Kultur und Beruf in Europa 351510111X, 9783515101110

Was ist ein Künstler? Wie unterscheiden sich Kulturschaffende von kulturell gebildeten Laien und wie lässt sich feststel

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German Pages 310 [315] Year 2012

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Table of contents :
Europäische Geschichte in Quellen und Essays - Editorial
INHALTSVERZEICHNIS
KULTUR ALS BERUF IN EUROPA. PERSPEKTIVEN AUS KUNST, KULTUR UND WISSENSCHAFT
1. PROFESSIONALISIERUNG IM HOCHKULTURBEREICH
KULTUR UND TECHNIK. ASPIRATIONEN DER INGENIEURE IM KAISERREICH
Quelle: Technische Kultur und der Ehrgeiz der Ingenieure: Wilhelm Franz (1909) und Ludwig Brinkmann (1908) über den Beruf des Ingenieur
KARRIEREKATALYSATOR PFERD. DER KRAKAUER SCHLACHTEN- UND HISTORIENMALER WOJCIECH KOSSAK (1857–1942) ALS STAATSKÜNSTLER DES DEUTSCHEN KAISERREICHES UND DER ZWEITEN POLNISCHEN REPUBLIK
Quelle: Wilhelm und Wojciech: Der deutsche Kaiser und sein polnischer Hofmaler (1899, 1928)
TANZ ALS BERUF
Quelle: Fritz Böhme: Die soziale Aufgabe und Lage des Tänzers (1930)
DEUTSCHE DREHBUCHAUTOREN IN HOLLYWOOD (1933–1945)
Quelle: Alfred Neumann als Drehbuchautor in Hollywood. Briefe an Hermann Kesten (1941)
DER BERUF DES KOMPONISTEN UND DIE KÜNSTLERPOLITIK DER DDR
Quelle: Ottmar Gerster: Die Aufgaben des Komponisten von Heute (um 1954)
DAS BERUFSBILD DES KULTURWISSENSCHAFTLERS. DIE PROFESSIONALISIERUNG DER KULTURFUNKTIONÄRE IN DER DDR
QuelleDas Berufsbild des Kulturwissenschaftlers in der DDR (20. August 1963)
2. KULTURBERUFE ZWISCHEN KOMMERZIALISIERUNG UND POPULÄRKULTUR
PRESSE, THÉÂTRE ET LITTÉRATURE EN 1843. LE DIAGNOSTIC D’UN PROFESSIONNEL, HONORE DE BALZAC
Quelle: Honoré de Balzac: Monographie de la presse parisienne (1843)
DAS EUROPA DER KONSUMENTEN: KONSUMKULTUR, KONSUMENTENMORAL UND KULTURKRITIK UM 1900 UND 2000
Quelle: Konsumentenerziehung in Europa im 20. Jahrhundert: Satzung und Geschäftsbericht des Käuferbund Deutschland (1907) und des Vereins TransFair (2010)
DER TRANSFER DES ARGENTINISCHEN TANGO IN DIE POPULÄRE KULTUR DER EUROPÄISCHEN GROSSSTADT UM 1900
Quelle: Weshalb sich der Tango die Welt erobert (1. November 1913)
SIEGFRIED KRACAUER – ZUR ENTWICKLUNG DER PROFESSIONELLEN FILMKRITIK IN DER WEIMARER REPUBLIK
Quelle: Siegfried Kracauer und die Professionalisierung der Filmkritik: Internationaler Tonfilm? (1931) und Über die Aufgabe des Filmkritikers (1932)
GEBURT EINER WISSENSCHAFT. ZUR PROFESSIONALISIERUNG DER TOURISMUSFORSCHUNG
Quelle: Letzte Ausgabe des Archiv für den Fremdenverkehr (1935)
DDR-LITERATUR AUS DER SCHWEIZ
Quelle: Zensurgutachten über Das Wallroß und die Veilchen von Heinrich Strub (1952)
DAS EUROPA DER MOTIVFORSCHUNG. KULTUR UND BERUF AM BEISPIEL DER WERBETREIBENDEN NACH DEM ZWEITEN WELTKRIEG
Quelle: Ernest Dichter, Europas unsichtbare Mauern (1962)
3. TRANSFER, KOOPERATION, KONKURRENZ – EUROPA ALS WISSENSCHAFTSRAUM
MAKING RESPECTED GENTLEMEN OUT OF LAW PROFESSORS. A COMMENTARY ON ALBERT VENN DICEY, CAN ENGLISH LAW BE TAUGHT AT THE UNIVERSITIES?
Source: Albert Venn Dicey: Can English Law be Taught at the Universities? (1883)
WISSENSCHAFT AM RANDE EUROPAS?OSMAN HAMDI BEY UND DIE PROFESSIONALISIERUNG DER OSMANISCHEN ARCHÄOLOGIE
Quelle: Osman Hamdi Bey über die Ausgrabungen in Sidon (1892)
DAS BEMÜHEN DES US-AMERIKANISCHEN HISTORIKERVERBANDES UM EIN NATIONALES SCHULCURRICULUM IN GESCHICHTE NACH DEUTSCHEM VORBILD
Quelle: The Study of History in Schools: A Report to the American Historical Association by the Committee of Seven (1898)
THE GERMAN MODEL FOR AMERICAN MEDICAL REFORM
Source: Abraham Flexner: Medical Education in the United States and Canada (1910)
DIE INSTITUTIONALISIERUNG SOZIALWISSENSCHAFTLICHEN WISSENS IN DER ZWISCHENKRIEGSZEIT: DAS RUMÄNISCHE SOZIALINSTITUT UND DER VEREIN FÜR SOCIALPOLITIK
Quelle: Dimitrie Gusti und die Gründung der rumänischen Gesellschaft zu Studium und Umsetzung von Sozialreformen (April 1918)
GRABEN WIE DIE GROSSEN IN KLEINASIEN: EIN FRISCH BERUFENER PRAGER PROFESSOR UMREISST MIT WELTPOLITISCHEN ARGUMENTEN SEIN ARCHÄOLOGISCHES KARRIEREFELD
Quelle: Bedřich Hrozný: Nové úkoly orientální archeologie [Neue Aufgaben der Orientarchäologie] (1920)
PROFESSIONALISIERUNG ALS DIPLOMATISCHE STRATEGIE: DAS US-AMERIKANISCHE CARNEGIE ENDOWMENT IN EUROPA VOR 1945
Quelle: New Carnegie Work Planned for Europe (1926)
UNGLEICHE SCHWESTERN IN DER EUROPÄISCHEN FAMILIE: RUSSISCHE ORIENTALISTIK UND SOWJETISCHE AFRIKANISTIK ALS TEIL DER EUROPÄISCHEN REGIONALWISSENSCHAFTEN SEIT DEM ENDE DES 19. JAHRHUNDERTS
QuelleWissen für eine neue Weltordnung. Perspektiven der Perestroika in dersowjetischen Zeitschrift Narodi Azii i Afriki (1989)F
4. EXPERTENKULTUREN IM 20. JAHRHUNDERT: KRISEN UND TRANSFORMATIONSPROZESSE
IN THE GOVERNMENT’S SERVICE AND IN THE SHADOW OF THE STATE: CIVIL SERVANT IN THE SERBIAN AND YUGOSLAV SOCIAL CONTEXT IN THE 19TH AND 20TH CENTURIES
Source: Civil Servants in the Serbian and Yugoslav Social Context: Report by the Belgrade City Administration About Improper Conduct of Junior Civil Servants (1901) and Law on Civil Servants and Other Civil Public Employees of the Kingdom of Serbs, Croats and Slovenes (Yugoslavia) (1923
GEORG SIMMEL ALS KULTURPOLITIKER
Quelle: Anlage zum Brief Georg Simmels an Stefan George (24. Februar 1903)
„WIR VERWANDELN UNS IN EINE KOLONIE FREMDSPRACHIGER BÜCHER“. DAS BUCH ALS KULTURPROBLEM IM JUGOSLAWIEN DER ZWISCHENKRIEGSZEIT
Quelle: Miloš Crnjanski: Wir verwandeln uns in eine Kolonie fremdsprachiger Bücher. Das Problem unserer Kultur
FLUCHTHILFE ZUR RETTUNG DER ZUNFT: DIE AKADEMISCHE ZWANGSMIGRATION IN DEN 1930ER-JAHREN
Quelle: Memorandum on Formation of the Society for the Protection of Science and Learning (1935)
„WO MAN DIE STÄRKSTEN BINDUNGEN FÜHLT“: ZUR REMIGRATION VON HISTORIKERN NACH 1945
Quelle: Aufruf: Gemaßregelte Dozenten sollen sich melden (29. Dezember 1945)
INTELLEKTUELLE IN FRANKREICH UND DER BUNDESREPUBLIK UM 1970
Quelle: Alfred Grosser: Die Intellektuellen (1976)
TRADITION UND TRANSFORMATION. DAS LEIPZIGER VERLAGSWESEN NACH ENDE DER GUTENBERG-GALAXIE
Quelle: Burkhard Jung: Geschichte und Gegenwart des Buches in Leipzig (2009)
AUTORINNEN UND AUTOREN
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Kultur und Beruf in Europa
 351510111X, 9783515101110

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Isabella Löhr / Matthias Middell / Hannes Siegrist (Hg.)

Kultur und Beruf in Europa

Geschichte Franz Steiner Verlag

Europäische Geschichte in Quellen und Essays

Isabella Löhr / Matthias Middell / Hannes Siegrist (Hg.) Kultur und Beruf in Europa

europäische geschichte in quellen und essays herausgegeben von Martin Baumeister, München Ewald Frie, Tübingen Madeleine Herren, Heidelberg Rüdiger Hohls, Berlin Konrad Jarausch, Chapel Hill Hartmut Kaelble, Berlin Matthias Middell, Leipzig Alexander Nützenadel, Berlin Iris Schröder, Berlin Hannes Siegrist, Leipzig Stefan Troebst, Leipzig Jakob Vogel, Paris Michael Wildt, Berlin

band 2

Isabella Löhr / Matthias Middell / Hannes Siegrist (Hg.)

Kultur und Beruf in Europa

Franz Steiner Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas e.V. an der Universität Leipzig. Umschlagabbildung: Thomas Klemm, Leipzig

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10111-0

Europäische Geschichte in Quellen und Essays Editorial Die Reihe Europäische Geschichte in Quellen und Essays behandelt die Geschichte Europas und der Europäer vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart anhand origineller Text- und Bilddokumente, die mithilfe eines begleitenden Forschungsessays in die historischen Zusammenhänge eingeordnet werden. Historiker und historisch arbeitende Sozial- und Kulturwissenschaftler zeigen, warum und in welcher Hinsicht die von ihnen untersuchten Ereignisse, Strukturen, Prozesse, Vorstellungen und Ausdrucksformen für den Verlauf der Geschichte Europas, das historische Bewusstsein der Europäer und die gegenwärtigen Herausforderungen bedeutsam sind. Die wechselvolle Geschichte der Konstruktion Europas, der Wandel der Selbstund Fremdbilder der Europäer und schließlich der europäischen Integration wird in die Geschichte der sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Beziehungen und Entwicklungen eingebettet. Große Strukturen, fundamentale Konflikte, alltägliche Praktiken, subjektive Erfahrungen und kollektive Erinnerungen werden vergleichend, beziehungs- und verflechtungsgeschichtlich auf der lokalen, nationalen und internationalen Ebene analysiert. Zu den besonderen Anliegen der Reihe gehört es, die Spannung zwischen Tradition und Modernisierung und die damit einhergehende Dynamik der Verräumlichung sozialer, kultureller, wirtschaftlicher und politischer Ordnungen zu begreifen und die Interdependenz von Prozessen der Europäisierung, Nationalisierung und Globalisierung zu analysieren. Jeder Band vertieft und spezifiziert das Anliegen der Reihe anhand eines besonderen Themas, einer fundamentalen Problematik oder einer besonderen Zeit. Die Quellen und Essays für die Print- und E-Book-Ausgabe stammen teilweise aus dem „Themenportal Europäische Geschichte“ (www.europa.clio-online.de) von Clioonline. Der intellektuelle Mehrwert der Themenbände besteht darin, dass inhaltlich verwandte Quellen und Essays unter einem übergreifenden Gesichtspunkt integriert, aufeinander abgestimmt, durch eine themenzentrierte und problemorientierte historisch-kritische Einleitung der Herausgeber ergänzt werden. Die Reihe richtet sich insbesondere an Dozenten und Studierende der Geschichtswissenschaften sowie der historischen Fachrichtungen und Spezialgebiete in den Kultur-, Kunst-, Sozial-, Medien-, Staats- und Wirtschaftswissenschaften. Sie stimuliert und unterstützt die wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung über die Geschichte Europas, der Europäer und des Europäischen in historischen, kultur-, sozial- und rechtswissenschaftlichen Studiengängen und in den interdisziplinären Studiengängen der European und Area Studies.

INHALTSVERZEICHNIS Isabella Löhr, Matthias Middell Kultur als Beruf in Europa. Perspektiven aus Kunst, Kultur und Wissenschaft ............................................................................................ 11

1. DIE BERUFSFÖRMIGE ORGANISATION UND INSTITUTIONALISIERUNG VON KUNST UND KULTUR Jürgen Kocka Kultur und Technik. Aspirationen der Ingenieure im Kaiserreich ...................................................................................................... 29 Quelle: Technische Kultur und der Ehrgeiz der Ingenieure: Wilhelm Franz (1909) und Ludwig Brinkmann (1908) über den Beruf des Ingenieur ......................................................................................... 34 Stefan Troebst Karrierekatalysator Pferd. Der Krakauer Schlachten- und Historienmaler Wojciech Kossak (1857–1942) als Staatskünstler des Deutschen Kaiserreiches und der Zweiten Polnischen Republik .................... 37 Quelle: Wilhelm und Wojciech: Der deutsche Kaiser und sein polnischer Hofmaler (1899, 1928) ................................................................. 46 Heide Lazarus Tanzen als Beruf ............................................................................................. 51 Quelle: Fritz Böhme: Die soziale Aufgabe und Lage des Tänzers (1930) ............................................................................................... 58 Juliane Scholz Deutsche Drehbuchautoren in Hollywood (1933–1945) ............................... 61 Quelle: Alfred Neumann als Drehbuchautor in Hollywood. Briefe an Hermann Kesten (1941) ................................................................. 68 Dorothea Trebesius Der Beruf des Komponisten und die Künstlerpolitik der DDR ...................... 71 Quelle: Ottmar Gerster: Die Aufgaben des Komponisten von Heute (um 1954) ............................................................................................. 76

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Inhaltsverzeichnis

Thomas Höpel Das Berufsbild des Kulturwissenschaftlers. Die Professionalisierung der Kulturfunktionäre in der DDR .................................................................. 78 Quelle: Das Berufsbild des Kulturwissenschaftlers in der DDR (20. August 1963) ........................................................................................... 86

2. KULTURBERUFE ZWISCHEN KOMMERZIALISIERUNG UND POPULÄRKULTUR Christophe Charle Presse, théatre et littérature en 1843. Le diagnostic d’un professionel, Honoré de Balzac ............................................................................................ 91 Quelle: Honoré de Balzac: Monographie de la presse parisienne (1843) ........................................................................................... 96 Harald Homann Das Europa der Konsumenten: Konsumkultur, Konsumentenmoral und Kulturkritik um 1900 und 2000................................................................ 99 Quelle: Konsumentenerziehung in Europa im 20. Jahrhundert: Satzungen und Geschäftsbericht des Käuferbund Deutschland (1907) und des Vereins TransFair (2010) ................................................... 106 Kerstin Lange Der Transfer des argentinischen Tango in die populäre Kultur der europäischen Großstadt um 1900 ............................................................ 109 Quelle: Weshalb der Tango die Welt erobert (1. November 1913) ...................................................................................... 114 Irmtraud und Albrecht Götz von Olenhusen Siegfried Kracauer – Zur Entwicklung der professionellen Filmkritik in der Weimarer Republik ............................................................................. 116 Quelle: Siegfried Kracauer und die Professionalisierung der Filmkritik: Internationaler Tonfilm? (1931) und Über die Aufgabe des Filmkritikers (1932) ................................................. 122 Hasso Spode Geburt einer Wissenschaft: Zur Professionalisierung der Tourismusforschung ...................................................................................... 125 Quelle: Letzte Ausgabe des Archiv für den Fremdenverkehr (1935) ............................................................................................................ 136

Inhaltsverzeichnis

7

Siegfried Lokatis DDR-Literatur aus der Schweiz .................................................................... 137 Quelle: Zensurgutachten über Das Walroß und die Veilchen von Heinrich Strub (1952) ........................................................................... 146 Manuel Schramm Das Europa der Motivforschung. Kultur und Beruf am Beispiel der Werbetreibenden nach dem Zweiten Weltkrieg ...................................... 149 Quelle: Ernest Dichter: Europas unsichtbare Mauern (1962) .................... 155

3. TRANSFER, KOOPERATION, KONKURRENZ – EUROPA ALS WISSENSCHAFTSRAUM David Sugarman Making Respected Gentlemen out of Law Professors. A Commentary on Albert Venn Dicey, Can English Law Be Taught at the Universities? ... 161 Quelle: Albert Venn Dicey: Can English Law be Taught at the Universities? (1883) ........................................................................... 166 Jakob Vogel Wissenschaft am Rande Europas? Osman Hamdi Bey und die Professionalisierung der osmanischen Archäologie ................................ 169 Quelle: Osman Hamdi Bey über die Ausgrabungen in Sidon (1892) ............................................................................................................ 177 Katja Naumann Das Bemühen des US-amerikanischen Historikerverbandes um ein nationales Schulcurriculum in Geschichte nach Deutschem Vorbild ........... 180 Quelle: The Study of History in Schools: A Report to the American Historical Association by the Committee of Seven (1898) ........................................................................................................... 186 Charles McClelland The German Model for American Medical Reform...................................... 189 Quelle: Abraham Flexner: Medical Education in the United States and Canada (1910) ............................................................................ 194 Dietmar Müller Die Institutionalisierung sozialwissenschaftlichen Wissens in der Zwischenkriegszeit: Das Rumänische Sozial-Institut und der Verein für Socialpolitik ........................................................................... 197

8

Inhaltsverzeichnis

Quelle: Dimitrie Gusti und die Gründung der rumänischen Gesell schaft zu Studium und Umsetzung von Sozialreformen (April 1918) ........... 203 Frank Hadler Graben wie die Großen in Kleinasien: Ein frisch berufener Prager Professor umreißt mit weltpolitischen Argumenten sein archäologisches Karrierefeld ......................................................................... 206 Quelle: Bedřich Hrozný: Nové úkoly orientální archeologie [Neue Aufgaben der Orientarchäologie] (1920) ......................................... 214 Helke Rausch Professionalisierung als diplomatische Strategie: Das US-amerikanische Carnegie Endowment in Europa vor 1945 .............. 217 Quelle: New Carnegie Work Planned for Europe (29. Juni 1926) ............................................................................................. 226 Steffi Marung Ungleiche Schwestern in der europäischen Familie: Russische Orientalistik und sowjetische Afrikanistik als Teil der europäischen Regionalwissenschaften seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ....................... 227 Quelle: Wissen für eine neue Weltordnung. Die Perspektiven der Perestroika in der sowjetischen Zeitschrift Narodi Azii i Afriki (1989) ................................................................................................. 235

4. EXPERTENKULTUREN IM 20. JAHRHUNDERT: KRISEN UND TRANSFORMATIONSPROZESSE Milan Ristović In the Government’s Service and in the Shadow of the State: Civil Servant in the Serbian and Yugoslav Social Context in the 19th and 20th Centuries................................................................................... 241 Quelle: Report by the Belgrade City Administration About Improper Conduct of Junior Civil Servants (1901) and Law on Civil Servants and Other Civil Public Employees (1923) ....................... 248 Klaus Christian Köhnke Georg Simmel als Kulturpolitiker ................................................................. 252 Quelle: Anlage zum Brief Georg Simmels an Stefan George (24. Februar 1903) ....................................................................................... 257 Augusta Dimou „Wir verwandeln uns in eine Kolonie fremdsprachiger Bücher“: Das Buch als Kulturproblem im Jugoslawien der Zwischenkriegszeit ......... 259

Inhaltsverzeichnis

9

Quelle: Miloš Crnjanski: Wir verwandeln uns in eine Kolonie fremdsprachiger Bücher. Das Problem unserer Kultur (März 1932) .................................................................................................. 267 Isabella Löhr Fluchthilfe zur Rettung der Zunft: Die akademische Zwangsmigration in den 1930er-Jahren ........................................................ 270 Quelle: Memorandum on Formation of Society for the Protection of Science and Learning (1935) ........................................... 277 Konrad H. Jarausch „Wo man die stärksten Bindungen fühlt“: Zur Remigration von Historikern nach 1945 ............................................................................ 279 Quelle: Aufruf: Gemaßregelte Dozenten sollen sich melden (29. Dezember 1945) .................................................................................... 286 Hartmut Kaelble Intellektuelle in Frankreich und der Bundesrepublik um 1970 ..................... 287 Quelle: Alfred Grosser: Die Intellektuellen (1976) ..................................... 294 Lena Heinze Tradition und Transformation. Das Leipziger Verlagswesen nach Ende der Gutenberg-Galaxie ................................................................ 297 Quelle: Burkhard Jung: Geschichte und Gegenwart des Buches in Leipzig (2009) .......................................................................................... 305 Autorinnen und Autoren ...................................................................................... 308

KULTUR ALS BERUF IN EUROPA. PERSPEKTIVEN AUS KUNST, KULTUR UND WISSENSCHAFT Isabella Löhr und Matthias Middell Was ist ein Künstler, welche Rolle und Funktionen nehmen die Angehörigen der sogenannten Wissensberufe in der Gesellschaft ein und wie kann man den kulturell und wissenschaftlich gebildeten Laien vom professionellen Kulturschaffenden unterscheiden? Auf diese Fragen eindeutige Antworten zu finden, scheint am Beginn des 21. Jahrhunderts noch komplizierter geworden zu sein als ein Jahrhundert zuvor. Die weitere Ausdifferenzierung von Tätigkeiten in Kultur- und Wissensproduktion scheint unaufhaltsam und zugleich in wachsendem Maße instabil zu sein. Gegenüber den Versuchen einer institutionalisierten Verberuflichung stellen sich besonders die Kulturberufe mit Klagen über Prekarisierung und Seiteneinsteigern als flüchtig dar. Strittig ist, ob dies einfach nur Trends fortsetzt, die zu früheren Zeitpunkten ebenfalls zu beobachten waren, oder ob aus verschiedenen Gründen Diskontinuität vorherrscht. Wie Hannes Siegrist gezeigt hat, verband sich mit der Entstehung von Professionen eine „Systematisierung des Wissens und die Formalisierung von Ausbildung und Berechtigung, sowie die qualifikationsmäßige Homogenisierung der Berufsangehörigen“. 1 Dabei untermauerten die Angehörigen der freien und der Bildungsberufe die Legitimität dieses Anspruchs, indem sie sich als Berufsgruppe sozial organisierten, sich als Experten von den Laien abgrenzten, ihre Ansprüche auf politischer Ebene vertraten und auf eine Institutionalisierung dieser Ansprüche mit dem Ziel hinwirkten, kollektive Autonomie sowohl in der Regelung der Beziehungen innerhalb der Berufsgruppe als auch im Verhältnis nach außen herzustellen. Wenig von dem scheint heute auf die kreativen Berufe zuzutreffen. Die von dem US-amerikanischen Wirtschaftstheoretiker Richard Florida beschriebene „kreative Klasse“ 2 steht symptomatisch für den hohen symbolischen Stellenwert, den Kultur- und Wissensberufe in der Selbstwahrnehmung der europäischen und nordamerikanischen Gesellschaften aktuell haben, während sie gleichzeitig als Prototypen einer liberal-individualistischen Gesellschaftsordnung in Erscheinung 1

2

Siegrist, Hannes, Bürgerliche Berufe. Die Professionen und das Bürgertum, in: Ders. (Hg.), Bürgerliche Berufe. Zur Sozialgeschichte der freien und akademischen Berufe im internationalen Vergleich, Göttingen 1988, S. 11–48, hier S. 15; Ders., Advokat, Bürger, Staat. 2 Teilbde., Frankfurt am Main 1996; Ders., Professionalization, Professions in History, in: Smelser, Neil J.; Baltes, Paul B. (Hgg.), International Encyclopedia of the Social and Behavioral Sciences (IESBS), Bd. 18, Oxford 2001, S. 12154–12160; Ders., The Professions in Nineteenth-Century Europe, in: Kaelble, Hartmut (Hg.), The European Way. European Societies during the Nineteenth and Twentieth Centuries, New York 2004, S. 68–88. Florida, Richard, The Rise of the Creative Class and How it’s Transforming Work, Leisure, Community and Everyday Life, New York 2002; Caves, Richard E., Creative Industries. Contracts Between Art and Commerce, Harvard, Mass. 2000.

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Isabella Löhr und Matthias Middell

treten, die berufsmäßige Organisation und systematische Ausbildung mit sozialer und wirtschaftlicher Unsicherheit und der Freude am Quereinsteigertum verbinden. Selbst die akademische Wissensproduktion, traditionell in Universitäten, Akademien und Forschungslaboren gut institutionalisiert, sieht sich heute mit der Voraussage konfrontiert, dass Wissenschaft immer weniger eine teilautonome Sphäre der Gesellschaft sein wird, sondern auf dem Weg zu einer Symbiose mit anderen gesellschaftlichen Teilbereichen sei, weshalb das Beharren auf einer klaren Unterscheidung, wie sie der Professionalisierung zugrunde lag, einem Schwimmen gegen den Strom gleich käme. 3 In historisch-kritischer Perspektive stellt sich allerdings die Frage, inwieweit eine solche Selbstbeschreibung nicht großzügig langfristige Muster der Professionalisierung künstlerischer, kultureller und wissenschaftlicher Berufe ausblendet. So hat die jüngere Forschung zum 20. Jahrhundert bereits auf Mechanismen der Verberuflichung im künstlerischen und kulturellen Bereich aufmerksam gemacht, die auch in der gegenwärtigen Reorganisation des kulturellen und wissenschaftlichen Feldes eine Rolle spielen. 4 In der Geschichte der Professionalisierung individueller und kollektiver Akteure aus Kultur, Kunst und Wissenschaft geht es um die Konstruktion sozialer Rollen sowie die Institutionalisierung und Organisation dieser Berufe, die sich zwischen dem Ende des 18. und dem frühen 20. Jahrhundert im Übergang von der ständischen Ordnung zur bürgerlichen Gesellschaft in Europa formiert haben. Die Forderung nach Freiheits- und Partizipationsrechten in den neu entstehenden bürgerlichen Gesellschaften basierte dabei auf einem „liberal-individualistischem Autonomiebegriff“, der die Durchsetzung individueller Freiheitsrechte mit der Forderung nach beruflichen Sonderrechten und professioneller Selbstorganisation verband. 5 Soziale und symbolische Strategien von Individuen, Funktions- oder Statusgruppen, sich als besondere soziale Gruppe über die Definition von Qualitätsstandards nach innen zu konstituieren, beinhalteten damit immer auch eine 3 4

5

Nowotny, Helga; Scott, Peter; Gibbons, Michael, Wissenschaft neu denken. Wissen und Öffentlichkeit in einem Zeitalter der Ungewissheit, Weilerswist 2004. Scheideler, Britta, Zwischen Beruf und Berufung. Zur Sozialgeschichte der deutschen Schriftsteller von 1880 bis 1933, Frankfurt am Main 1997; Ruppert, Wolfgang, Der moderne Künstler. Zur Sozial- und Kulturgeschichte der kreativen Individualität in der kulturellen Moderne im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1998; Woodmansee, Martha, The Cultural Work of Copyright. Legislating Authorship in Britain 1837–1842, in: Sarat, Austin; Kearns, Thomas R. (Hgg.), Law in the Domains of Culture, Ann Arbour 1998, S. 65–96; McClelland, Charles E., Prophets, Paupers, or Professionals? A Social History of Everyday Visual Artists in Modern Germany, 1850–Present, Oxford 2003; Höpel, Thomas, Die Kunst dem Volke. Städtische Kulturpolitik in Leipzig und Lyon 1945–1989, Leipzig 2011; Sapiro, Gisèle; Gobille, Boris, Propriétaire ou travailleur intellectuel? Les écrivains français en quête de statut, in: Le mouvement social 214 (2006), S. 113–139; Parr, Rolf, Autorschaft. Eine kurze Sozialgeschichte der literarischen Intelligenz in Deutschland zwischen 1860 und 1930, Heidelberg 2008; Trebesius, Dorothea, Komponieren als Beruf. Frankreich und die DDR im Vergleich (1950–1980), Göttingen 2012. Siegrist, Hannes, Autonomie in der modernen Gesellschaft, Wissenschaft und Kunst (18. bis 20. Jahrhundert), in: Ebert, Udo; Riha, Ortrun; Zerling, Lutz (Hgg), Menschenbilder – Wurzeln, Krise, Orientierung, Leipzig 2012, S. 78f.

