things to be so determin’d by the Will and Decrees of this Deity, as that they are thereby made Necessary to us.23
Leclerc verzichtet also an dieser Stelle auf die Übernahme des griechischen Ausdrucks für unmöglich / absurd und lässt das lateinische Zitat wegfallen. Eine Praktik, die sich als typisch für Leclercs Auswahl des Übersetzungsrelevanten zeigt. Dabei ist folgendes Muster auszumachen: Der griechische Ausdruck stellt in Cudworths Ausführungen eine Redundanz dar, da sogleich die Übersetzung folgt. Das lateinische Zitat dient lediglich der Illustration und bringt wie der griechische Ausdruck keinen inhaltlichen Mehrwert. Das heißt jedoch nicht, dass Leclerc sämtliche Zitate streicht oder alle fremdsprachlichen Ausdrücke wegfallen lässt. Vielmehr gilt das Redundanzkriterium. Als ein weiteres Beispiel kann Paragraph XXVII des ersten Kapitels angeführt werden. Hier gibt Leclerc das Plotin-Zitat nicht wie Cudworth im griechischen Original und in Übersetzung wieder, sondern begnügt sich mit der jetzt französischen, statt englischen Übersetzung.24 Allerdings finden sich auch zu dieser Tendenz der Leclercschen Auswahlübersetzung gegenteilige Beispiele. Bei der Übersetzung von Paragraph XXXIII des ersten Kapitels ist es sogar Leclerc, der anders als Cudworth die Übersetzung zu einem auch im lateinischen Original gebrachten längeren Zitat aus Ovid anfügt. Allerdings wird auch im Folgenden noch darauf hinzuweisen sein, dass Leclerc
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Leclerc: Article III. Vol. I. Tome I, S. 23/S. 67. Cudworth: True Intellectual System, S. 3. Vgl. ebd., S. 29 und Leclerc: Article III. Vol. I. Tome I, S. 29/S. 89.
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gerade bei der Übersetzung dieses Paragraphen viel Mühe auf Philologie und das Problem der Mehrsprachigkeit hinsichtlich Bedeutungsverschiebung gelegt hat.25 Nachdem nun ein erster Eindruck von Leclercs Cudworth-Übersetzung gewonnen werden konnte, soll nun im Folgenden anhand der Kriterien der Vollständigkeit und der Wortwahl einer Bewertung der Übersetzungsleistung Leclercs näher gekommen werden. 3.1.1.4 Vollständigkeit An vielen Stellen werden Absätze summarisch übersetzt, manchmal werden ganze, als redundant eingestufte Absätze ausgelassen und damit Cudworths umfassende Belege und Zitatsammlungen auf ein oder zwei exemplarische Zitate gekürzt. So erscheint beispielsweise die Übersetzung von Paragraph XIX des ersten Kapitels als stark gekürzt, was v.a. auf die Streichung aller Zitate außer dem letzten und aussagekräftigsten zurückzuführen ist.26 Der darauf folgende Absatz zieht die ursprünglichen Paragraphen XX und XXI in Eins und fasst sie jeweils mit einem Satz zusammen. Manchmal lässt Leclerc ganze Paragraphen aus, so fehlt beispielsweise in Artikel I des zweiten Bandes die Übersetzung der Paragraphen VII, VIII und IX des dritten Kapitels des True Intellectual System.27 Auch hier lässt sich als Auswahlkriterium die Beispielfülle der Cudworthschen Ausführungen anführen. An anderer Stelle scheint allerdings mehr hinter dem Entschluss, Abschnitte nur summarisch zu übersetzen zu stehen, als die bloße Entscheidung gegen Redundanz. Dies wird besonders bei Leclercs Übersetzung des vierten Kapitels deutlich, das sich mit der eingeborenen Gottesidee, dem Monotheismus der Heiden und der Trinität beschäftigt. Wie in den eingefügten Kommentaren deutlich wird, unterscheidet sich Leclercs Meinung bezüglich dieser Themen wesentlich von Cudworths Auffassungen. So kritisiert Leclerc beispielsweise in einer Bemerkung, die von Cudworth nacherzählte Weisheitsgeschichte bezüglich der Trinität.28 Damit könnte zusammenhängen, dass dann auch Cudworths Behandlung der Trinität, die im Original rund 100 Folioseiten umfasst und durch Beispielreichtum glänzt, von Leclerc auf zwanzig Seiten zusammengestrichen wird, die lediglich den Argumentationshergang nachzeichnen.29 Da Cudworth in seiner Trinitätsspekulation die Verortung des Geistes in der Gottesvorstellung vornimmt, ließe sich spekulieren, 25 26 27 28
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Vgl. Leclerc: Article III. Vol. I. Tome I, S. 34/S. 108ff. Vgl. Cudworth: True Intellectual System, S. 18 und Leclerc, Article III. Vol. I. Tome I, S. 27/S. 81. Leclerc: Article I. Vol. II. Tome I, S. 123/S. 31. Leclerc: Article I. Vol. III. Tome I, S. 245/S. 88f. Vgl. hinsichtlich Leclercs Kürzungen bezüglich des heidnischen Monotheismus’ Leclerc: Article I. Vol. III. Tome I, S. 244/S. 83f., wobei hier Leclerc anmerkt, dass er möglicherweise das Problem an anderer Stelle weiträumiger behandeln werde, wozu allerdings im späteren keine Referenz gefunden wurde. Vgl. Leclerc: Article I. Vol. III. Tome I, S. 245/86–250, 106 und Cudworth: True Intellectual System, S. 546–632.
dass Leclercs gekürzte Übersetzung zusammen mit den kritischen Kommentaren eine Wirkung erzielen, die, wenn auch möglicherweise unbeabsichtigt, die selbe Tendenz aufweist, wie seine Lesart der plastischen Natur: Weg vom Spekulativen, Herauskürzen der geistigen Dimension, hin zu einem mehr funktionalen Verständnis. An anderer Stelle wiederum macht sich Leclerc durch Gründlichkeit und Ausführlichkeit verdient, beispielsweise wenn in Paragraph XXIX des ersten Kapitels ausgeführt wird, dass sich der Atomismus gegen die Lehre von den substantiellen Formen richtet, eine bei Cudworth zentrale und für die spätere Diskussion nicht unumstrittene Stelle. Hier setzt Leclerc sogar dieselben Absätze wie das Original.30 Exemplarisch soll auch auf die Übersetzung von Paragraph XXXIII aufmerksam gemacht werden. Auch hier nimmt Leclerc eine vollständige Übersetzung vor, die er zudem philologisch aufarbeitet. Das von Cudworth verwendete EmpedoklesZitat, das im Original in seiner lateinischen und seiner griechischen Form aufgeführt und durch eine englische Paraphrase ergänzt wird, findet sich bei Leclerc in der griechischen Version, der die entsprechende Quellenangabe angefügt wird („* Apud Plutarchum contra Colotem.“). Nun wertet Leclerc den Sachverhalt, inwiefern Empedokles die Seelen als sterblich betrachtet, jedoch als so kurios, dass er auch denjenigen, die weder der lateinischen noch der griechischen Sprache mächtig sind, einen Eindruck vermitteln will. Er fügt daher er eine französische Übersetzung an. Leclerc macht damit auf den Umstand der Bedeutungsverschiebung durch Sprachwechsel aufmerksam, das ihn als Übersetzer in der Cudworthschen Mehrsprachigkeit geradezu angesprungen haben muss. Es folgt interessanter Weise darauf die Übersetzung der englischen Paraphrase des Zitats, wohl um den Cudworthschen Umgang mit Zitatsplittern der Antike zu verdeutlichen: Paraphrase ist bei Cudworth auch immer Interpretation.31 So belegt das Empedokles-Zitat für Cudworth, dass dieser angenommen hätte, dass die Seelen ein eigenständiges, unvergängliches Prinzip neben den Körpern darstellen, in Leclercs Übersetzung und in dem griechischen Zitat findet sich lediglich beschrieben, dass die Seelen niemals vollständig vergehen. So leitet Leclerc die Übersetzung der Paraphrase auch wie folgt ein: „Voici une paraphrase de cette pensée, comme Mr. Cudworth croit qu’il l’a faut entendre“.32 Als inhaltlichen Zusammenhang zwischen dem Empedokles-Original und der Cudworthschen Auffassung davon lässt sich meiner Meinung nach ausmachen, dass Geist und Materie als die grundlegenden Entitäten unveränderlich sind, als Veränderungsprinzip bleibt die Bewegung, welche sich bei Empedokles als Werden und Vergehen ausdrückt. Im
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Vgl. Cudworth: True Intellectual System, S. 35ff. und Leclerc: Article III. Vol. I. Tome I, S. 29/S. 96–99. Vgl. Leclerc: Article III. Vol. I. Tome I, S. 32/103–S. 34/111. Ebd., S. 33/S. 104.
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Folgenden bringt Leclerc wie Cudworth den Originallaut eines weiteren Empedokles-Zitats über das Werden und Vergehen und fügt eine eigene Übersetzung an, bei der es sich jedoch nicht wie bei Cudworth um eine Nachdichtung handelt. Außerdem bemängelt Leclerc an dieser Stelle Cudworths laxen Umgang mit Zitaten: Die letzte Zeile ist falsch wiedergegeben, was Leclerc in einer Remarque richtig stellt.33 3.1.1.5 Wortwahl Wie bei jeder Übersetzung sind auch für Leclerc im bloßen Akt des Übersetzens interpretatorische Entscheidungen unumgänglich. Beachtungen finden sollen hier zum einen jene Stellen, an denen Wortwahl und Ausdrucksweise den Eindruck erwecken, dass sie strategisch motiviert sind. Zum anderen sollen markante Ausdrücke in den Blick genommen werden, deren Übersetzung in keinem Fall einfach ist. Diese Entscheidung hat jedoch weitreichende Konsequenzen. Häufig zeigen sich gerade an markanten Ausdrücken bestimmte Übersetzungsstrategien. Die Verwendung des Begriffs der plastischen Natur wird jedoch erst an der Stelle untersucht, wo die Übersetzungen zur plastischen Natur, die die Debatte mit Bayle ausgelöst haben, zur Sprache kommen. Leclerc übersetzt den von Cudworth verwendeten Ausdruck Monads mit Atomes.34 An anderer Stelle wird der Monadenbegriff schlicht übergangen, lediglich der Begriff Atom findet sich in der Übersetzung wieder. So in Artikel II des zweiten Bandes. Leclerc übersetzt, die Welt bestehe bei Demokrit und Leukipp laut Aristoteles De Coelo lediglich aus Körpern, „de corps seulement & d’unitez (ou d’Atomes)“.35 Im Original heißt es hingegen, die Welt besteht „of nothing but Bodies and Monads (that is, Atoms or small Particles of Matter)“.36 Die Entscheidung Leclerc für den Ausdruck Atom statt Monade deutet bereits auf eine Verschiebung von einem philosophisch-theologischen Kontext bei Cudworth in Richtung naturwissenschaftlicher Interpretation hin, v.a. da auch der Ausdruck Monad für das französischsprachige Publikum verständlich gewesen sein dürfte. Wo Cudworth den Monadenbegriff mit Bezug auf die Gottheit verwendet, der Atombegriff als Übersetzung also ausscheidet, greift Leclerc auf den verständlicheren, weniger Implikationen mit sich bringenden Begriff l’Unité zurück. Die drei Hypostasen Gottes, die Cudworth mit „Monad, Mind and Soul“37 benennt, erscheinen bei Leclerc als „l’Unité, l’Intelligence & l’Ame“.38 33 34 35 36 37 38
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Vgl. Cudworth: True Intellectual System, S. 41 und Leclerc: Article III. Vol. I. Tome I, S. 33/S. 106. Vgl. Leclerc: Article III. Vol. I. Tome I, S. 26/78. Leclerc: Article II. Vol. II. Tome I, S. 135/79. Cudworth: True Intellectual System, S. 147. Ebd., S. 464. Leclerc: Article I. Vol. III. Tome I, S. 244/82.
Ähnlich verhält es sich mit dem Ausdruck faculté agissante als Übersetzung für Self-Aktive Power.39 Der Begriff ist als Opposition zu Materie angelegt, welche den Gesetzen der Mechanik folgt. Durch die Nichtwiedergabe des Self, des Selbst, das die Zugehörigkeit dieses Prinzips zur Sphäre des Geistigen unterstreicht, spiegelt sich schon auf Ebene der Begrifflichkeiten wider, was in der Debatte um die plastische Natur eminent wird: Auch das dem Mechanismus entgegengesetzte, bei Cudworth sogar übergeordnete Prinzip, wird als bloßes Handlungsprinzip der Sphäre des Gesetzmäßigem angeglichen und somit von einer möglicherweise gesetzlosen, weil spontanen, in jedem Fall selbständigen Kraft entfernt. Es ist damit allerdings keine kohärente Übersetzungsmaxime bei Leclerc beschrieben, da an einigen Stellen Leclerc nach genau gegenteilig gelagerten Kriterien zu übersetzen scheint. So in Paragraph XXXVIII des ersten Kapitels. Hier wählt Cudworth den Begriff Phancie und führt aus, dass Vorstellungen kein Modus des Körperlichen seien und damit auch nicht mechanisch zu erklären.40 Leclerc übersetzt nun Phancie mit idée,41 wählt damit einen Ausdruck der weit größere philosophische Implikationen mit sich bringt, da der Verweis auf die platonischen Ideen nicht ausgeklammert werden kann. Cudworth hingegen scheint an dieser Stelle weitaus weniger sagen zu wollen, bzw. auf ein eher physiologisch-psychologisches Argument hinaus zu wollen. Beim Ausdruck constant Circle of Nature in Paragraph XXXIII, Kapitel I wählt Leclerc eine dem Original sehr nahe, dafür aber umständlichere Formulierung le cercle constant qui se faisoit dans la nature,42 was wahrscheinlich auf sprachliche Un(-Möglichkeiten) zurückzuführen ist, da Leclerc ansonsten durch Vereinfachungen glänzt, seine Übersetzung über weite Strecken eingängiger zu lesen ist als das Original. An viele Stellen wie auch dieser wird deutlich, dass Leclerc darum bemüht ist, bis in die Wortwahl hinein dem Original nahezukommen. So auch bei der Übertragung von der erst durch Cudworth geschaffenen Formulierung Anagrammatized. Cudworth schreibt, Werden und Vergehen ist „Really nothing else, but one and the same Thing perpetually Anagrammatized [Hervorh. I.K.], or but like many different Syllables and Words variously and successively composed out of the same preexistent Elements or Letters“.43 Leclerc übersetzt: „[I]l ne se faisoit, selon ces Philosophes, pas plus de changement que dans les lettres dont une Anagramme [Hervorh. I.K.] est composée, & dont on change seulement la situation, 39 40 41 42 43
Vgl. Leclerc: Article III. Vol. I. Tome I, S. 29/90 und Cudworth: True Intellectual System, S. 29. Vgl. Cudworth: True Intellectual System, S. 47. Vgl. Leclerc: Article III. Vol. I. Tome I, S. 36/118. Vgl. Cudworth: True Intellectual System, S. 42 und Leclerc: Article III. Vol. I. Tome I, S. 33/107. Cudworth: True Intellectual System, S. 40. Cudworths verschwenderischer und nicht kohärenter Umgang mit Kursivsetzung wurde Leclerc folgend nicht übernommen, zum einen aus Gründen der Schriftbildästhetik, zum anderen um mir die Möglichkeit vorzubehalten, wie an dieser Stelle selbst etwas hervorheben zu können.
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pur faire de differents mots, sans y en ajoûter aucunes nouvelles“.44 Leclerc benutzt somit denselben Ausdruck, ohne ihn jedoch wie Cudworth in eine ungebräuchliche grammatikalische Form zu verbiegen. 3.1.1.6 Bewertung der Übersetzungsleistung Als fehlerhaft konnte ich in Leclercs Übersetzung nur einen Punkt ausmachen, der überdies als Tippfehler bzw. als Freudscher Verdrucker durchgehen kann, handelt es sich doch um die Verwechslung von zwei Buchstaben, die aber dazu führt, dass anstelle von Protagoras der von Cudworth als Vertreter der positiven Variante des Atomismus eingesetzte Pythagoras auftritt. So heißt es bei Leclerc wie bei Cudworth, dass Platon den Ursprung der atomistischen Philosophie bei Protagoras und nicht bei Demokrit oder Leukip sehe. So erschließt sich auch aus dem Zusammenhang, dass es „Philosophie Prothagoricienne“ statt „Philosophie Pythagoricienne“ sowie „Physique de Prothagore“ statt „Physique de Pythagore“ heißen muss, wie schon ein aufmerksamer Leser handschriftlich verbesserte.45 Insgesamt gelingt es Leclerc jedoch, das Original in einer verständlichen, dem Werk angemessenen Weise ins Französische zu übertragen. Der Leser dieser Artikelserie darf also durchaus davon ausgehen, durch Leclercs gründliche Übersetzungsarbeit einen sehr weit reichenden Einblick in Cudworths True Intellectual System gewonnen zu haben. Deshalb scheint es gerechtfertigt, wenn Leclerc zum Abschluss der Übersetzung des ersten Kapitels schreibt: „C’EST là ce que l’on trouve dans le Chapitre I. du Systeme Intellectuel de Mr. Cudworth; sur quoi l’on fera ici quelques remarques“.46 3.1.1.7
Weiterführende Bearbeitungsstrategien
Darüber hinaus hebt sich Leclercs Artikelserie durch drei Verfahren von einem bloßen Übersetzungsunterfangen ab. Erstens nimmt Leclerc gewisse Neuerungen und Modernisierungen des Cudworthschen Originals vor, zweitens wird die Übersetzung immer wieder durch Kommentare inhaltlicher Art unterbrochen, die Leclerc deutlich als eigene Gedanken markiert. So heißt es bei der ersten dieser Unterbrechungen in der Fußnote: „La remarque suivante est de l’Auteur de la B. C.
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Leclerc: Article III. Vol. I. Tome I, S. 32/102f. Vgl. „Dans son Theatetus, après avoir dit en géneral que la Philosophie Pythagoriecienne supposoit que tout est composé de particles insensibles, & formé par le mouvement local, il parle ainsi des couleurs en particulier, selon la Physique de Pythagore“, (Leclerc: Article III. Vol. I. Tome I, S. 24/71). Leclerc: Article III. Vol. I. Tome I, S. 40/132.
& non de Mr. Cudworth“.47 Drittens erfolgt durch Leclerc eine erste philologische Aufwertung der Cudworthschen Zitatensammlung. Leclercs Aktualisierung des True Intellectual System Im ersten Artikel sind solche Neuerungen, die nicht wie die Anmerkungen explizit als solche gekennzeichnet sind, gleich zu Beginn der Übersetzung auszumachen. Sie erfolgen dabei in einer Weise, dass sie durch eine geschickte Fokusverschiebung und Aktualisierung einerseits das Leserinteresse wecken, andererseits aber auch die spätere Diskussion mit Pierre Bayle begründen. Behandelt Cudworth zu Beginn seiner Studie ausführlich die verschiedenen Ausprägungen des Fatalismus in der Antike, so springt Leclerc sogleich zur demokritischen Variante des Fatalismus. Gemeint ist die völlige Mechanisierung des Weltbildes als Folge der Absolutsetzung des Atomismus, worauf Cudworth in den Ausführungen seines ersten Kapitels zweifellos einen Schwerpunkt setzt. Bei Leclerc heißt es nun: „Pour ne parles que de la Nécessité méchanique, […] ceux qui la soûtenoient étoient de veritables Athées; comme Democrite, & ceux qui ont renouvellé ses sentimens, au moins en partie, comme Hobbes & Spinosa“.48 Cudworth Verhältnis zu zeitgenössischen Denkern wird somit – anders als von Cudworth selbst – nicht mit bloßen Andeutungen skizziert. Cudworth streitet zwar an vielen Stellen seines Werks explizit gegen Hobbes, hatte aber seine Opposition gegen Spinoza lediglich angedeutet, zumal ihm dessen Position 1671 nur aus zweiter Hand, etwa durch Limborch bekannt gewesen sein mochte.49 An dieser anfänglichen Stelle des True Intellectual System bezieht sich Cudworth jedoch weder auf den einen noch auf den anderen, zumal der Bezug auf Spinoza inhaltlich hier auch sehr gewollt anmutet, ist Spinozismus doch vielmehr als das zu identifizieren, was im späteren von Cudworth als Hylozoismus beschrieben wird und die Entlehnung der Figur der plastischen Natur für seine Naturphilosophie einleitet. Jedoch erhielt Cudworths True Intellectual System – und damit auch die vorgelegte Übersetzung – allein durch die Behauptung seiner Opposition gegen Hobbes
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Leclerc: Article I. Vol. II. Tome I, S. 25/75. Im Folgenden wird nur noch verkürzt bemerkt: „Remarques de l’Auteur de la B. C.“ (z.B. S. 28/84) bzw. an einigen Stellen auch „Reflexion de […]“ (Leclerc: Article I. Volume II. Tome I, S. 122/26) oder „Paroles de […]“ (z.B. Leclerc: Article II. Volume IX. Tome II, S. 344/44). Leclerc: Article III. Vol. I. Tome I, S. 24/68. Schon 1671 wurde das Imprimatur des True Intellectual System gedruckt, wenn es auch erst 1678 veröffentlicht wurde. Nach dem Imprimatur hat Cudworth jedoch vermutlich nicht mehr sein Werk weiter bearbeitet. Cudworth kannte nur Spinozas Tractatus und war eher an dessen politischen Auswirkungen denn an seinem philosophischen Gehalt interessiert. Die Ethica war zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht veröffentlicht. „In jedem Fall hatten Spinozas Schriften zu diesem Zeitpunkt noch nicht jene große Aufmerksamkeit gefunden und Widerlegungsbestrebungen ausgelöst wie zu jenem Zeitpunkt, als sich Bayle kritisch mit Cudworth auseinandersetzt und ihm Spinozismus vorwirft“, analysiert Grossklaus: Natürliche Religion, S. 137.
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und Spinoza an zentraler Stelle eine ganz neue Relevanz. Deshalb liegt es hier nahe, Leclercs Neuerung unter vermarktungsstrategischen Gesichtspunkten zu verstehen: Die Bezugnahme auf die zeitgenössische Atheismusdiskussion machte sein Werk für die holländischen Philosophen und Philologen besonders interessant, da dort die Diskussion um Spinozas Atheismus in vollem Gang war. Vor dem Hintergrund dieser Kontextverschiebung ist auch die Heftigkeit des Einstiegs in die Debatte mit Leclerc zu verstehen, wie sie Pierre Bayle, der nach eigener Aussage des Englischen nicht mächtig war, und deshalb das True Intellectual System nur in der Leclercschen Fassung kannte, anstrengt.50 Dirk Grossklaus kommentiert in seiner Studie zu Shaftesburys Bezug auf die Cambridge Platonists: „Bayle nahm jedoch Leclerc beim Wort und testete das vermeintliche Gegengift gegen Spinoza auf seine Wirksamkeit“.51 Ähnlich verhält es sich auch mit der Einführung eines weiteren prominenten Namens auf der folgenden Seite: Descartes kommt ins Spiel. „C’est là le sentiment de Descartes, mais on va voir qu’il étoit beaucoup plus ancient que lui.“52 Descartes wird damit als derjenige eingeführt, der die Unzulänglichkeiten des Atomismus überwindet, kann die atomistische Philosophie in der demokritschen Variante doch beispielsweise unsere Seele nicht erklären. Auch Cudworth nimmt im ersten Kapitel positiv auf Descartes Bezug und wertet seine Philosophie als verbesserte Neuauflage des antiken Atomismus, jedoch noch nicht an dieser frühen Stelle. Inhaltlich ist also diese Referenz nicht falsch, sie stellt allerdings durch ihre Vorwegnahme eine deutliche Akzentverschiebung hinsichtlich des Versuchs dar, an aktuelle Debatten anzuknüpfen. Man beachte, dass die Hervorhebungen der Namen, Hobbes, Spinoza und Descartes nicht auf mich zurückgehen, sondern von Leclerc eingeführt worden sind. Durch dieses einfache typographische Mittel fallen sie sofort ins Auge. Jedoch ist dies nichts ungewöhnliches, auch Cudworth setzt mit Vorliebe Ausdrücke, Namen und Zitate kursiv, nur dass Leclerc sehr viel sparsamer und gezielter mit dieser Druckart umgeht, sie somit effektvoller nutzt. Dieses Verfahren des Verweisens auf die großen Philosophen der Zeit durchzieht Leclercs gesamten Artikel. Wo Cudworth lediglich von „a late Writer of Politicks“53 spricht, löst Leclerc diese Anspielung, die für die meisten Leser ohnehin verständlich gewesen sein dürfte, auf und nennt Hobbes in einer Fußnote. Im 50
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Vgl. Pierre Bayle: Continuation des Pensées Diverses […] a l’occasion de la comète. In: Ders.: Œuvres Diverses. Bd. III. Hildesheim 1966 [ND der Ausg. Den Haag 1727]. Und Pierre Bayle: Pensees Diverses Ecrits a un Docteur de Sorbonne, A l’occasion de la Comete qui parut a mois de Decembre M.DC.LXXX (1682). In: Ders.: Oeuvres Diverses. Bd. III, Avec une introduction par E. Labrousse, Hildesheim 1966, S. 285: „Si j’entendois l’Anglois je ferois peut-être une longue digression pour examiner les preuves de Mr. Cudworth, mais ayant le malheur de n’entendre pas cette langue, je ne faurois entrer dans aucun détail“. Grossklaus: Natürliche Religion, S. 137. Leclerc: Article III. Vol. I. Tome I, S. 24/69. Cudworth: True Intellectual System, S. 53.
selben Abschnitt wird durch eine weitere Fußnote Gassendi eingeführt, so dass ein Abschnitt, der im Original v.a. mit der aristotelischen Ethik befasst war, den Zeitgenossen als in aktuelle Debatten verstrickt erscheint.54 Im abschließenden Kommentar des Artikels kommt Leclerc ausführlich auf Descartes zurück, der von ihm als novateur bezeichnet und gelobt wird, er habe die Abkehr von der Scholastik hin zur Forschung vollzogen, was eine Kritik an Cudworth impliziert, der einen so anderen Denkstil gepflegt hat.55 Leclerc nimmt außerdem die Ergänzung von unterstützenden Zitaten vor, einerseits in Form von zusätzlichen Belegen aus der Antike, andererseits aber auch durch Bezug auf Autoren, die erst nach Cudworth und meist unabhängig von ihm, eine seine Argumentation stützende These aufgestellt haben. Ersteres erfolgt bei der Übersetzung von Paragraph XXXIII des ersten Kapitels, mit Bezug auf den Kreis des Lebens hatte Cudworth Platon zitiert, Leclerc findet eine passende Stelle auch bei Heraklit, wie er von Porphyr dargestellt wird.56 Zum zweiten Punkt: Als Cudworth zur Veranschaulichung der Weisheit Gottes bei der Schöpfung der Welt die Neigung der Erdachse analysiert, verweist Leclerc auf neuere naturwissenschaftliche Erkenntnisse, um Cudworths physikotheologisches Argument zu untermauern. Leclerc schreibt: „Les Principes de la Physique de Mr. Newton & l’Astronomie de Mr. Gregory leur fourniront de très-belles lumieres pour cela“.57 So ist Leclerc an einigen Stellen ausführlicher als der ohnehin schon ausführliche Cudworth, an anderer Stelle aktualisiert er ihn. Leclercs naturwissenschaftlicher Interpretationsansatz Eine naturwissenschaftlich orientierte Interpretation des plastischen Naturprinzips gelang Leclerc v.a. durch die Parallelisierung der Cudworthschen Philosophie mit der physiologischen Weltbeschreibung des Sekretärs der Royal Society Nehemiah Grew (1641–1712), wie dieser sie in der Cosmologia Sacra vornahm, die Leclerc zur gleichen Zeit in der Bibliothèque Choisie exzerpierend übersetzte.58 Leclerc schreibt als Remarques de l’Auteur de la B. C. um den Zusammenhang zwischen Cudworth und Grew zu explizieren: * Voilà bien des raisons, pur soûtenir le sentiment de Mr. Cudworth, dont on a parlé au II. Article de ce volume, par lequel il établit une Nature Plastique; car cette Nature, ou les Vies vé54 55 56 57
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Leclerc: Article III. Vol. I. Tome I, S. 38/127. Vgl. ebd., S. 41/136. Vgl. ebd., S. 33/107. Jean Leclerc: ARTICLE II „Réponses aux objections des Athées, sur la Providence Divine, à quelques unes des Questions qu’ils font sur la conduite de Dieu, & à leurs raisonnemens pur montrer qu’il seroit à souhaiter qu’il n’y eût point de Religion pour l’interêt du Genre Humain. Tiré de la derniere Section du Ch. V. du Système Intellectuel de Mr. CUDWORTH“. In: Ders.: Bibliothèque Choisie. Vol. IX. Tome II, S. 343/41–359/103, hier S. 344/44. Vgl. Leclerc: Article I. Vol. I. Tome I; Leclerc: Article XIII. Vol. II. Tome I und Leclerc: Article V. Vol. III. Tome I.
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getatives & sensitives semblent être la même chose, & Mr. Grew leur attribue les mêmes fonctions, que Mr. Cudworth donne à sa Nature Plastique.59
Vor allem durch diese Gleichsetzung erhält die plastische Natur eine ganz andere als von Cudworth intendierte Stoßrichtung, war doch Nehemia Grew als Botaniker aktives Mitglied der Royal Society und betrachtete die Welt aus der Perspektive naturwissenschaftlichen Erkenntnisinteresses.60 Leclercs Motivation dürfte allerdings in einer Aufwertung der Cudworthschen Philosophie gelegen haben, die durch die Interpretation dieses Prinzips anhand zeitgenössischer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse erfolgte. Um die Legitimität einer solchen Parallelsetzung beurteilen zu können, erscheint ein Exkurs hinsichtlich der Ausführungen Grews als lohnend. Grew entwickelt v.a. im zweiten Buch der Cosmologia Sacra eine Theorie der lebendigen Substanzen, „Substances Vivantes“61 oder „Etre Vivant“62 in der Leclercschen Übersetzung. Leclerc überschreibt diesen Teil der Übersetzung mit Qu’il y a un Monde doùe de „vie“, de „Sentiment & d’Intelligence“, que Dieu a fait. Tiré du II Livre de la Cosmologie Sacrée de Mr. „Grew“. Grew argumentiert für sein Lebensprinzip, indem er zuerst die Möglichkeit eines solchen Prinzips aufzuzeigen gedenkt, woraufhin dann seine Notwendigkeit zu zeigen ist. „Je monterai donc que leur [i.e. Substances Vivantes, Ergänzung I.K.] existence est possible, que la Raison demande que nous la reconnoissions, & qu’elle le demande même nécessairement.“63 Schließlich findet sich eine Illustration des Lebensprinzips anhand von Beispielen aus dem Bereich der neueren Naturforschung.64 Im Laufe dieser Argumentationskette kristallisiert sich ferner eine naturwissenschaftliche Bestimmung des Grewschen Lebensprinzips heraus. In Leclercs Übersetzung heißt es: „Chaque mouvement est en quelque sort coëtendu, pour parle comme nôtre Auteur, avec le corps mû“.65 Leclerc unterstreicht dies in einer anschließenden Bemerkung: „On pourroit donc dire qu’un Etre Vivant est un Etre dont nous connoitsons cette proprieté, c’est qu’il a en lui-même un principe de mouvement, qui fait qu’il peut remuer la matiere, & sentir à son tour le mouvement de la matiere, à laquelle il est uni“.66 Das Lebensprinzip wird also als Bewegungsprinzip bestimmt, Bewegung macht die Körper lebendig. „Ainsi ce que le mouvement est à tous les corps, la Vie l’est à
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Vgl. Leclerc: Article XIII. Vol. II. Tome I, S. 208/371. Vgl. Leclerc: Article VI. Vol. I. Tome I, S. 64/228–230. Beispielsweise Leclerc: Article XIII. Vol. II. Tome I, S. 203/353. Beispielsweise ebd., S. 204/354. Ebd., S. 203/353. So wird beispielsweise auf die Reproduktion der Zoophyten, einem Übergangswesen von Pflanzenwelt zu Tierreich eingegangen, vgl. Leclerc: Article XIII. Vol. II. Tome I, S. 206/365. Leclerc: Article XIII. Vol. II. Tome I, S. 204/354. Im Orig. formulierte Grew: „For every Motion, is in some sort coextended with the Body moved“ (Grew: Cosmologia Sacra, S. 31). Leclerc: Article XIII. Vol. II. Tome I, S. 204/354.
sa maniere à toutes les Substances vitales.“67 Hieraus ergibt sich das Zusammenspiel von Körper und Seele: „On voit par-là que l’union de l’Ame & du Corps, & de toutes les choses vitales avec les corporelles, n’est autre chose que le rapport qu’il y a entre la Vie & le mouvement qu’ils sont capables d’avoir“.68 So ist das Leben nicht mit Bewegung gleichzusetzen, das Lebensprinzip ist vielmehr die Kraft, die die Richtung der Bewegung bestimmt.69 Damit wird von Grew im Gegensatz zu Descartes ein nicht substanzieller Lebensbegriff angestrebt, der sich nicht im Blut, dem Gehirn oder den Nerven festmachen lässt.70 Wie schon Leclercs Überschrift verdeutlicht, sieht Grew auch in den Sinneswahrnehmungen und im Denken Ausprägungen desselben Lebensprinzips. „Tout sentiment est une certaine maniere de Vie, dans une substance vitale; qui répond à une certaine manière de mouvement, dans les Corps.“71 Da auch der Intellekt als Lebensäußerung aufgefasst wird, entsteht im Hinblick auf erkenntnistheoretische Zusammenhänge ein Korrespondenzverhältnis. Auch die Natur, nicht allein Gott, sondern alle „Vital Beings“ können von den Sinnen nicht erfasst werden, sondern nur durch den Intellekt verstanden werden.72 Somit erhält Cudworths plastische Natur durch Grews wissenschaftliches Renommee quasi eine naturwissenschaftliche Fundierung, da ihre Gedanken ohne viel Verbiegen als übereinstimmend eingestuft werden könne, auch wenn Grews Überlegungen einen stärker physiologischen Hintergrund haben. Ein vergleichbares Anliegen scheint der Artikel Remarques sur le premier principe de la sécondité des Plantes & des Animaux, où l’on fait voir que la suposition des Natures Plastiques, ou Formatrice, sert à en rendre une raison très-probable,73 in dem die Ansichten von verschiedenen Naturforschern wiedergegeben werden, unter anderem von Denis Dodart (1634–1707), der ähnlich wie Grew, ein Studium der Medi-
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Ebd., S. 205/361. Im Orig. formuliert Grew: „What therefore motion is, to all Bodies; that Life is, Suo modo, to all the Species of vital Substance“ (Grew: Cosmologia Sacra, S. 34). Leclerc: Article XIII. Vol. II. Tome I, S. 205/362. Vgl. Grew: „And from hence arises the Conformity, between the Impresions of the Mind, and the Motions of the Body“ (Grew: Cosmologia Sacra, S. 34). Ein Gedanke, der an die präetablierte Harmonie bei Leibniz erinnert. Vgl.: „[T]o determine the manner of ist being transfer’d; or of returning an Impression upon Bodies, suitable unto that which it receives“ (Grew: Cosmologia Sacra, S. 35). Vgl. auch Leclerc: Article XIII. Vol. II. Tome I, S. 206/362: „qui determine le transport du mouvement, ou qui fait une impression sur les corps, conforme à celle qu’il en a reçue“. Vgl. Leclerc: Article XIII. Vol. II. Tome I, S. 204/356f. und Grew: Cosmologia Sacra, S. 32. Leclerc: Article XIII. Vol. II. Tome I, S. 207/366f. Vgl. auch: „All Sense, is a certain Mode of life, in a Vital Substance; answerable to a certain Mode of Motion in a Body“ (Grew: Cosmologia Sacra, S. 37). Vgl. Grew: Cosmologia Sacra, S. 48. Hinsichtlich des theologischen Fundaments ist ein starker physikotheologischer Zug auszumachen. Vgl.: „By contemplation of God, as in Himself, and in his visible Works [Hervorh. I.K.]; we know what he is. We know, that his Perfection is Boundless and Absolute“, (Grew: Cosmologia Sacra, S. 78). Vgl. Leclerc: Article VII. Vol. VII. Tome II, S. 178/255–186/286.
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zin absolvierte, Mitglied der Pariser Akademie der Wissenschaften war und sich als Botaniker einen Namen machte.74 Dodart entwickele zwar kein eigenes philosophisches System, aber es werde Leclerc zufolge aus seinen Naturbeschreibungen deutlich, dass er eine Art plastisches Naturprinzip annehme, da Dodart beschreibe, dass im Samen („la graine“) des Baumes ähnlich kleiner Bäume die gesamte Entwicklung des Sämlings angelegt ist.75 Diese Ansicht sieht Leclerc auch in dem nun folgenden Zitat aus der Histoire de l’Academie des Sciences de Paris von 1701, wo Mr. de Fontenelle in verkürzter Form die Erkenntnisse Dodarts darstellt, bestätigt.76 Dort heißt es: Un Arbre étêté, qui pousse de nouvelle branches, où les prend-il? Mr. Dodart prouve & cela paroît de soi même tout à fait vrai-semblable, que ni le tronc de l’Abre, qui n’est qu’un paquet de fibres, ou un amas de tuyaux privez d’action: ni la sêve, qui comme le sang est propre à nourrir des parties & non pas à les former, ne produisent ces branches nouvelles; que par consequent elles devoient exister avant l’étêtement des Arbes, mais en petit & renfermées en des bourgeons invisibles.77
Außerdem weist Leclerc auf die Physique von Malpighi und Grew hin, wobei er den Begriff des Mechanischen positiv fasst.78 Es heißt: Si l’on examine la structure des Plantes & des Animaux, en commençant par les plus simples, & en allant pas discovenir qu’on n’y voye un ordre & une méchanique [Hervorh. I.K.] tout à fait admirables; comme ceux, qui ont écrit maux l’on démontré évidemment, sur tout depuis que l’on a appris l’art de servir du Microscope.79
Ferner geht Leclerc auf Redis De la Géneration des Insectes ein, dessen Naturbeschreibungen ebenfalls ein vitalistisches Konzept zugrunde liegt, wobei eine Abgrenzung gegen das Descartessche Mechanismuskonzept in Bezug auf Pflanzen und Tiere erfolgt, die mit Maschinen gleichgesetzt werden.80 Die Materie selbst sei nicht in der Lage, etwas zu produzieren, da sie bar jeder Eigenaktivität ist.81 Es 74 75
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Vgl. Académie des Science: Histoire de l’Academie des Sciences de Paris, 1700 und 1701. Vgl. Leclerc: Article VII. Vol. VII. Tome II, S. 179/261. Im selben Artikel (S. 184/279) heißt es dann, dass schon alle Embryonen mit Adam und Eva angelegt gewesen seien. Der Embryo wird außerdem z.B. dafür, dass Struktur und Leben ohne Bewusstsein entsteht (S. 185/283), Bayle hingegen wird den Foetus als Maschine auffassen. Bernard le Bovier de Fontenelle (1657–1757), einflussreicher französischer Schriftsteller der Aufklärung. Werke: u.a. Dialogues de morts (1683) und Entretiens sur la pluralité des mondes (1686). Histoire de l’Academie des Sciences de Paris 1701, zit. nach: Leclerc: Article VII. Vol. VII. Tome II, S. 180/262. Ausführlicher vgl. Leclerc: Article IV. Vol. VII. Tome II. Leclerc: Article VII. Vol. VII. Tome II, S. 182/270. Vgl. ebd., S. 182/272. Allerdings ist, wie schon gezeigt, bei Leclerc der Maschinenbegriff nicht automatisch negativ besetzt. So führt er ihn selbst in eine Übersetzung ein, obgleich das Original an dieser Stelle diesen Begriff oder ein Äquivalent, das mit damit übersetzen könnte, nicht gebraucht. Vgl. Leclerc: Article II. Vol. IX. Tome II, S. 344/43: „[L]a machine du Corps des Animaux“. Vgl.: „La matiere toute seule est incapable de rien produire, parce qu’elle est destituée de toute action“ (Leclerc: Article VII. Vol. VII. Tome II, S. 182/272).
bedürfe daher einer immateriellen Ursache, die als eine Art Kraftzentrum die einzelnen Atome („qui se mouvront confusément“) zusammenhält. Die Beschreibung dieser immateriellen Ursache („qui ait en elle même un principe interieur d’action“,82 „qui agisse avec ordre & d’une maniere constante“)83 ließe es zu, sie als plastische Natur nach Cudworth zu verstehen. Leclerc schreibt: „Il se peut donc faire qu’il y ait des Natures Immaterielles, qui président sur la formation des Corps organizez. Je les nomme, avec Mr. Cudworth, des Natures Plastiques, ou Formatrices“.84 Es bleibt zu bemerken, dass Leclerc sich an dieser wie auch an anderer Stelle veranlasst sieht, den Begriff Plastiques durch ein besser verständliches Synonym zu ergänzen. Außerdem ist es die Begrifflichkeit Cudworths, auf die er rekurriert und nicht etwa die Grews, der als Naturforscher näher an der Thematik gewesen ist. Dies zeigt die ungeheure Wertschätzung, die Cudworths Philosophie durch Leclerc erfährt und den Stellenwert der einer philosophischen Weltbeschreibung verglichen mit naturwissenschaftlicher Forschung zu dieser Zeit noch zugekommen sein muss. Hinweise auf damals aktuelle Forschungsergebnisse innerhalb der Übersetzung selbst sind allerdings zumeist keine Neuerung Leclercs, sondern gehen auf Cudworth zurück. So wird das Sehen im Rahmen der Korpuskulartheorie mit Hinweis auf die Bewegung der Sehnerven beschrieben, „par le moyen de l’ébranlement des nerfs optiques“85 heißt es bei Leclerc, was eine, will man genau sein, dramatisierende Übersetzung des Cudworthschen „occasiond by different Motions on the Optick Nerves“86 darstellt, meint l’ébranlement doch Zerrüttung oder Erschütterung. Ein weiteres Beispiel für die Bezugnahme auf naturwissenschaftliche Neuerungen ist, dass Cudworth auf das Mikroskop verweist, wenn es darum geht, die Regelmäßigkeiten in der Natur, die durch das plastische Naturprinzip hervorgebracht werden, zu erfassen. Interessanterweise weist Cudworth im selben Satz auf Galen hin. Auch dieser habe das Künstlerische am Bein einer Fliege bewundert, was durch das Mikroskop nur noch evidenter geworden sei. Auf diese Weise verbindet Cudworth antike und neuzeitliche Naturforschung.87 Leclercs naturwissenschaftliche Interpretation des True Intellectual System ist somit dem Cudworthschen Oevre keineswegs fremd, bedeutet aber eine signifikante Verschiebung des gesetzten Akzents in Richtung Naturwissenschaft. Leclerc lobt Cudworth in diesem Sinn für seinen plastischen Naturbegriff auch dahingehend, dass damit eine Vorstellung von Naturgesetzen entwickelt wird, die, als von Gott abhängig, die Welt in regelmäßigen Bahnen verlaufen lässt. Leclerc schreibt: „On dit bien que tout se fait selon les Loix, que Dieu a établies; mais 82 83 84 85 86 87
Leclerc: Article VII. Vol. VII. Tome II, S. 182/272. Ebd., S. 182/273. Ebd., S. 183/276. Leclerc: Article III. Vol. I. Tome I, S. 24/71. Cudworth: True Intellectual System, S. 8. Ebd., S. 147 und Leclerc: Article II. Vol. II. Tome I, S. 135/80.
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comme il s’agit de chose corporelles, il faut qu’il y ait quelque cause, qui execute ces Loix; soit que ce soit Dieu lui-même, ou quelque cause subalterne“.88 Cudworth, selbst ein frühes Mitglied der Royal Society, teilte mit seinem späteren Übersetzer und Interpreten Leclerc also das Interesse an naturwissenschaftlicher Forschung. Im Unterschied zu Leclerc, trägt Cudworths Umgang mit naturwissenschaftlichen Forschungsergebnissen allerdings eher den Charakter von illustrierenden Beispielen zu schon entwickelten philosophisch-theologischen Welterklärungsmodellen. Umstrukturierung des True Intellectual System An einigen wenigen Stellen nimmt Leclerc eine vollständige Neuanordnung des von Cudworth gestalteten Materials vor. Am auffälligsten ist diese Neuordnung im zweiten Teil des Leclercschen Übersetzungsprojekts, das sich mit dem antiken Atheismus beschäftigt. Um dem Thema des antiken Atheismus gerecht zu werden, zieht Leclerc die entsprechenden Passagen, des zweiten und dritten Kapitels des True Intellectual System zusammen. Leclerc macht dieses Verfahren in einem einleitenden Absatz explizit.89 Dafür werden die im zweiten Kapitel des True Intellectual System aufgelisteten atheistischen Einwände gegen Gott von Leclerc übersprungen, werden sie doch auch bei Cudworth erst im vierten Kapitel näher behandelt und widerlegt. Leclerc nimmt Cudworths Erwähnung in Paragraph III des zweiten Kapitels, dass es neben dem korporalen Atomismus noch eine andere Form von Atheismus gäbe, nämlich den Stratonischen, zum Anlass, um zu Paragraph I des dritten Kapitels zu springen, wo der stratonische Atheismus bzw. der Hylozoismus ausführlich behandelt wird.90 Nach der Übersetzung des Paragraphen XXXIII des dritten Kapitels des True Intellectual System fehlt die Übersetzung der Paragraphen XXXIV bis einschließlich XXXVII, was Leclerc mit folgendem zusammenfassenden Kommentar überbrückt: L’Auteur fait d’autres remarques sur les differentes especes d’Atheisme, dont on a parlé & fait voir, qu’elles se détruisent l’une l’autre; ce qui est une réfutation génerale de tous ces systems. Mais il les détriot encore en particulier, en répondant aux objections, que ces Philosophes ont faites contre la Divinité, comme on le verra dans, la suite de ces Extraits.91
Bevor es mit der Übersetzung des XXXVIII. Paragraphen weitergeht, erfolgt die Ankündigung einer gesonderten Übersetzung des XXXVII. Paragraphen, der circa dreizig Seiten stark, die Abhandlung über die plastische Natur umfasst und den 88 89 90 91
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Leclerc: Article II. Vol. II. Tome I, S. 135/80. Vgl. Leclerc: Article I. Vol. II. Tome I, S. 118/12. Vgl. ebd., S. 120/19f. und Cudworth: True Intellectual System, S. 105ff. Leclerc: Article I. Vol. II. Tome I, S. 133/72.
Inhalt des folgenden Artikels ausmacht. 92 Leclerc schreibt: „Il fait aprés cela une Digression, dans le Ch. III. Dont nous donnerons l’Extrait, sur la Nature Plastique, dons nous donnerons le précis dans un Article à part“.93 Dem Inhalt des True Intellectual System tut diese Umstrukturierung allerdings keinen erkennbaren Abbruch, vielmehr erscheint die Übersetzung sogar verständlicher als das Original, sind doch die Cudworthschen Gedankensprünge manchmal irritierend. Da sich an die Ausführungen dieser beiden Artikel die Debatte mit Bayle anschließt, findet sich eine nähere inhaltliche Darstellung weiter unten in diesem Kapitel. Häufiger als eine solch weitreichende Neuanordnung erfolgt durch Leclerc eine Gliederung, die das von Cudworth Geschriebene geordneter und damit auch verständlicher erscheinen lässt. Die Paragraphenzählungen, die Cudworth zur Orientierung des Lesers vornimmt, finden sich in Leclercs erstem Artikel nicht, im zweiten Kapitel übernimmt er Cudworths Absatzeinteilung und Zählung, ist ihm aber ab Absatz IV um einen Zähler voraus.94 Der dritte Artikel, der die plastische Natur behandelt, stimmt nummerologisch mit dem Original überein.95 An einigen Stellen führt Leclerc selbst Aufzählungen ein. Die Absätze beginnen mit Premierement, En second lieu, En troisiéme lieu, En quatriéme lieu, Enfin. So wird das von Cudworth angebrachte vielfältige Material in einen geordneten, übersichtlicheren Zusammenhang gebracht, beispielsweise bei der Übersetzung von Paragraph XXXVIII, der eine Zusammenfassung der bisher dargestellten Korpuskularphilosophie bietet.96 Es wird dabei deutlicher als in Cudworths fortlaufender Darstellung, dass ausschließlich lokale Bewegung durch den Mechanismus erklärt werden kann, wodurch beim damaligen Stand der Naturwissenschaften viel Platz für den Geist entstand, der als Erklärungsmodus für sämtliche andere Art von Bewegung und Veränderung einspringen konnte. Allerdings muss hinzugefügt werden, dass die Erklärung „lokale Bewegung“ recht weit gedehnt werden konnte. So galt heiß und kalt als Modifikationen unserer Seele, die durch die lokale Bewegung der Atome bedingt sind.97 Auch bei der Übersetzung des nächsten Paragraphen gelingt es Leclerc mit einfachem Mittel, Cudworths Gedankengang klarer und nachvollziehbarer zu machen. So schiebt er der Aufzählung verschiedener Positionen von Korpuskularphilosophie einen einleitenden Absatz voran, der erklärt, was das Augenmerk dieser Aufzählung ist: „Pour représenter plus distinctement les effets du choix de ces Philosophes, il faut examiner leur methodes [Hervorh. I.K.], l’une apres l’autre“.98 Im Sinne dieses Aufräumverfahrens kann auch die Auslassung des bei Cudworth 92 93 94 95 96 97 98
Vgl. Leclerc: Article II. Vol. II. Tome I, S. 135/78–148/130. Leclerc: Article I. Vol. II. Tome I, S. 133/72f. Vgl. ebd., ab S. 120/20. Vgl. Leclerc: Article II. Vol. II. Tome I, S. 135/78–148/130. Vgl. Leclerc: Article III, Vol. I, Tome I, S. 36/118–37/120. Vgl. ebd., S. 37/120 und Cudworth: True Intellectual System, S. 48. Leclerc: Article III. Vol. I. Tome I, S. 38/124.
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zentralen Zitats „That Nothing could be made out of nothing, nor reduced to nothing“99 bei der Übersetzung von Paragraph XV verstanden werden, bringt Leclerc dieses Zitat doch erst an der Stelle, wo Cudworth es ausgiebig behandelt.100 So stellt diese Auslassung als Aufhebung von Redundanz durchaus eine Neuordnung im Sinne von Systematisierung dar. Leclercs Kommentierung des True Intellectual System Leclerc nimmt, für einen Übersetzer untypisch, auch eine inhaltliche Kommentierung von Argumentationsketten, wie sie Cudworth entwickelt worden sind, vor, besonders dann, wenn es sich um für die zeitgenössische Debatte relevante Themen handelt. Ein erster größere Kommentar erfolgt in Cudworths Ausführungen hinsichtlich der Identität von Moschus dem Phönizier, der von Cudworth mit dem biblischen Moses identifiziert wird und zum Begründer der ursprünglichen und einer religiösen Weltanschauung zuträglichen atomistischen Philosophie erklärt wird.101 Ohne dies schon als Kommentar per Fußnote zu markieren, nichtsdestotrotz sprachlich als Eigenleistung Leclercs deutlich, fügt Leclerc Zitate von Strabon und Sextus ein, die dokumentieren, dass Moschus nicht der Erfinder der Atome gewesen sei.102 Zu Cudworths Gunsten ergänzt Leclerc, dass Mr. Huet der selben Meinung wie Cudworth und John Selden gewesen sei, dass es sich bei Mochus in Jamblichs Leben des Pythagoras um dieselbe Person wie den biblischen Moses gehandelt habe.103 Hierbei handelt es sich jedoch nicht um Leclercs Meinung. Er selbst, wie Leclerc im Folgenden ausführt, halte erstens nichts von den dieser Identifikation zugrunde liegenden etymologischen Spekulationen, zweitens findet Leclerc gewichtige inhaltliche Gründe, die gegen eine solche Identifikation sprechen. Für Leclerc erscheint es, etymologisch argumentierend, unwahrscheinlich, dass die Griechen das Phönizische mit dem Jüdischen verwechselt hätten, was allein die Namesähnlichkeit ausgelöst hätte. Leclerc schreibt, „qu’il n’y ait une grande ressemblance entre le nom de Moschus & celui de Moscheh, comme les Juiss écrivent le nom de Moise“.104 Auf inhaltlicher Ebene führt Leclerc an, dass sich in den Heiligen Schriften keine Spur von Naturforschung zeige, Ägypter und Phönizier seien jedoch in biblischen Zeiten auf diesem Gebiet viel bewanderter gewesen, was gegen den bibli-
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Cudworth: True Intellectual System, S. 16. Vgl. ebd., S. 30 und Leclerc: Article III. Vol. I. Tome I, S. 29/91. Vgl. Cudworth: True Intellectual System, S. 12f. Vgl. Leclerc: Article III. Vol. I. Tome I, S. 25/73f. Vgl. ebd., S. 25/75. Leclerc verweißt auf Huets Demonstration Evangelique Prop. IV. Ch. II § 7. 104 Vgl. Leclerc: Article III. Vol. I. Tome I, S. 25/75.
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schen Moses als Urheber der atomistischen Naturphilosophie spricht.105 Ferner sei Moschus der Phönizier Historiker und nicht Naturforscher gewesen, wie Leclerc mit einer beträchtlichen Anzahl von Quellen zu belegen sucht.106 Nachdem Leclerc so seinen Standpunkt in dieser philologischen Debatte erklärt hat, kehrt er recht unkompliziert wieder zu seinem Übersetzungsprojekt zurück. Mit „Pour revenier à l’histoire des corpuscules & à Mr. Cudworth“107 leitet Leclerc über zum nächsten Absatz im Cudworthschen Original. Seinen Standpunkt in dieser Debatte wichtiger nehmend als die wörtliche Übersetzung, verwendet Leclerc auch im Folgenden nicht den Begriff „Moschaical Philosophy“,108 sondern ersetzt diesen durch „l’ancienne Philosophie“.109 Auch im Folgenden haben Leclercs Kommentare v.a. eine abgrenzende Funktion, wird doch schon auch allein durch ihre Gattung die Differenz zwischen Autor und Übersetzer markiert. Besonders deutlich wird dies bei der Übersetzung des vierten Kapitels, das sich v.a. mit dem Monotheismus bei den Heiden beschäftigt, für den Cudwort mit der Figur der eingeborenen Gottesidee argumentiert, was im nächsten Kapitel betrachtet werden soll.110 Quellenkritische Aufarbeitung des True Intellectual System Leclerc macht auf den Cudworthschen Umgang im Hinblick auf das Zitieren aufmerksam, was angesichts der Fülle von Zitaten im True Intellectual System nicht unerheblich anmutet. Cudworth fühlt sich nicht dem Wortlaut des Originals verpflichtet, sondern zitiert aus dem Gedächtnis, nach Gewohnheit. So schreibt Leclerc im Anschluss an ein längeres Platon-Zitat aus dem Theaet, ohne dies allerdings, wie sonst üblich, als Kommentar zu markieren: „Il y a plusieur autres endroits, dans ce Dialogue, qui sont formels là-dessus, & que Mr. Cudworth rapporte en Grec & en Anglois, * selon sa coûtume“.111 In der hier angefügten Fußnote heißt es: „* Il auroit seulement été à souhaiter qu’en transcrivant ces passages dans les Originaux, il eût toûjours mis le livre, le chapitre, la page &c. des Auteurs qu’il cite“.112 Diesen Nachtrag von vollständigen bibliographischen Angaben leistet Leclerc über die gesamte Artikelserie hinweg an vielen Stellen mittels Fußnoten. Leclerc erbringt so den bibliographischen Nachweis für diejenigen Zitate und Bezüge, die Cudworth ohne Angaben bzw. nur mit Verweis auf den Autor, nicht aber auf das Werk eingeführt hatte. 105 106 107 108 109 110 111 112
Vgl. ebd., S. 25/75. Vgl. ebd., S. 26/76. Ebd., S. 26/77. Cudworth: True Intellectual System, S. 52. Leclerc: Article III. Vol. I. Tome I, S. 38/126. Vgl. Leclerc: Article I. Vol. III. Tome I, S. 226/11–250/106. Leclerc: Article III. Vol. I. Tome I, S. 25/72. Vgl. Cudworth: True Intellectual System, S. 10. Leclerc: Article III. Vol. I. Tome I, S. 25/72.
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Gleich die erste Fundstelle dieses Verfahrens darf auch für die nachfolgende Praxis als typisch gelten und wird deshalb als illustrierendes Beispiel herangezogen. Die erste philologische Aufwertung des Textes erfolgt mit Bezug auf die atomistische Philosophie von Demokrit und Leukip, wo Cudworth Aristotoles als Gewährsmann heranzieht. Der Bezug auf Aristoteles ist dabei klar gegeben, für die griechischen Zitate wie auch für deren englische Übertragung fehlt allerdings die Werksangabe.113 Leclerc beschränkt sich bei der Wiedergabe dieses Paragraphen auf die französische Übertragung dreier von fünf Zitaten, liefert dafür aber in einer Fußnote die entsprechende Werksangabe: „* De Gener. & Corrupt. Lib. I. c. 2“114 heißt es, wobei es dem Leser überlassen bleibt, anzunehmen, dass sich diese Angabe auf alle hier angeführten Zitate bezieht. Hiermit weist Leclercs Übersetzungspraktik auf Mosheims kritische philologische Kommentierung voraus. Quellenkritisch zeigt Leclerc in einem längeren Kommentar die schwierige Situation hinsichtlich der Sicherheit von Quellen zur Antike auf.115 Dies spiegelt Leclerc zufolge zum einen die Forschungsdebatte darüber wider, ob nach Aristoteles’ Meinung die Seele unsterblich gewesen sei. Zum anderen kenne man viele Autoren, die in antiken Quellen genannt werden, nur dem Hörensagen nach, ihre eigenen Schriften wären nicht überliefert, was die Einschätzung und Beurteilung ihrer Werke zusätzlich unsicher mache.116 Diese kritischen Anmerkungen sind als heikel für das Cudworthsche Unterfangen zu werten, da er einen recht vertrauensvollen Umgang mit Aussagen über die Meinung anderer Autoren in antiken Sekundärquellen pflegt. Ganz in diesem Sinne bemängelt Leclerc an anderer Stelle auch, dass Cudworth die Philosophie Platons und die Philosophie Plotins als ein und dieselbe versteht. Für eine ausführliche Klärung der Frage verweißt Leclerc auf sein eigenes Werk Artis Criticae.117 Auch im zweiten Teil seines Übersetzungsprojekts nimmt Leclerc einige Aufwertungen vor. Beispielsweise schreibt er an einer Stelle, an der bei Cudworth lediglich die Rede vom Stratonischen Atheismus ist: „Mais il y a eu encore une autre sorte d’Atheisme Philosophique, dont Straton de Lampsaque a été Auteur [Hervorh. I.K.], comme on le verra dans la suite“.118 Beachtlich ist auch die Quellenangabe zu Henry Mores Enchiridium Metaphysicum. In einer Fußnote ergänzt Leclerc „Imprimé à Londres en 1679, avec le reste de ses Oeuvres en 3 vol. in folio“.119 Leclerc bezieht sich damit auf eine neuere Ausgabe als Cudworth dies 113 114 115 116 117 118 119
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Vgl. Cudworth: True Intellectual System. Bd. I, S. 9. Leclerc: Article III. Vol. I. Tome I, S. 24/70. Vgl. ebd., S. 28/84. Vgl. ebd., S. 28/84f. Vgl. Leclerc: Article I. Vol. III. Tome I, S. 246/92. Leclerc: Article II. Vol. II. Tome I, S. 120/19f. Ebd., S. 135/81. Vgl. auch Leclerc: Article II. Vol. IX. Tome II, S. 346/52: Hier bezieht sich Leclerc auf dieselbe Ausgabe für die Quellenangabe zu den Divine Dialogues von Henry More: „C’est Henri More de Cambrige. On trouve ces dialogues à la fin du I Tome de ses Oeuvres Philosophiques, imprimées à Londres, en 1679, in fol“.
getan haben kann, ist das True Intellectual System doch schon 1678 in Druck gegangen. Grund dafür ist wahrscheinlich, dass die dreibändige Gesamtausgabe von Mores Werken damals die Standartausgabe gewesen ist und damit als Referenz maßgebend, wohingegen philologisch gesehen dieser Bezug nicht stimmig ist.120 3.1.2
Alternative Textvarianten des True Intellectual System
Um die Leclercsche Übersetzungsleistung angemessen beurteilen zu können, werden zum Vergleich die englische Bearbeitung von Thomas Wise und die lateinische Übersetzung von Mosheim herangezogen. 3.1.2.1 Wises An Abridgement Thomas Wise legte 1706 unter dem Titel A Confutation of the Reason and Philosophy of Atheism being an Abridgement or an Improvement of what Dr. Cudworth offered in his True Intellectual System eine völlige Neubearbeitung des True Intellectual Systems vor.121 Bei einem Textumfang von noch 881 Seiten plus einer Einleitung von 142 Seiten kann allerdings schlecht von einer gekürzten Version („Abridgement“) als vielmehr von einer zumindest angestrebten Verbesserung („Improvement“) gesprochen werden. In gewisser Weise handelt es sich dabei um die Rückübersetzung der Leclercschen Bearbeitung, auf die sich Wise expliziet bezieht. Schon bei der Betrachtung des ersten Satzes wird deutlich, wie stark diese Version vom Original abweicht. Wise beginnt sein erstes Kapitel wie folgt: FAtalists, or those who hold the Necessity of Human Actions and Events, may be reduc’d to three Heads: First, such as asserting the Deity, suppose it irrespectively to decree and determine all Things; and thereby make alle Actions necessary to us; and in this Rank have been indeed some of the Philosophers, but chiefly some modern Heterodox Christians.122
Zum Vergleich hier noch einmal der Anfang, wie ihn Cudworth gestaltet hat: THEY that hold the Necessity of all humane Actions and Events, do it upon one or other of these two Grounds; Either because they suppose that Necessity is inwardly essential to all Agents whatsoever, and that Contingent Liberty is , a Thing Impossible or Contradictious, which can have no Existence any where in Nature; The sence of which was thus expressed by the Epicurean Poet. – Quòd res quaeque Necessum Intestinum habeat conctis in rebus agendis, &c. That every thing Naturally labours under an Intestine Necessity: Or else, because though theey admit Contingent Liberty not only as a thing Possible, but also
120
Möglicherweise handelt es sich auch einfach um diejenige Ausgabe, die Leclerc zugänglich gewesen ist. 121 Die Ausgabe von 1732 trägt einen geänderten Titel. 122 Wise: An Abridgement, S. 1.
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as that which is actually Existent in the Deity, yet they conceive all things to be so determin’d by the Will and Decrees of this Deity, as that they are thereby made Necessary to us.123
Der direkte Vergleich macht deutlich, dass Wise sich zwar auf Leclercs Übersetzungsprojekt bezieht, sich aber dabei viel weniger dem Wortlaut des Originals verpflichtet fühlt, als dies bei Leclerc der Fall war. So kommt es, dass die französiche Übersetzung viel dichter am Original ist als die „gekürzte“ englische Ausgabe. Außerdem wird schon hier deutlich, dass Wises Bearbeitung sehr viel tendenziöser ist als Cudworth („but chiefly some modern Heterodox Christians“) und erst recht als Leclercs Übersetzung, der im Gegenteil darum bemüht war, Polemiken zu entschärfen. An diesem Beispielsatz ist ebenfalls symptomatisch für den Gesamttext, dass es sich um einen rein englischen Text ohne fremdsprachliche Einsprengsel handelt. Wise verwendet kaum lateinische und griechische Ausdrücke, wie es für Cudworth typisch ist. Auch ist der Cudworthsche Zitatenreichtum auf ein Minimum zurückgestutzt. Meist erfolgt nur eine Aufzählung von Personen, die eine bestimmte Position vertreten.124 Lediglich zentrale Zitate wie De Nihilo Nihil, in Nihilum Nil possereverti werden gebracht.125 Ansonsten finden sich originalsprachliche Zitate lediglich in verkürzter Form in Fußnoten.126 Interessanterweise gibt es auch Fußnoten, die auf Cudworth’s True Intellectual System verweisen,127 was mit dem Anspruch, eine verkürzte Version dieses Textes herauszugeben, schwer in Einklag zu bringen ist, aber an Abgrenzungsstrategien erinnert, die von Leclerc bekannt sind. Irritierend wirkt ferner die häufige Verwendung von Ich / I, v.a. da Cudworth selbst sich so nicht ausdrückt, es sich bei der Einführung dieses Pronomens um eine Bearbeitung von Wise handelt, die aber Cudworth bezeichnen soll: „I come next to account fort hat other grand Form of it, which I term Stratonicla or Hylozoical“.128 An diesem Zitat fällt außerdem auf, dass Wises Ausdrucksstil wesentlich einfacher und ungelehrter ist als der von Cudworth gepflegte. Wise hat auf formaler Ebene eine völlige Umstrukturierung des True Intellectual Systems vorgenommen, indem er das Buch in vierzehn Kapitel unterteilt. Der Gang der Cudworthschen Argumentation bleibt dabei allerdings bestehen. Nicht immer ist auszumachen, dass er sich bei der vorgenommenen Neuunterteilung an Sinnabschnitten orientierte. So bringt das dritte Kapitel nicht nur die Abhandlung über die plastische Natur, die Leclerc in einem gesonderten Artikel übersetzte, 123 124
Cudworth: True Intellectual System, S. 3. Vgl. beispielsweise: Eine unkörperliche Substanz haben in der Antike anerkannt „Pherecedes Syrus, Thales, Parmenides, Melissus, Socrates, Plato, Aristotle, Plotinus, &c“ (Wise: An Abridgement, S. 4). 125 Vgl. ebd., S. 8. 126 Vgl. beispielsweise ebd., S. 17. 127 Vgl. beispielsweise ebd., S. 59/60. 128 Ebd., S. 51.