Kultur als Beruf in Europa

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Abgrenzung nach außen gegenüber anderen Bereichen der Gesellschaft. Diese Forderung nach sozialer Autonomisierung von Kunst, Kultur und Wissenschaft gegenüber Staat und Kirche zielte darauf, die Regeln der eigenen Wissensproduktion selbständig zu setzen sowie – im Idealfall – über die Ausgestaltung des dazugehörigen Marktes für kulturelle, künstlerische oder wissenschaftliche Güter zu bestimmen. Der französische Soziologie Pierre Bourdieu hat für die Entstehung dieser themenspezifischen Sinn- und Wissensordnungen den Begriff des wissenschaftlichen oder literarischen „Feldes“ geprägt, dessen regionale, nationale oder europäischen Varianten historisch spezifisch und durch den jeweiligen politischen oder gesellschaftlichen Kontext geprägt sind. 6 Betrachtet man Professionalisierung als dynamischen sowie zeitlich und räumlich spezifischen Prozess der Formierung und Re-Formierung von Funktionsund Statusgruppen, der Organisation berufsspezifischer Rollen sowie der stetigen Aushandlung von Selbst- und Fremdzuschreibungen, so eröffnet sich eine Vielzahl historischer Perspektiven auf die Konstruktion von Europa als kulturellem Handlungsraum. Die Geschichtsschreibung über Europa hat in den letzten Jahrzehnten eine große Zahl an Forschungen hervorgebracht, die je nach thematischen, methodischen, regionalen oder zeitlichen Zugriff unterschiedliche Interpretationen dessen anbieten, was Europa oder das Attribut europäisch historisch ausmachte. 7 Diese Forschungen haben indessen deutlich gemacht, dass die Pluralität der Perspektiven das wesentliche Merkmal einer der jüngeren methodischen Diskussionen um historischen Vergleich, Kulturtransfer, Verflechtung und transnationaler Geschichte verpflichteten europäischen Geschichtsschreibung ist, die die Vorstellung einer historischen Einheit des Kontinents durch „das Wissen um beständige Ein- wie Rückflüsse, Überschichtungen und Veränderungen“ 8 ersetzt hat. Die Frage nach der historischen Formation von Kultur- und Wissensberufen in Europa im 19. und 20. Jahrhundert bietet die Möglichkeit, einem solchen offenen Europakonzept gerecht zu werden, ohne die Konturen einer themenspezifischen Europäischen Geschichte zu verlieren. Denn mit Tänzern, Komponisten, Filmkritikern, Verlegern, Werbetreibenden, Kulturfunktionären, Kulturpolitikern, Intellektuellen und Wissenschaftlern rückt der vorliegende Band die Akteure und Akteursgruppen ins Zentrum, die geistige Arbeit als eine professionelle Tätigkeit zwar im regionalen und nationalen Wettbewerb von Kunst und Wissenschaft profilierten, die aber wegen der europaweiten Präsenz dieser Gruppen keine geographisch exklusive Definition von mehr oder weniger innovativen und geschichtsmächtigen Räumen aufdrängen. Statt dessen behandeln die Beiträge Europa in einer akteurszentrierten Perspektive als einen sozial, kulturell und regional differenzierten Handlungsraum, der historische Wirksamkeit entfaltete über die Ent6 7 8

Bourdieu, Pierre, Die Regeln der Kunst. Zur Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt am Main 2001. Dies zeigen in zahlreichen Facetten auf: Petri, Rolf; Siegrist, Hannes, Probleme und Perspektiven der Europa-Historiographie (= Comparativ 14 (2004), H. 3); Eberhard, Winfried; Lübke, Christian (Hg.), Die Vielfalt Europas. Identitäten und Räume, Leipzig 2009. Schneidmüller, Bernd, Grenzerfahrungen und monarchische Ordnung. Europa 1200–1500, München 2011, S. 13.

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Isabella Löhr und Matthias Middell

stehung von kulturellen Leitbildern, der Zuweisung von symbolischen, gesellschaftlichen und politischen Rollen, dem Aufkommen einer spezifischen Experten- und Wissenskultur, der Definition von Exklusions- und Inklusionsmechanismen und der Institutionalisierung dieser sozialen und kulturellen Muster in Vereinen, Berufsverbänden oder staatlich getragenen Einrichtungen. Die Aufmerksamkeit für die Konstruktion eines europäischen Bezugsrahmens durch die Akteure in Kultur, Kunst und Wissenschaft lenkt den Blick auf die Performativität Europas, das heißt auf die praktische Dimension der Herstellung eines professionellen Wissensraumes, auf die dadurch gewonnene Erfahrung des ‚Europäischen‘ sowie auf die soziale und symbolische Inszenierung dieses Wissens, der dazugehörigen Praktiken, Institutionen, Selbst- und Fremdbilder. Die Feststellung „massiver Konvergenzen der europäischen Gesellschaften, Kulturen und Politiken“ seit den 1950er-Jahren 9 geht nicht zuletzt auf Strategien überregional agierender Bildungseliten zurück, professionelle Leitbilder, den Anspruch auf Deutungsmonopole sowie sozial oder kulturell herausgehobene Positionen in der Gesellschaft über den Verweis auf Ähnlichkeiten oder vermeintliche „Erfolgsmodelle“ bei den europäischen Nachbarn durchzusetzen. Wie die Beiträge in diesem Band zeigen, dienten Verweise auf ausländische Vorbilder als Argument für die Reform eigener Ausbildungssysteme oder für die Profilierung nationaler Programme und Organisationsstrukturen – und das vor, während oder nach einem kulturellen Transfer, in dessen Verlauf akademische Strukturen, Wissensbestände, professionelles Personal oder kulturelle Techniken an lokale Bedürfnisse und Bedingungen angepasst wurden. Solche von Wissenschaftlern und Künstlern aktiv betriebenen Prozesse der Europäisierung können adäquat nur im Rahmen einer europäischen Sozial- und Kulturgeschichte reflektiert werden, die Europa als Kommunikations- und Referenzraum konzipiert, der von transnationalem Austausch, Kooperation und Wettbewerb geprägt war und in dem die Positionen von Zentren und randseitigen Räumen immer wieder neu verhandelt wurden. Dementsprechend geben die in diesem Band versammelten Beiträge Einblick in die historische und gesellschaftliche Bandbreite, in der staatliche Interventionen, berufliche Selbstorganisation oder der Markt für kulturelle und künstlerische Güter bzw. Dienstleistungen die Konstruktion beruflicher Rollen, Leitbilder und die Formation mehr oder minder autonomer Statusgruppen initiierten, beschleunigten oder bremsten. Dabei bestärken die Beiträge die von der historisch und international vergleichenden Professionsforschung seit geraumer Zeit vorgebrachten Bedenken gegen einen zu leichtfertigen Umgang mit dem Begriff der „Professionalisierung“, sobald dieser nicht ausreichend zwischen Professionalisierung als einem empirischen Phänomen und als analytischer Kategorie bzw. heuristischem Erkenntnismittel unterscheidet und dazu neigt, Professionalisierung nicht als einen kontextspezifischen Prozess zu begreifen, der sich je nach politischen, sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen unterschiedlich ausprägt. Darüber hinaus belegen die Beiträge, die Professionalisierungsprozesse in der Wissenschaft und 9

Kaelble, Hartmut, Europäisierung, in: Middell, Matthias (Hg.), Dimensionen der Kultur und Gesellschaftsgeschichte, Leipzig 2007, S. 80.

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Populärkultur in Westeuropa mit parallelen Vorgängen in Osteuropa, dem Osmanischen Reich und den USA in Beziehung setzen, dass die analytische Beschreibung von Professionalisierungsmustern auf einem historisch komplexen Geflecht von kulturellen Transfers 10 , Lernprozessen und einer oftmals grenzüberschreitenden Agenda beruht. Damit bekräftigen die Quellen und darauf bezogenen Essays das Argument, dass europäische Leitbilder moderner kultureller und künstlerischer Berufe Resultat der grenzüberschreitenden Verflechtung von sozialen und kulturellen Eliten und Funktionsgruppen sind, die Selbst- und Fremdbilder, Strategien der Selbstbehauptung, die Gründung von Fachverbänden oder akademischen Institutionen sowie die Formulierung eines spezialisierten Wissenskanons als Mitglieder einer europaweit und international vernetzten community von Experten in einem permanenten Prozess von Aneignung und Abwehr, Nationalisierung und Internationalisierung bewerkstelligten. Der Band ist in vier Kapitel nach Themen und Problemfeldern gegliedert, wobei die Essays innerhalb der Kapitel chronologisch angeordnet sind und dem Entstehungsdatum der Quellen folgen. Den Auftakt des Bandes bilden die Beiträge im Kapitel Die berufsförmige Institutionalisierung und Organisation von Kunst und Kultur über die Ausdifferenzierung moderner künstlerischer Berufe entlang des Leitbildes der freien bürgerlichen Berufe und der akademischen Professionen. Dieses Kapitel thematisiert die Professionalisierung künstlerischer und kultureller Berufe in zwei Perspektiven. Der Beitrag von Jürgen Kocka widmet sich der Geschichte des modernen Ingenieurberufs und damit jener Gruppe, deren fachlich begründeten Autonomieansprüche, Formen der kollektiven Selbstorganisation und Strategien der kulturellen Selbstbehauptung intensiv auf die Professionalisierung von Bildenden Künstlern, Tänzern, Schriftstellern, Komponisten und Kulturfunktionären einwirkten, während die nachfolgenden Essays die Profilierung eben dieser neuen Berufsgruppen problematisieren. Dabei machen uns die Essays in diesem Kapitel mit wesentlichen Merkmalen von Professionalisierung vertraut. Die Beiträge skizzieren die Zusammenhänge zwischen der Entstehung künstlerischer Berufsgruppen als sozialer Akteure neuen Typus und den von diesen initiierten Prozessen der Autonomisierung, die begründet wurden mit Fachwissen und speziellen Fertigkeiten, Ansprüchen auf soziale Partizipation, der Gründung von künstlerischen Berufsverbänden und der Akademisierung von Ausbildungsgängen. Jürgen Kocka zeigt in seinem Beitrag, wie die Berufung auf „Kultur“ im Sinne von kultureller Bildung von den standespolitischen Interessenvertretungen der Ingenieure strategisch eingesetzt wurde im Ringen um soziale Anerkennung und in der Abgrenzung von nicht-akademisch organisierten technischen Berufen. Instruktiv ist hierbei der hohe symbolische Stellenwert kultureller Eliten und der von ihnen verwalteten Bildungsgüter, deren Aneignung die Ingenieure bei der Formierung als Berufsgruppe gezielt instrumentalisierten. In seinem Beitrag über den polnischen Maler Wojciech Kossak präsentiert Stefan Troebst eine künstlerische Karriere, die exemplarisch steht für den in der wissenschaftlichen Literatur so bezeichneten Wandel vom Hofkünstler zum bür10 Middell, Matthias, Kulturtransfer und transnationale Geschichte, in: ebd., S. 49–72.

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gerlichen Künstler. Kossaks Werdegang oszilliert zwischen den typischen Merkmalen des durch Patronage und staatliches Mäzenatentum protegierten Künstlers und jenen des freien, auf einem europaweiten Markt in Konkurrenz zu anderen Malern agierenden Künstlers. Allerdings zeigt der Beitrag, dass Kossak mit seiner späten Bereitschaft, sich als polnischer Nationalkünstler zu inszenieren, dem Modell der staatlichen Patronage verhaftet blieb und nicht den Weg einschlug, der Abhängigkeit vom Markt durch die Forderung nach Institutionalisierung rechtlicher und sozialer Instrumente der Selbstbehauptung entgegenzuwirken. Heide Lazarus und Juliane Scholz stellen dagegen Strategien der Professionalisierung in zwei künstlerischen Feldern vor, die jeweils auf die Etablierung eines festen Berufsbildes, auf die Zuweisung einer relativ genau definierten gesellschaftlichen und kulturellen Rolle sowie auf soziale Absicherung zielten. Mit der Professionalisierung des modernen Tänzers skizziert Heide Lazarus einen Prozess der beruflichen Emanzipation, der im Rahmen eines langfristigen Prozesses der Institutionalisierung und Organisation von Kunst und Unterhaltung insbesondere um Hierarchieverhältnisse zwischen unterschiedlichen künstlerischen Sparten kreiste. Mündete dieser in die definitive Herausbildung des freien Tänzers als eigenständigem sozialen Typus zwischen 1900 und 1930, ging dies vor allem mit der Formierung als Berufsstand über die Gründung von Tänzerverbänden, der Ausarbeitung beruflicher Programme und Strategien sowie der institutionellen Umstrukturierung von Theaterbühnen einher. Anhand deutschsprachiger Drehbuchautoren im US-amerikanischen Exil in den 1930er-Jahren gibt Juliane Scholz Einblick in die kulturelle Bedingtheit von Prozessen der Professionalisierung. Denn das arbeitsteilig organisierte und auf Teamarbeit beruhende, großbetriebliche System der Hollywoodstudios, das Drehbuchautoren in bestimmte Rollen-, Funktions- und Beziehungsmuster einordnete, stand im Spannungsverhältnis mit einem individualistischen Verständnis von Kreativität, Autorschaft und Professionalität, wie es die exilierten Autoren aus Europa mitbrachten. Obwohl die Drehbuchautoren den Verlust ihres traditionellen beruflichen Selbstbildes beklagten, argumentiert Scholz, dass die klaren Rollen- und Beziehungsmuster in den Filmstudios die Herausbildung eines kollektiven, gewerkschaftlichen Bewusstseins der Drehbuchautoren letztlich beförderten. Dorothea Trebesius und Thomas Höpel untersuchen Professionalisierungsprozesse in Kunst und Kultur im Staatssozialismus, indem sie das sozialistische Programm der Kulturpolitik als wesentliches Differenzierungsmerkmal bei der Professionalisierung von Komponisten und professionellen Kulturfunktionären in der DDR hervorheben. Dorothea Trebesius argumentiert, dass der Künstlerpolitik der DDR das Berufsbild des „sozialistischen Komponisten“ vorschwebte – im Dienste der Erziehung des musikalischen Publikums, ausgerichtet auf die Erlernbarkeit des Komponierens und die Vergleichbarkeit mit wissenschaftlichen Berufen. Die Umsetzung in die Praxis gelang dabei vor allem über eine Neudefinition der Position und des Selbstverständnisses der Komponisten, der Neuausrichtung des Kompositionsstudiums und veränderter Kompetenzen der Berufsverbände, wobei, wie Trebesius nachweist, diese umfangreichen politischen und strukturellen Maßnahmen das Muster des freiberuflichen Komponisten nur zeitweilig in den

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Hintergrund drängen, nicht aber gänzlich auflösen konnten. Thomas Höpel widmet sich in seinem Essay der seit den 1960er-Jahren in der DDR systematisch betriebenen Ausbildung von Kulturfunktionären in einem eigens dafür geschaffenen Hochschulstudium für Kulturwissenschaften. Ähnlich wie Trebesius schlussfolgert Höpel, dass Demokratisierung des Zugangs zu Kunst und Kultur sowie das Programm einer Massenerziehung einen spezifischen Bedarf nach einheitlich qualifizierten und zentral ausgebildeten Kulturfunktionären weckte. Im europäischen Vergleich entwickelten die DDR-Kulturfunktionäre wegen der akademischen Institutionalisierung der Ausbildung eine spezielle berufliche Identität, die sie von den stärker politisch geprägten Kollegen in anderen sozialistischen Staaten und von deutlich geringer profilierten Professionalisierungsprozessen von Kulturarbeitern in Westeuropa unterschieden. Das zweite Kapitel Kulturberufe zwischen Kommerzialisierung und Populärkultur thematisiert Verschiebungen im Verhältnis von Kulturschaffenden und Publikum im Zuge der Entstehung einer demokratisierten Populär-, Massen- und Konsumkultur. Von Honoré de Balzacs Kritik an der Pariser Presselandschaft Mitte der 1840er-Jahre bis zur Gründung der konsumkritischen FairTrade-Bewegung an der Wende zum 21. Jahrhundert deckt dieses Kapitel einen vergleichsweise großen Zeitraum ab, wobei der thematische Schwerpunkt auf den Konsequenzen neuer Medien und Techniken der Vervielfältigung für die Verbreitung kultureller Massengüter in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts liegt. Das Kapitel rückt die Formen, Medien und Orte der Vermittlung und Deutung populärkultureller Angebote, die diese propagierenden neuen sozialen Akteure und die damit einhergehenden Auseinandersetzungen zwischen Kritikern, alten und neuen Eliten über Grenzziehungen zwischen Hoch- und Populärkultur ins Licht. In seinem Beitrag über Balzacs Kritik an der zeitgenössischen Kommerzialisierung der städtischen Kultur führt Christophe Charle uns in die zeitgenössische Wahrnehmung eines strukturellen Wandels ein, dessen hervorstechendes Merkmal die Etablierung neuer städtischer Eliten mit bildungsbürgerlichem Hintergrund bildete. Der Wettbewerb um die Aufmerksamkeit dieser neuen städtischen Elite provozierte einen grundsätzlichen Wandel im Verhältnis zwischen Schriftstellern, Journalisten und den kommerziellen Interessen von Publikumszeitungen, der das schriftstellerische, anti-kommerzielle Selbstverständnis eines Balzac zutiefst herausforderte und diesen, wie Charle argumentiert, mit der Forderung nach der Figur des politisch engagierten Intellektuellen avant la lettre antworten ließ. Den Verschiebungen von Selbst- und Fremdwahrnehmungen im Gefüge professioneller Kulturakteure gehen auch die Beiträge von Kerstin Lange und von Irmtraud und Albrecht Götz von Olenhusen auf den Grund. Mit der Verbreitung des argentinischen Tango als neuem Mode- und Publikumstanz um die Wende zum 20. Jahrhundert nimmt Kerstin Lange die städtische Vergnügungskultur in den europäischen Metropolen in den Blick. Sie zeigt, wie die Transformation städtischer Kulturangebote europaweit zu veränderten Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Kultur führte, in deren Verlauf besonders die Grenze zwischen Hoch- und Populärkultur sowie die soziale Position neuer Akteure wie Künstler und Tanzlehrer als professionelle Kulturvermittler verhandelt wurde.

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Dabei bewirkten, so Lange, die Internationalisierung der Populärkultur und vielfältige Transferprozesse zwischen den europäischen Metropolen eine grundsätzliche Ähnlichkeit in den städtischen Vergnügungsangeboten. Irmtraud und Albrecht Götz von Olenhusen argumentieren ähnlich, wenn sie Siegfried Kracauer als zentrale Figur bei der Entstehung der professionellen Filmkritik als eigenständigem Genre vorstellen. Die Herausbildung einer soziologisch fundierten, unabhängigen Filmkritik stand in einem engen Zusammenhang mit der Kapitalisierung der Filmproduktion in der Zwischenkriegszeit, in der vor allem die US-amerikanische Filmindustrie den internationalen Markt zu dominieren begann. Was die Autoren in diesem Sinne als wirtschaftliche und kulturelle Amerikanisierung beschreiben, bewirkte einen von Beginn an international ausgerichteten Prozess der Professionalisierung der Filmkritik, der an der globalen Verbreitung von Montagetechniken, Stoffen und einem methodisch durchgeführten Bildertransport geschult wurde. Siegfried Lokatis thematisiert anhand der Entdeckung der Schweizer Literaturlandschaft durch DDR-Verleger einen Kommerzialisierungs- und Professionalisierungsprozess eigener Art. Seiner eigentlichen Tätigkeit durch die Reorganisation und Zentralisierung des DDR-Verlagswesens beraubt, spezialisierte sich der Verleger Roland Links auf die Publikation Schweizer Autoren in der DDR, womit er verschiedene, teils atypische Professionalisierungsprozesse auslöste. Neben der Profilierung des DDR-Verlags Volk und Welt als Verlag für internationale Literatur bewirkte diese Publikationsstrategie vor allem die Profilierung der Schweizer Literaturszene als international konkurrenzfähig, während die systematische, staatlich betriebene Unterwanderung eines wesentlichen Elements professioneller Selbstbehauptung auf einem Markt für kulturelle Güter, des internationalen Urheberrechts, zur Vermittlung eines europäischen Literaturkanons in der DDR führte. Harald Homann, Manuel Schramm und Hasso Spode fragen nach den Zusammenhängen zwischen Professionalisierung, Europäisierung und den Praktiken moderner Konsumgesellschaften. Harald Homann legt das Augenmerk auf die frühe Entstehung europaweit vernetzter Konsumentenbewegungen, die zeitgleich mit dem Aufkommen moderner Massenkonsumgesellschaften die Notwendigkeit zur Erziehung des Konsumenten propagierten. Gestützt auf sozialreformerische Wissenschaftler und Politiker, zielten diese Initiativen darauf, in der Ausdifferenzierung von Rollen, Praktiken und Institutionen in der modernen Konsumgesellschaft den Konsumenten in einen über sein Tun aufgeklärten Akteur zu verwandeln. Dabei betont Homann, dass die institutionelle und organisatorische Professionalisierung konsumkritischer Bewegungen erst in den letzten Jahrzehnten mit der Verbreitung der FairTrade-Bewegung Fahrt aufgenommen habe. Die Gegenperspektive einnehmend, skizziert Manuel Schramm anhand des in den 1930erJahren in die USA emigrierten Wiener Werbefachmanns Ernest Dichter den Versuch, die von Dichter in den USA entwickelte und auf psychologischen Methoden beruhende Motivforschung für die Erzeugung eines prototypischen europäischen Konsumenten zu nutzen. Die damit verknüpfte Ambition, die europäische Einigung durch die Schaffung einer Selbstwahrnehmung als „europäisch“ zu befördern, leistete letztlich, wie Schramm zeigt, vor allem der Professionalisierung und Verwissenschaftlichung der Werbung in Europa nach US-amerikanischem Vor-

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bild Vorschub. Den Aspekt der Verwissenschaftlichung fortführend, präsentiert Hasso Spode mit der Professionalisierung der Tourismusforschung ein Beispiel für Professionalisierungsprozesse in einem wissenschaftlichen Gebiet, das mit der systematischen Forschung über eine immer beliebter werdende Konsumpraxis sich im beständigen Spagat zwischen Wirtschaft und Wissenschaft sowie zwischen angewandter Forschung und dem Anspruch, dem Kanon der „reinen“ Wissenschaften zuzugehören, bewegte. Spode analysiert die aus diesem grundsätzlichen Streit um Erkenntnisgrundlagen, Methoden und Zweck resultierende, andauernde Kontroverse um die Definition von Tourismus als „Kulturerscheinung“ und als technischer Herausforderung. Das dritte Kapitel über Transfer, Kooperation, Konkurrenz – Europa als Wissenschaftsraum geht der Entstehung eines europäisch Wissenschaftsraumes auf den Grund, der von der russischen Orientalistik am Ende des 19. Jahrhunderts, über die Professionalisierung einer international aufgestellten Orientarchäologie und ihrer tschechoslowakischen und osmanischen Protagonisten bis in die USA reicht, und in dem die Ausbildung einer internationalen Expertenkultur und deren gleichzeitige Nationalisierung treibende Motoren bei der Profilierung akademischer Disziplinen bildeten. Die Beiträge in dieser Sektion belegen eindrücklich zwei Aspekte, die Forschungen zur transnationalen Geschichte und zur Wissenschaftsgeschichte jüngst herausgearbeitet haben: Erstens argumentieren die Autoren und Autorinnen, dass der Blick auf die innerdisziplinären Diskussionen um professionelle Standards einseitig bleibt, sofern er nicht um den Blick auf die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Kontexte auf europäischer Ebene und deren Einfluss auf die Formierung wissenschaftlicher Expertise und akademischer Institutionen ergänzt wird. Zweitens enthüllen die Beiträge das „Spiel mit den Maßstäben“ (jeux d’echelles 11 ) der historischen Akteure, ihre Fähigkeit, sich je nach Lage als Angehörige regionaler, nationaler oder europäischer Eliten zu inszenieren und diese unterschiedlichen Handlungsebene bewusst für das Erreichen eigener Ziele einzusetzen. Diese Handlungsebenen umschließen dabei das Postulat eines universalen Strebens nach wissenschaftlicher Erkenntnis und Fortschritt, ein Selbstverständnis als Mitglied einer internationalen wissenschaftlichen community, den Verweis auf ausländische Vorbilder als Argument für die Reform heimischer Ausbildungsstrukturen und schließlich die Bereitschaft, die Nationalisierung von Wissenschaft und Wissenschaftspolitik aktiv zu betreiben. Dabei zeigen die Beiträge, dass jeder Versuch, einen spezifisch europäischen Wissenschaftskanon über eine geographische oder thematische Außenabgrenzung zu behaupten, historisch immer wieder scheiterte. Sogar im Gegenteil: Am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren es gerade transnationale wissenschaftliche Netzwerke, die Inszenierung eines internationalen wissenschaftlichen Habitus sowie beständige Transfers von Wissen und akademische Strukturen zwischen Russland, dem Osmanischen Reich, Ostmitteleuropa, Westeuropa und den USA, die zu zentralen historischen Bezugspunkten für die Herausbildung eines modernen, „westlichen“ Wissenschaftssystems avancierten. 11 Revel, Jacques, Jeux d’échelles. La micro-analyse à l’expérience, Paris 1996.