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sondern eine Behandlung weiterer Formen des Atheismus „together with a necessary Digression concerning the Plastic life of Natur“.129 Anders als bei Leclerc gibt es keine Kommentare innerhalb des Textkorpuses, auch fehlen die von Leclerc eingeführten Fußnoten mit philologischen Quellenverweisen. Wie bei Cudworth ist jede Seite überschrieben, jedoch handelt es sich hier nicht um knappe inhaltliche Zusammenfassungen wie beim True Intellectual System, sondern um die immer wiederkehrende Überschrift The Reason and Philosophy / of Atheism confuted. Die Wisesche Fassung des True Intellectual System bietet sich also wenig an, will man das Cudworthsche Oevre kennenlernen, v.a. da in Punkto Sprachkompetenz für kein Lesepublikum eine Erleichterung geschaffen wird und der Umfang des Buches sich nur unwesentlich vom Original unterscheidet. 3.1.2.2 Mosheims Systema Intellectuale Ganz anders verhält es sich mit dem Wert der lateinischen Übersetzung, wie sie von Johann Lorenz Mosheim vorgelegt wurde. Bevor auf diese Fassung des True Intellectual Systems eingegen wird, erfolgt eine kurze Vorstellung der Person Mosheims. Zur Person: Johann Lorenz von Mosheim Johann Lorenz von Mosheim (1693–1755) wird behelfsmäßig als Übergangstheologe bezeichnet, einem Verlegenheitstitel für „das eigentümliche Changieren zwischen frühaufklärerischer Innovation und historisch-dogmatischer Reaktion“,130 einem Schwanken zwischen Orthodoxie und Aufklärung. Aufklärungstheologie meint hier eine Theologie, die geprägt ist durch Kritik an der besonderen, historischen Offenbarung, durch die Kritik am Wunder, an der Theologie von der Vorhersage Christi im Alten Testament, an kirchlichen Dogmen wie Trinitätslehre, Christologie und Erbsünde bei gleichzeitiger Betonung der Ethik für den Glauben. Mosheim teilte diese aufklärerische Kritik nicht. Mosheim aufklärerische Seite zeigt sich in der Befreiung der Kirchengeschichtsschreibung von der Vorherrschaft der Dogmatik. Mosheim ist der erste große Vertreter der kritischen Kirchen- und Dogmengeschichtsschreibung. Bereits im 17. Jahrhundert bahnte sich eine kritische Geschichtsschreibung an, die die Orthodoxie und die Ketzerei in einer neuen, objektiven Weise darstellen wollte. Mosheims Werk ist
129 130
Ebd., S. 51. Martin Mulsow: Zur Einführung. In: Ders. u.a. (Hg.): Johann Lorenz Mosheim (1693–1755). Theologie im Spannungsfeld von Philosophie, Philologie und Geschichte, Wiesbaden 1997 (im Folgenden abgekürzt mit: Mosheim, Theologie), S. 7–15, hier S. 7.
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von diesem Bestreben nach Objektivität und Gerechtigkeit geprägt, aber gleichzeitig von einer großen Vorsicht und einem gewissen Konservativismus.131 Mosheims aufklärerisches Potential zeigt sich ferner in seinem Verständnis vom Zusammenspiel von Glauben und Vernunft. So übersteigt nach Mosheim die Offenbarung zwar die Vernunft, ist aber nicht vernunftwidrig.132 Hier findet sich einer der wichtigsten Gründe Mosheims für die Übersetzung Cudworths, dessen zentrale These im True Intellectual System darin besteht, dass kein Widerspruch zwischen Vernunft und Offenbarung besteht. Diese theologische Ausrichtung erklärt Mosheims großes Interesse an englischer Theologie. Dabei muss man in Rechnung stellen, dass während der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Englischkenntnisse bei Gelehrten noch keine Selbstverständlichkeit waren. Mosheim hingegen konnte schon früh Englisch lesen, griff jedoch, wenn französische oder lateinische Übersetzungen vorlagen, gerne auf diese zurück.133 Shaftesbury ist einer der wenigen englischen Autoren, deren Hauptwerk, die Characteristicks Mosheim auch in englischer Sprache besaß, ebenso wie Henry Mores Philosophical Writings.134 Die Entwicklung der Naturwissenschaft wurde von Mosheim begrüßt, da sie mit der Herrschaft des Aberglaubens brach und so Staat und Kirche von Nutzen war. Außerdem stärkte sie die natürliche Religion, die physikotheologisch argumentierend die Macht Gottes aus der Struktur des Universums erwies.135 Trotz aller im Folgenden zu beschreibenden Differenzen zwischen Cudworth und Mosheim, wiegt diese grundlegende Gemeinsamkeit doch schwer genug, um ein solch groß angelegtes Projekt zu motivieren und zu tragen.136 Mosheims lateinische Übersetzung des True Intellectual System 1733 legte Mosheim seine lateinische Übersetzung des True Intellectual Systems mit dem Titel Systema intellectuale huius universi seu de veris naturae rerum originibus commentarii quibus omnis eorum philosophia, qui deum esse negant, funditus evertitur vor, das in Jena druckgelegt wurde. 1773 erfolgte in Leiden der Neudruck des Systema intellectuale.
131
Vgl. Eginhard Peter Meijering: Die Geschichte der christlichen Theologie im Urteil von J. L. Mosheim. Amsterdam 1995, S. 9. 132 Vgl. Meijering: Geschichte der christlichen Theologie, S. 14f. und Mosheim: De turbata per recentiores Platonicos ecclesia, 1725. 133 Häfner, Mulsow: Mosheims Bibliothek. In: Mosheim. Theologie, S. 373–399, hier S. 382f. 134 Vgl. ebd., S. 383. 135 Vgl. Meijering: Geschichte der christlichen Theologie, S. 332 und Mosheim: Institutiones historiae ecclesiasticae antiguae et recentioris. Helmstedt 1764, S. 747. 136 Mosheim übersetzte außerdem von Cudworth dessen Predigt The Union of Christ and the Church (London 1642) unter dem Titel Coniunctio Christi Et Ecclesiae in Typo enthalten in Mosheim, Systema. Ebenfalls in dieser Ausgabe enthalten ist Cudworths Fragment gebliebene Abhandlung über die Moral.
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Im Folgenden soll zuerst die Verzahnung des Leclercschen mit dem Mosheimschen Übersetzungsprojekte dargestellt werden, bevor dann Analyse und Bewertung der Übersetzung erfolgen. Von Leclerc zu Mosheim Als Auslöser für Mosheims ambitioniertes Übersetzungprojekt kann die Leclercsche Artikelserie gelten. „Le Clerc expressed a wish that some man of learning would translate the Intellectual System into Latin; but this design, though resolved upon and attempted by several persons in Germany, was never executed till the year 1733“,137 konstatiert Harrison im Vorwort zur englischen Ausgabe der Mosheimschen Übersetzung. Leclerc verweist im ersten Artikel seiner Übersetzungsserie darauf, dass eine vollständige lateinische Übersetzung des True Intellectual Systems sehr wünschenswert wäre. Er schreibt: „Il seroit à souhaiter que quelque habil homme entreprît de la traduire en Latin“.138 Diesem Wunsch kommt Johann Lorenz Mosheim mit dem Systema intellectuale nach. Mosheim nimmt in dem der Übersetzung vorangestellten Praefatio direkten Bezug auf Leclercs Übersetzungsunternehmen, wenn er schreibt: „Is ipse scilicet vir celeberrius, Io. Clericus, qui hanc cupiditatem accenderat, optaveratque, ut vir aliquis eruditus Latino sermone opus eximium exprimetur“.139 Er übersetzt also gewissermaßen im Auftrag Leclercs, dem er größte Wertschätzung entgegenbringt, versteht er doch dessen Wunsch nach einer lateinischen Übersetzung als Aufforderung für sein Tun.140 Dies zeugt unter anderem davon, dass Leclercs Bibliothèque auch dreißig Jahre nach ihrem Erscheinen noch Relevanz, Autorität und einen nicht unerheblichen Bekanntheitsgrad in gelehrten Kreisen besitzt. Leclerc hat damit auch für Cudworth ein nachhaltiges Forum geschaffen. Da Cudworth schon vor der Mosheimschen Übersetzung respektiert und durch die Debatte um Leclerc und Bayle in den gelehrten Kreisen Europas bekannt war, stellt Mosheims Übersetzungsprojekt keine unverständliche Wahl dar.141 In Anbetracht des Volumens von Cudworths True Intellectual System und der Tatsache, dass Mosheim ihn ganz und nicht in verkürzter Version übersetzt hat, lässt sich jedoch eine besondere Wertschätzung der Arbeit Cudworths ausmachen. Dies spiegelt sich auch darin wider, dass Mosheim außer dem True Intellectual System 137
John Harrison: Advertisement to the Present Edition. In: Cudworth, Harrison, S. iv. Vgl. Thomas Birch: Account of the life and writings of Ralph Cudworth. In: Ebd., S. xxii. 138 Leclerc: Article III. Vol. I. Tome I, S. 23/65. 139 Mosheim: Systema, Praefatio (keine Seitenzahlen). 140 Vgl. ebd.: „Postquam vero Iohannes Clericus, cuius eruditionem & in litteras merita nulli nesciunt, nisi qui litterarum plane rudes & ignari sunt, luculentissima & amplissima ex eo excerpta Gallico sermone cum litteraris communicaverat, non modo frequentius per ora omnium eruditorum ferri & insigniter laudari coepit verum etiam desiderium totum illud legendi & perlustrandi mirifice ubique terrarum crevit“. 141 Vgl. Hutton: Classicism, S. 211.
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noch weitere Werke Cudworths übersetzte, so A Treatise Concerning Eternal and Immutable Morality, das unvollendet geblieben den zweiten Teil des True Intellectual Systems bilden sollte, sowie mehrere Predigten. Leitlinien des Übersetzungsprojekts Mosheims Übersetzung hat den dreifachen Umfang des schon voluminösen Originals. Dies ist v.a. dem ausgiebigen Gebrauch von Fußnoten geschuldet, in denen Mosheim, wie vor ihm Leclerc, aber viel tiefgreifender als dieser, v.a. eine philologische Kritik an Cudworths Umgang mit antiken Quellen betreibt. Mosheim kritisiert beispielsweise Cudworths Umgang mit den Autoren der Antike dahingehend, dass er in ihre Texte zuweilen auch seine eigene Meinung hinein interpretiere. Mosheim beklagt „the too strong affection with which he regarded the opinions he had imbibed“.142 Da sich auf die nun in Zweifel gezogene Interpretation antiker Quellen Cudworths gesamte Argumentation gegen den Atheismus stützt, fügt die Mosheimsche Bearbeitung Cudworths Argumentationsziel auf den ersten Blick erheblichen Schaden zu. „By casting doubt on Cudworth’s interpretation of ancient philosophy, Mosheim’s criticisms strikes at the heart of Cudworth’s apologetic method“,143 urteilt auch Hutton. Mosheim verfolgte dabei allerdings keinerlei polemischen Zweck, wie dies bei Bayle auszumachen ist. Mosheim war es vielmehr um eine Verbesserung des Originals zu tun. Dabei orientierte sich Mosheim allerdings an anderen Maßstäben als sie für Cudworth galten. Mosheim teilt mit Cudworth nicht die Grundannahme einer philosophia perennis, deshalb wird in aufklärerischer Perspektive wird Cudworths freier Umgang mit verschiedensten Autoren der Antike zum Synkretismus. Mosheims Kommentare beschränken sich nicht allein auf die Kritik philologischer Ungenauigkeiten. Wie Leclerc vor ihm, positioniert sich auch Mosheim zu den von Cudworth entwickelten Argumenten und Thesen. Dies soll hier für die wichtigsten Punkte nachgezeichnet werden, um Mosheims Kritik am plastischen Naturkonzept, wie sie im zweiten Teil dieses Kapitels entwickelt wird, einordnen zu können. So sind grundsätzliche Differenzen zwischen Mosheim und Cudworth auszumachen, sie betreffen v.a. das Verhältnis zum Platonismus und damit einhergehend die Verortung der Trinitätsspekulationen. Auch deshalb müht sich Mosheim, das Verhältnis zwischen griechischem Platonismus, Christentum und Atheismus zu klären. In seiner Dissertation von 1725 De turbata per recentiores platonicos ecclesia commentario beschreibt Mosheim die Gefahren des Neuplatonismus als antichristliche Theologie. In seiner Übersetzung des True Intellectual System stellt Mosheim 142 143
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Cudworth, Harrison: True Intellectual System. Bd. I, FN 5, S. 227. Hutton: Classicism, S. 212.
aber gleichzeitig die Nähe von platonischer Philosophie und Christentum heraus. Hauptdissens zu Cudworth ist damit die Interpretation des antiken Neuplatonismus, den Cudworth im Sinne der philosophia perennis als mit dem Christentum konvergierend beschreibt. Mosheims Ziel ist es, die Möglichkeit der Verbindung von apostolischer Einfachheit und Philosophie offenzuhalten. Diese Möglichkeit sieht er im christlichen Platonismus der frühen Väter verwirklicht. Der Neuplatonismus hingegen birgt für ihn zwei Gefahren, zum einen die Fixierung der Dogmatik und damit die Herrschaft der Philosophie über die Offenbarung und zum anderen den Verlust der apostolischen Einfachheit.144 Die Diskussion um den theologischen Platonismus wurde im späten 17. Jahrhundert durch das True Intellectual System wieder aktuell, da die zweite große Abhandlung neben der Digression on plastic nature auf 100 Seiten den Zusammenhang zwischen Platonismus und Trinitätstheologie behandlet.145 Der Neuplatonismus wird als Grundlage der Trinitätstheologie beschrieben, womit vordergründig eine Historisierung der Trinitätstheologie erfolgt. Im Denkhorizont der philosophia perennis wird der Neuplatonismus jedoch zur apologetischen Bestätigung einer immer schon vorausgesetzten Offenbarungstheologie. Gleichzeitig wird die Offenbarungstheologie so in einen philosophischen Zusammenhang integriert.146 Schon im Vorwort distanziert sich Mosheim deshalb von Cudworths Bestreben, die christliche Trinitätslehre bereits in Platon und die gesamte platonische Schule hineinzulesen.147 Mosheim zeigt in seinen Anmerkungen zum True Intellectual System gerade auch gegen Cudworth, dass die christliche Trinitätslehre sich von der platonischen darin unterscheidet, dass sie die göttlichen Personen nicht untereinander, sondern nebeneinander stellt. Damit wendet sich Mosheim gegen die monoteletische Lehre, die den Vater als den Ursprung des Willens, den Sohn als Vernunft des Willens und den Geist als Bestimmung des Willens interpretierte.148 Allerdings hat die kritische Auseinandersetzung mit dem Platonismus dazu beigetragen, ein durch und durch platonisch inspiriertes Werk auch in einer Zeit, in der der Platonismus weit weniger Autorität beanspruchen kann, populär bleiben zu lassen.149
144
Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Platonismus, Kirchen- und Ketzergeschichte. In: Mosheim: Theologie, S. 193–210, hier S. 203f. 145 Vgl. Cudworth: True Intellectual System, S. 546–632. 146 Vgl. Schmidt-Biggemann: Platonismus, S. 195. Vgl. auch Mosheim: Systema, S. 959f., wo Mosheim auf Steucos De philosophiae perenni Bezug nimmt. 147 Vgl. Mosheim: Systema, Praefatio und Meijering: Geschichte der christlichen Theologie, S. 62. 148 Vgl. Meijering: Geschichte der christlichen Theologie, S. 417; Schmidt-Biggemann: Platonismus, S. 197 u. ders.: Philosophia Perennis, Kap. zum Kosmos Anthropos. 149 Vgl. Hutton: Classicism, S. 227.
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Bewertung der Mosheimschen Übersetzung Martin Mulsows ausschließlich positives Urteil hinsichtlich der Übersetzungsleistung Mosheims steht stellvertretend für die Bewertung des Systema intellectuale in der gegenwärtigen Forschungsliteratur. Mulsow schreibt: Die Übersetzung und Annotierung von Ralph Cudworths True Intellectual System of the Universe gehört zweifellos zu den monumentalsten Leistungen des Helmstedter und Göttinger Theologen. Sie hat nicht nur die Präsenz von Cudworth in der deutschen und europäischen Aufklärung zur Folge gehabt, sondern stellt zugleich den merkwürdigen Fall des ‚Umschreibens‘ eines Werkes durch das Hinzufügen von Fußnoten dar. Mosheim hat nachträglich die frühaufklärerische Entkopplung von antiker Philosophie und theologischen Interessen sowie eine Abwertung der ‚enthusiastischen‘ platonischen Elemente an Cudworths Buch durchgeführt, und es so ‚auf den Stand des 18. Jahrhunderts‘ gebracht.150
Dieses positive Urteil deckt sich mit der Rezeption der Mosheimschen Übersetzung im 18. Jahrhundert. Mosheims Übersetzung verhalf Cudworths Arbeiten zu großer Verbreitung im Europa des 18. Jahrhunderts.151 Das Systema intellectuale wurde zur Standardausgabe des True Intellectual System. „In the library collections of Germany, France, Italy and the Netherlands, Cudworth means Mosheim’s Systema intellectuale huius universi“,152 beschreibt Sarah Hutton den Verbreitungsgrad des Werkes. 3.1.3 Exkurs: Baumgartens Predigtensammlung Eine weitere prominente Übersetzung von Schriften Cudworths erfolgte im 18. Jahrhundert durch Siegmund Jacob Baumgarten (1706–1757). Es handelt sich dabei allerdings um eine Predigt Cudworths, nicht um das True Intellectual System. Da Baumgarten ein Zeitgenosse Mosheims war und sich ebenfalls um die Reform der Religion bemühte, scheint zumindest ein kurzer Blick auf diese Übersetzung lohnend. Baumgarten gab 1737 in Halle die Sammlung einiger erbaulichen Predigten dreyer Gottesgelehrten in England Rad. Cudworths, Joh. Wallis und Isaac Barrows mit einer Vorrede zu Leben und Werk dieser drei englischen Theologen heraus.153
150 151
Mulsow: Einführung. In: Mosheim. Theologie, S. 12. Vgl. ebd., S. 7 und Sarah Hutton: Classicism und Baroque. A note on Mosheim’s footnotes to Cudworth’s The True Intellectual System of the Universe. In: Mosheim. Theologie, S. 211– 227, hier S. 211. 152 Hutton: Classicism, S. 211–227, hier S. 211. 153 Vgl. Samlung einiger erbaulichen Predigten dreyer berümter Gottesgelehrten in England Rad. Cudwurths, Joh. Wallis und Isaac Barrows mit einer Vorrede ausgefertigt von Siegm. Jacob Baumgarten, Halle 1737. Wallis und Barrows waren nicht ausschließlich Theologen, sondern auch berühmte Mathematiker ihrer Zeit. Wallis war Doktor der Theologie und Gavilianischer Professor der Geometrie in Oxford. Barrow war Professor der Mathematik in Cambridge, 1669
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In der Vorrede schreibt Baumgarten, dass er wegen des Ruhmes der Autoren, der den Leser zur Lektüre von Predigten motivieren soll, und ihrer rechtschaffenen und gottseligen Gemütsauffassung die Übersetzung und Herausgabe dieser bislang unveröffentlichten Predigten veranlasst habe. Einer der Autoren ist „der unter den Gelehrten gar wol bekante D. Radulph Cudworth“,154 „der sich um das gemeine Beste sonderlich durch die Ausarbeitung des intellectual systeme of the universe unsterblich verdient gemacht hat“,155 wo er die Grundwahrheiten der natürlichen Erkenntnis Gottes gegen die Atheisten gerettet hatte und die scharfsinnigsten Meinungen der Weltweisen aller Zeiten von diesen Sätzen vollständig gesammelt und gründlich beurteilt worden seien. Durch Mosheims Übersetzung ist laut Baumgarten sowohl der Gebrauch als auch die Hochachtung des True Intellectual Systems größer geworden. Dies zeigt, dass die Popularität der Mosheimschen Übersetzung Trittbrettprojekte ausgelöst hat. Die hier aufgenommene Predigt ist allerdings in Mosheims Verzeichnis der Schriften und Predigten nicht enthalten. Sie wurde 1647 vor dem Unterhaus des Parlaments gehalten und nach ihrem Druck ins Holländische übersetzt. Baumgarten versucht in seinem Vorwort die theologischen Schwierigkeiten in den Predigten zu glätten und verweist darauf, dass keiner der Theologen die anglikanische Kirche verlassen hätte, sie hätten lediglich im Eifer des Gefechts zuweilen übers Ziel hinaus geschossen. Die Predigten würden trotzdem zeigen, dass gründliche Wissenschaft der Erkenntnis der göttlichen Wahrheiten weder an sich hinderlich und nachteilig sei, womit Baumgarten wahrscheinlich auf die Berufe von Cudworth, Wallis und Barrow anspielt, die nicht alle drei nicht in erster Linie das Priesteramt ausübten, sondern in der Wissenschaft tätig waren. Cudworths Predigt zielt jedoch genau in die entgegengesetzte Richtung. Er schreibt, man sei in diesen jetzigen Zeiten äußerst bemüht gewesen, es in der Erkenntnis aller Dinge sehr hoch zu bringen. Die Söhne Adams streben genau wie einst Adam selbst danach, den Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen kennen zu lernen, „da unterdessen die meisten, wie ich fürchte, allzu unachtsam, und vergesslich sind, den Baum des Lebens zu suchen“.156 Obwohl keine Cherubin mehr mit feurigen Schwertern davor stehen, um die Menschen abzuschrecken, so scheint doch der Weg dorthin, ganz einsam und unbetreten zu sein, als ob es gar
gab er seine Professur an Newton ab, um sich ganz der Theologie widmen zu können; Sammlung seiner Predigten von Tillotson herausgegeben. Beide waren Zeitgenossen Cudworths. 154 Baumgarten: Vorrede, ohne Seitenzahl. 155 Ebd. 156 Radolphi Cudworths Predigt von der Erkenntniß göttlicher Wahrheiten und der Ausübung derselben, als Zwey unzertrennlichen Dingen, gehalten vor dem Hause der Gemeinden zu West-Münster, den 31. Mart 1647. In: Samlung einiger erbaulichen Predigten dreyer berümter Gottesgelehrten in England Rad. Cudwurths, Joh. Wallis und Isaac Barrows mit einer Vorrede ausgefertigt von Siegm. Jacob Baumgarten. Halle 1737, S. 3–88, hier S. 3.
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wenige wären, welche Lust und Verlangen hätten, von den Früchten desselben zu kosten.157 Cudworth schimpft über die „Bücher-Christen“, die so täten, „als ob das Christenthum nichts anderes als ein Bücher-Handwerck, eine lautere Bücher-Wissenschaft wäre“.158 Dabei sei derjenige ein rechter, wahrer Christ, der nicht nur allein ein Buch-Gelehrter, sondern ein von Gott gelehrter ist. „Tinte und Pappier können uns nie zu Christen machen, nie ein inneres Leben wircken, nie Christum in uns bilden, nie wahre Begriffe geistlicher Dinge geben“.159 Wir finden Cudworth zufolge keine Erlaubnis in der Heiligen Schrift in die geheimen Registraturen und Bücher der Ewigkeit zu schauen, nirgends gibt es ein Gebot, nach diesen Geheimnissen zu forschen, sondern es findet sich der heilsame Rat, uns unserem Beruf und unserer Erwählung wehrt zu machen.160 Cudworth predigt: „Christus war vitae Magister, nicht scholae“.161 Diese kritische Haltung gegenüber der Wissenschaft scheint vordergründig dem entgegengesetzt zu sein, was Cudworth im True Intellectual System entwickelt, v.a. in Leclercs tendenziöser Interpretation. Dennoch konvergieren beide Schriften in der Betonung der Relevanz der Ethik für ein erfülltes Leben.162
3.2
Die Debatte um die plastische Natur
Bevor auf die Argumente, wie sie Bayle und Leclerc über die plastische Natur austauschten, eingegangen wird, sollen diejenigen Übersetzungen genauer beleuchtet werden, die diesen Streit überhaupt erst auslösten. Abschließend soll betrachtet werden, wie Mosheim und Wise die Bayle-Leclerc-Debatte reflektierten. 3.2.1 Übersetzungen bezüglich der plastischen Natur bei Leclerc Die hitzig geführte Debatte zwischen Jean Leclerc und Pierre Bayle über die plastische Natur entzündete sich an der Übersetzung des dritten Kapitels des True Intellectual Systems in Artikel I und II des zweiten Bandes der Bibliothèque Choisie. Da Leclercs Eingriffe in das Original zwar meist auf einer feinstofflichen, beinahe subtilen Ebene angesiedelt sind, aber dennoch, wie bereits bei der Betrachtung der Übersetzung des ersten Kapitels herausgearbeitet wurde, nicht unerheblich in ihrer, auch beabsichtigten, Wirkung bleiben, lohnt es sich, die entsprechenden Artikel genauer in den Blick zu nehmen. Dies zumal Bayle des Englischen nicht mächtig 157 158 159 160 161 162
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Vgl. ebd., S. 3. Ebd., S. 5. Ebd., S. 7. Vgl. ebd., S. 11. Ebd., S. 16. Vgl. dazu Kap. Fünf dieser Arbeit.
war, somit keinen Zugriff auf den Originaltext hatte und auf die Leclercsche Übersetzung angewiesen blieb. Dabei erfolgt keine vollständige Wiedergabe des übersetzten Inhalts, da die Cudworthsche Philosophie schon im ersten Kapitel erarbeitet worden ist, sondern es werden lediglich jene Passagen betrachtet, in denen Leclerc dem Original durch seine Übersetzungstätigkeit eine andere Färbung gegeben hat. Das dritte Kapitel wird in zwei Teilen übersetzt. Im ersten Teil werden jene Passagen wiedergegeben, die sich mit der hylozoistischen Form von Atheismus beschäftigen, von welcher sich Cudworth absetzt.163 im zweiten Teil erfolgt dann die Übersetzung der affirmativen Abhandlung (Digression) über die plastische Natur, die beschreibt, weshalb in einer wahren Beschreibung der Zusammenhänge des Universums ein plastisches Naturprinzip neben der atomistischen Struktur der Körper, die nach mechanistischen Gesetzen funktionieren, nicht fehlen darf.164 Durch die Neugliederung des Cudworthschen Materials verdeutlicht Leclerc, die doppelte Beurteilung der plastischen Natur und die bei Cudworth betonte Kontextualisierung dieses Prinzips. 3.2.1.1
Article I – Plastische Natur unter falschen Vorzeichen
Im ersten Artikel des zweiten Bandes der Bibliothèque Choisie übersetzt Leclerc jene Passagen des dritten Kapitels, die sich mit der atheistischen Variante des Hylozoismus beschäftigen, wobei schon an dieser Stelle von Cudworth wie Leclerc bemerkt wird, dass nicht alle Hylozoisten auch Atheisten sein müssen, wie ja auch nicht alle Atomisten Atheisten seien.165 Es wird also schon hier darauf vorbereitet, das plastische Naturprinzip in einen anderen Kontext integrieren zu können. Die Bestimmung des plastischen Naturprinzips Leclerc führt wie Cudworth im Zusammenhang mit dem Hylozoismus („c’est à dire, qui attribue de la vie & du sentiment à de la pure matiere corporelle“)166 den Begriff Plastique ein. Wie später Mosheim ist augenscheinlich auch Leclerc der Meinung, dass es sich um einen unverständlichen bzw. bestenfalls missverständlichen Begriff handelt und fügt deshalb beim ersten Gebrauch dieses Ausdrucks in Klammern eine Erklärung bei. Dort heißt es: „c’est à dire, qui a la faculté de former des organes“,167 womit der Begriff des Plastischen erst einmal auf seine mikrokosmische Bedeutung reduziert wird. Der Gedanke der Weltseele, der ebenfalls von Cudworth mit dem Begriff plastisch impliziert wird, klingt hier nicht an. 163 164 165 166 167
Leclerc: Article I. Vol. II. Tome I, S. 121/22. Vgl. Leclerc: Article II. Vol. II. Tome I. Leclerc: Article I. Vol. II. Tome I, S. 121/22. Ebd., S. 120/20 und vgl. Cudworth: True Intellectual System, S. 105. Leclerc: Article I. Vol. II. Tome I, S. 121/23.
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Im Folgenden wird ebenfalls das Begriffspaar plastic nature bzw. im Französischen nature plastique als charakteristisch für die vierte Form des Atheismus eingeführt. Unter Paragraph XVI. übersetzt Leclerc den XXVI. Paragraphen des dritten Kapitels des True Intellectual System. Er schreibt: Après avoir développé les principes de trois sortes d’Atheisme, de celui de Democrite, de celui d’Anaximandre & de celui de Straton; il en faut encore reconnoître une quatriéme espece, different des précedentes. Cet Atheisme suppose qu’il y a dans la matiere je ne sai quelle Nature Plastique, qui en forme les parties, avec art & avec méthode; mais sans aucune Intelligence superieure, qui préside sur le tout, & qui conserve toutes choses, dans la forme réguliere, qu’elles ont.168
Bei dieser ersten Charakterisierung des plastischen Naturprinzips, die beinahe eine wörtliche Übersetzung des Cudworthschen Originals leistet („as supposes one kind of Plastic and Spermatick, Metodical and Artificial Nature“),169 wird lediglich der Ausdruck Spermatick in der Übersetzung ausgelassen. Es ist nicht unerheblich, dass es sich um die Beschreibung eines hier noch als atheistisch gekennzeichneten Prinzips handelt. Atheismus Cudworth charakterisiert die Gottheit der Hylozoisten als „a certain blind Shee-god or Goddeß, called Nature ort he Life of Matter“,170 Leclerc übersetzt „une certaine Déesse aveugle, qu’ils apellent Nature, ou Vie de la matiere“.171 Interessanterweise ist es eben jene Blindheit, die in der ersten Charakterisierung des plastischen Naturprinzips einen prominenten Platz einnimmt („mais sans aucune Intelligence superieure“), welche dann von Bayle zum Dreh- und Angelpunkt seiner Kritik an Cudworths plastischer Natur wird. So wird das bildhafte aveugle zu einem der häufig verwendeten, negativ konnotierten Begriffe in den von Bayle gegen Leclerc geschriebenen Artikeln. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass Leclerc in einer an diesen Paragraphen anschließenden Reflexion den Naturbegriff der antiken Hylozoisten mit der Philosophie der zeitgenössischen Spinozisten zusammenbringt. Leclerc schreibt: „Ce que je viens de dire des anciens Athées, on peut le dire des Spinosistes d’aujourdhui“.172 Man beachte, dass die Kursivsetzung von Spinosistes auf Leclerc selbst zurück geht.
168
Ebd., S. 129/57–130/58. „[S]ans aucune Intelligence superieure“ ist eine Übersetzung des Cudworthschen „without any Sense or Conscious Understanding“ (Cudworth: True Intellectual System, S. 131). An anderer Stelle schreibt Cudworth allerdings das plastische Prinzip durchaus Strato und dessen Hylozoismus zu, vgl. Cudworth: True Intellectual System, S. 105. 169 Ebd., S. 131. 170 Ebd., S. 107. 171 Leclerc: Article I. Vol. II. Tome I, S. 121/25. 172 Ebd., S. 122/27.
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Damit gelingt es Leclerc, der Cudworthschen Analyse des antiken Atheismus eine beträchtliche Relevanz für die zeitgenössische Debatte zu geben. Allerdings bürdet er dem Cudworthschen System damit auch auf, mit der plastischen Natur einerseits spinozistische Gedankensplitter vorzuweisen, sie aber andererseits so entschärfen und überwinden zu müssen, dass der Vorwurf des Pantheismus und des Atheismus nicht mehr geltend gemacht werden kann. Es ist genau dieser Spagat, den Leclerc dem Cudworthschen Werk abverlangt, den Bayle als unmöglich angreift, in dem er die behaupteten Positionen in aller Konsequenz zu Ende buchstabiert. Jedoch sollte nicht übersehen werden, dass auch Leclerc selbst Kritik an Cudworths Beschreibung des antiken Hylozoismus übt, auch wenn er ihn für die zeitgenössische Debatte fruchtbar zu machen sucht. So fährt Leclerc fort: „Mais écutons nôtre Auteur“.173 Mit VII. beginnt dann wieder die Übersetzung des Cudworthschen Originals: „Le premier & le principal défenseur de l’Atheisme Hylozoique fut, comme le croit Mr. Cudworth [Hervorh. I.K.], Straton de Lampasque, que l’on moit aussi le Physicien“.174 Die Änderung ist minimal, aber in ihrer Aussage durchaus wirksam, heißt es doch bei Cudworth: „as we conceive“.175 Von dieser Vereinnahmung der Zustimmung zur Cudworthschen Philosophiegeschichtsschreibung setzt sich Leclerc auch in diesem Fall ab. Übersetzungsstrategien Bei Leclerc erscheinen die von Cudworth dargestellten Zusammenhänge zwar oft klarer, an einigen Stellen bezahlt Leclerc diese Vereinfachungen allerdings mit dem Verzicht auf interessante Argumentationskniffe, wie sie sich Cudworth erlaubt. So führt Cudworth als Voraussetzung für ein weiteres Unterscheidungskriterium zwischen Theisten und Atheisten ein, er schreibt: „we must distinguish betwixt the System of the World and the Substance of the Matter“.176 Leclerc lässt dieses Kriterium unter den Tisch fallen, vollzieht aber durchaus die sich daraus ergebende Konsequenz mit. So gäbe es Atheisten, die die Ewigkeit der Welt verneinen, dafür aber die Materie nicht nur als ewig, sondern auch als selbständig begreifen. In einem theistischen Weltbild hingegen hinge immer alles von Gott ab.177 Es ist wahrscheinlich eine Frage von philosophischer Spitzfindigkeit, ob man findet, dass es für eine solche Unterscheidung von Interesse ist, die sie begründende Voraussetzung offen zu legen.
173 174 175 176 177
Ebd. Ebd., S. 122/27f. Cudworth: True Intellectual System, S. 107. Ebd., S. 119. Vgl. Leclerc: Article I. Vol. II. Tome I, S. 126/42.
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Anders als noch im ersten Teil der Übersetzung lobt Leclerc Cudworth in diesem Artikel ausdrücklich für seinen differenzierten Umgang mit den Quellen der Antike, der sich sehr von den sonstigen Geflogenheiten vieler Gelehrter abhebe. Leclerc verwendet einen dreiseitigen Kommentar darauf, Cudworths Leistung im Einzelnen zu verdeutlichen und hebt dabei v.a. auf Aristoteles ab. Die Remarques enden mit folgender Bemerkung: „Il faut rendre cette justice à Mr. Cudworth, qu’il n’assure rien légerment, & que ses conclusions n’ont pas plus d’air de certitude, que les principes sur lesquels il les fonde“.178 Ironischerweise enthält der Artikel die Übersetzung eines Absatzes, der sich damit auseinandersetzt, dass antike Heiden häufig ungerechtfertigterweise als Atheisten angesehen werden, von einer bestimmten Klientel, sowohl von Zeitgenossen als auch aus Perspektive der Neuzeit („le Vulgaire a toûjours“), Sokrates ist prominentes Beispiel. Nun sollte auch Cudworth im Folgenden selbst durch Bayle mit dem damals nicht unerheblichen Vorwurf des Atheismus belegt werden. Der Artikel endet mit Bemerkungen des Autors der Auswahlbibliothek, in welchen er zum einen meint, Hobbes als Zielpunkt der vorangegangenen Ausführungen bei Cudworth ausmachen zu können, welche die Konsequenzen des Atomismus bei Demokrit und Leukip für Gottesbild und Moralvorstellung betreffen. Leclerc jedoch sieht in der Hobbeschen Philosophie vielmehr einen Hang zum Hylozoismus.179 Zudem sieht sich Leclerc veranlasst zu verdeutlichen, dass die descartessche Korpuskularphilosophie in keinem Fall atheistische Tendenzen in sich tragen würde, wie möglicherweise die Nennung Descartes in Zusammenhang mit Demokrit bei Cudworth implizieren könnte. Leclerc macht dabei einen Unterschied zwischen Descartes und den zeitgenössischen Cartesianern, die anders als Descartes selbst das Leben der Pflanzen und Tiere nicht auf mechanistische Prinzipien zurückzuführen gedachten.180 So gelingt es Leclerc auch zum Abschluss dieses Artikels, erneut an zeitgenössisch relevante Debatten anzuknüpfen und Cudworth durch die Verknüpfung seines Werkes mit den großen Namen seiner Zeit eine größere Relevanz und Bedeutsamkeit zu verleihen. 3.2.1.2 Article II – Positive Reinterpretation des plastischen Prinzips Im zweiten Artikel der zweiten Ausgabe der Bibliothèque Choisie erfolgt die Übersetzung der Abhandlung über die plastische Natur, die sich im True Intellectual System als Paragraph XXXVI des dritten Kapitels befindet und mit der Nummerierung von Sinnabschnitten von eins bis sechsundzwanzig in arabischen Ziffern eine weitere Untergliederungsebene kennt. Leclercs Übersetzung ist auch hier gerade 178 179 180
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Ebd., S. 128/53. Vgl. ebd., S. 134/76. Vgl. ebd., S. 134/77 und vgl. für weitere Ausführungen zu diesem Sachverhalt Leclerc: Article II. Vol. II. Tome I, S. 137/86–138/91.
für eine lediglich den Anspruch einer Auswahlübersetzung habende Behandlung des Textes sehr dicht am Original, sowohl auf inhaltlicher Ebene als auch dahingehend, dass fast der gesamte Text wiedergegeben worden ist. Inhaltlich wird hier nun die in einem atheistisch geprägten Kontext eingeführte plastische Natur positiv interpretiert, indem sie als von Gott abhängig beschrieben wird und so in ein theistisches Weltbild integriert wird. Dies macht schon die von Leclerc eingeführte Überschrift deutlich, die wie auch die Überschriften der anderen Artikel, auf einen Blick vermittelt, worum es in diesem Artikel zu tun ist: „Preuves & Examen du sentiment de ceux, qui croyent qu’une Nature qu’on peut nommer Plastique a été établie de Dieu, pour former les Corps Organizez. Ceci est tiré d’une Digression du Ch. III. de Mr. Cudworth, à laquelle on a ajoûté quelques remarques“.181 Leclercs Auseinandersetzung mit Cudworths Cartesisanismus-Kritik Auch in diesem Artikel finden sich zahlreiche Neuerungen. Heißt es im Original „Mechanick Theists“182 so übersetzt Leclerc „Les Philosophes modernes, qui veulent que tout se fasse méchaniquement dans la matiere, […]“.183 Konnte man bei Cudworth an dieser Stelle durchaus noch annehmen, dass antike Autoren gemeint waren, so wird mit Leclercs Übersetzung der Blick zwingend auf die modernen Cartesianer gelenkt. Einige Seiten später fühlt sich Leclerc dazu ermutigt, in fünfseitigen Remarques herauszuarbeiten, dass Cudworth in pauschalisierender Art und Weise bestimmte Meinungen den Cartesianern zurechnet.184 So stellt Leclerc klar, es gäbe viele zeitgenössische Cartesianer, die nicht annehmen würden, die Welt sei ausschließlich mechanistisch strukturiert. Als prominentestes Beispiel greift Leclerc auf Malebranches Recherche de la Verité zurück, der beschreibt, wie sich Tiere aus „Ovaires de premieres femelles“ entwickeln würden, die Pflanzen aus „les premieres graines“.185 Malebranche und mit ihm etliche weitere Cartesianer seien außerdem der Meinung, Gott sei als unmittelbare Ursache aller Wirkungen anzusehen sei und nicht nur als der erste Beweger aller Dinge. Leclerc ist nach eigener Aussage an dieser Stelle allerdings nicht bereit, sich mit den Schwierigkeiten auseinander zu setzen, die diese Position wiederum mit sich bringt.186 Leclercs dritte Bemerkung bezieht sich auf den Umstand, dass die plastische Natur die Vorsehung dahingehend entlasten soll und diese nicht absolut gesetzt werden muss, wodurch auch ein fatalistisches Weltbild abgewendet ist. Leclerc ist nun aber der Meinung, 181 182 183 184 185 186
Leclerc: Article II. Vol. II. Tome I, S. 135/78. Cudworth: True Intellectual System, S. 150. Leclerc: Article II. Vol. II. Tome I, S. 136/85. Ebd., S. 137/86 Ebd., S. 137/86f. Vgl. ebd., S. 137/87.
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dass wenn Gott als unendlich begriffen wird, die Vorsehung angesichts unseres beschränkten Einsichtsvermögens in den Lauf der Welt gar nicht überlastet werden könne.187 Leclercs Verteidigung der zeitgenössischen Cartesianer gegen Cudworths pauschalisierende Kritik ist auch in sofern interessant, als Cudworth sich selbst als Weiterentwickler der cartesischen Philosophie begreift und einen positiven Bezug zu Descartes herstellt. Dieser gilt ihm als einer der gewichtigsten Philosophen seiner Zeit, allerdings nur was die Welt der Körper betrifft. Auch aus diesem Grund müht sich Cudworth, mit der plastischen Natur die Welt des Geistes neu zu beschreiben, die ihm im Begriff der res cogitans zu eng gefasst zu sein scheint. Nun stellt sich die Frage, inwiefern Leclerc das Cudworthsche Selbstverständnis akzeptiert. Leclercs Verteidigung der Cartesianer gegen Cudworth mag auf den ersten Blick dagegen sprechen, dass Cudworth von Leclerc als legitime Neuinterpretation und Weiterentwicklung der cartesischen Lehre begriffen wird. Für diese Abgrenzung von der Cudworthschen Variante des Cartesianismus bei Leclerc spricht auch, dass dieser sich von Cudworths Neubestimmung der zwei grundlegenden Seinsarten in seiner Übersetzung abgrenzt, indem er der Übersetzung voranschickt: „L’Auteur croit qu’on doit dire plûtot, [Hervorh. I.K.] qu’il y a deux genres d’Etres, dont l’un est des Etres étendus & solides, & l’autre des Etres Vivans“.188 Mit dieser kurzen einleitenden Bemerkung macht Leclerc deutlich, dass es sich um die Wiedergabe einer Fremdmeinung handelt, die nicht unbedingt der eigenen entspricht. Auf den zweiten Blick und besonders, wenn man bedenkt, mit welcher Vehemenz Leclerc später das plastische Naturprinzip gegen die Kritik Bayles verteidigen wird, zeigt sich jedoch vielmehr, Leclercs durchaus ambivalente Positionierung. Denn auch durch seine Kritik an Cudworth gelingt es ihm, dessen Grundposition stark zu machen, in dem er zeigt, dass auch prominente Cartesianer wie Malebranche eine ganz ähnliche Weiterentwicklung des Cartesianismus betrieben haben, reicht doch auch ihnen ein rein mechanistisch gefasstes Weltbild nicht aus. Für diese These spricht auch die sich an die Einführung der zwei Seinskategorien anschließende Reflexion, in der Leclerc argumentiert, Cudworth habe zwar eine Seinskategorie eingeführt, die nicht greifbar sei, dies aber nicht bedeuten müsse, dass Gott keine solche geschaffen haben könne.189 In einem weiteren ausführlichen Kommentar spricht Leclerc sich dann explizit für die Einführung der plastischen Natur durch Cudworth als dritte und mittelnde Substanz zwischen Körper und Geist aus,190 deren Definition Leclerc wie folgt fasst: „un Etre qui a en lui même un principe d’activité, & qui peut agir également,
187 188 189 190
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Vgl. ebd., S. 137/87ff. Ebd., S. 142/106. Vgl. ebd., S. 142/107ff. Vgl. ebd., S. 143/113–145/119.
par lui même, sur l’ame & sur le corps“.191 Bei aller grundsätzlichen Zustimmung zum plastischen Naturprinzip, die dieser Kommentar widerspiegelt, bleibt Leclerc im Detail nicht unkritisch. Die Übersetzung setzt wieder an, indem der Cudworthsche Begriffsgebrauch und die daraus resultierende Unschärfe von Definitionen beleuchtet werden. Leclerc schreibt: „XVIII. Mr. Cudworth dit que la Nature Plastique agit d’une maniere fatale, magique & sympathetique; mais il n’explique ces termes“.192 Diese Begriffe seien für Philosophen der Antike verständlich gewesen, könnten aber von zeitgenössischen Lesern nicht mehr mit sinnhafter Bedeutung gefüllt werden.193 Die folgende Bestimmung dessen, was das Gesetz Gottes („Loix de Dieu“) ausmacht, findet sich bei Leclerc in nicht unerheblicher Variation: Das Gesetz Gottes seien mehr als einfache Befehle („simples paroles“), nämlich „un Principe qui a de l’activité & da la force“.194 Bei Cudworth hingegen hieß es noch, die Gesetze oder Gebote Gottes („Laws or Commands of the Deity“) entsprechen dem Schicksal („Fate“).195 Leclerc versucht somit, die Naturgesetze als von Gott abhängig zu beschreiben, anstatt den dunkel bleibenden Schicksalsbegriff verwenden zu müssen. Der Kunstbegriff in Bezug zur plastischen Natur Dieser Teil der Übersetzung führt auch jenen Begriff ein, der wahre Beispielschlachten des Für und Wider zwischen Leclerc und Bayle auslösen sollte, der Begriff der Kunst. Plastische Natur sei „Art it self or Perfect Art“196 / „l’Art lui meme, ou l’Art parfait“,197 jedoch aber nur auf der Ebene der Abbilder, wörtlich übersetzt Leclerc auch hier: „La Nature n’est pas cet Art Archetype, ou Original, qui est en Dieu; elle n’en est qu’une copie, ou qu’une empreinte“.198 Es handele sich dabei um eine Art der Kunst, die der menschlichen Kunstfertigkeit unterlegen sei, da sie ihr Ziel nicht kenne. Cudworth bringt als Beleg Zitate von Plotin und Harvey, was als Kombination von Zitaten als speziell aber typisch für Cudworth gelten mag. Leclerc weist lediglich darauf hin, dass diese Belege bei Cudworth zu finden seien, führt sie aber nicht aus.199 Daraufhin benennt Cudworth selbst das, was im Folgenden zum Bayleschen Kardinalproblem werden soll, die Unbewusstheit bei gleichzeitiger Zielgerichtet191 192 193 194 195 196 197 198 199
Ebd., S. 144/116. Ebd., S. 145/119. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. Cudworth: True Intellectual System, S. 161. Ebd., S. 155. Leclerc: Article II. Vol. II. Tome I, S. 140/100. Ebd., S. 140/100f. Vgl. Leclerc: Article II. Vol. II. Tome I, S. 141/192 und Cudworth: True Intellectual System, S. 156f.
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heit des plastischen Prinzips. Leclerc übersetzt wörtlich: „Mais parce qu’il peut paroître étrange, que l’on dise qu’une Nature agisse pour une fin, & avec ordre, sans le savoir“.200 Um den als selbst nicht unproblematisch empfundenen Sachverhalt zu erhellen, folgen bei Cudworth eine Reihe von Beispielen, die im Bereich der Angewohnheiten beim Menschen und der natürlichen Instinkte bei Tieren angesiedelt sind. Von Leclerc werden diese Beispiele mitübersetzt, so wird ausgeführt, dass ein Musiker ohne nachdenken zu müssen, die richtigen Töne eines Liedes findet.201 Der Vergleich von plastischer Natur und menschlicher Kunstfertigkeit fällt nicht nur in Bezug auf das Wissen um die Dinge, die sie tut, und die Ziele, die sie verfolgt, zuungunsten der plastischen Natur aus. Die plastische Natur besitzt kein Bewusstsein oder wie Cudworth formuliert kein „con-sense or consciousness“,202 was Leclerc nicht ungeschickt mit „conscience“ / „sentiment interieur“203 übersetzt. Auch im Folgenden zeigt sich, wie Leclerc mit der Übersetzung des Begriffs consciousness ringt, sowie mit der Schwierigkeit, den Unterschied zwischen consense und consciousness herauszuarbeiten. So nimmt Leclerc in Bezug auf consciousness eine Umschreibung zu Hilfe, die anzeigen soll, dass hier mehr als bloßes aufflackerndes Bewusstsein von etwas gemeint ist, und vielmehr ein reflexives Element impliziert ist. Leclerc übersetzt wie folgt: „& qu’ils sont le sentiment interieur inséperable de la pensée“204 bzw. „& qui veulent que la pensée soit toûjours accompagnée de sentiment interieur“.205 Übersetzungsstrategien An vielen Stellen erscheint die Übersetzung viel weniger polemisch als das Original, auch in diesem Artikel entschärft Leclerc die Cudworthschen Formulierungen. Hieß es bei Cudworth noch „Narrow Principles of some late Philosophers“,206 so nimmt Leclerc diese Abwertung heraus und übersetzt es mit „idees des nouveaux Philosophers“.207 Leclerc muss annehmen, für den Inhalt des Übersetzten und nicht nur für die Qualität der Übersetzung gerade zu stehen, worauf auch die vielen Richtigstellungen und Abgrenzungen in Form von Kommentaren hindeuten. Die Debatte um die plastische Natur bestätigte dann Leclercs Erwartung, den Inhalt seiner Übersetzung rechtfertigen zu müssen.
200 201 202 203 204 205 206 207
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Leclerc: Article II. Vol. II. Tome I, S. 141/102. Vgl. Ebd., S. 141/102ff. Cudworth: True Intellectual System, S. 159. Leclerc: Article II. Vol. II. Tome I, S. 141/105. Ebd., S. 142/106. Ebd., S. 142/109. Cudworth: True Intellectual System, S. 159. Leclerc: Article II. Vol. II. Tome I, S. 141/105.
Auch in diesem Artikel nimmt Leclerc eine klarere Strukturierung der Übersetzung vor als das Original vorsieht. Dies geschieht besonders an argumentativ entscheidenden Stellen, so z.B., wenn eine Vielzahl von Gründen aufgezählt wird zugunsten einer plastischen Natur oder, wie es hier heißt, zugunsten „quelque activité vitale“.208 Bei Cudworth wirkt diese Ansammlung von Gründen eher wahllos und so trotz oder gerade wegen ihrer Fülle nicht zwingend überzeugend. Allein durch die Einführung einer Aufzählung bei Leclerc erscheint die Vielzahl der Gründe bedeutender und damit überzeugender. Ein weiteres Beispiel dafür, wie sehr Leclerc darum bemüht ist, mit seiner Übersetzung auch sprachlich dem True Intellectual System gerecht zu werden, findet sich in diesem Artikel bezüglich der Wiedergabe von Metaphern. Im True Intellectual System heißt es, dass die Welt nur noch ein Haufen Staub sei, wenn sie ohne Ziele und Zwecke geschaffen sei. „Heap of Dust“209 übersetzt Leclerc mit „un monceau de poudre“.210 Auch die Formulierung, Gott als müßiger Zuschauer („an Idle Spectator“)211 wird von Leclerc mit „un spectateur oisif“212 wiedergegeben. Im fünfseitigen Cartesianismus-Kommentar bezeichnet Leclerc Lebewesen mit dem Ausdruck „un petit Automate“,213 was dem damaligen Sprachgebrauch geschuldet ist, dennoch eine Lesart der Cudworthschen Philosophie unterstützt, die sich vom spekulativen hin zu einem mehr funktionalistischen Systembegriff verschiebt. In diesem Sinne lässt sich auch der Umstand interpretieren, dass Leclerc den sechsten Paragraphen der Abhandlung über die plastische Natur, der auf fünf Folioseiten die antiken Quellen des Begriffs plastic nature und deren zeitgenössische Wiederaufnahme zeigt, zu einem Absatz zusammenkürzt, der sich mit einer schlichten Aufzählung von Namen begnügt: Aristoteles, Platon, Empedokles, Heraklit, Hippokrates und die Stoiker. Den größeren Teil des Absatzes widmet Leclerc dem Archäusbegriff („le nom d’Archée“), den er entgegen seiner sonstigen Neigung Namen explizit zu machen lediglich den Paracelsisten zuschreibt, van Helmont den Älteren jedoch aus dem Spiel lässt.214 „Voilà ce que nous avions à dire de la Nature Plastique“,215 leitet Leclerc das Ende der Abhandlung über die plastische Natur ein. Cudworths Abhandlung über die plastische Natur ist noch die Behandlung der Fehler der atheistischen Stoiker und Hylozoisten angefügt, die diese in Bezug auf die Verwendung des plastischen Naturprinzips gemacht hätten. Leclerc fasst diesen Teil recht kurz, bevor er seinen Artikel dann zum schon angekündigten Ende bringt.
208 209 210 211 212 213 214 215
Vgl. ebd., S. 142/109–143/112 und Cudworth: True Intellectual System, S. 160ff. Cudworth: True Intellectual System, S. 147. Leclerc: Article II. Vol. II. Tome I, S. 135/79. Cudworth: True Intellectual System, S. 148. Leclerc: Article II. Vol. II. Tome I, S. 135/81. Ebd., S. 137/89. Vgl. ebd., S. 139/95. Ebd., S. 146/124.
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3.2.2 Debatte um die plastische Natur zwischen Bayle und Leclerc Im Folgenden soll die Debatte, die Bayle und Leclerc von 1703 bis 1705 in namhaften Gelehrtenzeitschriften über die plastische Natur geführt haben, analysiert werden. Dabei wird nicht versucht, die Debatte chronologisch nachzuzeichnen, wie es die Berichte von Mosheim und auch Windheim aus dem 18. Jahrhundert vornehmen. Hiervon wird abgesehen, v.a. weil sich die Argumente und Bilder recht bald wiederholen und die Debatte auf der Stelle zu treten scheint. Der Streit zwischen Bayle und Leclerc wird zusätzlich dadurch gelähmt, dass in jedem Artikel wiederholt wird, was wer in den vorherigen Artikeln gesagt hat, was darauf vom anderen erwidert wurde, bevor überhaupt damit begonnen wird, einen neuen Punkt darzulegen.216 Deshalb ist vielmehr zu versuchen, die Argumente Bayles und Leclercs wider bzw. für die plastische Natur herauszupräparieren und ihre Argumentationsstrategien offen zu legen. Außerdem soll versucht werden zu erklären, weshalb sowohl Bayle als auch Leclerc sich mit solch einer Vehemenz in die Frage nach der plastischen Natur verstrickten, womit auch die Frage nach der Relevanz dieser Idee betrachtet wird. Trotz vieler vordergründiger Gemeinsamkeiten, zeigt die Debatte um die plastische Natur Leclerc in Amsterdam und Bayle in Rotterdam als bittere persönliche Gegner, die ihre methodischen Differenzen stark übertrieben.217 In der CudworthDebatte, die auch als Streit über Antworten auf das Problem Spinoza beschrieben werden kann, nahmen Bayle und Leclerc augenscheinlich zwei verschiedene Weltsichten ein, Bayle mechanistisch, aber gegen Hobbes und Spinoza gerichtet, Leclerc vitalistisch. Jedoch war es um die Jahrhundertwende nicht immer einfach oder überhaupt möglich, Vitalisten von Mechanisten zu unterscheiden, beide Denkrichtungen vermischten sich oft in einzelnen Positionen, wie auch die Argumentanalyse im Folgenden zeigen wird.218 Leclerc war durch seinen Professor Robert Chouet an der Akademie in Genf früh mit dem Cartesianismus in Berührung gekommen.219 Auch dadurch ist sein großes Interesse an Naturwissenschaften zu erklären. „His periodicals were a principal agent of transmission of English ideas in this field to the continent at the turn of the century.“220 Dies lässt sich als einer seiner Vorteile gegenüber Bayle 216
Vgl. Beispielsweise Pierre Bayle: Reponse aux Questions d’un Provincial. In: Ders.: Oeuvres Diverses. Bd. III. Hildesheim 1966 [ND der Ausg. Den Haag 1727], S. 881. 217 Bayle und Leclerc waren beide französiche Protestanten, beide calvinistisch erzogen, wandten sich aber vom Calvinismus ab hin zu einem mehr arminischen Bekenntnis. Beide haben die neue Methode unter cartesischem Einfluß gelernt, beide waren gezwungen Frankreich nach dem Toleration Edict zu verlassen, beide fühlten sich von Holland durch die Remonstranten angezogen. 218 Vgl. Colie: Light and Enlightenment, S. 121f. 219 Vgl. Michael Heyd: Cartesianism, Secularization and Academic Reform. Jean-Robert Chouet and the Academy of Geneva (1669–1704). Princeton 1974. 220 Colie: Light and Enlightenment, S. 32. Und: „From the beginning the Remonstrants had had a close association with new science“ (ebd., S. 51). Jacob Arminius wuchs in einer Adoptivfami-
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beschreiben.221 Ein weiterer Vorteil lag in Leclercs Englischkenntnisse und seinem daraus resultierenden Korrespondentennetz. So stand Leclerc in regem Kontakt u.a. mit John Locke, Lady Masham, Francis Cudworth Masham, dem dritten Earl von Shaftesbury und Gilbert Burnet. 3.2.2.1
Bayles Positionierung gegen die plastische Natur
Im Folgenden soll gezeigt werden, in welcher Art und Weise sich Bayle mit der von Leclerc in die französischsprachige Gelehrtenwelt transferierte Idee einer plastischen Natur nach Cudworth auseinandersetzte. Zuvor sollen einige weniger Angaben zur Person Bayles helfen, den Kontext dieser Debatte zu erhellen. Zur Person: Pierre Bayle „Herr Bayle war zu Carla, einem Marck-Flecken des Grafen von Foix, welcher zwischen Pamiers und Rieux liegt, den 18. Novembris des 1549 Jahres, an diese Welt geboren“,222 übersetzte Kohl am Ende des ersten Drittels des 18. Jahrhunderts den Anfang der von dez Maizeaux verfassten Biographie Bayles. Nachhaltige Berühmtheit hat Pierre Bayle (1647–1706) mit dem Dictionaire Historique et Critique erlangt, das zweibändig in der ersten Auflage 1697 erschien und bis zu seinem Tod von ihm durch Artikel ergänzt wurde. Bayles spannende Lebensgeschichte sei kurz erzählt. Bayles Vater war Pfarrer, besaß eine persönliche Bibliothek und unterrichtete seine drei Söhne selbst in klassischen Sprachen. Aufgrund der Armut der Familie musste Pierre Bayle mit dem Beginn seines Studiums warten, bis sein älterer Bruder Jacob sein Theologiestudium beendet hatte. Bayle war deshalb Zeit seines Lebens weitgehend Autodidakt. Wahllos las er alles, was er zwischen die Finger bekam. Seine spätere geistige Unabhängigkeit und sein unersättlicher Bildungsdrang lassen sich wohl auch auf diesen verzögerten Beginn seiner offiziellen Bildungskarriere zurückführen. Bayle konvertierte während seines Studiums zum Katholizismus, rekonvertierte jedoch zum Calvinismus, weshalb er schließlich aus Frankreich fliehen musste. lie auf, Vater Snel war Mathematiker, der Sohn war Astronom und Anhänger der Ramischen Logik. Das Remonstrantische Seminar in Amsterdam wurde für diese moderne Logik bekannt. 221 Vgl.: „Bayle’s periodical lacked Le Clerc’s awareness of science as an integral part of life they lived“ (ebd., S. 34). 222 Das Leben des Weltberühmten Herrn Peter Bayle, wie solches zuerst in Französischer Sprache von Hn. Des Maizeaux aufgesetzt, und nunmehro, seiner Schönheit und unzehliger Merkwürdigkeiten wegen, ins Deutsche übertragen von J.P. Kohl. Hamburg 1731, S. 1 [Im Folgenden zitiert als Kohl]. Mit Bleistift wurde das Geburtsjahr in 1647 korrigiert. Wir halten es mit der Vorrede: „Zuletzt ersuchen wir den geschätzten Leser, die in der Übersetzung etwa entdeckten Fehler, aus Hochachtung gegen den Hn. Bayle und Wohlgeneigtheit gegen den Verfertiger bestmöglichst zu entschuldigen, und selbige einer unvermutheten Eilfertigkeit des Abdrucks zuzuschreiben“.
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Von 1681 an lehrt Bayle Philosophie in Rotterdam und begann seine schriftstellerische Laufbahn. 1682 erschien die Kometenschrift und die Kritik an der Geschichte des Calvinismus von Maimbourg. Der Erfolg dieser Schriften ermutigte ihn, die Redaktion der Monatszeitschrift Nouvelles de la Republique des Lettres zu übernehmen. Die Entlohnung bestand in Freiexemplaren der von ihm rezensierten Büchern und der Übernahme der Korrespondenzkosten, was ihm erlaubte, ein weites Korrespondenznetz zu pflegen. So zu einigem Ruhm gekommen, flog jedoch seine Anonymität auf und sein Bruder Jacob kam an seiner statt in Frankreich ins Gefängnis, wo er an den Haftbedingungen 1685 starb. Pierre Bayle argumentiert aus einer skeptischen Haltung heraus, die sich am Okkasionalismus und am Cartesianismus orientiert.223 Bayles Vernunftbegriff ist ein negativer. Die Stärke der Vernunft ist die Kritik, sie zergliedert und zerstört. Allein im Offenbarungsglauben ist Bayle folgend die Wahrheit zu finden. Von hieraus und aus seiner zweimaligen Konversionserfahrung heraus ist sein Toleranzbegriff zu verstehen, der sich im Gewissen des Einzelnen und an der Fehlbarkeit der Vernunft orientiert.224 Versuch einer Definition des plastischen Naturprinzips Erstmals übte Pierre Bayle seine Kritik am plastischen Naturprinzip in einem Kapitel seines Werks Continuation des Pensees Diverses […] a l’occasion de la comète, das v.a. der Verteidigung seiner umstrittenen Kometenschrift dienen sollte. Kapitel XXI ist unter anderem überschrieben mit Remarque sur les systêmes de Mrs. Cudworth & Grew, womit Bayle die Zusammenschau dieser Weltbeschreibungsansätze aufnahm, wie sie Leclerc in seiner Übersetzung des zweiten Buches der Cosmologia Sacra vorgenommen hatte.225 Um Bayles Bestimmung des plastischen Naturprinzips („une cause qui n’ait point l’idée de ce qu’elle fait, & qui exécute régulierement un plan sans savoir les loix qu’elle exécute“)226 kreist die gesamte Debatte der folgenden zwei Jahre. Die Definition findet sich in verschiedenen Formulierungen in beinah jedem Artikel. So heißt es beispielsweise an anderer Stelle: „[L]a nature, quoi que destituée de connoissance & de plusieurs autres perfections, existeroit d’elle-même, […] ca-
223
Vgl. Richard H. Popkin: Pierre Bayle’s Place in 17th Century Scepticism. In: Paul Dibon (Hg.): Pierre Bayle. Le philosophe de Rotterdam. Amsterdam, Paris 1959, S. 1–19 und Malte Hossenfelder: Antiker und baylescher Skeptizismus. In: Aufklärung 16 (2006), S. 21–35. Feuerbach bezeichnet Bayle als den „Universalkritiker seiner Zeit“, vgl. Ludwig Feuerbach: Pierre Bayle. Ein Beitrag zur Geschichte der Philosophie und Menschheit. Leipzig 1948, S. 174. 224 Vgl. zur Theologie Bayles: Nicola Stricker: Die Theologie Bayles im Dictionnaire historique et critique. In: Aufklärung 16 (2006), S. 111–135 und Nicola Stricker: Die maskierte Theologie von Pierre Bayle. Berlin 2003. 225 Vgl. Leclerc: Article XIII. Vol. II. Tome I, S. 208/371. 226 Bayle: Continuation, S. 217.
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pable d’organiser les animaux, vu que c’est un ouvrage dont la cause doit avoir beaucoup d’esprit“.227 Dies schlägt sich v.a. in einer Fülle von Beispielen nieder, die diese Bestimmung inhaltlich füllen sollen. Zum einen ist dies darin begründet, dass Bayle diese Bestimmung von Anfang an mit dem Atheismus zusammengebracht hat und keine nichtatheistische Verwendung eines solchen Prinzips zulassen will. Man bedenke dabei, Cudworth selbst hat die plastische Natur erst einmal als neutral in dieser Frage angesehen und die Definition Bayles wahrscheinlich für richtig gehalten hätte bzw. richtiger mit ihr einen Teilaspekt des plastischen Prinzips beschrieben gesehen hätte. Für Cudworth besteht die atheistische oder theistische Wendung der plastischen Natur erst darin, in welches Weltbild sie eingefügt wird. Somit wären für Cudworth wahrscheinlich sowohl die von Bayle als auch die von Leclerc angeführten Beispiele für zutreffend erklärt worden, es wäre bloß eine richtige Einordnung in das übergeordnete System nötig. Dies wirft die Frage nach dem Stellenwert der plastischen Natur auf: Handelt es sich um Instrumente in der Hand Gottes oder aber um unabhängige sekundäre Ursachen, die den Atheismusvorwurf erwecken würden? Bayle nimmt beide Positionen auseinander, während Leclerc eine Interpretation in Richtung Instrumentalismus befürwortet. Wird die plastische Natur als unabhängige Ursache von Bayle mit Bezug auf den Atheismus diskutiert, so findet ihre Bestimmung als Instrument Beachtung im Zusammenhang mit dem Cartesianismus. Bayles Atheismus-Vorwurf Mit der die Tonlage der Abhandlung andeutenden Randbemerkung Mauvaises conséquences du sistéme de Mrs. Cudworth & Grew versehen, findet sich in den Continuation des Pensees Diverses jener Vorwurf, der die Vehemenz der in den folgenden zwei Jahren geführten Debatte mit bestimmen wird. Es heißt: „Il faut bien que la chose soit difficile, puis que nous voions tous les jours que ceux qui combatent le plus vivement l’atheisme, lui donnent des armes sans y penser. Mr. Cudworth & Mr. Grew, très-grands Philosophes, en sont un example“.228 Zwar bezeichnet Bayle Cudworth und Grew hier als ausgezeichnete Philosophen, dies entschärft aber in keiner Weise die Schwere des Vorwurfs, ihre Philosophie würde, wenn auch ungewollt, dem Atheismus in die Hände spielen. Eine solche Behauptung konnte von Leclerc nicht so stehen gelassen werden, selbst wenn er sich auf die Position eines neutralen Übersetzers hätte zurück ziehen wol-
227
Pierre Bayle: Article XII. Reflexions de Mr. Bayle sur l’Article VII. du 6. Tome de la Bibliotheque choisie d Mr. le Clerc, Decembre 1704. In: Henri Basnage de Beauval: Histoire des Ouvrages des Savans. Tome V comprenant les volumes 17–20 (1701–1704). Genève 1969 (Reimpression de l’edition de Rotterdam 1687–1709), S. 534/540. 228 Bayle: Continuation, S. 216f.
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len, was ihm vom Selbstverständnis her jedoch recht fremd gewesen sein dürfte. Der Vorwurf des Atheismus in der damaligen Zeit war alles andere als ungefährlich, konnte er sich doch existenzgefährdend auswirken. Zudem war er, blieb er an einem haften, in jedem Fall rufschädigend in der république des lettres. Gerade in Bezug auf Cudworth, dem es mit seinem True Intellectual System ja gerade darum zu tun war, die Grundlagen des Atheismus zweifelsfrei zurückzuweisen, hat ein solcher Vorwurf fast etwas Hinterhältiges und Gemeines. Bayle fährt eine nicht unkomplizierte Argumentation auf, um diesen Vorwurf zu stützen, die sich aber, kurz zusammengefasst, so verstehen lässt: Mit der Nature Plastique bzw. Vis vegetative sei ein blindes Prinzip gemeint, das unabhängig von Gott die Welt schafft, erhält und damit ein atheistisches Weltbild begründet.229 Bei Bayle liest sich das so: „Rien n’est plus embarassant pur les Athées que de se trouver réduits à donner la formation des animaux à une cause qui n’ait point l’idée de ce qu’elle fait, & qui exécute régulierement un plan sans savoir les loix qu’elle exécute“.230 Was als unhaltbarste These des Atheismus gekennzeichnet wird, eine Ursache, die keine Vorstellung von dem hat, was sie tut und regelmäßig einen Plan ausführt ohne die Gesetzmäßigkeiten zu kennen, findet Bayle in den plastischen Naturprinzipien wieder. So schreibt er weiter: „La forme plastique de Mr. Cudworth, & le principe vital de Mr. Grew, sont cependant dans le même cas, & ainsi ils ôtent à cette objection contre les athées toute sa force“.231 Dadurch, dass Cudworth und Grew ein solches Prinzip in ihre Philosophie aufgenommen hätten, könnten sie dem Atheismus nichts mehr entgegen setzen, da sie nun dieselben Grundlagen teilen würden. Dies begründet Bayle wie folgt: „Car si Dieu a pû donner une semblable vertu plastique, c’est une marque qu’il ne répugne point à la nature des choses qu’il y ait de tels agens; ils peuvent donc exister d’eux-mêmes, conclura-t-on“.232 Die plastischen Naturen müssen also als von Gott unabhängig bestimmt werden, ansonsten sind sie schlicht überflüssig. In seinem nächsten Artikel zur Frage nach dem plastischen Prinzip, der sich auf Leclercs Antwort im vierten Artikel des fünften Bandes der Bibliothèque Choisie bezieht, versucht Bayle seinen Vorwurf des Atheismus abzumildern, der auf große Kritik gestoßen ist.233 Mehrfach unterstreicht er das Können dieser beiden Philosophen. So betont er noch einmal, dass er schon im vorherigen Artikel von trés-grans 229
Vgl. Jean-Luc Solère: Bayle, les Théologiens catholiques et la Rétorsion Stratonicienne. In: Antony McKenna, Gianni Paganini: Pierre Bayle dans la République des Lettres. Philosophie, Religion, Critique. Paris 2004, S. 129–170, hier S. 161–168. 230 Bayle: Continuation, S. 217. 231 Ebd., S. 217. 232 Ebd. 233 Vgl. Pierre Bayle: Article VII. Mémoire communiqué par Mr. Bayle pur servir de reponse à ce qui le peut interesser dans un Ouvrage imprimé à Paris sur la distinction du bien & du mal, & au 4. article du 5. tome de la Bibiotheeque choisie, Août 1704. In: Henri Basnage de Beauval: Histoire des Ouvrages des Savans.
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Philosophes gesprochen habe, im Weiteren ist die Rede von deux illustres Anglois und trés-grans genies.234 Gleichzeitig bleibt Bayle aber bei seinem Vorwurf und fügt beide auf den ersten Blick entgegengesetzt scheinenden Argumentationen strategisch geschickt zusammen. So bezeichnet er es nicht ohne Ironie als Unachtsamkeit (l’inadvertance), mit ihrer Philosophie dem Atheismus in die Hände zu spielen, die sie mit fast allen gefeierten Gelehrten teilen würden („presque tous les plus celebres Docteurs“235 / „d’une infinité de grans Docteurs anciens & modernes“).236 Diese Zuschreibung wirkt zwar auf den ersten Blick recht wohlwollend, bietet aber lediglich den Rahmen, um diese Gruppe von Gelehrten vom Cartesianismus abzugrenzen, der eine solche Naturphilosophie, als deren bekanntester Vertreter Straton genannt wird, überwunden habe. Damit erfährt der Cartesianismus eine ungeheure Aufwertung, wird doch deutlich, wie schwer es gewesen sein muss, eine Irrmeinung zu überwinden, die von allen großen Gelehrten geteilt worden ist. Bis zur Geburt des Cartesianismus wäre physikotheologisch argumentiert worden, um zu beweisen, dass Gott der Schöpfer der Welt sei, indem auf die Symmetrie und Ordnung des Universums, auf die Schönheit aller seiner Teile hingewiesen wurde. Würde man allerdings ein plastisches Naturprinzip einsetzen, das der Definition des nichtwissenden Handelnden gerecht wird („d’une cause qui ne connoît point ce qu’elle fait“),237 sei man recht bald bei einem reinen Naturalismus, aus dem man Gott ohne weiteres herauskürzen könne. Häufig bezeichnet Bayle dieses Prinzip auch als blind, aveugle wird zur meist benutzten Metapher in diesem Zusammenhang.238 So kann Bayle rein rhetorisch fragen, ob es nicht genauso schwierig sei, einem Plan zu folgen, den man selbst nicht, jedoch ein anderer, kennt, als einem Plan zu folgen, den keiner kennt. Dies mache Bayle zufolge keinen Unterschied, „qu’il n’y a point de liaison necessaire entre la faculté de produire d’excellens ouverages, & l’idee de leur essence, & de la manière de les produire“.239 Oder er formuliert bildhafter, dass eine blinde Wirkung blind bleibe, auch wenn die Ursache Augen hat.240 234
Vgl. Bayle: Article VII. Histoire des Ouvrages des Savans, Août 1704, S. 495/381ff. Auch in späteren Artikeln finden sich solche Lobpreisungen. Mit der Randbemerkung Eloge de M. Cudworth versehen heißt es im CLXXIX: „Mr. Cudworth, l’un des plus habiles hommes du XVII. siecle, avoit joint ensemble deux qualitez qui ne vont guere de compagnie. Il avoit une lecture prodigieuse, & une pénétration d’esprit extraordinaire. L’ouvrage Anglois qu’il publia l’an 1678 sur le véritable systême intellectual de l’Univers a été l’admiration de tos ceux qui ont pû le lire“ (Kap. der Reponse aux Questions d’un Provincial, S. 881). Ob es sich dabei um ernst gemeinte Anerkennung oder um ein Zugeständnis an die hohe Wertschätzung, die Cudworth unter Gelehrten genoss, handelt, ist schwer auszumachen. 235 Bayle: Article VII. Histoire des Ouvrages des Savans, Août 1704, S. 495/383. 236 Ebd., S. 495/384. 237 Ebd. 238 Vgl. beispielsweise Bayle: Reponse aux Questions d’un Provincial, S. 883. 239 Bayle: Article VII. Histoire des Ouvrages des Savans, Août 1704, S. 497/390. 240 Vgl. Bayle: Reponse aux Questions d’un Provincial, S. 883.
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Damit sind wir bei der Retorsion der Stratoniker angelangt, die nun fragen würden: „Pourquoi donc pretendez-vous que deux choses ne peuvent pas être separées dans la Nature, & que la Nature ne peut avoir d’elle-même ce qu’ont, selon vous, les êtres plastiques par un don de Dieu?“241 So ist aus der plastischen Natur bei Bayle ein übermächtiges, weil durch göttliche Schöpfungsqualitäten verstärktes, aber blindes Naturprinzip geworden, dass in dieser Form in jedem Fall eine Bedrohung der theistischen Weltsicht darstellen muss. „Bayle proceeds to tacitly accuse Cudworth of Spinozism, alluding to the similarity between Strato’s arguments and Cudworth’s doctrine of plastic nature“,242 analysiert Simonutti die Baylesche Argumentation. Da Cudworth nun aber selbst die plastische Natur mit Bezug und in Abgrenzung zu Strato eingeführt hatte, ist Bayles Kritik an dieser Stelle keine besonders originelle. Trotz allem schreibt Bayle zum Abschluss seines zweiten Artikels, dass ihm nicht daran gelegen sei, die Orthodoxie und das Können dieser beiden Autoren zu unterminieren: „que je n’ai aucune intention de faire eu forte que l’on diminuât la haute idée que l’on doit avoir de l’orthodoxie & de l’habilité de ces deux illustres Auteurs“.243 Cudworth und Cartesianismus Versuchte Leclerc noch das Verhältnis von Cartesianismus und Cudworth als ambivalent aufzuschlüsseln, positioniert Bayle den Cartesianismus als positive Argumentationsfolie gegen den negativ konnotierten, weil als unmodern geltenden Aristotelismus und ordnet das Cudworthsche System entgegen dessen Selbstverständnis sowie die Naturphilosophie Grews auf Seiten der Aristoteliker ein. So zeigt Bayle Unverständnis dafür, dass Cudworth und Grew nicht die cartesische Hypothese unterstützten, da diese viel geeigneter sei, die Spiritualität Gottes darzustellen – auch hier schwingt der Atheismus-Vorwurf mit. Stattdessen würden sie auf die substantiellen Formen der Peripatetiker rekurrieren. Bayle schreibt: ils ont trouvé plus de gloire à fortifier la secte chancellante & presque aterrée des Péripatéticiens, je veux dire à mettre dans un plus beau jour & sous une nouvelle face, la doctrine des formes substantielles; l’un en illustrant le systême de la faculté plastique, l’autre en supposant un monde vital distinct du monde matériel.244
241 242
Bayle: Article VII. Histoire des Ouvrages des Savans, Août 1704, S. 497/390. Simonutti: Bayle and Leclere, S. 157. Vgl. Pierre Bayle: Dictionnaire Historique et Critique. Genève 1969 (ND der Ausg. Paris 1820–1824), Bd. XIII, Art. Spinoza, S. 422: Strato zufolge verfügt die Nature über die Kraft zu wachsen und zu leben, auch wenn ihr Empfinden und Form fehlen. Bayle diskutiert hier die Ähnlichkeiten von Strato und Spinoza, von Weltseele und spinozistischem Pantheismus. 243 Bayle: Article VII. Histoire des Ouvrages des Savans, Août 1704, S. 498/394. 244 Bayle: Continuation, S. 217.
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Auch an anderer Stelle klingt an, dass wir es mit einem Nebenzweig der querelle des anciens et modernes zutun haben.245 So verwahrt sich Bayle gegen den Einwand Leclercs, indem er die Neuheit der Idee einfach nicht verstanden habe. Bayle hofft auf Unterstützung einer der Schüler Malebranches, um darzulegen, dass das System der okkasionalen Ursachen überlegener sei, die Existenz des wahren Gottes zu beweisen als ein System aktiver sekundärer Ursachen.246 Da Cudworth und Grew sich gegen die descartessche Hypothese gewandt hätten, nach der Gott der unmittelbare Schöpfer aller Wirkungen der Natur sei, muss man nach Bayle annehmen, dass ein Unterschied zwischen Cartesianern auf der einen und Cudworth und Grew auf der anderen Seite auszumachen sei. Bayle schreibt: „& par consequent que leurs natures plastiques & vitales ne sont pas de simples instrumens dans la main de Dieu;“247 hätten die Cartesianer doch nie verneint, dass die Körper nicht die wahren Instrumente Gottes für die Produktion der Tiere und Pflanzen seien. Die Debatte lebt von Zuschreibungen, so wird es an dieser Stelle deutlich. Bayle will Cudworth und Grew nicht als Neuinterpreten der descartesschen Philosophie begreifen. Deshalb muss er zwingend eine Differenz zwischen ihnen und den Cartesianern annehmen. Daraus ergibt sich dann seine Fundamentalkritik. So kann Bayle nicht die Annahme zulassen, dass beide Parteien auf der Suche nach einer Formulierung für das sind, was wir heute als Naturgesetze begreifen, die in ihren verschiedensten Bestimmungen über das, was der Mechanismus erklären kann, hinausgehen. Bayle beschreibt den Unterschied zwischen den Cartesianern einerseits und Cudworth und Grew andererseits bezüglich der Ursachen dahingehend, dass für Cudworth und Grew die Instrumente Gottes den moralischen Gründen entsprächen. Wie Arbeiter, die ein Haus nach dem Plan und den Anweisungen eines Ingenieurs bauten, seien diese Instrumente nicht als völlig passiv zu verstehen, sondern besitzen die Qualität echter Wirkursachen. Die Cartesianer hingegen würden den Instrumentenbegriff dahingehend füllen, dass sie darunter physische Ursachen verstünden („ressemblent aux instrumens des causes physiques“), die, um im Bild der Baustelle zu bleiben, wie Feilen gänzlich passiv seien.248 Auch Tiere gelten Bayle als völlig passiv. Unter der Leitung des Menschen sind sie für ihn reine Maschinen: „si elles étoient de pures machines“.249 Hier klingt an, welch funktionalistische Vorstellung von Natur der Bayleschen Position angelehnt 245
Zur querelle des anciens et modernes vgl. beispielsweise Rüdiger Bubner: Antike Themen und ihre moderne Verwandlung. Hamburg 1992, S. 14–18. 246 Vgl. Bayle: Article XII. Histoire des Ouvrages des Savans, Decembre 1704, S. 534/543– 535/544. 247 Bayle: Article VII. Histoire des Ouvrages des Savans, Août 1704, S. 496/386. 248 Vgl. ebd., S. 496/387. 249 Bayle: Article XII. Histoire des Ouvrages des Savans, Decembre 1704, S. 534/543. Auch der menschliche Fötus wird als Maschine begriffen: „la machine du fœtus“ heißt es in Reponse des Questions d’un Provincial (ebd., S. 885).
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an den Cartesianismus zugrunde liegt. Auch an die vehement geführte Debatte um die Frage, ob Tiere Seelen haben, sei hier erinnert, die Leclerc zum Abschluss des ersten Artikels ebenfalls diskutiert, worin er sich für Tierseelen ausspricht.250 Auch Mosheim äußert sich zu Cudworth Überlegungen hinsichtlich der Seele der Tiere, die nicht immer kohärent ausfallen. Wenn Cudworth schreibt: „Brutes are not above consultation, but below it, and that these instincts of nature in them are nothing but a kind of fate upon them“.251 So wundert sich Mosheim über diese Aussagen zu den Instinkten der Tiere: I could scarcely have expected this comparison, drawn from the instinct of brute animals in an author who is of opinion that there are souls in beasts, and that their motions are directed by mind. For when mind governs, but little opportunity is left for the operations of instinct.252
Wie die Diskussion um die Funktionsweise bzw. das Lebensprinzip der Tiere zeigt, ist Bayle biologisches Verständnis von Naturzusammenhängen wie vielen seiner Zeitgenossen auf dem Kontinent vor dem Hintergrund des Denkens in mechanistischen Zusammenhängen fremd. So muss Leclercs Übersetzung englischer Naturphilosophen befremdlich in diesem Debattenkontext wirken. Mit dem Bild des Wassers für unwissend, und damit passiv, und dem Bild des Engels für wissend, und damit fähig eine Wirkursache zu sein, betont Bayle an anderer Stelle die Verbindung von Wissen und Handlungskompetenz.253 Da die plastische Natur unwissend sei, könne sie also auch keine Wirkursache darstellen, folgert Bayle aus diesen Analogien: „Ceci montre que les natures plastiques de Mr. Cudworth ne peuvent pas être la cause efficient de l’organization, mais tout au plus l’instrument“.254 Daraus folgt für Bayle, dass die plastischen Prinzipien unter ständiger und ununterbrochener Leitung und Aufsicht Gottes stehen müssen: „[I]l faut donc que Dieu les aplique, & les dirige sans interruption depuis le commencement jusques à la fin“.255 Wären die von Cudworth und Grew entwickelten Instrumente aber unter ständiger Lenkung, ihre Aktivität damit eingedämmt und damit dem Atheismusvorwurf ausgewichen, würden sie überflüssig werden, „car on multiplieroit les êtres sans necessité“.256 Deshalb müssten diese Instrumente als weit selbstaktiver verstanden werden, „que leurs principes n’ont pas besoin d’être poussez & dirigez sans interruption“.257 Damit wäre man wieder beim Atheismusvorwurf.
250 251 252 253 254 255 256 257
Leclerc: Article III. Vol. I. Tome I, S. 41/137f. Vgl. Cudworth, Harrison: True Intellectual System, Bd. I, S. 244. Ebd., Bd. I, FN 1, S. 244. Vgl.: „There is plastic nature in the souls of animals.“ (ebd., S. 259). Vgl. Bayle: Article XII. Histoire des Ouvrages des Savans, Decembre 1704, S. 534/542. Ebd., S. 534/542. Ebd. vgl. auch Bayle: Reponse aux Questions d’un Provincial, S. 885. Bayle: Article VII. Histoire des Ouvrages des Savans, Août 1704, S. 496/388. Ebd.
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Fazit So sieht Bayle das plastische Prinzip als interpretierbar in zweierlei Hinsicht, die beide unbefriedigend ausfallen müssen. Entweder kommt es dem Atheismus gefährlich nahe oder es ist schlicht überflüssig und somit in jedem Fall dem Cartesianismus unterlegen. Bei totaler Passivität der Instrumente könne man auch der cartesischen Hypothese von Gottes unmittelbarem Wirken zustimmen. Es sei auch besser verständlich, wenn Gott die Körper mit einer Bewegungskraft ausstatte, als wenn darauf beharrt werden würde, dass eine weitere immaterielle Kraft die Körper bewege.258 So bekennt sich Bayle an dieser Stelle klar wie selten zum Cartesianismus und zu der Theorie der okasionellen Ursachen. Er schreibt: „Le systeme des causes occasionelles est celui qui m’a paru preferable à tous les autres, […]“.259 3.2.2.2
Leclercs Positionsnahme für die plastische Natur
Leclerc antwortet in mehreren Artikeln auf die Anwürfe Bayles. Seine Stellungnahmen sollen unter den Gesichtspunkten Atheismus, Definition der plastischen Natur und Argumentationsstrategie erläutert werden. Entgegnung des Atheismus-Vorwurfs Leclerc fühlt sich durch den Atheismusvorwurf an Cudworth und Grew als ihr Übersetzer mitangegriffen und sieht sich daher auch verpflichtet, deren Theorie zu verteidigen, besonders Cudworth, da dieser sich selbst nicht mehr verteidigen kann.260 Leclerc ist aber durchaus bereit, Bayles Zurücknahme des Atheismusvorwurfs anzunehmen, wahrscheinlich schon allein, damit dieser Vorwurf aus der Welt verschwindet. Leclercs zweiter Wortbeitrag zu dieser Debatte beginnt deshalb auch wie folgt: „J’Avois bien crû que Mr. Bayle témoigneroit volontiers que ce qu’il avoit dit, touchant la doctrine de Mr. Cudworth, concernant la Nature Plastique, ou Formatrice, n’étoit nullement pour accuser ce Grand Home d’avoir voulu favoriser l’Atheisme“.261 Trotzdem kann Leclerc nicht auf eine Zurückweisung der Vorwürfe auf inhaltlicher Ebene verzichten, da Bayle zwar den Vorwurf des Atheismus zu entschärfen versucht hat, gleichzeitig jedoch seine Argumentation weiter 258 259 260
Vgl. ebd., S. 497/391. Ebd., S. 498/395. Vgl. Jean Leclerc: Article IV Ecclaircissement de la docrine de Mrs. CUDWORTH & GREW, touchant la Nature Plastique & le Monde Vital; à l’occasion de quelques endroits de l’Ouvrage de Mr. BAYLE, intitulé Continuation des pensées diverses sur les Cometes &c. en 2. voll. in 12. In: Ders.: Bibliothèque Choisie. Vol. V. Tome I, S. 511/287. 261 Jean Leclerc: Article VII Remarques sur ce que Mr. Bayle a répondu à l’Art IV. du Tome V. de la Bibliothèque Choisie, dans l’Hist. Des Ouvrages de Savans. Art. VII. du mois d’Août 1704. In: Ders.: Bibliothèque Choisie. Vol. VI. Tome II, S. 112/422–113/427.
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untermauert hatte.262 So beschreibt Leclerc erneut, was unter plastischer Natur zu verstehen ist und folgert: „& si Mr. Bayle l’examine bien, il n’y trouvera aucun danger de rétorsion, de la part des Athées“.263 Instrumentelle Definition der plastischen Natur durch Leclerc Dem Hauptvorwurf Bayles, es handele sich bei der plastischen Natur um ein blindes Prinzip, begegnet Leclerc mit der Strategie, die plastische Natur instrumentell und damit als von Gott abhängig zu interpretieren: Die plastische Natur und das Lebensprinzip seien nichts anderes als „des instrumens dans la main de Dieu“.264 An anderer Stelle schreibt Leclerc: „les Natures Plastiques & Vitales, qui agissent aveuglément, ne sont, dans leur Systeme, que des causes instrumentales“,265 womit er die von Bayle stark negativ besetzte Metapher der Blindheit aufnimmt, anstatt ihr entgegenzutreten. Dies kann als klug interpretiert werden, da die Wirkmacht von Bildern am Besten durch ihre Integration in ein umfassenderes Gesamtbild umgelenkt wird. Als Beispiel bringt Leclerc den Hausbau, die Arbeiter seien die plastische Natur, der Architekt Gott.266 Dies bekräftigt er auch in seinem nächsten Diskussionsbeitrag,267 schränkt aber die Passivität der Werkzeugmetapher ein: „[N]on pour dire que la Nature Plastique est un instrument passif, ce qui est contre les sentimens de Mr. Cudworth“.268 Kohl beschreibt den Stand der Debatte: Er sagt, wenn Mr. Bayle ihre Meynung nur recht gefasset hätte, würde er befunden haben, dass sie den Atheisten nicht das geringste vergeben, indem die mit Zeugungs- und Belebungskraft begabten Naturen nichts als in der Hand Gottes sich befindliche Werkzeuge wären, die keine andere Kraft hätten, als die ihm Gott ertheilt.269
Gleichzeitig fühlt sich Leclerc verpflichtet, das Verhältnis von plastischer Natur und Gott als unverbrüchlich zu bestimmen. „La premiere cause est Dieu, selon ce second sentiment; & la seconde, qui est la Nature Plastique, n’agit en ordre, que parce qu’elle a reçu ce pouvoir de la premiere, ou de Dieu.“270 Die Diskussion verdichtet sich immer mehr um die plastische Natur nach Cudworth. Dies mag daran gelegen haben, dass Bayle auf philosophischer Ebene
262
Vgl. Bayle: Article VII. Histoire des Ouvrages des Savans, Août 1704. Leclerc: Article VII. Vol. VI. Tome II, S. 112/424. Leclerc: Article IV. Vol. V. Tome I, S. 513/297. Ebd., S. 514/298. Ebd., S. 514/299. Der Dekonstruktion dieses Beispiels widmet Bayle im Folgenden viel Kraft, Zeit und Tinte. 267 „J’ai dit que la Nature Plastique est un instrument dans la main de Dieu“, (Leclerc: Article VII. Vol. VI. Tome II, S. 112/423). 268 Ebd., S. 112/422. 269 Kohl: Leben des Weltberühmten Herrn Peter Bayle, S. 351. 270 Leclerc: Article VII. Vol. VI. Tome II, S. 112/424. 263 264 265 266
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argumentiert, da ihm der stärker naturwissenschaftliche Kontext der Grewschen Überlegungen fremd bleibt. So ist Leclerc immer stärker dazu gezwungen, v.a. auf die Cudworthsche Philosophie einzugehen und den von ihm hergestellten starken Bezug zur neueren naturwissenschaftlichen Forschung unter den Tisch fallen zu lassen. Argumentationsstrategie: Missverständnis Leclercs Argumentationsstrategie beruht zu einem großen Teil darauf, zu zeigen, dass Bayle die Gedanken Cudworths und Grews missverstanden hat. In diesem Sinn beginnt er seine erste Erwiderung: „[I]l m’a paru que Mr. Bayle n’avoit pas bien compris les pensées de ces deux grands Philosophes; soit que je ne les aye pas exprimées assez clairement, en les abregeant; […]“.271 Auch dies ist ein Grund dafür, dass die Debatte in einer Fülle von Beispielen stecken zu bleiben scheint, versucht Leclerc doch immer wieder zu erläutern und zu klären, wohingegen Bayle jedes Beispiel von Neuem auf seine Widersprüchlichkeit prüft, ist doch für ihn die Figur der plastischen Natur nur grundsätzlich zu verstehen: entweder überflüssig oder atheistisch. Ein solcher Generalangriff macht es jedoch schwierig für Leclerc, dies als ein großes Missverständnis darzustellen. Leclerc kann immer wieder, zu Ungunsten Bayles, darauf verweisen, dass Cudworth selbst schon auf viele Einwände und Fragen, die Bayle stellt, geantwortet und er dies auch in seiner Übersetzung mit eingebracht hat. So hätte Cudworth schon ausführlich darauf geantwortet, dass die atheistischen Stratoniker sagen würden, dass es einen Gott gibt. Auch habe Cudworth Gründe dafür genannt, weshalb er eine plastische Natur zwischen Gott und Welt installiere und Gott nicht unmittelbar auf die Welt wirke.272 Wichtig wird außerdem das Argument der Neuheit. Leclerc meint, sich eine unwissende plastische Natur in einem theistischen Weltbild durchaus vorstellen zu können. Dass Bayle dies augenscheinlich nicht könne, läge wahrscheinlich an der Neuheit dieses Gedankens, „& que la nouveauté des Idées l’a un peu embarrassé“.273 Das Argument der Neuheit spielt wahrscheinlich auf den naturwissenschaftlichen Forschungskontext an, der zumindest mit Grew explizit vorhanden ist, in Cudworths Werk auch vorliegt und von Leclerc zusätzlich verstärkt wird. Es lässt sich allerdings nicht argumentieren, dass sich Leclercs Position erst in Auseinandersetzung mit der Bayleschen Kritik entwickelte, da, wie die Analyse der Übersetzungsleistung zeigt, schon in den Kommentaren sehr eigenständige Positionen vertreten wurden. 271 272
Leclerc: Article IV. Vol. V. Tome I, S. 510/283–515/303, hier S. 510/283. Vgl. Leclerc: Article IV. Vol. V. Tome I, S. 513/297, Leclerc verweist auf Article II. Vol. II. Tome I. 273 Leclerc: Article VII. Vol. VI. Tome II, S. 113/426.
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Querelle des anciens et des modernes: Cartesianismus-Bezüge Auf der Annahme eines Miss- bzw. Unverständnis basiert auch Leclercs Argumentation hinsichtlich Bayles Einwurfs, es handele sich bei der plastischen Natur um eine Neuauflage der substantiellen Formen der Peripatetiker. Bayle hätte die neuen Gedanken, wie sie von Cudworth und Grew formuliert worden seien, mit den schon bekannten der Peripatetiker verwechselt.274 Hier zeigt sich eine Verschiebung in der Rezeption. War Cudworth noch erpicht darauf, seine Gedanken bei möglichst vielen, auch ganz disparaten Autoritäten in der Antike vorformuliert zu sehen, so ist es Leclerc vielmehr darum zu tun, die Neuheit dieser Gedanken zu unterstreichen. Dennoch liegt Leclerc nicht falsch, wenn er die Unterschiede zwischen substantieller Form und plastischer Natur herausstreicht. Interessanterweise zeigt er dabei, inwiefern Cudworth und Grew auf den Cartesianismus zurückgreifen, was Bayle am liebsten ignorieren würde.275 Leclerc verdeutlicht anhand des Körperbegriffs von Cudworth und Grew, dass dieser mit dem Körperverständnis der Cartesianer und nicht mit dem der Peripatetiker übereinstimmt. So schreibt Leclerc: 1. Ces Messieurs suivent la Philosophie Corpusculaire, aussi bien que Descartes, que n’en est pas l’inventeur, & disent que la matiére de tous les corps est une substance étendue, divisible, solide, capable de figure & de mouvement. 2. Ils n’attribuent aucune autre Forme à chaque corps, consideré simplement comme corps, qu’une forme accidentelle; qui consiste dans la grosseur, la figure, la situation, la mouvement & le repos, & ils tâchent de rendre par la raison des qualitez des corpes.276
Diese Darstellung führt Leclerc zu der Schlussfolgerung: „Cette doctrine est trèseloingée comme l’on voit, de celle des Peripateticiens, & ne differe pas de celle de Descartes“.277 Auch hier ist zu sehen, dass Leclerc bereit ist, die Philosophien von Cudworth und Grew in Richtung Cartesianismus zu interpretieren. Mit dem Körperbegriff setzt Leclerc bei seiner Verteidigung an der entscheidenden Stelle an, unterstreicht er doch so den von Cudworth intendierten Systemzusammenhang: Die plastische Natur wird nur in einem bestimmten Kontext zu einer atheistischen Denkfigur. Kombiniert mit der Korpuskulartheorie schützt sie hingegen diese sogar davor, eine atheistische Weltbeschreibung zu ermöglichen. Auch Leclerc selbst sieht darin, dass Bayle die mechanistische Komponente dieser vitalistischen Philosophie übergeht, den Grund des Missverständnisses: „Ce qui peut
274 275
Vgl. Leclerc: Article IV. Vol. V. Tome I, S. 510/284. Auch in Bezug auf die Spiritualität Gottes kann Leclerc argumentieren, dass Cudworth und Grew schlicht dieselben Gedanken wie die Cartesianer formulieren würden, weshalb ihr System auch in diesem Punkt nicht schlechter sein könne: „[P]uis qu’ils ont les mêmes pensées que Descartes, touchant l’immaterialité de Dieu“ (Leclerc: Article IV. Vol. V. Tome I, S. 513/294). 276 Leclerc: Article IV. Vol. V. Tome I, S. 512/290–291. 277 Ebd., S. 512/291.
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avoir trompé Mr. Bayle, c’est que nos deux Philosophes, pour rendre raison de la formation des corps, & leur fonctions vitales, ait recours à autre chose qu’au Mechanisme, pour parle à l’Angloise, ou qu’ à la Matiere & qu’au mouvement“.278 So kann Leclerc auch weiter argumentieren, dass Unterschiede zu Descartes keine Übereinstimmung mit den Peripatetikern bedeuten müssen. Diese Unterschiede beschreibt Leclerc für Cudworth und Grew getrennt. In Bezug auf Cudworth schreibt er: 1. Mr. Cudworth croit que les Corps, sur tout ceux qui sont organizez, ne sont pas formez par la pure Matiere agitée selon les loix au mouvement, comme Descartes l’a crû; mais qu’il q a une Intelligence, ou des Intelligence d’un ordre inferieur, qui ont disposé & qui disposent les particules de la matiere comme elle doivent l’être, pour former les corps organizez, & qui président sur la conservation & sur les mouvements de ces organes.279
Das plastische Prinzip sei auch nicht mit dem Aristotelischen Naturbegriff zu verwechseln, „une idée très-génerale & très-confuse“,280 die plastische Natur hingegen sei „une idée beaucoup plus particulaire & plus claire“.281 Bemerkenswert scheint, dass Leclerc den cartesianischen Bewertungsmaßstab an die Cudworthsche Theorie anlegt. Über diese Bewertungen inhaltlich zu streiten scheint hingegen müßig, wietere Bestimmungen der plastischen Natur sind hilfreicher. So streicht Leclerc heraus, dass es sich bei der plastischen Natur nicht um eine Eigenschaft der Körper handele, sondern um eine immaterielle Substanz, somit entstehe und vergehe die plastische Natur auch nicht mit den Körpern, wie es die substantiellen Formen täten.282 In Bezug auf Grew fasst Leclerc sich kürzer. Er schreibt, er sähe nichts, was substantielle Form und Monde Vitale miteinander übereinstimmen ließe. „Les Etres Vitaux qu’il établit, dans les Plantes, & dans les Animaux, n’ont rien de semblable, ce me semble, aux Formes Substancielles.“283 Sie seien von den Organen und der Materie unterschieden, die substantiellen Formen hingegen fielen mit der Materie in eins.284
278 279 280 281 282
Ebd., S. 513/294. Ebd., S. 512/292, Leclerc selbst weißt an dieser Stelle auf Article II. Vol. II. Tome I hin. Ebd., S. 512/292. Ebd. Vgl. Leclerc: Article IV. Vol. V. Tome I, S. 512/293 und René Descartes: Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung. Übers. v. Lüder Gäbe. Hamburg 1978. 283 Leclerc: Article IV. Vol. V. Tome I, S. 512/293. 284 Als Bezugsquelle für die Theorie der substantiellen Formen greift Leclerc auf Suarès und Arriaga zurück.
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Zwischenergebnis Es lässt sich konstatieren, dass zwischen Leclerc und Bayle keine Annäherung der Standpunkte möglich zu sein scheint, der Streit mit dem Tod Bayles unaufgelöst abbrach. Die Debatte kann allerdings insofern als fruchtbar verstanden werden, als der Topos der plastischen Natur in all seinen möglichen Hinsichten beleuchtet wurde. Zudem findet der Streit seine Entsprechung im eingangs skizzierten Diskussionsideal von Whichcote. 3.2.3
Bezugnahmen auf die Bayle-Leclerc-Debatte
Im Folgenden soll beleuchtet werden, wie im 18. Jahrhundert die Debatte zwischen Leclerc und Bayle reflektiert worden ist. Dies erfolgt in diesem Kapitel anhand der schon behandelten alternativen Ausgaben des True Intellectual System, die nicht nur auf Leclercs Übersetzung als solche Bezug nehmen, sondern ebenso sehr auf die Debatte um die plastische Natur eingehen. 3.2.3.1
Wises Auseinandersetzung mit der Debatte um die plastische Natur
Zum Abschluss seiner dem Text vorangestellten Introduction kommt Wise auf die Debatte um die plastische Natur zu sprechen. Er beginnt damit, den von Bayle erhobenen Vorwurf des Atheismus gegen Cudworth und Grew zu zitieren. Bayle bezeichnet er als „one Critick lately“,285 reflektiert er doch die Gedanken eines Zeitgenossen. Es ist Cudworth, auf den sich Wise in seiner Verteidigung, wie schon Leclerc, v.a. bezieht, was nicht verwundert, handelt es sich doch um ein Vorwort zu einer Neuausgabe des True Intellectual Systems.286 Für Wise wiegt der Atheismusvorwurf schwer, und er fordert deshalb eine Prüfung der ihm zugrunde liegenden Argumente. „This, as I have before hinted, would have been a most unhappy and fatal Miscarriage, had it been really so, as is said!“,287 ruft Wise angesichts dieses Vorwurfes aus. Zu Bayles Präferenz des Cartesianismus gegenüber der Gedanken Grews und Cudworths schreibt Wise: „both those Doctors are far from declaring expresly against Cartesianism as such“.288 Beide würden ferner nicht auf die substantiellen Formen der Peripatetiker rekurrieren. Um den Unterschied zu erläutern, verweist Wise, wie schon Leclerc, auf die atomistische Komponente ihrer Philosophie und darauf, dass es sich bei der plastischen Natur nicht um ein materielles Prinzip handele.289 Er bekräftigt außerdem, wie Leclerc vor ihm, dass es sich bei der plasti285 286 287 288 289
Wise: Introduction, S. 138. Vgl. ebd., S. 140. Ebd., S. 138. Ebd., S. 139. Vgl. ebd., S. 140.
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schen Natur um ein Instrument in der Hand Gottes handele, so dass die Stratoniker nicht argumentieren könnten, von der Schönheit und Regelmäßigkeit der Welt könne man nicht auf einen Gott schließen.290 Wise antwortet auf den Einwand, dass die plastische Natur, weil sie mit eigenständigen Kräfte ausgestattet ist, als Argument für den Atheismus genutzt werden könne: In answer to this I say in the first place, that whatever liberty the Aheist may rashly take, yet no wise Man would venture to argue, especially touching Points of this importance, that because a thing may be, therefore it is; or at least that because a thing is possible to be done by a Divine Power, therefore it may be so of it self.291
Diese Argumentation findet sich meines Wissens so noch nicht bei Leclerc und kann als nicht kopierte Eigenleistung Wises gelten. Ein Argument, das in der Form noch nicht von Leclerc gebracht worden ist, lautet, dass es weniger den Atheisten in die Hände spielen würde, einem plastischen Naturprinzip bewegende Kräfte zu zuschreiben als der Materie selbst, da diese doch recht schnell als ewiges und damit gleichursprüngliches Prinzip neben Gott verstanden werden würde.292 Gegen die Einwürfe Bayles argumentiert Wise aber insgesamt ganz ähnlich, wie Leclerc seine Verteidigung entwickelte, ohne sich jedoch auf diesen explizit als Referenz zu beziehen. Das Ergebnis dieser offen gebliebenen Debatte beurteilt Wise entschieden zugunsten Lecercs: „Accordingly after all I found the Charge made upon Dr. Cudworth and Dr. Grew to be so very unjust and groundless that it put me hard to guess how it should ever enter into the mind of a Person of Monsieur Bayle’s Ingenuity and learning“.293 Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass Wise nicht die gesamte Debatte verfolgt zu haben scheint, sondern offensichtlich lediglich Bayles erste Kritik gelesen hat, da er sich ausschließlich auf die Continuation des Pensées diverses […] a l’occasion de la Comete bezieht. Wise lässt auch nicht gelten, dass Bayle sich darauf zurückziehen könne, Leclerc habe mit seiner Übersetzung zu einem Missverstehen des True Intellectual Systems beigetragen. Wise versteht nämlich Bayles Anmerkung, er könne kein Englisch als Vorwurf an Leclerc, was auch Leclercs Argumentationsstrategie, Missverständnisse ausräumen zu müssen, erklären würde: „[H]e [Bayle] seems to lay the blame upon Monsieur Le Clerc, in that he tells us, that he had notice ot the Doctrines he censures, only from his Bibliotheque Choisie“.294 Wise hat daraufhin die Übersetzung eingesehen und ist zu dem Ergebnis gekommen, „that what he has abstracted […] is faithfully enough done, and the Original not misrepresented, in
290 291 292 293 294
Vgl. ebd., S. 141. Ebd. Vgl. ebd. Ebd., S. 142. Vgl. ebd.
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the way that Monsieur Bayle has been pleas’d to censure“.295 Dieser Schluss unterstützt allerdings das Leclercsche Hauptargument, Bayle habe lediglich den Gedanken der plastischen Natur falsch verstanden. 3.2.3.2 Mosheims Kommentare hinsichtlich der plastische Natur Im Vorwort seiner Übersetzung zeichnet Mosheim den Verlauf der Diskussion zwischen Leclerc und Bayle chronologisch nach und nennt die jeweiligen Argumente und Texte. Da, wie bei Mosheim üblich, die Quellenangaben vollständig sind, erlaubt er dem Leser selbst in die Debatte einzutauchen (wenn es ihm denn möglich ist, die Original-Texte einzusehen).296 Mosheim nimmt selbst Stellung zur plastischen Natur. Schon im Vorwort macht er darauf aufmerksam, dass der Begriff plastisch ein recht unverständlicher sei. Er schreibt: Deinde naturarum, quas plasticas CUDWORTUS appelat, ego Latino vocabulo genitrices nominavi, Historiam tradere decreveram ad nostra usque tempora pertimentem, & quantum illae vel commodi, vel incommodi secum ferat, ingenue ostendere, sigillation questionem illam dirimere, quae acutissimos viros, IO. CLERICUS & PETR. BAYLUM in acerbam induxit contentionem: Num illi, qui naturae cuiusdam genitrilis ope generationis rationem & indolem declari optime omnium existimant, impietati adversus Deum alimenta suppeditent?297
Mit der Übersetzung genitrica statt plastica greift Mosheim das schon von Leclerc formulierte Unbehagen mit dem Begriff ,plastische Natur‘ auf und folgt auch einer Übersetzungsvariante, die sich schon bei Leclerc mit dem stärker naturwissenschaftlich belegten Begriff ,formatrice, gestaltend‘ findet.298 Mosheim steht dem von Cudworth entworfenen Weltbild, einer Kombination aus Atomismus und plastischem Naturprinzip, grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber. Cudworth argumentiert, dass, auch wenn man eine Gottheit und eine rationale unsterbliche Seele („rational soul immortal“) im Menschen annimmt, man gleichzeitig von einer sensitiven Seele in Menschen und Tieren ausgehen kann, die körperlich (und damit sterblich?) ist.299 Von hieraus kann man zum Hylozoismus gelangen und der gesamten Materie eine Art natürliches Leben zugestehen. Deshalb ist auch nicht jeder Hylozoist ein Atheist, aber Hylozoist plus Korporalist macht einen Atheisten aus. Mosheim stimmt dieser Argumentation zu, in einer Fußnote kommentiert er: „This is very just and wisely said“.300 Ferner verweist er auf eine Sekte arabischer Philosophen, die Maimonides zufolge ebenfalls einen atomistischen Weltaufbau mit Gott verbunden haben. 295 296 297 298 299 300
Vgl. ebd. Vgl. Mosheim: Systema, Praefatio. Ebd. Vgl. Leclerc: Article VII. Vol. VII. Tome II, S. 178/255. Vgl. Cudworth, Harrison: True Intellectual System. Bd. I, S. 145. Ebd., FN 1, S. 145f.
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Schon Leclerc hatte hinsichtlich der Kombination von Atomismus und plastischem Naturprinzip als einer Beschreibungsmöglichkeit für ein nichtatheistisches Weltbild unterstützend eingehakt. Hieß es bei Cudworth, dass nicht all jene, die einen körperlichen Gott annehmen, zu den Atheisten gerechnet werden müssen, so unterstützt Leclerc in einem Kommentar diesen Gedanken mit Bezug auf Meliton und Tertullian und dem Hinweis auf den Umstand, dass Gott in Christus durchaus körperlich geworden sei.301 Öfter jedoch ist Mosheim skeptisch, was die Argumentation Cudworths anbelangt. Dies zeigt sich auch hinsichtlich der plastischen Natur. So hält Mosheim Cudworths Argument für die Notwendigkeit einer plastischen Natur im Aufbau der Welt nicht für zwingend. Nach Cudworth verhält es sich so, dass wenn es keine plastische Natur gibt, entweder alles zufällig entstanden ist oder Gott jede Fliege selbst geschaffen hat. „Plastic nature certainly offered a suitable answer to one major problem of seventeenth-century atheism: either God was forced to move each atom in the whole universe to put His law into effect […], or the laws of nature operated by themselves independently of God“,302 beschreibt Colie den ursprünglichen Kontext dieses Arguments. Mosheim im 18. Jahrhundert hält diese zwei Alternativen zur plastischen Natur jedoch für zu beschränkt. Er verweist auf Descartes Naturgesetze, um zu zeigen, dass Gott durchaus nicht alles auf der Welt selbst bewegen muss, wenn es keine plastische Natur gäbe.303 Cudworth Argumentation gegen die okkasionalen Ursachen der Cartesianer erscheint Mosheim dabei nicht haltbar. Cudworth schreibt, dass wenn Gott alle Dinge selbst sofort und wunderhaft tut, dann geschehe dies entweder gewaltsam oder künstlich, aber nicht aus einem inneren Prinzip der Dinge heraus.304 Mosheim nimmt Descartes vor einer solchen Missinterpretation in Schutz, hier würde ein Pappkamerad aufgestellt.305 Auch Cudworths Beispiele, dass die Natur etwas tut, ohne sich dessen bewusst zu sein, wie das Herz, sind für Mosheim keine Argumente dagegen, dass Gott in der Lage ist, dies unter Zuhilfenahme von Naturgesetzen ohne eine plastische Natur einzurichten.306 Mosheim zufolge gibt es selbst Maschinen, die solche Maschinen herstellen könnten. Im Zuge dieser eher körperlich als geistig gelagerten Interpretation des plastischen Naturprinzips vergleicht Mosheim wie Bayle die plastische Natur mit den substantiellen Formen der Peripatetiker, die ebenfalls eine bewegte Welt ohne ständige Aktion Gottes denkbar sein ließen. „Hence, they who compare the plastic nature with what schoolmen call substantial forms do not very 301 302 303
Vgl. Leclerc: Article I. Vol. II. Tome I, S. 119/14. Vgl. Colie: Light and Enlightenment, S. 128. Vgl. Cudworth, Harrison: True Intellectual System. Bd. I, S. 259 FN 2 Mosheim verweist dabei auf Malebranche. 304 Vgl. ebd., S. 223. 305 Vgl. ebd., FN 3, S. 225. 306 Vgl. ebd., FN 8, S. 248.
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greatly err“,307 schreibt Mosheim. Allerdings will Mosheim selbst keine Position in dieser schwierigen Diskussion beziehen.308 Cudworths Vorbehalte, es sei Gott unwürdig, jedes Insekt selbst geschaffen zu haben, hält Mosheim schlichtweg für kindisch. So würde Gott auf menschliches Maß reduziert werden: „[T]hey who think it unworthy of the majesty to interfere in every thing, seem to me to act with childish inconsistency; for they rashly attribute to God the anxieties which finite men […] experience“.309 Le Clerc dreht dieses Argument für die plastic nature sogar um. Es ist für Gott würdevoller, wenn er jede Fliege selbst macht, womit er einen neuplatonischen Traditionszusammenhang aufgreift.310 Hinsichtlich Cudworths Vergleich zwischen plastischer Natur und menschlicher Kunstfertigkeit konstatiert Mosheim Widersprüchlichkeit. Cudworth schreibt an dieser Stelle: „And nature is this art, which never hesitates nor studies, as unresolved what to do, but is always ready promted; nor does it ever repent afterwards of what it hath formerly done“.311 Mosheim wendet ein, dass Cudworth zuvor jedoch wie folgt argumentiert habe: „Elsewhere he concedes that sometimes God amends and corrects the errors and faults into which nature falls, but here he seems to intimate that never commits a fault or does any thing to be afterwards amended“.312 Wie schon Leclerc stößt sich auch Mosheim an der folgenden Charakterisierung des plastischen Naturprinzips: „Wherefore the plastic nature acting neither by knowledge nor by animal fancy, neither electively nor hormetically, must be concluded to act fatally, magically and sympathetically“.313 Kritisch fragt Mosheim nach der Bedeutung der Begriffe ,schicksalshaft‘, ,magisch‘ und ,sympathetisch‘: „But what is the true and proper force of these words? Here the excellent author gives no explanation“.314 Wenn Cudworth schreibt, das göttliche Gesetz müsse als eine Art plastisches Naturgesetz verstanden werden, wirft Mosheim ein, dass ihm die Einführung einer Figur wie der plastischen Natur zur Erklärung der Weltzusammenhänge unnötig kompliziert erscheine. Er schreibt: „To most persons this philosophizing [über die plastische Natur] is difficult; to believe that God creates all things is easy“.315 In diesem Sinn fasst Mosheim auch seine Meinung zur plastischen Natur in Anbetracht der Diskussion dieses Prinzips durch Leclerc und Bayle zusammen. Er schreibt: „The longer I consider the discussion here carried on concerning nature, 307 308 309 310 311 312 313 314 315
Ebd., S. 259, FN 2. Ebd., FN 8, S. 218f. Ebd., FN 9, S. 222. Vgl. Colie, S. 129f. und Leclerc: Article II. Vol. II. Tome I, S. 88f. Cudworth, Harrison: True Intellectual System. Bd. I, S. 237, vgl. außerdem S. 235. Ebd., FN 4, S. 237. Ebd., S. 249. Ebd., S. 250. Ebd., S. 222, FN 9.
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the less clearly and accurately do I understand what it is“.316 Für Mosheim bleibt die plastische Natur ein dunkles Prinzip, seinen neuplatonischen Implikationen kann er nichts abgewinnen. Dem von Leclerc ausgebreiteten naturwissenschaftlichen Kontext steht Mosheim mit wenig Interesse gegenüber. Naturphilosophisch erscheint der Cartesianismus Mosheim gewinnbringender. So zeigt sich, dass die plastische Natur durch Mosheims Kommentierung eine noch stärkere Abwertung erfährt als durch die Kritik Bayles, ist jetzt doch kein Leclerc zur Stelle, Cudworth gegen Angriffe zu verteidigen. Dennoch ist es Mosheim, der dem True Intellectual System für das gesamte 18. Jahrhundert eine immense Popularität in ganz Europa verschafft hat. Dass die intensive Rezeption des plastischen Naturprinzips allerdings auf das erste Drittel des 18. Jahrhunderts beschränkt blieb, ist der kritischen Kommentierung durch Mosheim mitgeschuldet. 3.2.4 Exkurs: Windheims Bemühungen der Weltweisen Abschließend soll ein kurzer Blick auf eine Gelehrtenzeitschrift des deutschsprachigen Raums geworfen werden. Mitte des 18. Jahrhunderts versucht Christian Ernst von Windheim (1722–1766), Schwiegersohn Mosheims, mit seiner Zeitschrift Bemühungen der Weltweisen vom Jahr 1700 bis 1750 einen Rückblick auf die Geistesgeschichte der ersten Jahrhunderthälfte. So heißt es im Vorwort: „Wir handeln von den Schriften, welche zur Weltweisheit gehören, und in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts entweder geschrieben oder herausgegeben und wieder aufgelegt sind“.317 Im ersten Band seiner Zeitschrift geht Windheim auf die Übersetzungen Cosmologia Sacra in der Bibliothèque Choisie sowie auf die Diskussion um die plastische Natur zwischen Leclerc und Bayle ein.318 Cudworths True Intellectual System spricht Windheim ganz selbstverständlich mit dem Titel der Übersetzung Mosheims an. Dies ist symptomatisch: Das True Intellectual System ist im 18. Jahrhundert fast ausschließlich als Systema intellectuale bekannt. Im Zusammenhang mit der Darstellung der Cosmologia Sacra heißt es, Leclerc sei über diese exzerpierende Darstellung der beiden Engländer mit Bayle in Streit geraten, da es Bayle schien, „dass, so scharf auch beide Engländer Grew und Cudworth gegen den Atheismus gestritten hätten, sie dennoch den Atheisten wider sich die Waffen in die Hände gegeben hätten“.319 Es wird angekündigt, die Debatte zwischen Leclerc und Bayle im Folgenden ausführlich zu besprechen. Es folgt eine breite Beschreibung des Inhaltes der Cosmologia Sacra, die leider die Ausführun-
316 317
Ebd., FN 3, S. 251. Christian Ernst von Windheim: Bemühungen der Weltweisen vom Jahr 1700 bis 1750. Der erste Band. Nürnberg 1751, Vorrede. 318 Vgl. Windheim: Bemühungen der Weltweisen, S. 225–262 u. S. 485–526. 319 Ebd., S. 226.
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gen zur vita vegetativa auslässt, die nach Leclercs Dafürhalten mit denselben Eigenschaften ausgestattet ist, „welche Cudworth seiner plastischen Natur zugeschrieben hat“.320 Nach dieser Darstellung hat der Verfasser die Meinung geändert: „Wir finden aber nach einer weiteren Überlegung nicht nöthig davon weitläufig zu handeln und daher wollen wir die hierhergehörigen Streitschriften kurz beieinander setzen“.321 Dies zeigt zum einen, wie sich der Fokus des Interesses von Cudworth zu Grew verlagert hat. Zum anderen wird deutlich, dass die plastische Natur zwar noch ein Begriff ist, aber stark an Relevanz eingebüßt hat.
3.3 Fazit In der neueren Sekundärliteratur zur Debatte um die plastische Natur überwiegen Negativbewertungen zu Ungunsten Leclercs, Cudworths und des plastischen Naturprinzips, wie sie durch Mosheim vorgezeichnet worden sind. So schreibt Colie: „Le Clerc was no Bayle. Neither his intellect nor his style was equal of his countryman and fellow-exile. Pierre Bayle may not have been quite first class, but he was very close to it“.322 Grossklaus urteilt: „Das Schicksal der plastic nature scheint mit Bayles sachlich wohl angemessener Kritik besiegelt“.323 Hunter bezeichnet es als den tragic flaw der plastischen Natur, dass sie etwas Unbekanntes durch eine weitere Unbekannte zu erklären suche und greift damit ein Argument Lockes auf: „It explained the unknown by asserting another quite hypothetical unknown“.324 Lediglich der Bekanntheitsgrad, der sich im 18. Jahrhundert für Cudworth aus der Debatte um die plastische Natur ergibt, wird positive hervorgehoben. „The Bayle-Le Clerc controversy may have brought little pleasure to the friends of Ralph Cudworth, but […] it brought Cudworth once more to the public eye and to the attention of the republic of letters.“325 Jedoch ist die Übersetzung Mosheims die letzte großangelegte Beschäftigung mit dem Cudworthsschen Oevre im Allgemeinen und der plastischen Natur im Besonderen. Das Systema intellectuale machte das True Intellectual System zwar zum Bildungsklassiker des gesamten 18. Jahrhunderts, jedoch zog es keine weiteren tiefgreifenden Auseinandersetzungen mit diesem Werk oder der plastischen Natur nach sich. Hunter schreibt: „After a life in English letters of about fifty years, the concept of plastic nature rapidly disappeared from a commanding position in the vital thought of the time“.326
320 321 322 323 324
Ebd., S. 239. Ebd., S. 527. Colie: Light and Enlightenment, S. 34. Grossklaus: Natürliche Religion, S. 139. Hunter: The Seventeenth Century Doctrine, S. 209. Vgl. auch John Locke: An Essay concerning Human Understanding. In: The Works of John Locke. 9 vols. Vol. 1. London 1794, S. 450. 325 Colie: Light and Enlightenment, S. 141. 326 Hunter: The Seventeenth Century Doctrine, S. 213.
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Entgegen dieser vorwiegend negativen Bewertungen in der Sekundärliteratur ist festzuhalten, dass der Einfluss, den die Philosophie der Cambridge Platonists zu Beginn des 18. Jahrhunderts ausüben konnte, v.a. der Popularität, die durch Leclercs Übersetzung des True Intellectual Systems geschuldet ist sowie der sich daraus ergebenden Diskussion mit Bayle. Diese Popularität begünstigte wiederum eine so hochkarätige Übersetzung, wie sie Mosheim dann vorlegte. Mit Hunter ist zudem festzuhalten, dass der schwindende Einfluss der plastischen Natur weniger einer überzeugenden philosophischen Argumentation gegen sie als dem sich wandelnden Zeitgeist geschuldet ist. Dieser orientierte sich nun stärker an naturwissenschaftlichen Forschungsergebnissen, die den Stand der Forschung, in welche Leclerc die plastische Natur einzubetten versuchte, überholt hatten.327 Es bleibt, den nicht gerade gering einzustufenden Einfluss der Cambridge Platonists auf die wichtigen Philosophen des ersten Drittels des 18. Jahrhunderts zu beschreiben: Shaftesbury wie Leibniz ließen sich auf unterschiedliche Weise von den Gedanken der Cambridge Platonists inspirieren; Lady Masham und John Locke standen in regem Austausch über die Ideen dieser Denker. Bei diesen Autoren erfolgte die Rezeption der Cambridge Platonists allerdings mit einem weniger starken Fokus auf naturphilosophischen Zusammenhängen, wenn auch die Debatte zwischen Bayle und Leclerc immer reflektiert wird und somit auch im Folgenden in ihren Ausläufern nicht übergangen werden kann. Gleichzeitig sind andere Aspekte des Weltverständnisses der Cambridge Platonists mit zu beleuchten.
327
Vgl. ebd., S. 211.
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Vernunftkonzeption und Innate Ideas
4
Protagonistin dieses Kapitels ist Lady Damaris Masham (1659–1708), die Tochter Cudworths. In diesem Kapitel soll erstens beleuchtet werden, in welcher Weise Lady Masham auf die Debatte um die plastische Natur zwischen Leclerc und Bayle reagierte, wofür v.a. ihr Briefwechsel mit Leibniz aufschlussreich ist.1 Das Problem der plastischen Natur ist daraufhin einzubetten, in den von Lady Masham bearbeiteten Fragehorizont, der unter dem Einfluss John Lockes geprägt war von der Frage nach der Möglichkeit von Erkenntnis. Aufgewachsen unter dem Einfluss eines neuplatonisch geprägten Cambridge stellte ihre enge philosophische Freundschaft mit John Locke einen zweiten Bildungspol dar, sodass Lady Mashams Gedankenwelt eine eigentümliche Brechung erfuhr. Neben der Rezeption der Debatte um die plastic nature soll deshalb der Topos der Innate Ideas in den Blick genommen werden, an dem sich die Frage nach der Beschaffenheit menschlicher Erkenntnis entzündete. Bei all diesen Fragen ist, wie schon die Debatte zwischen Bayle und Leclerc zeigte, nie der theologische Kontext herauszukürzen, stellt Gott doch auch hier eine gewichtige Komponente im Weltverständnis dar.
4.1 Zur Person: Lady Masham Mosheim charakterisiert Lady Masham in seinem Vorwort zum Systema intellectuale als einen in jeder Hinsicht besonderen Menschen. Er schreibt: „[…] & filiam unam, DAMARIN, foeminam spectatissimam, & pietate non minus, quam eruditione noblissimam“.2 In diesem Wertschätzung ausdrückenden Sinn schreibt auch Leibniz in seinem ersten Brief an Lady Masham: „Je n’oserois point entrer si avant dans ces matieres, lorsque j’ay l’honneur d’écrire à une Dame, si je ne savois où va la penetration des Dames Angloises, dont j’ay vû un échantillon dans l’ouvrage de feue Mad. La Comtesse de Cannaway, sans parler d’autres“.3 In Bezug auf Lady Mashams Bildungsgeschichte gibt es in der neueren Forschungsliteratur unterschiedliche Bewertungen. Sarah Hutton zufolge war Lady
1
2 3
Vgl. den Briefwechsel zwischen Leibniz und Lady Masham 1703–1705. In: Carl Immanuel Gerhardt (Hg.): Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz. 7 Bde. Berlin 1875–1890, hier Bd. 3 (1887), S. 330–375 (im Folgenden abgekürzt mit GP). Mosheim: Systema, Praefatio. GP III, S. 336f.
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Masham Autodidaktin,4 wohingegen Rita Widmaier beschreibt, dass Ralph Cudworth schon früh die geistigen Fähigkeiten seiner Tochter erkannte und deren Ausbildung mit Gründlichkeit und Sorgfalt selbst leitete.5 Es bleibt dabei festzuhalten, dass Lady Masham erst spät und in Eigeninitiative Latein lernte, um es ihrem Sohn beizubringen. Sie besaß außerdem keinerlei Griechischkenntnisse, beherrschte dafür aber perfekt Französisch. Damaris Cudworth hat keine gründliche Ausbildung in dem Sinne, wie sie ein begabter Junge dieser Zeit genossen hätte, erhalten. Dies schließt jedoch nicht aus, dass ihre intellektuellen Fähigkeiten durchaus in einer Art und Weise gefördert worden sind, wie es für eine Frau der damaligen Zeit als schicklich empfunden wurde. Dafür sprechen zum einen ihre Französischkenntnisse, andererseits auch der Umstand, dass sie über eine weit reichende philosophische und theologische Bildung verfügte, sowie Kontakte in ein intellektuelles Milieu besaß, die unwahrscheinlich ohne Förderung zustande gekommen wären. 1685 heiratete Damaris Cudworth Sir Francis Masham, einen Witwer mit acht Kindern, und lebte seitdem mit ihm in Oates, einem Landsitz in Essex nahe London. Prägend für ihre Zeit als junge Erwachsene war außerdem ihr Briefwechsel mit John Locke, mit dem sie während seines gesamten holländischen Exils (1685– 1689) korrespondierte.6 „There is nothing that I love better then good letters“,7 schreibt Lady Masham in einem ihrer ersten Briefe an Locke. Dieser intensive Briefkontakt hat nicht nur eine philosophische Komponente, sondern kreist ebenso sehr um persönliche Belange und trägt eine durchaus innige Note, die sich auch in den Kosenamen Philander und Philoclea spiegelt, mit denen sie sich ansprechen. Nach seiner Rückkehr aus dem Exil lebte Locke dann von 1691 bis zu seinem Tod 1705 bei den Mashams auf Oates. 1696 erschien anonym Lady Mashams Erstlingswerk mit dem Titel A Discourse Concerning the Love of God.8 Pierre Coste (1668–1747) übersetzte den Traktat ins Französische, 1705 erfolgte in Amsterdam die Drucklegung der Übersetzung. Der Traktat richtete sich gegen die okkasionalistisch interpretierte Liebe, die einen absoluten Unterschied zwischen der Liebe zu Gott und der zu den Geschöpfen behauptet. Ihr wird die caritas ordinata, eine Liebe in verschiedenen Ausformungen entgegengesetzt, sie gilt Masham als vernünftig und mit der wahren Religion vereinbar. Masham schreibt damit gegen ein weltabgewandtes Leben von Christen. Um 1700 erscheinen die Occasional Thoughts in Reference to a Virtous and Christian Life.9 Masham plädiert in diesem Buch dafür, dass die Moral der Jugend durch eine bessere religiöse Erziehung gefördert werden sollte. Die Betonung liegt 4 5 6 7 8 9
Vgl. Hutton: Lady Masham, S. 32. Vgl. Widmaier: Korrespondenten, S. 214. Vgl. Esmond Samuel Beer (Hg.): The Correspondence of John Locke. 8 Bde. Oxford 1976, Bd. II u. III. Ebd., Bd. II, S. 474 (Brief Nr. 677 vom 06.01.1682). Vgl. Anonym: A Discourse concerning the Love of God. London 1696. Vgl. Anonym: Occasional Thoughts in reference to a Vertuous or Christian Life. London 1705.
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dabei mehr auf den moralisch-praktischen Aspekten von Religion als auf deren dogmatischer Seite. Ganz auf der Linie der Cambridge Platonists findet ein tugendhaftes Leben deshalb auch höhere Wertschätzung als das religiöse Zeremoniell.