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Im Fall von Albert Venn Dicey, Professor für Recht an der Universität Oxford, argumentiert David Sugarmann, dass sein Eintreten für eine akademische Juristenausbildung mit einem soliden rechtstheoretischen Fundament über einen vorsichtig eingesetzten, dennoch deutlich hörbaren Verweis auf französische, deutsche und US-amerikanische Rollenvorbilder funktionierte, womit Dicey sich in eine transnationale Bewegung einreihte, die zwischen 1850 und 1914 auf die Modernisierung der Rechtsausbildung und Rechtswissenschaft als originär akademische Angelegenheit hinwirkte. Ähnlich verfuhr Abraham Flexner, dessen Studienerfahrungen in Deutschland, wie der Essay von Charles McClelland zeigt, sich als prägend für sein im Auftrag des Carnegie Endowment for International Peace (CEIP) verfasstes Reformprogramm der US-amerikanischen Medizinerausbildung erwiesen. Die Forderung nach einer Professionalisierung der bis dahin überwiegend privat und partikular organisierten medizinischen Ausbildung interpretiert McClelland als Ergebnis eines weitreichenden Kulturtransfers des deutschen Ausbildungsmodells in die USA, der seinerseits zu einem Vorbild für die Standardisierung akademischer Professionen avancierte und auf diese Weise selbst stilbildend wirkte. Vergleichbar skizziert Katja Naumann, wie die American Historical Association, der nationale Berufsverband der US-amerikanischen Historiker, den Verweis auf das deutsche Abitur bis in die 1940er-Jahre nutzte, um dem eigenen Fach in den bildungs- und hochschulpolitischen Auseinandersetzungen um Lehrpläne und Curricula ein größeres Gewicht zu verleihen. Naumann verweist uns auf die Unberechenbarkeit von Transferprozessen: Scheiterte die Einführung eines Abiturs nach deutschem Vorbild, mündete der Transfer anstelle dessen in verschieden konzipierte historische Einführungskurse, die nach ihrer Kanonisierung als fester Bestandteil der nordamerikanischen College-Ausbildung in der frühen Bundesrepublik wiederum Pate standen für die Forderung, der universitären Ausbildung mithilfe des Studium Generale ein gesellschaftspolitisches Bewusstseins zu verpassen. Helke Rausch verfolgt das dichte Gefüge personaler und institutioneller Vernetzungen zwischen europäischen und US-amerikanischen Wissenschaftlern und Kulturpolitikern schließlich bis in die Zwischenkriegszeit, indem sie das CEIP und sein Stiftungsengagement in Westeuropa in den Blick nimmt. Rausch stellt das CEIP als kulturdiplomatischen Akteur vor, der über die Stiftung von Lehrstühlen gezielt in das Wissensgefüge der französischen und deutschen Gesellschaften der Zwischenkriegszeit eingriff. Mit diesem politisch motivierten Mäzenatentum initiierte das CEIP Professionalisierungsprozesse von außen und wirkte als eine Art Geburtshelfer für außeruniversitäre Institute und Projekte, die das bis dahin exklusive Monopol der Universitäten aufweichten, professionelles Wissen zu definieren und Bildungspatente zu verleihen. Frank Hadler und Dietmar Müller vertiefen diese Perspektive, indem sie die Selbstwahrnehmung der Akteure als Forscher von internationalem Rang mit nationaler Agenda ins Zentrum rücken. Dietmar Müller zeigt, warum das sozialpolitische Engagement deutscher Nationalökonomen eine ganze Schar rumänischer Schüler anlockte, die im Transfer dieser im Verein für Socialpolitik institutionalisierten wirtschafts- und sozialpolitischen Ansätze nach Rumänien eine tragfähige nationale Antwort auf die Herausforderungen sahen, vor der die rumänische Ge-

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sellschaft angesichts von Industrialisierung, Urbanisierung und Agrarreformen nach dem Ersten Weltkrieg stand. Aufschlussreich an diesem Beispiel ist die Unsichtbarkeit dieses Transferprozesses: Adaptiert an die lokalen, agrarisch geprägten Gegebenheiten, verbargen die rumänischen Nationalökonomen die inhaltlichen, biographischen und institutionellen Anleihen bei der (westeuropäischen) Historischen Schule der Nationalökonomie hinter einer nationalisierenden, eigenen politischen Zielen gewidmeten Sprache. Ähnlich argumentiert Frank Hadler in seinem Essay, wenn er den tschechoslowakischen Orientarchäologen Bedřich Hrozný als einen akademische Standards setzenden, europaweit agierenden Großen seines Faches vorstellt, der die nationalen politischen Gegebenheiten nach dem Ersten Weltkrieg für die Erreichung seiner wissenschaftlichen Zwecke zu nutzen wusste. Damit zeigt der Essay, dass Wissenschaft als ein transnationaler disziplinärer Zusammenhang, in dem ein professionelles Selbstverständnis über den Nachweis einer internationalen Forschungstätigkeit hergestellt wird, unabdingbar mit der Fähigkeit verknüpft ist, diesen Expertenstatus auf nationaler Ebene zu institutionalisieren und für die Mobilisierung von Ressourcen zu instrumentalisieren. Den Konsequenzen einer politischen und kulturellen Überformung wissenschaftlicher Forschung gehen Jakob Vogel und Steffi Marung nach. Am Beispiel des osmanischen Archäologen Osman Hamdi Bey zeigt Jakob Vogel, dass wissenschaftliche Kompetenz eine intersubjektiv ausgehandelte Kategorie ist, deren Professionalisierung und Institutionalisierung dort an Grenzen stößt, wo soziale oder kulturelle Mechanismen der Exklusion ins Spiel kommen. Obwohl Hamdi Bey zur Etablierung der klassischen Archäologie als europäische wissenschaftliche Disziplin maßgeblich beitrug, den Habitus eines westeuropäischen Wissenschaftlers pflegte und eine professionelle Verwaltung antiker Fundstücke im Osmanischen Reich mit großem Echo in der Fachwelt aufbaute, stand die Anerkennung seiner Leistungen immer im Zeichen kulturell geprägter Vorurteile, die die fachwissenschaftliche Kompetenz der osmanischen Archäologen wegen ihrer Herkunft anzweifelten. Umgekehrt argumentiert Steffi Marung, dass die russischen Orientalisten im 19. Jahrhundert die Disziplin in einem permanenten Dialog mit europäischen Kollegen an die Spitze des Wissenschaftsfeldes führten, sich aber von dieser Anerkennung durch die westeuropäischen Vertreter des Faches durch einen erklärten Anti-Imperialismus und Anti-Kolonialismus bewusst abgrenzten. Deutlich werden hier die unterschiedlichen Strategien, die eigene Zugehörigkeit zu einem paneuropäischen Wissenschaftssystem zu reflektieren und zu benutzen: Tauschten sich sowohl die russischen Orientalisten als auch die sowjetischen Afrikanisten mit Kollegen in Frankreich, Belgien oder Deutschland aus, wurde dieser transnationale Austausch durch die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse dergestalt überformt, dass diese Bezugnahme explizit nur in politischen Umbruchzeiten wie der Perestroika als Folie für die Neuausrichtung des nationalen akademischen Feldes herangezogen wurde. Der vergleichende Blick auf das professionelle Tun in anderen europäischen Ländern, der Verweis auf kanonische, europäische Leitbilder und die bewusste Übernahme vermeintlich erfolgversprechender institutioneller Muster, Organisa-

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tionsformen und der dazugehörigen sozialen und kulturellen Praktiken sind immer wieder bemühte Strategien, mit denen akademische und kulturelle Eliten auf die Notwendigkeit der Neuorientierung in politischen Krisen, sozialen oder wirtschaftlichen Umbruchsituationen reagierten. Das letzte Kapitel Krisen und Transformationen von Expertenkulturen im 20. Jahrhundert konzentriert sich auf die Konsequenzen staatlicher Interventionen, infrastruktureller Probleme oder Identitätskrisen auf die Produktion von Kultur- und Wissensgütern. Mit dieser Perspektive rückt das Gegenstück zur Professionalisierung eines Berufszweiges bzw. einer kulturellen oder wissenschaftlichen Tätigkeit in das Blickfeld. Prozesse der De-Professionalisierung können durch staatliche und politische Eingriffe initiiert werden, durch den Wandel der sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen oder durch die Wahrnehmung einer kulturhistorischen Krise, ausgelöst beispielsweise durch Medienwandel oder die Verbreitung neuer populärkultureller Angebote. Mit dem Versuch des Kulturphilosophen Georg Simmels, Stefan George sowie andere Schriftsteller, Künstler, Musiker und akademisch einflussreiche Personen vom Beitritt in einen neu zu gründenden, „anti-barbarischen“ Kulturklub zu überzeugen, setzt Klaus Christian Köhnke die Diskussion um die Bedeutung der wilhelminischen Kulturpolitik für das Kulturverständnis akademisch gebildeter Eliten im Deutschen Kaiserreich fort. Simmels Initiative zeichnete sich durch die Berufung auf ein professionelles Selbstverständnis als Angehöriger der akademischen Berufe aus, das vor allem auf Autonomie von staatlicher Bevormundung und der kommerziellen Verbreitung geistiger Werke beruhte. Diese mühsam im 19. Jahrhundert von Künstlern und Wissenschaftlern mit dem Staat ausgehandelten Autonomieansprüche waren es, die Simmel und seine Mitstreiter durch ästhetische Eingriffe in den öffentlichen Raum von höchster Stelle bedroht sahen, und die sie über die Institutionalisierung in einem privaten Klub behaupten wollten. Im Vergleich dazu stellt Milan Ristović mit den Rekrutierungsstrategien serbischer Staatsbeamter sowie ihrer politischen und kulturellen Implikationen einen durch wechselnde politische Regime immer wieder politisch überformten und in neue Gleise gelenkten Professionalisierungsprozess vor, in dem, wie Ristović zeigt, europäische Erfahrungen der politischen und intellektuellen serbische Eliten bis 1914 eine signifikante Rolle bei der Formierung standesgemäßer Selbstbilder und Praktiken spielten. Mit den Konsequenzen staatlicher Eingriffe auf professionelle Selbstbestimmung im akademischen Feld setzen sich die Beiträge von Isabella Löhr und Konrad H. Jarausch auseinander. Isabella Löhr thematisiert die vom NS-Regime initiierten Prozesse der De-Professionalisierung wissenschaftlicher Berufe ab 1933, die in der radikalen Infragestellung des autonomen Status von Universitäten sowie in der Aberkennung von Bildungspatenten bestanden. Die Gründung von Fluchthilfeorganisationen für verfolgte Wissenschaftler im europäischen Ausland bedeutete eine Internationalisierung der Forderung nach autonomer Selbstbestimmung, die die Selbstwahrnehmung von Wissenschaft als einer auf Kompetenz und Selbstevaluation begründeten, grenzüberschreitenden Gemeinschaft bekräftigte. Am Beispiel der Geschichtswissenschaft nimmt Konrad H. Jarausch die verschiedenen Bemü-

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hungen der Wiederanknüpfung abgerissener Beziehungen nach Deutschland in den Blick. Während dauerhafte Rückkehr die Ausnahme blieb, beförderte gerade dies, so Jarausch, die Herausbildung des Spezialfaches deutscher Geschichte an angloamerikanischen Universitäten und damit eine Professionalisierung und Internationalisierung der Geschichtswissenschaft in diesem Bereich. Hartmut Kaelble beschäftigt sich in seinem Beitrag mit den Zusammenhängen zwischen der Bewältigung der Rolle deutscher Wissenschaftler in der NS-Diktatur und dem gleichzeitig stattfindenden Wandel der Figur des Intellektuellen in den deutschfranzösischen Beziehungen seit den 1960er-Jahren. Die Aufarbeitung dieses Themas, so Kaelble, ging mit einem Wandel des Profils des Intellektuellen einher vom klassischen Schriftsteller und Künstler, wie in Balzac antizipierte, hin zum sozialwissenschaftlich ausgebildeten Experten. Dieser Prozess der Verberuflichung der Intellektuellen bewirkte die Annäherung zweier vormals als französisch und deutsch apostrophierter intellektueller Typen, der den Blick von den deutschfranzösischen Unterschieden auf die Gemeinsamkeiten verschob. Die Beiträge von Augusta Dimou und Lena Heinze setzen sich schließlich mit der materiellen Dimension kultureller Berufe auseinander – in diesem Fall das Buch als Kulturgut, als Ware und als Standortfaktor. Anhand der massiven Auseinandersetzungen um die Einfuhr fremdsprachiger Bücher im Jugoslawien der Zwischenkriegszeit beschreibt Augusta Dimou die Krise des Buchhandels als eine dreifache Krise, die Identitätsfragen des neu gegründeten Staatengebildes im Kanon einer vermeintlich europäischen Kultur mit dem Streit um die gesellschaftliche Rolle von Kunst und Kultur und schließlich mit einer handfesten infrastrukturellen Krise des organisierten Buchhandels in einem noch überwiegend agrarisch geprägten Land verknüpfte. Stehen in dem von Dimou skizzierten Beispiel die Defizite eines noch nicht professionalisierten Buchhandels im Zentrum, geht es im letzten Beitrag von Lena Heinze mit der Leipziger Verlagslandschaft um die Abwicklung und Transformation einer ganzen, ehemals traditions- und einflussreichen Branche. Heinze zeigt, wie städtische Kulturpolitik auf die Frage, was mit der aufs Äußerste geschwächten Buchproduktion am ehemaligen Verlagsstandort von internationalem Rang nach kriegsbedingten Zerstörungen, mehrfachen politischen Eingriffen in das professionelle Gefüge, einer Struktur- und Wirtschaftskrise und der Konkurrenz durch neue Medien geschehen soll, mit einer europaweit praktizierten Strategie geantwortet wird, die auf Musealisierung und Vermarktung des vormals hohen sozialen und kulturellen Kapitals der buchherstellenden und -vertreibenden Berufsgruppen setzt. Dieser Beitrag schließt auf gewisse Weise auch den Bogen zum Anlass, dem dieser Band seine Entstehung verdankt. Hannes Siegrist hat mehr als anderthalb Jahrzehnte als Professor für vergleichende europäische Kultur- und Gesellschaftsgeschichte in Leipzig gewirkt und in dieser Zeit nicht nur eine Agenda für das Fachgebiet Kulturgeschichte entwickelt, sondern auch die städtische Kulturpolitik immer wieder beeinflusst. Geht es in seinem wissenschaftlichen Œuvre um die Berufe und Professionalisierung ebenso wie um geistiges Eigentum und Propertisierung als umfassende Trends der Moderne und der Gegenwartsgesellschaften, so hat Siegrist zugleich die Geschichte und aktuelle Form von Kulturpo-

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litik zum Gegenstand von akademischer Lehre und persönlicher Intervention in die Praxis einer Stadt gemacht, die ihre Universität nicht nur räumlich im Zentrum beherbergt. Der gelernte Sozial- und Wirtschaftshistoriker hat sich nie allein auf Diskurse und Imaginationen konzentriert, auch wenn er deren inspirierende und Handlung generierende Rolle keineswegs unterschätzt. Aber Beruf, Eigentum und Politik haben unzweifelhaft eine Dimension der Ressourcenausstattung, die zu vernachlässigen im Wortsinne ins Elend führen kann. Diesem Training in der Verknüpfung aller Ebenen, Aspekte und Reichweiten individuellen und gesellschaftlichen Handelns verdankt eine ganze Generation Leipziger Kulturwissenschaftlerinnen und Kulturwissenschaftler ihre akademische Prägung. Einige von ihnen, die unter Hannes Siegrists Betreuung ihre Qualifizierung und Professionalisierung vorangetrieben haben, sind in diesem Band neben langjährigen Wegbegleitern vertreten – eine Hommage, die dem Wissenschaftler, Lehrer, Kollegen und Freund zugeeignet ist im Wissen um dessen Abneigung gegen traditionelle Festschriften. Was lag deshalb näher als eine der jüngeren Initiativen aufzugreifen, die Hannes Siegrist im Streben nach einer empirischen Fundierung der EuropaGeschichtsschreibung und einer entsprechenden akademischen Lehre angestoßen hat, als er das Themenportal Europäische Geschichte im Rahmen des Verbundes Clio-online öffnete? Die Idee scheint beinahe unzeitgemäß, auch wenn das Medium ein modernes ist. Das Themenportal baut auf der Überzeugung auf, dass gute historische Forschung von der Quelle ausgehen muss und dass es der sorgfältigen und kritischen Interpretation dieser Quellen bedarf, um zu neuen Deutungen vorzustoßen. Interessenten an der Europäischen Geschichte eine Vielzahl von Quellen verfügbar zu machen und eine beispielhafte Einordnung und Analyse des Quelleninhalts zu liefern, wirkt wie grundständiges Handwerk, ist aber ein durchaus anspruchsvolles Vorhaben: Es beruht auf dem Spürsinn der Beiträger, aussagekräftige Quellen auszuwählen und um diese herum eine Interpretation zu arrangieren, die den vielfältigen Ansätzen gerecht wird, die in der heute so erfreulich pluralen Geschichtswissenschaft präsent sind. Das Themenportal offeriert Beispiele, wie jene Kulturtechnik, die Historiker auf dem Weg zu virtuoser Professionalität begleitet hat, angewandt werden kann: Quelleninterpretation als Grundlage eines ebenso kritischen wie informierten Umgangs mit der täglichen Flut neuer Nachrichten, Bilder, Deutungen. Dass dabei der Quellenbegriff zugleich über das gedruckte Wort hinausreicht, zeigen die Bilder, die in diesem Band einigen Essays zugrunde liegen; das elektronische Medium des Internet-Portals bietet noch viele weitere Möglichkeiten, Quellen zu präsentieren. Eine weitere Dimension des Unterfangens, das Hannes Siegrist seit 2008 erfolgreich leitet, ist das exemplarische Abstecken einer Reichweite für den Begriff der Europäischen Geschichte, der sich eben nicht geographisch einhegen lässt, also nicht mit Formeln angemessen beschrieben wird, die Europa als Raum vom Atlantik bis zum Ural oder vom Nordkap bis an die Küsten des Mittelmeeres konzipieren. Im Zeitalter der transnationalen Erweiterung des Geschichtsverständnisses wird das ganze Beziehungsgeflecht sichtbar, das die Geschichte eines Ortes

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oder einer Region über die Ränder des Containers vernetzt, als den man sich früher Nationen, Kontinente oder Zivilisationen vorgestellt haben mag. Was im scheinbar bescheidenen Format der exemplarischen Demonstration daherkommt, hat eine viel weiterreichende Ambition, verbindet das, was auf den ersten Blick konventionell scheinen mag, mit einer oft propagierten, aber viel seltener eingelösten Agenda tatsächlicher Verflechtungsgeschichte. Wir sind sehr froh, dass dieser Band nicht nur eine Geburtstagsgabe ist, sondern Bestandteil des von Hannes Siegrist ausgeworfenen Netzes einer neuen Europäischen Kulturgeschichte sein darf – in der von ihm begründeten Buchreihe und im Themenportal auf Clio-online. Heidelberg/Leipzig, im April 2012

1. PROFESSIONALISIERUNG IM HOCHKULTURBEREICH

KULTUR UND TECHNIK. ASPIRATIONEN DER INGENIEURE IM KAISERREICH 1 Jürgen Kocka Die Klage über ihre soziale Unterschätzung war unter deutschen Ingenieuren an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert weit verbreitet, jedenfalls ihre Sprecher und Funktionäre ließen daran keinen Zweifel. Vor dem Nürnberger Bezirksverein Deutscher Ingenieure hat das Wilhelm Franz, Maschinenbauprofessor an der TH Charlottenburg, 1908 bündig vorgetragen. Im Gegensatz zur wachsenden Bedeutung der Technik für Kultur und Gesellschaft seien die „Intellektuellen der Technik“ 2 , die Ingenieure, sozial unterprivilegiert und politisch einflusslos. Anders als die Juristen nähmen sie in der staatlichen Verwaltung und in den gesellschaftlichen Organisationen meist keine führenden, sondern nur untergeordnete Positionen ein. Das müsse sich ändern. In einer Gesellschaft, in der allgemeine Bildung und kulturelle Kompetenz zuverlässiger zu Ansehen und Wertschätzung verhalfen als fachliches Spezialkönnen oder Reichtum, lag es nahe, dass Ingenieure in ihrem Bemühen um gesellschaftliche Aufwertung auf ihre kulturelle Bedeutung verwiesen und sich nicht nur als technische, sondern gleichzeitig als kulturelle Elite empfahlen. In der viel gelesenen Reihe Die Gesellschaft, die Martin Buber Anfang des 20. Jahrhunderts herausgab, hat Ludwig Brinkmann 1908 kräftig in diese Kerbe gehauen.3 Er malte die Utopie einer zukünftigen technischen Kultur, in der dem Ingenieur eine Führungsstellung zukommen werde. Das Schaffen des Ingenieurs sei Kultur. Er dürfe sich nicht in das Korsett eines dienenden Spezialisten pressen lassen, sondern müsse als allgemein gebildeter Kulturmensch auftreten, als Herr. Die Entstehung der sozialen Gruppe der Ingenieure war in Deutschland, ähnlich wie in Frankreich, aber anders als in England und den USA, von Anfang an mit der Entwicklung des gewerblich-technischen Schulwesens verknüpft. Seit den 1820er-Jahren waren staatlich und kommunal getragene Gewerbeschulen und Polytechnische Institute entstanden, um „dem angehenden Fabrikanten und Handwerker nicht nur eine allgemeine Bildung und Einsicht in Dinge zu geben, welche zu wissen jedem Handwerker Not tut, sondern auch gerade soviel Vorkenntnisse,

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Essay zur Quelle: Technische Kultur und der Ehrgeiz der Ingenieure: Wilhelm Franz (1909) und Ludwig Brinkmann (1908) über den Beruf des Ingenieur. Franz, Wilhelm, Ingenieurstudium und Verwaltungsreform. Aufsätze, Berlin 1909, S. 9–10. Im Folgenden stammen alle Quellenzitate, soweit nicht anders vermerkt, aus den hier abgedruckten Quellenausschnitten. Brinkmann, Ludwig, Der Ingenieur (= Die Gesellschaft. Sammlung Sozialpsychologischer Monographien, Bd. 21), Frankfurt am Main 1908, S.82–85.

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als zum Betriebe eines technischen Gewerbes nötig sind“. 4 Mit Hilfe von ungemein leichten Eintrittsbedingungen und Stipendien öffnete man weitesten Bevölkerungskreisen den Zugang zu Laufbahnen in der entstehenden, nach qualifiziertem Personal rufenden Industrie. Doch die gegenseitige Durchdringung von Naturwissenschaft und Technik und die standespolitischen Interessen von Lehrern und Absolventen führten seit der Jahrhundertmitte zur Akademisierung dieser Schulen, die gleichzeitig Momente der neuhumanistischen Bildung als „Allgemeinbildung“ in ihre Lehrpläne aufnahmen. Die rigorose Reduktion des Stipendienwesens, die Einführung von Schulgeld, die Erhöhung der AufnahmeQualifikationen bis hin zum Abitur waren die sozial relevanten Begleiterscheinungen eines Prozesses, der sich in den Lehrplänen der Schulen als Abstoßung der praktischen Ausbildung, Mathematisierung und Spezialisierung des Wissensstoffes und schulorganisatorisch als Einführung akademischer Freiheit und Selbstverwaltung darstellte. Nach Karlsruhe, München, Dresden und Braunschweig erhielt 1879 auch das von dem preußischen Beamten und Wirtschaftsförderer Christian Wilhelm Beuth gegründete Berliner Gewerbeinstitut den Rang einer Technischen Hochschule (TH), nachdem es bereits vorher den Titel „Gewerbe-Akademie“ errungen hatte. Zugleich führten, jedenfalls in Preußen, die niederen und mittleren technischen Schulen allgemeinbildende Programme ein, bis 1878 die Provinzial-Gewerbeschulen – bis dahin „Handwerkerschulen für die kleinen Leute“ – in lateinlose Realschulen Zweiter Ordnung umgewandelt wurden, also in allgemeinbildende Schulen, die ihren Absolventen den Zugang zur TH öffneten, aber bald ihrerseits die Sekundarreife einer Realschule oder eines Gymnasiums zur Aufnahmebedingung erklärten. Indem sie allgemeine mittlere und höhere Schulbildung zur Ausbildungsvoraussetzung machte, trennte sich die aus den Polytechniken bzw. Technischen Hochschulen hervorgehende neue „technische Intelligenz“ von ihren empirisch-technisch tätigen Vorgängern und suchte Anschluss ans nicht-technische Bildungsbürgertum. „Man hatte die Gedanken Beuths definitiv verlassen, die Söhne der kleinen Leute herausgeworfen.“ 5 Die Entstehung des mächtigsten Standesvereins der Ingenieure, des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) aus einem Absolventen-Verein des Berliner Gewerbe-Instituts 1856 weist auf den engen Zusammenhang zwischen dem geschilderten Akademisierungsprozess und der Entstehung der Ingenieure als Gruppe hin. Von Anfang an fasste dieser Standesverein die technische Bildung als sein konstituierendes Moment auf. Er bezweckte ein „inniges Zusammenwirken der geistigen Kräfte deutscher Technik zur gegenseitigen Anregung und Fortbildung

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So Christian Wilhelm Beuth, der Gründer des Berliner Gewerbeinstituts von 1821; vgl. Straube, Hans-Joachim; Peter, Christian, Wilhelm Beuth, Berlin 1930, S. 7. Genauer, auch zum Folgenden vgl. Kocka, Jürgen, Unternehmensverwaltung und Angestelltenschaft am Beispiel Siemens 1847–1914. Zum Verhältnis von Kapitalismus und Bürokratie in der deutschen Industrialisierung, Stuttgart 1969, S. 166–171, 525–533. Schmoller, Gustav, Das untere und mittlere gewerbliche Schulwesen in Preußen, in: Ders., Zur Social- und Gewerbepolitik der Gegenwart, Leipzig 1890, S. 247–276, hier S. 261.

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im Interesse der gesamten Industrie Deutschlands“. 6 Tendenziell engte sich der Begriff des „Ingenieurs“ auf die Gruppe der (auch) theoretisch vorgebildeten Techniker ein. Diese Akzentuierung des geistigen Charakters ihrer Tätigkeit und der Bildungsmerkmale im Selbstverständnis der Ingenieure ist verständlich in einer Gesellschaft, in der die Unternehmer und Techniker, die Handwerker und Werkmeister gerade wegen ihrer geringen Bildung (vor allem im Sinn humanistisch orientierter Allgemeinbildung) nur niedriges soziales Prestige genossen. Die beste Möglichkeit, die Geringschätzung des meinungsbildenden Bildungsbürgertums zu durchbrechen, schien darin zu bestehen, sie durch Anpassung zu unterlaufen, das heißt die eigene Bildung anzuheben, auf die Allgemeinbildung hin zu erweitern und das Resultat zu betonen. Die erwähnte Umwandlung der mittleren Fachschulen in mittlere und höhere allgemeinbildende Schulen und die Aufnahme von Kunst- und Literaturwissenschaft in die Angebote der Gewerbeakademien bzw. Technischen Hochschulen 7 lassen sich nicht hinreichend aus den Anforderungen der sich verwissenschaftlichenden Technik und den Anforderungen der späteren Arbeitsplätze erklären. Sie weisen vielmehr auf das Bemühen der Techniker und Ingenieure hin, an jenen gesellschaftlich honorierten Bildungsgütern teilzuhaben, in deren Namen sie bisher über die Schulter angesehen wurden. Innerhalb eines Bürgertums, das seine Einheit vor allem in gemeinsamer Bildung und Kultur fand, wurde der Kampf um Aufstieg und soziale Anerkennung zu einem erheblichen Teil in Kategorien der Bildung und Kultur geführt. Dass die Klagen der Ingenieur-Repräsentanten über mangelnde soziale Anerkennung und fehlenden Zugang zu den Rängen der durchs „Juristenmonopol“ geprägten öffentlichen Verwaltung seit dem späten 19. Jahrhundert dringlicher wurden, lag am wachsenden Selbstbewusstsein und an den steigenden Ansprüchen dieser aufsteigenden, immer zahlreicheren Gruppe. Der diesem Essay beigefügte Quellenausschnitt von Wilhelm Franz kann als Beispiel dienen, er stand nicht allein. 8 Organisationen und Sprecher der Ingenieure setzten sich für ihre soziale Aufwertung ein, indem sie die Notwendigkeit von Allgemeinbildung betonten, vor zu enger Spezialisierung im Studium warnten und es schließlich erreichten, dass ihre Hochschulen mit dem Promotionsrecht an die höchsten Stufen

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Dies formulierte die erste Satzung des VDI von 1857. Vgl. Verein Deutscher Ingenieure 1856–1926, Berlin 1926, S. 51 (Hervorhebung J. K.). Vgl. zu entsprechenden Veränderungen im Lehrplan der Berliner Gewerbe-Akademie 1866– 1867: Chronik der Königlichen Technischen Hochschule zu Berlin 1799–1899, Berlin 1899, S. 48f. In der Hauptversammlung des VDI 1886 hieß es: „Wir erklären, daß die deutschen Ingenieure für ihre allgemeine Bildung dieselben Bedürfnisse haben und derselben Beurteilung unterliegen wollen, wie die Vertreter der übrigen Berufszweige mit höherer wissenschaftlicher Ausbildung.“ Vgl. Verein Deutscher Ingenieure, S. 32. Vgl. etwa Bernhard, Ludwig, Die Stellung der Ingenieure in der heutigen Staatswissenschaft, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 28 (1904), S. 117–131.