4.2 Die Rezeption der Debatte um die plastische Natur Lady Masham verfolgte mit viel Interesse die exzerpierenden Übersetzungen, die in der Bibliothèque Choisie von Leclerc publiziert wurden. Ihr besonderes Interesse galt im Hinblick auf das Andenken ihres Vaters der Übersetzung des True Intellectual Systems. Sie wie ihr Sohn Francis Cudworth Masham schreiben am 18. Juni 1703 an Leclerc, um sich für dessen Übersetzung des True Intellectual Systems in der Bibliothèque zu bedanken. Lady Masham lobt Leclerc Übersetzungsprojekt, ermöglicht es doch erst das Bekanntwerden ihres Vaters auf dem Kontinent: „[W]herein You have given so advantageous an Idea of that Work, as joyn’d to the Authoritie your Judgment Carrys, will I doubt not Highly recommend it to all the Learned world; to whom I have too often desir’d it should be more knowne“.10 In einem Brief vom Mai 1704 bringt Lady Masham abermals ihre Freude darüber, dass das Werk ihres Vaters nun die ihm gebührende Aufmerksamkeit erhält, zum Ausdruck. Sie schreibt: No one can have more respect for the memorie of a Dead Parent or Freind than I have for my Fathers; and it is no little satisfaction to me to see that a work of his, thought excellent by the best Judges of such a Performance, will be by your means more knowne in the World than it has hitherto been.11
Lady Masham zufolge ist das True Intellectual System mittlerweile schwer erhältlich und fand bislang kaum Beachtung, was Lady Masham dem Umstand zuschreibt, dass es unvollendet geblieben ist. Demgegenüber weist Lady Masham darauf hin, dass das Werk als Schrift gegen den Atheismus durchaus als abgeschlossen gelten kann. So verspricht sich Lady Masham von Leclercs Übersetzungsprojekts den Anstoß für eine Neuauflage des True Intellectual Systems in einigen Jahren.12 Mashams Interesse richtete sich daraufhin ebenso sehr auf die sich an der Übersetzung entzündenden Debatte zwischen Bayle und Leclerc hinsichtlich der plastischen Natur.13 Lady Masham wendet sich gleich zu Beginn der Debatte mit einem Brief an Leclerc, aufgebracht über den Atheismusvorwurf Bayles. Leclerc 10
11 12 13
Brief Nr. 342 Damaris Cudworth Masham (Oates) an Jean Le Clerc (Amsterdam). In: Jean Le Clerc: Epistolario. Vol. II, 1690–1705, a cura di Maria Grazla e Mario Sina. Firenze 1991, S. 389. Brief Nr. 364 Lady Masham an Le Clerc, Oates im Mai 1704. In: Le Clerc: Epistolario. Vol. II, S. 445. Vgl. ebd. Vgl. Leclerc: Epistolario. Vol. II, S. 559 und Simonutti: Bayle and Leclere, S. 163.
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weist in einem Artikel auf diesen Brief hin: „Je ne dois pas néanmoins dissimuler que j’ai reçu une Lettre de Madame Masham, fille de Mr. Cudworth, comme je l’ai déjà dit, où elle se plaint avec raison du procedé de Mr. Bayle, à l’égard de son Père“.14 Bayle spricht in seinem Antwortartikel Lady Masham direkt an. Er schreibt: „[S]i cette Dame qui a beaucoup de lumieres, la vent bien examiner elle trouvera qu’on l’avoit mal informée“.15 Schmeichelnd versucht er also, die Beleidigung ihres Vaters als Missverständnis interpretierbar zu machen. Auch Bayles Versuch den Atheismusvorwurf zurückzunehmen – ohne allerdings inhaltlich von ihm abzurücken –, kann als Reaktion auf den öffentlich geäußerten Unmut Mashams interpretiert werden. Im Juli 1705 wendet sich Bayle deshalb auch an Pierre Coste, den Übersetzer Lockes und Mashams, mit einem schmeichelnden Bemerkungen, die Lady Masham gelten, und dazu dienen sollen, ihren Ärger über seine Kritik am Werk des Vaters zu besänftigen.16 So ist zwar der Name Lady Mashams in der Debatte um die plastische Natur durchaus präsent und scheint einiges Gewicht zu haben. Ihre philosophische Auseinandersetzung mit dem Problem der plastischen Natur findet allerdings kein öffentliches Forum. Ihre Stellungnahme zur plastischen Natur hat allerdings in Form von Briefen Gehör in der république des lettres gefunden. Exemplarisch ist der Briefwechsel mit Leibniz, der hinsichtlich des Problems der plastischen Natur befragt werden soll. 4.2.1 Der Leibniz-Masham-Briefwechsel Im Zusammenhang mit der Debatte um die plastische Natur ist v.a. der letzte Brief von Lady Masham an Leibniz vom 20. Oktober 1705 interessant.17 Lady Masham bittet hier Leibniz um eine Einschätzung der Kritik Bayles, die sie wie folgt zusammen fasst: „That God cannot make an unknowing Agent so as to act to wise ends“.18 Die Behauptung der Existenz eines blinden Schöpfungsprinzips lasse eine Weltentstehung ohne Gott denkbar werden und komme so dem Atheismus entgegen, führt sie den Atheismusvorwurf aus, mit dem Bayle ihren Vater belegte. Lady Masham schickt sich an, ihren Vater auf inhaltlicher Ebene gegen diesen Vorwurf zu verteidigen. Dem von ihr referierten Kritikpunkt am plastischen Naturprinzip begegnet sie, indem sie die unverbrüchliche Verbindung zwischen der schaffenden Kraft und den göttlichen Ideen ins Feld führt. Sie schreibt: „[T]here is (differently from what Bayle asserts of his [Cudworths] Hypothesis) an inseparable union betwixt the power of producing excellent works, and the idea of theire es-
14 15 16 17 18
Leclerc: Article VII. Vol. VI. Tome II, S. 113/426. Bayle: Article XII. Histoire des Ouvrages des Savans, Decembre 1704, S. 535/544. Vgl. Bayle: Oeuvres diverses IV, S. 854. Vgl. GP III, S. 369–373. Ebd., S. 370.
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sence and manner of producing them“,19 formuliert Masham. Die plastische Natur ist also nicht ohne Gott denkbar, weil sie in ihrem Inhalt von ihm abhängig ist.20 Das heißt im Umkehrschluss: Selbst angenommen, dass die Materie plastische Kraft unabhängig von Gott hätte, wie von Atheisten behauptet, so würde diese jedoch nichts ausrichten können. Dies liegt für Masham schon in der Bestimmung des plastischen Prinzips begründet. Masham formuliert: So that (I conceive) if matter could be supposed to have of it self that same pow’r which plastick natures are said to have by the gift of God, it would not help the Atheists cause at all; because the pow’r giv’n to plastick natures being onely a pow’r to execute the ideas of a perfect mind; if there were no mind in the universe; this pow’r in matter must lye for ever dormant and unproductive, of any such excellent work as is spoken of.21
So argumentierend betont Lady Masham außerdem den instrumentellen Charakter der plastischen Natur und ihre Abhängigkeit von Gott. Sie schreibt: Since my father dos not therein assert (as Mr. Bayle says he dos) that God has been able to give to creatures a facultie of producing excellent works, (viz such as organization of plants and animals) separate of all knowledge &c: but onely a facultie of executeing instrumentally his ideas or designs.22
Damit verfolgt Masham eine ganz ähnliche Argumentationsstrategie wie schon Leclerc im fünften Band seiner Bibliothèque Choisie, wo er anhand der Werkzeugmetapher versucht hatte, das Verhältnis zwischen Gott und plastischem Prinzip zu verdeutlichen und eine instrumentelle Interpretation des plastischen Prinzips vorlegte. Lady Masham war allerdings keineswegs daran gelegen, die Debatte um die plastische Natur in diese Richtung fortzusetzen, es ist ihr nicht darum zu tun, die Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit einer Hypothese von der plastischen Natur zu ergründen. Ihr Anliegen war lediglich, die Theorie ihres Vaters gegen den Verdacht, dem Atheismus in die Hände zu spielen, zu verteidigen. In dem schon zitierten Brief an Leibniz beschließt sie ihre Auseinandersetzung mit Bayle deshalb auch wie folgt: But I am told that Mr. Bayle will still reply: and that the subject of controversie is by some thought to be by Mr. Le Clerc’s answer too much enlarg’d in a consideration of the usefulness of the Hypothesis of plastick natures, which is not necessarie to the inquirie whether or no, this Hypothesis is expos’d to the retorsion of Atheists.23
19 20 21 22 23
Ebd. Vgl.: „[T]hat he [Cudworth] holds the operations of the plastick nature to be essentially and necessarilie dependent on the ideas in the divine intellect“ (ebd., S. 371). Ebd. Ebd., S. 370. Ebd., S. 373.
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4.2.2 Verortung der Frage nach der plastischen Natur Die Welt lässt sich für Lady Masham weder durch naturwissenschaftliche Forschung noch durch abstraktes Philosophieren erschließen. Ihre Welt wird bestimmt durch das Verhältnis zwischen Gott und Mensch. Der Topos der plastischen Natur soll deshalb unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten vom Menschen her und unter theologischen Gesichtspunkten von Gott her befragt werden. 4.2.2.1 Die Frage nach der plastischen Natur unter erkenntnistheoretischen Voraussetzungen Lady Masham gibt der plastischen Natur lediglich den Status einer Hypothese.24 Dies scheint die Einschätzung von Sarah Hutton hinsichtlich des Stellenwerts der plastischen Natur bei Lady Masham zu unterstützen. Hutton schreibt: „She is not dogmatically attached to the doctrine of plastic nature as such. Rather she is concerned to defend the principles which led Cudworth to expound it“.25 Masham stuft allerdings auch Leibniz’ Theorem einer präetablierten Harmonie in den Rang einer Hypothese ein. In ihrem Brief vom 3. Juni 1704 schreibt sie: „But it appears not yet to me that this is more than a Hypothesis“.26 Damit wird deutlich, dass Lady Masham von einer anderen erkenntnistheoretischen Prämisse als Cudworth und auch Leibniz ausgeht. Der Hypothesenbegriff verweist auf Locke und dessen Analyse des möglichen Wissens. In der Epistle to the Reader seines berühmten Essay concerning human Understanding heißt es: „and that before we set ourselves upon inquiries of that nature, it is necessary to examine our own abilities, and see what objects our understandings were, or were not, fitted to deal with“.27 Im vierten Buch beurteilt Locke den Stellenwertes einer Hypothese. Er schreibt: Not that we may not, to explain any phaenomena of nature, make use of any probable hypothesis whatsoever: hypotheses, if they are well made, are at least great helps to the memory, and often direct us to new discoveries. But my meaning is, that we should not take any one to hastly […] till we have very well examined particulars, and made several experiments.28
Der Begriff der Hypothese mahnt also zur genauen Prüfung, er ist lediglich ein Hilfsmittel auf dem Weg zu gesicherter Erkenntnis, nicht aber gesicherte Erkenntnis selbst. Er impliziert einen Vorstoß an die Grenzen des Wissens. Da die plastische Natur genau wie die präetablierte Harmonie für Lady Masham nichts weiter sein kann als eine Hypothese, da ihr solch grundlegende Einsichten in die Ver24 25 26 27 28
Vgl. ebd., S. 370. Hutton: Damaris Cudworth, S. 53. GP III, S. 350. Locke: Essay. In: Ders.: Works. Vol. I, S. 53. Ebd. In: Ders.: Works. Vol. II, S. 218.
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fasstheit der Welt dem menschlichen Verstand nicht angemessen scheinen, lohnt sich nach ihrem Dafürhalten auch keine Untersuchung der Nützlichkeit einer solchen Hypothese, geschweige denn eine hitzig geführte Debatte, muss doch der Aussagewert einer jeden Hypothese ungeklärt bleiben. 4.2.2.2 Verortung der plastischen Natur im theologischen Kontext Auch wenn Lady Masham der plastischen Natur lediglich den Stellenwert einer Hypothese zuerkennt, übernimmt sie doch das physikotheologische Weltbild der Cambridge Platonists, das die Idee einer plastischen Natur grundiert. Die Welt erscheint Masham als schön und wohlgeordnet.29 Sie bezeichnet die Welt in einem Brief an Leibniz als „excellent work“,30 das als solches nur durch eine geistige Grundverfasstheit möglich ist und sich rein materialistisch nicht denken ließe.31 Diese Welt ist für Lady Masham die Schöpfung Gottes. So besteht ein direktes Verweisungsverhältnis zwischen Welt und Gott, das die Welt als den anschaulichen Beweis für die Existenz Gottes nimmt. In diesem Sinn schreibt Masham in den Occasional Thoughts: „The Foundation of All Religion is the belief of a God; or of a Maker and Governour of the World; the evidence of which, being visible in every thing; and the general Profession having usually stamp’d it with awe upon children’s Minds“.32 Die Welt veranschaulicht zum einen Gottes Existenz, weil alles Dasein eines Grundes bedarf und Gott als Schöpfer der Welt ihren Grund legt.33 Um die Erkenntnis des Grundes der Welt drehen sich auch Mashams Überlegungen im Discourse concerning the Love of God. Darin heißt es: And like as our own Existence, and that of other Beings, has assur’d us of the Existence of some Cause more Powerful than these Effects; so also the Loveliness of his Works as well assures us, that that Cause, or Author, is yet more lovely than they, and consequently the Object the most worthy of our Love.34
Zum anderen erlaubt die Beschaffenheit der Welt auch Aufschluss über den Charakter Gottes oder wie es in Mashams Sprachduktus heißt, über die Attribute Gottes. Sein Macht, seine Weisheit und seine Güte sind in die Schöpfung eingezeichnet.35 Das Glück und die Freude, die wir an uns und der Welt empfinden, lassen aufgrund des behaupteten engen Verweisungszusammenhangs, der in platonischer
29 30 31 32 33 34 35
Masham: Thoughts, S. 61. Vgl. GP III, S. 371. Ebd. Masham: Thoughts, S. 34. Ebd., S. 61. Masham: A Discourse. Vgl. Masham: Thoughts, S. 62.
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Lesart Täuschungen ausschließt, auf einen Gott schließen, der es gut mit uns meint. Bei Masham heißt es: And as we delight in our selves, and receive pleasure from the objects which surround us, sufficient to indear to us the possession and injoyment of life, we cannot from thence but infer, that this Wise and Powerful Being is also most Good, since he has made us out of nothing to give us a Being wherein we find such Happiness, as makes us very unwilling to part therewith.36
Gott wird von Masham bestimmt als „an invisible Being only knowable to us in, and by, exemplifications of his Attributes: The infinite Perfection, and the inseperable Correspondence, and Harmony“,37 welche sich in der Ordnung des Universums zeigen. Auch ihr Vater Ralph Cudworth verwendet schon das physikotheologische Argument der Schönheit der Welt als Beweis für die Existenz Gottes. Cudworths Gottesbild steht durch den Schöpfungszusammenhang in einem nicht auftrennbaren Verhältnis zur Kosmologie. So kann er entgegen dem Atheismus appelieren, die Schönheit des Kosmos, die sich in harmonischen Bezügen ausdrückt, wahrzunehmen und als Werk eines höchsten Geistes anzuerkennen.38 Masham argumentiert ferner, dass die Attribute Gottes, die sich in der Welt zeigen, nicht ohne eine tragende Substanz denkbar sind, womit auf dem Umweg über die Beschaffenheit der Welt die Existenz Gottes bewiesen wäre.39 Das konstatierte Abbildungsverhältnis zwischen Welt und Gott erlaubt in neuplatonischer Lesart einen solchen Erkenntnisoptimismus. In Hinblick auf Weltfröhlichkeit und Weltzugewandtheit lässt sich von einem ungebrochenen Rezeptionszusammenhang von den Cambridge Platonists hin zu Lady Masham sprechen. Die Welt erscheint allerdings in einem anderen Licht, wenn man sie in Beziehung zum Menschen setzt, anstatt sie auf ihre göttliche Dimension hin auszuleuchten. „Household Affaires are the Opium of the Soul“,40 schreibt Lady Masham kurz nach ihrer Heirat in einem Brief an ihren Freund Locke. Es drückt sich darin eine gewisse Besorgnis aus, der Geschäftigkeit der Welt und des Alltags zu erliegen. Gleichzeitig kämpft Lady Masham von Zeit zu Zeit mit Gemütsverstimmungen und Melancholie. Sie beschließt deshalb Stoikerin zu werden, „turne a Stoick“, wie sie gleich in mehreren Briefen an Locke schreibt.41 Mit diesen recht lebensnahen Schilderungen soll angedeutet werden, dass Lady Masham, auch wenn sie keine Überlegungen zum Ursprung des Schlechten in der Welt anstellt, dennoch nicht blind gegenüber dem weltlichen Ungemach ist. Andererseits soll betont werden, dass es ihr um eine Weltbetrachtung aus Sicht der Vernunft zu tun ist. Der Vorsatz, Stoiker zu werden, weist darauf hin, dass sie der Vernunft und der kühlen 36 37 38 39 40 41
Ebd., S. 61f. Ebd., S. 68. Cudworth: True Intellectual System, S. 669. Vgl. Masham: Thoughts, S. 62. De Beer: The Correspondence. Bd. II, S. 757 (Brief Nr. 837, 14.11.1685: ist jetzt verheiratet). Vgl. ebd., S. 510 (Brief Nr. 704).
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Überlegung einen größeren Stellenwert zumisst als dem spontanen Gefühl. Eine Seele, die durch die Bindung an die Welt betäubt und benebelt ist, kann ebenso wenig wie der gefühlsbestimmte Mensch erkennen, dass die Schönheit der Welt ein Spiegelbild der Güte Gottes ist. Im Folgenden gilt es deshalb, Mashams erkenntnistheoretische Annahmen nachzuzeichnen.
4.3 Aspekte des Weltverhältnisses: Das Erkennen der Welt Lady Masham wird zu recht nicht nur als enge Freundin und Vertraute von John Locke bezeichnet, sondern war ebenso sehr seine engste Schülerin. Es handelt sich jedoch nicht um eine noch ungeprägte Schülerin, die einem leeren Blatt Papier im Sinne einer ,tabula rasa‘ vergleichbar wäre. Lady Masham ist schon zu diesem Zeitpunkt eine hochgebildete junge Frau, die Locke vom Cambridger Neuplatonismus aus versteht und immer wieder um Brückenschläge zwischen diesen beiden Positionen bemüht ist. Dies spiegelt ihr Brief an Locke vom 9. März 1682 wider: „That I have no Ill Opinion of the Platonists I confess, nor ought you wonder at That seeing I have spent the Most of my Life amongst Philosophers of that Sect in whom I have always found the most Vertue and Friendship“.42 Vor allem aber zeigt sich dies hinsichtlich ihrer Positionierung in der Frage nach den angeborenen Ideen und anhand des damit zusammenhängenden Vernunftbegriffs. Im Folgenden soll anknüpfend an die Verortung der plastischen Natur im Gedankengefüge Mashams in den Blick genommen werden, wie Lady Masham zwischen Cambridger Erkenntnisoptimismus und Lockeschem Erkenntnisskeptizismus den Menschen in der Welt positioniert. So soll zuerst entwickelt werden, wie die Cambridge Platonists die Vernunft des Menschen bestimmen, um von dort aus ihr Konzept der Innate Ideas verständlich machen zu können. Dann erfolgt eine Betrachtung der berühmten Kritik Lockes an diesem Konzept, um daraufhin den Mashamschen Vermittlungsversuch nachzuzeichnen. 4.3.1 Bestimmung der Vernunft bei den Cambridge Platonists Dem Konzept der Innate Ideas liegt ein neuplatonischer Vernunftbegriff zugrunde. Seele und Vernunft werden als vorgeprägt und von eigenem Charakter begriffen. Somit verfügt die Seele über ein eigenes Aktivitäts- und Erkenntnispotential. Sie erkennt die Dinge der Welt wieder und kann sie damit aus einer eigenen Perspektive beurteilen, anstatt den Eindrücken der Welt passiv ausgeliefert zu sein.43 Die-
42 43
Ebd., S. 493 (Brief Nr. 690). Vgl. Dominic Scott: Reason, recollection and the Cambridge Platonists. In: Anna Baldwin, Sarah Hutton: Platonism and English Imagination. Cambridge 1993, S. 139–150.
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ser Vernunftbegriff soll bei Whichcote, Smith, Cudworth und More nachgezeichnet werden. Die neuplatonische Bestimmung der Vernunft, die dem Konzept der Innate Ideas zugrunde liegt, haben More und Cudworth von ihrem Lehrer und Freund Benjamin Whichcote übernommen.44 Auf ihn geht auch die Betonung des hohen Stellenwerts der Vernunft für den Glauben und die Moral zurück. 4.3.1.1 Zur Person: Benjamin Whichcote Mit Benjamin Whichcote (1609–1683) etablierte sich eine neue theologische Geisteshaltung in Cambridge. Whichcote war der Philosophie der Antike gegenüber aufgeschlossen, lebte hohe Moralvorstellungen fern von Dogmatismus und hatte ein Vertrauen in die menschliche Vernunft, das die calvinistische Gnadentheologie hinter sich zurücklassen konnte. „Whichcote linked his sympathy for the Platonic philosophy with a deep commitment to the place of reason in religion and morals, and a willingness to read more widely in contemporary philosophy“,45 beschreibt Rogers Whichcotes Geisteshorizont. Gilbert Burnet, Zeitgenosse Whichcotes schreibt: „Whichcot was a man of a rare temper, very mild an obliging“.46 Er gilt als Vaterfigur der Cambridge Platonists, war er doch der Erste in Cambridge, der die platonische Philosophie etablierte und mit der Theologie zu verknüpfen vermochte. Er wurde zum akademischen Lehrer, zur Inspiration und zum Freund von Cudworth, More und Smith.47 Whichcote beeindruckte seine Zeitgenossen besonders durch seine im gesprochenen Wort für seine Zuhörer lebendig und lebensnah erfahrbar machende Geisteshaltung. Whichcote entwickelte einen für alle seine Predigten charakteristischen Stil, in dem er eine allgemein verständliche, von theologischen Fachausdrücken, Bildern und rhetorischen Ausschmückungen gereinigte Sprache gebrauchte. Stets legte er dabei Bibelstellen aus, die einen unmittelbaren Bezug zur Praxis hatten. 1636 wurde er zum Dekan ernannt und erhielt die Priesterweihe, es folgte noch im selben Jahr die Ernennung zum Prediger der Holy Trinity Church in Cambridge. Hier wirkte er für die nächsten zwanzig Jahre und entfernte sich in seinen Predigten vom gemäßigten Calvinismus seiner Amtsvorgänger. 1643 nahm er eine Pfarr44
45 46 47
Trotz der starken neuplatonischen Färbung des Vernunftbegriffs der Cambridge Platonists ist der Einfluss Aristoteles’ nicht von der Hand zu weisen. Vgl. beispielsweise dessen Ausführungen zu den Vernunfttugenden (6. Buch): Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übers. u. hg. v. Ursula Wolf. Reinbek 2006, S. 193–216, bes. S. 210: „Richtig aber ist ein Urteil, welches das Wahre trifft“. Rogers. In: Cudworth, Harrison: True Intellectual System, S.vi. Gilbert Burnet: History of His Own Time. Hg. v. Martin Joseph Routh. 6 Bde. Bd. I. Hildesheim 1969 (ND der Ausg. Oxford 1833), S. 339. Vgl. Joseph M. Levine: Latitudinarians, neoplatonists, and the ancient wisdom. In: Richard Kroll, Richard Ashcraft u. Perez Zagorin (Hg.): Philosophy, science, and religion in England (1640–1700). Cambridge 1992, S. 85–108.
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stelle in North Cadbury, Somerset an und heiratete. Schon 1644 kam er als Provost des Kings College nach Cambridge zurück. Für seinen Vorgänger, der vom Parlament unter Cromwell abgesetzt worden war, erwirkte er, dass dieser die Hälfte seines eigenen Lohns als Pension bekam, da Whichcote moralische Bedenken quälten, die Stelle anzunehmen. Er leistete, möglicherweise als einziger der neu ernannten Vorsteher, nicht den geforderten Eid auf die Regierung.48 Höhepunke seiner Laufbahn waren 1650 die Ernennung zum Vizekanzler der Universität sowie 1655 die Berufung in ein Gremium, dem auch Cudworth und Tuckney angehörten, das Lord-Protektor Oliver Cromwell in der Frage der Tolerierung der Juden beraten sollte. Bei der Restauration 1660 verlor Whichcote sein Amt als Provost. Er erhielt 1662 die Pfarrstelle St. Anne’s Blackfriars in London, die 1666 dem Großen Brand zum Opfer fiel. Daraufhin wirkte er einige Jahre als Geistlicher in Milton bei Cambridge. Auf Empfehlung seines Freundes John Wilkins (1614–1672), dem Bischof von Chester sowie Gründungsmitglied und erstem Sekretär der Royal Society, trat Whichcote dessen Nachfolge als Pfarrer der Kirche St. Lawrence Jewry an, die sich in London direkt gegenüber des Rathauses befand. Die Kirchengemeinde setzte sich zu einem großen Teil aus wohlhabenden, oft mit der Stadtregierung verbundenen Mitgliedern zusammen. Hier hörten auch der bekannteste puritanische Erbauungsschriftsteller Richard Baxter (1615–1691) und John Locke seine Predigten.49 1683 starb Benjamin Whichcote im Alter von 73 Jahren während eines Besuchs bei seinem langjährigen Freund Ralph Cudworth. Tulloch bezeichnet ihn als einen der einflussreichsten Prediger seiner Zeit. Er schreibt in seiner berühmten Studie über die Cambridge Platonists, die geringe Wertschätzung Whichcotes in der Forschungsliteratur des 19. Jahrhunderts beklagend: „[L]ittle is understood either of the character or writings of one who was among the most influential preachers and theologians of his age – an age in which both preaching and theology still exercised a real influence on all the affairs of national life“.50 Bislang hat sich daran wenig geändert. Benjamin Whichcote hat Zeit seines Lebens nichts veröffentlicht, seine Predigten wurden erst posthum herausgegeben. Die Herausgeber konnten sich dabei auf zwei Quellen stützen, zum einen auf Nachschriften, die auf stenographischen Protokollen beruhten, zum anderen auf den Nachlass. Erstmals wurden Whichcotes Predigten 1685 von einem unbekannten Herausgeber, der sich „Philanthropus“ nannte, publiziert. Er bezeichnete sich als Schüler Whichcotes und rekonstruierte 48 49
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Vgl. Weyer: Cambridge Platonists, S. 71. Vgl.: „Civilitie yet he [Locke] thought not only the great ornament of Life […], but look’d upon it, as a Christian Duty […], and also of the speak with great liking of Some Sermons since Printed, which he heard Dr. Whichcote Preach of the same purpose“ (ebd., S. 73f. und Le Clerc: Epistolario. Vol. II, S. 512, Lady Masham an Le Clerc). Tulloch: Rational Theology, S. 45. In der neueren Forschungsliteratur erfährt Whichcote nun das ihm zustehende Interesse. Vgl. beispielsweise Rivers, Vol. I.
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die Predigten aus eigenen Aufzeichnungen. 1698 kam auf Veranlassung und unter Leitung des dritten Earls von Shaftesbury die berühmte Edition Select Sermons zustande.51 Sie stützte sich auf zwei Manuskriptbände mit Nachschriften von Predigten, die Whichcote wahrscheinlich zwischen 1678 und 1680 in St. Lawrence Jewry gehalten hat. Shaftesburys und Philanthropus’ Predigtensammlungen stützen sich beide auf eine nicht völlig gesicherte Textgrundlage und beinhalten bei Weitem nicht alle Predigten. Da Whichcote seine Predigten in voller Länge ausarbeitete, konnte der Geistliche John Jeffrey, ein Freund Tillotsons, die auf Whichcotes Nachlass beruhenden Several Discourses in drei Bänden zwischen 1701 und 1703 herausgeben. Ein vierter Band wurde 1707 ohne Genehmigung Jeffreys vom Theologen Samuel Clark (1675–1729) publiziert. Die in den Select Sermons abgedruckten Predigten Johnannes 7,46, Römer 1,16, 1,18, 1,21–22 und 1,26–27 bot Jeffrey in den Several Discourses in Band drei in erweiterter und verbesserter Form an. Die ebenfalls in den Select Sermons zu findende Predigt über Philipper 4,8 ist von Clark korrigiert worden und erschien in Band vier.52 4.3.1.2 Der Vernunftbegriff bei Whichcote Benjamin Whichcote predigte während der 1660er und 70er Jahre des 17. Jahrhunderts als Pfarrer der Kirche St. Lawrence Jewry in London. In Hinblick auf das Verhältnis von Glauben und Vernunft sind unter anderem seine Ausführungen über den Psalm 33,1 interessant. In dieser Predigt hieß es paradigmatisch: „There is nothing so intrinsically rational as religion is“.53 Der Vernunft – „the Candle of the Lord“54 – kam in allen Predigten Whichcotes eine solch tragende Rolle zu, weil die grundlegenden Elemente der Religion für ihn mittels der Vernunft erkannt werden können: Zum einen zeige sie die Existenz Gottes, zum anderen erschließe sich durch vernünftige Betrachtung der Unterschied zwischen Gut und Böse.55 Für Whichcote war Religion damit v.a. ein Projekt der Vernunft.56 Er betont deshalb die Seite der natürlichen Religion, wobei der christliche Offenbarungsanspruch allerdings nicht grundsätzlich aufgegeben wird. Dem Whichcotesschen Religionsverständnis, das eng mit seiner Morallehre verknüpft ist, liegt ein positives Menschenbild zugrunde, in dem die Vernunft einen zentralen Platz einnimmt. Whichcote predigte: „The beauty and excellency of human nature consists in the perfection of reason and understanding“.57 Durch 51 52 53 54 55 56 57
Vgl. Standard Edition Bd. II,4, S. 9–308 und Kap. fünf dieser Arbeit. Vgl. Benjamin Whichcote: The Works. 4 Bde.New York, London 1977 [ND der Ausg. Aberdeen 1751]. Ebd., Bd. I, S. 71. Ebd., Bd. III, S. 187. Vgl. ebd., Bd. I, S. 267. Vgl. Ulrich Barth: Gott als Projekt der Vernunft. Tübingen 2005, S. 127–145. Whichcote: Works. Bd. I, S. 131.
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die Vernunft, die Whichcote oft als „Natural light“58 anspricht, wird das Verhältnis von Gott und Mensch erst möglich. Sie ist Gott zugewandt, sie sucht Gott, und Gott stellt wiederum das einzig angemessene Objekt dieser Suche dar. In einer Predigt heißt es: „[T]he connatural propension of mind and understanding, is towards God. Omnis intellectus deum quaerit, this is written upon this faculty; our understanding seeks God, as any faculty seeks out its proper object“.59 Gott wiederum lässt sich auf den Menschen ein und zeigt sich dem Menschen auf eine Art und Weise, die den menschlichen Fähigkeiten angemessen ist: „We are to examine by reason and by argument, because God applies to reason and judgement, and to understanding“.60 Hiermit ist die anthropologische Grundlage beschrieben, der es bedarf, um eine natürliche Gotteserkenntnis, eine eingeborene Gottesidee verständlich zu machen. Zentral in Whichcotes Entwicklung der natürlichen Religion ist die Morallehre. Es ist dabei die Vernunft, die erst zu moralischem Handeln befähigt, denn ohne Einsicht ist ein moralisch verstandenes Leben nicht möglich. Whichcote predigt: „We are to be doing our duty to God, ourselves and others, as soon as we come to use our reason and understanding; for motion of religion doth begin with reason“.61 An dieser Stelle zeigt sich außerdem, dass neben der vertikalen Vernunftstruktur, die sich zu Gott hin orientiert, auch noch eine horizontale, weltliche Struktur vorhanden ist, die auf die Mitmenschen und das Selbst hinzielt und als Moral beschrieben werden kann, was bei Lady Masham als caritas ordinata angesprochen wird. Whichcote definiert Moral als etwas, das nicht zweckgerichtet ist, sondern das Gute als Selbstzweck meint, „that are good in themselves, good in their own nature, and quality; that are not only recommended by institutions“.62 Da moralisches Verhalten nicht von außen diktiert werden kann, muss der Mensch das Gesetz in sich selbst finden. Whichcote formuliert pointiert: „[A] man is a law to himself“.63 Dass hier kein Werterelativismus gepredigt wird, sondern lediglich die Vernunft als Urteilsinstanz im Menschen bis zum Äußersten strapaziert wird, ist durch die Rückbindung der Vernunft an die göttliche Wahrheit gewährleistet. Diese vermag die Vernunft in ihrer Bestimmung als „natural light“ in neuplatonischer Lesart wieder zu erkennen, nach ihr strebt sie durch gelebte Ethik. Somit ist Religion das Streben nach der perfekten Abbildlichkeit, Religion ist „in substance, our imitation of God in his moral perfections, and excellency of goodness, righteousness and truth“.64 58 59 60 61 62 63 64
Vgl. beispielsweise ebd. Bd. IV, S. 289. Ebd., Bd. IV, S. 353. Ebd., Bd. I, S. 69. Ebd., S. 37. Ebd., S. 22. Ebd., S. 40. Ebd., Bd. IV, S. 191.
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Für Whichcote ist die Moral die Charakteristik eines gelebten, alltäglichen, praktischen Glaubens, der sich an den Bedürfnissen des Nächsten und am Gemeinwohl orientiert, ein Glaube weit weg von abstraktem Buchwissen. Whichcote predigt in diesem Sinn: „[F]or we came not into the world to gratify sense, and to serve our lusts, but to serve God and the publick, not to promote our own ends and little designs, but the common good“.65 4.3.1.3 Zur Person: John Smith John Smiths (1616–1652) Begriff von Vernunft kommt dem von Whichcote entwickelten Vernunftverständnis sehr nahe. Bevor seine Ausführungen zur Vernunft skizziert werden, erfolgt eine kurze biographische Skizze. „The bearer of this common name was perhaps the most uncommon of the little band with whom we are dealing“,66 urteilt Powicke. Über John Smith kurzes Leben ist wenig bekannt. Er wurde 1616 in Achurch bei Oundle in Northamptonshire geboren. 1636 trat dem Emmanuel College bei. Whichcote wurde sein Tutor, er unterstützte auch finanziell den mittellosen Studenten. 1640 legte er den B.A., 1644 den M.A. ab, wobei dieses vergleichsweise lange Studium mit einer längeren Krankheit zusammen hing, die wahrscheinlich auf exzessives Studieren zurückzuführen ist.67 Er wurde Fellow des Queen’s College und unterrichtete dort Hebräisch und Griechisch. Ab 1650 lehrte er als Dekan und Katechist. In dieser Funktion entstanden unter anderem jene zehn Predigten, die nach seinem Tod als Select Discourses erschienen. Seine 600 Bände umfassende Bibliothek, die er nach seinem Tod dem College vermachte, spiegelt seine weit gespannten Interessen wider. Unter den theologischen Werken finden sich auch Abhandlungen zur katholischen Theologie, Texte der zeitgenössischen Philosophie von Descartes und Gassendi werden durch Werke über Geschichte und Geographie ergänzt. Daneben stehen eine große Anzahl medizinischer Bücher sowie Kepler und Galilei.68 Smith genoss allseitigen Respekt und hohes Ansehen an der Universität.69 Smith’ Nachlass wurde vom Testamentsvollstrecker zum Zweck der Durchsicht und Publikation John Worthington (1618–1671), der auch zu den Cambridge Platonists gezählt wird, übergeben. 1660 gibt John Worthington die Select Discourses heraus.
65 66 67 68 69
Ebd., Bd. I, S. 37. Powicke: Cambridge Platonists, S. 87. Vgl. ebd., S. 89. Vgl. Weyer: Cambridge Platonists, S. 122. Vgl. Simon Patrick: The Autobiography. In: Ders.: The Works. Bd. 9. Hg. v. Allen Taylor. Oxford 1858, S. 422.
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4.3.1.4 Der Vernunftbegriff bei Smith Smith betont den praktischen Aspekt der Vernunft: Vernunft ist Urteilskraft. Ihr kommt bei Smith eine herausgehobene Rolle zu. „We must shut the Eyes of Sense, and open that brighter Eye of our Understandings, that other Eye of Soul, as the Philosopher calls our Intellectual Faculty, which indeed all have, but few make use of it.“70 Vernunft und Verständnis sind es, die den Glauben erst lebendig werden lassen: „When Reason once is raised by the mighty force of the Divine Spirit into a converse with God, it is turn’d into Sense: That which before was onely Faith well built upon sure Principles […] now becomes Vision“.71 Es handelt sich hierbei um ein Wechselverhältnis, denn andererseits ist es wiederum die Religion, die der Vernunft die nötige Tiefe gibt. Smith predigt: But the Motions of a Good man are Methodical, Regular and Concentrical to Reason. It’s a fond imagination that Religion should extinguish Reason; whenas, Religion makes it more illustrious and vigorous; and they that live most in the exercise of Religion, shall find their Reason most enlarged.72
Es ist das Wechselspiel von Vernunft und Glauben, das den Menschen erst in die Lage versetzt, mit Gott in Kontakt und Dialog zu treten, ihn zu kennen und zu lieben. Auch die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier manifestiert sich in der religiösen Dimension des Lebens.73 Smith spricht die Vernunft als Lumen de Lumine an. Er füllt diese Verhältnisbestimmung von Licht wie folgt: „[A] Light flowing from the Fountain and Father of Lights“.74 Die Metaphorik des Sehens und des Lichts in Smiths Predigten sind dabei weniger einer sensualistischen Erkenntnistheorie, wie sie Locke entwickeln wird, geschuldet, sondern stehen in einem Rezeptionszusammenhang mit der platonischen Erkenntnistheorie, wie sie von Whichcote vermittelt wurde. 4.3.1.5 Cudworths Verständnis von Vernunft Schon in Cudworths Methodik findet sich der Vernunftgedanke gespiegelt. Good Historical probability und die Vernunft sind die Grundlagen von Cudworths Beweisführung.75 Traditionen werden nicht einfach übernommen, sondern müssen vorher auf den Prüfstand der Logik und Philologie. Cudworth versucht seinen Thesen aber gleichzeitig eine möglichst breite historische Basis zu erhalten, ver70 71 72 73 74 75
John Smith: The True Way or Method of Attaining to Divine Konwledge. In: Constantinos A. Patrides (Hg.): The Cambridge Platonists. London 1969, S. 128–144, S. 140. Smith: The True Way, S. 140. John Smith: The Excellency and Nobleness of True Religion. In: Patrides: Cambridge Platonists, S. 145–199, hier S. 154. Vgl. ebd., S. 155. Ebd., S. 149. Vgl. Cudworth: True Intellectual System, S. 13.
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zichtet deshalb auch nicht auf zweifelhafte Argumente: So war z.B. schon zu seiner Zeit die Identität vom Atomisten Moschus mit dem biblischen Moses bereits strittig. Er gibt solchen Argumenten den Rang von Wahrscheinlichkeiten und lässt so Raum für individuelle Prüfung.76 Seine Methodik ist eng mit der sie gründenden Erkenntnistheorie verknüpft. Erkenntnis ist actio, nicht reactio: freies Gestalten und Verknüpfen. „Denn das bloße Vorhandensein der Phantasmata in uns bedeutet an sich noch keinerlei Wissen um sie“,77 übersetzt Cassirer Cudworth. Echtes Erkennen ist bei Cudworth Widererkennen der angeborenen Ideen, wenn auch die Operationalisierung des neuplatonischen Vernunftbegriffs nicht so fern ab von Lockes Erkenntnistheorie zu sein scheint. 4.3.2 Der Topos der Innate Ideas Nachdem nun der Vernunftbegriff der Cambridge Platonists ausgeleuchtet worden ist, soll im Folgenden der Topos der Innate Ideas bei Cudworth und More nähere Betrachtung erfahren. Der Streit um die Innate Ideas kann auch als Versuche zur Beantwortung der Frage interpretiert werden, ob moralische Welt und physische Welt übereinstimmen.78 Auf Seiten der Cambridge Platonists wird diese Frage dahingehend bejaht, dass die moralische Welt sich im Topos der Innate Ideas repräsentiert, während die physische Welt durch ein plastisches Naturprinzip bestimmt wird. Dadurch sind beide Welten Gott unmittelbar. 4.3.2.1 Cudworths Entwicklung einer natürlichen Gottesidee im True Intellectual System Im vierten Kapitel des True Intellectual Systems widerlegt Cudworth das erste von vierzehn im zweiten Kapitel angeführten Argumenten, die der Atheismus gegen Gott vorbringen könnte: „that we have no Idea of God, and therefore can have no Evidence of him“.79 Dem setzt Cudworth die Vorstellung von Gott als einer natürlichen Idee entgegen und argumentiert so für natürliche Gotteserkenntnis, woran sich durch die Kritik Lockes der Topos der innate idea heftete, obwohl Cudworth den Terminus connatural idea präferierte.
76 77 78
79
Vgl. ebd., S. 9. True Intellectual System. Zit. nach Cassirer: Cambridge, S. 40. Vgl. Cudworth: True Intellectual System, S. 730. Dr. Josef Kremer: Das Problem der Theodicee in der Philosophie und Literatur des 18. Jahrhunderts mit besonderer Rücksicht auf Kant und Schiller. Gekrönte Preisschrift der WalterSimon-Preisfrage. Berlin 1909, S. 19. Cudworth: True Intellectual System, S. 63.
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Cudworth argumentiert, dass selbst der Atheist eine Idee von Gott haben müsse, sonst könne er sie ja auch nicht verneinen.80 Cudworths beschreibt die Idee Gottes wie folgt: God is a Being Asolutely Perfect, Unmade or Self-originated, and Necessarily Existing, that hath an Infinite Fecundity in him, and Virtually Conteins all things; as also an Infinite Benignity or Overflowing Love, Uninvidiously displaying and communicating it self; together with an Impartial Rectitude, or Nature of Justice: Who fully comprehends himself, and the Extent of his own Fecundity; and therefore all the Possibilities of things, their several Natures and Respects, and the Best Frame or System of the Whole: Who hath also Infinite Active and Perceptive Power: The Fountain of all things, who made all that Could be Made, and was Fit to made, producing them according to his Own Nature (his Essential Goodness and Wisdom) and therefore according to the Best Pattern, and in the Best manner Possible, for the Good of the Whole; and reconciling all the Variety and Contrariety of things in the Universe, into One most Admirable and Lovely Harmonie. Lastly, who Conteins and Uupholds all things, and governs them after the Best Manner also, and that without any Force or Violence; they being all Naturally subject to his Authority, and readily obeying his Laws.81
Diese Idee von Gott lässt sich in der kürzest möglichen Form mit Perfektion umschreiben: „The true and proper idea of God, in its most contracted form, is this, a being absolutely perfect“.82 Da der Polytheismus von Atheisten immer wieder als Argument gegen eine solche natürliche Idee Gottes vorgetragen werde, schickt sich Cudworth an zu zeigen, dass der Polytheismus im eigentlichen Sinn gar nicht existieren kann. Schließlich sei schon die Auffassung von mehreren selbständigen, unabhängigen Gottheiten irrational.83 Somit finde sich die Idee Gottes auch bei allen Völker und in allen Religionen, wenn man nur genau genug hinschaue. Um dies auch faktisch zu beweisen, unterzieht Cudworth den antiken Polytheismus einer genauen Untersuchung, die den wahren, nämlich monotheistischen Gehalt aller heidnischen Religionen zu Tage fördern soll.84 Anstatt auf die gesamte von Cudworth behandelte Religionsgeschichte einzugehen, soll beispielhaft die Struktur von Cudworths Argumentation hinsichtlich der Religion des alten Ägyptens nachgezeichnet werden. Cudworth argumentiert für den Monotheismus der Ägypter mit Hinweis auf ihre Rezeption, wenn er schreibt: „Now as it is not probable that the Egyptians, who were so famous for Wisdom and Learning, should be ignorant of One Supreme Deity, so it is no small Argument to the contrary that they were had in so great esteem by those Two Divine Philosophers, Pythagoras and Plato“.85 Außerdem wäre deutlich, dass die alten Ägypter an die Unsterblichkeit der Seele glaubten, da Transmigration ein großes Thema in
80 81 82 83 84 85
Vgl. ebd., S. 194. Ebd., S. 207. Cudworth, Harrison: True Intellectual System, Bd. I, S. 307. Vgl. Cudworth: True Intellectual System, S. 210. Cudworth, Harrison: True Intellectual System, Bd. I, S. 320. Cudworth: True Intellectual System, S. 311.
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ihrer Mythologie darstellte.86 Ein weiteres wichtiges Argument ist für Cudworth die Unterscheidung zwischen polytheistischer Volksreligion und monotheisteischer Arkantheologie, die durch Fabeln, Allegorien, Symbole oder Hieroglyphen versteckt wird.87 So kann Cudworth folgern: We conclude universally, that all that Multiciplity of Pagan Gods, which makes so great a shew and notice, was really either nothing but Several Names and Notions of One Supreme Deity, according to its different Manifestaions, Gifts and Effects in the World, Personated; or else Many Inferiour Understanding Beings, Generated or Created by One Supreme: so that One Unmade Self-existent Deity, and no more, was acknowledged by the more Intelligent of the ancient Pagans.88
Somit ist die Idee Gottes, wie sie von Cudworth skizziert und als angeboren begriffen wird, im Polytheismus zwar versteckt, aber dennoch vorhanden. 4.3.2.2 Die angeborene Gottesidee bei More In der Diskussion, ob die Seele entweder ein unbeschriebenes Blatt ist („Abrasa Tabula“ / „a Table-book in which nothing is writ“)89 oder ob sie angeborenen Ideen in sich trägt („some Innate Notions and Ideas in her self“),90 bezieht Henry More wie Cudworth letztere Position.91 Er beschreibt den Zusammenhang zwischen angeborenen Ideen und der Verstandestätigkeit in der Weise, dass es im Menschen ein aktives und aktuelles Wissen gibt, und die äußeren Objekte eher Erinnerung als Auslöser dieses Wissens darstellen.92 Diese Anlage der Seele und ihr Wirken wird beschrieben als „an active sagacity in the Soul, or quick recollection, as it were, whereby some small businesse being hinted unto her, she runs out presently into a more clear and larger conception“.93 Die Seele wird damit zu der Instanz, die aus sich selbst heraus ein Verhältnis zur Wahrheit einnimmt und mit Hilfe ihres eigenen natürlichen Licht („Natural Light“)94 die Welt beurteilt. Mit Rekurs auf angeborene Ideen kann More so auch davon ausgehen, dass gewisse logische Grundsätze sich selbst erklären: „Axiomes, of that plainness and evidence, that no man in his wits but will be ashamed to deny them, if he will admit any thing at all to be true“.95 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95
Vgl. ebd., S. 313. Vgl. ebd., S. 314ff. Ebd., S. 230. More: An Antidote, S. 17. Ebd., S. 17. Vgl. Graham Alan John Rogers: Locke, Newton, and the Cambridge Platonists on Innate Ideas. In: Journal oft the History of Ideas 40 (1979), S. 191–205, hier S. 192. Vgl. More: An Antidote, S. 17. Ebd. Ebd., S. 20. More: The Immortality of the Soul, S. 16.
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Wie Cudworth geht damit auch More von der Natürlichkeit der Gottesidee aus. Allein aus der Charakteristik Gottes schließt More die zwingende Existenz dieses Gottes. Gott ist nach Mores Definition von nicht zu steigernder Perfektion: „I define God therefore thus, An Essence or Being fully and absolutly Perfect“.96 Als Attribute absoluter Vollendung nennt More: geistig, ewig, unbegrenzt in Sein und Güte, allwissend, allmächtigt und notwendig. Die Existenz eines solchen Gottes ist für More genauso klar zu beweisen wie ein mathematisches Theorem und damit der Erkenntnis des menschlichen Verstandes entsprechend bzw. fast zwingend. Er schreibt: „For this Truth of the Existence of Gode being as clearly demonstrable as any Theorem in Mathematicks“.97 Als Argument für diese mathematische Natürlichkeit der Gottesidee führt More an, dass der Mensch sich nicht von der Idee eines absolut perfekten Seins lösen könne. Demzufolge sei diese Idee kein zufälliges Konzept, sondern notwendig und damit zumindest für die Seele natürlich.98 More argumentiert weiter, dass Gottes Existenz eine geistige sei und er sich deshalb auch nicht unseren äußeren Sinnen zeigen könnte. So kann er rethorisch nach dem einzig verbleibenen möglichen Ort für eine Manifestation Gottes fragen: „What remains therefore but that he should manifest himself to our Inward Man?“99 Die Gottesidee in unserem Geist ist damit das Erscheinen Gottes in der Welt, ihre Natürlichkeit gilt als der Beweis für die Existenz Gottes. 4.3.3 Die Kritik Lockes Gegen die hier entfaltete Argumentation und deren Beweisziel richtet sich John Locke in seinem Essay concerning Human Understanding, der in erkenntnistheoretischer Hinsicht als Gegenschrift des True Intellectual Systems verstanden werden kann, wenn auch an keiner Stelle Cudworth oder ein anderer Vertreter der Cambridge Platonists namentlich angegriffen werden. Nach einer biographischen Annäherung an Locke soll dessen Gegenargumentation detailliert entfaltet werden. 4.3.3.1 Zur Person: John Locke Nach dem Tod Lockes widmet Leclerc der Beschreibung seines Lebens unter der Überschrift Eloge de feu Mr. LOCKE einen längeren Artikel in der Bibliothèque Choisie, der v.a. auf dem Brief Mashams vom 12.01.1705 beruht.100 96 97 98 99 100
More: An Antidote, S. 13. Ebd., S. 2. Vgl. ebd., S. 20. Ebd., S. 28. Vgl. Jean Leclerc: Article V Eloge de feu Mr. Locke. In: Ders.: Bibliothèque Choisie. Vol. VI. Tome II, S. 92/342–109/411 und Brief Nr. 380 Lady Masham an Le Clerc. In: Leclerc: Epistolario. Vol. II, S. 497–517. Auch der dritte Earl von Shaftesbury wurde von Le Clerc um einen
138
John Locke (1632–1704) studierte ab 1651 am Christ Church College in Oxford.101 Schon während seiner Studienzeit ergab sich der für Lockes naturwissenschaftliches Denken wichtige Kontakt mit Robert Boyle. Locke experimentierte mit Boyle zusammen und machte sich dessen Korpuskulartheorie zu Eigen. Außerdem beobachtete Locke für Boyle das Wetter.102 Später in London kam Locke, der medizinische Studien betrieb, in Kontakt mit Thomas Sydenham (1624–1689), einem der führenden Mediziner dieser Zeit. 1668 wurde Locke Mitglied der Royal Society.103 Nach dem Studium arbeitete Locke als eine Art Privatsekretär des ersten Earls von Shaftesbury, dessen Enkel, dem dritten Earl von Shaftesbury, er später als Erzieher diente.104 Der dritte Earl Shaftesbury schreibt in seinem Brief an Leclerc über seinen Erzieher Locke, den er als „my Friend, and Foster-Father“105 bezeichnet: I was his more peculiar Charge, being as eldest Son, taken by my Grandfather, and bred under his immediate Care: Mr. Locke having the absolute Direction of my Education, and to whome next my immediate Parents as I must own the greatest Obligation, so I have ever preserved the highest Gratitude and Duty.106
Durch diese Anstellung wurde Locke außerdem in die politischen Umbrüche seiner Zeit verwickelt, und seine liberale politische Haltung prägte sich in diesem Umfeld aus. So unternahm Locke von 1675 bis 1679 Locke eine Reise nach Frankreich, einerseits um sein Asthmaleiden zu kurieren, andererseits auch um sich möglicher politischer Schwierigkeiten zu entziehen, in denen sich der erste Earl von Shaftesbury zu diesem Zeitpunkt schon befand. Locke hielt sich in Montpellier und Paris auf und machte die Bekanntschaft bedeutender Gelehrter, Naturwissenschaftler und Mediziner. Er wurde in jenen Jahren zu einem anerkannten Mitglied der internationalen Gelehrtenrepublik, der republique des lettres. Bis 1683 hielt sich Locke wieder in England auf, flüchtete dann erneut wie kurz zuvor der erste Earl von Shaftesbury nach Holland. Dort lernte Locke Phillip van Limborch kennen, mit dem er in den Jahren nach seinem Exil einen ausgedehnten Briefwechsel pflegte. An Limborch ist auch der Brief über die Toleranz von 1689 gerichtet. In Holland schreibt Locke außerdem den Essay concerning Human Understanding der 1689 als Druckversion vorlag.107 Im Jahr
Bericht zum Leben Lockes gebeten. Dieser findet sich in Leclerc: Epistolario. Vol. II, S. 520– 526. Für eine ausführliche Lebensbeschreibung vgl. Henry Richard Fox Bourne: The Life of John Locke. 2 Bde. Aalen 1969 [ND der Ausg. London 1876]. 101 Vgl. Leclerc: Article V. Vol. VI. Tome II, S. 93/346. 102 Vgl. Walter Euchner: John Locke zur Einführung. Hamburg 2004, S. 9–13. 103 Vgl. Leclerc: Article V. Vol. VI. Tome II, S. 94/350. 104 Vgl. John Locke: Some thoughts concerning education. Edited, with introduction, notes and critical apparatus by John W. Yolton, Jean S. Yolton. Oxford 2000. 105 Brief Nr. 382. In: Leclerc: Epistolario. Vol. II, S. 523. 106 Ebd., S. 523. 107 Vgl. Leclerc: Article V. Vol. VI. Tome II, S. 98/369.
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der Glorious Revolution konnte Locke schließlich nach England zurückkehren, wo er den Rest seines Lebens bei den Mashams verbrachte. 4.3.3.2 Der Begriff des Verstandes bei Locke Locke bezeichnet im Essay concerning Human Understandig den Verstand („understanding“) als die erhabenste Fähigkeit der Seele.108 Der Verstand erhebt Locke zufolge den Menschen über alle anderen empfindenden Wesen und verleiht ihm Überlegenheit und Herrschaftsansprüche.109 Im Sendschreiben an den Leser beschreibt Locke die Entstehungsgeschichte dieses Essays: Eine Runde von Freunden kam bei der Erörterung eines Themas nicht weiter, Locke äußerte daraufhin die Meinung, der Ansatz sei schon falsch, da zuerst die Grenzen und Fähigkeiten des Verstandes bestimmt werden müssten.110 Daraufhin machte sich Locke an die Niederschrift des Essay concerning Human Understanding. Dessen Ziel ist die Bestimmung des Ursprungs, der Gewissheit und des Umfangs der menschlichen Erkenntnis nebst der Untersuchung der Grundlagen und Abstufungen von Glauben, Meinung und Zustimmung. In Bezug auf diejenigen Gegenstände, von denen festgestellt wird, dass ihre Erkenntnis den Verstand übersteigt, mahnt Locke konsequenterweise zur Zurückhaltung.111 Locke geht von der grundlegenden Annahme aus, Gott habe dem Menschen so viel Verstandeskraft gegeben, wie für die Bequemlichkeit des Lebens und zur Unterweisung in der Tugend erforderlich sei.112 So solle man sich in seinem Verlangen nach Erkenntnis bescheiden und nicht „peremptorily, or intemperately require demonstration, and demand certainty, where probability only is to be had, and which is sufficient to govern all our concernments“.113 Ähnlich der Cambridge Platonists ist auch für Locke die Erkenntnis der moralischen Paradigmata entscheidend. Er schreibt: „Our business here is not to know all things, but those which concern conduct“.114 Die Vernunft ist nach Locke nichts anderes als die Fähigkeit, unbekannte Wahrheiten aus schon bekannten Prinzipien herzuleiten. Daraus folgt, dass etwas, zu dessen Entdeckung wir der Vernunft bedürfen, niemals als angeboren gelten kann.115 Nach Lockes sensualistischer Erkenntnistheorie dringen zunächst durch 108
Locke: Essay, The Epistle to the Reader (keine Seitenangaben). Vgl. auch John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. 2 Bde. Beruhend auf einer Übersetzung von C. Winckler (1911/1913). Hamburg 1981, S. 5. 109 Vgl. ebd., S. 20. 110 Vgl. ebd., S. 7. 111 Vgl. Locke: Essay, S. 1, S. 3. 112 Vgl. ebd., S. 3. 113 Ebd., S. 4. 114 Ebd., S. 5. 115 Vgl. ebd., S. 17.
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die Sinne partikulare Ideen ein, womit das „leere Kabinett“ des Verstandes eingerichtet wird. Locke unterstreicht damit die Lernfähigkeit des Menschen und die Wichtigkeit von gelingender Erziehung, denn der vorurteilsfreie Verstand eines Kindes nehme nämlich wie weißes Papier alle Schriftzeichen auf.116 4.3.3.3 Lockes Kritik der Innate Ideas Mit Lockes Bestimmung des Verstandes hängt seine Kritik an der Vorstellung von angeborenen Ideen zusammen. Schon in der Einleitung des Essay concerning Human Understanding grenzt sich Locke gegen die These von den angeborenen Ideen ab, macht aber gleichzeitig darauf aufmerksam, dass seine Position eine differenzierte sei und er nicht als Materialist missverstanden werden wolle.117 In der Einleitung definiert Locke den Begriff ,idea‘. Eine Idee sei ein Objekt des Verstandes. Damit seien Phantasmata, Begriffe, und Vorstellung gemeint, eben alles, was den denkenden Geist beschäftigen kann.118 Locke hält es dabei für unstrittig, dass es solche Ideen gebe; die Frage, die sich stellt, sei, wie diese in unseren Geist gelangen.119 Locke vertritt in dieser Frage die Position, der Geist müsse alle Ideen erst bilden, sie sind also nicht von Beginn in ihm eingeprägt. Im ersten der vier Bücher des Essays argumentiert er deshalb gegen die Vorstellung von den angeborenen Ideen, wie sie von den Cambridge Platonists vertreten wurde.120 Die Position der angeborenen Ideen umreißt Locke im ersten Satz seines Essays: It is an established opinion amongst some men, that there are in the understanding certain innate principles; some primary notions, , characters, as it were, stamped upon the mind of man, which the soul receives in its very first being; and brings into the world with it.121
Locke spricht weder hier noch an anderer Stelle seine argumentativen Gegner namentlich an. Auch der Gestus des Modernen, der gegen eine feste Meinung argumentiert, klingt an. Locke glaubt, um den vorurteilsfreien Leser von der Irrigkeit dieser Annahme zu überzeugen, genüge es zu zeigen, „how men, barely by the use of their natural
116
Vgl. ebd., S. 21, S. 27f., S. 51. Vgl. Locke: Essay, Epistle. So strebt Locke, obwohl er medizinisch ausgebildet ist, auch keine naturwissenschaftliche Untersuchung des Geistes an („meddle with the physical condition of the mind“, ebd., S. 1), sondern stützt sich auf die „historical, plain method“. Sie zeige, dass es entweder so etwas wie die Wahrheit überhaupt nicht gebe oder dass die Menschen nicht über ausreichende Mittel verfügen, um eine sichere Kenntnis von ihr zu erlangen. 118 Vgl. ebd., S. 6. 119 Vgl. ebd., S. 7. 120 Vgl. Gunnar Aspelin: The Polemics in the First Book of Locke’s Essay. In: Theoria 6 (1940), S. 109–122. 121 Locke: Essay, S. 13. 117
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faculties, may attain to all the knowledge they have, without the help of any innate impressions; and may arrive at certainty, without any such original notions or principles“.122Locke kann nicht von einem vollständig ungeprägten, ungeformten Geist ausgehen – und das wird an dieser Stelle deutlich – sondern vielmehr nimmt an, dass der Mensch mit „natürlichen Fähigkeiten“ so ausgestattet ist und eine adäquate Erkenntnis von Welt und Gott möglich ist. In diesem Sinn formuliert auch Locke: „For nobody, I think, ever denied that the mind was capable of knowing several truth. The capacity, they say is innate, the knowledge acquired“.123 Locke beginnt seine Argumentation mit dem Beweis, dass selbst diejenigen spekulativen Prinzipien, die weithin als Axiome anerkannt sind wie Was ist, das ist und Ein Ding kann unmöglich zugleich sein und nicht sein, dennoch nicht als angeboren gelten können. Diese Prinzipien dürften nach Meinung Lockes noch am ehesten beanspruchen, als angeboren zu gelten.124 „But yet I take the liberty to say, that these propositions are so far from having an universal assent, that there are great parts of mankind to whom they are not so much as known.“125 Die Axiome seien deshalb auch nur für gelehrte Dispute gut, nicht aber für die Aufdeckung der Wahrheit geeignet.126 Locke zufolge hätten nämlich Kinder noch keine Vorstellung von diesen Axiomen, obwohl sich die angeborenen Ideen bei ihnen ja am deutlichsten zeigen müssten, weil sie unverstellt und unverzogen sind.127 Für Locke bedeutet die Kenntnis dieser Axiome ihr bewusstes Erkennen sowie ihr sprachlicher Ausdruck. So schreibt er: „No proposition can be said to be in the mind, which it never yet knew, which it was never yet conscious of“.128 Lockes Wissensbegriff beschränkt sich also auf propositionales Wissen und ist damit an Versprachlichung geknüpft. Vorsprachliches, intuitives Wissen besitzt für Locke keine Geltung. An dieser Stelle argumentiert Locke in derselben Art und Weise gegen die angeborenen Ideen, wie Bayle gegen die Unbewusstheit plastische Natur argumentiert hat: Locke ist lediglich bereit, Bewusstes als Wissen anzuerkennen, hingegen Bayle sich am unbewussten Handeln der plastischen Natur stört. Nachdem Locke verworfen hat, spekulative Prinzipien könnten angeboren sein, argumentiert er, dass auch moralische Prinzipien nicht angeboren seien.129 Analog zu den natürlichen Fähigkeiten, die die Erkenntnis der spekulativen Prinzipien erst ermöglichen, muss Locke in Hinblick auf die moralischen Prinzipien eine Vorprägung des Menschen zulassen. Die Natur habe dem Menschen ein Verlangen nach
122 123 124 125 126 127 128 129
Ebd. Ebd., S. 15. Vgl. ebd., S. 14. Ebd. Vgl. ebd., S. 32. Vgl. ebd., S. 31. Ebd., S. 15. Vgl. ebd., S. 33.
142
Glück und eine Abneigung vor Unglück eingepflanzt, was Locke als angeborene praktische Prinzipien bzw. als Neigungen des Begehrens des Guten bestimmt. Dennoch handele es sich auch bei den moralischen Prinzipien nicht um dem Verstand eingeprägte Wahrheiten.130 Deshalb gebe es keine moralische Regel, die nicht einer nachträglichen rationalen Begründung bedürfe. Das Christentum würde die Angst vor Strafe bzw. die Hoffnung auf Belohnung als Begründung für die Notwendigkeit moralischen Verhaltens anführen. Hobbes nenne die Angst vor dem Leviathan als Motivator für tugendhaftes Handeln und in der Antike hätte unmoralisches Verhalten als unehrenhaft gegolten.131 Außerdem habe Gott Glück und Tugend miteinander verknüpft, weshalb moralische Regeln im Allgemeinen befolgt werden, wenn auch nicht immer aus guten Gründen, was allerdings für Locke kein Zeichen dafür ist, das sie angeboren sind.132 Im Zusammenhang mit der Frage, ob moralische Prinzipien angeboren sind, diskutiert Locke, ob es sich bei der Gottesidee um eine angeborene Idee handele. Für eine angeborene Gottesidee spricht ihm zufolge, dass es doch schwer zu begreifen sei, wie es angeborene moralische Prinzipien ohne die angeborene Idee eines göttlichen Wesens geben könne. Locke versucht diesen Zusammenhang unter Zuhilfenahme einer Analogie zu verdeutlichen. Er schreibt: „[W]ithout a notion of a law-maker, it is impossible to have a notion of a law, and an obligation to observe it“.133 Locke argumentiert allerdings trotz der von ihm konstatierten Zweckmäßigkeit gegen die Annahme einer solchen angeborenen Gottesidee, hatte er doch zuvor schon die angeborenen moralischen Prinzipien abgelehnt. Er bezieht sich, ganz sowie Cudworth bei der Ausführung der Gegenposition, auf empirische Belege, indem er darauf verweist, dass viele Völker ohne eine Gottesvorstellung existierten. „These are instances of nations where uncultivated nature has been left to itself, without the help of letters, and discipline, and the improvements of arts and sciences.“134 Gegen eine angeborene Gottesidee spricht für Locke außerdem, dass sogar innerhalb desselben Landes Menschen Unterschiedliches unter „Gott“ verstehen.135 So ist die Gottesidee nach Locke zwar nicht angeboren, allerdings lässt sie sich Locke zufolge auf natürliche Art und Weise erkennen, wodurch sein Denkansatz demjenigen der Cambridge Platonists nicht mehr als diametral entgegengesetzt erscheint. Für Locke finden sich in allen Werken der Schöpfung Anzeichen der
130 131 132 133 134 135
Vgl. ebd., S. 35. Vgl. ebd., S. 36. Vgl. ebd., S. 26–37. Ebd., S. 57. Ebd., S. 58. Vgl. ebd., S. 66.
143
außerordentlichen Weisheit und Macht Gottes. Er teilt also den physikotheologischen Ansatz der Cambridge Platonists.136 Locke setzt sich in diesem Kapitel überdies mit Cudworths Interpretation des antiken Polytheismus’ auseinander, die für Cudworth das empirische Fundament für seine These der angeborenen Gottesidee bildete. Für Locke kann bei Vielgötterei kein wahrer Begriff von dem einen Gott bestehen. Er argumentiert gegen Cudworths Ausführungen, indem er eine andere Betrachtungsperspektive einführt, die nicht nach der zugrunde liegenden ursprünglichen und dann vielleicht fehlinterpretierten Vorstellung fragt, sondern die Dinge nimmt, wie sie erscheinen. Er schreibt: If they say, that the variety of deities, worshipped by the heathen world, were but figurative ways of expressing the several attributes of that incomprehensible being, or several parts of providence: I answer, what they might be in the original, I will not here inquire; but that they were so in the thoughts of the vulgar I think no-body will affirm.137
Locke gesteht zu, dass die weisen Männer aller Völker zu wahren Vorstellungen von der Einheit und Unendlichkeit Gottes gelangt seien. Allerdings gäbe es nur wenige weise Männer, was die Allgemeinheit dieser Überlegungen zur Gottesidee sehr einschränke, argumentiert nun Locke. Vielmehr sei dieser Punkt ein Beweis dafür, dass die wahrsten und besten Begriffe, die die Menschen von Gott haben, nicht eingeprägt sind. Vielmehr seien sie durch Denken und Überlegen und durch den rechten Gebrauch ihrer Fähigkeiten erworben worden sind.138 Daraus schließt Locke, dass es keine anderen angeborenen Ideen gibt. Wenn somit die Gottesidee nicht angeboren sei, obwohl die Erkenntnis Gottes die natürlichste Entdeckung der menschlichen Vernunft darstelle, lasse sich schwerlich irgendeine andere Idee aufweisen, die darauf Anspruch erheben könnte.139 4.3.4 Der Vermittlungsversuch Mashams Lady Masham versucht, zwischen der neuplatonischen Position der Cambridge Platonists und dem erkenntnistheoretischen Kritik Lockes zu vermitteln. Sie hebt darauf ab, dass sich die von Locke entwickelte Philosophie nicht so stark von den Positionen der Cambridge Platonists unterscheidet, wie aufgrund seiner harschen Kritik an den Innate Ideas angenommen werden könnte, da beiden Parteien die Hochschätzung des Verstandes zueigen ist.140
136 137 138 139 140
Vgl. ebd., S. 62. Ebd., S. 66. Vgl. ebd., S. 67. Vgl. ebd., S. 68. Vgl. Hutton: Masham, S. 50.
144
Im Folgenden sollen zuerst Mashams Ausführungen zum Vernunftbegriff betrachtet werden, bevor dann auf ihren Vermittlungsversuch hinsichtlich der angeborenen Idee eingegangen wird. 4.3.4.1 Ein schwankender Vernunftbegriff Lady Masham zufolge besteht ein Entsprechungsverhältnis zwischen den Gesetzen der Natur und den Gesetzen der Vernunft. Unter Laws of Nature versteht Masham: „Those dictates which are the result of the determinate and unchangeable Constitution of things“.141 Die Gesetze der Vernunft können durch unsere rationalen Fähigkeiten erkannt werden.142 Beide stimmen mit der Religion überein, die diese Gesetze unterstützt. In diesem Sinn kann man bei Lady Masham von einem starken Vernunftbegriff sprechen, der mit der Struktur der Welt korrespondiert und über die Erkenntnis der Welt zur Gotteserkenntnis voranzuschreiten wagt. So ist dem Menschen die Idee von Gott eingeboren, das heißt, die Idee eines Gottes ist für den Menschen natürlich. Hiermit ist das Weltbild umrissen, das Lady Masham als Heranwachsende durch den Cambridger Platonismus ihres Vaters und dessen Freunde vermittelt wurde. Der menschliche Verstand stellt für Lady Masham wie schon für die Cambridge Platonists ein Energiezentrum dar, das hinsichtlich seiner Eigenaktivität mit dem Prinzip der plastischen Natur vergleichbar ist. Beiden ist ein inneres Muster eingeprägt, das sie zu selbständigem Handeln bzw. Erkennen befähigt. In Anlehnung an ihren Vater Ralph Cudworth betont Lady Masham, dass nicht nur passive sinnliche Eindrücke existieren, sondern auch Gedanken, die der Verstand selbst bilde. In ihrem Brief vom 7. April 1688 schreibt sie: „We have not onely sensible Ideas of Passively impres’d from without, But also Intelligible Notions exerted from the Mind It self“.143 Für Locke besteht hingegen nur ein gradueller Unterschied zwischen äußerer Wahrnehmung und innerer Betrachtung. Der Mensch lernt durch die Sinne und vergleicht die so gewonnenen Ideen, woraus sich unser Wissen ergibt. Wissen ist somit von der Grundanlage her passiv. Im vierten Buch des Essays concerning Human Understanding führt Locke unter der Überschrift Wherein reasoning consists, aus worin die Tätigkeit des Verstandes besteht: [A]nd thereby, as it were, to draw into view the truth sought for, which is that which we call illation or inference, and consists in nothing but the perception of the connexion there is between the ideas, in each step of the deduction, whereby the mind comes to see either the certain agreement or disagreement of any two ideas, as in demonstration, in which it arrives at knowledge; or there probable connexion, on which it gives or withholds its assent, as in opinion.144
141 142 143 144
Masham: Thoughts, S. 54. Vgl. ebd. De Beer: Correspondence. Bd. III, S. 433 (Brief Nr. 1040). Locke: Essay. In: Works. Vol. II, S. 241.
145
Etwas weiter unten fährt Locke fort: „In both cases, the faculty which finds out the means, and rightly applies them to discover certainty in the one, and probability in the other, is that which we call reason“.145 Lady Masham übernimmt die Beschreibung der Verstandestätigkeit von Locke: „By Reason being here understood that Faculty in us which discovers, by the intervention of intermediate Ideas, what Connection Those in the Proposition have one with another: Whether certain; probable; or none at all“.146 Durch die Reduktion der Vernunft auf eine vergleichende Operationsinstanz, verschwindet bei Lady Masham Locke folgend das neuplatonische Pathos, dem der Vernunftbegriff der Cambridge Platonists noch zu eigen war. Dies spiegelt sich auch in Lady Mashams vernunftkritischen Aussagen wider. So schreibt sie, dass die Vernunft allein nicht ausreiche für die vollständige Erkenntnis der Wahrheit: „[T]the light of Reason has neither appear’d to Men to be, nor in Fact been any where sufficient to direct the generality of Mankind to Truth; as some imagine it capable of doing“.147 Die Begrenztheit der Vernunft liegt darin begründet, dass der Gesamtzusammenhang außerhalb unserer Erkenntnis liegt, „beyond our short Sight“.148 Lady Masham ordnet den Menschen in den kosmischen Zusammenhang ein und begreift aus dieser übergeordneten Perspektive die Begrenztheit der menschlichen Vernunft. „We are but a small part of the Intellectual Creation of our Maker“,149 schreibt sie. Lady Mashams grundsätzlicher Erkenntnisoptimismus und ihr leistungsstarker Vernunftbegriff werden also eingerahmt und dadurch relativiert, dass der menschlichen Vernunft eine gewisse Kurzsichtigkeit innewohnt und es deshalb nicht gelingen kann, den göttlichen Gesamtplan der Welt zu überblicken. Hutton fasst dieses Changieren zwischen Zutrauen in die Leistungsstärke der Vernunft und der Einsicht in die Begrenztheit der Vernunft im Hinblick auf Mashams Religionsverständnis zusammen: „On the one hand she denies that natural religion based purely on reason is possible, insisting on the importance of revelation and faith. On the other hand she argues that to ignore the role of reason in religion is the surest way to bigotry and atheism“.150 In dieser gebrochenen Beurteilung der Vernunft zeigt sich das Schwanken zwischen Wunsch und Wirklichkeit, ein Schwanken zwischen Locke und Cambridger Platonismus.
145 146 147 148 149 150
Ebd. Masham: Thoughts, S. 33. Ebd., S. 98f. Ebd., S. 111. Ebd., S. 112. Hutton: Lady Masham, S. 37.
146
4.3.4.2 Innate Ideas? Lady Masham ist darum bemüht, die Annahme angeborener Ideen, wie sie von den Cambridge Platonist vertreten wurde, gegen die Kritik Lockes zu retten, ohne sich dabei explizit auf Seiten der Platoniker zu positionieren. Deshalb setzt ihr Vermittlungsversuch damit an, zu zeigen, dass die Differenzen zwischen Locke und den Cambridge Platonists keineswegs so groß sind, wie sie scheinen. In ihrem Brief vom 7. April 1688 schreibt sie: Being not sure the Difference betweene You, is Really so great as it Seems; Since by actual Knowledge They say that they meane not That there is a Number of Ideas flaring and shining to the Animadversive Facultie like so many Torches; Or That there are Any Figures that are legibly writt there like the Astronomical Characters in an Almanack; But onely an Active Sagacitie in the Soul Whereby something being Hinted to Her she runs out into a More Cleare and large Conception.151
Masham greift zur Veranschaulichung das auch von Henry More und Cudworth gebrauchte Bild des schlafenden Musikers auf, der – wird er mit zwei, drei Wörtern eines Liedes geweckt – in der Lage ist, aus dem Stand das gesamte Lied zu singen. Ihrer Argumentation haftet dabei keinerlei Dogmatismus an, sie gibt sich vielmehr gesprächsbereit und v.a. ist an einer Erklärung des Unterschieds zwischen Locke und den Cambridge Platonists interessiert. Diese Toleranzbereitschaft wurzelt in der Haltung, dass die Aufgabe der Philosophie lediglich darin besteht, die Religion zu verteidigen. Dies zeigt ein Engagement eher hinsichtlich des Zwecks als hinsichtlich der Mittel und damit keine dogmatische Fixierung auf ein spezielles Argument. 4.3.5 Die Frage der Innate Ideas bei Leclerc, Wise und Mosheim Im ersten Artikel der dritten Ausgabe der Bibliothèque Choisie übersetzt Leclerc das vierte Kapitel des True Intellectual Systems, das sich mit dem Monotheismus der Heiden beschäftigt. Leclerc diskutiert in mehreren Remarques die Existenz einer eingeborenen Gottesidee.152 Seiner Meinung nach würde Cudworth an keiner Stelle die „naturalité de l’Idee de Dieu“153 beweisen können. Der Ausdruck ist eine direkte Übersetzung der Cudworthschen Begriffsbildung einer „Naturality of the Idea of God“, wie sie im XI. Paragraphen des vierten Kapitels eingeführt wird, an deren Übersetzung die Leclercschen Bemerkungen angeheftet sind. Die Argumentation für die Natürlichkeit der Idee Gottes folgt allerdings bei Cudworth erst in Paragraph XII Leclerc zufolge hätte Locke im ersten Buch über den Verstand gezeigt, dass es überhaupt keine angeborenen Ideen gäbe und speziell keine ange151 152 153
De Beer: Correspondence. Bd. III, S. 433 (Brief Nr. 1040). Vgl. Leclerc: Article I. Vol. III. Tome I, S. 226/11–250/106. Ebd., S. 231/32.
147
borene Idee von Gott, was besonders im vierten Buch dargelegt würde.154 Leclerc stellt sich bemerkenswerterweise innerhalb seines Übersetzungsprojektes des True Intellectual Systems auf die Seite eines der schärfsten Kritiker dieses Werkes in der Frage der angeborenen Ideen. In einem weiteren längeren Kommentar in diesem Artikel argumentiert Leclerc folgerichtig auch dagegen, den Polytheismus der Heiden in Richtung eines Monotheismus umzuinterpretieren. Diese Ausführungen bildeten für Cudworth die empirische Basis für seine These von einer angeborenen Idee Gottes – eines seiner zentralen Argumente gegen den Atheismus.155 Er schreibt: „J’avoue que je ne croi pas que le Polytheisme des Grecs & des Romains se soit formé, en toutes choses, comme le dit nôtre Auteur, quoi que plusieurs Philosophes Payens aient été de son sentiment“.156 Diese Philosophen der Antike erscheinen Leclerc aber keine glaubwürdigen Autoritäten zu sein, da in ihren Gottesvorstellungen das Moment der Allegorie stark sei. Monotheismus findet sich für Leclerc erst bei den Juden und Christen, hier erst habe sich Gott offenbart. Leclerc ist hinsichtlich der Theologie weit weniger gewillt, die Partei Cudworths zu stärken, als er es in Bezug auf die plastische Natur zu tun bereit ist. Auch dies deutet darauf hin, dass Leclerc Cudworth unter den Vorzeichen eines, wenn nicht naturwissenschaftlichen so doch allemal naturphilosophischen Ansatzes rezipiert, obwohl theologische Gemeinsamkeiten den Ausgangspunkt des Interesses gebildet haben dürften. Thomas Wise hingegen unterstützt in seinem Vorwort die These, dass es zwischen Locke und Cudworth keinen wirklichen Unterschied gibt: Cudworth sage nicht ausdrücklich, „that the idea of God is innate, nor in any other sense natural, than as it rises up and appears upon the use of the natural faculty of reason“.157 Mosheim wiederum verweist in einer Fußnote auch in der Frage nach einer angeborenen Gottesidee auf Leclercs Übersetzung und dessen Auseinandersetzung mit dieser Frage. Er bemüht um die Klärung dessen, was unter dem recht dunklen Begriff einer angeborenen Idee zu verstehen ist. Er schreibt: „and that he [Cudworth] meant simply that the idea of the oneliness or singularity of God is implanted in the minds of all men that are born“.158 Damit betonen Mosheim wie Leclerc im Gegensatz zu Lady Masham die unterschiedliche Positionierung von Locke und Cudworth.
154 155 156 157 158
Vgl. ebd., S. 231/32. Vgl. ebd., S. 236/51–237/57. Ebd., S. 236/51. Wise: An Abridgement, Einleitung, S. 138. Cudworth, Harrison: True Intellectual System. Bd. I, FN 7, S. 319.
148
4.3.6 Ausblick: Leibniz’ und Shaftesburys Positionierung in der Frage der Innate Ideas Leibniz’ Kritik an Locke findet sich in den Nouveau Essais sur l’Entendement Humain, einem fiktiven Dialog, der sich schon mit dem Titel auf Lockes Essay concerning Human Understandig bezieht. Lockes Position wird durch die Figur Philalethes verkörpert, Leibniz’ Kritik spricht Theophilus aus.159 Philalethes gibt vor, Locke in England besucht zu haben und so Anhänger dessen Philosophie geworden zu sein. In diesem Zusammenhang rühmt er jedoch auch Lady Masham und insbesondere ihren Vater Ralph Cudworth. Leibniz lässt Philalethes sagen: Ich habe aus der Lektüre dieses Werkes [Lockes Essay] und auch aus der Unterhaltung mit dem Verfasser großen Nutzen gezogen, den ich oft in London und gelegentlich in Oates bei Mylady Masham getroffen habe, der würdigen Tochter des berühmten Philosophen und Theologen, des Verfassers des ‚Intellectual System’, dessen Geist der Meditation und dessen Liebe zu höheren Erkenntnissen sie geerbt hat, wie sich besonders in ihrer Freundschaft zu dem Verfasser der Abhandlung zeigt.160
Lockes aristotelische Position, die den Verstand zur tabula rasa erklärt, hält Leibniz in Anlehnung an Platon für eine Fiktion.161 Er lässt Theophilus in diesem Sinne fragen: „Denn findet man je in der Welt ein Vermögen, das in sich reine Möglichkeit einschließt und nicht irgendeine Tätigkeit ausübt? Es gibt immer eine besondere Anlage zur Tätigkeit und zwar mehr zu der einen als zu einer anderen“.162 Die Lockesche Grundannahme, dass sich nichts im Verstand befinden kann, was nicht vorher in den Sinnen gewesen ist, kann Leibniz nur durch folgende Ergänzung gelten lassen, die wiederum auf die Vorstrukturierung der menschlichen Erkenntnis beharrt: „Nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu, excipe: nisi intellectus ipse“.163 Leibniz ist sich mit William King, der einen ähnlichen Theodizeeentwurf wie Leibniz vorlegte, einig, dass es angeborenen Ideen gibt. Er schreibt: „Mit Recht behauptet er [King] auch, dass wenigstens unsere einfachen Ideen angeboren sind und dass man die Tabula Rasa des Aristoteles wie des Herrn Locke ablehnen muss“.164 Allerdings fasse King die Ideen so abstrakt, dass sie wenig mit der Wirklichkeit zu tun hätten. So spricht sich Leibniz gegen King für die Natürlichkeit der Gottesidee aus. Nach Leibniz besitzt man eine unmittelbare Kenntnis von Gott, denn wenn 159
Vgl. Nicolas Jelly: Leibniz and Locke. A Study of the New Essays on Human Understanding. Oxford 1984, S. 39, der die Neuen Abhandlungen auch als einen Versuch Leibnizens versteht, mit Locke ins direkte Gespräch zu kommen. 160 Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand – Nouveaux Essais sur l’Entendement Humain. Hg. u. übers. v. Wolf von Engelhardt u. Hans Heinz Holz. 2 Bde. Bd. I. Leipzig 1961, S. 5f. 161 Vgl. ebd., Vorwort, S. IX. 162 Ebd., S. 101. 163 Ebd., S. 103. 164 Leibniz: Theodizee, S. 445.
149
man sich selbst beobachtet, stellt man fest, „dass die Gottesidee aus der Idee von uns selbst durch die Aufhebung der Schranken unserer Vollkommenheit entsteht“.165 Die Leibnizschen einfachen Ideen sind damit auch etwas grundsätzlich anderes als Lockes simple ideas, die der Wahrnehmung entstammen, wie etwa die Vorstellung von dem, was gelb oder heiß ist. Einfache Ideen sind bei Leibniz von der Erfahrung unabhängige Atome des Denkens. Sie sind so fundamentale Begriffe wie die aristotelischen Kategorien des Seins, der Substanz, des Einen, des Gleichen, der Ursache, der Perzeption und des vernünftigen Denkens.166 Sie lassen sich nicht definieren und sind Platon folgend in der Seele bzw. dem Denken vorgegeben, also Innate Ideas. Leibniz zufolge sind sie „in uns, bevor man sie als eine bestimmte Sache bewusst wahrnimmt“167 und folgt darin, namentlich genannt Descartes, wie den nicht an prominenter Stelle erwähnten Cambridge Platonists in der Lehre von den angeborenen Ideen. So rekurriert Leibniz entgegen der Ausführungen Lockes auf die platonische Ideenlehre, modifiziert sie aber im Sinne der Cambridge Platonists zu potentiellen Strukturelementen der Vernunft.168 Gegen Lockes genetische Betrachtung der Innate Ideas übernimmt auch Shaftesbury das schon bei Cudworth angelegte Konzept der connatural ideas und übersetzt es in eine anthropologische Reflexion. „Behaupten Sie denn, sagte ich, dass diese Kinder des Geistes, die Begriffe und Prinzipien des Schönen, Rechten und Redlichen nebst den übrigen Ideen dieser Art angeboren sind?“,169 wird im Dialog The Moralists gefragt. Shaftesbury lässt Theokles antworten, es sei egal, ob diese Prinzipien schon vor oder erst nach der Geburt vorhanden seien; wichtiger ist die Frage, „ob die genannten Prinzipien von Kunst oder Natur herrühren“.170 Sind diese Prinzipien dem Menschen natürlich, dann spielt keine Rolle, zu welchem Zeitpunkt er sich ihrer bewusst wird, ihre Herausbildung ist in der Perfektibilität des menschlichen Gemüts angelegt.171 Nach Theokles sind das Leben und die Sin165 166 167 168 169
Ebd. Leibniz: Neue Abhandlungen, S. 103. Ebd. Vgl. Hans Poser: Gottfried Wilhelm Leibniz zur Einführung. Hamburg 2005, S. 59. Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury: Die Moralisten. Eine philosophische Rhapsodie oder Wiedergabe gewisser Unterhaltungen über Gegenstände der Natur und Moral (1709). Übers. v. Wolfgang Lottes. In: Ders.: Standard Edition. Sämtliche Werke, ausgewählte Schriften u. nachgelassene Schriften. In engl. Sprache mit paralleler dt. Übers. Hg., übers. u. komm. v. Wolfram Benda, Gerd Hemmerich u. Ulrich Schödlbauer. Bd. II/3. Stuttgart 1998, S. 316 (im Folgenden abgekürzt: SE). 170 Ebd., S. 316. 171 Vgl. auch Brief an Ainsworth vom 03.06.1709. In: SE II, 4, S. 403f.: „Innate is a Word he poorly plays upon. The right word, tho less usd, is connatural. For what hast Birth, or y Progress of y FOETUS out of y Womb, to do in this Case? The question is not about the Time the Ideas enterd, or the Moment that one Body came out of the other: but whether the Constitution of Man be such, that being adult and grow up, at such or such Time, sooner or later (no matter when) the Idea and Sense of Order, Administration, and a GOD will not infallibly, inevitable, necessarily spring up in him“.
150
neswahrnehmungen von der Natur bedingt, man könne statt „angeboren“ auch Instinkt sagen, wenn man darunter das versteht, „was die Natur lehrt, unabhängig von Kunst, Kultur und Erziehung“.172 Es ist dieser Zusammenhang zwischen Mensch und Gott und Welt, der von Locke zerrissen wurde, mit der Konsequenz, dass der Unterschied von angeboren und natürlich virulent wurde. Shaftesbury kann in Rückgriff auf die Cambridge Platonists viel gelassener über die Unsicherheit hinweg sehen, wann der Mensch welche Erkenntnisse bewusst erwirbt, da für ihn der Mensch in einem positiven Entsprechungsverhältnis zur Welt steht. Die Erkenntnis Gottes ist dem Menschen auf ebensolche Art und Weise natürlich. So übt der Mensch Gehorsam gegen Gott, „weil man es [die Gottheit] wegen seiner Erhabenheit und Würde für die Vollendung der eigenen Natur hält, es nachzuahmen und ihm zu gleichen“.173 Gott ist also der menschlichen Vernunft zugänglich. Philokles führt in den Moralists aus, dass sich Gott dem Menschen nicht durch Wunder zeige, sondern dadurch, „dass er sich ihrer Vernunft offenbare, an ihre Urteilskraft appelliere und seine Wege ihrer kritischen Prüfung und kühlen Überlegung unterwerfe“.174 Dabei ist es wie bei Lady Masham und den Cambridge Platonists v.a. die Verfassung der Welt, die Aufschluss über Gott ermöglicht. Shaftesbury lässt Philokles fortfahren: „die Betrachtung des Weltganzen, seiner Gesetze und Regierung sei […] das einzige Mittel, das den gesunden Glauben an eine Gottheit begründen könne“.175 Theokles fasst dieses Erkenntnisverhältnis von Gott und Mensch so eng, dass er sagen kann, „dass Du [Gott] gewissermaßen in unseren Seelen wohnst“.176
4.4 Fazit Abschließend soll die Frage beantwortet werden, wie Lady Masham als Protagonistin dieses Kapitels einerseits die schöne, bedeutungsschwere Welt der Cambridge Platonists, die durch das plastische Naturprinzip und eine physikotheologische Grundierung geprägt war, und andererseits Lockes Erkenntniskritik zusammengebracht hat. Ihr gelang die Synthese zweier Denkansätze, die gegeneinander konzipiert worden waren, oder mussten sie unvereinbar nebeneinander stehen bleiben? Dafür soll der entwickelte Gedankengang zusammengefasst werden. Lady Mashams Weltverständnis war ausgehend von der Debatte um die plastische Natur ausgeleuchtet und in seinen Bezügen zum Gottes- und Menschenbild dargestellt 172 173
Shaftesbury: Moralisten. In: SE II, 3, S. 316. Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury: Eine Untersuchung über Tugend und Verdienst. Übers. v. Erwin Wolff. In: Ders.: SE II, 3, S. 79. 174 Shaftesbury: Moralisten. In: SE II, 3, S. 265. 175 Ebd. 176 Ebd., S. 290.
151
worden. Dabei zeigte sich, dass Masham keine eigenständige Theorie der Welt entwickelte, sondern die Welt vielmehr im Beziehungsgeflecht zwischen Gott und Mensch ihre Funktion erhielt: die Welt als Landkarte des göttlichen Gesetzes. Diese metaphysische Interpretation der Welt wurde allerdings erkenntniskritisch entschärft und relativiert. Dies schloss jedoch nicht die Beibehaltung eines neuplatonischen Weltoptimismus aus. Die Welt konnte ihre positive Aussagekraft in Bezug auf Gott behalten, da die Schönheit der Welt wahrgenommen und als Argument für die Existenz Gottes geltend gemacht wurde. Alles, was jedoch nicht in dieses fröhliche Weltbild passte, wurde mit der mangelnden menschlichen Erkenntnisfähigkeit wegerklärt. An dieser Stelle zeigt sich der Schwachpunkt der Mashamschen Kombination von Cambridger Platonismus und Lockscher Erkenntnistheorie: Es wird weder das gezeichnete Weltbild auf seine Schwächen befragt und zu Ende ausbuchstabiert noch wird der erkenntnistheoretische Ansatz in seiner Konsequenz ernst genommen.
152
5
Die Theodizeefrage
Leibniz (1646–1716) war neben Shaftesbury derjenige große Denker des frühen 18. Jahrhunderts, dessen Philosophie sich maßgeblich in Bezug zu den Werken der Cambridge Platonists setzte. Intensiv in die philosophischen Debatten seiner Zeit involviert, äußerte sich Leibniz so auch zur Debatte um die plastische Natur und ist aus dem Diskurs um die Theodizee in keinem Fall herauszukürzen.1 Bei der Betrachtung dieser Zusammenhänge bleibt allerdings zu bedenken, dass Leibniz und die Cambridge Platonists von denselben Quellen her dachten. Neuplatonismus und hermetische Denkfiguren waren beiden Parteien unabhängig voneinander vertraut. Im Folgenden soll zuerst auf Leibnizens Lebensgeschichte eingegangen werden, bevor dann sein Engagement in der Debatte um die plastischen Naturen beleuchtet wird, um von dort Leibniz’ Antwort auf das Theodizeeproblem verständlich zu machen, die die Verantwortung für die Missstände des Lebens nicht mehr einem quasi-souveränen Naturbegriff übertragen kann.
5.1 Zur Person: Gottfried Wilhelm Leibniz Gottfried Wilhelm Leibniz wurde 1646 in Leipzig geboren. Seine intellektuelle Begabung zeigte sich bereits in seiner Kindheit, so dass er schon mit 15 Jahren ein Studium der Mathematik und Philosophie aufnahm. Nach drei Jahren erlangte er mit einer Arbeit, die Jurisprudenz und Philosophie miteinander verband, seinen Magister. 1666 promovierte er mit einer juristischen Arbeit in Altdorf. Aus seiner Studienzeit stammt der erste Entwurf einer ars combinatoria, die davon ausgeht, dass alle Wahrheiten durch die Kombination einfacher und grundlegender Begriffe entdeckt werden können. Anstatt das Angebot einer Professur anzunehmen und eine universitäre Karriere einzuschlagen, stellte sich Leibniz nach einem halbjährigen Aufenthalt in Nürnberg, wo er sich alchemistischen Studien widmete, in den Dienst des Kurfürsten von Mainz, Johann Philipp von Schönborn. Als sich nach dem Tod des Kurfürsten keine andere finanzielle Sicherung fand, er bemühte sich beispielsweise um eine finanzierte Mitgliedschaft der Academie in Paris, nahm Leibniz das Angebot des Herzogs Johann Friedrich von Braunschweig an und ging in den Hannoveranischen Staatsdienst. Nach dessen Tod 1680 blieb Leibniz im Amt des Hofrats, auch wenn 1
Zur Debatte um die innate ideas, in die Leibniz sich ebenfalls involvierte, vgl. Kap. drei dieser Arbeit.
153
sich Herzog Ernst August weniger für theoretische als für machtpolitische Fragen interessierte. Als Georg Ludwig 1698 nach dem Tod seines Vaters zum Kurfürsten ernannt wurde, häuften sich die Schwierigkeiten, da dieser noch weniger Verständnis für die Umtriebigkeit und Reisefreudigkeit seines Hofrates aufbrachte. Leibniz stand dennoch bis zu seinem Tod 1716 im Dienst der Kurfürsten von Hannover.2 Spannender und schwieriger erzählt als die schnell zusammengefassten äußeren Umstände der Leibnizschen Biographie, ist die Entwicklung seines Denkens: „Leibniz’ Werk ist ungemein vielseitig, berührt es doch so gut wie jedes Wissensgebiet des 17. und 18. Jahrhundert“,3 schreibt Poser. Hier spielt auch sein weltumspannender Briefwechsel eine entscheidende Rolle, hat er doch seine Gedanken oft im Dialog oder in Adresse an einen Briefpartner entwickelt.
5.2 Die plastische Natur Leibniz beschäftigte sich intensiv mit der Frage nach der plastischen Natur, sowohl in Form des Briefwechsels, in Manuskriptform als auch in seinen Veröffentlichungen. Dabei kommt Leibniz zu verschiedenen, sich teils widersprechenden Antworten, die von Lob über Ablehnung bis zu Uminterpretation reichen. Deshalb sollen Leibnizens Auseinandersetzungen mit der plastischen Natur im Einzelnen betrachtet werden, um diese Widersprüchlichkeit möglicherweise aufhellen zu können. So wird zuerst erneut der Leibniz-Masham-Briefwechsel befragt, dann wird auf die unveröffentlichten Manuskripte einzugehen sein, um dann abschließend Leibniz’ publizierte Äußerungen zu betrachten. 5.2.1 Der Leibniz-Masham-Briefwechsel Die Frage nach der plastischen Natur fand Eingang den Briefwechsel zwischen Lady Masham und Leibniz. Leibniz hatte Cudworths True Intellectual System schon 1689 mit großem Vergnügen in Rom gelesen und gründlich exzerpiert.4 Er schreibt in seinem ersten Brief an Lady Masham: Je vis ce livre la premiere fois à Rome, où M. Auzout, Mathematicien François de grande reputation, l’avoit apporté, et je fus charmé de voir les plus belles pensées des sages de l’antiquité mises dans leur jour, et accompagnées de solides reflexions : en un mot beaucoup d’erudition, et autant de lumiere, jointes en semble.5 2
3 4 5
Für einen Überblick zu Leibniz’ Leben vgl. Vilem Murdrochs Beitrag in: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begründet v. Friedrich Ueberweg. 10 Bde. Bd. 4: Die Philosophie des 17. Jahrhundert. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, Nord- und Ostmitteleuropa. Hg. v. Helmut Holzhey, Wilhelm Schmidt-Biggemann. Basel 2001, S. 1008–1022. Poser: Leibniz zur Einführung, S. 7. Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe. Philosophische Schriften. Bd. VI,4. Berlin 1999, S. 1943–1955. Vgl. GP III, S. 336. Adrien Auzout (1622–1691) war frz. Physiker und Astronom.
154
Seitdem suchte Leibniz vergeblich nach einem eigenen Exemplar, was auf dem Kontinent aufgrund der englischen Sprache des Werkes nicht einfach war. Lady Masham eröffnete nun zum Ende des Jahres 1703 den Briefwechsel damit, dass sie Leibniz das True Intellectual System als Geschenk zusandte.6 Leibniz las das Buch erneut, während Bayle und Leclerc über die Frage um die plastische Natur debattierten. Auch diesmal machte sich Leibniz ausgedehnte Notizen.7 In seinem ersten Brief an Lady Masham lobt Leibniz das Werk Cudworths und konstatiert gemeinsame intellektuelle Interessen und Fragestellungen. Er schreibt: La matiere aussi m’interesse beaucoup, car j’ay fort pensé sur ce sujet, et je pretends même d’avoir découvert un nouveau pays dans ce monde intelligible, et d’avoir ainsi augmenté un peu ce gran système, que Monsieur vostre Père nous a laissé, Madame, apres l’avoir fait passer par les meilleures mains des anciens et des modernes, et enrichi du sien.8
Seine eigene Philosophie stuft er wie Cudworths System als Bereicherung der geistigen Landschaft ein. Gemein ist Cudworth und Leibniz außerdem, dass Bayle auch die Philosophie Leibnizens einer eingehenden Kritik unterzog. Leibniz schreibt an Masham: Mon addition consiste entre autres dans un petit systeme de l’Harmonie préetablie entre les substances, dont M. Bayle parle amplement dans les deux Editions de son beau Dictionnaire, article de Rorarius, mais plus amplement dans la seconde Edition, où il adjoute pourtant des nouvelles objections dignes d’estre resolues.9
Lady Masham schreibt in ihrem Antwortbrief, dass sie diesen Literaturhinweisen nachgegangen sei. Hieraus ergibt sich als überwiegendes Thema des Briefwechsels die Diskussion der Leibnizschen Philosophie, besteht für Lady Masham doch einiger Klärungsbedarf hinsichtlich dessen Gedanken.10 Um zu zeigen, dass die Kritik, die Bayle an Leibniz übt, starke Ähnlichkeiten mit jener aufweist, die er hinsichtlich der plastischen Natur formulierte, soll der Artikel Rorarius, auf den Leibniz Lady Masham hinweist, an dieser Stelle näher in den Blick genommen werden. 6 7
8 9 10
Im selben Brief schreibt Leibniz : „J’ay appris que Vous me destinés un Exemplaire du Système Intellectuel de feu M. Cudworth“ (ebd.). Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Cudworth-Exzerpt von 1704/05 in der Gottfried Wilhelm Leibniz-Bibliothek / Niedersächsische Landesbibliothek Hannover, Leibniz-Handschriften: LH I_1,4 Bl._49–53. Vgl. auch André Robinet: Les différentes lectures du System de Cudworth par G. W. Leibniz. In: Rogers: Context, S. 187–196. GP III, S. 336. Ebd. Lady Masham an Leibniz (29.03.1704): „I should be glad to have a farther view into the intellectual world; and would therefore willingly have right conceptions of the system you propose. To this purpose upon the receipt of your obliging letter, I looked into the article of Rorarius in the first Edition of Mr. Bayls Dictionarie (not having the 2d by me) and being by his quotation of you there, directed to the Journal des Savans 1695, I read what is there published of it. Perhaps my not being accustom’d to such abstract speculations made me not well comprehend what you say there of Formes, upon which I think you build your Hypothesis“ (ebd., S. 337).
155
5.2.1.1 Exkurs: Rorarius Die Kritik der Leibnizschen Philosophie verankert Bayle in seinem Artikel Rorarius des Dictionnaire Historique et Critique an der damals populären Frage, ob Tiere vernünftige Seelen besitzen. Bayle referiert die Position der Cartesianer, die Tiere für Automaten halten, denen eine vernünftige Seele fehle. Deshalb seien Tiere dem Cartesianismus zufolge auch nicht in der Lage schuldig zu werden.11 Bayle konstatiert, als Beweis für die Erbsünde könne Krankheit und Tod von Kindern gelten gemacht werde. Dieser Beweis stürze allerdings in sich zusammen, wenn man anders als der Cartesianismus annimmt, dass Tierseelen empfinden. „Sie sind sowohl dem Schmerz als auch dem Tod unterworfen, haben jedoch niemals gesündigt“,12 führt Bayle aus. Das dahinter stehende Prinzip, „dass dasjenige, was niemals gesündigt hat, kein Übel erleiden kann“,13 müsse demnach falsch sein. Und dies obwohl es sich um ein Prinzip von höchster theoretischer Evidenz handele, denn es folgt zwangsläufig aus den Begriffen, die wir von der Gerechtigkeit und Güte Gottes haben. In diesem Zusammenhang kritisiert Bayle die von Leibniz im System nouveau entwickelte Theorie einer präetablierten Harmonie. Bayle schreibt: Er [Leibniz] billigt die Meinung einiger Moderner, nach der die Lebewesen im Samen organisiert sind, und er glaubt ferner, dass die Materie allein nicht eine wahre Einheit konstruieren kann und dass deshalb jedes Lebewesen mit einer Form vereinigt ist, die ein einfaches, unteilbares und wahrhaft einiges Wesen ist.14
Punkt der Konzentration dieser Einheit ist die Monade, ein rein geistiges, seelenartiges Lebensprinzip, in sich abgeschlossen, sich selbst genügend und so sehr Einheit, dass sie von Leibniz mit der Metapher der Fensterlosigkeit belegt wird. Die Monaden untereinander sowie die dazugehörigen Körper sind durch die von Gott mit der Welt geschaffenen präetablierten Harmonie aufeinander bezogen. Bayles Unbehagen setzt bei der Monade als alleiniges Aktionsprinzip an: „Ich halte auch die Spontaneität dieser Seele mit den Schmerzempfindungen und überhaupt mit allen Wahrnehmungen, die ihr missfallen für unvereinbar“.15 Damit zusammenhängend zeigt er eine der vielen Schwierigkeiten auf, die die Fensterlosigkeit der Monade mit sich bringt: „Man begreift deutlich, dass ein einfaches Wesen immer gleichförmig handeln wird, wenn nicht eine äußere Ursache es davon abbringt“.16
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12 13 14 15 16
Vgl. Pierre Bayle: Rorarius. In: Ders.: Historisches und kritisches Wörterbuch. Eine Auswahl. Übers. u. hg. v. Günter Gawlick u. Lothar Kreimendahl. Hamburg 2003, S. 280–342, bes. S. 286. Ebd., S. 288. Ebd. Ebd., S. 313. Ebd., S. 318. Ebd., S. 319.
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Als Stärken dieses Systems benennt Bayle, die Ehrerbietung, die es dem Schöpfer entgegenbringt. „Und man kann sich nichts anderes ausdenken, was eine derart erhabene Vorstellung von Intelligenz und Macht des Urhebers aller Dinge gibt“, schreibt Bayle, um fortzufahren: zusammen mit dem Vorteil, dass durch dieses neue System alle Wunder ferngehalten werden, würde mich das dazu bringen, es dem System der Cartesianer vorzuziehen, wenn ich den Weg der prästabilierten Harmonie nur als irgendwo möglich erkennen könnte.17
Worin besteht Bayles Schwierigkeit? Er vergleicht die prästabilierte Harmonie mit einem Schiff ohne Kapitän, eine Kritik, die Bayle ebenso sehr auf die plastische Natur anwendet. Als Beispiel für das zugrunde liegende Problem führt Bayle den Körper von Julius Cäsar an, der autonom von seiner Seele durch Wirkursachen dahin gebracht werden müsste, sich analog zu den Seelenzuständen zu verhalten. Ironisch dreht Bayle nun seine Bewunderung über die Ehrerbietung gegenüber Gott, die dem Leibnizschen System zugrunde liege, um. Er schreibt: „Meine erste Bemerkung lautet, dass es die Macht und die Weisheit der göttlichen Kunst über alles Vorstellbare hinaus erhebt“.18 Damit entlarvt er den Leibnizschen Gott als Verlegenheitskunstgriff, der alle Schwächen dieses Systems mit einer schier unglaublichen Machtfülle ausgleichen muss. 5.2.1.2 Die plastische Natur im letzten Leibnizbrief an Lady Masham Leibniz verteidigt sein System in den folgenden Briefen an Lady Masham gegen die Kritik Bayles. In ihrem letzten Brief vom 20. Oktober 1705 bittet Lady Masham Leibniz nun um eine Einschätzung der Kritik Bayles an Cudworths plastischer Natur. Sie schreibt: If you have read with has been writ betwixt him and Mr. Le Clerc on the subject of the Hypothesis of the plastick nature as asserted by my father, I should be very glad to know whether what Mr. Bayle has offer’d dos amount to any thing more than a beging of the question.19
Leibniz spricht sich wie Leclerc und Lady Masham gegen den Vorwurf Bayles aus, dass Cudworth, wenn auch ungewollt, dem Atheismus in die Hände spielen würde. Er schreibt: [E]t cependant je reconnois que dans le systeme de M. Cudworth, où les natures plastiques sont dirigées par les idées de Dieu, les Athées ne trouvent point de sujet de retorsion pour cluder l’argument tiré des merveilles de la nature, non plus que dans le systeme des causes occasionelles qui demande cette direction particuliere par tout.20
17 18 19 20
Ebd., S. 329. Ebd., S. 331. GP III, S. 370. Ebd., S. 375.
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Wie das Zitat ferner zeigt, stimmt Leibniz mit Cudworth in dem Versuch überein, den Cartesianismus dahingehend weiterzuentwickeln, dass die Theorie der okkasionalen Ursachen durch einen höheren Sinnzusammenhang überflüssig gemacht wird. Für Leibniz ist außerdem die von Bayle kritisierte Bestimmung der plastischen Natur als ein unbewusst handelndes Prinzip keineswegs problematisch. Leibniz führt wie Cudworth und More habituelles Handeln beim Musizieren an, um ein solches plastisches Prinzip zu verdeutlichen. Er schreibt: Les actions habituelles aussi (comme celles qu’on exerce en jouant au clavecin, sans penser à tout ce qu’on fait) confirment ce que je viens de dire, c’est-à-dire que la Machine est capable d’agir raisonnablement sans le savoir, lorsqu’elle y a esté predisposée par une substance raisonnable; car on ne jouiroit pas si bien sans y penser assés, si on ne s’estoit donné auparavant la disposition neccessaire pour cela, lorsqu’on y avoit pensé en apprenant à jouer.21
Die Möglichkeit unbewußten Handelns besteht nur, wenn eine bestimmte Vorstrukturierung oder Prädisposition gewährleistet ist, die Leibniz hier auch als notwendige Disposition (la disposition neccessaire) bezeichnet. Dies gilt nicht nur für das metaporische Beispiel des Musizierens, sondern auch für die Entwicklung der Tiere. Leibniz schreibt: „Et la formation des animaux est d’autant plus explicable, qu’elle vient tousjours d’une preformation, c’est à dire qu’il y a tousjours un animal de sa forme“.22 Diese organische Bestimmung des werdenden Lebens kommt den Gedanken der Cambridge Platonists recht nahe und stimmt mit Leclercs biologischer Interpretation des plastischen Prinzips überein. Jedoch ist bei Leibniz die Tendenz zur vitalistischen Naturphilosophie weit weniger stark ausgeprägt. Leibniz zieht als Erklärungsmodel der Natur die Maschinenmetapher vor, die ein Mehr an Rationalität und Berechenbarkeit verspricht. In diesem Sinne ist Leibniz an dieser Stelle auch bemüht die plastische Natur umzuinterpretieren. Schon im Beispiel des Musizierens flicht Leibniz die Maschinenmetapher ein („c’est-à-dire que la Machine est capable d’agir raisonnablement sans le savoir“). Auch die plastische Natur gerät Leibniz zum mechanistischen Prinzip, da für ihn die Körperwelt und damit die gesammte Natur mechanisch strukturiert sind. Er schreibt: Je diray donc que les corps ont en eux des natures plastiques, mais que ces natures ne sont autre chose que leur machine même, laquelle produit des ouvrages excellens sans avoir connoissance de ce qu’elle fait, parceque ces Machines ont esté inventées par un Maistre encor plus excellent.23
Leibniz zufolge gleicht die Welt einem Uhrwerk, in dem unzählige Maschinen perfekt ineinander greifen. Er schreibt: 21 22 23
Ebd., S. 374f. Ebd., S. 374. Ebd.
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Il est vray que je trouve plus philosophique d’expliquer la formation des animaux comme le reste par la machine de la nature, mais predisposée par la sagesse divine: comme il est d’un plus habile ouvrier de faire une horloge qui va bien avec moins d’aide d’une direction particuliere.24
Durch diese mechanistische Interpretation der plastischen Natur hält Leibniz alle Schwierigkeiten, die diese Theorie verursacht hatte, für überwunden: „Je crois donc que touts les dificultés qu’on s’est fait sur les natures plastiques cessent de la maniere que je viens de les expliquer“.25 Nun bleibt allerdings von der ursprünglichen Intention der plastischen Natur und ihrer inhaltlichen Bestimmung als Gegenbegriff zum Mechanismus wenig übrig, wenn man sie wie Leibniz als Maschine interpretiert. Leibniz selbst scheint dies auch so gesehen zu haben, schreibt er doch im selben Brief, dass die plastischen Naturen keinen Vorteil gegenüber Maschinen bieten würden („ny recourir à des natures plastiques incorporelles qui n’auront aucun avantage sur la machine“).26 Außerdem wäre Gott nicht auf plastische Naturen bei der Bildung der Tiere angewiesen, ebenso wenig wie in Bezug auf die universelle Lenkung der Welt, wofür es Naturgesetzte gäbe.27 So lässt sich festhalten, dass Leibniz die plastische Natur für überflüssig hält, gegenüber Lady Masham allerdings bereit ist, die plastische Natur dahingehend umzuinterpretieren, indem sie zur Maschine wird und so in das Leibnizsche Weltbild inkorporiert werden kann. 5.2.2 Leibniz’ Auseinandersetzung mit der plastischen Natur in Manuskripten Neben dem Brief an Lady Masham existieren zwei Manuskripte, in denen sich Leibniz ausführlich mit der Frage nach einer plastischen Natur beschäftigte. Die Manuskripte waren dafür vorgesehen, von Basnage veröffentlicht zu werden, sie blieben allerdings unvollendet. Den Considerations sur les Principes de Vie, et sur les Natures Plastiques, par l’Auteur du Systeme de l’Harmonie preétablie fügt Gerhardt als Beilage das Eclaircissement sur les Natures Plastiques et les Principes de Vie et de Mouvement, par l’Auteur du Système de l’Harmonie préétablie an, in dem Leibniz sehr viel schärfer gegen die plastischen Naturen argumentiert als im Brief an Masham oder auch noch in den Considerations.28 24 25 26 27
28
Ebd., S. 375. Ebd. Ebd., S. 374. Vgl.: „[E]t que Dieu dont l’art surpasse infiniment le nostre, pourra obtenir cet effect en toute sorte de rencontres, sans avoir besoin ny de certaines natures plastiques, ny de son propre concours particulier à ce qui se fait dans la formation des animaux“ (GP III, S. 375) und „Quand je dis que la direction particuliere de Dieu est miraculeuse, je la distingue de cette direction universelle en vertu de laquelle Dieu conserve les choses suivant les loix de la nature“ (ebd., S. 374). Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Considerations sur les Principes de Vie, et sur les Natures Plastiques, par l’Auteur du Systeme de l’Harmonie preétablie. In: Die philosophischen Schrif-
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Leibniz’ Auseinandersetzung mit dem Problem der plastischen Natur in Form des zur Veröffentlichung bestimmten Manuskriptes liegt darin begründet, dass Bayle in der Histoire des Ouvrages des Savans vom August 1704 sowie in den Continuation de pensées diverses im Zusammenhang mit der Kritik des plastischen bzw. Lebensprinzips auch das von Leibniz entwickelte System als eine Neuauflage der substantiellen Formen kritisiert hatte.29 Bayle formuliert in der Histoire seine Kritik wie folgt: J’ai consideré aussi que le systeme de ces formes se peut multiplier en plusiers manieres: Mr. Leibniz en medite un qui diferera beaucoup de celui des Scholastiques, & qui mettra dans un nouveau jour l’entelechie d’Aristote, & qui pourra être justement nommé le système des formes substantielles.30
Leclerc schreibt in seinem Antwortartikel, dass er Leibniz nicht wie Cudworth und Grew gegen Bayle verteidige, weil er dessen Philosophie zu wenig kenne und dieser es selbst vermöge, sich zu verteidigen.31 Im Ecclaircissement betont Leibniz, dass er von Leclerc ausdrücklich dazu aufgefordert worden sei, sich zu der Frage der plastischen Naturen zu äußern.32 Auf die Frage nach den substantiellen Formen gibt Leibniz eine differenzierende Antwort. Er ist durchaus bereit Bayle zuzugestehen und substantielle Formen anerkennt; dies jedoch nur, wenn der Begriff der substantiellen Form im Sinne Descartes als die Seele des Menschen verstanden wird. Darüber hinaus nimmt Leibniz ein entsprechendes Lebensprinzip bei Tieren und Pflanzen an.33 Leibniz schreibt: Quand on me demande, si ce sont des Formes substantielles, je reponds en distinguant : car si ce Terme est pris, comme le prend M. des Cartes, quand il soutient contre M. Regis, que l’Ame raisonnable est la forme substantielle de l’homme, je repondray qu’ouy. Mais je diray que non, si quelcun prend le Terme comme ceux qui s’imaginent qu’il y a une forme d’un morceau de pierre, ou d’un autre corps non-organique; car les principes de Vie n’appartiennent qu’aux corps organiques.34
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ten von Gottfried Wilhelm Leibniz. Hg. v. C. I. Gerhardt. 10 Bde. Bd. 6. Berlin 1885, S. 539– 546 und ders.: Eclaircissement sur les Natures Plastiques et les Principes de Vie et de Mouvement, par l’Auteur du Système de l’Harmonie préétablie. In: Ebd., S. 546–555. Vgl.: „[E]t ayant vû depuis la replique de ce dernier dans l’Histoire des ouvrages des Savans de 1704 (Artic. 7) où il me fait aussi l’honneur de parler de moy (S. 393) en disant que je medite un Système nouveau, et qu’il sera celuy des formes substantielles reformé“ (Leibniz: Eclaircissement, S. 547). Bayle: Histoire des Ouvrages des Savans, Août 1704, S. 498/393. Außerdem bezieht sich Leibniz wie im Brief an Lady Masham auch hier auf Bayles Artikel Rorarius. Leclerc: Article IV. Vol. V. Tome I, S. 514/301, Leibniz verweißt fälschlicherweise auf „Biblioth. chois. Tom. 5 art. 5 pag. 301“, vgl. Leibniz: Considerations, S. 539. „Ayant esté invité fort obligeamment par M. le Clerc à donner quelque Eclaircissement de mes sentimens à l’egard des Principes de Vie et des Natures Plastiques, soutenues par des habiles Anglois M. Cudworth et M. Grew“ (Leibniz: Eclaircissement, S. 546f.). Vgl.: „Je différe seulement de M. Descartes sur ce sujet, en ce que je reconnois encor dans les autres corps organisés de la Nature des ames ou quelque chose d’approchant, doué de perception et d’appetit“ (ebd., S. 547). Leibniz: Considerations, S. 539.
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Entgegen der substantiellen Formen, wie sie die Peripatetiker annehmen, möchte Leibniz die Prinzipien des Lebens als unvergänglich verstanden wissen.35 Für Leibniz sind auch Cudworth und Grew nicht zu den Peripatetikern zu zählen, wenn auch die von ihnen eingeführten plastischen Naturen als immaterielle Prinzipien Einfluss auf die Materie nehmen. Leibniz schreibt: Les Peripateticiens ont crû que les ames avoient de l’influence sur les corps, et que selon leur volonté ou appetit elles donnoient quelque impression aux corps ; et les celebres auteurs [Cudworth & Grew] qui donné occasion à la contestation presente par leur principes de vie et leur natures plastiques, ont esté du même sentiment, quoyqu’ils ne soyent point Peripateticiens.36
Generelle Zustimmung erfahren in diesem Sinn auch die Begriffe principes de vie und natures plastiques, wobei Leibniz die Wendung principes de vie vorzuziehen scheint. Leibniz fühlt sich nicht an bestimmte Begrifflichkeiten gebunden.37 Was auf den ersten Blick als Zustimmung zur plastischen Natur Cudworths und zu den Lebensprinzipien Grews erscheint, ist auf den zweiten Blick nichts anderes als die von Leibniz entwickelte Theorie der Monaden und der präetablierten Harmonie in fremden, entliehenen Begrifflichkeiten, nicht aber eine Zustimmung zur Philosophie Cudworths und Grews. Dieser Umgang mit Begrifflichkeiten lässt Leibniz zwar gesprächsbereit erscheinen, führt aber auch zu Missverständnissen. Rita Widmaier konstatiert deshalb auch hinsichtlich des Briefwechsels zwischen Lady Masham und Leibniz: „Warum stellte Leibniz die dualistische Fassung des Leib-Seele-Problems durch Lady Masham nicht von Anfang an richtig, indem er die seelenartige Homogenität der Substanzen in seiner Hypothese ein für allemal klarlegte?“38 Friedrich Kaulbach vertritt die These, Leibniz habe seine Auffassung immer sprachlich an seine Korrespondenten angepasst,39 was auch für seine Auseinandersetzung mit anderen Theorien in Form von Manuskripten zu gelten scheint. So schreibt Leibniz in den Considerations das Lebensprinzip als Monade interpretierend:
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Vgl.: „[J]e différe des Peripateticiens, en croyant que toutes les ames sont ingenerables et incorruptibles naturellement, […]“ (Leibniz: Eclaircissement, S. 547). Leibniz: Considerations, S. 540. Vgl.: „Pour ce qui est des formes substantielles ou des Entelechies primitives, que M. Bayle s’étonne qu’on veut ressusciter, je ne les approuve que lorsqu’on les prend pour des substances simples, capables de perception et d’appetit, en un mot, pour des Ames, ou pour quelque chose qui ait de l’analogie avec l’ame, et qu’on pourroit appeler Principe de Vie: comme en effect, je tiens que toute la nature est pleine de corps organiques vivans“ [Hervorh. I.K.] (Leibniz: Eclaircissement, S. 550). Widmaier: Korrespondenten, S. 225. Vgl. Friedrich Kaulbach: Das Copernicanische Prinzip bei Leibniz. In: Studia Leibnitiana Suppl. Vol. XII (1973) S. 95–103.
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J’admets effectivement les principes de vie repandus dans toute la nature, et immortels, puisque ce sont des substances indivisibles, ou bien des UNITÉS, comme les corps sont des multitudes sujettes à perir par la dissolution de leur parties. Ces principes de Vie, ou ces Ames, ont perception et appetit.40
Folgerichtig grenzt Leibniz sein Verständnis hinsichtlich der Prinzipien des Lebens von den Auffassungen anderer ab.41 Diese Abgrenzung erfolgt in zwei Richtungen. Einerseits grenzt sich Leibniz von der Theorie der okkasionalen Ursachen der Cartesianer ab, andererseits von einer Bestimmung der Lebensprinzipien, wie sie von Cudworth und Grew vorgenommen wird. Hatten Cudworth und Grew die plastische Natur bzw. die Prinzipien des Lebens als immaterielle Ursachen bestimmt, die den Verlauf der körperlichen Welt maßgeblich bestimmen, d.h. den Körpern ihre Bewegungsrichtung geben, so schließt Leibniz eine Einflussnahme immaterieller Prinzipien auf Körper generell aus: L’un de ces points est, que tous ont crû que ces Principes de Vie changent le cours du mouvement des corps, ou donnent au moins occasion à Dieu de le changer, au lieu que suivant mon Système ce cours n’est point changé du tout dans l’ordre de la nature, Dieu l’ayant preétabli comme il faut.42
Außerdem würde die Annahme von plastischen Naturen als selbständigen Handlungsprinzipien dazu führen, dass Gott nicht mehr als erster und alleiniger Beweger in Erscheinung tritt. Damit verschwindet ein von Leibniz als gewichtig erachteter Gottesbeweis, Grund genug, sich gegen diese Art von Prinzipien auszusprechen.43 Leibniz hält die plastischen Naturen schlicht für überflüssig und schreibt daher: Ainsi je n’ay pas besoin de recourir avec M. Cudworth à certaines natures Plastiques immaterielles, quoyque je me souvienne, que Jules Scaliger et autres Peripateticiens, et aussi quelques sectateurs de la doctrine Helmontienne des Archées, ont crû, que l’ame se fabrique son corps.44
Leibniz macht sich im Ecclaircissement darüber hinaus die von Bayle entwickelte Argumentation zu Eigen, um rhetorisch fragend zu konstatieren, dass die plastischen Naturen überflüssig sind: Il semble qu’il leur faudroit une intelligence toute divine pour former les organes des animaux avec la connoissance d’un architecte: mais si elles n’ont point cette connoissance architectonique, et s’il faut que Dieu y supplée et les dirige particulierement, à quoy bon ces intelligences, et quelle raison de les établir?45 40 41 42 43 44 45
Leibniz: Considerations, S. 539. „Cependant mon sentiment sur les Principes de Vie est different en certains points de ce qu’on en a enseigné auparavant“ (ebd., S. 540). Ebd. Leibniz: Eclaircissement, S. 553. Leibniz: Considerations, S. 544. Im Folgenden greift Leibniz außerdem auf das von Bayle diskutierte Beispiel der Arbeiter und Werkzeuge zurück, um bei der Statusbestimmung der plastischen Natur Bayle zuzustimmen, dass die plastische Natur entweder überflüssig oder atheistisch zu interpretieren sei. Vgl. Leibniz: Eclaircissement, S. 555 : „[O]u bien si elles le font sans savoir ce qu’elles font, il a encor
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Leibniz geht im Ecclaircissement, entgegen seinen Äußerungen im Brief an Lady Masham, sogar soweit mit Bayle, die plastische Natur als ein blindes Prinzip zu bezeichnen. Dieses wird von Atheisten zur Beschreibung der Welt verwendet und deshalb heißt es dort: Il monstre aussi fort bien, que si une creature aveugle pouvoit venir à bout de former un aussi bel ouvrage que le corps organique d’un animal, rien n’empechera les Athées de dire qu’une puissance aveugle a formé le monde, comme Straton, Philosophe ancien, le soutenoit, ou bien le concours fortuit des atomes selon Epicure.46
Descartes hätte andererseits richtigerweise das Gesetz der Natur anerkannt, dem zufolge die Quantität von Kraft bestehen bleibt. Daraus hätte er abgeleitet, dass die Seele die Kraft der Körper weder vergrößern noch verkleinern könne und somit, anders als Grew und Cudworth, die Einflusssphären von Geist und Körper getrennt. Allerdings hat selbst Descartes eine Richtungsänderung der Körper durch die Seele zugelassen. Auch wenn sie dieses Seelenvermögen ausschließen, seien die neueren Cartesianer dann zu der Theorie der okkasionalen Ursachen gelangt.47 Die Theorie der okkasionalen Ursachen kommt für Leibniz jedoch der Annahme eines fortwährenden Wunders gleich („un miracle perpetuel“).48 Außerdem könnten die Cartesianer nicht beweisen, dass jede Perzeption von Bewusstsein begleitet sein müsse. Vielmehr spräche es für die Existenz eines Lebensprinzips mit Gefühl, aber ohne Bewusstsein, dass dadurch ein Vacuum Formarum vermieden werde und ein Kontinuum in der Kette der geschaffenen Wesen erst möglich sei.49 Auch Leibniz bekennt sich zum Energieerhaltungsgesetz50 und stimmt mit den Cartesianern darin überein, dass die Seele in keiner Weise in der Lage ist, Einfluss auf die Körper zu nehmen. Allerdings zieht er daraus einen anderen Schluss. Leibniz schreibt: „Les Ames suivent leur loix, qui consistent dans un certain developpement des perceptions selon les biens et les maux; et les corps suivent aussi les leurs, qui consistent dans les regles du mouvement“.51 Ihre Synchronität ist durch die von Gott eingerichtete präetablierte Harmonie gewährleistet. Leibniz glaubt mit seinem System einen neuen Beweis für die Existenz Gottes gefunden zu haben: Schließlich bedürfe es einer unendlichen Macht und Weisheit, um das synchrone
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raison de dire que Dieu les doit donc diriger à chaque pas, non comme un architecte dirige ses ouriers, mais comme un artisan manie ses instrumens, ce qui rend ces substances plastiques tout à fait inutiles“ (Leibniz: Eclaircissement, S. 554). Leibniz: Eclaircissement, S. 555. Vgl. Leibniz: Considerations, S. 540. Ebd., S. 541. Vgl. ebd., S. 543, S. 548. Vgl.: „[L]es nouvelles loix de la nature qui font voir que la direction totale ne change pas non plus dans quelque nombre de corps qu’on puisse prendre ensemble et supposer comme detachés des autres“ (Leibniz: Eclaircissement, S. 547f.). Leibniz: Considerations, S. 541.
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Nicht-Verhältnis von Körper und Seele im Voraus einzurichten, selbst Bayle hätte dies anerkannt.52 Leibniz verdeutlicht die Bewegungen der Körper und die Regungen der Seele mit der Metapher der Uhr und schreibt: „[C]omme deux pendules parfaitement bien reglées sur le même pied, quoyque peutestre d’une construction toute differente“.53 Leibniz vergleicht die unterschiedlichen Systeme von Seele und Körper auch mit zwei Reichen, wobei das der Seele durch die causa finalis, das der Körper durch die causa efficiens strukturiert sei. Beide Reiche emanierten jedoch aus einer Quelle, die sich hinsichtlich der causa efficiens als Kraft zeigt, hinsichtlich der causa finalis als Weisheit.54 So scheint es, dass Leibniz das Immaterielle, Geistige dadurch zu bewahren vermag, indem er es strickt von der Materie trennt, die dem Gesetz der Mechanik unterstellt ist, das von völlig passiver Materie ausgeht, die auf Anstoß von außen angewiesen ist und somit Gott als ersten Beweger notwendig macht.55 Leibniz ist mit Cudworth der Meinung, dass die Gesetze der Mechanik nicht hinreichen, um die Natur als Ganzes zu strukturieren. Leibniz schreibt: „Je suis donc de l’avis de Monsieur Cudworth (dont l’excellent ouvrage me revient extremement dans la plus grande partie) que les loix du Mechanisme toutes seules ne sauroient former un animal“.56 An anderer Stelle zeigt sich allerdings, dass Leibniz auch das Lebendige wie im Brief an Lady Masham mithilfe der Metapher der Maschine interpretiert. Leibniz meint: „[C]’est que les machines de la nature estant machines jusques dans leur moindres parties, sont indestructibles, à cause de l’enveloppement d’une petite machine dans une plus grande à l’infini“.57 So ist die Rede von der natürlichen Maschine („la machine naturelle“)58 und selbst von einem plastischen Mechanismus („mechanisme plastique“).59 Die plastische Natur wird in diesem Sinn von einem immateriellen in ein materielles Prinzip uminterpretiert. Es heißt bei Leibniz: [P]ar cette raison même de la preformation et d’un organisme à l’infini, qui me fournit des natures plastiques materielles propres à ce qu’on demande; au lieu que les principes plastiques immateriels sont aussi peu necessaires, qu’ils sont peu capables d’y satisfaire.60
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Vgl. ebd. und Leibniz: Eclaircissement, S. 550f. Bayles Äußerungen können durchaus auch als ironisch aufgefasst werden. Vgl. Bayle: Rorarius, S. 329. Leibniz: Considerations, S. 541. Vgl. ebd., S. 542. Vgl. ebd. Ebd., S. 544. Vgl. auch: „Pour ce qui est de la faculté plastique, je suis de l’avis de M. Cudworth (dont l’excellent ouvrage me revient extremement) lorsqu’il soutient que les loix du mechanisme toutes seules ne sauroient former un animal“ (Leibniz: Eclaircissement, S. 553). Leibniz: Considerations, S. 543. Ebd., S. 544 u. Leibniz: Eclaircissement, S. 553. Leibniz: Considerations, S. 544. Ebd.
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Für Leibniz bringen die plastischen Naturen nach Cudworth und Grew keinen Vorteil gegenüber dem Mechanismus. Er schreibt im Ecclaircissement: „Quant à ces substances immaterielles plastiques, je ne voy pas bien ny comment elles y suffisent, ny en quoy elles ayent de l’avantage sur le Mechanisme“.61 Kremer beurteilt deshalb in seiner gekrönten Preisschrift zur Thedizee von 1909 die Leibnizsche Philosophie als mechanistisch: Leibniz verteidigt seine Monadenlehre und sagte, er habe keine unstofflichen plastischen Naturen nötig, da seine Lehre ihm stoffliche biete, die das leisten, was man verlangte. So sehr er aber seinen Monadenbegriff auch dem Cudworthschen anzunähern sucht, so tritt durch die Distinktion, die er macht, das mechanistische seiner Ansicht nur mehr hervor.62
Waren die plastischen Naturen von Cudworth dazu eingesetzt worden, die Wirkungen Gottes zu vermitteln und als geistiges Prinzip die Materie zu beleben, bedeutet organisch bei Leibniz hingegen so viel wie mechanisch, da er sich alle Organisation in der Natur als unendlich ineinander verschachtelte Maschinen vorstellt. 5.2.3 Die Debatte um die plastische Natur in der Theodizee In seiner Vorrede zur Theodizee beschäftigt sich Leibniz ausführlich mit der Debatte zwischen Leclerc und Bayle bezüglich der plastischen Natur. Leibniz macht sich die Mühe, den Verlauf der Debatte eingehend zu schildern. Er beschreibt den Auslöser der Diskussion und verweist damit direkt auf das True Intellectual System: Es traf sich nun, dass Herr le Clerc in seine ‚Ausgewählte Bibliothek‘ einen Auszug aus dem ‚intellektuellen System‘ des verst. Herrn Cudworth aufgenommen, wo es sich um die sogenannten ‚plastischen Naturen‘ handelte, deren sich dieser ausgezeichnete Autor für die Erklärung der Bildung der Tiere bediente.63
Daraufhin beschreibt Leibniz die von Bayle, der vor kurzem verstorben sei,64 in den Continuation de pensées diverses vorgebrachte Kritik: „[D]a es diesen Naturen an bewußtem Erkennen fehle, man durch ihre Einführung das Argument schwäche, welches durch die wunderbare Bildung der Dinge beweist, dass das Universum notwendig einer intelligenten Ursache entspringt“.65 Auf Leclercs Erklärung, „diese Naturen müssten durch göttliche Weisheit gelenkt werden“,66 antworte Bayle, „eine einfache Lenkung genüge bei einer des erkennenden Bewusstseins
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Leibniz: Eclaircissement, S. 554. Kremer: Problem der Theodicee, S. 72f. Leibniz: Theodizee, S. 20f. Ebd., S. 27. Ebd., S. 21. Ebd. Vgl. Leclerc: Article 5. Vol 5. Tome I.