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des bildungsbürgerlichen Berechtigungswesens angeschlossen wurden. 9 Und sie betonten die kulturellen Leistungen ihres Berufs. Ein ehemaliger Vorsitzender des VDI forderte: „Jedes größere technische Unternehmen […] muß in gewissem Sinne auch ein kleines Kulturzentrum bilden, von dem [aus] sich allgemein gebildete Ingenieure und Beamte nach dem Beispiel ihrer Leiter“ am öffentlichen kulturellen Leben beteiligen können. 10

Wie der Quellenausschnitt von Ludwig Brinkmann zeigt, konnte sich der nichttechnischer Bereiche, auf technische Gestaltung Anspruch der Ingenieure auf Statusgewinn und kulturelle Teilhabe mit geradezu utopischen Hoffnungen auf eine technische Kultur der Zukunft, auf „Ingenieurisierung“ auch des sozialen und politischen Lebens verbinden – im Extremfall mit technokratisch-anti-pluralistischer Spitze. „Staatliche und politische Gebilde nach Analogie einer Maschine aufzufassen, wem muß es näher liegen als dem Ingenieur? Und deshalb muß man sich von seiner Beteiligung an der Politik etwas Leidliches versprechen, nämlich ernsthafte Arbeit, daß der Staat eine gut fördernde Maschine werde und nicht ein Tummelfeld für Interessen und Begierden einzelner Stände und Parteien bleibe.“ 11

Die zunehmende Technikbegeisterung jener Jahrzehnte war solchen Ideen förderlich. Die Technik hatte als Kriegstechnik bei der Gründung des deutschen Nationalstaates eine große Rolle gespielt, das beeindruckte viele. Autoren wie Max Maria von Weber und Max Eyth stilisierten in viel gelesenen Büchern den Ingenieur zur fortschrittlichen Schöpferfigur. Die öffentliche Meinung zeigte sich mitgerissen von den großen Erfindungen und technischen Entwicklungen der Zeit. Dazu gehörten zunächst das elektrische Licht und die großen Überlandleitungen, dann das Automobil und die damit veranstalteten Straßenrennen, die ersten Flugversuche, der Zeppelin, der Film – unter diesen Eindrücken verloren ältere bildungsbürgerliche Vorbehalte gegenüber der als utilitaristisch abgewerteten Technik an Kraft. Der Aufschwung der Technik wurde zudem nicht selten in nationale Zusammenhänge gestellt, der flotten- und technikbegeisterte Kaiser gab dem be9 Vgl. zu entsprechenden Leitsätzen eines vom VDI gegründeten Ausschusses zu den „Allgemeinen Abteilungen“ der Technischen Hochschulen: Abhandlungen und Berichte über Technisches Schulwesen, hg. vom Deutschen Ausschuss für Technisches Schulwesen, Bd. 5, Leipzig 1914, S. 70–72 sowie S. 72–79 zur Zusammenstellung der allgemein bildenden Vorlesungen an Technischen Hochschulen. Vgl. auch Kollmann, J., Des Ingenieurs Erziehung, in: Der Ingenieur. Seine kulturelle, gesellschaftliche und soziale Bedeutung mit einem historischen Überblick über das Ingenieurwesen (= Technische Monatshefte. Zeitschrift für Technik, Kultur und Leben), Stuttgart 1910, S. 20: „Wenn irgendein Stand eine gründliche Allgemeinbildung erfordert, so ist es derjenige des Ingenieurs, der mit seiner Berufsarbeit auf Schritt und Tritt in das wirtschaftliche und soziale Leben unserer Zeit eingreift, zugleich auch künstlerischen Bestrebungen dient und dessen Persönlichkeit somit in erster Linie in Betracht kommt!“ 10 So Wilhelm von Oechelhäuser, ebd., S. 70 11 Vgl. Der Ingenieur. Seine kulturelle, gesellschaftliche und soziale Bedeutung, S. 35.

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redten Ausdruck: „Die besten Familien, die sich sonst anscheinend ferngehalten haben, wenden ihre Söhne der Technik zu, und ich hoffe, daß das zunehmen wird.“ 12 Und als Wilhelm II 1899 den Technischen Hochschulen das Promotionsrecht zusprach, wies er ausdrücklich darauf hin, er wolle sie „in den Vordergrund bringen, denn sie haben große Aufgaben zu lösen, nicht bloß technische, sondern auch große soziale […]. Die bisherigen Richtungen haben ja leider in sozialer Hinsicht vollständig versagt. Ich rechne auf die Technischen Hochschulen!“ 13

Daraus ist nicht viel geworden. Überhaupt müsste der Realitätsgehalt der hier rekonstruierten Diskurse und Vorstellungen erst noch kritisch abgeklopft werden. Doch ist dies nicht das Ziel dieses Beitrags, der darauf hinweisen sollte, dass Vorstellungen von Kultur und die Berufung auf Kultur in einer bis heute formativen Periode deutscher Geschichte strategisch eingesetzt wurden, im Zuge der Konstituierung des Ingenieurberufs, bei seiner Abgrenzung von unteren Schichten und im Kampf für seinen sozialen Aufstieg ins Bürgertum. Dabei nutzten die Sprecher der Ingenieure gern den Vergleich, den oftmals stilisierten Selbstvergleich, und zwar interprofessionell und international. An den Juristen und anderen akademischen Berufen nahmen sie Maß, wenn sie um höhere soziale Anerkennung und Zugang zu begehrten Stellen vor allem im Staatsdienst stritten. „Den Juristen, den Medizinern, den Philologen, den Theologen ist von alters her ein bestimmtes Gebiet im Staat und in der Gesellschaft gesichert. Den Ingenieuren aber ist das Los gefallen, Eroberer zu werden im eigenen Vaterland.“ 14

„In dem harten Ringen, es den begünstigten Berufen gleichzutun“, entstand das, was Zeitgenossen als „Ingenieurbewegung“ bezeichneten und was zur Akademisierung der Ingenieurausbildung erheblich beitrug. 15 Den vergleichenden Blick lenkten Ingenieursprecher zudem gern über die Grenzen hinweg auf die Berufskollegen in anderen Ländern, speziell in England und Frankreich. Dort, so das Argument Ludwig Bernhards, gab es keine Ingenieurbewegung im deutschen Sinn, brauchte es auch keine zu geben. Denn in England sei die Anerkennung der Ingenieure seit dem 18. Jahrhundert hoch, der enge Kontakt zwischen Wissenschaft und Technik sei früh entstanden, wenn auch nicht im Rahmen formalisierter Schulausbildung, sondern in der Praxis und in der Zivilgesellschaft, in Vereinen, Akademien und Zirkeln, die früh Gelehrsamkeit und Praxiskönnen hochschätzten und zusammenführten. Das habe besonders dem 12 Wilhelm II am 19. Oktober 1899, in: Schröder, Wilhelm, Das persönliche Regiment. Reden und sonstige öffentliche Äußerungen Wilhelm II, München 1907, S. 150. 13 Vgl. Weihe, Carl, Die akademisch-technischen Berufe. Ratschläge für Abiturienten und Diplom-Ingenieure aller Fachrichtungen, Berlin 1904, S. 13 14 Bernhard, Die Stellung der Ingenieure in der heutigen Staatswissenschaft, S. 130f. 15 Ebd., S. 120; zur Geschichte der Juristen maßgeblich: Siegrist, Hannes, Advokat, Bürger und Staat. Sozialgeschichte der Rechtsanwälte in Deutschland, Italien und der Schweiz (18.–20. Jahrhundert.), 2 Halbbde., Frankfurt am Main 1996.

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Aufstieg des Maschinenbauingenieurs genutzt. Die historische Forschung hat dem Recht gegeben. Und in Frankreich sei der Bauingenieursberuf schon früh von der Schulpolitik des Absolutismus gefördert worden und das gelte erst recht für die entschiedene Förderung von Technik und Ingenieurausbildung durch die großen Schulgründungen der Revolution (Ecole polytechnique, Conservatoire des arts et métiers). „Von einer mangelnden Anerkennung der Ingenieure konnte [in Frankreich, Anm. d. Verf.] nicht die Rede sein. Im Gegenteil: die Ingenieure spielten die erste Rolle in der Staatsverwaltung und im sozialen Leben. Unter den höchsten Beamten Frankreichs findet man eine lange Reihe von Ingenieuren. In Frankreich erhielten damals die Ingenieure, ebenso wie in England, die Sicherheit der vollen Gleichberechtigung.“ 16

In dieser Perspektive erschienen die Bemühungen deutscher Ingenieure um mehr Anerkennung als Nachholgefecht, dessen sich um 1900 deutlich abzeichnender Erfolg eine Phase deutscher Rückständigkeit glücklich zu Ende brachte. Der Vergleich als Strategie, Europa als Vergleichsraum und Kultur als Mittel erfolgreicher Professionalisierung – die Ingenieure im Kaiserreich führten dies vor. Literaturhinweise Gispen, Kees, New Profession, Old Order: Engineers and German Society, 1815–1914, Cambridge 2002. Ludwig, Karl-Heinz; König, Wolfgang (Hgg.), Technik, Ingenieure und Gesellschaft. Geschichte des Vereins Deutscher Ingenieure, 1856–1981, Düsseldorf 1981, bes. S. 133–288. Sander, Tobias, Die doppelte Defensive. Soziale Lage, Mentalitäten und Politik der Ingenieure in Deutschland 1890–1933, Wiesbaden 2009. Siegrist, Hannes (Hg.), Bürgerliche Berufe. Zur Sozialgeschichte der freien und akademischen Berufe im internationalen Vergleich, Göttingen 1988.

Quelle Technische Kultur und der Ehrgeiz der Ingenieure: Wilhelm Franz (1909) und Ludwig Brinkmann (1908) über den Beruf des Ingenieur 17 1. Wilhelm Franz: Ingenieurstudium und Verwaltungsreform (1909) Solange es denkende Menschen gibt, solange gibt es eine Technik. – Die Technik ist so alt als das Menschengeschlecht. Technische Betätigung ist der ersten Kulturentwicklung vorausge16 Bernhard, Die Stellung der Ingenieure in der heutigen Staatswissenschaft, S. 120–127, hier S. 126f.; zeitgenössische internationale Vergleiche auch bereits in: Schlink, J., Ueber die sociale Stellung des deutschen Technikers, Vortrag, Berlin 1879; allgemein: Kaiser, Walter; König, Wolfgang, Geschichte des Ingenieurs. Ein Beruf in sechs Jahrtausenden, München 2006. 17 Franz, Wilhelm, Ingenieurstudium und Verwaltungsreform. Aufsätze, Berlin 1909, S. 9–10; Brinkmann, Ludwig, Der Ingenieur (= Die Gesellschaft. Sammlung Sozialpsychologischer Monographien, Bd. 21), Frankfurt am Main 1908, S. 82–85.

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gangen, hat die Kultur begleitet und zu ihren Höhen geführt. Die Technik ist auf jeder Stufe und bei jedem Volk Grundlage seiner Kultur gewesen – nicht nur der materiellen äußeren, sondern auch der inneren geistigen Kultur. Sie ist es heute mehr denn je. Man nehme nur ein Glied weg aus dem großen Werk der Technik und gleich wird das Geistesleben der Zeit die schwersten Hemmnisse erleiden. Welch gewaltige umfassende Macht wohnt der Technik inne! Ulrich W e n d t hat sie in seinem trefflichen Buche „Die Technik als Kulturmacht“ geschildert. „Kein Feldherr, kein Staatsmann greift heute mit solchen Schlägen in das Geschick der Völker ein, wie der Techniker.“ Und doch – was gilt ein Techniker in seiner Volksgemeinschaft? Würdigt man einen Ingenieur nach den Ingenieurwerken der Zeit? Hat man ihm eine Stelle eingeräumt, die der Bedeutung seiner Leistungen entspricht? Wir haben den Abschluß eines Jahrhunderts erlebt, das der Menschheit die höchsten Leistungen des technischen Geistes gebracht hat. Und in demselben Jahrhundert sehen wir allerorts ein fortwährendes Zurückdrängen der technischen Intelligenz. Diese Erscheinung ist besonders in unserem Vaterlande deutlich hervorgetreten. Ich brauche nur an die Eisenbahnen zu erinnern. An der obersten Leitung dieser Unternehmungen ist technische Intelligenz nur in ganz geringem Masse beteiligt. An der Stelle der Techniker sind andere getreten. Unter den Millionen, die unserem Zeppelin zujubelten, ist nur ein ganz kleines Häuflein derer, die in diesem Manne den erfolgreichen Ingenieur feiern. Jetzt wird nur noch berichtet, daß seine Mitarbeiter Ingenieure sind. Wenn der Zeppelin No. 5 einige Fahrten glücklich überstanden hat, werden Sie nicht mehr von einem Oberingenieur lesen, dann besteigt schon ein Assessor die Gondel. Und von da an sind nur noch Monteure und Maschinisten für den „technischen“ Betrieb“ erforderlich. Sobald ein aus technischem Geist gewordenes Werk in den Dienst der Allgemeinheit gestellt wird, entgleitet die Verwaltung und somit die Leitung den Händen des Technikers. In Deutschland wird so seit langem bei allen Institutionen, die technischen Geist zu ihrer Weiterbildung erfordern, die Entwicklung gestört. Auf weitem Gebiet des öffentlichen Lebens, namentlich in der Leitung der Staaten und der Selbstverwaltungen – die alle von der Technik abhängig sind – ist die technische Intelligenz ausgeschaltet. Wir haben seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts eine gewaltige Ausdehnung in den Geschäften und Ämtern der Volksführung; dabei ist an keiner Stelle den Intellektuellen der Technik ein angemessener Anteil geworden. Der technischen Intelligenz ist keine f ü h r e n d e , überall nur eine u n t e r g e o r d n e t e Stelle zugefallen. Bei der hohen Bedeutung der Technik für die Kultur muß die geringe äußere Würdigung, die dem Techniker mehr oder weniger in allen Ländern zuteil geworden ist, ihre besonderen Gründe haben. 2. Ludwig Brinkmann: Der Ingenieur (1908) Wir wollen uns nicht in Phantasien verlieren, was Wunder die Technik noch hervorbringen wird; jeder Laie kann sich ausmalen, welche Änderungen des Kulturstandes uns noch bevorstehen, wenn erst die Kräfte der Ebbe und Flut, die Wärme des Erdinnern, die unmittelbare Strahlung der Sonne nutzbar gemacht und durch vollkommenere Hilfsmittel als die heutigen leicht verteilt werden können, wenn erst alle die großen Erfindungen gemacht sind, die wir jetzt noch als Zukunftsmusik bezeichnen. Aber wenn wir auch von vorläufig undenkbaren Dingen ganz absehen wollen, wenn wir nur an die durchaus normale Fortentwicklung des jetzt Bestehenden denken, so ist es doch über allen Zweifel erhaben, daß die Technik eine immer größere Rolle in allen menschlichen Dingen spielen, einst die Hegemonie in allen

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Lebensbetätigungen besitzen wird. Die Tage sind nicht mehr fern, da Ingenieure fast ausschließlich den Wehrstand bilden werden, in dem die Kriegsführung ein Spezialzweig der Technik wird; ein Kriegsschiff ist jetzt schon kaum etwas anderes, als eine ungeheuer komplizierte Zerstörungsmaschine; bei der zu erwartenden weiteren Ausgestaltung dieses Werkzeuges wird sein Führer nur nach allergründlichster Fachausbildung als Spezialingenieur fähig sein, den Gesamtorganismus richtig zu leiten. Auch die Landarmee wird sich immer mehr zu einer Fachorganisation von Straßenbahn-, Festungs-, Eisenbahn-, Brücken-, Telegraphen-, Flugschiffs-Ingenieuren ausbilden. Und ebenso auch der Nährstand: selbst die der Industrie ziemlich feindselig gegenüberstehende Landwirtschaft wird bald ohne die Hilfsmittel der Technik, ohne Ingenieure nur noch in primitivsten Verhältnissen möglich sein, und gleiches gilt von allen anderen Berufen. Selbst der Laie kann ohne wenigstens oberflächliche technische Kenntnisse bald nicht mehr auskommen; er muß ein wenig Ingenieur sein, um sein Fahrrad, sein Automobil, seine elektrische Beleuchtung, den Aufzug in seinem Hause, die Zentralheizung und seine Warmwasserversorgung, die kleinen Maschinen des Haushaltes, warten zu können. Wer vermag heute schon mit gutem Gewissen eine Stadtverwaltung zu leiten, ein größeres Gemeinwesen zu regieren, der nicht von den Dingen des Ingenieurs wenigstens das Wesentliche versteht; wenn er sich trotzdem dazu erkühnt, so ist er von seinen technischen Beratern in beschämender Weise abhängig. Wie viel mehr wird aber das erst der Fall sein, wenn das Prinzip der ganzen Staatsverwaltung ein technisch-wirtschaftliches ist, auf welches doch unsere ganze Entwicklung hinzielt. Indessen gründen sich unsere Hoffnungen nicht auf die Zuversicht, daß der Ingenieur dereinst die breiteste, notwendigste, wichtigste und damit auch die angesehenste Schicht der menschlichen Gesellschaft ausmachen wird, was alles nichts bedeutet, wenn das nur unter Hintansetzung des individuellen Glückes Ereignis werden sollte, sondern auf die Überzeugung, daß mit dem Abschluß des Entwicklungsstadiums die i n n e r e wahre Blüte der Technik eintreten wird , welche auf ihren Schöpfer befreiend zurückwirkt […]. Die energetische Technik der Neuzeit ist zu jung, um bereits die Weihe des Ästhetischen erhalten zu haben, und doch wird der Kenner trotz der rauchenden Schlote, der Proletarier–Armeen unserer Tage, in diesem brodelnden Chaos den Keim von kommender ungeahnter Schönheit jetzt schon erkennen. Dann aber, wenn diese in voller Pracht erblüht ist, wird die Technik es verschmähen, lediglich Dienerin anderer zu sein, wird Selbstzweck und damit Kunst werden, und eine neue Kulturepoche wird aufgehen, das Zeitalter, da die Welt technisch schafft, nur um das Bewußtsein zu genießen, von übermächtigen, geheimnisvollen Kräften getragen und durchdrungen zu sein. Bislang irren wir blind durch das Gewühl der Kräfte, die das Universum ausmachen, und suchen uns nur gegen sie zu wehren, in mühseligstem Kampf sie zu unterjochen; die kommende Zeit wird in ihnen schwelgen, sie unmittelbar genießen Dann wird der Ingenieur wieder aus einem Diener zu einem Herrn werden. Vorläufig ist technisches Denken ein Geschäft; je einseitiger die Fähigkeit, desto wertvoller der Mann, der durch die Atomisierung der Kenntnisse stets irgendwo irgendetwas leisten kann. Nur die Besten gehen zurzeit leer aus; die, welche das Weltall in seiner Totalität übersehen, lassen sich nur schwer in das enge Gefäß eines Spezialfaches hineinpressen. Dieser angeschmiedete Prometheus wird dann wieder frei sein, wird mit dem Feuer seines Geistes schaffen, um alles andere unbekümmert, nicht mehr leidvoller Handlanger anderer Zwecke, sondern sich selbst zur Genüge, da sein Schaffen Kultur ist. Und lachen wird er der Adler, die bislang seine Seite zerrissen, der Mächtigen einer verschwundenen Welt.

KARRIEREKATALYSATOR PFERD. DER KRAKAUER SCHLACHTEN- UND HISTORIENMALER WOJCIECH KOSSAK (1857–1942) ALS STAATSKÜNSTLER DES DEUTSCHEN KAISERREICHES UND DER ZWEITEN POLNISCHEN REPUBLIK 1 Stefan Troebst Zum Ende hin waren es Cowboys: In den Steppen Kaliforniens ist ein grellbuntes Ölgemälde betitelt, das der im habsburgischen Galizien als Adalbert Ritter von Kossak geborene 73-jährige polnische Malerfürst mit „Wojciech Kossak, California, Rancho del Garasson, 1930“ signiert hat. Es zeigt einen Reiter in befranster brauner Lederhose, blauer Jeansjacke, rotem Halstuch und weißem Stetson-Hut inmitten einer Herde wild galoppierender Pferde. 2 Farblich wie vom Sujet her knüpfte Kossak damit an frühere Werke an, etwa an sein großformatiges dramatisches Ölgemälde Tscherkessen in der Krakauer Vorstadt von 1912, das ein knutenschwingendes, pelzbemütztes und im Wortsinne bis an die Zähne bewaffnetes kaukasisches Reiterschwadron zeigt, welches im Auftrag des Zaren unter Inkaufnahme ziviler Opfer rücksichtslos über die Hauptstraße des damals russischen Warschau prescht. 3 Kossak verkörperte somit Zeit seines Lebens die ausgeprägte polnische Pferdekultur, deren Traditionslinie vom halbwilden Konik („Polenpony“) des Mittelalters über den polnischen Offizier Kazimierz Pułaski, US-amerikanischer General im Unabhängigkeitskrieg und „Father of the American Cavalry“, bis zum heutigen Staatsgestüt Janów Podlaski mit seiner alljährlichen weltberühmten Araber-Schau Pride of Poland führt. 4 Die Vorliebe, ja Obsession für Pferde- und Reiterbilder war bereits seit Kossaks Krakauer Gymnasiastentagen offenkundig: Parforce-Jagden und Pferdemärkte, später Kavallerieattacken und Porträts hoch zu Ross waren und blieben seine Leidenschaft wie Spezialität. Schon 1874, als Siebzehnjähriger, veröffentlichte er eine mit Araberhengst betitelte Zeichnung in einer führenden Warschauer 1 2

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Essay zur Quelle: Wilhelm und Wojciech: Der deutsche Kaiser und sein polnischer Hofmaler (1899, 1928). Kossak, Wojciech, Na stepach kalifornijskich (1930), in: Olszański, Wojciech Kossak, Bildteil, Abb. 233. Eine frühere Fassung des Bildes aus dem Jahr 1927 wurde 2012 zum Preis von 570.00 Złoty (ca. 120.000 Euro) zum Kauf angeboten. Vgl. Artlist, URL: http://www. artlist.pl/Strona_g%C5%82%C3%B3wna/Oferta/Malarstwo/sceny_rodzajowe/10465Na_stepach_kalifornijskich.html?sort=t2 (21.03.2012). Kossak, Wojciech, Cerkiesi na Krakowskim Przedmieściu (1912), in: Olszański, Wojciech Kossak, Bildteil, Abb. 182. Dieses sowie eine Reihe weiterer unten genannter Gemälde Wojciech Kossaks sind auf der Website Polskie malarstwo historyczne [Polnische Historienmalerei] wiedergegeben, URL: http://www.wawel.net/malarstwo/kossak_wojciech.htm (21.03.2012). Riechelmann, Cord, Pferd, in: Peter, Stefanie (Hg.), Alphabet der polnischen Wunder. Ein Wörterbuch, Frankfurt am Main 2007, S. 196–198.

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Kulturzeitschrift. 5 Fast alle seine Selbstporträts zeigen ihn auf oder zumindest mit einem Pferd, und seiner Reiterbilder von Napoleon, Tadeusz Kośiuszko oder den Generälen John Pershing, Maxime Weygand und Józef Haller wegen ist er bis heute in Polen bekannt. Und ebenfalls auf fast allen seiner Bilder sind Pferde zu sehen, und sei es nur ein einzelnes totes. Unter seinen besonders populären Gemälden bildet lediglich ein einziges, nämlich das der polnischen „jungen Adler“ bei der Verteidigung des Lemberger Łyczakowski-Friedhof 1918 gegen Ukrainer, die regelbestätigende Ausnahme. 6 Polenweiten Ruhm erlangte der an Kunstakademien in Krakau, München und Paris ausgebildete k.u.k.-Ulan Kossak 7 bereits 1894 durch das monumentale Lemberger Panorama der Schlacht von Racławice zwischen den unterlegenen zaristischen Truppen und einer nur mit Sensen bewaffneten siegreichen polnischen Bauernarmee unter Kościuszko von 1794. Dieses gemeinsam mit Jan Styka angefertigte und 15 x 120 Meter große Rundgemälde 8 trug zum Durchbruch des neuen Mediums Panorama in Europa bei und hatte in der polnischen Gesellschaft eine fulminante Wirkung, die bis heute anhält. 9 Kossaks Werk spiegelt eine Epoche wider, die in Krieg und Frieden, Politik und Kultur, Alltag und Feiertag, Beruf und Freizeit „hippozentriert“, das heißt vom Pferd geprägt war. 10 Hierauf gründete er zielstrebig eine einträgliche und 5 Kossak, Wojciech, Arabczyk (1874), in: Olszański, Wojciech Kossak, Bildteil, Abb. 6. Die Zeichnung wurde 1874 in Nummer 364 der Zeitschrift Tygodnik Ilustrowany veröffentlicht: Ebd., S. 63. 6 Kossak, Wojciech, Orlęta – obrona cmętarza [Die jungen Adler – Verteidigung des Friedhofs] (1926), 90 x 120 cm, Öl auf Leinwand, Muzeum Wojska Polskiego, Warschau, URL: http://galeria.klp.pl/p-6427.html (21.03.2012). 7 Zu Kossaks Ausbildungs- und Karrierestationen vgl. Konstantynów, Dariusz, Polnische Künstler in München, in: Omilanowska, Małgorzata (Hg.), Tür an Tür. Polen – Deutschland. 1000 Jahre Kunst und Geschichte, Berlin 2011, S. 462–467; Dyroff, Stefan, Wojciech Kossak. Panorama- und Schlachtenmaler für Deutsche und Polen. Deutsch-polnische Denkwürdigkeiten in seinem Werk, seinem Umfeld und seiner Rezeption, in: Omilanowska, Małgorzata; Straszewska, Anna (Hgg.), Wanderungen. Künstler – Kunstwerk – Motiv – Stifter, Warschau 2005, S. 79–101. 8 Górecka, Elżbieta, Panoramy Wojciecha Kossaka i Jana Styki [Die Panoramen von Wojciech Kossak und Jan Styka], Wrocław 2000; Zybura, Marek, Das Breslauer Racławice-Panorama. Ein Beitrag zur transnationalen Verflechtung der Geschichtskultur Polens, in: Aust, Martin; Ruchniewicz, Krysztof; Troebst, Stefan (Hgg.), Verflochtene Erinnerungen. Polen und seine Nachbarn im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 2009, S. 61–68. 9 Borodziej, Włodzimierz, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 52; Molik, Witold, Noch ist Polen nicht verloren, in: Flacke, Monika (Hg.), Mythen der Nationen: Ein europäisches Panorama, München 1998, S. 295–320, hier S. 314–319; vgl. auch Panorama Racławicka – relikt dziewiętnastowiecznej kultury masowej [Das Racławice-Panorama – Ein Relikt der Massenkultur des 19. Jahrhunderts], in: Panorma Racławice, URL: http://zieba. wroclaw.pl/panorama_raclawicka.htm (21.03.2012). 10 Koselleck, Reinhart, Der Aufbruch in die Moderne oder das Ende des Pferdezeitalters, in: Tillmann, Berthold (Hg.), Historikerpreis der Stadt Münster. Die Preisträger und Laudatoren von 1981 bis 2003, Münster 2003, S. 23–39; vgl. auch Hunecke, Volker, Europäische Reitermonumente. Ein Ritt durch die Geschichte Europas von Dante bis Napoleon, Paderborn 2008; Schumacher, Birgit, Pferde. Meisterwerke des Pferde- und Reiterbildes, Stuttgart 1994.