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ermangelnden Sache nicht, es sei denn, dass man sie als ein Werkzeug Gottes auffasste, in welchem Falle sie aber unnötig sei“.67 In diesem Zusammenhang habe Bayle nebenbei Leibniz’ eigenes System erwähnt, worauf dieser dann in der Histoire des Ouvrages des Savans vom Mai 1705 geantwortet hätte, dass der Mechanismus genügt, um die organischen Körper der Tiere hervorzubringen, ohne dass es dazu anderer plastischer Naturen bedarf, vorausgesetzt, dass man die bereits völlig organische Praeformation in den Samen bei den im Entstehen begriffenen Körpern hinzufügt, die in denen der Körper stecken, von denen sie geboren werden, und so zurück bis zu den ersten Samen, was natürlich nur dem allmächtigen und allweisen Urheber aller Dinge entspringen konnte, der, indem er alles von Anbeginn an mit Ordnung schafft, darin auch jede Art der Ordnung und der zukünftigen Verknüpfung zuvor angeordnet hatte.68
Diese Antwort ist aus den Überlegungen, die sich in den Manuskripten zur plastischen Natur finden, hervorgegangen und zeigt noch stärker als diese, dass es Leibniz um eine mechanische anstatt einer organischen Weltbeschreibung zu tun ist. Selbst die „völlige organische Praeformation in den Samen“ gewinnt mechanischen Charakter, wenn man bedenkt, dass es sich um die Einwicklung und Entwicklung von perfekten, in einander verschachtelten Naturmaschinen handelt.69 Allerdings beschreibt Leibniz die Seele des Menschen nicht mit der Metapher der Maschine, sondern als „eine Art geistiger Automat“.70 Ihr kommt eine ursprüngliche Kraft zu, ein Appetit, den Leibniz auch mit dem aristotelischen Begriff der Entelechie fasst. Leibniz schreibt: A.a.O. habe ich gezeigt, dass der Begriff der Entelechie nicht ganz zu verwerfen ist, nicht bloß ein einfaches aktives Vermögen einschließt, sondern auch etwas, das man als Kraft, Streben, conatus bezeichnen kann, dass ihre Handlung erfolgen muß, wenn sie durch nichts gehindert wird.71
Auch spricht sich Leibniz wie Cudworth für die Korpuskularphilosophie aus, ebenfalls unter der Bedingung, dass man sie „mit den dauernd wertvollen Gedanken der Platonischen und Aristotelischen Philosophie vereinigen und beide mit der wahren Theologie in Übereinstimmung bringen kann“.72 67 68 69
70 71 72
Leibniz: Theodizee, S. 21. Vgl. Bayle: Article 7. Histoire des Ouvrages des Savans, August 1704. Leibniz: Theodizee, S. 21. Vgl. Leibniz: Article 9. Histoire des Ouvrages des Savans, Mai 1705. Die Metapher der Maschine zur Beschreibung von Naturzusammenhängen findet sich in dieser Zeit häufig, neben Bayle und Leclerc verwendet auch King den Maschinenbegriff um von der Natur zu sprechen. Vgl. beispielsweise William King: An Essay on the Origin of Evil. Translated from Latin, with large Notes, tending to explain and vindicate some of the Author’s Principles Against the Objections of Bayle, Leibnitz, the Author of a Philosophical Enquiry concerning Human Liberty; and others. By Edmund Law. London 1731, S. 142. Leibniz: Theodizee, S. 129. Ebd., S. 152 Ebd., S. 43.
166
Wie Leclerc vergleicht Leibniz in seiner Vorrede Hobbes und Spinoza, „die radikalsten Autoren […], welche die Notwendigkeit der Dinge am stärksten betont haben“,73 mit Straton, demzufolge „alles […] der ersten Ursache […] entsprungen [sei], und zwar durch eine blinde und völlig geometrische Notwendigkeit, ohne dass dieses erste Prinzip der Dinge der Wahl, der Güte und des Verstandes fähig sei“.74 Von einem solchen Fatalismus versucht sich Leibniz in seiner Theodizee trotz seines starken Vorsehungsmotivs abzugrenzen, indem er wenigstens Gott eine gewisse Wahlfreiheit zugesteht. Im Zuge seiner Auseinandersetzung mit dem Einwurf, dass anstelle Gottes „eine unvernünftige, blinde Notwendigkeit“75 Schöpferin der besten aller möglichen Welten gewesen sein könnte, verteidigt Leibniz auch die plastischen Naturen gegen die Vorwürfe Bayles. Wiederum ist es Straton, der als Vertreter dieser atheistischen Position auftritt. Es heißt: „Straton, einer der Häupter der Schule des Aristoteles und Nachfolger des Theophrast, soll nach dem Berichte Ciceros angenommen haben, dass die Welt, wie sie ist, durch die Natur, oder durch irgendeine notwendige Ursache ohne Bewusstsein erschaffen worden sein“.76 Leibniz begegnet dieser Positionsnahme mit Gelassenheit: „Aber ohne Gott gäbe es überhaupt keinen Grund für die Existenz und noch weniger für diese und jene bestimmte Existenz der Dinge: also braucht man sich vor dem Systeme Stratons durchaus nicht zu fürchten“.77 Bayle zufolge könne allerdings aus der Annahme eines plastischen Naturprinzips ein dem Stratonischen ähnliches Weltbild gefolgert werden. Leibniz beschreibt das für Bayle aus den plastischen Naturen resultierende Problem: Indessen bereitet sich Herr Bayle selbst Verlegenheiten: er will die bewusstlosen plastischen Naturen, die Herr Cudworth und andere eingeführt, nicht annehmen, weil er befürchtet, die modernen Stratoniker, d.h. die Spinozisten könnten daraus Vorteil ziehen. Deshalb ist er in Streit mit Herrn Leclerc geraten.78
Hinsichtlich Bayles Weigerung anzuerkennen, dass unbewusste Prinzipien überhaupt handlungsfähig sind, spricht Leibniz von einem Irrtum Bayles, ist doch auch die Leibnizsche Philosophie auf unbewusst handelnde Prinzipien angewiesen. So schreibt Leibniz: Von diesem Irrtum befangen, dass eine unintelligente Ursache nichts produzieren kann, was von Kunst zeugt, ist er auch weit davon entfernt, mir die Praeformation, durch welche die tierischen Organe auf natürliche Weise erzeugt sind, und das System einer von Gott praestabilierten
73 74 75 76 77 78
Ebd., S. 25. Ebd., S. 26. Ebd., S. 226. Ebd., S. 247. Ebd., S. 248. Ebd.
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Harmonie der Körperwelt zuzugestehen, jener Harmonie, durch die die Körper aufgrund eigener Gesetzmäßigkeiten den Gedanken und Wünschen der Seele entsprechen.79
Leibniz argumentiert wie schon Leclerc für die Abhängigkeit eines solchen unbewussten Prinzips von Gott, allerdings greift Leibniz auch hier auf das Bild des Uhrmachers zurück und betont die mechanische Komponente seiner Philosophie: Er [Bayle, I.K.] hätte jedoch bedenken sollen, dass jene unintelligente Ursache, die so schöne Sachen aus Körnern und Samen der Pflanzen und Tiere erzeugt, die den Körper so handeln lässt, wie es der Wille gebietet, von der Hand Gottes gebildet worden ist, der unendlich geschickter als ein Uhrmacher ist: und ein solcher macht doch auch Maschinen und Automaten, die so schöne Wirkungen erzeugen können, als ob sie Intelligenz besäßen.80
Ähnlich wie hinsichtlich der Unbewusstheit eines plastischen Prinzips argumentiert Leibniz mit Blick auf die Regelmäßigkeit der Abläufe, die durch ein solches oder ähnliches Prinzip erzeugt werden. Bayle befürchtet nämlich, dass wenn man von Gottes Willen unabhängige Wahrheiten annimmt, […] dass sie [die Stratoniker] die vollkommene Regelmäßigkeit der ewigen Wahrheiten gegen uns gelten machen: denn diese Regelmäßigkeit stammt allein aus der natürlichen Notwendigkeit der Dinge und wird von keinem Bewusstsein geleitet, und darum befürchtet Herr Bayle, dass man mit Straton folgern kann, die Welt könne auch durch eine blinde Notwendigkeit regelmäßig gebildet werden.81
Leibniz antwortet darauf unter Rückgriff auf den Satz vom zureichenden Grund: In der Region der ewigen Wahrheiten finden sich auch alle Möglichkeiten und infolgedessen das Regelmäßige wie das Unregelmäßige: eines Grundes bedarf es daher, um Ordnung und Regelmäßiges herauszuheben, und dieser Grund lässt sich nur in einem Verstande finden.82
5.2.4 Zwischenergebnis In Auseinandersetzung mit Bayle äußert sich Leibniz weitaus positiver hinsichtlich der Theorie der plastischen Naturen, scheint sie gar in seine eigene Philosophie zu integrieren. Anders ist dies der Fall, wenn Leibniz das Konzept der plastischen Natur aus der Perspektive seines eigenen Denkens beurteilt und so entweder das plastische Prinzip durch Uminterpretation untergräbt oder sogar bereit ist, den Vorwürfen Bayles hinsichtlich des plastischen Naturprinzips Recht zu geben.
79 80 81 82
Ebd. Ebd. Ebd., S. 248. Ebd., S. 248f.
168
5.3 Aspekte des Weltverstehens: Die Frage nach dem Schlechten in der Welt Es sind Leibniz’ Essais de théodicée sur la bonté de dieu la liberté de l’homme et l’origine du mal von 1710, die dem Problem der Rechtfertigung Gottes seinen heute gebräuchlichen Namen „Theodizee“ verleihen. Unter Theodizee versteht man die Rechtfertigung Gottes angesichts des Bösen in der Welt vor dem Gericht der menschlichen Vernunft. Es ist die zweifelnde Frage, mit der der Mensch angesichts des Bösen in der Welt einen guten und allmächtigen Schöpfergott konfrontiert. Es zeigt sich in den Antwortversuchen des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts, wo die Grenzen des Unterfangens einer vernunftzentrierten Welt- und Gottesinterpretation verlaufen. „Zum Fundamentalproblem, das an die Wurzel der Gottesfrage reicht, wird Theodizee doch erst in der Neuzeit“,83 urteilt Hans-Gerd Janssen in seiner Studie zur Theodizee-Frage. Diese Problemverschärfung liegt unter anderem in den Erfolgen begründet, welche die Anwendung der mathematischen Methode auf die Naturwissenschaft hervorgebracht hatte. Allgemein angenommen wurde, dass in den Gesetzen der Mathematik und der Mechanik die Formel für alle Welterkenntnis gefunden worden sei.84 Dieser Rationalisierungsschub blieb nicht ohne Folgen für die Begriffe von Welt und Gott. Ulrich Barth schreibt in seinem Buch Gott als Projekt der Vernunft: „So ging von der zunehmend erfolgreicher werdenden Naturwissenschaft ein Zwang zu stetiger Rationalisierung des Gottesgedankens und des Weltbegriffs aus“.85 Zugleich etablierte sich ein rationalistischer, an der Mathematik geschulter Vernunftbegriff in Theologie und Philosophie. Der axiomatische Aufbau von Gedankengängen sowie geometrische Beweise fanden sich zwar schon bei den Cambridge Platonists. Doch hier vollzog sich noch keine völlige Verdrängung des neuplatonisch geprägten Vernunftbegriffs, der auch vor- und überrationales Wissen gelten lassen konnte.86 Die revolutionären Erkenntnisse in Naturwissenschaft und Astronomie führten außerdem dazu, dass das Zutrauen in die menschliche Vernunft wuchs und die hiobsche Antwort von der Unergründlichkeit der göttlichen Ratschlüsse auf die Frage nach dem Leid in der Welt als nicht mehr zeitgemäß erschien.87 83 84 85 86
87
Hans-Gerd Janssen: Gott – Freiheit – Leid. Das Theodizeeproblem in der Philosophie der Neuzeit. Darmstadt 1989, S. 7. Vgl. Otto Lemp: Das Problem der Theodicee in der Philosophie und Literatur des 18. Jahrhunderts bis auf Kant und Schiller. Hildesheim, New York 1976, S. 8. Barth: Gott als Projekt der Vernunft, S. 128. Vgl.: „And to stop all Creep-holes, and leave no place for the subterfuges and evasions of confused and cavilling spirits, I shall prefix some few Axioms, of that plainness and evidence, that no man in his wits but will be ashamed to deny them, if he will admit any thing at all to be true“ (Cudworth: True Intellectual System. Bd. I, S. 30 u. More: The Immortality of the Soul, v.a. S. 16). Vgl. Hiob 1,Kap. 1–42, Vers 17.
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Gleichzeitig wurde die Natur immer stärker als selbstständige Größe betrachtet. So verwundert es nicht, dass die Theodizeefrage in einem engem Zusammenhang mit der Frage nach der plastischen Natur steht. Hatte Cudworth diese doch auch eingesetzt, um Fehler im Lauf der Welt zu erklären, ohne diese Gott anlasten zu müssen.88 Durch Bayles Destruktion der Position der plastischen Natur im Weltgefüge, scheint die plastische Natur für einen Freispruch Gottes im Angesicht des Schlechten in der Welt mit Beginn des 18. Jahrhunderts allerdings unbrauchbar geworden zu sein, so dass Leibniz wie Shaftesbury nach neuen Lösungsansätzen für dieses Problem suchen mussten: Hatte Bayle doch nachgewiesen, dass ein plastisches Naturprinzip Gott nicht von der Verantwortung für das Weltgeschehen freisprechen kann, wenn Gott als allmächtig, allwissend und gütig bestimmt wird. Wenn plastic nature ein bloßes Instrument ist, dann muss Gott nach wie vor lenkend eingreifen, und sie wäre für Cudworths Zwecke nicht zu gebrauchen und damit wäre sie schlicht überflüssig. Stellt sie hingegen eine eigenständige Macht dar, dann gerät die Allmacht Gottes in Gefahr. Sie kann in keinem Fall Gott von dem Vorwurf befreien, das Böse in der Welt verursacht oder zumindest zugelassen zu haben.89 Allerdings war Bayle nicht mit Cudworths gesamtem True Intellectual System vertraut, sondern kannte lediglich die von Leclerc ins Französische übersetzten Auszüge, die in der Bibliothèque Choisie erschienen, da er nach eigener Aussage des Englischen nicht mächtig war.90 So erschienen Cudworths weitere Überlegungen zur Frage nach dem Übel in der Welt, die er am Schluss des letzten Kapitels seines Werkes vorbrachte, erst, als der Streit um die plastische Natur bereits seinen Zenit überschritten hatte. Sie blieben, auch weil die Debatte eine andere Wendung als die Lösung des Theodizee-Problems nahm, von Bayle in seiner Argumentation unberücksichtigt.91 Die Überlegungen Cudworths zum Theodizee-Problem sollen im Folgenden nachgezeichnet werden, weil Leibniz als auch Shaftesbury an diesen anknüpfen. Neben Cudworths True Intellectual System ist als zweiter Ausgangspunkt für die Leibnizsche Theodizee Bayles Artikel Manichäer zu berücksichtigen. 5.3.1 Cudworths Auseinandersetzung mit dem Theodizee-Problem Als Folge der Betonung der platonischen Idee des Guten gelangt Cudworth im fünften Buch des True Intellectual Systems zu einer ausführlichen Diskussion der Frage nach dem Bösen.92 Mosheim lobt diesen Teil des True Intellectual Systems 88 89 90 91
92
Vgl. Kap. eins dieser Arbeit. Vgl. Pierre Bayle: Article VII. Histoire des Ouvrages des Savans. Aout 1704, S. 388. Vgl. Bayle: Continuation, S. 285. Vgl. Jean Leclerc: Article II. Vol. IX. In: Ders.: Bibliothèque Choisie. Tome II comprenant les volumes 6–10 (1705–1706). Genève 1968 (Réimpression de l’édition d’Amsterdam 1703– 1713), S. 343/41–359/103. Leclerc weißt darauf hin, dass Cudworth im geplanten dritten Teil seines Werkes die Frage nach dem Bösen eingehend zu behandeln plante. Vgl. Leclerc: Article II. Vol. IX. Tome II,
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ausdrücklich.93 Cudworth gelingt eine treffende Beschreibung des Theodizeeproblemst: If God were so well-minded toward men, and so much desired their good and welfare, why did he not prevent sin, and make it impossible that ever sin should enter into the world; since he hath wisdom enough, and power enough to prevent it? […] can we blaim God, that he doth not prevent the order of second causes? If God make a volutary and intelligent agent, it doth necessarily follow, […] that he must suffer a voluntary agent to act according to his own will.94
5.3.1.1 Gott und Welt Cudworths Anstrengung im True Intellectual System, alle ihm bekannten Argumente zugunsten des Atheismus’ zusammenzutragen und ihnen argumentativ zu entgegnen, zeigt, dass Cudworth den atheistischen Zweifel an Gott ernst nimmt und versucht, die Religion als das Wissen um Gott rational verständlich zu machen. In diesem Sinn wählt er auch den Einstieg ins Theodizee-Problem. Cudworth beginnt mit der Widerlegung atheistischer Vorbehalte gegen die Vorsehung: „Where the Atheist takes it for granted, that whosoever asserts a God, or a Perfect Mind to be the Original of all things, does therefore ipso facto suppose All things to be Well Made, and as they should be“.95 Cudworth zufolge sei dies auch die Meinung der alten Theologen gewesen, einige moderne Theisten seien hingegen der Ansicht, dass die Perfektion Gottes sich nicht durch Güte, sondern durch Macht und freien Willen auszeichne. Diese modernen Theisten hätten deshalb keinen Grund, sich an den atheistischen Argumenten gegen die göttliche Vorsehung zu stören und die Welt zu verteidigen, argumentierte Cudworth weiter. Dies findet darin seine Begründung, dass jene Theologen sofort bereit wären zuzugeben, „that the World might really have been much better made, than now it is“.96 Schließlich sei Gott in keiner Weise dazu verpflichtet gewesen, die Welt gemäß dem Besten zu schaffen. Das heißt, Gottes Freiheit, die Welt so zu schaffen, wie es ihm beliebt, steht für diese modernen, von Cudworth nicht namentlich benannten Theologen höher als die Korrelation zwischen der Perfektion Gottes und der Perfektion der Schöpfung. Sie widersprechen zwar den Atheisten insofern, als sie die zufällige Bewegung von sinnloser Materie nicht als Ursprung der Dinge gelten lassen, gleichzeitig potenzieren sie jedoch den
93
94 95 96
S. 345/47. Mosheim übersetzte auch das unvollendet gebliebene Fragment Vgl. Ralph Cudworth: De Aeterna Et Immutabili Rei moralis Seu Iusti Honesti Natura Liber. In: Mosheim: Systema. Vgl. auch Ralph Cudworth: A Treatise Concernig Eternal and Immutable Morality. London 1731. Vgl. Mosheim: Systema, S. 959. Günter Frank schreibt in seiner Studie zur Vernunft des Gottesgedankens: „Eine Rekonstruktion und Analyse der Theodizee Cudworth’ stellt ein dringendes Desiderat der Forschung dar“ (Vgl. Günter Frank: Die Vernunft des Gottesgedankens. Religionsphilosophische Studien zur frühen Neuzeit. Stuttgart 2003, S. 268). Cudworth: True Intellectual System. Bd. I, S. 341. Ebd., Bd. II, S. 872. Ebd., S. 873.
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Zufall und verlegen ihn in Gott hinein: „[I]n the mean time, Enthrone Fortuitousneß and Contingency, in the Will of an Omnipotent Being, and there give it an Absolute Soveraignity and Dominion over all“.97 Diese Art von Gottesauffassung kann laut Cudworth keinen Rationalitätsgewinn für die Religion bedeuten, sondern lässt ganz im Gegenteil Gott zu einem omnipotenten Zufall werden, lässt ihn, seine Entscheidungen und damit auch die Schöpfung vollends ins Dunkle, Unverständige, Nicht-Rationalisierbare verschwinden. Deshalb behält Cudworth die antike Gottesvorstellung bei, die er bei Origenes und Plotin findet: „The Deity acteth according to its own Nature and Essence; and its Nature and Essence displaieth Goodneß and Justice“.98 Für Cudworth ist Gott „an Overflowing Fountain of Love and Goodneß“, dessen Wille gleichbedeutend mit Güte, Gerechtigkeit und Weisheit ist. Diese Prädikate Gottes sind nach Cudworth für den Menschen verständlich, unterscheiden sich doch menschliche Güte und Gerechtigkeit nur graduell im Hinblick auf die Vollkommenheit von der Güte und Gerechtigkeit Gottes. Gott ist in einer Weise an das Beste gebunden, die nicht unterordnend zu verstehen ist, sondern aus der Perfektion seiner eigenen Natur erwächst. Würde er davon abweichen, so hieße dies für Gott, sich der eigenen Göttlichkeit zu entledigen, „Ungod it self“99 formuliert Cudworth. Ungewöhnlich mutet in diesem Zusammenhang Cudworths Metapher von Gott als einer unparteilichen Waage an, die das harmonische Gleichgewicht aller Dinge und ihre exakten Proportionen hervorbringe, wird Gott in seiner Rolle als Richter somit doch stark entpersonalisiert, funktionalisiert und zu einem abstrakten Prinzip erklärt.100 Cudworth muss dem Argument der Atheisten also insofern zustimmen, dass aus der Existenz Gottes die Notwendigkeit folge, die Welt gut sei. Der Zusammenhang von Gottes Güte und Güte der Welt wird von atheistischer Seite letztlich jedoch herangezogen, um im Umkehrschluss von der Schlechtigkeit der Welt auf ihren Schöpfer schließen zu können. Nach Cudworth wird allerdings kein Atheist jemals in der Lage sein, zu beweisen, dass die Welt schlecht und fehlerhaft geschaffen wurde. Cudworth schreibt: „[T]hat either the Whole System of the World could have been Better Made, or that so much as any thing therin is Made Ineptly“.101 Nachdem Cudworth also zuerst die Zulässigkeit des atheistischen Zweifels an der Güte Gottes im Hinblick auf den Zustand der Welt geprüft und ihm im Hinblick auf den nicht aufzugebenden Zusammenhang zwischen Welt und Gott stattgegeben hat, schickt er sich daraufhin an, die Schönheit einer Welt, die für den 97 98 99 100
Ebd. Ebd., S. 874. Ebd. Vgl.: „[A]n Impartial Ballance, lying Even Equal and Indifferent to all things, and Weighing out Heaven and Earth, and all the Things therein, in the most just and exact Proportions, and not a Grain too much or too little of any thing“ (ebd.). 101 Ebd.
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Menschen geschaffen ist, zu erweisen. Deshalb ist es nicht abwegig, dass Dirk Grossklaus das Cudworthsche Unterfangen als „eine Kosmodizee, eine Rechtfertigung des Kosmos vor dem Gericht der betrachtenden Vernunft“102 beschreibt. 5.3.1.2 Die menschliche Vernunft und ihre Standortgebundenheit An erster Stelle findet sich in Cudworths Argumentation interessanterweise der Topos von der Beschränktheit der menschlichen Einsicht in die Naturzusammenhänge, die durch Wissen „far superior and Transcendent“103 hervorgebracht worden seien. Beispiel hierfür ist jedoch gerade eine naturwissenschaftliche Entdeckung seiner Zeit, der Blutkreislauf, und zwar, weil dieser erst so spät entdeckt worden sei. So wiegt für Cudworth als Argument für die Beschränktheit der menschlichen Vernunft stärker, dass der Blutkreislauf so lange unentdeckt geblieben ist, als die Entdeckung als solche, die sich als Leistung der menschlichen Vernunft anpreisen ließe.104 Auch den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen seiner Zeit verhaftet scheint die Argumentation, Atheisten würden die Neigung der Erdachse als Argument gegen die Güte Gottes anführen würden, da sie die Trockenzonen um den Äquator verursacht hätte. Cudworth diskutiert daraufhin drei weitere mögliche Neigungswinkel der Erdachse, um zu zeigen, dass der bestehende der für die Erde beste und angebrachteste sei.105 Bei der Beurteilung der Frage nach der Attraktivität der Welt hebt Cudworth die Standortgebundenheit des Betrachters hervor. Die Atheisten würden voraussetzen, die Welt sei ausschließlich zum Wohl des Menschen geschaffen worden, „only for the Sake of Man“.106 Diese Meinung identifiziert Cudworth mit dem Stoizismus, der seiner Ansicht nach den Menschen zu wichtig nehme und ihm eine ungebührend zentrale Stellung zukommen lasse. Als „puffy conceit of themselves“107 beschreibt Cudworth diese Weltsicht. Hinzu komme, dass Atheisten den Zustand der Welt nicht angemessen beurteilen könnten, da ihnen der Maßstab für Gut und Böse fehle. Cudworth schreibt: But Atheists, can be no Fit Judges, of Worlds being made Well or Ill, either in general, or respectively to Mankind, they having no standing Measure for Well and Ill, without a God and Morality, nor any True Knowledge of themselves, and what their own Good and Evil consisteth in.108
102 103 104 105 106 107 108
Grossklaus: Natürliche Religion, S. 132. Cudworth: True Intellectual System. Bd. II, S. 874. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 875. Ebd. Ebd. Ebd., S. 876.
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Cudworth charakterisierte die Atheisten als verdrießliche, unzufriedene Personen, die, sobald die Dinge sich nicht nach ihrem eigennützigen Geschmack entwickelen, die Natur, die Cudworth mit der Vorsehung gleichsetzt, als Stiefmutter der Menschheit beschimpfen. Lukrez muss für diesen Typus Mensch die Patenschaft übernehmen. Der Atheist wird damit zum Prototypen eines falschen Bewusstseins, einer unangemessenen Sichtweise auf die Welt.109 Als Beispiel für diese das Negative betonende Weltbetrachtung wird auch die falsche Auffassung des Teil-Ganze-Verhältnisses herangezogen. Betrachte man die einzelnen Teile der Welt losgelöst vom Ganzen, würde dies dazu führen, argumentiert Cudworth, dass man in der Beurteilung der Pflanzen auf ihre Unvollkommenheit hinweise, weil es ihnen an Sinneswahrnehmung fehle, bei den Tieren zu bemängeln hätte, dass ihnen der Verstand fehle und beim Menschen beklagen würde, dass er kein unsterblicher Engel sei. Es heißt bei Cudworth: „[W]e ought not to consider, the Parts of the World alone by themselves; and then because we could Phancy much Finer things, thereup blame the Maker of the Whole“.110 Diese auf Mängel verweisende Argumentation könnte lediglich dahin führen, Gott vorzuwerfen, er habe überhaupt etwas geschaffen, was nicht Gott ist. So machte Cudworth an dieser Stelle deutlich, in welchem Maße vermeintliches Wissen durch Gefühls- und Interessenlagen und auch durch gekränkte Eitelkeiten bestimmt wird. Nach Cudworth ist auch ein großer Teil des Übels, das den Menschen belastet, nicht der Realität der Dinge geschuldet, sondern lediglich unseren Anschauungen und Phantasien. „[I]t being much in our own Power to be freed from these“,111 urteilt Cudworth. Er bemüht damit wiederum die Abhängigkeit des Urteils von der jeweiligen Blickrichtung. So sei der Tod für einen Atheisten das größte und tragischste Übel, für den Theisten, der die Unsterblichkeit der Seele erkennt, allerdings kein größeres Problem.112 5.3.1.3 Gut und Böse Mit dem Verweis auf Plato kann Cudworth die Perspektive verschieben, hin zu einem übergeordneten Standpunkt, der den Anthropozentrik-Vorwurf zu umgehen sucht und das Teil-Ganze-Verhältnis zurechtrücken will. Cudworth schreibt: „But the Whole was not properly made for any Part, but the Parts for the Whole, and the
109
Vgl. ebd., Vgl.: „Mitnichten, so sag’ ich, / Ist dies Wesen der Welt für uns von den Göttern erschaffen; / Allzu sehr ist sie doch mit gewaltigen Mängeln behaftet“ (Lukrez: Von der Natur. Übers. v. Hermann Diels. Mit einer Einführung u. Erläuterungen v. Ernst Günther Schmidt. München 1991, S. 243 [Buch V, Vers 194–234 unter der Überschrift Unvollkommenheit der Welt]). 110 Cudworth: True Intellectual System. Bd. II, S. 880. 111 Ebd., S. 876. 112 Vgl. ebd.
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Whole for the Maker therof“.113 Allerdings räumte er dem Menschen in dieser Welt eine besondere Stellung ein, sie sei durchaus für den Menschen gemacht, jedoch eben nicht ausschließlich. Denn es gebe ja auch noch die höher stehenden unsichtbaren Kreaturen wie auch die niedrigeren Tiere mit einem gewissen Grad an Bewusstsein, die sich ebenfalls an der Welt erfreuen sollen.114 Die Ursache von Übeln im Allgemeinen fand Cudworth in der Notwendigkeit der Existenz von unvollkommenen Wesen. Hier klingt die Leibnizsche Ablehnung eines vacuum formarum an. Die göttliche Kunst bestehe nun darin, diese notwendige Fehlerhaftigkeit zu veredeln und zu einem Gesamtkunstwerk zu verflechten: „Bonifying these Evils, and making them like Discords in Musick, to contribute to the Harmony of the Whole, and the Good of Particular Persons“.115 Es zeigt sich, dass aus dem übergeordneten, auf das Ganze gerichteten Blickwinkel eine Ästhetisierung des Weltgeschehens erfolgen kann. Die menschlichen Beziehungen scheinen auf den ersten Blick zwar ungerecht geordnet zu sein, doch sei Cudworth zufolge häufig zu beobachten, dass es gerade die Ungerechten und Ungläubigen sind, die im Reichtum leben. Cudworth erklärt diesen Zustand der Welt mit der mangelnden Rationalität eines sofortigen wundersamen Eingreifen Gottes in den Lauf der Welt und vergleicht die sich langsam und auf Umwegen verwirklichende Gerechtigkeit Gottes mit einem dramatischen Gedicht. Erst im letzten Akt ergebe sich auch hier, „that Rewards and Punishments are measured out in Geometrical Proportion“.116 Die Welt wird zur Bühne – „for the more Difficult part of Virtue to act upon“,117 wofür es des unklaren, zweifelhaften Zustands der Welt bedürfe: Ohne Monster hätte es eben auch keinen Herkules gegeben. Hier bricht Cudworth seine Verteidigung der Vorsehung ab und verweist für weitere Erläuterungen auf Henry More, den Autor der Divine Dialogues, der diese Frage im Sinne Cudworths weiterverfolgt.118 5.3.1.4 Theodizee und plastische Natur Cudworth hingegen wendet sich einer Frage zu, die sich für ihn aus der Perspektiverweiterung auf das Ganze der Schöpfung ergeben hat. Er diskutiert, ob die Vorsehung nicht sehr arbeitsintensiv und ablenkend für eine Gottheit sei, müsse Gott doch immer und überall mit allem befasst sein: Gott müsse jede Fliege selber schaffen – eine Vorstellung, die im Horizont des 17. Jahrhunderts als eines Gottes unwürdig erschien.119 Cudworth bringt, um dieser Vorstellung zu begegnen, die 113 114 115 116 117 118 119
Ebd., S. 875. Vgl. ebd. Ebd., S. 876. Ebd., S. 879. Ebd., S. 880. Vgl. ebd. und Henry More: Divine Dialogues. Vgl. Kap. eins und zwei dieser Arbeit.
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plastische Natur als Dienerin der Vorsehung erneut ins Spiel: „[A]n Artificial plastic nature, which without Knowledge and Animal Consciousness, disposes Matter of the Universe, according to the Platform or Idea of a Perfect Mind, and forms the Bodies of all Animals“.120 Mit der plastischen Natur führte Cudworth einen Oberbegriff für die Naturgesetze ein, sie ist die „Artificial Regular and Methodical Nature“121 im Gegensatz zur zufälligen Bewegung sinnentleerter Materie, die durch keinen Geist gelenkt wird. Somit schlug Cudworth die Verantwortung für alle regelmäßigen, der Vernunft und dem menschlichen Verständnis zugängliche Geschehnisse der plastischen Natur zu. Gott hingegen bleibt in letzter Konsequenz dem menschlichen Wissen verschlossen. Cudworth schreibt: „And indeed were there Nothing at all, but what we our selves could fully comprehend there could be no God“.122 An dieser Stelle wird die Problematik des Cudworthschen Lösungsversuches greifbar, soll doch ein als rational erklärtes Prinzip in Form der plastischen Natur für alles Unverständliche in der Welt in Form von Schlechtem, Bösen und Ungerechtem als Erklärung dienen, während Gott gleichzeitig als vernünftig verstehbar und dunkel unverständlich beschrieben wird und trotz seiner Allmacht keine völlige Kontrolle über plastische Naturen zu haben scheint. 5.3.2 Bayles Manichäer Bayle ging im Artikel Manichäer im Dictionnaire Historique et Critique der Frage nach dem Ursprung des Bösen nach.123 Mit diesem heftig umstrittenen Artikel verschärfte sich die Relevanz der Theodizeefrage maßgeblich.124 Bayle brachte hier nämlich zum Ausdruck, dass kein Christ in der Lage sei, die Einwürfe der Manichäer gegen die Güte Gottes zu entkräften, worin Leclerc, der sich durch diesen Artikel veranlasst sah, mit Bayle in eine Diskussion zum Zusammenhang von Glauben und Vernunft einzutreten, eine Beleidigung für alle Theologen sah.125 120 121 122 123
Cudworth: True Intellectual System. Bd. II, S. 884. Ebd. Ebd., S. 881. Pierre Bayle: Manichäer. In: Ders.: Historisches und kritisches Wörterbuch. Eine Auswahl. Übers. u. hg. v. Günter Gawlick u. Lothar Kreimendahl. Hamburg 2003, S. 157–167. 124 Vgl. Jean Leclerc: Article III Défense de la Bonté & de la Sainteté Divine, contre les objections de Mr. Bayle. In: Ders.: Bibliothèque Choisie. Vol. IX. Tome II, S. 359/103–376/171. Vgl. auch Jean Leclerc: Article vi conformite de la foi avec la Raison, ou défense de la Religion, contre les principales difficultez répandues dans le Dictionnaire Historique & Critique de Mr. Bayle. A Amsterdam chez Henry Desbordes, in 12. 1705. pag. 390. In: Ders.: Bibliothèque Choisie. Vol. VI. Tome II, S. 109/412–112/422. 125 Leclerc: Article III. Vol. IX. Tome II, S. 363/118. Leclerc (S. 363/119 u. S. 365/126) weist außerdem auf das Werk von Wiliam King De origine male hin, in dem dieser den Zusammenhang zwischen Freiheit des Menschen und Güte Gottes zu beschreiben sucht. Kreimendahl beklagt, die Nichtberücksichtigung Kings in der Neubearbeitung des Grundriss der Geschichte der Philosophie. Vgl. Lothar Kreimendahl: Rezension des 1. Teilbandes zum 18. Jahrhundert
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Leclerc ging zwar nicht so weit, Bayle aufgrund dieses Artikels direkt Atheismus vorzuwerfen, sein Herz und sein Geist seien sich nicht einig, formulierte Leclerc.126 Somit teilte nicht nur Bayle den Vorwurf des Atheismus aus, er musste ihm auch selbst begegnen. Denn Leclerc kritisierte deutlich Bayles Umgang mit der Frage der Vereinbarkeit eines guten, allmächtigen Gottes mit einer schlechten, fehlerhaften Welt. So warf er Bayle vor, die christliche Religion unter der Maske der Manichäer zu attackieren.127 Eine ähnliche Taktik kann man auch in der Debatte um die plastische Natur ausmachen, hier waren es die Stratoniker aus dessen Position heraus Bayle, scheinbar unparteiisch, seine Argumentation entwickelte. Um die Brisanz von Bayles Artikel einschätzen zu können, sollen die Bayleschen Argumente näher in den Blick genommen werden. Bayle zufolge ist die Frage nach dem Bösen in der Welt erst mit dem Menschen in die Welt geraten. Er schreibt: „Der Himmel und das ganze übrige Weltgebäude preisen den Ruhm, die Macht und die Einheit Gottes. Der Mensch allein, dieses Meisterstück seines Schöpfers […], liefert sehr große Einwände gegen die Einheit Gottes“.128 Denn der Mensch ist böse und unglücklich, und die Geschichte der Menschheit ist nichts als eine Sammlung von Verbrechen und Unglücksfällen. Es sind zwei verschiedene Übel in der Welt, moralische und physische, und all das wäre noch nicht so kompliziert, wenn es nicht auch das Gute geben würde. Bayle bestimmt das Böse als die böse Tat und nicht als bloßen Mangel. Hiermit ist der Rahmen für das nun folgende fingierte Streitgespräch zwischen zwei Heiden gesteckt, in dem Melissus ein gutes Prinzip gegen Zoroasters Zweiprinzipienlehre zu verteidigen sucht. Zoroaster argumentiert: „Ihr übertrefft mich zwar in der Schönheit der Begriffe und in den Gründen a priori, ich aber übertreffe Euch in der Erklärung der Phänomene und in den Gründen a posteriori“.129 Melissus erklärt, dass der Mensch nicht böse gewesen sei, als Gott ihn schuf. Gott ist deshalb nicht die Ursache des moralischen Übels, wohl aber die Ursache des physischen Übels, das als Bestrafung für das moralische Übel geschaffen wurde. Denn Gerechtigkeit ist Gott ebenso wesentlich wie Güte.130 Zoroaster kann darauf entgegen, dass, wenn der Mensch das Werk eines unendlich gütigen Prinzips wäre, dann wäre er nicht nur ohne das geringste wirkliche Böse geschaffen worden, sondern auch ohne alle Neigung zum Bösen. Also habe der Mensch die Kraft gehabt, „sich aus sich selbst heraus zum Bösen zu bestim-
des Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begründet von Friedrich Überweg. Neubearb. In: Philosophische Rundschau 53 (2006) 75–80. 126 Leclerc: Article III. Vol. IX. Tome II, S. 362/114. 127 Vgl.: „Attaquer les principes du Christianisme de toute sa force, & dire ensuite qu’on les croit, est, encore un coup, une conduite inexcusable“ (Leclerc: Article III. Vol. IX. Tome II, S. 360/107. Vgl. Auch Leclerc: Article III. Vol. IX. Tome II, S. 362/115f.). 128 Bayle: Manichäer, S. 159. 129 Ebd., S. 161. 130 Vgl. ebd., S. 162.
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men“.131 Aber wie kann ein Wesen aus sich selbst heraus handeln, dass nicht aus sich selbst heraus existiert? Hat also Gott vorausgesehen, dass der Mensch bösen Gebrauch von seinem freien Willen machen würde? In diesen rhetorischen Fragen Bayles scheint eine analoge Struktur der Argumentation wie jener gegen die plastische Natur durch. Für Bayle ist Zoroasters Sieg in dieser Diskussion ein bemittleidenswerter Erfolg: [U]nd weil er [Zoroaster] behaupten würde, diejenigen des Melissus gründlich widerlegt zu haben, so würde man ihn niemals zur Wahrheit zurückführen können. Die menschliche Venunft ist zu schwach dazu; sie ist ein Prinzip des Zerstörens und nicht des Aufbauens.132
Hier zeigt sich, dass die Theodizee nur ein Strang der Debatte war und Bayle außerdem darauf hingearbeitet hat, die Vernunft zu destruieren und eine fideistische Position aufzubauen: Und ich glaube mich nicht zu täuschen, wenn ich von der natürlichen Offenbarung, d.h. von dem Licht der Vernunft, sage, was die Theologen von der mosaischen Heilsordnung sagen. Sie sagen, dass sie zu nichts weiter tauglich war, als dem Menschen seine Ohnmacht, die Notwendigkeit eines Erlösers und eines barmherzigen Gesetzes erkennen zu lassen.133
Geschickt argumentiert Bayle hier sowohl gegen den Vernunftoptimismus Cambridger Facon als auch gegen das mosaische Gesetz. Allein der Glaube kann Erlösung bringen – Bayle vertritt die Paulinische Position. Die Vernunft bringt den Menschen an seine Grenzen: „Sie ist zu nichts weiter tauglich, als dem Menschen seine Blindheit und Ohnmacht und die Notwendigkeit einer anderen Offenbarung erkennen zu lassen“.134 Mit einer anderen Offenbarung ist die Heilige Schrift gemeint, nur in ihr finden sich die Mittel, der es bedarf, um die Zweiprinzipienlehre zu überwinden. Leclerc zufolge betreibt Bayle hier eine Art intellektuelles Spiel aus der Diskussion um die Vereinbarkeit der Güte Gottes mit dem Zustand der Welt. Zur Belustigung sei diese Frage jedoch zu gewichtig.135 In der Kritik Leclercs wird deutlich, wo die Schwierigkeiten eines rein negativ verstandenen Vernunftbegriffes in einem theologischen Kontext liegen. 5.3.3 Leibnizens Theodizee „Wenn Gott sich am Glück aller erfreut, warum hat er dann nicht alle glücklich gemacht?“,136 formulierte Leibniz schon 1673 in den Confessio philosophi das Theodizeeproblem. Anstoß für weitere Überlegungen gab das 1697 erschienene 131 132 133 134 135 136
Ebd., S. 163. Ebd., S. 166. Ebd. Ebd. Vgl. Leclerc: Article III. Vol. IX. Tome II, S. 359/103. Gottfried Wilhelm Leibniz: Confessio philosophi / Das Glaubensbekenntnis des Philosophen. Ein Dialog. Frankfurt a.M. 1994.
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Dictionnaire Historique et Critique und die darin enthaltenden Thesen Bayles zum Verhältnis von Vernunft und Glauben besonders im Artikel Manichäer den Anstoß. Preußenkönigin Sophie Charlotte, die Bayle 1700 in Holland kennen lernte, bat Leibniz um Erläuterung der Bayleschen Thesen zum Ursprung des Bösen. Aus den Briefen, die er ihr zur Beantwortung dieser Fragen schrieb, entstanden die Essais de théodicée sur la bonté de dieu la liberté de l’homme et l’origine du mal von 1710. Lemp zufolge führte gerade die Kritik Bayles zu einer signifikanten Verschärfung des Theodizeeproblems: Das rein theoretische Problem war schon in der Theologie des 17. Jahrhunderts viel behandelt worden, aber die Jahrhundertwende bedeutete gerade darin auch einen Wendepunkt in seiner Auffassung, dass besonders die radikale Kritik Bayles die religiöse Bedeutung dieses Streits der Welt zum Bewusstsein brachte.137
In diesem Kontext formuliert Leibniz die Theodizeefrage neu: Der natürlichen Theologie verbleibt also die Frage: wie konnte ein einziges, allgütiges, allwissendes und allmächtiges Prinzip das Übel zulassen, wie konnte es im besonderen die Sünde erlauben und sich entschließen, so häufig die Bösen glücklich und die Guten unglücklich zu machen?138
Weiter heißt es: „[D]enn es lässt sich nicht leugnen, dass es in der Welt physische und moralische Übel gibt […]“.139 Um eine derart komplexe Frage zu beantworten, bedarf es der Bestimmung dessen, wie die menschliche Vernunft beschaffen ist, was unter Gott verstanden wird und wie Gut und Böse zu charakterisieren sind. Aus diesen Begriffsbestimmungen heraus erfolgt im Folgenden die Rekonstruktion des Leibnizschen Lösungsansatz zum Theodizeeproblems.
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Lemp: Problem der Theodicee, S. 2. Vgl. auch: „Man muß bedenken, dass die Einwürfe der Manichäer der natürlichen Theologie nicht weniger entgegenstehen wie der geoffenbarten“ (Leibniz: Theodizee, S. 63). Außerdem formuliert Bayle seine Einwände gegen das Gelingen einer Theodizee, in den Artikeln Paulikaner und Origines, die sich ebenfalls mit dualistischen Religionen beschäftigen, sowie in der Reponse aux Questions d’un Provincial, Teil III, Kap. 144, S. 812, womit sich Leibniz v.a. im zweiten Teil seiner Theodizee auseinandersetzt. Vgl. Leibniz: Theodizee, S. 167ff. 138 Leibniz: Theodizee, S. 64. In der abstrakt-rationalen Charakterisierung Gottes als „ein einziges, allgütiges, allwissendes und allmächtiges Prinzip“ spiegelt sich die Armut und Armseligkeit einer vernunftzentrierten Religiosität wieder, wie sie Lemp beschreibt: „Man hatte auf Grund vernünftiger Beweise einen rationalen Gottesbegriff, Gott ist der allmächtige, weise, gütige Schöpfer der Welt. Auf ihn konnte sich alle religiöse Empfindung konzentrieren. Aber man hatte tatsächlich bloß ein dürres Gedankengerippe, während man vorher eine reiche religiöse Vorstellungswelt gehabt hatte, die das ganze Empfindungsleben des Alltags in religiöse Beziehung hatte bringen können“ (Lemp: Problem der Theodicee, S. 7). 139 Leibniz: Theodizee, S. 64.
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5.3.3.1 Die menschliche Vernunft In Bezug auf Bayle schreibt Leibniz in der Einleitenden Abhandlung über die Übereinstimmung des Glaubens mit der Vernunft, die der Theodizee vorangestellt ist: Am meisten scheint Herrn Bayle die Forderung, Gott müsse auf die gleiche Weise gerechtfertigt werden, wie man gewöhnlich die Sache eines Angeklagten vor dem Richter verteidigt, zu der Annahme es sei unmöglich, die Bedenken der Vernunft gegen den Glauben zu heben, geführt zu haben.140
Leibniz argumentiert gegen Bayle, dass man an Gerichten der Menschen nicht immer zur Wahrheit gelange und oft genötigt sei, sich nach Indizien und Wahrscheinlichkeiten zu richten, „demgegenüber ist man sich […] einig, dass die Mysterien nicht wahrscheinlich sind“.141 Damit nimmt Leibniz allerdings dieselbe Trennung von Glauben und Vernunft vor, wie er sie bei Bayle kritisierte. Es ist eine Trennung, die die Cambridge Platonists zu überbrücken suchten. An anderer Stelle fasst allerdings Leibniz das Verhältnis von Glauben und Vernunft als Entsprechungsverhältnis. Er schreibt: Ich nehme an, dass zwei Wahrheiten sich nicht widersprechen können, dass der Gegenstand des Glaubens die Wahrheit ist, welche Gott auf außergewöhnliche Weise offenbart hat und dass die Vernunft die Verkettung von Wahrheiten ist, besonders jedoch (verglichen mit dem Glauben) derjenigen, zu denen der menschliche Geist auf natürliche Weise gelangen kann, ohne vom Licht des Glaubens erleuchtet zu werden.142
So widersprechen sich Vernunft und Glauben in ihrem Inhalt zwar nicht, jedoch kann der Glauben auch nicht vollständig von der Vernunft erfasst werden. Damit wird das Verhältnis von Glauben und Vernunft als oszillierend beschrieben und lässt sich weder dahingehend auflösen, dass der Glaube vollständig als rational verstanden wird, noch, dass sich Glaube und Vernunft widersprechen. Dies spiegelt sich auch im Leibnizschen Gottesbegriff wider. 5.3.3.2 Gott und Welt Obwohl Leibniz Bayle entgegenhält, dass Gott nicht nach dem Maßstab menschlicher Vernunft gerichtet werden könne, vertritt Leibniz gleichwohl eine rationalistische Gottesauffassung, die derjenigen der Cambridge Platonists nahekommt. Er schreibt: „Seine [Gottes, I.K.] Güte und Gerechtigkeit unterscheiden sich, ebenso wie seine Weisheit, von der unsrigen nur dadurch, dass sie unendlich vollkomme140 141 142
Ebd., S. 56. Ebd., S. 57. Ebd., S. 33. Es sei angemerkt, dass die Formulierung „dass die Vernunft die Verkettung von Wahrheiten ist“ (ebd.) stark an das Lockesche Erkenntnismodel erinnert, wenngleich sich Leibniz in den Nouveaux Essais explizit gegen diesen gewendet hatte.
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ner sind“.143 In diesem Sinn erscheinen die gegen Bayle als unwahrscheinlich charakterisierten göttlichen Mysterien, wie Trinität und Inkarnation, dem Verstand durch Analogiebildung zugänglich, wenn er sie auch nicht vollständig zu durchdringen vermag.144 Gott ist für Leibniz der mit Verstand begabte Grund der Welt: „Gott ist die erste Ursache aller Dinge: […] Es gilt also den Grund für die Existenz der Welt, als den Zusammenschluss aller zufälligen Dinge, aufzusuchen, und zwar in der Substanz, die den Grund ihrer Existenz in sich selbst trägt und die darum notwendig und ewig ist“.145 Die Kontingenz der Welt, die daraus resultiert, dass „unendlich viele andere Welten […] ebenso möglich [sind] und […] sozusagen ebenso wie sie nach Existenz [streben]“,146 wird durch die göttliche Weisheit in der Form aufgehoben, dass nur die beste aller möglichen Welten realisiert werden kann. Leibniz schreibt in diesem Sinn: „So lässt sich dasselbe von der vollkommenen Weisheit sagen, die gleichen Regelmäßigkeiten untersteht, wie die Mathematik: gäbe es nicht die beste (optimum) aller möglichen Welten, dann hätte Gott überhaupt keine erschaffen“.147 Wilhelm Schmidt-Biggemann bestimmt den Gehalt der Formulierung „beste aller möglichen Welten“ als für den Menschen bekömmlich: Der ‚Optimismus‘ der Leibnischen Philosophie […] garantierte mithin, daß die Wahrheit für die Menschen bekömmlich war. Die beste mögliche Welt des besten Schöpfers konnte nur die Wahrheiten enthalten, für die seine Geschöpfe taugten: Wie wäre der Schöpfer sonst gut, wie wäre die Welt sonst erbaulich?148
Allerdings relativieren Leibniz wie Cudworth den Stellenwert, den das Glück des Menschen im göttlichen Plan einnimmt. Räumte Cudworth dem Menschen immerhin noch eine Sonderstellung ein, so ordnet Leibniz den Menschen leidenschaftslos ins Gesamtgeschehen ein. Er schreibt: „Die Glückseligkeit aller vernunftbegabten Geschöpfe ist eines der Ziele, nach denen er [Gott] trachtet, aber sie ist nicht sein ganzes, ja sogar nicht einmal sein höchstes Ziel“.149 Gott ist in Hinblick auf die Schöpfung der Welt daran gebunden, das allgemein Beste, anstatt das dem Menschen zuträglichste zu wählen. Es heißt bei Leibniz: „Jene, das ganze Universum
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Ebd., S. 36. Vgl.: „Ich gebe daher zu, dass die Mysterien zwar einen entwickelbaren Inhalt enthalten, sage aber, dass dieser Inhalt nur unvollkommen entwickelbar ist“ (ebd., S. 70). 145 Ebd., S. 100. 146 Ebd. 147 Ebd., S. 101. 148 Schmidt-Biggemann: Theodizee S. 13. 149 Leibniz: Theodizee, S. 175. Vgl. auch: „Those therefore who urge the Unfitness of certain Parts of the Earth fort he Sustenance of Man, as a Fault and Defect of the Divine Skill in making them, are oblig’d to prove that the Earth was made fort he sake of Mankind only, and not of the Universe, and that everything in the World is useless which does not immediately tend to the Use of Man. But this is absurd, and what no one would object, who is not blinded with Pride and Ignorance“ (King: Essay on the Origin of Evil, S. 106).
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umfassende Kombination ist die beste; Gott musste sie also wählen“.150 Leibniz nennt dies „glückliche Notwendigkeit“,151 Gott kommt damit lediglich die Funktion zu, die Welt zu realisieren. Die göttliche Freiheit sieht Leibniz dennoch nicht bedroht, obwohl er Leibniz zufolge auf die einmal geschaffene Welt keinen Einfluss mehr hat.152 Er schreibt: „Ein überwiegender Grund treibt immer den Willen zu seiner Wahl, und zur Erhaltung seiner Freiheit genügt es, dass dieser Grund antreibt, ohne zu zwingen“.153 An anderer Stelle heißt es: „Er [Gott] erzeugt nur, was er will, denn seine Neigung treibt ihn zum Guten. Wir erklären uns also mit der höchsten Freiheit Gottes einverstanden, aber wir verwechseln sie nicht mit einem indifferenten Gleichgewicht, wonach er ohne Veranlassung handeln könnte“.154 Gott hat also einen festgelegten, guten, ausgeglichenen, auf Rationalität beruhenden Charakter, ist nicht länger der Willkürgott voll Feuer, Zorn und Leidenschaft, wie er sich im Alten Testament zeigt. So kann Otto Lemp urteilen: „Eine ethische Würdigung des Verhältnisses des Menschen zu Gott ist bei dieser Weltbetrachtung um so mehr ausgeschlossen, als der Gottesbegriff selbst jede ethische und persönliche Bestimmtheit verliert“.155 Leibniz lagerte die Rationalität nicht in einen übergreifenden Naturbegriff aus, da das Konzept der plastischen Natur nach Bayles Kritik nicht mehr haltbar schien, sondern nahm diesen Rationalitätsanspruch in Gott hinein. Gott wird bei Leibniz zu einer unpersönlichen Rechenmaschine, fasst Leibniz doch höchste Weisheit als Mathematik. Damit setzte Leibniz das bei Cudworth angelegte Bild von Gott als einer unparteilichen Waage absolut: Gott kommt bei Leibniz nur noch die Funktion zu, alle möglichen Welten gegeneinander abzuwägen und der besten aller möglichen Welten zur Existenz zu verhelfen. Die beste aller möglichen Welten meint dabei nicht die für den Menschen bekömmlichste oder die moralisch hochwertigste, sondern es gelten die Prinzipien der Fülle und der Funktionalität. Leibniz beschreibt den vorschöpferischen Zustand als Wettstreit: „So wie Gott sich entschieden hatte, irgend etwas zu erschaffen, gerieten alle Möglichkeiten untereinander in Wettstreit, denn sie alle verlangen nach Wirklichkeit; und dabei siegten diejenigen, die zusammen die größte Realität, Vollkommenheit und Vernünftigkeit erzeugten“.156 Größte Fülle ist in einer Welt verwirklicht, in der die menschliche Freiheit existiert, womit allerdings auch die Sünde zugelassen werden muss.
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Leibniz: Theodizee, S. 219. Vgl. auch: „Bis jetzt haben wir aufgezeigt, dass der göttliche Wille von den Regeln der Weisheit nicht unabhängig ist“ (Leibniz: Theodizee, S. 250f.). 151 Ebd., S. 250. 152 Vgl. ebd., S. 130. 153 Ebd., S. 125. 154 Ebd., S. 255. 155 Lemp: Problem der Theodicee, S. 43. 156 Leibniz: Theodizee, S. 257.
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5.3.3.3 Böse und Gut Das Böse wird von Leibniz im augustinischen Sinn depotenziert. Leibniz bestimmt das Böse als deficiens, dem selbst keine wirkende Ursache zukommt. In diesem Sinne ist das metaphysische Übel als Unvollkommenheit charakterisiert. Darüber hinaus kennt Leibniz das physische Übel, also Leiden und das moralische Übel, die Sünde.157 Gegen Bayle argumentiert Leibniz, dass Gott die Sünde zulassen musste, nicht aus Schwäche, sondern um die beste aller möglichen Welten zu schaffen. Leibniz schreibt: „Allerdings hätte Gott in jeder Menschenseele nun die Gedanken hervorrufen können, die ihm genehm sind: aber das hieße durch Wunder wirken und den besten Plan, der möglich ist, überschreiten“.158 Als Kriterien für Freiheit nennt Leibniz Intelligenz, die eine deutliche Erkenntnis des zu beschließenden Gegenstandes in sich fasst, und Spontaneität der Entschließung zum Handeln.159 Dem dritten von den Scholastikern geforderten Kriterium für Freiheit, der Indifferenz, kann Leibniz nur dann zustimmen, wenn sie Kontingenz oder Nicht-Notwendigkeit bedeutet, nicht aber wenn Indifferenz einen Zufall ohne bestimmten Grund meint. Ein solcher Zufall ist nach Leibniz ein ebensolches Trugbild wie Glück, das nur aus der Unbekanntschaft mit den Ursachen erwächst.160 Mit dem hier entwickelten Freiheitsbegriff setzt sich Leibniz deutlich vom Theodizeeversuch seines Zeitgenossens, dem Dubliner Erzbischof William King (1650–1729) ab, der einen absoluten Freiheitsbegriff installiert hatte. Leibniz befasst sich v.a. mit dem fünften Kapitel des Kingschen De origine mali: Denn dieses fünfte Kapitel will (wenn es möglich wäre) zeigen, dass die wirkliche Freiheit von einem indifferenten, unbestimmten, vollkommenen und absoluten Gleichgewicht abhängt, derart, dass es keinen der Entscheidung vorangehenden Entscheidungsgrund gibt, weder für den Wählenden noch für den Gegenstand; und dass man nicht das wählt, was gefällt, sondern dass man seine Wahl ganz grundlos trifft, und dass einem eben deswegen das Erwählte gefällt.161
Der Leibnizsche Begriff der Güte unterscheidet sich von demjenigen, der von Cudworth in dessen Theodizeeversuch entwickelt worden ist. Nahm Cudworth noch an, dass die Welt, wie sie ist, bis ins kleinste Detail hinein gut ist und auch das Einzelne seinen Wert nicht erst aus dem Zusammenhang erhält, bestehen für Leibniz durchaus Übel in der Welt, die aber für einen großen, harmonischen Zusammenhang in Kauf genommen werden müssen: 157 158 159 160 161
Vgl. ebd., S. 110f. Ebd., S. 171. Vgl. ebd., S. 320. Ebd., S. 330. Ebd., S. 442. Vgl.: „Free-Will then must needs be indifferent to all external Objects, and those things which are now agreeable, become shortly disagreeable, according to the infinite variety of Circumstances and Exigence of Affairs. The Will therefore cannot be determin’d to Good by Objects. Nay, confess the Truth, we generally do not choose Objects because they are Good, but the become Good because we choose them“ (King: Essay on the Origin of Evil, S. 236).
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Bekanntlich hat er [Gott] sich um die ganze Welt mit ihren untereinander verbundenen Teilen zu kümmern, und infolgedessen musste er unendlich viele Rücksichten nehmen, deren Gesamtheit ihn urteilen ließ, es sei nicht angebracht, gewisse Übel zu verhindern.162
Leibniz gelangt von dieser übergeordneten Betrachtungsperspektive zu einem Harmoniebegriff, der ihm die Grundlage für die Beantwortung der Theodizeefrage liefert: Könnten wir nämlich die universelle Harmonie erkennen, dann würden wir sehen, wie dasjenige, was wir versucht sind zu tadeln, in den der Wahl würdigsten Plan hineingehört; mit einem Wort, wir würden schauen und nicht bloß glauben, dass Gottes Schöpfung die beste ist.163
Leibniz entwickelt von hier aus einen neuen, einen eigenen Harmoniebegriff, den der präetablierten Harmonie. Er verbindet die platonisch-pythagoreische Harmonievorstellung, die sich überall in der Welt in proportionalen Zahlenverhältnissen ausdrückt und als Sphärenmusik durch den Lauf der Sterne hörbar wird, mit der biblischen Idee einer Primordialwelt. Diese Verbindung von griechisch-philosophischem Gedankengut und theologischer Tradition als Rezeption der philosophia perennis beschrieben werden.164 Hier zeigt sich, dass Leibniz und die Cambridge Platonists aus demselben geistigen Fundus schöpften. Einen auf dem Teil-Ganze-Verhältnis beruhenden Ansatz zur Lösung des Theodizeeproblems wählt, ähnlich wie Leibniz und Cudworth, William King, dessen Buch Leibniz lobt („Referat eines modernen, sehr scharfsinnigen Buchs über den Ursprung des Übels“).165 Er verteidigt es gegen die Kritik Bayles, denn die Kritikpunkte sind vergleichbar mit jenen, die Bayle gegen Leibniz bzw. Cudworth vorbringt.166 Leibniz schreibt über De origine mali: Die allgemeine Lösung, die das Problem des physischen Übels in diesem Buche enthält, besteht darin dass man das Universum als ein aus verschiedenen Teilen zusammengesetztes Ganzes betrachten muss: dass zufolge den Naturgesetzen einige Teile nicht besser sein können, ohne dass andere schlechter werden, und dass das daraus hergeleitete System im Ganzen trotzdem nicht minder vollkommen ist.167
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Leibniz: Theodizee, S. 58. Ebd., S. 64. Vgl. Schmitt: Perrenial Philosophy, S. 530. Leibniz: Theodizee, S. 368. Vgl. Bayle: Reponse aux Questions d’un Provincial, S. 1030. Leibniz argumentiert hinsichtlich King vergleichbar mit Leclercs Argumentation zugunsten Cudworths, wenn er Bayle des Missverstehens der Kingschen Ausführungen bezichtigt. Vgl.: „Es ist schade, dass Herr Bayle nur die in Zeitschriften erschienenen Rezensionen dieses schönen Werkes eingesehen hat, denn wenn er es selbst gelesen und richtig geprüft hätte, so hätte er uns eine schöne Gelegenheit gegeben, mehrere Schwierigkeiten aufzuklären, die wieder und wieder entstehen wie die Köpfe der Hydra, und zwar bei einem Gegenstande, bei dem man sich erhitzen kann, wenn man nicht das ganze System vor Augen hat und sich nicht der Mühe unterzieht, es mit aller Genauigkeit zu beurteilen“ (Leibniz: Theodizee, S. 441). 167 Leibniz: Theodizee, S. 368. Vgl.: „In order to give the Reader a better view of what has been said already, we must conceive this whole World as one System, whereof all particular things
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Auch King führt wie Leibniz die Idee der besten aller möglichen Welten ein. Leibniz schreibt: Er [King] beschließt endlich dieses Kapitel mit der gebührlichen Bemerkung, als Gott die Welt schuf, da sei er darauf bedacht gewesen, die Dinge aufs Beste für einander einzurichten, ihr die größte Bequemlichkeit für die mit Gefühl begabten Wesen und die größte Harmonie der Triebe zu verleihen, welche eine unendliche Allmacht, Weisheit und Güte vereint erzeugen konnte.168
So muss Leibniz anerkennen, dass hinsichtlich der Grundlegung seiner Theodizee schon andere vergleichbare Ideen ausgeführt hatten. Auch darin kann man eine Begründung für Leibniz’ vehemente Abgrenzung gegen den Freiheitsbegriff Kings und gegen den Cudworthschen Vitalismus sehen. 5.3.4 Ausblick: Shaftesbury Leibniz schreibt in seiner Kritik der Charakteristicks, dem Hauptwerk Shaftesburys: „Ich habe hier [in den ‚Moralists‘] v.a. fast meine gesamte Theodizee gefunden, doch angenehmer geformt“.169 Weiter heißt es: „Wäre mir dieses Werk vor der Veröffentlichung meiner Theodizee unter die Augen gekommen, so hätte ich Nutzen daraus gezogen, wie es sich gehört, und ich hätte größere Passagen daraus entliehen“.170 Es scheint also keinerlei unmittelbares Rezeptionsverhältnis zwischen der Leibnizschen und der Shaftesburyschen Variante des Theodizeeproblems gegeben zu haben, wohl aber, bei aller Differenz, gemeinsame Lösungsansätze. Beide dachten in Auseinandersetzung und mit Bezug auf die Gedanken der Cambridge Platonists. So schreibt Josef Kremer: Anthony Ashley Cooper, Earl of Shaftesbury (1671–1713), der liebenswürdigste und vielleicht einflussreichste Schriftsteller seiner Zeit, war in seiner Abneigung gegen scholastische und metaphysische Spekulationen und seiner Skepsis, mit der er ihre Fallstricke zu umgehen suchte, mit Locke einverstanden, zog aber dennoch die Konsequenzen aus dem Platonismus Cudworths für die Ethik und die Theodizee.171
Der Theodizeeentwurf des dritten Earl von Shaftesbury in der Rhapsodie Die Moralisten von 1709 hat, wie die Schriften Cudworths, Kings und Leibniz’, eine dem Menschen übergeordnete Perspektive auf die Welt eingenommen und wie sie die are the parts and Members, and every one has its place and office, as Members have in our own Body or the Rafters in a House, the Doors, Windows, Chambers and Closets: Neither is there any thing useless or superfluous in the whole: and in order to unite alle more closely together, nothing is self-sufficient, but as it is qualified to help others, so it stands in need of the help of others for its more commodious Subsistence“ (King: Essay on the Origin of Evil, S. 142). 168 Leibniz: Theodizee, S. 448f. Vgl. King: Essay on the Origin of Evil, S. 143. 169 Zit. nach Ludwig von Bar: Die Philosophie Shaftesburys im Gefüge der mundanen Vernunft der frühen Neuzeit. Würzburg 2007, S. IX. Vgl. auch Mark-Georg Dehrmann: Das „Orakel der Deisten“. Shaftesbury und die deutsche Aufklärung. Göttingen 2008, S. 45–58. 170 Ebd., S. IX. 171 Kremer: Problem der Theodicee, S. 78.