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zumeist glänzende europäische sowie transatlantische Künstlerkarriere. Dabei sicherten ihm seine in jagdlicher, militärischer, reitsportlicher, zeichnerischer und malhandwerklicher Praxis erworbenen profunden Kenntnisse von Physiognomie, Körperbau und Bewegungsabläufen des domestizierten Einhufers einen entscheidenden Vorteil vor der zahlreichen internationalen Konkurrenz. Zugute kam ihm überdies seine familiäre Vorprägung, denn sein Vater Juliusz Kossak war ebenfalls ein prominenter Maler, der für seine Porträts, vor allem aber für seine Reiterund Schlachtengemälde bekannt war. Wojciechs Zwillingsbruder Tadeusz opponierte als polnischer Patriot in der Teilungszeit gegen die russische Besatzungsmacht, was ihm 1907 eine Haftstrafe eintrug. Wojciechs Sohn Jerzy trat als Maler militärischer Sujets in die Fußstapfen von Vater und Großvater. Und auch Enkelin Gloria versuchte sich als Malerin. 11 Auch wenn Kossak im Polen der Gegenwart eindeutig dem Pantheon polnisch-patriotischer Kunstschaffender zugerechnet wird, wiesen doch seine Karrierestationen multiethnisch-habsburgische und überseeisch-kommerzielle Züge, ja sogar eine staatstragend preußisch-deutsche Komponente auf. Denn seine durch das Racławice-Panorama bedingte Berühmtheit trug ihm einen lukrativen Folgeauftrag in der Hauptstadt des deutschen Kaiserreiches ein, wo mit Juliusz Fałat bereits seit 1887 ein anderer polnischer Maler als Hofkünstler Wilhelms II. wirkte. Von 1895 an arbeiteten Kossak und Fałat in kaiserlichem Auftrag an dem Berliner Panorama Übergang der napoleonischen Truppen über die Beresina 1812, welches den französischen Rückzug aus Russland zeigte. Wie bereits beim Lemberger Panoramabild bestand Kossaks Aufgabe vor allem darin, Personen und Pferde zu malen, wohingegen Fałat als künstlerischer Leiter primär für die Landschaft zuständig war. 12 Die Eröffnung des Beresina-Panoramas am 1. April 1896 war ein voller Erfolg, so dass Kossak zahlreiche neue Aufträge, darunter einen für ein Porträt des Kaisers hoch zu Ross, erhielt. Zu diesem Zweck wurde Wilhelm II., wie eine Fotografie von 1899 zeigt, auf Kossaks wichtigstes Hilfsmittel gesetzt, nämlich nicht auf ein echtes Pferd, sondern auf das gleichnamige Turngerät. 13 Der hochbeinige hölzerne Reittierersatz ist auch auf etlichen Fotografien erkennbar, die anlässlich eines der zahlreichen Besuche des Kaisers in Kossaks Atelier im Schloss Monbijou im Zentrum Berlins gemacht wurden: In Begleitung des Berliner Historienmalers Adolph Menzel betrachtet der in Uniform und Pickelhaube gekleidete Hohenzoller Kossaks fast fertiggestelltes Großgemälde Die Schlacht bei Zorndorf

11 Masłowski, Maciej, Juliusz Kossak, Warschau ³1990; Zielińska, Janina, Juliusz Wojciech, Jerzy Kossakowie, Warschau 1988. 12 Baumgartner, Anna, Fałat und Kossak. Polnische Maler im preußischen Berlin Ende des 19. Jahrhunderts, in: Traba, Robert (Hg.), My, berlińczycy! Wir Berliner! Geschichte einer deutsch-polnischen Nachbarschaft, Leipzig 2009, S. 139–158. 13 Vgl. Bild 1: Kaiser Wilhelm II. sitzt Wojciech Kossak Modell für ein Reiterporträt (1899), in: Olszański, Wojciech Kossak, Fig. 17, S. 24.

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am 25. August 1758 14 , welches heute im Gebäude der E.ON AG in Potsdam hängt. 15 In dieser Schlacht des Siebenjährigen Krieges errangen preußische Truppen einen Überraschungssieg über ihren russischen Gegner und dies pikanterweise, weil sich der Kavalleriegeneral Friedrich Wilhelm von Seydlitz dem ausdrücklichen Befehl des Vorgängers Wilhelms II., Friedrichs des Großen, widersetzt hatte. Ebenfalls 1899 malte Kossak in Anlehnung an die genannten Fotografien sein Bild Kaiser Wilhelm II. und Menzel in Kossaks Atelier 16 – allerdings unter Weglassen des besagten, von Turnvater Jahn erfundenen Übungsgeräts. Kossaks Loyalität zu „meinem ehrwürdigen und mächtigen Mäzen“, wie er Wilhelm II. in seinen Memoiren nennt 17 , hatte profane Gründe: „Der Kaiser zahlt großzügig und schnell.“ 18 Hinzu kam allerdings die aufrichtige, ja euphorische Bewunderung seines von allem Militärischen begeisterten Auftraggebers für seine Kunst: „Donnerwetter! Bei Schulte habe ich ein großes Bild von Ihnen gesehen […]. Da rasen die wilden Baschkiren durch eine Straße von Warschau mit Jatagans in den Zähnen und Nagajkas in der Faust, ein famoses Bild […]. Dann bei Ihrem Kaiser [Franz Joseph I. von Österreich Ungarn – Anm. d. Verf.] in Schloss Lainz, in seinem Arbeitszimmer hängt ein Bild von Ihnen. Da stürmt eine hellgraue Infanterie zur Attacke, der Offizier und der Trompeter zu Pferde im Trab! Wissen Sie, dass das Bild mein Lieblingsbild ist?“ 19

Es war eben dieses Action-Element sowie das Faible für Bewegung, Kampf und Uniformen, wodurch sich Kossaks dynamische Gemälde von den eher statischen seiner deutschen Zeitgenossen unterschieden und wodurch er bei der militärischen Elite des Kaiserreiches und ihrem obersten Dienstherrn, aber auch bei Adel wie national gesinntem Bürgertum und Intelligenz zum Favoriten wurde. Wie eng das Verhältnis Kossaks zu Kaiser und Kaiserin mit der Zeit wurde, belegte eine Einladung zu einem diner à trois ins Berliner Stadtschloss, wo der Hausherr über „Likören, riesigen Gläsern bayerischen Bieres, Zigarren und Zigaretten“ seinem Gast eine besondere Ehre erwies: 14 Vgl. Bild 2: Wojciech Kossak, Wilhelm II. und Adolph Menzel in Kossaks Atelier im Berliner Schloss Monbijou vor Kossaks Bild „Die Schlacht bei Zorndorf am 25. August 1758“ (1899), in: Olszański, Wojciech Kossak, Fig. 13, S. 21. 15 Bauer, Frank, Die Schlacht bei Zorndorf 25. August 1758. Schlacht und Gemälde, Potsdam 2005; Baumgartner, Anna, Ein polnischer Nationalmaler am preußischen Hof. Wojciech Kossak und sein wiederentdecktes Gemälde Schlacht bei Zorndorf (1899), in: zeitenblicke 10 (2011), 22.12.2011, URL: http://www.zeitenblicke.de/2011/2/Baumgartner/index_html (21.03.2012). 16 Vgl. Bild 3: Kossak, Wojciech, Kaiser Wilhelm II. und Menzel in Kossaks Atelier (1899). Öl auf Mahagoniholz, 43,5 x 35,5 cm, Museum Huis Doorn, Doorn, Niederlande (Inv. HuD 02227). 17 Kossak, Adalbert von, Erinnerungen, Berlin 1913; hier zitiert nach Kossak, Wojciech, Erinnerungen (1913), in: Danielewicz-Kerski, Dorota; Górny, Maciej (Hgg.), Berlin. Polnische Perspektiven, 19.–21. Jahrhundert, Berlin 2008, S. 312–323, hier S. 319; vgl. auch Kossak, Wojciech, Wspomnienia [Erinnerungen], hg. von Kazimierz Olszański, Warschau 1971. 18 Kossak, Adalbert von, Erinnerungen, S. 321. 19 Ebd., S. 313.

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„An jenem Abend sprang er, nachdem die Kaiserin sich zurückgezogen hatte, die Zigarre im Mund, plötzlich und auf und rief lebhaft: ,Ja, Kossak, ich muss Ihnen doch die Polnischen Kammern zeigen!‘“ 20

– eine prunkvolle, 1726 für den polnisch-sächsischen König August den Starken eingerichtete Gästewohnung des Schlosses, in der Antoine Watteaus Gemälde L’Embarquement pour Cythère und andere Kunstschätze hingen. Besonders bewegt war Kossak, als Wilhelm II. und Auguste Viktoria von Schleswig-HolsteinSonderburg-Augustenburg nach ihrer pompösen Rückkehr von einer mehrwöchigen Reise ins Osmanische Reich im Herbst 1898 ihn umgehend in seinem Atelier besuchten: „Das war ein großer Gnaden- und Sympathiebeweis […]. Das kaiserliche Paar, braun gebrannt, angeregt und sehr zufrieden mit der Reise. Der Kaiser begrüßte mich mit dem Ausdruck größten Bedauerns, dass ich nicht bei ihm gewesen war.“ 21

Die China-Reise, zu welcher der Kaiser Kossak später einlud, fand des BoxerAufstandes von 1900 wegen indes nicht statt. Zum Zeichen des Protests gegen eine Rede Wilhelms II. 1902 auf der Marienburg der Deutschordensritter, in der dieser, in einen Kreuzrittermantel gehüllt, zum Kampf gegen „polnischen Übermut“, der „dem Deutschtum zu nahe treten“ beabsichtige, aufrief 22 , und unter dem Druck der Kritik der polnischsprachigen Presse seines engen Verhältnisses zu den Hohenzollern wegen übersiedelte Kossak von Berlin ins heimische Krakau. Hier wandte er sich zunehmend polnischpatriotischen und germanophoben Sujets zu, was insbesondere für seinen 1909 geschaffenen Gemäldezyklus Preußischer Geist galt. Die Titel der vier Bilder sprachen dabei für sich: Das Apostelamt des Deutschen Ordens. Menschenjagden, Ausweisung [von Polen, Anm. d. Verf.] aus Preußen, Preußischer Eid. Der räuberische Lehensmann und Noch ist Polen nicht verloren. Gravelotte 1870. 23 Unmissverständliche Botschaft dabei war, dass Zusagen Brandenburg-Preußens an die polnisch-litauische Adelsrepublik und Versprechen Preußen-Deutschlands an seine polnischen Untertanen nicht zu trauen war, und zwar weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart und mutmaßlich auch nicht in der Zukunft. Dies hinderte Kossak indes nicht daran, 1913 für längere Zeit nach Berlin zurückzukehren und zahlreiche Auftragswerke zu preußisch-militärischen Sujets auszuführen. Auch 20 Ebd., S. 317. 21 Ebd., S. 319f. 22 Zitiert nach Tu, Tzu-hsin, Die Deutsche Ostsiedlung als Ideologie bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, Kassel 2009, S. 151; zum zeithistorischen Kontext vgl. Ther, Philipp, Deutsche Geschichte als imperiale Geschichte. Polen, slawophone Minderheiten und das Kaiserreich als kontinentales Empire, in: Conrad, Sebastian; Osterhammel, Jürgen (Hgg.), Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871–1914, Göttingen ²2006, S. 129–148. 23 Zu den genannten vier Gemälden des Kossakschen Zyklus „Duch pruski – Apostolstwo krzyżackie. Łowy na ludzi, Rugi pruskie, Hołd pruski. Drapieżny lennik und Jeszcze Polska nie zginięła. Gravelotte 1870“ vgl. Olszański, Wojciech Kossak, Bildteil, Abb. 101, 175, 102 und 183.

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die britische Hauptstadt London sowie die USA, die er mehrfach bereiste, gehörten nun zunehmend zu seinen Zielen der Auftragsakquise. Den Ersten Weltkrieg verbrachte Kossak als österreichisch-ungarischer Kavalleriehauptmann zumeist malend. Als ihn Wilhelm II. bei einem Treffen in Krakau 1915 um ein Porträt gemeinsam mit seiner Generalität bat, lehnte Kossak dies ebenso ab wie den Porträtwunsch von Generaloberst Hans von Beseler, damals Generalgouverneur des deutschen Generalgouvernements Warschau. 24 So sehr sich Kossak jedoch nach dem Ersten Weltkrieg der 1918 gegründeten Zweiten Polnischen Republik als Staatsmaler andiente, so stark haftete ihm doch das Odium des national unzuverlässigen Kosmopoliten, gar Preußenknechts und auf Kommerz bedachten Opportunisten an. Dem setzte er heroisierende Gemälde mit zeithistorisch-polnischem Bezug entgegen, die ihm rasch neuerliche Popularität verschafften. Auf dem Bild Vermählung Polens mit dem Meer“ von 1931 bemühte er sich mit einigem Erfolg, den neuen maritimen Staatmythos des nicht minder neuen polnischen Staates öffentlichkeitswirksam einzufangen: Nach dem Vorbild des Dogen von Venedig hatte der genannte polnische General Haller 1920 in Puck (Putzig), gelegen im polnischen „Korridor“ zwischen dem Deutschen Reich und seiner Exklave Ostpreußen, einen Ring in die Ostsee geworfen, um dergestalt den Groß-, See- und Kolonialmachtanspruch des wieder gegründeten Polen symbolisch zu unterstreichen. 25 Bis heute stehen daher in Polen Haller und Kossak für das visualisierte Selbstverständnis der rekonstruierten polnischen Staatlichkeit. Dies gilt in vergleichbarem Maße für Kossaks markiges Reiterporträt von Marschall Józef Piłsudski von 1928 26 , das sich überdies als Selbstzitat auf Kossaks Gemälde Apotheose des polnischen Heeres von 1935 wiederfindet. 27 Einem Denkmal seiner selbst gleich blickt der Staatsgründer hier von seinem Pferd Kasztanka („Fuchsstute“) in eine wohl nicht nur meteorologisch bewegte, aber dennoch militärisch gut abgesicherte Zukunft von Staat und Nation. Kossaks Piłsudski-Bild wies im Vergleich zu anderen zeitgenössischen Produkten staatstragenden Bildschaffens insofern ein retrogrades Element auf, als es keinen Bezug auf den expliziten Modernitätsanspruch des neuen Polen nahm. Denn dieser manifestierte sich in einer forcierten Industrialisierungs-, Städtebauund Infrastrukturpolitik sowie dem genannten Maritimitätskult. Dies wird etwa im Vergleich zu dem 1936 von Marian Mokwa geschaffenen Ölgemälde M. S. Piłsudski deutlich, das einen im Jahr zuvor in Dienst gestellten hochmodernen und über den Topp mit den Nationalfarben beflaggten Transatlantik-Passagierdampfer 24 Ebd., S. 33. 25 Kossak, Wojciech, Zaślubiny Polski z morzem (1931), in: Olszański, Wojciech Kossak, Bildteil, Abb. 205; zum zeithistorischen Kontext vgl. Troebst, Stefan, „Intermarium“ und „Vermählung mit dem Meer“. Kognitive Karten und Geschichtspolitik in Ostmitteleuropa, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 435–469. 26 Vgl. Bild 4: Kossak, Wojciech, Marszałek Józef Piłsudski na „Kasztance“ [Marschall Józef Piłsudski auf der „Fuchsstute“] (1928). Öl auf Leinwand, 109 x 93 cm, Muzeum Narodowy, Warschau, Polen. 27 Kossak, Wojciech, Apoteoza Wojska Polskiego (1935), in: Olszański, Wojciech Kossak, Bildteil, Abb. 189.

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als Allegorie des polnischen Staatsschiffs in rauer See zeigt 28 – 12.000 mechanische PS gegen Kossaks eine lebendige Pferdestärke. Erneut waren es vor allem die durch einen aufwendigen Lebensstil in seinem Krakauer Villenanwesen Kossakówka bedingten materiellen Zwänge, die Kossak auch in der Zwischenkriegszeit mehrfach in die USA reisen ließen, wo er jetzt „Yankees und Yankeeinnen […] gegen neuen Ruhm und Dollars“ malte – durchgängig hoch zu Ross, versteht sich. 29 Sein Vorhaben, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten einen Staatsauftrag für ein großes Panoramagemälde zur USamerikanischen Geschichte zu erhalten, scheiterte indes an seiner ausländischen Staatsbürgerschaft. 30 Den Überfall der Wehrmacht von 1939 auf Polen und den anschließenden nationalsozialistischen Besatzungsterror erlebte Kossak als 83jähriger, aber rüstiger und malerisch produktiver Greis in seiner Heimatstadt. Das Passfoto in seiner vom „NS-Stadthauptmann der Stadt Krakau im Generalgouvernement“ am 18. März 1942 ausgestellten Kennkarte zeigt einen bedrückten, aber zugleich gefassten Mann, dem man seinen nahen Tod am 29. Juli desselben Jahres nicht ansieht. 31 Als der Generalgouverneur der besetzten polnischen Gebiete, der in Sichtweite von Kossaks Anwesen auf dem Krakauer Wawel residierende NSJurist Hans Frank, dem betagten Malerfürsten bestellen ließ, er wünsche von ihm porträtiert zu werden, lehnte dieser mit der Begründung ab, er male aus Altersgründen nicht mehr. 32 Dies war eine Notlüge, zu der unter dem deutschen Okkupationsregime ein beträchtliches Maß an Mut gehörte, hätte sie doch leicht in Inhaftierung, Deportation und Ermordung resultieren können – zumal Kossaks Atelier, wie aus etlichen zeitgenössischen Fotografien erhellt, überfüllt mit halbfertigen Gemälden, Porträtskizzen und Arbeitszeichnungen war, die seinen Weigerungsgrund schlagend widerlegten. Offensichtlich hat er bis zu seiner Todesstunde gemalt. Ungeachtet des Verhaftetseins im 19. Jahrhundert und des Ruchs der Germanophilie rückte Kossak zumindest posthum in die erste Reihe patriotischer Nationalkünstler Polens auf, und dies nicht erst in der 1989 von Solidarność erkämpften Dritten Polnischen Republik, sondern bereits in der kommunistischen Volksrepublik der Jahre 1944–1989: 1976 erschien in Breslau ein großformatiger Kunstband über Kossaks Œuvre in kleiner Auflage, der nicht zuletzt des dort wiederge28 Mokwa, Marian, M. S. Piłsudski (1936), in: Fabijańska-Przybytko, Krystyna, Morze w malarstwie polskim. Gdańsk 1990, Bildteil, Abb. 80; zum Niederschlag dieses Modernitätsanspruchs in der zeitgenössischen Kunst und zur Diskrepanz zu Kossak nationalromantischem Heroismus vgl. die Kapitel zu Polen bei Szczerski, Andrzej, Modernizacje. Sztuka i architektura w nowych państwach Europy Środkowo-Wschodniej 1918–1939 [Modernisierungen. Kunst und Architektur in den neuen Staaten Ostmitteleuropas], Łódź 2010; Mansbach, Steven A., Modern Art in Eastern Europe. From the Baltic to the Balkans, ca. 1890–1939, Cambridge 1999. 29 Olszański, Wojciech Kossak, S. 39 („malować jankesów i jankeski […] po nową sławę i dolary“). 30 Ebd., S. 40. 31 Ebd., Fig. 59, S. 56. 32 Ebd., S. 51.

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gebenen Reiterporträts von Piłsudski wegen umgehend zur bibliophilen Rarität wurde. 33 Aufgrund der gewaltigen Nachfrage erlebte der Band 1982 – zu Zeiten des Kriegsrechts, als General Wojciech Jaruzelski sich als polnischer Patriot zu profilieren suchte – eine mit 50.000 Exemplaren ungewöhnlich hohe Neuauflage, die mitten in der katastrophalen Wirtschaftskrise des Landes in Jugoslawien gegen Devisen aufwendig gedruckt wurde. 34 Nicht nur populäre Darstellungen der Geschichte Polens sind seitdem durchgängig mit Kossaks Bildern illustriert, sondern gerade auch Schulbücher und andere Lehrmaterialien. 35 Auch das maßgeblich von Kossak geschaffene Lemberger Racławice-Panorama von 1894, das 1944 angesichts der herannahenden Roten Armee abmontiert und versteckt sowie 1946 ins jetzt polnische Breslau gebracht worden war, kam nun zu neuen Ehren: Der Ende der 1960er-Jahre gefasste Plan der Breslauer Stadtoberen, es in einer neu gebauten Beton-Rotunde im Stadtzentrum zugänglich zu machen, wurde zwar unter Parteichef Edward Gierek mit Rücksicht auf die sowjetischen Hegemonialmacht (und auf das Hauptquartier der Warschauer Pakt-Truppen im nahe gelegenen Liegnitz) vorübergehend gestoppt. Doch ordnete Jaruzelski die Fertigstellung des Baus an, so dass dieser 1985 eröffnet werden könnte. Seitdem ist Kossaks aus Galizien nach Niederschlesien verlegtes Racławice-Panorama eine veritable Weihestätte polnischen Nationalgefühls, die 1997 auf ausdrücklichen Wunsch Johannes Pauls II. in das päpstliche Besuchsprogramm aufgenommen wurde und jährlich ca. eine Million Besucher, darunter zahlreiche Schulklassen, anzieht. In Polen kennt den Pferde-, Reiter-, Schlachten- und Historienmaler Kossak heute daher weiterhin buchstäblich jedes Kind. Von Reinhart Koselleck stammt ein welthistorisches Periodisierungsmuster, demzufolge die Zähmung des Pferdes – des „Tiers, das in der Symbiose mit dem Menschen diesem am nächsten steht“ 36 – eine „hippologische Wende“ in der Zivilisationsgeschichte darstellte, die um das Jahr 4000 v. Chr. ein „Pferdezeitalter“ einleitete, welches erst mit dem Beginn der Moderne endete: Zunächst in Industrie, Transportwesen, Kommunikation und Kriegsführung, dann auch in der Landwirtschaft wurde das Pferd durch Maschinen ersetzt. 37 Im Nachpferdezeitalter kommt den dienstbaren Equiden eine neue, indes nur noch marginale Rolle in

33 Olszański, Wojciech Kossak (1. Aufl. 1976); zur Wiederbelebung des Piłsudski-Kultes in der Solidarność-Zeit vgl. Hein, Heidi, Der Piłsudski-Kult und seine Bedeutung für den polnischen Staat 1926–1939, Marburg an der Lahn 2002, S. 364–368. 34 Olszański, Wojciech Kossak (3. Aufl. 1982). 35 Vgl. etwa Banach, Konrad er al., Polaków dzieje malowane, Warschau 2007, oder Sienkiewicz, Witold (Hg.), Ilustrowany atlas historii Polski, Warschau 2007. 36 Zitiert nach Meier, Christian, Gedenkrede auf Reinhart Koselleck, in: Joas, Hans; Vogt, Peter (Hgg.), Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Berlin 2011, S. 103– 120, hier S. 111. 37 Koselleck, Der Aufbruch in die Moderne; vgl. dazu auch Raulff, Ulrich, Das letzte Jahrhundert der Pferde. Historische Hippologie nach Koselleck. Vortrag auf der Konferenz „Reinhart Koselleck (1923–2006). Politische Ikonologie“ des Deutschen Dokumentationszentrums für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg in Marburg/L. am 19. November 2010.

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Sport und Freizeit zu – lediglich das Polizeipferd erinnert heute noch an die 6.000 Jahre davor. Kossaks Heimat Polen nimmt sich bezüglich Kosellecks Zäsursetzung als Nachzügler aus: Nicht nur im Agrar- und Transportbereich, sondern auch und gerade in staatlicher Repräsentation und im Militärwesen befand sich die Zweiten Polnische Republik noch im Pferdezeitalter. So wiesen die Streitkräfte mit 40 Regimentern einen wesentlich höheren Anteil an Kavallerie als andere Armeen Europas auf. Dass jedoch 1939 polnische Kavalleristen deutsche Panzer mit Lanzen und Säbeln angegriffen hätten, war, wie man heute weiß, eine NS-Propagandalüge. Die überaus beweglichen und geländegängigen berittenen Truppen waren primär als Aufklärer eingesetzt und hatten die Lanze durch panzerbrechende Waffen ersetzt. Zwar schaffte die 1944 gegründete kommunistische Polnische Volksarmee 1949 die letzte berittene Einheit ab, doch wurde innerhalb der Streitkräfte der demokratischen Republik Polen im Jahr 2000, kurz nach dem Beitritt des Landes zur NATO, zu zeremoniellen Zwecken erneut eine Ulanen-Einheit aufgestellt, um dergestalt die Erinnerung an diese spezifisch polnische militärische Tradition wach zu halten. Wie sehr der Künstler Kossak Repräsentant des Pferdezeitalters war, belegt das Gemälde Die Vision des Wojciech Kossak, das sein gleichfalls malender Sohn Jerzy Kossak 1942, im Todesjahr seines Vaters, schuf. 38 Es zeigt im Vordergrund ein auf Fotografien zurückgehendes Porträt Wojciech Kossaks als alten Mann in Zivilkleidung, in der Bildmitte die Attacke eines Ulanen-Schwadrons der Zweiten Polnischen Republik und im Bildhintergrund eine lange Kette von Kavalleristen, in der Kościuszko zu Pferde in eben der Pose, Uniform und Bewaffnung erkennbar ist, wie ihn Wojciech Kossak 1893 für das Lemberger Panorama der Schlacht von Racławice 1794 gemalt hatte. So polnisch-national sich der europaweit wie überseeisch tätige Krakauer Malerfürst auch stilisiert hat, so geschmeidig hat sich der österreichisch-ungarische Untertan während seines immerhin siebenjährigen Berliner Karriereschubs seiner teutonischen Umgebung adaptiert. Person und Karriere des Künstlers Wojciech Kossak stehen damit zugleich für den Bruch im polnisch-deutschen Verhältnis, der durch Preußens maßgeblichen Anteil an den Teilungen Polens im ausgehenden 18. Jahrhundert, vor allem aber durch die repressive Wende in der Politik des Kaiserreiches gegenüber der polnischsprachigen Bevölkerung seiner Ostprovinzen am Ende des 19. Jahrhunderts bewirkt wurde. Zwar kann für die Zeit davor wohl kaum von einer preußisch-polnischen Symbiose gesprochen werden, doch zeugt das intime Verhältnis von Berliner Hofgesellschaft und polnischen Hofkünstlern um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert von hochgradiger kultureller Affinität. Es war die mitunter atemberaubende Mischung von Gespür für den Zeitgeist, von nationalideologischer Flexibilität und ausgeprägtem Geschäftssinn, die Kossaks zeit seines langen Lebens auszeichnete und seinem Œuvre bei aller Zeitgebundenheit wenn nicht Zeitlosigkeit, so doch transzendente Verwendbarkeit 38 Kossak, Jerzy, Wizja Wojciecha Kossaka (1942), in: Olszański, Wojciech Kossak, Fig. 63, S. 59.

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verleiht. Pferde und Reiter im gestreckten Galopp sind und bleiben ungeachtet der Rasse und Fellfarbe bzw. Uniform und Staatsangehörigkeit eben vor allem Tiere und Menschen in synchronisierter Aktion. Literaturhinweise Baumgartner, Anna, Ein polnischer Nationalmaler am preußischen Hof. Wojciech Kossak und sein wiederentdecktes Gemälde Schlacht bei Zorndorf (1899), in: zeitenblicke 10 (2011), 22.12.2011, URL: http://www.zeitenblicke.de/2011/2/Baumgartner/index _html (21.03.2012). Dyroff, Stefan, Wojciech Kossak. Panorama- und Schlachtenmaler für Deutsche und Polen. Deutsch-polnische Denkwürdigkeiten in seinem Werk, seinem Umfeld und seiner Rezeption, in: Omilanowska, Małgorzata; Straszewska, Anna (Hgg.), Wanderungen: Künstler – Kunstwerk – Motiv – Stifter, Warschau 2005, S. 79–101. Koselleck, Reinhart, Der Aufbruch in die Moderne oder das Ende des Pferdezeitalters, in: Tillmann, Berthold (Hg.), Historikerpreis der Stadt Münster. Die Preisträger und Laudatoren von 1981 bis 2003, Münster 2003, S. 23–39. Kossak, Wojciech, Erinnerungen (1913), in: Danielewicz-Kerski, Dorota; Górny, Maciej (Hgg.), Berlin. Polnische Perspektiven, 19.–21. Jahrhundert, Berlin 2008, S. 312– 323. Olszański, Kazimierz, Wojciech Kossak, Wrocław ³1982.

Quelle Wilhelm und Wojciech: Der deutsche Kaiser und sein polnischer Hofmaler (1899, 1928) Abbildungen Bild 1: Kaiser Wilhelm II. sitzt Wojciech Kossak Modell für ein Reiterporträt (1899), in: Olszański, Kazimierz, Wojciech Kossak, Warschau 1982, Fig. 17, S. 24. Bild 2: Wojciech Kossak, Wilhelm II. und Adolph Menzel in Kossaks Atelier im Berliner Schloss Monbijou vor Kossaks Bild „Die Schlacht bei Zorndorf am 25. August 1758“ (1899), in: Olszański, Kazimierz, Wojciech Kossak, Warschau 1982, Fig. 13, S. 21. Bild 3: Kossak, Wojciech, Kaiser Wilhelm II. und Menzel in Kossaks Atelier (1899). Öl auf Mahagoniholz, 43,5 x 35,5 cm, Museum Huis Doorn, Doorn, Niederlande (Inv. HuD 02227). Bild 4: Kossak, Wojciech, Marszałek Józef Piłsudski na „Kasztance“ [Marschall Józef Piłsudski auf der „Fuchsstute“] (1928). Öl auf Leinwand, 109 x 93 cm, Muzeum Narodowy, Warschau, Polen.

Karrierekatalysator Pferd Bild 1: Kaiser Wilhelm II. sitzt Wojciech Kossak Modell für ein Reiterporträt (1899), in: Olszański, Kazimierz, Wojciech Kossak, Warschau 1982, Fig. 17, S. 24.

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Bild 2: Wojciech Kossak, Wilhelm II. und Adolph Menzel in Kossaks Atelier im Berliner Schloss Monbijou vor Kossaks Bild „Die Schlacht bei Zorndorf am 25. August 1758“ (1899), in: Olszański, Kazimierz, Wojciech Kossak, Warschau 1982, Fig. 13, S. 21.

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Bild 3: Kossak, Wojciech, Kaiser Wilhelm II. und Menzel in Kossaks Atelier (1899). Öl auf Mahagoniholz, 43,5 x 35,5 cm, Museum Huis Doorn, Doorn, Niederlande (Inv. HuD 02227).

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Bild 4: Kossak, Wojciech, Marszałek Józef Piłsudski na „Kasztance“ [Marschall Józef Piłsudski auf der „Fuchsstute“] (1928). Öl auf Leinwand, 109 x 93 cm, Muzeum Narodowy, Warschau, Polen.

TANZ ALS BERUF 1 Heide Lazarus Die belgische Tänzerin, Choreografin, Intendantin und Schulgründerin Anne Teresa De Keersmaeker (geb. 1960) hat einen speziellen choreografisch-tänzerischen Stil entwickelt, der sie unverwechselbar und zu einer weltweit gefragten Künstlerin macht. Deshalb wollte auch Daniel Barenboim, der weltweit gefeierte Pianist und Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper, mit ihr einmal zusammen arbeiten. Als De Keersmaeker 2010 ihr Solostück 3Abschied auf der Grundlage des Schlusssatzes von Gustav Mahlers Das Lied von der Erde inszenierte, fragte sie den Maestro für die musikalische Zusammenarbeit an. Er lehnte ab, denn er war der Ansicht, dass Gustav Mahlers sinfonisches Werk und das Thema der Vergänglichkeit nur durch die Musik und niemals mit den Mitteln des Körpers und seiner Bewegungen adäquat interpretiert werden könne. Er verstand nicht, warum sie nicht „tanzbare“ Musik bearbeiten wollte. De Keersmaker dagegen strebte genau das nicht an und stellte in konzeptioneller und tänzerischer Weise mit ihrem Stück den künstlerischen Führungsanspruch der Musik in Frage. In verschiedenen Inszenierungsvarianten verwies sie auf die Autonomie des Tanzes und den damit verbundenen Zusammenhang von Interpretation und Bearbeitung. Um diesen aktuellen Konflikt zwischen Angehörigen unterschiedlicher künstlerischer Branchen und Berufe zu begreifen, muss man erst einmal verstehen, warum der Musiker und Dirigent glaubt, von der Tänzerin und Choreografin etwas Bestimmtes erwarten zu können und warum diese sich dem verweigert. Im Gegensatz zu Barenboim versteht sich De Keersmaeker als „freie und autonome Berufskünstlerin“, die nicht bloß Werke anderer ausführt und den Tanz nicht als untergeordnete künstlerische Ausdrucksform begreift, sondern als eine Kunst, die spezifische und eigenständige künstlerische Antworten gestalten kann. Der vorliegende Essay konzentriert sich vor diesem Hintergrund auf die Frage, wie sich der Kunsttanz im Rahmen der Institutionalisierung und Organisation als autonome berufliche Arbeit zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert entwickelte. Insbesondere soll gezeigt werden, wie im 20. Jahrhundert eine spezifische Form des Tanzes, nämlich der „freie künstlerische Tanz“, zu einer anerkannten Berufsform wurde. Wenn Kunst mit dem Attribut „frei“ versehen wird, denkt man zunächst an die Freiheit der Kunst, an eine individuelle, autonome Schöpfungsgeschichte eines Werkes durch einen über das Normalmaß hinaus begabten Menschen, der ohne Vorurteile und enge stilistische und ökonomische Bindungen arbeitet, und in dessen Arbeitsergebnis man überraschende und ungeahnte Positionen erkennen 1

Essay zur Quelle: Fritz Böhme: Die soziale Aufgabe und Lage des Tänzers (1930). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte (2012), URL: http://www.europa.clio-online.de.

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kann, die über einen technisch geschulten und anwendungsbedingten Zusammenhang hinaus gehen. „Frei“ kann man aber auch als frei von berufsmäßigen wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Regeln, Motivations- und Sanktionsmöglichkeiten verstehen. „Frei“ heißt jedoch auch: frei von einer Festanstellung am Theater und damit frei von einer regelmäßigen und stabilen Absicherung eines Angestelltendaseins. In diesem letzten Sinne war auch die Rede von der freien Künstlerin De Keersmaeker gemeint. Als Gründerin und Unternehmerin der in Brüssel beheimateten Schule P.A.R.T.S. – Performing Arts Research and Training Studios – und ihrer Compagnie Rosas arbeitet sie zwar eng in Kooperation mit dem etablierten Theatersystem. Aber ihr Ausbildungssystem und ihre Produktionen sind nicht nur dort verankert, sondern insbesondere der Freien Szene verpflichtet. Der sozialgeschichtliche Beitrag über die tänzerische Profession und den freien Schautanz geht von der allgemeinen Prämisse aus, dass die Geschichte des Tanzes nicht nur durch ästhetische Konzepte, Körper- und Bewegungstechniken und Darstellungsformen bestimmt ist, sondern auch durch das Streben nach Macht, Einfluss sowie berufliche und soziale Anerkennung. Im Folgenden geht es um die Verberuflichung des „freien Tänzers“ und um die Abgrenzung und Autonomisierung einer bestimmten künstlerischen Ausdrucksform. Eine wesentliche Voraussetzung für die Anerkennung des freien Tanzes als autonome Kunst war dessen soziale Eingliederung in den Kanon der etablierten Künste. Die Herausbildung und Durchsetzung des modernen und freien Berufstänzers und Berufschoreografen, wie er uns im heutigen Theatersystem mit der Freien Szene begegnet, manifestierte sich mitunter in der Losung „Freiheit vom Theater“ und in der Forderung nach einer eigenständigen Ausbildung. Bestimmt wurde diese Entwicklung indessen nicht nur durch berufliche Programme und Strategien der Tänzerverbände, die gesellschaftliche Bedeutung und die gesetzliche Anerkennung der Funktions- und Berufsgruppe, sondern auch durch die allgemeine symbolische und soziale Unterscheidung zwischen Künstlern und Laien, zwischen Tanz und Nichttanz sowie zwischen Kunst und Nichtkunst. Das zeigen die folgenden Ausführungen über die langfristige Entwicklung der Tanzberufe von der Frühen Neuzeit bis ins späte 19. Jahrhundert und den von Deutschland ausgehenden Umbruch in der europäischen und globalen Tanzszene des frühen 20. Jahrhunderts. Die Gründung spezialisierter Bildungseinrichtungen seit der Renaissance sowie die Verbreitung wandernder Theatergruppen über ganz Europa führten zu einer stärkeren Verberuflichung der Bühnenarbeit. Im Einzelnen waren die Berufsrollen allerdings noch lange diffus: Tänzer wirkten gleichzeitig als Schauspieler, Sänger und Musiker – und umgekehrt. Ihre Leistungen wurden an den Höfen des Adels und den städtischen Märkten nachgefragt. Ihr sozialer Status schwankte je nach Herkunft, Ort, künstlerischer Sparte und Richtung ganz erheblich. Zumeist entstammten sie künstlerischen Familienunternehmen, in denen der Beruf vielfach vererbt wurde. Viele der Prinzipale der Theatertruppen, deren Mitglieder sie waren, stammten aus den vergleichsweise gebildeten bürgerlichen Kreisen, in denen, ähnlich wie bei Hofe, der Tanz- und Anstandsunterricht sowie Deklamation und

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Literaturkenntnis zum Bildungskanon gehörten. Eine Anstellung fanden einige von ihnen dann als Tanzmeister bei Hofe, an den Akademien, Universitäten und Erziehungsanstalten oder als städtische Tanzmeister. Die einen wirkten als Privatlehrer für Adelige und Bürgerliche, die anderen betrieben private Tanzschulen und wieder andere zogen als Schauspielunternehmer durchs Land. Die professionellen und begehrtesten Wandergruppen erhielten mitunter zeitlich und lokal begrenzte Privilegien und den Titel Hofkomödianten. Italienische, französische, englische und spanische Gruppen, die als Wanderbühnen ihre Kunst zeigten, fanden früher oder später europaweit Nachahmer, in Deutschland vermehrt seit dem 17. Jahrhundert. Aber auch Hoftheater und Hofkapellen verstetigten sich zunehmend. Sie stärkten die Grundlagen der Theater-Berufe und förderten deren Differenzierung. Lange wurden in Europa allerdings bevorzugt italienische Musiker und französische Tänzer engagiert. Zur Zeit der Aufklärung stieg die Bedeutung von Kunst und Kultur als Repräsentationsmöglichkeit und standesgemäße Praxis bei Adel wie Bürgertum weiter. Regionale Herrscherhäuser verlagerten ihre Bühnen vom Hof in die Städte. In den Residenzstädten wurden zwischen dem späten 18. und dem frühen 19. Jahrhundert verstärkt Opern- oder Schauspielhäuser gebaut und feste, nach Sparten differenzierte Ensembles unter Vertrag genommen. Damit einher ging die Einrichtung von Ausbildungsinstitutionen für Ballett, die oft den Hoftheatern (Hofopern) angegliedert waren und ihre spartenbezogenen Lehrkräfte aus deren Personal rekrutierten. So wurden Wege für die Spezialisierung des Tanzes im Theater eröffnet. Die Ausbildung erfolgte in der Praxis, die in die zunehmend normierte Körperund Bewegungstechnik des theatralischen Tanzes bzw. Kunsttanzes einführte. Dieser löste sich immer mehr aus der Verbindung mit Tanzgattungen wie dem Unterhaltungs- und Gesellschafts- sowie dem Volks- bzw. Nationaltanz, aber auch aus der Verbindung mit dem Schauspiel und der Pantomime. Im 17. Jahrhundert waren Künstler wie Guillaume Dumanoir (1615–1697) oder Jean-Baptiste Lully (1632–1687) noch gleichzeitig Tanzmeister, Komponist und erster Violinist. Später war der Tanzmeister in der Regel in erster Linie Tänzer, Choreograf und Tanzpädagoge. Einzelne Künstler hielten allerdings beharrlich an der Einheit aller theatralischen Elemente fest; darauf beruhte dann nicht zuletzt die Verbindung zwischen schauspielerischen Darstellungskonzepten und den ästhetischen Neuerungen im modernen (freien) Tanz des frühen 20. Jahrhunderts. Parallel zur Trennung und Differenzierung der Aufführungskünste kam es zum Niedergang des Stegreiftheaters und der gemeinschaftlich von Städtern, Bauern oder vom Adel zu Festen veranstalteten Schau-Spielen. Die „unregelmäßige“ Theaterwirtschaft zu Messen, Festen und auf der Wanderschaft wich einer „regelmäßigen“ Bühnenkunst mit einem festen Repertoire auf der Basis gedruckter, nachlesbarer Stücke. Berufe sind nicht nur durch eine spezialisierte Tätigkeit sowie besondere Fähigkeiten und Fertigkeiten charakterisiert, sondern auch durch spezifische Regeln und Rituale bei der Weitergabe, Tradierung und Innovation von Spezialwissen, Einstellungen und Praktiken. Dies war (und ist) auch im Tanz so. Seit der Gründung der Académie royale de Dance 1661 in Frankreich beruhte der sich europaweit ausbreitende „Klassisch-akademische Tanz“ auf einem allgemeinen Training

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und einem Ausführungskodex für die Sparte Tanz in der Darstellenden Kunst bzw. im Musiktheater; bis heute bezeichnen wir diese Art von Tanz als „Ballett“. Andere Formen des Show- oder Schautanzes wurden moralisch geächtet und sozial marginalisiert, in die Privatbühnen der Vorstädte abgedrängt und als niedere Unterhaltungskunst betrachtet. Diese wurde von der hohen Kunst unterschieden, von der Sittenpolizei und Zensurbehörde besonders überwacht und Luxus- oder Gewerbesteuern unterworfen. Auch die Volks- und Gesellschaftstänze hatten ihre speziellen Normen und artistischen Techniken; jedoch waren sie im Gegensatz zum theatralischen Tanz mehr auf das aktive Mitmachen und weniger auf die äußerlich unbewegte Rezeption durch das Publikum ausgerichtet. Nur ausgewählte und disziplinierte Formen davon wurden in den Kunsttanz integriert, dem eine höhere Bildungs- und Disziplinierungsfunktion zugesprochen wurde. Mit zunehmender Professionalisierung und im Kontext des Genie- und Kunstdiskurses des 18. und 19. Jahrhunderts entwickelte sich ein künstlerisches Virtuosentum. In dessen Fahrwasser etablierte sich der soziale Typ des freien Bühnenkünstlers, der sich selbständig auf dem expandierenden Theatermarkt behaupten konnte. Frühe Beispiele dafür waren der Musiker Niccolò Paganini (1782–1840), die Tänzerin Fanny Elßler (1810–1884) und die Schauspielerin Sarah Bernhardt (1844–1923). Begünstigt wurde diese Entwicklung durch die verbesserten Reisemöglichkeiten, die gesteigerte Nachfrage durch ein schauwilliges und zahlungsfähiges Publikum sowie die Expansion der Medien. Konzertagenturen übernahmen das Management. Kleinere Theater, Konzertbühnen und Varietés zeigten vor allem Stagione-Aufführungen. Von der bis um 1870 – früher oder später – in ganz Europa eingeführten Gewerbefreiheit und der Theaterbegeisterung profitierten zunächst vor allem Show-Tänzer, die als Einzel- oder Gruppentänzer mit ihren eigenen Produktionen in Music-Halls, Varietés, Künstlerhäusern, kleinen Theatern und Salons auftraten. Das hieß aber noch nicht, dass sie im Kanon der anerkannten Kunst und in den Kreisen der sozial geachteten Berufskünstler anerkannt wurden. So mahnte Arthur Moeller van den Bruck im Jahre 1902: „Je länger ein Volk bei seinen Varietémomenten beharrt – desto geringer die Möglichkeit grosser Kunst, desto grösser die Wahrscheinlichkeit niederer Kunst, Kleinkunst, Possenkunst, antikisierender Epigonenkunst.“ 2

Die gesellschaftliche Anerkennung dieser Ausdruckformen änderte sich um 1900 mit der „Sprachkrise der Autoren“ und ihrer Hinwendung zur Tanz-Pantomime (Hofmannsthal, Maeterlinck) sowie mit der Entwicklung von Fotografie und Film. Varietétänzer, die sich in Eigenkreationen als Solisten auf den einzelnen Körper und seine Bewegung konzentrierten, genossen erhöhte Aufmerksamkeit. Sie befriedigten das Bedürfnis des Publikums nach Sinnenrausch wie nach Neuheit und künstlerischer Besonderheit. Ihre Tänze hoben sich durch ihren artifiziellen Charakter ab. Ihr Eigensinn manifestierte sich darin, dass ihnen ihre tänzerischen Experimente mitunter wichtiger zu sein schienen als der Beifall des Publikums (Loie 2

Moeller van den Bruck, Arthur, Das Varieté, Berlin 1902, S. 233.

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Fuller, Idadora Duncan). Multitalente wie die schauspielenden Tänzerinnen Loie Fuller, Grete Wiesenthal, Kate Vaughan oder Sada Yacco wurden in den kunstästhetischen Diskurs aufgenommen. Kreative Tänzer, Literaten und Publizisten inspirierten sich in den ersten Jahrzehnten wechselseitig in der Entwicklung des „freien künstlerischen Tanzes“. Die Gestaltung von Körper- und Bewegung wurde individuell vollzogen, ohne dass man sich an traditionelle Formen gebunden fühlte. Der „freie Tanz“ präsentierte sich damit in der Regel als „neuer“, „moderner“ oder „zeitgenössischer“ Tanz. Ein Zentrum des modernen Tanzes war Deutschland, wo verschiedene Einflüsse von international weit herumgekommenen Reformkünstlern und -künstlerinnen die Entwicklung stimulierten. In den 1920er-Jahren wurde er in Europa und den USA als „German Dance“ bekannt. In dieser Zeit übernahmen zunehmend auch die großen, subventionierten Theater, der Hort des damals als künstlerische Profession akzeptierten Balletts, die neue Ästhetik des freien Tanzes. Damit kreierten nicht mehr nur die Autoren-Tänzer auf den kleinen Podien, sondern auch die zum großen Teil neu angestellten Choreografen der großen Häuser den modernen Tanz, der sich nicht mehr an „schönen“ Vorbildern oder an der „schönen“ Linie des Balletts orientierte. Zwischen 1900 und 1930 etablierte sich so der soziale Typ des freien modernen Tänzers. Unter den gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen der Weimarer Republik schärfte sich sein Profil, indem Normen und Berufsbilder in langwierigen sozialen Aushandlungsprozessen geklärt und fixiert wurden. Dabei verdankte die diversifizierte Gruppe künstlerischer Berufe ihre Existenz und ihr Entwicklungspotential der Tatsache, dass es eine größere Zahl attraktiver, anerkannter und leistungsfähiger Bühnen gab, die über genügend finanzielle Grundlagen verfügten. Der moderne theatralische Tanz wurde so nicht vollkommen autonom, sondern in die Darstellende Kunst mit dem Bereich des Musiktheaters integriert – neben dem bereits anerkannten Ballett. Fritz Böhme (1881–1952), Berliner Publizist, Tanzhistoriker und späterer Archivar der Meisterstätten für Tanz (1936–1941), unterschied in seinem, zum Tänzerkongress 1930 gehaltenen Vortrag über Die soziale Aufgabe und Lage des Tänzers verschiedene tänzerische Berufe. 3 Er nannte den „Theatertänzer“, den „freischaffenden Tänzer“ (auch Podiums- oder Konzerttänzer genannt), den „Tanzpädagogen“ und den „Laienbewegungschorführer“. Seine Ausführungen schloss er mit dem Aufruf: „Alle Tänzer müssen sich zusammengehörig fühlen.“ Die Analyse von Böhme verdeutlicht, dass sich im frühen 20. Jahrhundert in Deutschland und Europa jene Konzeptionen des freien Bühnentanzes und freien Tänzerberufs ausbildeten, die teilweise bis heute relevant sind – etwa in Bezug auf Fragen der Ausbildung, des Qualitätsstandards, der beruflichen und sozialrechtlichen Klassifikation. Die Formel Kunst = Theater behielt dabei ihren Wert.

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Böhme, Fritz, Die soziale Aufgabe und Lage des Tänzers. Auszüge aus dem Vortrag des Publizisten und Tanzhistorikers Fritz Böhme auf dem Tänzerkongress 1930, in: Deutsches Tanzarchiv Köln (Bestand 216, Sammlung Tänzerkongresse). Im Folgenden stammen alle Quellenzitate, soweit nicht anders vermerkt, aus der hier abgedruckten Quelle.

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Diese Entwicklung soll im Folgenden aus organisationshistorischer Perspektive am Beispiel Deutschlands gezeigt werden. Aufgrund der neuen wirtschaftlichen, sozialen und ästhetischen Bedingungen änderten sich Chancen und Risiken der Podiums- oder Konzerttänzer in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts markant. Das motivierte neue soziale Bewegungen und führte zu neuen Organisations- und Artikulationsformen unter den Tänzern. Bereits 1908 hatte sich ein Deutscher Tänzerbund gebildet. Die 1912 gegründete Ballett-Union schloss sich 1917 mit der 1884 gegründeten Gewerkschaft für die nicht solistischen Chorsänger im Deutschen Chorsänger- und BallettVerband E.V. zusammen. Die veränderten Machtverhältnisse und Kunstformen nach 1918 führten 1927 zu einer erneuten Umgestaltung. So erklärte 1928 die Gewerkschaft der angestellten Theatermitglieder in ihrem Organ Singchor & Tanz. Fachblatt für Theatersingchor und Kunsttanz, dass der auf dem Magdeburger Tänzerkongress im Juni 1927 in Angriff genommene Zusammenschluss der gesamten Tänzerschaft (Tänzer an Bühnen und freie Tanzgruppen, Leiter und Lehrer für Kunsttanz- und Laientanzinstitute, Bewegungschorleiter) nunmehr zustande gekommen sei. „Die Tänzerschaft hat sich dem bisherigen ‚Deutschen Chorsänger- und Ballett-Verband‘, jetzt ‚Deutscher Chorsänger-Verband und Tänzerbund E.V.‘ angeschlossen. Der ‚Tänzerbund‘ hat es sich entsprechend seinem Charakter als Berufsorganisation zur Aufgabe gestellt, die künstlerischen und wirtschaftlichen Interessen seiner Mitglieder sowohl im Tätigkeitsbereich des Einzelnen, wie in der Öffentlichkeit und bei den Behörden zu schützen und zu fördern. Mitglieder können alle in den erwähnten Fachgruppen tätige Tänzer werden. Anfragen und Anmeldungen sind zu richten an den Vorstand des ‚Deutscher ChorsängerVerband und Tänzerbund E.V.“, Mannheim, Rupprechtstraße 10.“ 4

Mit der Umwandlung des Ballett-Verbandes zu einem Tänzerbund innerhalb der Arbeitnehmervertretung am Theater war die Anerkennung des (freien) modernen Tanzes als autonome Berufsform ein erhebliches Stück weiter gekommen. Das Ballett als ältere Sonderrichtung wurde unter die allgemeine Kategorie des Tanzes subsumiert. Diesen Prozess hatten die Theatertänzer sogar selbst initiiert: Der Ballett-Verband als Interessenvertreter der Angestellten im Bühnengewerbe wollte sich als „Berufsorganisation der Entwicklung in der Kunst oder in der Technik nicht widersetzen“ 5 , da die Gründung einer Spezialorganisation zu einer Zersplitterung der Interessen und Schwächung der sozialen Anliegen geführt hätte. Mit Gründung des Tänzerbundes war der freie Tanz als Autoren- oder Podiums-Tanz, der einen wesentlichen Teil der modernen Tänzer- und Choreografenschaft stellte, faktisch etabliert. Da die Arbeitnehmergewerkschaft jedoch eine theaterbezogene Berufsvertretung des gruppenkünstlerischen Personals (mit und ohne Soloverpflichtung) war, wurden die wirtschaftlich selbständigen „freien Künstler“ in den Berufs- und Statusklassifikationen und Interessenproblemen in4 5

Der Deutsche Tänzerbund, in: Singchor und Tanz 45 (1928), S. 50. Aufhäuser, Außerordentlicher Verbandstag des Deutschen Chorsänger- und Ballett-Verbandes in Stuttgart, in: Singchor und Tanz 45 (1928), H. 7, S. 84.

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dessen nicht immer besonders berücksichtigt. Die Berufsgruppenordnung des Verbandes jedoch ging von drei Hauptgruppen aus, nämlich „I Singchor“, „II Bühnentanz“ und „III Freie Tanzkünstler“. 6 Im Interesse einer einheitlichen Gruppenwahrnehmung vermittelte der Tänzerbund zwischen unterschiedlichen Status-, Qualifikations- und Interessengruppen, zwischen Tradition und Neuem, gymnastischem und ballettartigem Stil. Letztlich hatte er aber die Berufsgruppen des etablierten Theaters im Blick, auch wenn der von ihm gebildete Kunstausschuss für Tanz „eine zusammenfassende Regelung aller tänzerischen und tanzpädagogischen Zeitfragen“ 7 entwickeln sollte. Da er zunächst nicht paritätisch aus verschiedenen Stilrichtungen und Statusgruppen zusammengesetzt war, wurde er insbesondere von Vertretern der freien Tänzer scharf kritisiert. Diese gründeten 1928 den Verein Deutsche TanzGemeinschaft E.V., deren Mitglieder vorwiegend bekannte Tanzschulinhaber sowie solistisch arbeitende Tanzregisseure bzw. Podiumstänzer waren. Der Deutsche Tanz-Gemeinschaft gelang es allerdings nicht, sich als Berufsverband der freien (Podiums-)Tänzer, Choreografen und Tanzpädagogen zu etablieren. Dennoch hatte sie durch fachkundige Interventionen erreicht, dass die Interessen der Selbständigen im Professionalisierungsprozess der Tänzer gestärkt wurden. Am 1. Januar 1932 wurde sie in den Tänzerbund integriert und damit aufgelöst.8 Unter dem Nationalsozialismus verfolgten die Tänzer ihre Reformvorhaben wie einheitliche Ausbildungsstandards und die Anhebung der sozialen und materiellen Stellung unter den herrschenden ideologischen Bedingungen weiter. Der soziale Typ des freien Tänzers wurde im Fahrwasser der Kraft-durch-FreudeBewegung äußerlich aufgewertet, tatsächlich aber vom System instrumentalisiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg trat für den freien Tanz europaweit eine ähnlich prekäre Situation wie in den 1920er-Jahren ein. Er wurde im Berufsgefüge des Kunsttanzes wieder marginalisiert, auch wenn er in der Tanzkritik sehr viel Aufmerksamkeit genoss und wegen seiner Autonomie symbolisch gesehen die Spitze der Berufsgruppe darstellte. Heute stellen die professionell arbeitenden freien Tänzer einen großen Teil der Freien Szene dar und sind als Berufskünstler europaweit anerkannt. Der performative, theaterunabhängige Kunsttanz wird aber in vielen Ländern wie in Deutschland weiterhin nicht als eigenständige Sparte angesehen, sondern unter die der Darstellenden Kunst mit dem Bereich des Musiktheaters subsumiert. Dies macht verständlich, warum die Autonomie und das spezifische künstlerische Vermögen dieser diversifizierten Gruppe zuweilen angezweifelt werden, wie die Vorgeschichte des Stücks „3Abschied“ von Anne Teresa De Keersmaeker zeigt.