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Teil-Ganze-Relation zur Grundlage seiner Ausführungen gemacht.172 Die Welt erfährt also auch im Kontext der Theodizee eine Aufwertung. Der Mensch reiht sich ein, ordnet sich der Welt unter. Muss doch die Welt schön sein, um Gott als gut begreiflich zu machen. Im Inquiry formuliert Shaftesbury, dass in einem theistischen Weltbild davon ausgegangen wird, dass jedes Ding von einem notwendig guten und ewigen, einem planenden Prinzip zum Besten regiert wird.173 So ist in der Gesamtheit aller Dinge, im Universum alles gut geordnet und jedes Ding ist dem Allgemeininteresse möglichst angemessen. Dann kann es auch kein Übel im Universum geben, jedenfalls nicht im Hinblick auf das Ganze.174 Allerdings lässt sich im Gegensatz zum Leibnizschen Zweckoptimismus mit Lemp hinsichtlich der Shaftesburyschen Geisteshaltung formulieren, dass sein Optimismus unmittelbar aus seiner Persönlichkeit erwächst. Der Ausgangspunkt von Shaftesburys Theodizee ist eine ästhetisch-idealistische Würdigung der konkreten Wirklichkeit, in der er steht.175 Jedoch schränkt Shaftesbury ähnlich wie Leibniz das bestimmende Gute in der Welt dahingehend ein, dass es durchaus nicht vermeidbares Übel gibt. Er schreibt: „Was immer also so beschaffen ist, dass es wirklich nicht besser sein oder angeordnet sein könnte, ist vollendet gut“.176 Somit prägt Shaftesbury wie Leibniz die Vorstellung der besten aller möglichen Welten. Auch hier regiert das Prinzip der Fülle, wenn Shaftesbury Theokles sagen lässt: „Denn alles, was im Ganzen möglich ist, wird die Natur oder der Geist des Ganzen zum Wohl des Ganzen ausführen; und wenn es möglich ist, das Schlechte auszuschließen, so wird er es ausschließen“.177 Anders als Leibniz rezipiert Shaftesbury von den Denkvorlagen der Cambridge Platonists weniger die rationalistische Ausdeutung Gottes, sondern macht vielmehr die Standpunktgebundenheit der Weltbetrachtung geltend. Kremer deutet schon 1909 auf diesen Punkt hin: „Er [Shaftesbury; I.K.] erkennt, dass der Fehler der mechanistischen Weltauffassung schon in ihren Voraussetzungen liegt“.178 Wer den Menschen nämlich wie eine Uhr untersuche, würde niemals den ganzen Menschen betrachten. Shaftesbury sah den Geist des Menschen nicht ausschließlich durch rationale Erkenntniskräfte ausgezeichnet, sondern erkannte ihm darüber hinaus ein Gespür für Harmonie zu. Dieser angeborene Sinn für Harmonie und Proportion befähige den Menschen, die Harmonie und Wohlgestimmtheit der Welt zu erkennen. Der berühmte Naturhymnus dieser Schrift beginnt mit Theokles’ enthusiastischem Ausruf: „Oh herrliche Natur! Unvergleichlich schön und unüber172 173 174 175 176 177 178
Vgl. Shaftesbury: Moralisten. Bd. II/3, S. 166–337. Vgl. Shaftesbury: Untersuchung. SE II/3, S. 49. Vgl. ebd., S. 47. Vgl. Lemp: Problem der Theodicee, S. 82f. Shaftesbury: Untersuchung, SE II/3, S. 47. Shaftesbury: Moralisten, SE II/3, S. 286. Kremer: Problem der Theodicee, S. 87.
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trefflich gut! All-liebend und all-lieblich, all-göttlich!“179 In einer solchen Stimmungslage stellt sich die Frage nach dem Übel in der Welt nicht, sie ermöglicht es der Vernunft darüber hinaus, sich einer ästhetischen Weltbetrachtung anzunähern, wird doch hier der ganze Mensch zum Resonanzboden für die Schönheit der Welt, die wiederum auf ihren Schöpfer verweist, so die Argumentation Shaftesburys. Rationale Wissensansprüche müssen in diesem Gedankengang nicht auf Gott ausgedehnt werden, Gott ist beinahe sinnlich in den harmonisch geordneten Naturzusammenhängen zu erfahren. So macht Shaftesbury eine ganz anders gelagerte Interpretationsmöglichkeit der Cambridger Auseinandersetzung mit dem Theodizeeproblem stark: Die Welt kann nur als schön erkannt werden, wenn der Mensch zum Resonanzboden für Schönheit wird. Diese Eingestimmtheit des Menschen hat auch eine deutlich moralische Komponente, sowohl bei Shaftesbury als auch bei den Cambridge Platonists, was im letzten Kapitel ausgeführt wird.
5.4 Fazit Es wurde gezeigt, dass mit dem naturwissenschaftlichen Weltdeutungsparadigma und der Emanzipation der Vernunft, deren Fallstricke von Bayle kritisch reflektiert worden waren, das Theodizee-Problem am Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts an Schärfe gewann. So konnte in keinem der groß angelegten Weltbeschreibungsversuche der Jahrhundertwende die Auseinandersetzung mit der Theodizeefrage fehlen. Die Antworten auf diese Frage fielen allerdings bei Shaftesbury und Leibniz vollkommen unterschiedlich aus, obwohl sich beide auf den Theodizeeversuch Cudworths bezogen und den Lösungsansatz über das TeilGanze-Verhältnis aufgriffen. Die Konsequenzen aus der Kritik Bayles an Cudworth wurden jedoch von beiden in anderer Weise gezogen: So versuchte Leibniz den Gottes- und Weltbegriff noch stärker zu rationalisieren, während Shaftesbury eine im ästhetischen Empfinden des Subjekts verankerte Weltbegeisterung hervorzurufen suchte.
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Shaftesbury: Moralisten, SE II/3, S. 273.
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Der Moral Sense
„Es ist im wesentlichen Shaftesburys Verdienst, dass die Schule von Cambridge keine gelehrte Kuriosität geblieben, dass sie zur philosophischen Macht geworden ist, die in die folgenden Jahrhunderte hineinragt“,1 schreibt Ernst Cassirer in seiner Studie zum Cambridger Platonismus. Im Folgenden soll der so angedeutete Stellenwert, der Shaftesbury im Zusammenhang mit der Rezeption der Cambridge Platonists zukommt, dargestellt werden, ohne deshalb aber die Cambridge Platonists als „gelehrte Kuriosität“ handeln zu müssen. Dabei spielt Shaftesburys Abgrenzung von Locke eine besondere Rolle, da sich diese im positiven Rückgriff auf das Denken der Cambridge Platonists vollzieht. So ist schon an dieser Stelle das Verhältnis von Shaftesbury und den Vertretern des Cambridger Platonismus kein gerades, ungebrochenes, sondern gleichsam verzahnt mit der Abwehr des trotz aller Kritik viel geschätzten Lehrers. Maßgeblicher Topos bei der Beschreibung dieses Rezeptionsverhältnis ist neben der plastischen Natur v.a. der Moral Sense. So bezeichnet Wolff Shaftesburys Umgang mit der Tradition philosophischer Spekulation als „imaginativ umgestaltendes Denken“, da sein Hauptanliegen nicht die Vermehrung metaphysischer Erkenntnisse gewesen sei. Die philosophische Tradition würde bei Shaftesbury vielmehr durch den Blick des Moralisten gebrochen.2 Im Folgenden erfolgt zuerst eine biographische Annäherung an Shaftesbury, dessen Positionsnahmen schon in Kapitel Drei im Hinblick auf die Frage nach den innate ideas und im letzten Kapitel bezüglich der Theodizee begegneten. Daraufhin ist Shaftesburys Umgang mit der Figur der plastischen Natur zu entfalten, bevor von dort aus Shaftesburys Ethikverständnis darzustellen ist.
6.1 Zur Person: Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury „Philosophie und Leben bilden für Shaftesbury eine unverbrüchliche Einheit“,3 schreibt Angelika Baum und macht so deutlich, dass es gilt, besonders die intellektuelle Biographie Shaftesburys nachzuzeichnen. Shaftesburys Denken ist ein vielschichtiges Agglomerat stoischer und neuplatonischer Philosopheme, wie sie in 1 2 3
Ernst Cassirer: Die Platonische Renaissance und die Schule von Cambridge. Leipzig, Berlin 1932, S. 112. Vgl. Erwin Wolff: Shaftesbury und seine Bedeutung für die Englische Literatur des 18. Jahrhunderts. Tübingen 1960, S. 11. Baum: Selbstgefühl, S. 33.
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der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts im Kontext der rationalen Theologie der Latitudinarier zu neuer Bedeutung gelangten. So kommt neben Sokrates und Aristoteles v.a. den stoischen Weisheitslehren eine zentrale Rolle zu. Zu nennen sind Epiktet, Cicero und Marc Aurel, auch Plinus und der stoisch gelesene Horaz sind von Bedeutung, weniger allerdings Seneca.4 Seine frühe Prägung durch die antiken Dichter und Philosophen verdankte Shaftesbury seinem Erzieher Locke. Shaftesbury war „vielleicht der einzige englische Denker des 18. Jahrhunderts, dem die Antike noch eine wirkliche geistige Gegenwart bedeutete“,5 schreibt Cassirer. Shaftesbury absolvierte allerdings kein universitäres Studium.6 In Shaftesburys Bibliothek findet sich kein Exemplar der Enneaden, weshalb Uehlein gegen Cassirer zeigt, dass sich kein direkter Bezug auf Plotin nachweisen lasse.7 Hier soll mit Angelica Baum argumentiert werden, dass Shaftesbury die neuplatonischen Gedanken über die heterogenen Traditionen der Renaissance und besonders der Cambridge Platonists aufgenommen hat. Zu den wichtigen gemeinsamen Grundgedanken von Cambridger Platonismus und Shaftesbury zählen die Deutung der lebendigen Natur als ein sich selbst entfaltender Organismus, die Vorstellung der Abbildlichkeit des Schönen, der Begriff der inneren Form sowie die Auffassung des Selbst als einer einheitsbildenen Kraft.8 Shaftesburys Neuplatonismus kann mit Uehlein allerdings mehr als „anempfunden“,9 denn als eine erkennbare Struktur beschrieben werden, ist Shaftesburys Erkenntnisinteresse doch nicht in erster Linie die Metaphysik gewesen, sondern die Ethik. So erklärt sich auch der recht laxe und eigensinnige Umgang mit Denktopoi der Tradition. Zudem hatten schon die Cambridge Platonists aus der heterogenen Tradition des Neuplatonismus die Lehre des inneren Sinns und der plastischen Naturen für die Ethik fruchtbar gemacht. 1698 bis 1699 hielt sich Shaftesbury aus privaten und politischen Gründen in Rotterdam auf. Hier entstand die inspirierende Freundschaft zu Bayle. 1703 bis 1704 befand sich Shaftesbury abermals aufgrund eines Lungenleidens in Rotterdam. Holland wurde für Shaftesbury darüber hinaus zu einer Zuflucht vor den 4
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Vgl. zur Stoa Max Pohlenz: Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung. 2 Bde. Göttingen 1948/49; Maximilian Forschner: Die stoische Ethik. Über den Zusammenhang von Natur-, Sprach- und Moralphilosophie im altstoischen System. Stuttgart 1981 und Ders.: Über natürliche Neigungen. Die Stoa als Inspirationsquelle der Aufklärung. In: Rüdiger Bubner, Burkhard Gladigow u. Walter Haug (Hg.): Die Trennung von Natur und Geist. München 1990, S. 93– 117. Ernst Cassirer: Shaftesbury und die Renaissance des Platonismus in England. In: Vorträge der Bibliothek Warburg 1930/31 – England und die Antike. Leipzig, Berlin 1932, S. 136–155, hier S. 141. Vgl. Rivers: Reason, Grace, and Sentiment, Bd. II, S. 91. Vgl. auch Horst Meyer: Ex libris Shaftesbury: Die Bibliothek eines europäischen Aufklärers. In: Wolfenbüttler Forschungen II. Bremen 1977, S. 75–90. Vgl. Baum: Selbstgefühl, S. 100. Friedrich A. Uehlein: Kosmos und Subjektivität. Lord Shaftesburys Philosophical Regimen. München 1976, S. 11.
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Verpflichtungen eines öffentlichen Lebens. Er lernte hier die Freunde Lockes kennen: Leclerc, Bayle, Pierre Dez Maizaux und Pierre Coste. So ergab es sich, dass Coste und Leclerc Shaftesburys Werke auf dem Kontinent publizierten, wie schon jene seines Lehrers Locke. Weiterhin übersetzte Coste den Sensus Communis und gab an Leibniz eine Kopie der Characteristicks weiter. Leclerc hatte 1688 Lockes Essay auszugsweise in der Bibliothèque universelle veröffentlicht, später publizierte er „very favourable French summaries and reviews“10 der Characteristicks in der Bibliothèque choisie.11 Pierre Dez Maizeaux (1673–1745) wiederum kannte Shaftesbury durch Bayle. Dez Maizeaux übersetzte 1701 Teile der ersten Version des Inquiry ins Französische und gab diese im Journal des Scavans heraus. Er veröffentlichte ebenfalls Leibniz’ überschwängliche Kritik der Characteristicks.12 Shaftesbury wiederum förderte Leclerc und Limborch mit einer jährlichen Unterstützung. Darüber hinaus verband Leclerc und Shaftesbury die gemeinsame Begeisterung für das antike Griechenland. Sein Großvater, der 1683 im Exil verstorbene erste Earl von Shaftesbury, war zeitlebens Vorbild. Shaftesburys Verhältnis zu Locke war hingegen von tiefer Ambiguität gezeichnet. Lockes Erziehungsschrift lagen die Erfahrungen mit dem jungen Shaftesbury zugrunde. Er geht hier von den natürlichen Anlagen und von der Vernunftnatur des Kindes aus. In der Conclusio gab Locke zu, er habe sich als Erzieher irrtümlich von der Vorstellung leiten lassen, dass ein Kind wie ein leeres Blatt Papier beschrieben werden könne. Diesem Werk wie auch Lockes Ausführungen zum Naturrecht galten auch nach dem Bruch mit Locke Shaftesburys volle Wertschätzung, Shaftesbury nahm in seinen Ausführungen zum Naturzustand ausdrücklich auf sie Bezug.13 Mit Locke brach das philosophische Gespräch 1694 ab. Shaftesbury hatte seine Differenz zu Lockes Lehre, die Cassirer als Unterschied in der „Denkgesinnung“14 beschreibt, jedoch nie öffentlich dargelegt. Nur in Briefen nach dem Tode Lockes 1704 ließ er die Kritik an der Philosophie des sonst so verehrten Mannes laut werden, so beispielsweise in dem Brief an Michael Ainsworth vom 03.06.1709, indem er Lockes Erkenntnislehre aus ethischer Perspektive kritisiert. Stein des Anstoßes
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Rivers: Reason, Grace, and Sentiment, Bd. II, S. 97. Vgl. Dehrmann: Orakel, S. 34–45. Vgl. Anthony Ashley Cooper, third Earl of Shaftesbury: Standard Edition. Sämtliche Werke, ausgewählte Briefe und nachgelassene Schriften. Hg., übers. u. komm. v. Wolfram Benda, Wolfgang Lottes, Friedrich Uehlein u.a., Bd. II,3. Stuttgart 1998, S. 9ff. Zu Dez Maizeaux vgl. außerdem Joseph Almagor: Pierre Des Maizeaux (1673–1745), Journalist and English Correspondent for Franco-Dutch Periodicals (1700–1720). Amsterdam 1989. Vgl. Shaftesbury: Brief an Ainsworth vom 03.06.1709. In: SE II/4, S. 402–407, hier S. 402. Vgl. auch John Locke: The Second Treatise of Government, and A Letter concerning Toleration. New York 2002 und Locke: Some Thoughts Concerning Education. Cassirer: Cambridge, S. 134.
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an Locke ist dessen Definition der Erfahrung in der Einleitung zum zweiten Buch des Essays mit dem Begriff der tabula rasa.15 Benda schreibt, dass sich „mit einigem Recht“ behaupten ließe, dass Shaftesburys frühe Verteidigung der Lehre von den angeborenen Ideen gegen die Lockesche Kritik und die in dieser Verteidigung bereits angelegte grundsätzliche Ablehnung des erkenntnistheoretisch begründeten Sensualismus und Empirismus zu den Leitmotiven des Shaftesburyschen Denken gehören.16
In den veröffentlichten Schriften lässt sich nur unterschwellig ein kritischer Bezug zu Locke ausmachen.17 Cassirer zufolge habe Shaftesbury „durch die Denker des Cambridger Kreises von früh an entscheidende geistige Einwirkungen erfahren“ und „sich ihnen durch sein ganzes Leben hindurch nahe verbunden gefühlt“.18 Der erste Earl und John Locke hatten Whichcote vermutlich schon Ende der 1660er Jahre, als Whichcote nach London kam, im Hause des Londoner Kaufmanns Thomas Firmin (1632– 1697) kennengelernt. Locke hatte Whichcote mehrere Male in London gehört und schätzte seine Predigten v.a. wegen ihres ethischen Gehalts. „Die Kontakte zu Whichcote und Cudworth, die der erste Earl und sein Sekretär John Locke pflegten, dürften unter diesen Umständen für Shaftesbury bereits einer Empfehlung der Cambridge Platonists gleichgekommen sein“,19 urteilt Grossklaus. Allerdings ist es Grossklaus zufolge unwahrscheinlich, dass der junge Anthony Ashley Cooper die Cambridger Theologen noch persönlich kennengelernt hat.20 Shaftesbury verband eine herzliche Beziehung mit Margareth Dowager, der dritten Frau seines Großvaters, ihr verdankte er möglicherweise die Kenntnis der Predigten Whichcotes, deren Studium von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Abwendung von Locke nach 1698 war.21 In den 1690er Jahren wendete sich Shaftesbury intensiv den Cambridge Platonists zu, v.a. den Schriften von Ralph Cudworth. Grossklaus vermutet, dass Cudworths Kontakt zu Limborch Shaftesbury zu einer – durchaus nicht ungerechtfertigten – Identifizierung Cudworths mit diesem liberalen Arminianismus veran-
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Vgl. Shaftesbury: Brief an Ainsworth. SE II/4, S. 403–406. Vgl. auch Rand: The Life, S. 403f. Wolfram Benda: Der Philosoph als literarischer Künstler. Esoterische und satirische Elemente bei Lord Shaftesbury, unter besonderer Berücksichtigung von „Soliloqui, or Advice to an Author“. Diss. Erlangen-Nürnberg 1982, S. 185. Vgl.: „In anderen Schriften muss sie in dem bewusst anders angesetzten […] Gedankengang als Implikation mitgelesen werden“. Und vgl. Cassirer: Cambridge, S. 132: „Und es ist von besonderer Bedeutung, dass er sich hierbei auch gegen seinen Lehrer und Erzieher wendet – dass er die Ethik der Schule von Cambridge vor derjenigen Lockes rückhaltlos den Vorzug gibt“ (Uehlein: Kosmos und Subjektivität, S. 24). Cassirer: Cambridge, S. 112. Grossklaus: Natürliche Religion, S. 76. Vgl. ebd., S. 73. Vgl. Baum: Selbstgefühl, S. 50.
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lasst haben mag.22 Shaftesbury verband außerdem eine langjährige Freundschaft mit Damaris Cudworth, der Nachlassverwalterin von Ralph Cudworth und der Biographin Lockes.23 Durch sie erhielt Shaftesbury vermutlich auch Zugang zu den damals noch unveröffentlichten Schriften ihres Vaters (Cudworth Papers). Erst 1709 schloss Shaftesbury eine standesgemäße Ehe mit Jane Ewer, aus der ein Sohn hervorging, zuvor war Shaftesbury aus Liebe mit Anne Vaughan verheiratet. 1713 starb Shaftesbury in Neapel. Für dieses Kapitel sind neben den Select Sermons Shaftesburys Inquiry concerning Vertue, or Merit und The Moralists. A Philosophical Rhapsody being a Recital of certain Conversations on Natural and Moral Subjects, die beide in den Characteristicks enthalten sind, von Bedeutung. Der Begriff ,Rhapsodie‘, den Shaftesbury im Titel der Moralistenschrift verwendet, war im 17. und 18. Jahrhundert pejorativ besetzt. Er bezeichnet ein Flickwerk, einen Text ohne Ordnung. Nach dem Inquiry wird mit diesem Titel formal das Gegenteil angekündigt, doch die sorgfältige Gliederung der Moralists spricht dagegen. Auch entbehrt der Inquiry der stringenten Logik, die die Form vortäuscht. Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Rhapsodie scheint hier passender zu sein, epic poem. Patrick Rogers vertritt die These, dass Shaftesbury den Begriff erstmals im modernen Sinn gebraucht habe, d.h. ihn positiv umakzentuiert hat.24 Im Rahmen einer Rhapsodie wird die Versöhnung von philosophisch-systematischem Denken und poetischer Sprache möglich. Die Inquiry wurde erstmals 1699, während sich Shaftesbury wegen seines schlechten Gesundheitszustandes in Holland aufhielt, in einer Fassung, die noch unter dem deutlichen Einfluss von Locke stand,25 von John Toland, der auch später unautorisiert die Privatkorrespondenz von Lady Shaftesbury herausgegab, in London ohne die Autorisierung Shaftesburys veröffentlicht. Für die dreibändige Gesamtausgabe von 1711, den Characteristicks of Men, Manners, Opinios, Times, überarbeitete Shaftesbury die Inquiry grundlegend. Wie alle vorherigen Schriften ließ Shaftesbury auch diese Edition zuerst anonym erscheinen, Benda wertet dies als literarische Konvention der Zeit wie auch als Schutzmaßnahme.26 Die Anordnung der Texte in den Characteristicks entspricht nicht der Reihenfolge ihrer Entstehung, der zweite Band mit dem Inquiry und den Moralists bildet das philosophische Hauptstück, der erste Band ist vorbereitender und hinführender Natur, der dritte Band kommentiert die vorausgehenden in Form der Miscellanious Reflections, wobei Shaftesbury vorgibt, hier habe ein anderer Autor die Feder geführt. Die überarbeitete Edition der Characteristicks von 1714 enthielt Shaftesburys Verbesserungen, von ihm in Auftrag gegebene Illustrationen, wurde von einem 22 23 24 25 26
Vgl. Grossklaus: Natürliche Religion, S. 78. Vgl. Robert Voitle: The Third Earl of Shaftesbury 1671–1713. Baton Rouge 1984, S. 20. Patrick Rogers: Shaftesbury and the aesthetics of rhapsody. In: British Journal of Aesthetics 12 (1972), S. 244–257, hier S. 249f. Vgl. Baum: Selbstgefühl, S. 32. Benda: Philosoph als literarischer Künstler, S. 96.
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Titelportrait geschmückt und trug seinen Namen. Diese Ausgabe stellte die Basis dar für die vielen nachfolgenden Editionen des 18. Jahrhunderts.
6.2 Shaftesbury zur Frage der plastischen Natur Im März 1706 schrieb Shaftesbury an Leclerc, um sich für den achten Band der Bibliothèque Choisie zu bedanken, den jener ihm zugesandt hatte. Der Band enthielt zum wiederholten Male Teile aus dem True Intellectual System, die Leclerc ins Französische übersetzt hatte. Shaftesbury verfolgte mit Interesse die Publikation des True Intellectual System und die sich daran entzündende Debatte.27 Dies schlug sich auch im Werk Shaftesburys nieder. So enthält The Moralists von 1709 ausführliche Passagen zur Metaphysik, die die Version von 1704, noch unter dem Titel The Sociable Enthusist, noch nicht aufweist. Hinsichtlich dieser Zusätze ist eine „gedankliche und begriffliche Nähe“28 zum True Intellectual System auszumachen, so dass es wahrscheinlich ist, dass sich Shaftesbury nach 1704 anlässlich der Debatte zwischen Bayle und Leclerc noch einmal eingehend mit dem True Intellectual System beschäftigt hat. Dies zeigt sich auch daran, dass Shaftesbury erst in den Moralists die Nützlichkeit einer plastischen Natur zur Lösung des Theodizeeproblems diskutiert. Palemon klagt gegenüber Philokles die Natur wegen zahlreicher Ungereimtheiten an, sie sei Schuld am Elend des Menschen. Philokles lokalisiert den Misstand nicht in einem einzigen Teil und leitet so schon hin zur späteren Auflösung des Theodizeeproblems in einem übergeordneten Harmoniebegriff. Shaftesbury lässt Philokles sagen: „Vergnügen und Schmerz, Schönheit und Hässlichkeit, Gutes und Schlechtes schienen mir allenthalben ineinander verwoben, und das eine ergab mit dem anderen, meinte ich, eine hübsche Mischung, die im ganzen genommen doch recht annehmbar war“.29 Palemon möchte nun Prometheus als Werkmeister des Menschen heranziehen, um die höheren Mächte von jeder Verantwortung an der schlechten Arbeit loszusprechen. Philokles, der in der Forschungsliteratur auch mit Bayle identifiziert wird,30 argumentiert wie dieser, wenn er entgegnet, dass die Götter entweder Pro27
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Grossklaus: Natürliche Religion, S. 104. Vgl. Rex A. Barrel: Anthony Ashley Cooper, Earl of Shaftesbury (1671–1713) and ‚Le Refuge Francais‘ – Correspondence, Studies in British History 15. Lewiston 1989. Grossklaus: Natürliche Religion, S. 135. Shaftesbury: Moralisten. SE II/3, S. 177. So z.B. Christian Friedrich Weiser: Shaftesbury und das deutsche Gelehrtenleben. Leipzig, Berlin 1916. Anders Alexander Pope, der in Philokles Shaftesburys eigene Position wieder findet. Brett und Aldridge sehen hingegen Shaftesburys Position durch Theokles gespiegelt. Vgl. Raymond Laurence Brett: The Third Earl of Shaftesbury. A Study in Eighteenth Century Literary Theory. London 1951 und Adridge: Shaftesbury and the Deist Manifesto. In: Transactions of the American Philosophical Society 41 (1951), S. 295–385. Wolff folgend könne niemand
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metheus’ Schöpfung verhindern konnten, und somit für die Folgen verantwortlich, oder sie konnten es nicht, dann sind sie keine Götter. Dann heißt es: „Und ob nun Prometheus ein Name für Zufall, Schicksal, eine bildende Natur oder einen bösen Dämon sei: was immer damit bezeichnet sei, bleibt es doch stets derselbe Bruch der Allmacht“.31 Diese Argumentation findet sich schon, wenn auch in verkürzter Form, im Sociable Enthusiast allerdings ohne den Begriff bildende Natur – plastic nature.32 Shaftesbury kann also, die Baylesche Kritik ernst nehmend, das Theodizeeproblem nicht mehr im Begriff der plastischen Natur auflösen. Allerdings bleibt, wie das vorherige Kapitel bereits zeigte, der im Folgenden auszuführende Naturbegriff im Hinblick auf die beste aller möglichen Welten zentral.
6.3 Shaftesburys emphatischer Naturbegriff Im Folgenden soll dieser Begriff von Natur näher betrachtet werden, um zu zeigen, dass Shaftesbury in seinem emphatischen Naturverständnis an den plastischen Naturbegriff der Cambridge Platonists anknüpft. Shaftesburys Naturbegriff zeigt
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herausfinden, welche Figur der Autor sei. Meyer hält dem entgegen, textgenetisch belegen zu können, dass alle Textbausteine aus Shaftesburys Askemata Theokles in den Mund gelegt worden seien. Meyer hält Philokles für das kleinere Ich des Autors. Vgl. Horst Meyer: Limae Labor. Untersuchungen zur Textgenese und Druckgeschichte von Shaftesburys The Moralists. Frankfurt a.M., Bern 1978, S. 246. Theokles vertritt Grossklaus zufolge in The Moralists eindeutig die Thesen Cudworths, aber durch die „literarische Rahmung“ „in eine doppelte Entfernung gerückt“ (Grossklaus: Natürliche Religion, S. 115). Die Figur des Philokles ist in Sociable Enthusiast nur schwach konturiert. Die Veränderung in der zweiten Fassung bedeutet jedoch nicht die Stärkung eines bestimmten inhaltlichen Standpunktes, weil der Skeptiker verschiedene Meinungen vertritt. In erster Linie folgt daraus eine Erweiterung der selbstreflexiven Passagen des Textes, so Schmidt-Haberkamp. Vgl. Barbara Schmidt-Haberkamp: Die Kunst der Kritik. Zum Zusammenhang von Ethik und Ästhetik bei Shaftesbury. München 2000. Der durch Philokles vertretende Skeptizismus wird von Theokles nicht per se abgelehnt, sondern dient als entscheidende Basis für das gemeinsame Gespräch. Indem Shaftesbury das Gespräch aus Sicht des Skeptikers nacherzählen lässt, wird Theokles’ Dominanz innerhalb des Dialogs subtil gebrochen (Vgl. Alexandra Kleihues: Der Dialog als Form. Analysen zu Shaftesbury, Diderot, Madam d’Epinay und Voltaire. Würzburg 2002, S. 95). Palemon sei die stoische, Philokles die epikureische und Theokles die neuplatonische Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Tugend und Glück. Palemon ist charakterisiert durch seinen Rückzug aus der Gesellschaft, die Anklage des prometheischen Geschlechts, die Aufforderung zur Askese und die Erforschung des Selbst. Er verkörpert die Liebe zum Freund und zum Vaterland. Philokles zeichnet sich durch das zugleich skeptische Beharren auf der Realität der Dinge und des innerweltlichen Glücks aus. Seine Liebe ist eine sinnliche und bezieht sich auf den Einzelnen und auf das schöne Geschlecht. Theokles vertritt das Verständnis des Naturschönen und den ästhetischen Enthusiasmus, er ist der Titelheld der ersten Fassung, der sociable Enthusiast. Er steht für die freie Liebe, das interessenlose Wohlgefallen (Vgl. Baum: Selbstgefühl, S. 269). Die Gäste, der Dogmatiker und Fanatiker sind nach dem Vorbild zeitgenössischer Theologen gestaltet. Wegen ihrer untergeordneten Rollen sind sie nicht die eigentlichen Antagonisten des Dialogs. Sie sind vielmehr eine Gegenkraft, die die Basis des Dialogs zu erschüttern droht, sie bleiben Fremdkörper, so Kleihues: Dialog als Form, S. 95. Shaftesbury: Moralisten. SE II/3, S. 179. Shaftesbury: The Sociable Enthusiast. SE II/1, S. 50f.
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sich in den Topoi von Schönheit und Einheit, mit deren Hilfe er deshalb auch dargestellt werden soll. 6.3.1 Schönheit Für Shaftesbury wie für die Cambridge Platonists ist die Welt durch Schönheit geprägt. So greift Shaftesbury den Topos einer idyllischen Szenerie, wie er im Phaidros entwickelt wird, in den Moralists auf. Die Landschaft ist Sinnbild einer Versöhnung von Natur und Kultur, sie ist scheinbar unberührt, aber doch von unsichtbarer Hand gestaltet.33 Shaftesbury lässt Philokles in seiner Rede, in der er sich anschickt, den Hauptargumenten des Atheismus die Stirn zu bieten, von der „Schönheit der Welt“ sprechen, „die solcherart auf Gegensätze gegründet ist, indem aus solch verschiedenartigen und widersprüchlichen Prinzipien eine umfassende Harmonie erwächst“.34 Das Schöne ist bestimmt als Form oder als freie Gesetzmäßigkeit in Wiederaufnahme des stoischen Kosmosgedankens und der neuplatonischen Auffassung der Immanenz des Göttlichen: Symmetrie, Proportion und Harmonie sind die Topoi, die nicht, wie es der rationalistische Schönheitsbegriff verlangt, Regelmäßigkeit und Vollkommenheit meinen, sondern „einen inneren Sinnzusammenhang“.35 Allerdings ist Shaftesburys Naturbegeisterung, wie sie sich im Naturhymnus von Theokles niederschlägt, um einiges enthusiastischer als das Naturverständnis der Cambridge Platonists. Theokles ruft aus: „O herrliche Natur! Unvergleichlich schön und unübertrefflich gut! All-liebend und all-lieblich, all-göttlich!“36 Friedrich A. Uehlein kommentiert: „Natur und Gott werden nie gleichgesetzt, die Begriffe scheinen aber dasselbe zu meinen: das Prinzip des Ganzen. Von beiden wird ausgesagt, dass sie höchste Vernunft und Weisheit sind“.37 Er folgert: „Es ergibt 33 34 35 36
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Vgl. Baum: Selbstgefühl, S. 270. Shaftesbury: Moralisten. SE II/3, S. 186. Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. Hamburg 1998, S. 420. Shaftesbury: Moralisten. SE II/3, S. 273. Vgl. Herders Übersetzung von Shaftesburys Naturhymnus in: Johann Gottfried von Herder: Gott. Einige Gespräche über Spinoza’s System; nebst Shaftesburi’s Naturhymnus. Gotha 1800. Shaftesburys Hymnus ist demjenigen Naturhymnus von Kleanthes (stoischer Zeusmythos) nachempfunden, der der Stoa ein sympathetisches Band zwischen Gott und Natur beschreibt. Cudworth fügt diesen Hymnus seinen Ausführungen zur stoischen Theologie bei, vgl. Cudworth: True Intellectual System, S. 432ff. Vgl. dazu: „In The True Intellectual System sind in kaum entzifferbarer Weise neuplatonische und stoische Vorstellungen verwoben“ (Baum: Selbstgefühl, S. 120). Zum Verhältnis Shaftesburys zur Stoa vgl.: „His own moral position was in large part derived from the classical Stoics“ (Rivers: Reason, Grace, and Sentiment, Bd. II, S. 86). Jedoch verschleierte er seine Abhängigkeit von der Stoa (ebd., S. 94). Zu Shaftesburys Askemata, die als stoische Praxisbücher begriffen werden können, vgl. Lawrence E. Klein: Shaftesbury and the culture of politeness. Moral discourse and cultural politics in early eighteenth-century England. Cambridge 1984, S. 81– 101. Uehlein: Kosmos und Subjektivität, S. 81. Vgl. auch Shaftesbury: Moralisten. SE II/3, S. 278, wo es „göttliche Natur“, „unsere gemeinsame Mutter“ und „Genius der Natur“ heißt.
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sich ein schwebendes, unentschiedenes Verhältnis zwischen Gott und Natur“.38 Weiter heißt es im Hymnus: „O mächtige Natur! Weise Stellvertreterin der Vorsehung! Bevollmächtigte Schöpferin!“39 In diesem engen Band zwischen Gott und Natur spiegelt sich besonders im Topos der Stellvertreterin der Vorsehung die plastische Natur der Cambridge Platonists wider. Im Naturhymnus überlagern sich mystisches, wissenschaftliches und genuin ästhetisches Naturverständnis. Im Magnetfeld dieser Begeisterung wird jedoch weder dem Enthusiasten Theokles noch seinem Zuhörer die Fähigkeit zur vernünftigen Reflexion vollends entzogen. Die unterbrochene Hymne stellt damit das Ideal vollkommener Durchdringung von Dichtung und Argumentation, Inspiration und Reflexion dar.40 Enthusiastische Naturerfahrung vermittelt sich auf dem Wege enthusiastischer Kunstrezeption. Auf Theokles wirkt die Schönheit der Natur, während Philokles in erster Linie die Schönheit der poetischen Hymne erfährt. Die Dichtung der Hymne ist nicht zweckfrei, ihr Interesse liegt im philosophisch-moralischen Verstehen. Durch sie wird der Liebhaber profaner Genüsse zum Liebhaber einer höheren Schönheit erzogen. Analog zum Abbildungsverhältnis von Hymne und Natur steht die Schönheit der Natur in einem Abbildungsverhältnis zur göttlichen Schönheit. Theokles deklamiert: „[A]lles, was in der Natur schön und reizend ist, [ist] nur ein schwacher Schatten jener ersten Schönheit“.41 Die Gottheit ist „Quelle und […] Grund aller Schönheit und Vollkommenheit“.42 Gott ist im Sinn der Physikotheologie nur in seiner Schöpfung zu erkennen. „Dein Wesen ist grenzenlos, unerforschlich, undurchdringlich. An Deiner Unermesslichkeit scheitert alles Denken, versagt die Phantasie ihren Flug“.43 Jedoch sei der Mensch mit Verstand begabt und es sei die besondere Würde seiner Natur Gott zu erkennen. So bittet Theokles: „[S]ei Du [Gott, I.K.] mein Beistand und geleite mich bei diesem Unterfangen, da ich mich so in das Labyrinth der weiten Natur hineinwage und mich bemühe Dich in deinen Werken aufzuspüren“.44 Gegen diese geistige Durchdringung der Welt, die sich in einem Naturbegriff zeigt, der dem pantheistischen Begriff von Gott nahekommt, steht ein Einwand, der durch die Figur des Philokles geäußert und im Folgenden nicht entkräftet wird. Er entzündet sich an dem Axiom „Aus Nichts wird Nichts“, dem im True Intellectual System ein bedeutender systematischer Stellenwert zukommt. Philokles würde zustimmen, dass nichts Immaterielles aus der Materie entstehen könne. Allerdings nur, wenn auch ihm die Maxime „Aus Nichts wird Nichts“ bei der Schlussfolge38 39 40 41 42 43 44
Uehlein: Kosmos und Subjektivität, S. 81. Shaftesbury: Moralisten. SE II/3, S. 273. Vgl. Kleihues: Dialog als Form, S. 84. Shaftesbury: Moralisten. SE II/3, S. 306. Ebd., S. 273. Ebd. Ebd., S. 274.
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rung zugestanden würde, dass daraus die Verlegenheit entstehe, den Anfang der Materie zu beschreiben, „wenn beide Substanzen fein säuberlich geschieden und gesondert als verschiedene Arten betrachtet werden“.45 Shaftesbury lässt Philokles fortfahren: „Der armselige Abfall kläglicher Materie kann ebenso wenig aus der einfachen reinen Substanz des immateriellen Denkens gewonnen werden, als der hohe Geist von Denken oder Vernunft der groben Substanz schwerfälliger Materie extrahiert werden kann“.46 Shaftesbury weiß also um die Schwierigkeiten seines Naturbegriffs, der aus Perspektive des Cartesianismus weder Fisch noch Fleisch ist. Gleichzeitig besitzt Shaftesbury die Gelassenheit, diese Schwierigkeit selbst aufzuwerfen, ohne ihr argumentativ anders begegnen zu können, als darauf zu verweisen, dass sich in der erlebten Natur eine Einheit von Materie und Geist zeigt, die nicht übergangen werden kann, wenn man dem Lebendigen in der Natur gerecht werden will. 6.3.2 Einheit Die Schönheit der Natur erwächst aus ihrer harmonischen Einheit, die sich daraus ergibt, dass nichts in der Welt vereinzelt ist, sondern in einen notwendigen organischen Zusammenhang eingebettet ist. Theokles führt aus, dass kein Lebewesen, und „wäre es auch ein noch so vollständiges System von Teilen in sich selbst“,47 für autark nach außen gelten kann. Es muss in der Beziehung zum System seiner Gattung betrachtet werden, diese wiederum in Bezug auf das System der Lebewesen, dieses auf die Welt als Ganze bezogen. Theokles zufolge sind „alle Dinge auf dieser Welt […] miteinander vereinigt“.48 Dieser positiver Systembegriff als Einheit der Welt, als „Universal System“ nach Cudworth, wird von Shaftesbury als Metapher für das Zusammenhängen der Dinge, für ihren Sinnzusammenhang verwendet. Allerdings verwendet Shaftesbury den Systembegriff auch kritisch. Im Soliloquy formuliert er: „The most ingenious way of becoming foolish, is by a System“. Die Systemkritik richtet sich gegen die „Reduktion der Probleme der Metaphysik auf Probleme der Logik oder Mechanik“.49 Allerdings verwendet auch Shaftesbury positiv die Metapher der Maschine, um die Natur zu beschreiben.
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Ebd., S. 241. Ebd., S. 242. Ebd., S. 234. „Und wenn zugestanden wird, dass es in gleicher Weise ein System aller Dinge und eine universale Natur gibt, dann kann es kein einzelnes Wesen oder System geben, das nicht entweder gut oder böse in jenem allgemeinen System des Universums wäre. Denn sollte es auch nur belanglos oder ohne Nutzen sein, wäre es ein Fehler oder eine Unvollkommenheit und infolgedessen ein Übel in dem allgemeinen System“ (ebd.; vgl. Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury: Eine Untersuchung über Tugend und Verdienst. In: Ders.: SE II/3, S. 45–161, hier S. 54). Baum: Selbstgefühl, S. 59.
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Philokles spricht von der Natur als „eine von Gott regierte Maschine“,50 womit er versucht den geordneten, regelmäßigen Lauf der Dinge zu beschreiben, „Zyklen, feste Gesetzte und Abläufe, die wohlbemessen und ebenmäßig sind“.51 Baum folgert mit Verweis auf Shaftesburys Kritik an den Empiristen in den Moralists: „Er weist also mit dem System nicht die Vorstellung einer den Dingen innewohnenden Ordnung ab, sondern eine Weise, die Dinge der Ordnung durch die wissenschaftlich-experimentelle Vernunft zu unterwerfen“.52 Shaftesbury bindet das einzelne Lebewesen gleichsam in einen teleologischen Horizont ein, indem er von einer in der Natur jedes Lebewesens angelegten Zweckmäßigkeit und Perfektibilität ausgeht.53 Am Modell der organischen Natur zeigt Shaftesbury so die Vereinigung des Einzelnen mit Anderem. „Stamm, Zweig und Blatt implizieren Baum nicht als Summe einer fortschreitenden Addition, sondern als ihre lebendige Einheit.“54 Natur ist zum einen schöpferisches Prinzip – zur plastic nature –, zum anderen spielt der Naturbegriff auf eine empirische Ordnung der Dinge an und nimmt physiologische und klassifikatorische Ordnungsmuster auf. Das Verhältnis der gegenseitigen Eignung der einzelnen Teile für die entsprechenden weiteren Teile wie für das Ganze ist im Verständnis Shaftesburys Sympathie. Unter Sympathie ist Vereinigtsein zu verstehen, ein harmonisches Zusammenwirken.55 So ergibt sich die Identität oder Einheit eines jedem Lebendigen aus einer echten Beziehung zu sich selbst, einer Natur „kraft derer sie in jenem nahen Beieinander der Teile besser zusammenstimmen“,56 einer „Sympathie der Teile“,57 „ein solch offenkundiges Zusammenwirken zu einem gemeinsamen Zweck und zur Erhaltung, Ernährung und Fortpflanzung einer so schönen Form“.58 Die Quellen dieses Sympathiebegriffs sind ursprünglich stoisch. Neben Ciceros De natura deorum scheinen v.a. Marc Aurels Selbstbetrachtungen durch, wo sich immer wieder ein solch weit gefasster Sympathiebegriff durchscheint.59 Jedoch wird der Sympathiebegriff in dieser Form auch von More und Cudworth verwen50 51 52 53 54 55 56 57 58
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Shaftesbury: Moralisten. SE II/3, S. 268. Ebd. Baum: Selbstgefühl, S. 58. Vgl. Shaftesbury: Untersuchung. SE II/3, S. 51. Uehlein: Kosmos und Subjektivität, S. 54. Vgl. Rand: The Life, S. 17f. Shaftesbury: Moralisten. SE II/3, S. 275. Ebd. Ebd. Shaftesbury führt weiter aus: „Hierdurch ist unser Baum ein wirklicher Baum, lebt er, gedeiht er und ist er immer ein und derselbe, auch wenn durch Wuchs und Veränderung des Stoffes nicht ein einziges Teilchen in ihm dasselbe bleibt“ (ebd.). Vgl. Marc Aurel: Selbstbetrachtungen. Übers. u. hg. v. Roland Nitsche. Zürich 1948: „Was Teil eines Gemeinsamen ist, will das Verwandte“ (Kap. IX, Vers 9) (ebd., S. 148) u. „Alle Dinge sind durch ein heiliges Band miteinander verbunden. Kaum eines ist dem anderen fremd, denn sie bilden ja zusammen ein Ganzes und dienen zusammen der gleichen Ordnung der Welt“ (Kap. VII, Vers 9) (ebd., S. 98).
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det. Nach Cudworth knote eine „Vital Sympathy“60 Seele und Körper zusammen. So ist nicht auszumachen, ob Shaftesburys Sympathiebegriff eine direkte Rezeption stoischen Gedankenguts darstellt oder ob der Sympathiebegriff durch die Cambridge Platonists vermittelt worden ist. Das Prinzip der Einheit ist wie die Schönheit der Natur nicht rational erfassbar oder empirisch aufzuzeigen, sie sind einzig der Intuition bzw. dem antizipierenden Verstehen zugänglich. Dabei wird die Grenze von innen und außen aufgehoben, Wahrnehmung und Denken verbinden sich und es entsteht „das Moment einer Einheitserfahrung von Subjekt und Objekt“,61 was für das Shaftesburysche Moralverständnis zentral werden wird.
6.4
Aspekte des Weltverstehens: Die Moral
Natur- und Moralphilosophie greifen bei Shaftesbury ineinander. Wenn Shaftesbury an der Notwendigkeit der Vorstellung einer göttlichen Weltordnung für die Begründung der Moral festhält, so tut er das über sein Verständnis der Natur. In der Folge wird auch die Frage nach der Bedeutung von Religiosität bzw. Atheismus für die Moral virulent. Im Folgenden soll deshalb zuerst auf Shaftesburys Selbstinterpretation des Inquirys in den Moralists eingegangen werden, die sich mit der Frage der Relgiosität auseinandersetzt. Daraufhin soll ausgeführt werden, inwiefern Shaftesburys Ethikkonzept in seine Vorstellung von Natur verwoben ist. Abschließend gilt es, die Perspektive dahingehend zu verschieben, dass mit den Topoi des Selbst und des Moral Sense der Mensch als ethisch Handelnder in den Blick genommen werden kann. 6.4.1 Religion und Moral In dem Moralisten sieht sich Shaftesbury veranlasst, seine Untersuchung über die Tugend gegen den Vorwurf zu verteidigen, sie spiele dem Atheismus in die Hände.62 Während die anderen Werke Shaftesburys in den ersten beiden Bänden der Characteristicks nur indirekt aufeinander Bezug nehmen, indem sie Gedanken aus vorhergegangenen Schriften weiterverfolgen, unterhalten sich die Gesprächspartner in den Moralisten ausdrücklich über die Inquiry als Werk eines Freundes. „Shaftesbury formuliert damit eine Antwort auf die sokratische Schriftkritik, denn
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Cudworth: True Intellectual System, S. 160. Vgl. auch Leclerc: Article II. Vol. II. Tome I, S. 143/110, der „vital sympathy“ mit „rapport vital“ übersetzt. Baum: Selbstgefühl, S. 163. 1678 wurde die Atheism and Blasphemy Bill verabschiedet, die Atheismus mit dem Tod bestraft. Eine vorbehaltlose Debatte über Atheismus war nur im privaten Rahmen auf dem Lande möglich.
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er gibt dem ‚herrenlosen‘ Werk binnenfiktional einen Autor, oder wenigstens einen würdigen Stellvertreter zurück.“63 Die Verteidigung des eigenen Werks vollzieht sich mit Verweis auf Cudworths True Intellectual System, das in gleicher Weise dem Vorwurf des Atheismus ausgesetzt war. Shaftesbury lässt Philokles fragen: Wie erging es denn jenem frommen und gelehrten Mann, der Das intellektuelle System des Universums schrieb? Ich gebe es zu, es war recht amüsant anzusehen, wie er, obwohl die ganze Welt von seiner Aufrichtigkeit in der Sache der Gottheit wusste, dennoch beschuldigt wurde, den Atheisten Vorschub zu leisten, nur weil er ihre und ihrer Gegner Gründe unparteilich nebeneinander angeführt hatte.64
Ähnlich sei es „eine[r] gewisse[n] unparteiische[n] Untersuchung“,65 dem Inquiry Shaftesburys, ergangen, die ebenfalls als ein Ärgernis aufgenommen wurde. Theokles übernimmt nun die Verteidigung Shaftesburys, „der zu Unrecht wegen dieser philosophischen Freiheit getadelt wurde“.66 Wie Leclerc Cudworth verteidigte, schickt sich hier also Shaftesbury hinter der Maske des Theokles an, sein Werk dadurch zu verteidigen, dass der Gang der Argumentation wie seine Intention einsichtig gemacht wird. Im Inquiry habe Shaftesbury, so lässt dieser durch Theokles Verteidigungsrede mitteilen, die Tugend auf solche Grundsätze aufgebaut, die auch diejenigen einsehen können, die nicht an Gott oder ein künftiges Leben glaubten. Daraus ergibt sich für die Untersuchung zuerst eine Trennung von Moral und Religion, da die Tugend nach Shaftesbury unabhängig von der Religion zu betrachten sei. Im Inquiry hatte Shaftesbury seine Abhandlung nämlich mit der Feststellung beginnen lassen, dass „Religion und Tugend […] in manchen Beziehungen so nahe verwandt zu sein [scheinen], dass man gemeinhin von ihnen annimmt, sie seien untrennbare Gefährten“.67 Dieser Schein trüge jedoch, auch wenn ihre Verbindung für so selbstverständlich gehalten werde, dass es kaum erlaubt zu sein scheint, Tugend und Religion im Denken und Reden zu trennen. Jedoch halte diese allgemeine Annahme einer gründlichen Untersuchung nicht stand, die zeigen würde, dass es sowohl Menschen gibt, denen der Anschein großen Eifers in der Religion zu eigen ist, ihnen dabei aber die gewöhnlichen Gefühle der Menschlichkeit fehlten, als auch tugendhafte Atheisten.68
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Kleihues: Dialog als Form, S. 74. Shaftesbury: Moralisten. SE II/3, S. 219. Ebd., S. 220. Vgl. auch: „Unser Autor [Shaftesbury] hingegen, dessen Position nichts weiter ist als die eines Laien, bemüht sich Höflichkeit und Gefälligkeit zu zeigen, indem er an die Menschen dieser Art [gemeint sind die Atheisten] so unparteiliche Maßstäbe anlegt, wie es ihm nur irgend möglich ist, ihnen alles zugesteht, was er kann, und sogar über das Thema Gottheit mit vollkommener Unvoreingenommenheit disputiert“ (ebd., S. 222). Ebd., S. 220. Shaftesbury: Eine Untersuchung. SE II/3, S. 45. Vgl. ebd.
200
Nach Shaftesbury ist die Moral von entscheidenderer Bedeutung für das zwischenmenschliche Zusammenleben als die Religion, was ihn zu den in der Inquiry zu untersuchenden Fragen führt, was Tugend für sich betrachtet sei, inwieweit die Religion notwendigerweise die Tugend miteinschließe und ob ein Atheist jemals wirklich tugendhaft sein könne.69 Shaftesbury gesteht damit Moral und Religion „ihre eigene Provinz und ihren eigenen Rang“70 zu. Damit nimmt Shaftesbury eine Thematik auf, die vor ihm Bayle ausführlich im Kometenbuch diskutiert hatte. Bayle hatte strickt zwischen Religion und Moral unterschieden und die Figur des athée vertueux, des tugendhaften Atheisten, entworfen. Bayles These von der Wirkungslosigkeit religiöser Grundsätze für das konkrete Verhalten des Einzelnen gründet in der Überzeugung, dass der Mensch in der Regel nie seinen Grundsätzen gemäß handle. Nicht die Erkenntnis des Verstandes sei die Ursache unserer Handlungen, sondern die Leidenschaften des Herzens, die Begierden. Nicht also die Unordnung der Kometenbahnen sondern die Unordnung des Herzens bildet den Grund für das Böse in der Welt.71 „Dass Shaftesbury diese Überlegungen bei der Abfassung der Inquiry bekannt waren, kann vermutet werden“,72 urteilt Schrader, da Shaftesbury Bayle spätestens 1698 in Holland kennengelernt hatte. Tugend sei nicht willkürlich oder künstlich (wenn ich so sagen darf), nicht von außen her festgesetzt oder abhängig von Gewohnheit, Laune oder Willen, ja nicht einmal vom höchsten Willen selbst, der sie in keiner Weise lenken kann, sondern vielmehr, da er notwendig gut ist, von ihr gelenkt wird und immer mit ihr in Einklang steht,73
heißt es in den Moralists. Damit wird der Begriff des Guten als Attribut Gottes dem seiner Allmacht übergeordnet, der Tugend damit in gewissem Sinn ein größerer Anspruch als der Religion eingeräumt. Auch wenn Shaftesbury die Tugend so in gewissem Sinn von der Religion unabhängig gemacht habe, so stellt sich Theokles doch vor, dass er „am Ende möglicherweise als ebenso vorzüglicher Theologe wie Moralist erscheinen mag“.74 Durch diese Interpretation versucht Shaftesbury seinem Untersuchungsansatz die Schärfe zu nehmen, v.a. da sich in seinen Schluss-
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Vgl. ebd., S. 46. Vgl. die Fragestellung in der Wiedergabe Rivers: „Does any of the kinds of religious or irreligious belief he defines damage virtue? Does any of these kinds generate virtue? Is the absence of religious belief relevant or irrelevant to virtue?“ (ders.: Eine Untersuchung, Bd. II, S. 133). Shaftesbury: Eine Untersuchung. SE II/3, S. 47. Vgl. Bayle: Pensees Diverses, S. 89 u. S. 92. Zum Verhältnis von Shaftesbury und Bayle vgl. Stanley Grean: Shaftesbury’s Philosophy of Religion and Ethics. A Study in Enthusiasm. Ohio 1967. Wolfgang Schrader: Ethik und Anthropologie in der englischen Aufklärung. Der Wandel der moral-sense-Theorie von Shaftesbury bis Hume. Hamburg 1984, S. 2. Shaftesbury: Moralisten. SE II/3, S. 222f. Ebd., S. 223.
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folgerungen zeigt, dass der Atheismus der Moral nicht grundsätzlich schade, die Religion sie aber durchaus zu behindern wisse.75 Vorsehung und künftiges Leben seien kein brauchbares Argument, um die Atheisten von der Bedeutung der Moral zu überzeugen, entgegen dem von ihnen gelten gemachten Umstand, dass die Welt unmoralisch zu sein scheint. Vielmehr gilt es, ihnen die Ordnung der Welt einsichtig zu machen und zu zeigen, dass die Tugend eine Belohnung für sich selbst wie das Laster in großem Maß seine eigene Strafe ist.76 Shaftesbury fasst den Selbstwert der Tugend in Referenz zu More, der die Tugend entgegen der Prädestinationslehre zum Selbstzweck erhoben hatte. Die oberste Tugend ist nach More der amor Dei intellectualis, der als freies Wollen und als Teil des schöpferischen Prinzips der Natur definiert wird. Der amor Dei intellectualis ist das Zentrum der Seele und ihr einheitsstiftender Kern und bildet gleichzeitig das Band zum Göttlichen.77 An dieser Stelle bezieht sich Shaftesbury außerdem auf die Lockesche Kategorie des innerweltlichen Glücks, wenn Theokles argumentiert: „Der Mensch kann tugendhaft sein, und ist er das, so ist er glücklich. Sein Verdienst ist seine Belohnung“.78 Glück meint körperliches wie geistiges Vergnügen, wobei die geistigen Vergnügungen den körperlichen überlegen sind. Die menschliche Verfassung ist nach Shaftesburys optimistischer Weltsicht auf ein glückhaftes Dasein hin ausgerichtet. Im Inquiry heißt es: „Wer die natürlichen Gemütsbewegungen besitzt, die in der Liebe, Zuneigung, Sympathie und dem Wohlwollen gegenüber der Art oder Gattung gründen, hat schon das entscheidene Mittel und Vermögen, sich an sich selbst zu freuen“.79 Hingegen sei der seelische Zustand des Atheisten durch Zerrüttung geprägt. Shaftesbury schreibt im Inquiry über das Unglück des Atheisten: Ein solcher Glaube muß eher dazu tendieren, die Gemütsbewegungen von allem liebenswerten oder in sich selbst Edlen zu entfremden und gerade jene gewohnheitsmäßige und vertraute Bewunderung natürlicher Schönheit oder alles dessen zu unterdrücken, was in der Ordnung der Dinge nach einem Plan, nach dem Prinzip der Harmonie und Proportion, gestaltet ist.80
Dies spiegele sich auch im atheistischen Weltbild wider, wie in den Moralists argumentiert wird: „ein zerrütteter Zustand […] stellt ein wahres Chaos dar und 75
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Vgl.: „Die Religion […] kann viel Gutes tun oder großen Schaden anrichten, und der Atheismus in beide Richtungen nichts Eindeutiges“ (Shaftesbury: Eine Untersuchung. SE II/3, S. 77). An anderer Stelle heißt es jedoch auch über das Verhältnis von Tugend und Frömmigkeit, „erstere [die Tugend] ist nicht vollkommen, wenn sie nicht in der letzteren [der Frömmigkeit] ruht“. Weiter heiß es: „Und so muß also die Vollendung und die höchste Tugend aus dem Glauben an Gott kommen“ (Shaftesbury: Eine Untersuchung. SE II/3, S. 94). Vgl. Shaftesbury: Moralisten. SE II/3, S. 228. Vgl. Henry More: Philosophical Poems. Cambridge 1647, S. 43–47. Shaftesbury: Moralisten. SE II/3, S. 238. Somit liegt es im Interesse jedes einzelnen tugendhaft zu sein. Vgl.: „Und so kann man schließen, dass Tugend und Interesse im Ergebnis übereinstimmen“ (Shaftesbury: Eine Untersuchung. SE II/3, S. 52). Shaftesbury: Eine Untersuchung. SE II/3, S. 111. Ebd., S. 89.
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führt uns auf die geliebten Atome, den Zufall und Wirrwarr der Atheisten zurück“.81 Wäre jedoch erst die Ordnung der Welt eingesehen, so könne durch Vernunft und Betrachtung zur Anerkennung Gottes gelangt werden: Es „muß die Welt allein […] durch ihre weise und vollkommene Ordnung beweisen“,82 dass es die göttliche Vortrefflichkeit gibt, heißt es bei Theokles, wodurch die Bedingungen der Ethik gleichsam die Religion mit bedingen. Diese Ordnung ist im Naturbegriff gefasst und spiegelt sich in der Ordnung der menschlichen Seele und ihren Erkenntniskräften wider. Ein entscheidender Unterschied zwischen den von Shaftesbury gezeichneten Charakteren Philokles und Theokles ist Alexandra Kleihues zufolge, dass Theokles sich für den Glauben entschieden hat und damit etwas besitzt, was sich zu verteidigen lohnt. Philokles hingegen hat das nicht, zweifelt und hinterfragt deshalb bis zum Schluss. In den Miscellenious Reflexions führt Shaftesbury die Unterteilung zwischen Skeptiker und Dogmatiker ein, wobei dem Skeptiker die Sicherheit des Dogmatikers fehlt. Theokles ist in diesem Sinn ein Dogmatiker, aber ohne dogmatische Lehrmethoden. Er produziert keinen Dogmatismus aus zweiter Hand, sondern bemüht sich, seinem Freund dasselbe Naturerlebnis zu ermöglichen.83 6.4.2 Moral und Natur Im Mittelpunkt des ersten Teils der Moralists steht das Konzept des Naturschönen, das als Übertragung der Figur der plastic nature verstanden werden kann und das dem Gefühl des Schönen und Erhabenen zugrunde liegt. Im Zustand des Gleichgewichts der menschlichen Leidenschaften stimmt die moralische Welt mit der natürlichen Ordnung der Dinge überein. Ita Osske schreibt in diesem Zusammenhang: Das Moralische ist ihm [Shaftesbury] die schöne Seele, ihr höchstes Streben, ihr Adel, das Human-Menschliche im betonten Sinne, die Grazie, Anmut und Gesundheit der inneren Bewegungen, die Musik der Leidenschaften mit allen jenen Beziehungen ins Logische, Ethische, Ästhetische und Metaphysische.84
Dieser natürliche, ausgeglichene Zustand des Menschen, der ihm ermöglicht, das Naturschöne zu erkennen, soll im Folgenden näher bestimmt werden. Im Inquiry heißt es: Nichts ist deshalb im eigentlichen Sinne Gutsein oder Bosheit in einer Kreatur als das, was aus ihrer natürlichen Gemütsverfassung kommt; eine gute Kreatur ist eine solche, deren natürliche
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Shaftesbury: Moralisten. SE II/3, S. 229. Ebd., S. 227. Vgl. Kleihues: Dialog als Form, S. 96. Ita Osske: Ganzheit, Unendlichkeit und Form. Studien zu Shaftesburys Naturbegriff. Berlin 1939, S. 3.
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Gemütsverfassung sie primär und unmittelbar, nicht sekundär und zufällig, zum Guten und gegen das Böse führt.85
Alle Gemütsbewegungen und Leidenschaften sind im natürlichen Zustand auf das öffentliche Wohl hingeordnet. Es besteht nach Shaftesbury kein Gegensatz zwischen Gemeininteresse und persönlichem Wohl.86 Tugendhaft ist der Mensch demnach, wenn „alle Neigungen und Gemütsbewegungen, die ganze Verfassung seines Geistes und seines Gemüts, in Übereinstimmung mit und passend zu dem Guten seiner Art oder Systems […], zu dem es gehört und dem es einen Teil bildet“.87 Shaftesbury greift so den aristotelisch-scholastischen Telos-Begriff des ultimus finis hominis auf und wendet ihn auf die Ethik an. Auch das Gut-Sein des Einzelnen muss im Blick auf seine immanente Bestimmung sowie in Hinsicht auf das Ganze ausgemacht werden.88 Dabei ist das rechte Maß der jeweiligen Leidenschaften entscheidend.89 So ist übergroße Mutterliebe verwerfliche Zärtlichkeit, übergroßes Mitleid wird zu Weichheit und Schwäche, ganz so wie zu wenig Sorge um sich selbst zu Tollkühnheit führe; Sorge um das Selbst in außergewöhnlichem Maße ist hingegen Selbstsucht.90 Theokles führt aus: „Die Ordnung der moralischen Welt würde derjenigen der natürlichen Welt gleichen“.91 In diesem Zustand würde die Schönheit der Tugend deutlich werden, die wiederum auf die „höchste und oberste Schönheit, der Ursprung all dessen, was gut oder liebenswert ist“,92 verweist. Ähnlich der Cambridge Platonists ordnet Shaftesbury so den Menschen in das Ganze der Natur ein.93 Theokles muss jedoch auf Philokles Einwand gegen die allumfassende Schönheit der Natur, der sich auf die Unzulänglichkeit des Menschen bezieht, eine Antwort finden. Er argumentiert in Anlehnung an Cudworth mit Verweis auf das Teil-Ganze-Verhältnis, das hier als Ökonomie angesprochen wird: „[W]enn die Natur selbst nicht um des Menschen willen, sondern der Mensch um der Natur willen da ist, dann muß der Mensch, mit Verlaub, sich den 85
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Shaftesbury: Eine Untersuchung. SE II/3, S. 59. Der Mensch wird also nicht nur im Hinblick auf seine Auswirkungen aufs System beurteilt, sondern v.a. auf Grund seiner Gemütsbewegungen (affections). Vgl.: „[D]em öffentlichen Interesse und zugleich dem eigenen gegenüber aufgeschlossen zu sein, [ist] nicht nur kein Widerspruch […], sondern […] die beiden Interessen [können] nicht voneinander getrennt werden können“ […] (Shaftesbury: Eine Untersuchung. SE II/3, S. 98). Ebd., S. 95. Vgl. Thomas Aquin: Summa Theologicae I–II, Q.1, art. 5 und Schrader: Ethik und Anthropologie, S. XIV–XV Vgl. Shaftesbury: Eine Untersuchung. SE II/3, S. 210. In den Moralisten verweist Philokles in diesem Zusammenhang auf Epikur, der entgegen den neuzeitlichen Epikuräern die höchsten Vergnügungen der Welt auf Mäßigkeit und maßvollen Gebrauch zurückführte. Vgl. Shaftesbury: Eine Untersuchung. SE II/3, S. 59f. Shaftesbury: Moralisten. SE II/3, S. 240. Ebd. Vgl. Shaftesbury: Eine Untersuchung. SE II/3, S. 52f., wo anhand eines fiktiven Gegenbeispiels ausgeführt wird, dass es nichts vereinzeltes und ohne Zusammenhang existierendes im Universum geben kann.