6 7 8

Verbands-Nachrichten des Deutschen Chorsänger- und Ballett-Verbandes e.V. 45 (1928), S. 179. Ebd., S. 100. Verbands-Nachrichten des Deutschen Chorsänger- und Ballett-Verbandes e.V. 48 (1931), S. 279.

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Literaturhinweise Fonteyn, Margot, Vom Zauber des Tanzes, Rüschlikon-Zürich 1981. Müller, Hedwig; Stöckemann, Patricia: „… jeder Mensch ist ein Tänzer.“ Ausdruckstanz in Deutschland zwischen 1900 und 1945. Begleitbuch zur Ausstellung „Weltenfriede – Jugendglück. Vom Ausdruckstanz zum Olympischen Festspiel“ der Akademie der Künste vom 2. Mai – 13. Juni 1993 in Berlin, Gießen 1993. Oberzaucher-Schüller, Gunhild (Hg.), Ausdruckstanz – Eine mitteleuropäische Bewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wilhelmshaven 1992. Oberzaucher-Schüller, Gunhild, Theatralische Freie und Freie Theatraliker: Aspekte der Tanzszene im deutschsprachigen Raum 1918–1939, in: tanzdrama 54 (2000), S. 19– 26. Ochaim, Brygida M.; Balk, Claudia, Varieté-Tänzerinnen um 1900. Vom Sinnenrausch zur Tanzmoderne. Ausstellung des Deutschen Theatermuseums München vom 23. Oktober 1998 – 17. Januar 1999, Frankfurt am Main 1998.

Quelle Fritz Böhme: Die soziale Aufgabe und Lage des Tänzers (1930) 9 Ich hoffe, dass ich vor keinem Publikum spreche, sondern vor Tänzern. Denn es handelt sich weder um politische Angelegenheiten, noch um Dinge, die Sache der Begeisterung oder Abneigung sind. Es handelt sich um den Niederschlag einer Arbeit, die sie alle angeht. Es ist kein Zufall, dass ich in meinem Thema das Wort Aufgabe vor Lage gestellt habe, denn wir müssen zuerst fragen, was der Tänzer der menschlichen Gesellschaft zu geben hat und erst dann, welche Möglichkeiten die Gesellschaft gibt, damit er seinen Beruf erfüllt. Diese Fragen sind nicht nur so nebenbei abzutun, sie müssen ganz ohne Parteinahme und ohne Empfindsamkeit behandelt werden. Es handelt sich um die Frage nach dem Dasein des Tänzers. Das ist nicht in erster Linie seine wirtschaftliche Angelegenheit, sondern eine Kulturfrage. Es gibt natürlich auch Menschen, die daraus keine Frage künstlerischer Prinzipien machen. Unter Lebens- und Berufsmöglichkeiten darf man aber beim Künstler nicht bloss die erreichbare materielle Existenz verstehen, Leben ist da nicht bloss Essen und Trinken, sondern auch etwas Geistiges und zwar in erster Linie Lebenswille äussert sich da in bewusstem Streben des geistigen Willens. Und wenn ich überhaupt von Organisation einer Künstlerschaft reden soll, so müssen diese geistigen Dinge Hauptfrage sein. Jeder Künstler hat in sich ein Bild, ein Ideal, er weiss, dass auch durch ihn der kulturbauende, die Menschheit formende Strom fliesst und von hier aus gesehen muss auch die soziale Frage eine Kulturfrage sein. Fördert nun die soziale Frage diesen künstlerischen Trieb oder erstickt sie ihn? Steht der Tänzer an der Stelle in der gesellschaftlichen Struktur der Menschheit, dass ihm die Erreichung jener grossen Ziele gewährleistet ist, kann sich das freie Schaffen, das Verwirklichen von Idealen bestmöglich durchsetzen? Diese Dinge müssen bei 9

Böhme, Fritz, Die soziale Aufgabe und Lage des Tänzers. Auszüge aus dem Vortrag des Publizisten und Tanzhistorikers Fritz Böhme auf dem Tänzerkongress 1930, in: Deutsches Tanzarchiv Köln (Bestand 216, Sammlung Tänzerkongresse). Die Quelle ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte (2012), URL: http://www.europa.clioonline.de.

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einer Organisation von Künstlern in erste Linie Zielpunkte sein. Man soll nicht glauben, dass mit einer Besserbezahlung etwa des Chorpersonals, ein lebendiges Wesen, Tanzkunst erzeugt wird. Allerdings ist ein schlechtbezahlter Chor aus psychischen Hemmungen heraus nicht ein guter Refraktor schöpferischer Kräfte. Unzufriedenheit mit der äusseren Lage kann keine Konzentration aufkommen lassen, deshalb muss für angemessene Bezahlung eingetreten werden. Es kommt aber doch in erste Linie auf Werkschöpfung an. Was noch im Keimen ist, das noch nicht Gestaltete zwingt zur Frage. Der Tanz im heutigen Leben steht noch nicht an dem Platz, der ihm gebührt. Deshalb ist die Fragestellung nach Schaffung des ihm gebührenden Lebensraumes nötig. Es gibt nur eine Aufgabe des Tanzes, nämlich sich als Kulturfaktor durchzusetzen, d.h. aus der verkannten Lage herauszukommen, Volkserziehung zu leisten, die Werte aufzustellen, zu denen er sich berufen fühlt, lebendiger Rhythmus gegen erklügelte Intellektualität, zu beweisen eine eigene Welt zu sein und am Gesicht der Gegenwart, am Werk der Zukunft mitzubauen. Dem Versuch, diese Aufgaben zu erfüllen, waren die Bestrebungen des Kunsttanzes der letzten Jahre gewidmet. Gestatten Sie einen kurzen Rückblick: Bis 1900 gab es nur Theatertänzer. Ein Beruf, der nicht viel Menschen beschäftigte, und eine feste Vorbildung hatte. Diese begann meist frühzeitig im schulpflichtigen Alter und zwar entweder in der Ballettschule oder weniger häufig in einer Privatschule eines Ballettmeisters. Die Leute wurden Chortänzer, Solotänzer, Ballettmeister, je nach Befähigung. Es war eine klare, übersichtliche Ausbildungsordnung. Bei der Jahrhundertwende meldete auch der Bewegungstrieb seine Rechte an. Es gab zwar keine Revolution auf dem Gebiete des Theatertanzes, aber doch aussenstehende Revolutionäre. Sie wollten eine Verwirklichung des neu erstehenden Tänzerberufes, eine Erweiterung des Berufsbegriffes für den tänzerisch schaffenden Menschen. Sie negierten den Theatertanz selbst nicht, hielten ihn aber für eine zu einseitige Auswertung des künstlerischen Schaffens. Sie erhofften vom Tanz als Kunst mehr als blosse Opernbeigabe. Sie gingen an Kreise heran, die Kunst suchten statt mehr oder weniger Unterhaltung. Sie glaubten an den Tanz als Kulturinstrument. So entstand der Beruf des freischaffenden Tänzers. Dieses unerhörte Wagnis hatte Erfolg. Der Zustrom von Konsumenten war sehr stark. Das lockte immer mehr Produzenten hervor, allerdings auch solche, die nicht berufen waren. Die Menschen verlangen nun einmal nach Bewegung und so ist es auch heute noch. Hätten die Behörden damals eingesehen, worum es sich hier handelte, so hätten wir heute einen wirklichen freien Tanzberuf als eigenen Kunstzweig. Sie haben aber passiv zugesehen. Vergnügungssteuer war wohl das einzige Interesse. Nach der anfänglichen grossen Anteilnahme des Publikums ging es gleichsam abwärts. Die Berufsbildung des freien Tanzes war damit vereitelt. Der Beruf eines freien Tänzers ist heute kein Beruf, sondern eine Beschäftigung, die die Lebenshaltungskosten des Einzelnen nicht decken kann. Wie es in anderen Ländern ist, weiss ich nicht genau. In Amerika wurde aber z.B. eine Liga für Konzerttänzer ins Leben gerufen. Bei uns ist es sicher, dass sich die Kunstkategorie des Tanzes nicht durchgesetzt hat und vorerst auch keine Aussicht dazu besteht. Unter dem Druck der Verhältnisse mussten die Tänzer mit einem Mal ihre pädagogischen Fähigkeiten entdecken. So entstanden die Tanzschulen. Die früheren Ballettmeister oder Solotänzer am Theater hatten ja zum Teil auch Tanzschulen, aber eine ganz andere Art. Die heutigen Schulen für künstlerischen Tanz haben im Allgemeinen keinen Zusammenhang mit dem Volks- oder Gesellschaftstanz. Sie haben 2 Ziele: Ausbildung von Tänzern und Tanzpädagogen und Unterricht an Laien und zwar an solche, die von der Welle der

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neuen Bewegung erfasst worden waren. Man hoffte, dass von ihnen eine neue volksmassige Bewegung ausgehe, eine Umstellung der Konsumenten. Da der Zustrom immer stärker wurde, stellten die Inhaber dieser Schulen bald einen neuen Berufstypus dar und zwar einen lebensfähigen Zweig auf dem Tanzgebiet. Die austretenden Schüler mussten nun, da die Möglichkeit zu eigenen Tanzabenden immer seltener wurde, beschäftigt werden. Man stellte Tanzgruppen zusammen und veranstaltete Tanzabende damit. So wurde der Anfang zum Gruppentanz geschaffen. Der Zustrom wurde organisiert; es wurden Laienbewegungschore geschaffen, die einen Ansatzpunkt zur Bildung eines weiteren Berufs, des Laienbewegungschorführers darstellten. Die Tanzgruppe war als Berufskategorie nicht lohnend. Die Laienbewegung stieg langsam empor, sie trug ja nicht die Belastung eines beruflich tätigen und regelrecht bezahlten Führers. Immer mehr ergab sich die Notwendigkeit der beruflichen Einordnung der Ausbildungsschüler durch die Schulen selbst, wollten sie nicht eigene Konkurrenz grossziehen. Und so lenkten diese Schulen die Aufmerksamkeit der ausgebildeten Tänzer auf das Theater, d.h. auf den bestehenden Beruf des Theatertänzers. Dieser letzte Versuch hat naturgemäss zu Kollisionen mit den Inhabern dieses Berufs geführt. Die Zielwechsel können sich nicht gerade förderlich ausgewirkt haben. So ist es an der Zeit die Lage, in der wir uns befinden, zu klären. [...] Wir müssen beweisen, dass der Tanz ein Kulturfaktor und nicht nur Unterhaltungsgelegenheit ist. Dazu gehört, dass sich die Tänzer einen Stand ansehen als eine Kulturgemeinschaft. Die grösste Schwierigkeit ist, dass im Tanz Kultur schaffende, werdende und suchende K u n s t enthalten ist und auf der anderen Seite Unterhaltung, hier frei schöpferisch, dort zweckgebunden, einmal kulturellen, ein andermal zivilisatorischen Zwecken dienstbar. Aufgabe ist es, diese Lage nicht noch durch Kämpfe untereinander zu verwirren. Alle Tänzer müssen sich zusammengehörig fühlen. Sonst sind wir zu Machtlosigkeit verdammt und der Tanz als Kulturfaktor liegt in nicht zu erreichender Ferne.

DEUTSCHE DREHBUCHAUTOREN IN HOLLYWOOD (1933–1945) 1 Juliane Scholz Zur Zeit des Nationalsozialismus flohen zahlreiche Schriftsteller und Drehbuchautoren aus Deutschland in die USA. Manche von ihnen konnten in letzter Minute mit einem rettenden Visum einreisen. Die Erfahrungen der europäischen Exilautoren in den Vereinigten Staaten waren dann allerdings widersprüchlich. Wer in Hollywood, dem Zentrum der amerikanischen Filmindustrie landete, realisierte rasch, dass seine aus Europa mitgebrachten Vorstellungen von Beruf, geistiger Arbeit und individueller Autorschaft in der großbetrieblich organisierten Kulturindustrie der amerikanischen Westküste wenig galten. Selbst weit herumgekommenen und erfahrenen Drehbuchautoren wie Alfred Neumann (1895, Lautenburg, Westpreußen – 1952, Lugano) fiel es mitunter nicht leicht, sich auf die geschäftlichen, sozialen und kulturellen Gepflogenheiten der amerikanischen Studios einzustellen. Die Arbeit in der amerikanischen Filmindustrie war für etablierte europäische Literaten eine Grenzerfahrung, die sich mit ihrem bisherigen Arbeitsalltag und Selbstverständnis nicht deckte. Das zeigen die Briefe von Alfred Neumann aus dem Jahr 1941, in denen er dem an der Ostküste lebenden deutschen Freund Hermann Kesten über seine Erfahrungen im kalifornischen Exil berichtete. 2 Alfred Neumann hatte Kunstgeschichte studiert und danach in München als Dramaturg und in Berlin als freier Schriftsteller gearbeitet. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten konnte er wegen seiner jüdischen Herkunft und seiner politischen und künstlerischen Auffassungen seine literarischen Werke und Drehbücher in Deutschland nicht mehr veröffentlichen bzw. realisieren. Aufgrund der rassisch und politisch motivierten Nichtaufnahme in die obligatorischen Berufsverbände für Schriftsteller und Filmschaffende (der Reichsschrifttumskammer bzw. Reichsfilmkammer), waren seine beruflichen und publizistischen Möglichkeiten in Deutschland seit 1933 erheblich eingeschränkt. Er emigrierte deshalb nach Italien, wo er unter anderem mit Thomas Mann zusammenarbeitete. Als aufgrund des Hitler-Mussolini-Paktes ab 1938 die Spielräume für deutsche Emigranten auch in Italien enger wurden und das faschistische Italien sich aktiv an der Verfolgung der Juden beteiligte, emigrierte Neumann über Zwischenstationen in

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Essay zur Quelle: Alfred Neumann als Drehbuchautor in Hollywood. Briefe an Hermann Kesten (1941). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte (2012), URL: http://www.europa.clio-online.de/2012/Article=539. Auszüge aus den Briefen von Alfred Neumann an Hermann Kesten vom 13. August 1941 und vom 25. Dezember 1941, in: Kesten, Hermann, Deutsche Literatur im Exil. Briefe europäischer Autoren 1933–1949, Frankfurt am Main 21973, S. 151–153.

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Südfrankreich im Jahr 1941 mit einem der begehrten emergency visa nach Hollywood, wo er in der Nachbarschaft Thomas Manns wohnte. Neumann verkaufte die Veröffentlichungs- und Aufführungsrechte an seinen Werken in andere Länder; die Verfilmungsrechte für seine Romane, Dramen und Erzählungen wurden von Filmgesellschaften in Frankreich und den USA erworben. Er war schon vor seiner Ankunft in die USA ein international erfolgreicher Schriftsteller und Drehbuchautor. Insofern waren die Voraussetzungen für eine erfolgreiche dauerhafte Tätigkeit in Hollywood vergleichsweise günstig. Seine Briefe aus Hollywood zeigen, dass er sich dort als professioneller Drehbuchautor durchsetzen konnte. Er drückt darin aber auch seine Verwunderung über bestimmte Rollen-, Funktions- und Beziehungsmuster im Studiosystem Hollywoods aus. Seine Interpretation war dabei durch Einstellungen und Erfahrungen, die er in Deutschland und Europa erworben bzw. gemacht hatte, bestimmt. Zentral war die Erwartung, dass der Inhaber eines geistigen Berufs einen sehr weitgehenden Anspruch auf Individualität und subjektive Kreativität in der Gestaltung und Bearbeitung seiner Werke hat. Gerade weil damals in den Diktaturen Europas der Anspruch auf individuelle und professionelle Autonomie brutal verletzt wurde und die Flüchtlinge ihr Festhalten daran mit Repression, Vertreibung und Flucht bezahlen mussten, waren manche Emigranten in Fragen der beruflichen und künstlerischen Autonomie des Individuums besonders empfindlich. Neumann konnte davon ausgehen, dass der Adressat seiner Briefe, sein Freund Hermann Kesten, der in Deutschland Lektor beim Kiepenheuer-Verlag gewesen war und sich im amerikanischen Exil für die Beschaffung sogenannter affidavits (Bürgschaften) für verfolgte europäische Künstler engagierte, seine Prinzipien verstand – und teilte. Im Folgenden sollen die Erfahrungen und Erwartungen emigrierter Kulturund Filmschaffender anhand der Geschichte erfolgreicher und frustrierter deutscher Drehbuchautoren in den USA dargestellt werden. Als erstes muss dabei erwähnt werden, dass in Deutschland und anderen europäischen Länder der Drehbuchautor vielfach ein kreativer ‚Heimarbeiter‘ war, der seine Zeit und Arbeit im Wesentlichen selbst einteilte, sein Werk allein schuf und nur bei gelegentlichen Drehbuchsitzungen mit dem Produzenten und ChefDramaturgen enger kooperierte. Oft war zudem die Funktion des Drehbuchschreibens noch nicht verselbständigt; das heißt sie wurde zusammen mit anderen Funktionen wie der Regie, der Kameraführung oder der Produktionsleitung ausgeübt. Das vergleichsweise informelle und personalisierte europäische Produktionssystem kontrastierte mit dem stärker ausdifferenzierten, formalisierten und streng hierarchischen System der US-Studios, wo die Drehbuchautoren in einem eigenen story department untergebracht waren und unter ständiger Aufsicht diverser Vorgesetzter und einflussreicher boss-producer standen. Bürotür an Bürotür klackerten Schreibmaschinen über die langen Flure. Die kreativen Köpfe arbeiteten, meist ohne es zu wissen, am selben Film oder Dialogfetzen wie der Kollege zwei Räume entfernt. Autoren aus Europa waren über die fabrikähnliche, arbeitsteilige Struktur, den rationalisierten Produktionsprozess und die Erfahrung von Teamarbeit und kollektiver Autorschaft verblüfft und irritiert. Ihnen erging es ähnlich wie einige Jahre zuvor – in der Weltwirtschaftskrise – denjenigen amerikanischen

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Schriftstellern und Dramatikern, die New York und die wenigen anderen Kulturund Medienzentren an der amerikanischen Ostküste verlassen hatten, um ihre Karriere in Hollywood fortzusetzen. Die Drehbuchautoren in den großen Studios waren angehalten, ihre Arbeitszeit von neun bis fünf Uhr in einem Büro auf dem Studiogelände abzusitzen und pro Woche zehn bis fünfzehn Seiten Drehbuchmaterial abzuliefern. Einzig der Output zählte. Ob das Drehbuchmaterial verfilmt wurde oder nicht, spielte keine Rolle, denn die großen Studios sammelten und horteten Ideen, Skizzen und Optionen für Theaterstücke und Novellen, um diese zu gegebener Zeit zu verwerten. In Hollywood verblassten traditionelle berufliche Ansprüche – etwa auf individuelle schöpferische Tätigkeit, freie Wahl der Ausdrucksmittel, künstlerische Autonomie und Kontrolle des Gesamtwerks. Nur wenige Drehbuchautoren konnten dem Produzenten selbst Vorschläge unterbreiten. Die meisten erstellten im Angestelltenverhältnis, an der Seite mehrere Kollegen und unter erheblichem Zeitdruck, drehfertige Bücher. Die rationalisierte Studioproduktion brauchte realisierbare Drehbücher, die von Spezialisten wie Gagautoren, Dialogautoren oder auch script doctors, die Filme von überflüssigen Charakteren und Handlungssträngen befreiten, bearbeitet wurden. Wer einen unbefristeten Vertrag mit einem Studio erhielt, schrieb exklusiv für seine Firma und die hauseigenen Stars. Neben der funktionalen Spezialisierung des Drehbuchautors gab es die Spezialisierung für bestimmte Genres und einzelne Darsteller. In dieser Tretmühle war es nicht ausschlaggebend, ob der Autor in seinem Heimatland ein angesehener Literat gewesen war. Nur einige wenige Drehbuchautoren wurden wie berühmte Schauspieler hofiert. Die Entlohnung der angestellten Autoren erfolgte in der Regel wöchentlich. Grundsätzlich verdienten Drehbuchautoren in Hollywood recht gut. Bessere Konditionen erhielten jedoch nur etablierte und erfolgreiche Filmautoren. In diesem Produktionssystem fand sich 1941 Alfred Neumann nach seiner Ankunft in Kalifornien wieder, der den im Angestellten- oder Auftragsverhältnis tätigen Hollywood-Drehbuchschreiber als „Scheinfigur der Schweinwelt“ bezeichnete. Der writer sitze die vorgeschriebene Arbeitszeit für 100 Dollar Wochenlohn ab und schreibe Texte, von denen die meisten weder gelesen noch verfilmt würden. Alfred Neumann reflektierte so über die Risiken und Enttäuschungen beim Wechsel vom einem Arbeits- und Berufssystem zum anderen bzw. von „Europa“ nach „Hollywood/Amerika“. Er verlor, selbst bei der Beschreibung seiner eigenen Erfolge, nicht aus den Augen, dass das Hollywood-System wenige Stars und viele geistige „Brotarbeiter“ 3 brauchte. Viele dieser Flüchtlinge aus Europa mussten deshalb im Gastland auch ihre beruflichen Ansprüche relativieren. Die damals auch in Deutschland und Europa öfter beschworene „Proletarisierung der geistigen Arbeit“ schien sich in den Hollywood-Studios zugespitzt zu haben. In Neumanns Bericht über die büroartige Arbeitsweise des wirtschaftlich unselbständigen angestellten Drehbuchschreibers begegnet uns die Kritik an der Herrschaft und Entfremdung im Großbetrieb und an der Kommerzialisierung der 3

„Brotarbeit“ nannte Brecht seine Arbeit am Film „Hangmen Also Die“. Vgl. Brecht, Bertold, Arbeitsjournal. 1938–1955, Berlin 1977, S. 289.

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modernen kapitalistischen Kultur in Verbindung mit einer gewissen Skepsis gegenüber Amerika. Der Verfasser reflektiert dann aber auch grundsätzlicher über Formen der Regulierung geistiger und künstlerischer Arbeit, die Organisation von Medien- und Kulturunternehmen und die Verberuflichung und Entberuflichung informations- und symbolverarbeitender Tätigkeiten. Zur Debatte stand die Frage, wieweit sich individualistische Begriffe von Professionalität, Kreativität und Autorschaft und der Anspruch auf Autonomie unter den Bedingungen der hochgradig konzentrierten und großbetrieblich organisierten Massenkulturindustrie aufrecht erhalten ließen. Quer dazu verliefen die Spannungen zwischen dem Eigenen und Anderen – in diesem Falle amerikanischen und europäischen Eigenarten der Filmindustrie. Diese wurden vielfach als Entwicklungsunterschiede begriffen, womit dann auch unterschiedliche Auffassungen von Beruf und Kultur begründet wurden. Die Bewertung der Arbeit und Stellung des Hollywood-Drehbuchautors durch Emigranten wie Neuman erfolgte im Rahmen eines sehr viel weiter reichenden deutsch-amerikanischen und europäisch-amerikanischen Kultur- und Gesellschaftsvergleichs; und vor dem Hintergrund eines längerfristigen wechselseitigen transatlantischen Kulturtransfers. Seit den 1920er-Jahren waren fast fünfhundert Filmschaffende aus Deutschland in die neue Welt gekommen. In den 1930erJahren war der Beruf des Drehbuchautors oft der einzig mögliche und lohnende Beruf für Filmexilanten, da die Studios bereits über einen festen Stab von Technikern, Kameramännern, Regisseuren sowie Schauspielern verfügten. Die Konkurrenz unter den seit 1938 vermehrt eingewanderten Drehbuchautoren war erheblich. Fünfzig, das heißt etwa zehn Prozent der deutschen Filmemigranten hatte diese Tätigkeit schon im Herkunftsland hauptberuflich ausgeübt; sie hatten dabei entweder ganze drehfertige Bücher oder Ideen und Exposés für Filmstudios geliefert. Die überwiegende Mehrheit schaffte es auch in den USA, dass ihre Stoffe oder Bücher letztendlich auf der Leinwand realisiert wurden. 4 Erfolgreiche Drehbuchautoren wie Neumann entwarfen mit den Autorenteams und einem englischsprachigen Dialogautor an der Seite Handlungsideen und Originaldrehbücher. Meist spezialisierten sie sich auf ein Genre. Sie waren bereit und fähig, sich an neue Arbeitsbedingungen und Anforderungen anzupassen und die Produktionspraxis Hollywoods und deren Genrekonventionen zu übernehmen und weiterzuentwickeln. Manche nahmen die US-Staatsbürgerschaft an. Auch wenn ihr Einkommen und Ansehen nicht mit dem großen, bereits etablierten Autorenstars wie Vickie Baum, Billy Wilder oder Felix Jackson (früher: Joachimson) vergleichbar war, die sich schon in den 1920er-Jahren einen Namen gemacht hatten, war Hollywood für die Mehrheit der deutsch-amerikanischen Drehbuchautoren weder die in Literatenkreisen immer wieder zitierte „Hölle“ noch ein „Unglück“. Drehbuchautoren wie Jan Lustig oder Alfred Neumann verdienten gut und bekamen relativ schnell unbefristete Festanstellungen. Alfred Neumann erhielt nach seiner Ankunft in Los Angeles erst einmal einen sogenann4

Vgl. Horak, Jan-Christopher, Fluchtpunkt Hollywood. Eine Dokumentation zur Filmemigration nach 1933, Münster 21986, S. 46–154.