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Elementen der Natur und nicht die Elemente ihm unterwerfen“.94 Theokles spricht von einer wunderbaren Verteilung in der Natur: In ihr ist alles aufs beste eingerichtet, mit vollkommener Genügsamkeit und rechter Zurückhaltung, gegen niemanden verschwenderisch, aber gegen alle freigebig, niemals für ein einzelnes Ding mehr aufwendend, als genug ist sondern mit präziser Ökonomie das überflüssige beschneidend und das verstärkend, was bei jedem Ding die Hauptsache ist.95
Kleihues beschreibt dies als „kosmischen Optimismus“,96 auf dessen Grundlage die Vorstellung eines dem Menschen angeborenen moralischen Sinns entwickelt wird. 6.4.3 Moral und Vernunft – Whichcotes Select Sermons Ist der Mensch auch Teil der Natur, Teil der harmonisch geordneten Welt, so fällt er doch auch aus ihr heraus. Was ihn auszeichnet, entfremdet ihn: die Vernunft. Dennoch ist ihr Gebrauch die einzige Möglichkeit des Menschen sich wieder in Einklang mit der Natur zu begeben, seine Leidenschaften entsprechend dem Wohl des Ganzen zu ordnen. Dieser Zusammenhang soll erstens mit Verweis auf Shaftesburys Herausgabe der Select Sermons dargestellt werden, zweitens anhand des Selbstbegriffs und drittens in Bezug auf den Moral Sense diskutiert werden. Zeitgleich mit dem Verfassen des Inquiry gibt Shaftesbury 1698 die Predigten von Benjamin Whichcote als Select Sermons anonym heraus, die Edition wird ihm erst posthum zugeschrieben. Es handelt sich dabei um zwölf ausgewählte Predigten, die alle zwischen 1678 und 1680 entstanden sind. Uehlein bemerkt jedoch, dass neueste textkritiksche Forschungen zeigen, dass wichtige editoriale Arbeit an Whichcotes Select Sermons geleistet hat, weshalb sie auch in der Standart Edition ihren Platz gefunden haben.97 Die Betonung der ethischen Seite des Christentums, wie sie sich in Whichcotes Predigten findet, wird von Shaftesbury aufgenommen. Die Select Sermons stellen gewissermaßen die exoterische Seit seines moralphilosophischen Engagements dar, während er die Inquiry zu diesem Zeitpunkt möglicherweise, ganz in der Manier der literarisch aktiven Adeligen des 17. Jahrhunderts, nur für die Verbreitung im kleinen Kreis gedacht hatte,98
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Shaftesbury: Moralisten. SE II/3, S. 245. Ebd., S. 248. Theokles sagt ferner, der Mensch solle „eine hohe Meinung haben von jener Natur, die ihm aufs vorteilhafteste seinen Anteil zugemessen hat, mit dieser glücklichen Zurückhaltung (wahrhaft glücklich für ihn, wenn er sie kennt und nutzt!)“ (Shaftesbury: Moralisten. SE II/3, S. 248). Scheinbare Mängel kommen dem Menschen in Wahrheit zugute, so binde die Hilflosigkeit des Kindes dieses stärker an die Gesellschaft. So wird bei Shaftesbury der Mensch schon im Naturzustand als gesellig begriffen. (vgl. ebd., S. 249–256). Kleihues: Dialog als Form, S. 63. Vgl. Einleitung zu Anthony Ashley Cooper. Third Earl of Shaftesbury: Select Sermons. In: Ders.: SE II/4, S. 36. Grossklaus: Natürliche Religion, S. 79.
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schätzt Grossklaus. „Seine Entscheidung zur Edition der Predigten […] ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass er in ihnen Grundzüge seines eigenen Denkens vorformuliert fand“,99 schreibt auch Barbara Schmidt-Haberkamp. Bei Whichcote wird die moralische Dimension der Vernunft deutlich. Vernunft befähigt erst zu moralischem Handeln, ohne Einsicht kann nicht moralisch gelebt werden. Whichcote predigt: „We are to be doing our duty to God, ourselves and others, as soon as we come to use our reason and understanding; for motion of religion doth begin with reason“.100 Whichcote definiert Moral als etwas, das nicht zweckgerichtet ist, sondern das Gute als Selbstzweck meint: „that are good in themselves, good in their own nature, and quality; that are not only recommended by institutions“.101 Da moralisches Verhalten nicht von außen diktiert werden kann, muss der Mensch das Gesetz in sich selbst finden. Whichcote formuliert pointiert: „[A] man is a law to himself“.102 Dass hier kein Werterelativismus formuliert wird, ist durch die Rückbindung der Vernunft an die göttliche Wahrheit gewährleistet, die sie als „natural light“ zu erkennen vermag und nach der sie durch gelebte Ethik strebt. Somit ist Religion „in substance, our imitation of God in his moral perfections, and excellency of goodness, righteousness and truth“.103 Für Whichcote ist Moral der Sinn des Lebens, er steht für einen gelebten, alltäglichen, praktischen Glauben ein, der sich an den Bedürfnissen des Nächsten und am Gemeinwohl orientiert, ein Glaube weit weg von abstraktem Buchwissen. Was es für Whichcote heißt, ein moralisches Leben zu führen, spiegelt sich in dem folgenden Zitat: „[F]or we came not into the world to gratify sense, and to serve our lusts, but to serve God and the publick, not to promote our own ends and little designs, but the common good“.104 Als Gemeinsamkeiten von Shaftesburys Philosophie und Whichcotes Predigten lassen sich neben der engen Verzahnung von Vernunft- und Moralverständnis die Kritik an der christlichen Lohnethik und der damit verbundene Appell, die Tugend um ihrer selbst Willen zu lieben, genauso ausmachen wie die Überzeugung, dass sich Sittlichkeit im Einklang mit der Vernunft befinde und nicht von Gottes Willen und der Offenbarung abhängig sei. Außerdem ist die Zeichnung eines positiven Menschenbilds entgegen Hobbes und dem Kalvinismus beiden Denkern gemein. Das von Shaftesbury den Predigten vorangestellte Vorwort bezeichnet Baum als „einen Schlüsseltext zum Verständnis seiner Philosophie“.105 Sie spricht von einer „bedeutsamen Erstlingsschrift eines noch nicht Dreißigjährigen, die sich in einer unaufgelösten Spannung zwischen Neuplatonismus und natürlicher Religion be99 100 101 102 103 104 105
Schmidt-Haberkamp: Kunst der Kritik, S. 197. Whichcote: The Works, Bd. I, S. 37. Ebd., S. 122. Ebd., S. 40. Ebd., Bd. IV, S. 191. Ebd., Bd. I, S. 37. Baum: Selbstgefühl, S. 52.
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wegt“.106 Shaftesbury konstatiert in diesem Vorwort den mangelnden Erfolg von Predigten in Bezug auf die Verbesserung der Sitten und bemerkt in diesem Zusammenhang, dass die Heiden den Christen in Bezug auf die Sitten nicht unterlegen seien.107 Baum spricht von der „im Namen der Zivilisation gegen das Christentum geführten Anklage“,108 die sich schon im Letter on Carolina vorformuliert findet. Shaftesbury verteidigt darin mit einem Argument der Latitudinarier die potentielle ethische Überlegenheit der Heiden gegenüber dem Christentum. Das Argument läuft allerdings nicht auf die Idealisierung des Wilden hinaus, sondern auf den Topos der natürlichen Religion. Mit seiner Kritik am Offenbarungsglauben bekennt sich Shaftesbury zu den Prinzipien des Deismus.109 6.4.4 Das Selbst Es stellt, sich hinsichtlich dieser subjektiv getragenen Ethik die Frage nach den Bedingungen der Einheit des Selbst, die Frage nach dem moralischen Subjekt, das nicht in der von Locke völlig entleerten, zum leeren Blatt gewordene Person gefunden werden kann, die ohne eigenes Kraftzentrum, sich nur über das Außen bestimmt. Vom Selbst her erschließt sich die Welt. Mark-Georg Dehrmann formuliert: „Die innere Verfassung des Menschen wird Shaftesbury zum archimedischen Punkt der Weltsicht. Sie färbt direkt die Wahrnehmung seiner Umwelt, der Mitmenschen und auch Gottes“.110 In den Moralists diskutieren Philokles und Theokles die Frage nach dem einheits- und somit persönlichkeitsstiftenden Kern eines jeden Menschen. „Der Dialog ist im Zeitalter der Aufklärung eine der beliebtesten Gattungen“,111 schreibt Kleihues in ihrem Buch über den Dialog als Form. Kleihues auf die spezifische Leistung des Dialogs, Wissen nicht allein zu vermitteln, sondern es gleichsam hervorzubringen. Sie betont damit die performative Qualität der Sprache.112 Die Spezifik des Genres Dialog liegt gerade in seiner Querstellung zu allen Gattungen. Die Unterscheidungen von fiktional – nichtfiktional und Wissenschaft – Dichtung 106 107
Ebd., S. 127. Trotz der scheinbaren Nutzlosigkeit des Predigens generell, die Shaftesbury im Vorwort anführt, hielt er die Select Sermons doch der Mühe der Herausgabe wert. Grossklaus schreibt den Kontext erhellend: „Predigten stellten am Ende des siebzehnten Jahrhunderts die meistgelesene Prosa überhaupt dar und waren in ihrem literarischen Rang dem Essay, der im achtzehnten Jahrhundert so überragende Bedeutung erlangte, praktisch gleichgestellt“ (Grossklaus: Natürliche Religion, S. 88). 108 Baum: Selbstgefühl, S. 128. 109 Vgl. Shaftesbury: Select Sermons, S. 49–55. 110 Mark-Georg Dehrmann: Produktive Einsamkeit: Gottfried Arnold – Shaftesbury – Johann Georg Zimmermann – Jacob Hermann Obereit – Christoph Martin Wieland. Hannover 2002, S. 38. 111 Kleihues: Dialog als Form, S. 9. 112 Ebd. Entgegen Gabriele Kalmbach: Dialog im Spannungsfeld zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Diss. o.O. 1996.
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werden durch den Dialog unterminiert.113 In der äußeren Struktur des Dialogs richtet sich Shaftesbury nicht nach dem Vorbild Platons für einen mimetischen Dialog, sondern präsentiert ihn nach dem Ciceronischen Modell der Nacherzählung, die in einen Brief integriert ist.114 Gerade bei der Frage nach dem Selbst zeigen sich die Stärken des Genres Dialog, da hier auf den behandelten Gegenstand unmittelbar hingewiesen werden kann. Theokles macht in der Gestalt des Menschen wie in jedem Lebewesen ein sympathetisches Verhältnis der Teile aus, fragt worin „jenes selbige Eine“, die „Selbigkeit oder Identität des Wesens“ bestehen, wenn unser Stoff in sieben oder längstens zwei Mal sieben Jahren verschleißt.115 Philokles verschärft die Fragestellung, in dem er konstatiert: „Es ist ein Glück, wenn ein Mensch auch nur für ein oder zwei Tage ein und derselbe ist“.116 Für Theokles lässt sich trotzdem „eine wundersame Einfachheit“ nicht bestreiten, er meint, „dass sie [die Menschen, I.K.] ein und dasselbe sind, wenn auch nicht ein einziges Atom ihres Körpers, eine einzige Leidenschaft oder ein einziger Gedanke gleich bleiben“.117 Das Prinzip der Einheit lässt sich also kaum auf materieller Ebene finden, darüber scheint Einigkeit zwischen Philokles und Theokles zu bestehen. Theokles bemerkt außerdem ironisch, dass man sich schon sehr „in den Begriff Atom verlieben“ muss, um ihn genauso einsichtig und unumstößlich zu finden, wie den Sachverhalt, „dass Sie Sie selbst sind“.118 Dieses „einfache Prinzip“, dass die zusammengesetzte Materie zusammenhält, bezeichnet Shaftesbury bzw. Theokles als Genius der Natur, womit eine ähnliche Kategorie wie die plastische Natur der Cambridge Platonists ins Shaftesburyanische Weltbild eingeführt wird. Der Genius der Natur waltet sowohl auf der Ebene der einzelnen Körper in Form der aristotelischen Entelechie als auch als weltseelenartiger Überbau im Ganzen der Natur. Bei Theokles heißt es, es gebe ein einheitsstiftendes Prinzip, „wodurch sie [die Körper, I.K.] wirklich Eines sind, leben, handeln und eine Natur oder einen Genius haben, der ihnen eigentümlich ist und für ihr eigenes Wohlergehen Vorsorge trifft“.119 Daraufhin kann Theokles fragen: „[W]ie sollten wir dies denn gleichzeitig im Ganzen übersehen und den großen, allgemeinen Genius der Natur leugnen?“120 In Bezug auf den Menschen wird dieses einheitsstiftende Prinzip im Selbst gefunden. Das Peculiar Self, die besondere Natur des Menschen meint bei Shaftesbury nicht die bloße organische Einheit sondern umschließt das vernünftige We113 114 115 116 117 118 119 120
Vgl. Kleihues: Dialog als Form, S. 13. Vgl. ebd., S. 60. Vgl. Shaftesbury: Moralisten. SE II/3, S. 277. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 278. Ebd.
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sen. Philokles meint: „[S]o zufällig mein Leben oder jene blinde Laune, die es lenkt, auch sein mag, so kenne ich im Grunde doch nichts, was so wirklich oder substantiell wäre wie mein Selbst“.121 Theokles führt hinsichtlich dieses geistigen Kerns aus, dass er etwas ist, was aktiv auf einen Körper wirkt und etwas Passives, ihm Ergebenes unter sich hat, dass er nicht nur den Körper und bloße Materie als seinen Untergebenen hat, sondern in gewisser Hinsicht auch sich selbst und das, was aus ihm hervorgeht, dass er seine eigenen Vorstellungen, Einsichten, Phantasien überwacht und beaufsichtigt, indem er diese reguliert und bearbeitet und ausbildet, und diese Mischordnung aus Körper und Verstand, so gut er kann, verschönert und vervollkommnet.122
Dieser Einheitsbegriff scheint noch schwach bei Locke im Begriff von consciousness durch. Shaftesbury nimmt hinsichtlich der Identität Bezug auf Plotins Bildhauermetapher, die in der mythologischen Figur des Pygmalion in der Aufklärung ihre Wirksamkeit entfaltete.123 Der Begriff des Selbst, in dem sich die Einheit des Naturganzen auf mikrokosmischer Ebene widerspiegelt, stellt aber v.a. eine Rezeption des Selbstverständnisses dar, wie es Cudworth entwickelte. Im True Intellectual System heißt es: The Conclusion is, that in Men and Animals, there is One thing Indivisibly the same, that Comprehendeth the Whole Outside of theme, Perceiveth both the Parts, and all transmitted through several Senses; Sympathizeth with all the Distant Parts of the Body; and Acteth entirely upon all. And this is properly called, I My Self, not the Extended Bulk of the Body, which is not One but Many Substances, but an Unextended and Indivisible Unity, wherein all Lines Meet, and Concentre, not as a Mathematical Point, or Least Extensum; But as one SelfActive, Living, Power, Substantial or Inside-Being that Containeth, Holdeth, and Connecteth all together [alle Hervorh. I.K.].124
Die Erörterung des Problems des Selbst bildete bei Cudworth ein zentrales Teilstück seines Versuchs, den Hobbesschen Materialismus zu widerlegen. Bereits ein so elementares Phänomen wie die Sinneswahrnehmung, die nur auf Grund der Einheit und Identität des Wahrnehmenden möglich sei, wird nach Cudworth unerklärbar, wenn an der Hobbesschen Bestimmung, der Mensch sei matter in motion festgehalten wird, und der Gedanke eines einfachen, immateriellen Selbst geleugnet wird. Auch der Begriff personality wurde als Ausdruck der englischen Sprache erstmals von Cudworth gebraucht, um die Einheit und Identität des Menschen als moralisches Subjekts im Unterschied zu seiner Bestimmung als natürliches, organisches Wesen zu bezeichnen.125
121 122 123 124
Ebd., S. 279. Ebd., S. 279f. Vgl. Inka Mülder-Bach: Im Zeichen des Pygmalion. München 1998. Cudworth: True Intellectual System, S. 826. „C’est là MOI, qui est en chaque home, & non la masse étendue de son corps, qui est composée de plusieur Substances distictes“ (vgl. auch Leclerc: Article II. Vol. VIII. Tome II, S. 245/91). 125 Vgl. Cudworth: True Intellectual System, S. 798f.
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Auch hier zeigt sich, dass das Interesse des Werkes, anders als der Titel True Intellectual System suggeriert, nicht Metaphysik oder Naturphilosophie ist, sondern insbesondere Ethik. Mit dem I My Self hat Cudworth den Punkt gefunden, von dem aus sich Moral konstituieren lässt. 6.4.5 Shaftesburys Moral Sense Der Begriff Moral Sense selbst ist eine Marginalie aus der Inquiry, die in den Moralisten nicht wieder aufgegriffen wird.126 Alexandra Kleihues macht allerdings zu Recht entgegen der Geflogenheit der Standard Edition darauf aufmerksam, dass moral bei Shaftesbury in den meisten Fällen mit geistig, nicht mit moralisch zu übersetzten ist.127 Ferner bezeichnet Moral Sense nicht, „wie es der Begriff ‚sense‘ zunächst nahe legt, ein passives Vermögen, sondern ein Vermögen, auf Grund dessen wir wahre und falsche Vorstellungsbilder unterscheiden und beurteilen“.128 Das sich hinter dem Begriff Moral Sense verbergende Konzept, ist also nicht auf diesen Begriff zu reduzieren, da „Shaftesburys Sprachgebrauch […] flüssig [ist], seine Begriffe sind nicht feste Größen, die ein-deutig in Funktionssätze einsetzbar wären“.129 So wird der Moral Sense unter anderem auch als natural Sense of Right and Wrong oder als reflected sense bezeichnet.130 Der Begriff Moral Sense wird hier trotzdem als übergeordnete Kategorie verwendet, da sich dieser, wenn auch missverständliche Topos in der Forschung als Begriff für das hier zu beschreibende Konzept eingebürgert hat. Wie schon der Begriff des Selbst gezeigt hat, bindet Shaftesbury seine Ethik an ein anthropologisches Konzept. Shaftesbury beschreibt den Moral Sense weder als Organ noch als intelligibles Vermögen. Gegen Lockes genetische Betrachtung der innate ideas übernimmt er das schon bei Cudworth angelegte Konzept der connatural ideas und übersetzt es in ein dem Menschen wesentliches Reflexionsvermögen. Es ist also nicht bloß über Konvention und Erziehung vermittelt, sondern in der Perfektibilität des menschlichen Gemüts angelegt. Tugendhaftigkeit ist dem Menschen einerseits natürlich und spontan, da sein Sinn für rechte Verhältnisse als angeboren gilt, sie ist aber andererseits an den Verstand des Menschen gebunden.131 126 127 128 129 130 131
Vgl. Shaftesbury: An Inquiry concerning Vertue, or Merit. In: Ders.: SE II/2, S. 94. Kleihues: Dialog als Form, S. 62. Schrader: Ethik und Anthropologie, S. 17. Uehlein: Kosmos und Subjektivität, S. 190. Vgl. Shaftesbury: Inquiry. SE II/2, S. 88. „Da also ein Sinn für Recht und Unrecht in uns genauso natürlich ist wie das natürliche Empfinden selbst und ein oberstes Prinzip unserer Konstitution und unseres Wesens darstellt, kann keine theoretische Absicht, keine Überzeugung und kein Glaube ihn unmittelbar direkt aufheben oder zerstören“ (vgl. Shaftesbury: Eine Untersuchung. SE II/3, S. 71f.). Vgl. hierzu Mark-Georg Dehrmann: Das „Orakel der Deisten“. Shaftesbury und die deutsche Aufklärung. Göttingen 2008.
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Shaftesbury schreibt Tugendhaftigkeit and Verständnisfähigkeit knüpfend: Und nur dann nennen wir ein Wesen edel und tugendhaft, wenn es einen Begriff von öffentlichem Wohl bilden und eine Anschauung oder ein sicheres Wissen von dem erreichen kann, was moralisch gut und böse, bewunderns- oder tadelnswert, recht oder unrecht ist.132
Der Mensch ist nach Shaftesbury ein Geschöpf, das imstande ist, sich allgemeine Begriffe zu bilden und zwar nicht nur von äußeren Dingen, die in die Seele eindringen. Gemütsbewegungen und Handlungen werden durch Reflexion ebenfalls in das Bewusstsein eingebracht und so zu dessen Gegenständen. Mittels dieses nach innen gewandten Sinns (reflected sense) entsteht eine andere Art von Gemütsbewegungen, die sich auf die eben noch empfundenen Gemütsbewegungen richten. Gemeint ist also „kein sechster Sinn, mittels dessen ein intuitives Urteil über die sittliche Qualität einer Handlung gefällt würde“.133 Es ist vielmehr die Fähigkeit zur ordnenden Interpretation, die der Vorstellung vom Naturganzen folgt, und ist damit zugleich kritisches wie kreatives Vermögen, sowohl Sentiment als auch Judgment.134 Es ergibt sich dabei allerdings notwendig der Eindruck von Schönheit oder Hässlichkeit dieser Gemütsbewegungen und Handlungen – „das Herz [kann] unmöglich gleichgültig bleiben“135 –, der sich nach Maßen, Anordnungen und Disposition der verschiedenen Teile richtet.136 In Bezug auf moralisches Verhalten empfinde der Geist nämlich „eine Harmonie und eine Dissonanz genauso real und treffsicher wie in den äußeren Formen und Erscheinungsweisen der sinnlich wahrnehmbaren Dinge“.137 In den Moralists drückt dies Theokles wie folgt aus: „Sicher ist nichts unserem Geist stärker eingeprägt oder mit unserer Seele enger verwoben als die Idee oder das Gefühl von Ordnung und Ebenmaß“.138 Er ruft aus: „Welch ein Unterschied besteht doch zwischen Harmonie und Disharmonie!“139 Dem methodischen Postulat der Wissenschaften, dass die Vernunft gleichsam von außen beobachtend an die Natur herantritt, steht damit einem spontan intuitiven Verstehen von Sinnzusammenhängen gegenüber. Die Erfahrung des Schönen und Erhabenen in der Natur ist, so Shaftesbury gegen Locke, nicht auf sinnliche Empfindung reduzierbar, sondern setzt Selbstbeziehung zum Fühlenden voraus und enthält so ein reflexives Moment.140
132 133 134 135 136 137 138 139 140
Shaftesbury: Eine Untersuchung. SE II/3, S. 62. Schmidt-Haberkamp: Kunst der Kritik, S. 203. Vgl. Shaftesbury: Inquiry. SE II/2, S. 70. Vgl. Shaftesbury: Eine Untersuchung. SE II/3, S. 61. Vgl. ebd., S. 60. Ebd., S. 61. Shaftesbury: Moralisten. SE II/3, S. 234. Ebd. Vgl. Baum: Selbstgefühl, S. 38.
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Den Begriff boniformis animae facultas erläutert More, dessen Werk Shaftesbury kannte, mit Plotins Augengleichnis: „Kein Auge könnte je die Sonne sehen, wäre es nicht sonnenhaft; so sieht auch keine Seele das Schöne, welche nicht selbst schön ist“.141 More überträgt dies Gleichnis auch auf das Gute und gelangt so zu einer ethischen Urteilsinstanz.142 Shaftesbury übernimmt diese Figur in seiner Methode der Introspektion. In den Moralists versucht Theokles den Moral Sense mithilfe der Metapher des Sehens zu verdeutlichen. Moral Sense wird zu einer Art innerem Auge, für das die Erkenntnis der natürlichen Schönheit guter Handlungen bestechend ist. Es heißt: Kaum öffnet sich das Auge den Figuren, das Ohr den Klängen, so ergibt sich geradewegs das Schöne, und Anmut und Harmonie werden zur Kenntnis genommen und anerkannt. Kaum werden Handlungen beobachtet, kaum menschliche Neigungen und Leidenschaften erfasst […], so unterscheidet geradewegs ein inneres Auge und sieht einerseits das Schöne und Wahlgeformte, das Liebenswürdige und Bewundernswerte und andererseits das Ungestalte, das Hässliche, das Abscheuliche oder das Verachtenswerte.143
So ist der vernünftigen Betrachtung ethischer Belange ein intuitives Verständnis dieser Zusammenhänge vorgeschaltet, das sich aus der Einbettung des Menschen in ein harmonisches Naturganzes ergibt. Dieser „Entwurf einer elementaren Ethik als Ästhetik der Natur“144 kann den Horizont der Metaphysik für die Ethik offen halten.
6.5 Fazit Bei Shaftesbury fand sich eine produktive Aneignung der Philosopheme der Cambridge Platonists. Der Topos der plastischen Natur war prägend für Shaftesburys emphatischen Naturbegriff und ist damit auch entscheidend für das Shaftesburianische Konzept von Ethik geworden. Darüber hinaus entsprach die Figur des Moral Sense in seiner Anlage als Spiegelungsverhältnis von Natur und menschlichem Erkenntnisvermögen dem Ethikverständnis der Cambridge Platonists. So kann geurteilt werden, dass Shaftesbury der wichtigste positive Rezipient des Cambridger Platonismus geworden ist, der anders als Leibniz den Intentionen der Cambridge Platonists in seiner Rezeption entsprach, wurde doch hier das Naturverständnis nicht vom Paradigma des Mechanismus überlagert. 141
Plotin: Enneaden I/6, 8 u. 9. In: Das Schöne – Das Gute – Entstehung und Ordnung der Dinge, Enneaden I/6, VI/9 u. V/2. Hg. v. Richard Harder. Hamburg 1956. Neu hg. v. Werner Beierwaltes. Hamburg 1986, S. 27. 142 Vgl. Henry More: Enchiridion Ethicum. In: Ders.: Omnia Opera. Bd. II/1, S. 24. Vgl. A. Lichtenstein: Henry More. The Rational Theology of a Cambridge Platonist. Cambridge, Mass. 1962, S. 67. 143 Shaftesbury: Moralisten. SE II/3, S. 318f. 144 Baum: Selbstgefühl, S. 39.
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7 Schlussbetrachtung
Diese Arbeit hat gezeigt, welche Wirkmacht die Werke der Cambridge Platonists zu Beginn des 18. Jahrhunderts entfalten konnten und welchen Einfluss ihre Gedanken in Debatten der unterschiedlichsten Disziplinen wie Naturphilosophie, Anthropologie, Theologie und Ethik hatten. Um diese Arbeit abzurunden und die entfalteten Gedankengänge zu verdeutlichen, sollen die zentralen Thesen meiner Dissertation anhand von zehn Punkten zusammengefasst und in den Kontext der Aufklärung gestellt werden. Dazu soll zuerst die von mir gewählte Begriffszuschreibung gerechtfertigt werden (1.), daraufhin ist das gedankliche Gerüst, die Gliederung dieser Arbeit aus rückschauender Perspektive zu rekapitulieren (2.). Es gilt ferner, kurz an die gewählte Methodik zu erinnern und ihre Leistungsfähigkeit nach getaner Arbeit zu bewerten (3.). Der Zentralthese dieses Buches, dass sich zur Wende des 18. Jahrhunderts eine fundamentale Neubestimmung dessen ereignet habe, was unter dem Begriff der ,Welt‘ zu verstehen ist, wird auch abschließend, fußend auf den Ergebnissen dieser Arbeit, einiger Platz gewährt, wobei die Arbeitsergebnisse sich in den Kontext von Schönheit und Schuld einflechten. Konkret ist damit gemeint, dass der Cambridgeianische Topos der plastischen Natur – plastic nature – in die Bezugsfelder von Atheismus und Cartesianismus gerückt wird (4.). Die Argumentationslinien werden in der Rezeption des Cambridger Platonismus nachmals deutlicher: Es konnte herausgearbeitet werden, wie Bayle und Leclerc eben diesen Problemkontext zum Thema machten: plastische Natur in Bezug auf Atheismus und Cartesianismus (5.). Es wurde ferner gezeigt, dass Mosheims Übersetzung diese Diskussionslage in bestimmtem Sinn zu ihrem Ende brachte (6.). Mit Lady Mashams Eintreten in die Debatte um die plastische Natur, so eine These dieser Arbeit, verschiebt sich der Fokus der Debatte auf die Frage nach den angeborenen Ideen und dem Stellenwert, den der Mensch in der Welt einnehmen kann (7.). Dieses Problem wird von Leibniz in doppelter Bezugnahme auf den Cambridger Platonismus (zum einen seine Kommentierung der Debatte um die plastische Natur, zum anderen seine Auseinandersetzung mit den Theodizeevorschlägen der Cambridgeianer) in der Theodizeefrage verschärft. Es wurde herausgearbeitet, inwiefern dies eine Rationalisierung des Natur- und Gottesbegriffs zur Folge hatte, der zwar im Cambridger Platonismus durchaus angelegt war, hier jedoch von Leibniz radikalisiert wurde (8.). Dieser überschäumende Rationalismus wird von Shaftesbury in dem Versuch, das Verhältnis von Mensch und Welt zu entlasten, in der ästhetischen Figur des moral sense wieder zurückgenommen, wie das abschlie213
ßende Kapitel dieser Arbeit zeigt (9.). Für das fortschreitende 18. Jahrhundert kann allerdings gleichwohl von einer Schwächung des Platonismus trotz der in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzenden Rezeption des Cambridger Platonismus konstatiert werden, so ein übergeordnetes Fazit dieser Arbeit (10.). Diesen Argumentationszusammenhang gilt es im Folgenden in gebührender Kürze bzw. Länge nachzuzeichnen. 1. Begriffsbildung: Es hat sich als fruchtbar erwiesen, eine Zuschreibung hinsichtlich des Begriffs Cambridge Platonists zu wählen, der auf einem Minimalkonsens beruht, welcher sich an den ausgearbeiteten Rezeptionslinien orientiert. So wird in dieser Arbeit mit Cambridge Platonists eine Gruppe englischer Theologen des 17. Jahrhunderts bezeichnet, der in jedem Fall Benjamin Whichcote, Ralph Cudworth, Henry More und John Smith zugerechnet werden. Diese Männer verband neben persönlicher Freundschaft gleichwie gemeinsame intellektuelle Interessen: so besonders ihr nicht unproblematischer Bezug zu Descartes, ihre Opposition zu Hobbes (zu Descartes und Hobbes siehe Punkt 4 dieser Schlussbetrachtung) und ihre grundsätzliche Offenheit gegenüber naturwissenschaftlicher Forschung (dazu ausführlicher unter Punkt 5) kombiniert mit einem starken Interesse an antiker, v.a. platonischer Philosophie. All jene Interessenslagen sind ausführlich mit Bezug auf die Rezeptionslinien des Cambridger Platonismus bearbeitet worden und sollen im Folgenden zusammenhängend rekapituliert werden. Gleichwie bleibt auch an dieser Stelle zu berücksichtigen, dass die theologische Grundausrichtung der Cambridger Platonisten nur vor dem Hintergrund einer einheitsstiftenden philosophia perennis sowohl mit antiken philosophischen Weisheitslehren als auch mit der aufkommenden neuzeitlichen Naturwissenschaft als vereinbar verständlich wird. Philosphia perennis meint wie der analog verwendete Begriff der theologia prisca, dass es parallel zur Wahrheit der biblischen Offenbarungstheologie eine ebenso göttlich inspirierte philosophische Traditionslinie gegeben habe. Mosaische Schöpfungstheologie und hermetische Weisheit bzw. platonische Lehre sind demnach zwei Ausdrucksweisen der einen göttlichen Wahrheit. 2. Gliederung: Die Cambridge Platonists haben viele kantige Gedanken für im 18. Jahrhundert relevante Fragen als Gedankenanschlüsse bereitgehalten, die v.a. von Pierre Bayle und Jean Leclerc, Lady Masham und John Locke, Leibniz und dem dritten Earl von Shaftesbury aufgegriffen wurden. Das zu Beginn des 18. Jahrhunderts im Umbruch befindende Verhältnis von Theologie, Philosophie, Naturwissenschaft und Mathematik spiegelt sich dabei in vier Debatten hinsichtlich der Cambridger Philosophie wider: jener um die plastische Natur, die angeborenen Ideen, das Theodizeeproblem und die Ethik. Diese Problemkontexte hat die Arbeit in vier Kapiteln zur Rezeption (Kapitel 3– 6) zu bewältigen gesucht. Nachdem im zweiten Kapitel, der methodisch geprägten Einleitung (1.) folgend, die Naturphilosophie der Cambridger Theologen erörtert wurde, begann in Kapitel drei die Auseinandersetzung mit der Rezeption dieses Komplexes anhand der Übersetzungen des Cudworthschen True Intellectual Sys214
tem durch Leclerc und die sich daran knüpfende Debatte mit Bayle um die plastische Natur. Kapitel vier zeigte, wie diese Debatte von Lady Masham verfolgt und in einem Briefwechsel mit Leibniz kritisch kommentiert wurde. Außerdem verknüpfte Lady Masham ihre Überlegungen hinsichtlich der plastischen Natur mit den angeborenen Ideen, die Locke entgegen des Cambridger Platonismus verworfen hatte. Kapitel fünf führte aus, wie Leibniz das Problem der plastischen Natur hinsichtlich seiner Überlegungen zur Theodizee aufgreift, wohingegen Shaftesbury den Cambridger Naturbegriff ästhetisch umdeutet, was in Kapitel sechs beschrieben wurde. Eine dem Thema angemessene Gliederung zu finden, gestaltete sich als schwierig aufgrund der Komplexität der Thematik, die sich aus den in jedem Sinne weitreichenden, in sich verflochtenen Debattensträngen ergab: Diskussionslagen gingen quer durch die Zeiten, über Kontinente hinweg und betrafen immer auch mehr als einen Topoi. Jede Gliederung ist damit zwangsläufig auch eine Einengung, eine Beschneidung der behandelten Thematik. Gleichwohl bleibt der Zwang zur Gliederung, wird man doch ansonsten selbst vom Thema beherrscht, anstatt einen produktiven Zugang erschließen zu können. Schließlich wurde die Methode zum Leitfaden. 3. Methodik: Methodisch hat es sich in dieser Arbeit als fruchtbar erwiesen, zwei unterschiedliche wissenschaftliche Methoden mit einander zu kombinieren, einerseits die Topik, andererseits die Konstellationsforschung. So werden die in Punkt 2 genannten Kardinalproblematiken des beginnenden 18. Jahrhunderts – von plastischer Natur, angeborenen Ideen, Theodizee und Ethik – als Topoi gefasst. Die Topik war bis um 1700 als methodisches Konzept maßgebend und lässt so erst die Argumente der zu betrachtenden Autoren verständlich werden. Anstatt der Definition einer Sache, versucht Topik die vollständige Prädikation eines Begriffs. Es war dabei zu berücksichtigen, dass die behandelten Texte einer Übergangsepoche entstammen, die vom Methodenwandel hin zu kausallogischen Erklärungen und klaren Distinktionen eines Descartes geprägt war. Beispielhaft hierfür ist das Konzept der philosophia perennis: Diese offene Geisteshaltung gegenüber der antiken Weisheit verlor trotz der Csaubonschen Kritik am Alter des Corpus Hermeticum und dem daraus resultierendem Verdacht, es handele sich um eine christliche Fälschung, nicht an Geltung. Dies ist auch und v.a. der Cudworthschen Argumentation zugunsten der Authentizität des Inhalts des Textkorpus’ geschuldet. Cudworth machte stark, dass der Inhalt alt und echt sei, nicht aber das Textkorpus selbst. Damit drehte Cudworth das Anciennitätsargument der Topik um, das besagt, dass Glaubwürdigkeit einer Idee aufgrund ihres Alters zukomme. Für Cudworth bürgte hingegen das Rezipierte, Jetzt-Gedachte, weil nicht in Frage gestellte, für das Alte. Seine Argumentation stützte sich dabei auf einen ununterbrochenen Überlieferungszusammenhang unter Rückgriff auf pseudoepigraphische Autorenzuschreibungen. Die philosophia perennis ist somit nicht nur intellektueller und geistiger Rahmen, in dem sich die Denkbewegungen 215
des ausgehenden 17. Jahrhunderts vollzogen, sondern selbst Topos, mit dessen Versatzstücken zur Wende zum 18. Jahrhundert kreativ umgegangen wurde. Dies machte die Handhabung der Topik als Methode zur Aufschlüsselung von Diskurslagen genauso spannend wie schwierig, genauso richtig wie defizitär und ließ nach einer historisierenden Einbettung dieses ideengeschichtlichen Konzeptes verlangen, was durch die Konstellationsforschung versucht wurde. Ergänzt wird die Topik also durch die Konstellationsforschung, die ihr Augenmerk auf Debatten und Diskussionsstränge legt und besonders am wechselseitigen Bezug der verschiedenen Protagonisten und Texte interessiert ist, damit für eine konkrete historische Kontextualisierung von sich gegenseitig beeinflussenden Ideen sorgt. Ein solcher Ansatz erscheint für eine Dissertation, die sich mit der Zeit der république des lettres beschäftigt, beinahe zwingend, und gewann im Laufe der Arbeit immer mehr an Relevanz, wurde doch die Verstrickung der Denkenden und Gedanken über Zeiten und Kontinente hinweg immer evidenter. Dieser methodischen Doppelung folgend orientiert sich die Gliederung dann einerseits an konkreten Personenkonstellationen, die für eine Diskussionslage, die sich um einen bestimmten Topos rankt, kennzeichnend war. Andererseits wurde versucht anhand des maßgeblich rezipierten Topos der plastischen Natur auch Zugang zu weiteren Topoi zu gewinnen, besonders der Zusammenhang zwischen plastic nature und innate ideas (Kapitel vier), zwischen Natur und Ethik (Kapitel sechs) sowie das Verhältnis von Weltverständnis und Theodizeeproblem (Kapitel fünf) wurde versucht zu ergründen. 4. Weltveränderung: Die Zentralthese dieser Arbeit, die in ihren unterschiedlichen Facetten in allen Kapiteln beleuchtet wurde, lautet, dass sich mit der Wende zum 18. Jahrhundert eine fundamentale Neubestimmung dessen, was unter dem Begriff der ,Welt‘ zu verstehen ist, ereignete. Ausgehend vom Denken der Cambridge Platonists kann die philosophische Deutung und Aufarbeitung dieses die Welt betreffenden Gedankenumsturzes besonders anhand der Debatte um die plastische Natur nachvollzogen werden. Plastische Natur meint dem Cambridger Platonismus folgend ein lebendiges, geistiges aber bewusstloses Prinzip, das in Abhängigkeit von Gott die Natur organisierte, um die Welt von innen heraus zu beleben. An dieser Instanz rieben sich die Rezipienten der Cambridger Philosophie maßgeblich und bewirkten in Auseinandersetzung mit diesem Prinzip jene angedeutete Akzentverschiebung im Begreifen dessen, was Welt bedeuten kann. Diese Veränderung in der Weltbeschreibung zeigte sich auch in den Topoi von Schönheit und Schuld, die hier als interpretatorischer Rahmen herangezogen werden, um die Welt und die in ihr weilenden Menschen zu betrachten und zu beurteilen. Für die Cambridger Platonisten war die Welt schön. Gott sei Dank. Schuld? Als Frage der Ethik betraf sie den Menschen, jedoch waren die Cambridger Platonisten bereit, als mildernde Umstände die allgemeine Verfasstheit der Welt gelten zu lassen. Diese war durch ein Naturprinzip bestimmt, für das auch Gott nur mehr 216
oder weniger verantwortlich zeichnete. Die Welt stellte also in gewissem Maß eine selbstständige Größe dar, die das Verhältnis von Gott und Mensch mitbestimmte. Die Schönheit der Welt in all ihrer Komplexität und Fülle bürgt dafür, dass die Welt mehr ist als ein blinder, gottverlassener Mechanismus. Doch die Welt läuft nicht perfekt. Es treten Fehler auf. Sie weisen zwar einerseits darauf hin, dass es sich bei der Welt nicht um ein Uhrwerk handelt, sondern um einen lebendigen Organismus. Doch andererseits lassen sich diese Fehler als nichts anderes als Fehler beschreiben. Ihnen ist kein positiver Status vergönnt. Und die Welt soll selbst schuld sein, solange es sich nicht um moralische Verfehlungen dreht – wäre es doch sonst Gott, der die Schuld an seinem Werk trägt. Kann die Welt also gleichzeitig als schön und schuldig gelten? Entschuldigt Schönheit? Verführt Schönheit? Ist Schönheit vergänglich? Plotin deutet in seiner Lehre von den Keimkräften die Natur als Entfaltung eines ihr innewohnenden Prinzips und versucht so die Einheit der Welt einsichtig zu machen. Wenn das Viele aber als Emanation eines allem zugrunde liegenden Einen begriffen wird, so kann auch die Schönheit der erscheinenden Natur als ein Abbild ihres geistigen Grundes gedeutet werden. An diese Bestimmung knüpft der Begriff der ,lebendigen Formen‘ an. Diese Vorstellung von Einheit und Schönheit einer Natur, der das Göttliche immanent ist, war ursprünglich gegen die Weltverachtung der Gnosis gemünzt und erlangte bei den Cambridge Platonists gegen Puritanismus und mechanischen Determinismus neue Bedeutung.1 Die Welt besticht More durch ihre Schönheit und ihre harmonischen Proportionen. Eine solche Welt allein ist Beweis genug für die Existenz eines Gottes. Die Welt ist dem Menschen verständlich, und Gott zeigt sich ihm in ihr. Now therefore it being evident that there is such a thing as Beauty, Symmetry and Comelineß of Proportinon (to say nothing of the delightful mixture of Colours) & that this is the proper Object of the Understanding and Reason […], I think I may safely infer, That whatever is the first and principal Cause of changing the fluid and undeterminated matter into shapes so comely and symmetrical, as we see in Flowers and Trees, is an Understanding Principal, and knows both the nature of man, and of those Objects, he offers to his sight in the outward and visible world.2
Die sinnliche, beinahe empiristisch anmutende Dimension dieses Arguments ist möglicherweise dem Zeitgeist geschuldet und entspricht der Wahrung des Zusammenhangs zwischen naturwissenschaftlicher Weltbeschreibung und christlicher Theologie. Gleichzeitig besticht der ikonographische Aspekt des Arguments: Das Schöne unterliegt einem anderen Verweisungszusammenhang als das an das Wort und die präpositionale Logik gebundene Wahre, erlaubt aber gleichzeitig durch die neuplatonische Trias des Wahren, Guten und Schönen den Rückschluss von einer 1
2
Vgl. Baum: Selbstgefühl, S. 99, zu Plotin vgl. Werner Beierwaltes in seinem Vorwort zu: Geist – Ideen – Freiheit. Plotins Enneaden V/9 u. VI/8. Hg. v. Richard Harder. Hamburg 1990, S. XIX. More: An Antidote, S. 54.
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schönen, bildlichen Welt auf einen wahren, urbildlichen Gott. Schönheit wird zum Evidenzkriterium. Auch Cudworth verwendet das physikotheologische Argument der Schönheit der Welt als Beweis für die Existenz Gottes. Cudworths Gottesbild steht durch den Schöpfungszusammenhang in einem nicht auftrennbaren Verhältnis zu seiner Kosmologie, so dass er in umgekehrter Denkrichtung die Widerlegung des Atheismus unter anderem in dem Appell ausdrücken kann, die Schönheit des Kosmos, die sich in harmonischen Bezügen ausdrückt, wahrzunehmen und als Werk eines höchsten Geistes anzuerkennen.3 More ist jedoch nicht von der Schönheit der Welt ge- oder gar verblendet. Er ist gleichsam bei aller Bewunderung der Welt und noch mehr ihres Schöpfers in der Lage, die Frage nach dem Grund für all das Leid in der Welt zu stellen: „If God made all things, how is it that they are no better then they are?“4 Er erzählt, dass Moses den Israeliten, die gerade der Knechtschaft des Pharaos entflohen waren, eine Antwort geben musste, als sie fragten, weshalb ihre Frauen unter Schmerzen gebären müssten und das Leben so viel Leid bereithielte. Moses Antwort war: „That it was Disobedience to God’s will“.5 Der Mensch ist schuld. Die Leiden sind Folge der Vertreibung aus dem Paradies. Das Schmerzhafte, Hässliche der Welt ist Strafe für die moralische Schuldhaftigkeit des Menschen. Aber nicht der Mensch allein trägt die Schuld an der mangelhaften Verfassung der Welt. Einzig Adam und Eva die Schuld für ihren Ungehorsam zu geben, wäre vielleicht gerecht, aber es ließe der göttlichen Güte gegenüber dem Menschen keinen Raum mehr. Das Urteil wäre vernichtend für den Menschen. Deshalb wird der Schlange ein Teil der Schuld aufgebürdet, „The Serpent also“,6 heißt es lakonisch. Es ist also die Welt selbst, die einen Teil der Schuld an ihrem Übel tragen muss. Mit Plotin stimmt More darin überein, dass die Hyle, in ihrer materiellen aber auch schon metaphysischen Form, die Wurzel allen Übels ist. Sie ist begrenzt, da sie an das Kriterium des Möglichen und des Kompossiblen gebunden bleibt. Das Begrenzte wohnt für More Tür an Tür mit der Notwendigkeit, die er als die Mutter allen Unglücks, als „Mother of Mischief“7 bezeichnet. Whichcote hingegen setzt die menschliche Freiheit absolut. Erst der freie Wille mache nämlich den Menschen zu moralischen Wesen. Whichcote predigt: „[N]othing is more virtuous, but what is our choice“.8 So sieht sich Whichcote veranlasst, die Theodizeefrage in moralischer Hinsicht zu stellen: „If God were so well-minded toward men, and so much desired their good and welfare, why did he not prevent sin, and make it impossible that ever sin should enter into the world; 3 4 5 6 7 8
Vgl. Cudworth: True Intellectual System, S. 669. More: Cabbala, S. 68. Ebd., S. 69. Ebd. Ebd., S. 139. Whichcote: The Works, Bd. I, S. 133.
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since he hath wisdom enough, and power enough to prevent it?“9 Whichcote beantwortet diese Frage dahingehend, dass er den freien Willen als wichtiger bewertet denn das Verhindern von Sünde. Damit überträgt er dem Menschen die Verantwortung dafür, was er aus dieser Herausforderung und Chance macht, da freier Wille bei Whichcote wirklich frei bedeutet und somit die Verantwortung für menschliches Handeln nicht länger bei Gott liegen kann. Whichcote predigt: „If God make a volutary and intelligent agent, it doth necessarily follow, […] that he must suffer a voluntary agent to act according to his own will“.10 Bei Cudworth heißt die Schlange plastic nature. Sie ist es, die die Verantwortung für etwaige Fehler im Lauf der Welt trägt: Wherefore since neither all things are produced Fortuitously, or by the Unguided Mechanism of Matter, nor God himself may reasonably be thought to do all things Imediately and miraculuosly; it may be concluded, that there is a Plastick Nature under him, which as an Inferior and Subordinate Instrument, doth Drudgingly Execute that Part of his Providence, which consists in the Regular and Orderly Motion of Matter: yet so as that there is also besides this, a Higher Providence to be acknowledged, which presiding over it, doth often supply the Defects of it and sometimes Overrule it; forasmuch as this Plastick Nature cannot act Electively nor with Discretion.11
Der Status des Schönen gerät ins Wanken. Wie kann etwas schön sein, wenn es nicht perfekt ist? Cudworth beantwortet diese Frage leider mit dem Hinweis darauf, dass das Schlechte im Detail keine Wertminderung des Gesamtzusammenhangs darstellt. Das Einzelne wird unwichtig im Allgemeinen, „though there be evil in the parts of the world, yet there is none in the whole“.12 Dennoch sind es die Welt und die ihr inne wohnenden Gesetzmäßigkeiten, die unter Rechtfertigungsdruck geraten. Cudworth versucht im True Intellectual System deshalb „eine Kosmodizee, eine Rechtfertigung des Kosmos vor dem Gericht der betrachtenden Vernunft“.13 Es bleibt allerdings zu bemerken, dass wenn die Schönheit der Welt als aussagekräftiger Hinweis auf die Güte des Schöpfers gilt, es umgekehrt nicht nachvollziehbar ist, weshalb die Fehler im Weltlauf nicht auch Aufschluss über die Verfassung ihres Schöpfers geben.14 Die Cambridger Philosophen waren noch gelassen genug, den Zusammenhang von Welt, Mensch und Gott nicht bis ins letzte Detail ergründen zu müssen. Da kamen andere. Vor allem Bayle. Bayle räumte auf mit den verträumten, einheits9 10 11 12
13 14
Ebd., S. 341. Ebd. Cudworth: True Intellectual System, S. 150. Die Schwierigkeiten dieser Konstruktion werden in der Debatte zwischen Le Clerc und Bayle recht genau herausgearbeitet. Ralph Cudworth: The True Intellectual System of the Universe, with a new Introduction by G.A.J. Rogers. 3 Bde. Bristol 1995 [ND der Ausg. 1845, London: John Harrisons engl. Übers. der lateinischen Edition v. J. L. Mosheim 1733. Bd. I, S. 316]. Grossklaus: Natürliche Religion, S. 132. Zur Rechtfertigung des Schöpfers dieser Welt vgl. Kap. Vier: Cudworth legt einen der Leibnizschen Lösung nahen Gedankengang zur besten aller möglichen Welten vor. Vgl. Cudworth, Mosheim, Harrison: True Intellectual System. Bd. I, S. 317.
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stiftenden Sowohl-als-Auchs und bestand auf das Entweder-Oder. So verschärfte sich nicht nur die Lage der Welt, auch die Situation für Mensch und Gott wurde prekärer, da Bayle genau wissen wollte, woher das Schlechte rührt und wer jetzt für was Verantwortung übernimmt und ob denn überhaupt alles zum Guten und Schönen hin eingerichtet sei. Shaftesbury und Leibniz, die großen Theodizeebezwinger zu Beginn des 18. Jahrhunderts beriefen sich dennoch bei ihren Antworten auf die ungelösten Fragen des Jahrhunderts nach Welt, Mensch und Gott auf den Cambridger Platonismus, gaben ihm hinsichtlich der Schönheit der Welt recht und plagten sich mit Schuldfragen, die Leibniz stärker zu drücken schienen als Shaftesbury, der mehr Vertrauen oder auch stoischen Gleichmut bezüglich der Güte welcher Gottheit auch immer zu haben schien. Grundlage für diese Weltsicht, die das Schöne in den Mittelpunkt rückt, das Schlechte jedoch nicht außen vor lassen will und kann, ist im Cambridger Platonismus – so die These dieser Arbeit – die plastische Natur. Plastic nature steht von Anfang an in einem kaum aufzubrechenden Spannungsfeld: Durch die Rezeption zeitgenössischer Naturwissenschaft ergibt sich eine produktive Spannungslage, die es einem Cudworth ermöglichte, sich in Rückprojektion auf antike Argumentationslagen als pythagoreischen Atomisten zu verstehen. Der unverzichtbare Vorteil des Atomismus gegenüber anderen Weltbeschreibungsansätzen liegt nach Cudworth darin, dass er die körperliche Welt verstehbar werden lässt, weil der Mechanismus intelligibel ist. Ferner erlaubt die klare Definition von Körpern eine Beschreibung der unkörperlichen Welt – die Körper werden also im Gegensatz zur geistigen Verfasstheit der Welt nicht topisch bestimmt. Um allerdings eine atheistische Interpretation der Atomtheorie zu vermeiden, wurde diese mit dem Platonismus als einer Philosophie immaterieller Substanzen kombiniert, deren wirkmächtigste die plastische Natur ist. Als Erfinder dieser göttlichen Kombination ist Cudworth und More zufolge der biblische Moses anzusehen. Ein plastisches Naturprinzip ohne Atomismus wäre jedoch ebenfalls Atheismus-gefährdet, wie am Beispiel der Philosophie Stratons und Spinozas gezeigt wurde. Es wurde damit herausgearbeitet, dass ein wichtiger Kontext für das Verständnis der plastischen Natur die Abwehr atheistischer Weltbeschreibungsansätze ist: Plastic nature als letztes Bollwerk gegen den intellektuellen Sündenfall des Atheismus, könnte man pointiert schlussfolgern. Als Weiterentwicklung des Cartesianismus gewinnt die plastische Natur ihren zweiten bestimmenden Kontext. More und Cudworth setzten sich in ein produktives Verhältnis zu Descartes. So stimmten beide mit diesem darüber ein, dass zwei Substanzen existieren, die nicht auf einander reduzierbar sind. Sie bestimmen diese Elementarbausteine der Welt jedoch nicht als res extensa und res cogitans: Für Cudworth gibt es Körper und Leben, wobei „Leben“ als Oberbegriff für bewusstes und unbewusstes geistiges Sein steht, plastic nature ist damit als unbewusstes geistiges Lebensprinzip bestimmt. More sieht den Unterschied zwischen Geist und Körper nicht in der körperlichen Ausgedehntheit, dieses Attribut schlägt er beiden 220
Substanzen zu. Anders als Descartes geht More von der Unteilbarkeit kleinster Teile aus, die er als (geistige) Monaden / (körperliche) Atome bezeichnet. Ein weiterer wichtiger Unterschied liegt in der Moreschen Raumvorstellung begründet, der wie zeitgleich wie Newton einen leeren Raum annahm. Diese Arbeit zeigte, dass der plastischen Natur dabei folgende, in der Rezeption folgenschwere Funktion zukommt: Sie soll zwischen den beiden Substanzen vermitteln, gewinnt also ihre Bedeutung als Mittelpunkt einer schönen, weil geordneten und damit logisch verstehbaren Welt. 5. Rezeptionslinien: Im 18. Jahrhundert wurden beide Konnotationen der plastischen Natur – ihr Selbstverständnis als Weiterentwicklung des Cartesianismus wie ihre Abwehr des Atheismus’ – durch die Leclerc-Bayle-Debatte offengelegt. Ausgelöst wurde diese Debatte durch Leclercs exzerpierende Übersetzung des True Intellectual System ins Französische, die sowohl den naturwissenschaftlichen Kontext des plastischen Naturprinzips verstärkte als auch die Atheismus- und Cartesianismusdebatte aktualisierte. Zeitgenössische naturwissenschaftliche Forschung war schon Cudworth keineswegs fremd, wovon auch das True Intellectual System zeugt. Jedoch besitzt der Rückgriff auf naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse bei Cudworth eher illustratorischen Charakter. Wie die Dissertation gezeigt hat, erfolgte besonders durch eine Parallelisierung des plastischen Naturprinzips mit der physiologischen Weltbeschreibung von Nehemia Grew, des Sekretärs der Royal Society, einerseits eine Aufwertung des True Intellectual Systems durch Leclerc, andererseits führte dies im Hinblick auf die französischsprachige, also kontinentale Rezeption des Werkes zu einer Schwächung des im Original starken platonischen Akzents. Wie ausführlich gezeigt, handelt es sich also nicht um eine reine Übersetzung des True Intellectual System durch Leclerc. Die Zeitschriftenbeiträge sind voll von Modernisierungen des Originals, beispielsweise wird Hobbes namentlich genannt. Ferner gibt es für Übersetzungen untypische längere Kommentierungen von Passagen zu zeitgenössisch relevanten Themen durch den Übersetzer, beispielsweise die Identität von Moses betreffend, den Leclerc anders als Cudworth mit guten Argumenten nicht für den Erfinder der Atomtheorie hält – hier grenzt sich der Übersetzer vom Autor ab. Es erfolgt außerdem eine philologische Aufwertung durch Leclerc, er weist damit auf das Mosheimsche Übersetzungsgroßprojekt voraus. Wichtiger Eingriff ins Original, den diese Arbeit herausgearbeitet hat, ist die Umstrukturierung des Textkorpus’: Durch sie wird insbesondere die doppelte Beurteilung der plastischen Natur durch Cudworth weit deutlicher als im unübersichtlicher strukturierten Original. Leclerc hingegen macht deutlich, dass die plastische Natur immer eines Kontextes bedarf, der dann darüber bestimmt, ob plastic nature in einem atheistische oder in einem theistischen Weltbild beheimatet ist. Bezeichnend ist gleichwie die für die gesamte Bibliothèque Choisie geltende hohe Qualität der Übertragung. 221
Es war gerade Leclercs Hinweis auf Spinoza, welcher durch die zu diesem Zeitpunkt in Holland geführte Atheismus-Debatte die Relevanz der Übersetzung beträchtlich erhöhte, der Bayles Einstieg in die Diskussion um das plastische Naturprinzip bedingt. Bayle interpretiert die plastische Natur als ein Prinzip, das ausschließlich einer atheistischen Weltbeschreibung dienen kann: denn ein blindes (aveugle) Naturprinzip braucht keinen Schöpfergott. Diesen nicht unerheblichen Vorwurf des Atheismus versucht Bayle aufgrund der sich daran entzündenen Kritik abzumildern, ohne allerdings inhaltlich von dieser Position abzurücken. So lässt Bayle als einzige weitere Interpretationsmöglichkeit des plastischen Naturprinzips folgenden Gedankengang zu: Wird die plastische Natur instrumentalisiert und so von Gott vollkommen abhängig gemacht, wie Leclerc in Antwort auf Bayle die Verteidigung Cudworths intendierend argumentiert, so wäre ein solches Prinzip Bayle zufolge gleichsam überflüssig; die cartesianische Variante der Weltbeschreibung sei in jedem Fall vorzuziehen. Leclerc beschreibt das Verhältnis von Cudworth und Cartesianismus als ambivalent, Cudworths plastische Natur wird von Leclerc als naturwissenschaftliche Weiterentwicklung des Mechanismus verstanden. Bayle ist nicht bereit, die plastische Natur als Neuinterpretation der cartesischen Philosophie anzuerkennen und charakterisiert sie als veraltete substantielle Form der Peripatetiker. Bayles Kritik mag logisch schwer zu durchbrechen sein, allerdings bleibt unverständlich, weshalb er sich so vehement weigert, die plastische Natur als Formulierung nicht mechanischer Naturgesetze anzuerkennen, wenn man Bayles Desinteresse an naturwissenschaftlichen Forschungsansätzen unberücksichtigt lässt, so argumentativer Standpunkt dieser Arbeit. 6. Übersetzungsprojekte: Mosheims Übersetzung des True Intellectual Systems ins Lateinische, die historisch gesehen den heimlichen Schlusspunkt dieser Arbeit markiert, machte Cudworths Werk als Systema intellectuale zwar zum Bildungsklassiker für das 18. Jahrhundert, es zog jedoch keine weiteren tiefgreifenden Auseinandersetzungen mit diesem Werk oder der plastischen Natur nach sich. So spiegelt dieses hochkarätige Großprojekt einerseits wieder, welchen Nachhall Leclercs Übersetzung und die sich daran anschließende Diskussion noch bis 1733 auslöste. Andererseits stellt diese Übersetzungsleistung mit seinen kritischen Kommentaren die plastische Natur betreffend den Abschluss dieses Diskussionszusammenhangs dar, dessen weitere Rezeption nun vielmehr ausschließlich über die Linie Shaftesbury verläuft. 7. Angeborene Ideen: Der Name Lady Mashams ist zwar in der Debatte um die plastische Natur durchaus präsent und scheint einiges Gewicht zu haben, ihre philosophische Auseinandersetzung mit dem Problem findet allerdings kein öffentliches Forum. Ihr Briefwechsel mit Leibniz gibt darüber Aufschluss, dass die plastische Natur für sie lediglich den Status einer Hypothese nach Locke besitzt. Lockes sensualistische Erkenntnistheorie steht in einem schwer aufzulösenden Gegensatz zum Cambridger Erkenntnisoptimismus, dessen Annahme von angeborenen Ideen 222
Locke scharf kritisierte. Erst Shaftesbury gelingt es, den von Locke zerrissenen Zusammenhang von Welt, Mensch und Gott wieder herzustellen, in dem er im Begriff des moral sense die Übereinstimmung von Erkenntnisfähigkeit und Erkenntnisobjekt optimistisch wieder herstellt. Diese Arbeit hat sich immer wieder der Frage stellen müssen, wie das zu Erkennende mit demjenigen, der gewillt ist zu erkennen, korrespondiert. Dabei wurde deutlich, dass die angeborenen Ideen ein Puzzlestein im Weltbeschreibungsgefüge des Cambridger Platonismus darstellen, in welchem die plastische Natur eine zentrale Stelle besetzt: Gott gilt Cudworth als natürliche Idee, die gleichsam in der gesamten Schöpfung hindurch scheint, welche mithilfe einer plastischen Natur aufs vortrefflichste eingerichtet ist. Diese angeborene Idee Gottes beinhaltet allerdings auch seine Unfehlbarkeit, hier kommt ein weiteres wichtiges Moment der plastischen Natur zu tragen: aufgrund ihrer Bewusstlosigkeit ist sie fehleranfällig und kann bis zu einem bestimmten Grad Gott von der direkten Verantwortung am Weltgeschehen freihalten. 8. Theodizee: Damit ist die Arbeit bei einem weiteren, mit der plastischen Natur eng gekoppelten Topos angelangt, der sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts verschärfenden Theodizee-Problematik. Diese Dissertation hat versucht herauszuarbeiten, dass es Bayles Kritik an Cudworths plastischer Natur geschuldet ist, dass Leibniz die Verantwortung für die Missstände des Lebens nicht mehr einem quasisouveränen Naturbegriff übertragen konnte. In Leibnizens Theodizee wird Gott deshalb rationalisiert, die Natur mechanisiert. Unter Natur versteht Leibniz unendlich ineinander verschachtelte Maschinen, wobei Geistiges keinen Einfluss mehr auf körperliche Prozesse ausüben kann – so versucht Leibniz der Kritik Bayles am plastischen Naturprinzip zu begegnen. Allerdings kann Bayle jedoch nun eine analoge Kritik, wie er sie an der plastischen Natur übte, auf das Theorem der präetablierten Harmonie übertragen: auch hier handele es sich um ein „Schiff ohne Kapitän“ – ein bewusstloses Prinzip bestimme über die Geschicke der Welt. 9. Moral sense: Shaftesbury wählt zwar wie Leibniz und Cudworth die Lösung des Theodizeeproblems über das Teil-Ganze-Verhältnis, macht aber mit dem moral sense, mit dem „geistigen Sinn“ die innere Verfasstheit des Menschen für die Erkenntnis des schönen, wohlgeordneten Zusammenhangs stark und zeigt so eine andere, nicht-mechanistische Interpretationsmöglichkeit des Cambridger Platonismus auf, führt die Topoi von innate ideas, plastic nature und Theodizee gleichsam wieder zusammen. Natur- und Moralphilosophie greifen somit bei Shaftesbury ineinander. Durch die ästhetische Umschreibung des Cambridger Weltverständnis gelingt es Shaftesbury, die Schwierigkeiten einer Weiterentwicklung des Cartesianismus durch die plastische Natur aufzuzeigen, dennoch aber am plastischen Prinzip in Form eines emphatischen Naturverständnisses festzuhalten. 10. Fazit und Kontextualisierung: Anhand der Rezeption des Cambridger Platonismus wurde gezeigt, dass die Entwicklung zur Aufklärung keine eindimensionale, gradlinige war, dass vielmehr im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts verschie223
dene Paradigmen miteinander konkurrierten. Die platonische Komponente verlor jedoch immer stärker an Wirkmacht, was ein Vergessengeraten des Cambridger Platonismus in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zur Folge hatte. In dieser Hinsicht wurde anhand der Rezeption der Cambridge Platonists schon eine Fokusverschiebung in Richtung wissenschaftlichem Weltdeutungsparadigma deutlich. Dies zeigte schon der naturwissenschaftliche Interpretationsansatz der Übersetzung Leclercs. Leibniz’ Rezeption der Cambridger Philosophie setzte einen mechanistischen Akzent. Er versuchte zwar ähnlich Cudworth und More eine Integration des Geistigen in ein mechanisches Weltbild, durch das Herauskürzen der plastischen Natur geriet ihm die Welt allerdings weit mechanistischer als alles, was Cudworth und More je angedacht hatten. Bei Leibniz ließ sich somit eine Fortschreibung der Leclercschen naturwissenschaftlichen Interpretation der Cambridger Philosophie ausmachen. Platonismus war somit schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts selten noch ungebrochen zu finden. Allein in Shaftesburys emphatischem Naturbegriff und dem damit einhergehenden Verständnis von Ethik fand sich, wenn auch ins Ästhetische gewendet, ein starker Bezug auf den platonischen Bestandteil der Cambridger Philosophie; über den Tellerrand dieser Dissertation lukend bleibt anzumerken, dass mit Shaftesbury der Cambridger Platonismus in der Romantik Fortsetzungslinien findet. So bleibt zu konstatieren, dass sich bei allen wichtigen Debatten zu Beginn des 18. Jahrhunderts auf Cudworth, More und Whichcote bezogen wurde, ihre Gedanken auch in einem Jahrhundert, das sie noch mehr als ihr eigenes als antiquierte Exoten und Querdenker zu stempeln versuchte, nicht ohne Wirkung blieben. Das spricht für das 18. Jahrhundert, lässt die Aufklärung gleich menschlicher und farbiger wirken. Jede Zeit hat ihre Denker, die Cambridger Philosophen verleihen dem 18. Jahrhundert etwas von ihrer Integrität.
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