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ten Charity-Vertrag, der ihm 100 Dollar Wochenlohn und die befristete Anstellung bei einem Filmstudio sicherte. Nach einem Jahr wurde er von Warner fest engagiert. Die Erfahrung vieler glückloser ausländischer Autoren, die ohne Arbeitsvertrag da standen und nach sechs Monaten nach Mexiko ausreisen mussten, um von dort erneut in die Vereinigten Staaten einzureisen, blieb ihm erspart. Seine Gage entsprach derjenigen erfahrener US-Filmautoren. 1945 wurde er für seine literarische Vorlage zum Film None Shall Escape (1944) für den Oscar nominiert. Neumann gehörte zu den Erfolgreichen und Integrierten. Seine Skepsis gegenüber der „Kommerzhölle Hollywood“ unterschied sich allerdings nur graduell von derjenigen zahlreicher eingewanderter Schriftsteller und Theaterautoren, die im amerikanischen Exil nicht mehr an ihre Erfolge im Heimatland anknüpfen konnten und zur großen Gruppe der beruflich erfolglosen und sozial und kulturell nicht integrierten europäischen Emigranten gehörten. Manche Schriftsteller und Dramatiker, die sich als Drehbuchautor in Hollywood versuchten, kamen damit nicht zurecht. Alfred Döblin bezeichnete seine Erfahrungen im Büro einer Filmgesellschaft als Sitzhaft; es gäbe nur zwei Arten von Autoren, nämlich solche, die im Fett und solche, die im Dreck sitzen. 5 Nach seiner Zeit bei Metro-GoldwynMayer (MGM) bekam er für kurze Zeit Arbeitslosenunterstützung, danach war er wie viele andere auf die Unterstützung durch Angehörige der Exil-Community angewiesen. So wurden Franz Werfel und Döblin zeitweilig durch ein Komitee von Liesl Frank (der Ehefrau des Schriftstellers Bruno Frank, die später Jan Lustig heiratete) finanziell unterstützt. Manche von ihnen hielten sich vorübergehend nur dank der Hilfe von Gönnern und Freunden oder des Verkaufs von Optionsrechten an ihren Romanen über Wasser. Zur Gruppe der Autoren, die Drehbuchaufträge als „Brotarbeit“ übernahmen, gehörten neben Alfred Döblin unter anderen auch Bertolt Brecht und Lion Feuchtwanger. Als teils haupt-, teils nebenberuflich tätige Drehbuchautoren litten diese darunter, dass sie ihre selbstbestimmte literarische Tätigkeit einschränken mussten oder erst nach Arbeitsschluss ausüben konnte. Sie kamen mit der Arbeitsorganisation bzw. den damit verbundenen Anforderungen und Zumutungen in Hollywood schlecht zurecht. Ihre Arbeit als Drehbuchautor sahen sie deshalb als Mittel zum Zweck und lästiges Übel; als etwas, das sie von ihren eigentlichen literarischen Aufgaben, ihrer künstlerische Kreativität und Berufung abhielt. Für sie war die Zeit in Hollywood eine Durststrecke ohne hervorstechende künstlerische Schöpfungen und wirtschaftlichen Erfolg, eine Erfahrung des Verlusts an Status und Prestige. Ein Großteil von ihnen kehrte nach dem Krieg schnell nach Europa zurück. Für den Misserfolg von Drehbuchautoren in Hollywood waren keineswegs in jedem Fall bloß mangelhafte Englischkenntnisse verantwortlich. Einige Studios waren an guten Originalfilmideen und Stories so sehr interessiert, dass sie den deutschsprachigen Filmautoren erfahrene englischsprachige Dialogautoren zur Seite stellten. Eine größere Hürde stellte für das Gros der deutschsprachigen 5

Vgl. Brief von Alfred Döblin an Hermann Kesten vom 12. März 1943, in: Kesten, Deutsche Literatur im Exil, S. 179f.

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Drehbuchautoren ihre fehlende Erfahrung mit der in Hollywood praktizieren Teamarbeit dar. Aufgrund ihrer Sozialisation in den gebildeten Mittelschichten oder im Bildungsbürgertum waren sie an vergleichsweise feste professionelle Hierarchien und berechenbare, quasi-ständische sozio-kulturelle Standards gewöhnt. Als Angehörige der europäischen Bildungs- und Kultureliten hatten sie einen sozialen Habitus, der sich mit den informellen und egalitären Umgangsformen an der Westküste mitunter ebenso wenig vertrug wie mit den klaren geschäftlichen Hierarchien und funktionalen Kooperationsbeziehungen der großbetrieblich organisierten Kultur- und Medienproduktion Hollywoods. Die Gruppe deutschsprachiger Filmkünstler war andererseits aber auch so groß, dass sich ein gewisses Eigenleben mit besonderen Treffpunkten und Geselligkeiten, Solidaritätsbeziehungen und Rivalitäten entwickelte. Aufgrund des sich verschärfenden Konkurrenzdrucks versuchten manche Autoren, sich auf bestimmte Spezialitäten zu konzentrieren. Die einen verkauften Optionen auf Romanideen und Kurzgeschichten an Filmstudios, andere verfassten fertige Drehbücher. Nach dem Kriegseintritt der USA und der Mobilisierung der amerikanischen Filmindustrie für nationale Propagandazwecke entwickelte sich im Dunstkreis deutscher Filmexilanten schließlich ein sehr vielversprechendes neues Genre, nämlich der Anti-Nazifilm. 6 Dieser übernahm und variierte Motive, Konventionen und Ausdrucksformen anderer erfolgreicher Genres. In ihm ging es nicht unbedingt um die historische Detailgenauigkeit eines Kostümfilms. Im Mittelpunkt stand vielmehr eine Liebesbeziehung oder ein aktionsreicher und spannungsgeladene Handlungsstrang. Die Autoren, Regisseure und Schauspieler waren oftmals deutschsprachige Verfolgte des Nazi-Regimes. Die Geschichte des Anti-Nazifilms zeigt, dass die Emigranten durchaus eigene künstlerische Vorstellungen und Ideen in US-Filmen einträglich platzieren und europäische Erfahrungswelten nach Hollywood transferieren konnten. Der Einstieg der geflüchteten deutschen bzw. deutschsprachigen Drehbuchautoren in die amerikanische Filmwirtschaft wurde grundsätzlich dadurch erleichtert, dass sich die Technik sowie die Methoden und Ausdrucksformen des Films jeweils rasch international verbreiteten und universell anglichen, also oft nur graduell unterschieden. Nicht erst seit den späten 1930er-Jahren trugen Emigranten dazu bei, dass der Film zu einem nationale Grenzen überschreitenden Kultur- und Unterhaltungsgut und zu einer weltweit handelbaren Ware wurde. Hollywood produzierte für den Weltmarkt. Deutschland war nach dem Ersten Weltkrieg einer der großen Märkte für amerikanische Filme geworden. Damals wurden die wirtschaftlichen und künstlerischen Verflechtungen zwischen den beiden Filmländern intensiviert; das größte deutsche Filmstudio, die UFA, produzierte in Zusammenarbeit mit den amerikanischen Famous Players in den 1920er-Jahren eine Reihe von Lubitsch-Filmen nach dem amerikanischen Studioprinzip. Bis zum Beginn

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Herausragende Beispiele des Genres sind „Confessions of a Nazi Spy“ aus dem Jahr 1939 und „Hangmen Also Die“ aus dem Jahr 1943. Brecht hatte mit Regisseur Fritz Lang für letzteren Film die Originalstory und große Teile des Drehbuchs entworfen.

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des Tonfilms hatten sich bereits einige deutschsprachige Filmkünstler in den USA etabliert. Manche der Exilautoren der Zeit zwischen 1933 und 1945 verfügten über kulturelle Kompetenzen, professionelle Fähigkeiten und Erfahrungen im Filmgeschäft, die sich auf ihre Aufstiegschancen in Hollywood günstig auswirkten. Nicht jeder empfand den Druck, wöchentlich etwas abliefern zu müssen und in Teams zu arbeiten, als Hindernis für die Kreativität. Einige Filmautoren zogen die in Hollywood praktizierte Arbeitsteilung und Kooperation vor und akzeptieren die starke Macht des Produzenten, der eine effiziente, kalkulierbare sowie schnelle Fertigung des Endprodukts auf hohem qualitativem Niveau zu gewährleisten beanspruchte. Die Rücksprache mit Produzenten und die Zusammenarbeit in Autorenteams strafften in Hollywood den Arbeitsablauf und verkürzten die Kommunikationswege. Tatsächlich stand die großbetriebliche Organisation aber in einem klaren Spannungsverhältnis zur berufsförmigen Regulierung und zum Kult des individuellen Schöpfers und Autors. Deshalb fanden Immigranten wie Neumann in Hollywood das Fehlen ausgeprägter individueller Gestaltungs- und beruflicher Statusansprüche, wie sie das aus Deutschland kannten, so bemerkenswert. Dagegen fällt auf, dass Alfred Neumann in seinen Schilderungen über die Arbeitswelt der amerikanischen Drehbuchautoren nicht auf die Ansätze zur Herausbildung eines professionellen und gewerkschaftlichen Bewusstseins unter den angestellten oder in einem Werkauftragsverhältnis beschäftigten Autoren einging. Tatsächlich intensivierten die amerikanischen Drehbuchautoren damals ihre Anstrengungen, sich aufgrund der ausgeübten Tätigkeit und der erbrachten Leistungen und Werke als Profession darzustellen und ihre Funktionen und Rechte als Arbeitnehmer und Urheber in der hochgradig konzentrierten Medien- und Kulturindustrie zu stärken. Seit den 1930er-Jahren strebte die Screen Writers Guild 7 die Verbesserung der Stellung der Drehbuchautoren an. Anfang der 1940er-Jahre konnte sie einen kollektiven Vergütungsvertrag (Minimum Basic Agreement) mit den Studios aushandeln und den Berufszweig zu einem closed shop erklären, in dem die Mitgliedschaft im gewerkschaftsartigen Berufsverband obligatorisch war. Die vertraglichen und arbeitsrechtlichen Aspekte wurden seit 1942 detailliert vom Berufsverband Screen Writers’ Guild geregelt. Dadurch war die Stellung der amerikanischen Drehbuchautoren in einigen Hinsichten sehr viel stärker als diejenige ihrer Kollegen im damaligen Europa. Bis heute verfügen die Drehbuchautoren in kaum einem europäischen Land über die gleiche organisatorische Geschlossenheit, ein ähnliches berufliches Sonderbewusstsein und eine so starke Machtposition in der Aushandlung von Arbeits-, Anstellungs-, Vergütungs- und Copyrightbedingungen wie in den USA. In der großbetrieblich organisierten amerikanischen Kulturindustrie wurden Werte wie individuelle Kreativität und berufliche Autonomie den Zielen des Unternehmens untergeordnet, gleichzeitig bildeten sich aber auch neue Formen von Professionalität, Kreativität und Autorschaft heraus. 7

In Deutschland hatte sich 1919 der Verband Deutscher Filmautoren gegründet, der nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten allerdings in den Zwangsorganisationen der Reichsfilmkammer aufging.

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Im Vergleich zur Hölle des Krieges und des nationalsozialistischen Terrors in Europa, und zur Situation derjenigen europäischen Filmschaffenden, die an ihren professionellen Idealen festhielten und sich nicht zu willfährigen Dienern rassistischer und totalitärer Regimes machten, war die Rolle und Stellung des angestellten Drehbuchautors (screen writer) in Hollywood durchaus erträglich. Die in der Exilforschung oftmals vorgetragene These der Hollywood-Hölle 8 wirkt vor diesem Hintergrund zumindest im Falle der professionellen Drehbuchautoren und der hier behandelten Zeit nicht besonders überzeugend. Literaturhinweise Asper, Helmut G., Hollywood-Hölle oder Paradies? Legende und Realität der Lebensund Arbeitsbedingungen der Exilautoren in der amerikanischen Filmindustrie, in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 10 (1992), S. 187–199. Brecht, Bertolt, Arbeitsjournal. 1938–1955, Berlin 1977. Gumprecht, Holger, „New Weimar“ unter Palmen. Deutsche Schriftsteller im Exil in Los Angeles, Berlin 1998. Horak, Jan-Christopher, Fluchtpunkt Hollywood. Eine Dokumentation zur Filmemigration nach 1933, Münster 21986. Kesten, Hermann, Deutsche Literatur im Exil. Briefe europäischer Autoren 1933–1949, Frankfurt am Main 21973. Schwartz, Nancy Linn, The Hollywood Writer’s Wars, New York 1982.

Quelle Alfred Neumann als Drehbuchautor in Hollywood. Briefe an Hermann Kesten (1941) 9 1. Von Alfred Neumann Hollywood, California 13. Aug. 1941 Lieber Hermann Kesten, […] Ich bin schon lange genug hier, um aus dem Freiheits-Frühlingsrausch heraus und in eine kühlere Betrachtung der Dinge hineingeraten zu sein. Das Resultat ist ziemlich sonderbar, zumal es ja eine Scheinwelt ist, auf die man den kühlen Blick richtet. Und die Sache wird ziemlich kompliziert, wenn man bemerkt, daß man – ganz wie von ungefähr – zu so etwas 8 9

Vgl. Asper, Helmut G., Hollywood – Hölle oder Paradies? Legende und Realität der Lebensund Arbeitsbedingungen der Exilautoren in der amerikanischen Filmindustrie, in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch Bd. 10 (1992) , S. 187–199. Auszüge aus den Briefen von Alfred Neumann an Hermann Kesten vom 13. August 1941 und vom 25. Dezember 1941, in: Kesten, Hermann, Deutsche Literatur im Exil. Briefe europäischer Autoren 1933–1949, Frankfurt am Main 21973, S. 151–153. Die Quelle ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte (2012), URL: http://www.europa.clioonline. de/2012/Article=540.

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wie einer Potenz dieser Scheinwelt geworden ist, nämlich eine Scheinfigur der Scheinwelt. Die charity10 die einen hergebracht hat, und die $ 100.- Wochenlohn, die sie vergibt, haben sich zu einem vitiosen Kreis verschweißt, dergestalt, daß sich die unsichtbaren Götter der charity in der Office nur den 100-$-Mann sehen, der eben deshalb zu nichts nütze sein kann, weil er nur $ 100.- in der Woche kriegt. Und da hierzulande – hierzufilmlande – eine geradezu organische Leseangst grassiert – so als ob die Lese-Organe, oder wenn man boshafter noch sein will, die Lese-Kenntnis fehlten, tut man sich bei 100-$-Charity nun gar keinen Zwang an. Also: man ist zwar – aus ursprünglich mildtätigem Grunde – als writer angestellt und wird dafür gezahlt, aber das, was man beruflich und vertraglich schreibt, wird nicht gelesen. Man hört und sieht nichts mehr von dem, was man abgeliefert hat – man hört und sieht überhaupt niemanden. Man sitzt seine Zeit ab, Tag für Tag, und arbeitet natürlich für sich; aber da ich wohl gerne hinter dem Schreibtisch sitze, hinter dem eigenen, und durch die Bürozeit und ihre stille Sinnlosigkeit irritiert bleibe, ist noch nicht allzuviel für die eigene Arbeit herausgekommen. Bei alledem bleibt natürlich der Blick kühl genug, um festzustellen, daß eine leerlaufende charity immer noch besser ist als gar keine. […] Seien Sie und Ihre Frau herzlichst gegrüßt von der meinen und Ihrem alten Alfred Neumann 2. Von Alfred Neumann Hollywood, 25. Dez. 1941 Lieber Hermann Kesten, […] Von uns ist zu melden, vor allem, daß es meiner Frau wieder ausgezeichnet geht. Ferner, daß ich im November höchst überraschend ein big assignment von Warner’s bekam, das heißt einen regelrechten Auftrag für einen Bette-Davis-Film, sogar in Zusammenarbeit mit einem der Boss-Producers. Das bedeutet natürlich durchaus nicht, daß ich nicht mit den Märziden11 auf die Straße fliege wie alle anderen, und es würde den Hinauswurf nur mit besonderer Bitternis verbrämen, dieweil ich meine schönen Tage von ½ 9 bis 4 Uhr im Studio zu verbringen habe, ob ich nun für besagten Boss nicht mehr Mr. Neumann, sondern »dear Alfred bin«. Und die merde12 , die ich innerhalb dieser schönen Tagesstunden zu fabrizieren habe, bedrückt natürlich die anständige Werkhälfte des Tages zum mindesten zeitlich und nervlich.-viel wichtiger ist es aber, daß ich mit Macmillan einen Generalvertrag geschlossen habe, der dort weitermacht, wo mir der Knopf abgerissen ist – also zunächst jene Friends of the People13 bringend, die bisher nur in England erschienen sind und deren schlechte Übersetzung ich gerade revidiere. So braucht mich mein Märzstündlein nicht mehr gar so bange machen.

10 Bezieht sich auf die Wohltätigkeit der US-Filmstudios, den Emigranten als letzte Rettung Ein-Jahres-Verträge anzubieten, um deren Einreise in die USA zu ermöglichen. 11 Mitte März. 12 Frz.: Mist. 13 Altertümlich für Volksfreund. Die Bezeichnung bezieht sich auf die Veröffentlichungspolitik des britischen Verlages Macmillan, dessen Dependance in den USA zuerst etablierte und erfolgreiche Autoren veröffentlichte.

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Also dann hinein ins Neue Jahr, das vielleicht zum Neuweltjahr wird! Ihnen und Ihrer Frau die alte Freundschaft der meinen und Ihr Alfred Neumann

DER BERUF DES KOMPONISTEN UND DIE KÜNSTLERPOLITIK DER DDR 1 Dorothea Trebesius Der vorliegende Beitrag zeigt anhand der Entwicklung des Komponistenberufs in der DDR, wie ein sozialistischer Staat, der sich als Repräsentant und Träger der ‚fortschrittlichen‘ deutschen wie europäischen Kultur und Kunst begriff, den gesellschaftlichen und beruflichen Umgang mit „ernsthafter Musik“ regelte. Traditionelle Formen einer staatlichen Kunst- und Kulturpolitik, die sich auf die Herstellung, Vermittlung und den Nutzung von Werken, Ausdrucksformen und Wissen konzentriert, wurden dabei umdefiniert – und ergänzt durch eine Künstlerpolitik, die sich auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen, die Qualifikation, das Berufsethos, ästhetische Standards, moralische Einstellungen und das gesellschaftliche Verhalten des „sozialistischen Künstlers“ richtete. Das soll im Folgenden exemplarisch an der Professionalisierung des Komponisten durch den Staat, die Partei und die Komponisten gezeigt werden. Abschließend wird anhand eines kurzen DDR-Frankreich-Vergleichs nach Ähnlichkeiten und Unterschieden in der europäischen Geschichte der Musikpolitik und der Professionalisierung des Komponisten gefragt. An der Konstruktion des „sozialistischen Komponisten“ seit dem Ende der 1940er-Jahre beteiligten sich unter der Führung des Zentralkomitees der SED und des Kulturministeriums auch viele Komponisten und Musikwissenschaftler der DDR. Die Umgestaltung des Komponistenberufs erfolgte zwar im Rahmen der staatssozialistischen Kultur-, Künstler- und Sozialpolitik, knüpfte aber auch an Forderungen und Strategien der Künstler an. Der Komponist Ottmar Gerster (1897–1969) beschrieb und verlangte in den frühen 1950er-Jahren den Wandel des „Komponisten von Heute“ vom „gesellschaftlichen Außenseiter“ zum professionellen Künstler, der dank seiner sozialen Besserstellung in der DDR seine ganze Energie und Schaffenskraft in ein „für unser Volk und damit die Allgemeinheit wertvolles Werk“ einbringen sollte. Gerster war Professor für Komposition, Rektor einer Musikhochschule, Gründungsmitglied der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin und Vorsitzender des Komponistenverbandes der DDR, war also in vielfältiger Weise in die Kultur- und Künstlerpolitik der DDR involviert. Er 1

Essay zur Quelle: Ottmar Gerster: Die Aufgaben des Komponisten von Heute (um 1954). Die Quelle stammt aus der ersten Hälfte der 1950er-Jahre, aus einer Zeit, in der in der DDR intensiv über die „Gefahr“ der Amerikanisierung der so genannten Tanz- und Unterhaltungsmusik debattiert wurde. Der genaue Anlass der Quellenentstehung lässt sich aus den Archivunterlagen leider nicht mehr rekonstruieren. Der Quellentext kann jedoch als typisch für viele vergleichbare Stellungnahmen zur Rolle von Künstlern in den 1950er-Jahren angesehen werden. Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte (2011), URL: http://www.europa.clio-online.de/2011/Article=524.

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verknüpfte in seinen programmatischen Ausführungen über die gesellschaftlichen und kulturellen Aufgaben des Komponisten zwei grundlegende musikpolitische Anliegen, nämlich die Förderung und Erziehung des Komponisten sowie die Demokratisierung des Musiklebens und die Geschmacksbildung der Bevölkerung. Mit der Warnung vor den „verheerenden Wirkungen“ der amerikanischen Musik unterstrich er, dass das kompositorische Schaffen eng mit der gesellschaftlichen Entwicklung zu verbinden sei. Das von Gerster postulierte Berufsbild deckte sich mit demjenigen anderer Komponisten und Kulturpolitiker. Der Komponist sollte als angestellter Berufskünstler in einer staatlichen Kultureinrichtung tätig sein und seine Werke für konkrete gesellschaftliche Anlässe und Bedürfnisse sowie in enger Verbindung zu den Hörern erschaffen. Dafür brauche dieser ein hohes fachliches Wissen und ein ausgeprägtes Bewusstsein über seine Rolle und Beziehung zum Publikum und zur Gesellschaft. Das qualifiziere ihn zum Komponieren gesellschaftlich „nützlicher“ und künstlerisch „wertvoller“ Werke. Der Komponist sollte durch seine Werke an der Erziehung eines aktiven und gebildeten Hörers mitwirken. Dieser gäbe dem Komponisten im Gegenzug das Gefühl, von der Gesellschaft gebraucht zu werden. Das Berufsbild des „sozialistischen Komponisten“ sollte sich sowohl vom Bild des „westlichen“, „dekadenten“ und „kapitalistischen“ Komponisten als auch vom „spätbürgerlichen“ Komponisten der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts radikal unterscheiden. Kritisiert und abgelehnt wurden Konzepte von Künstlerschaft, die auf die uneingeschränkte Individualität des Schöpfers und die selbständige freiberufliche Stellung des Künstlers abhoben und unter Verweis auf die individuelle Autonomie des Künstlers kulturelle und soziale Sonderansprüche begründeten. Im Rahmen der „sozialistischen Musikkultur“ sollte die Beruflichkeit von Komponisten in der DDR unter ideologischen Vorzeichen neu gestaltet und den politischen Vorstellungen und Bedürfnissen angepasst werden. Dabei ging es nicht nur um berufliche und gesellschaftliche Einstellungen und Werte, sondern auch darum, die Position und den Status des Komponisten und schließlich den Begriff „künstlerische Leistung“ umzudefinieren. Die Künstlerpolitik war somit ein zentraler Bestandteil der Herrschafts-, Kultur- und Gesellschaftspolitik der DDR, ebenso wie in den anderen osteuropäischen sozialistischen Staaten. Sie diente den musik- und berufspolitischen Akteuren des Staates und der SED dazu, ihre Vorstellungen vom Komponisten umzusetzen. Die politischen Akteure mussten die Regeln des musikalischen Feldes allerdings auch immer wieder mit den Komponisten, Musikwissenschaftlern und künstlerischen Einrichtungen aushandeln und langfristig zunehmend an die besonderen Erfordernisse des Musiklebens anpassen. Das zeigt sich, erstens, anhand der Ausbildung der Komponisten an den Musikhochschulen, zweitens am staatlichen Auftragswesen und drittens anhand der Kompetenzen der Berufsverbände, insbesondere des Verbandes der Komponisten und Musikwissenschaftler der DDR.2 In der DDR waren die vier staatlichen Musikhochschulen in Berlin, Dresden, Leipzig und Weimar für die Bildung und Ausbildung der Komponisten zuständig. Der Zugang zum Komponistenberuf erfolgte in der Regel über ein Studium an einer dieser Musikhochschulen. Bis zum Ende der 1960er-Jahre wurde die Aus-

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bildung an den Musikhochschulen vereinheitlicht, akademisiert und professionalisiert. Der Komponistenberuf galt fortan als lehr- und lernbarer höherer Bildungsberuf, vergleichbar mit den wissenschaftlichen Berufen. Die Umgestaltung des Studiums erfolgte unter ideologischen Vorzeichen, knüpfte jedoch in mancher Hinsicht auch an Entwicklungen, die sich schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts abgezeichnet hatten, an. Seitdem hatte etwa die Bedeutung des Kompositionsstudiums zugenommen und erfolgte die Ausbildung der Komponisten zunehmend an höheren Musikschulen. Der „sozialistische Künstler“ für anspruchsvolle Musik, der an den Musikhochschulen der DDR ausgebildet wurde, erhielt eine theoretische und praktische Grundlagenausbildung, um dann als „Generalist“ (im Gegensatz zum „bürgerlichen Spezialisten“) in kulturellen, betrieblichen und musikalischen Einrichtungen eingesetzt zu werden. Die herrschende Auffassung lautete, dass der Komponist seine Musik für konkrete Anlässe schrieb und in einem engen musikalischen und sozialen Verhältnis mit dem Publikum stand. So heißt es beispielsweise im Quellentext von Ottmar Gerster an einer Stelle: „[…] neue Themen und Aufgaben [treten] an den Komponisten heran, er wird seine Themata heute nicht mehr im Turm aus Elfenbein, im Abschließen von der Umwelt suchen, sondern mitten im Leben seines Volkes, besonders des werktätigen Volkes, welches heute als Schöpfer unserer Lebenshaltung mehr denn je ein Recht darauf hat, die Probleme seiner Arbeit auch künstlerisch gestaltet zu erleben.“

Er sollte weder elitäre Kunstauffassungen pflegen, noch sich als Genie gerieren, vielmehr kooperationsfähig sein und sozial(istisch) bewusst agieren. Die wiederholten Klagen des Komponistenverbandes über ein von dieser Norm abweichendes Verhalten jüngerer Komponisten, die Auseinandersetzungen über die Funktion und Bedeutung des Auftragswesens und die sich in den Karriereverläufen mancher Komponisten manifestierende Tendenz, sich als Freiberufler zu verstehen, zeigen allerdings, dass diese Forderungen bisweilen nicht leicht durchgesetzt werden konnten. Vor allem zu Beginn der 1980er-Jahre häuften sich die Beschwerden darüber, dass sich junge Komponisten verstärkt der als ideologiefrei betrachteten Kammer- und Instrumentalmusik zuwenden würden. Indem sich Komponisten im Laufe ihrer Karriere zunehmend für eine freiberufliche Stellung entschieden, konnten sie sich zudem der musikpolitisch erwünschten engen Anbindung an staatliche, betriebliche und gewerkschaftliche Organisationen entziehen. Das Muster des freiberuflichen Komponisten überlebte und erstarkte früher oder später – nicht zuletzt aufgrund des Auftragswesens, das heißt einer Institution, die ursprünglich die Einbindung des Künstlers in den Staat und die Gesellschaft garantieren sollte, indem dieser materiell unterstützt wurde. Das Auftragswesen sollte für berechenbare gesellschaftliche, ökonomische und berufliche Ver2

Bis 1973 hieß der Verband „Verband Deutscher Komponisten und Musikwissenschaftler“ (VDK) und nannte sich danach in „Verband der Komponisten und Musikwissenschaftler der DDR“ (VKM) um.

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hältnisse sorgen, indem die künstlerische Produktion von kapitalistischen Marktzwängen befreit und das Komponieren zu einem sicheren und geachteten Beruf gemacht werden sollte. Der Komponist sollte seinen Lebensunterhalt durch die Einnahmen aus der Komposition von Werken bestreiten und eben nicht noch einem „Brotberuf“ nachgehen müssen, der ihm den Lebensunterhalt sicherte, aber wenig Zeit zum Komponieren ließ. Diese Funktionen wurde dem Auftragswesen seit den 1950er-Jahren zugeschrieben. Seit der Mitte der 1960er-Jahre galt es zudem als eine zentrale Institution, die die Beziehungen zwischen Komponisten, Hörern und Interpreten regelte und den Komponisten die Bedürfnisse und Anforderungen anderer Gruppen näher brachte. Das Auftragswesen sollte die künstlerische Leistungsfähigkeit und musikalische Qualität fördern. Allerdings monierten vor allem die Bezirksvorstände des Komponistenverbandes, die formell für die Vergabe der Aufträge zuständig waren, dass das Auftragswesen allzu oft den Charakter einer „Geldbeziehung“ trage. Es werde ausschließlich nach ökonomischen und zu wenig nach ästhetischen und beruflichen Kriterien praktiziert. Das deutet darauf hin, dass sich seit den 1970er-Jahren das Auftragswesen veralltäglichte und entpolitisierte. Die Aufträge wurden, entgegen der ursprünglichen Konzeption, immer weniger von „gesellschaftlichen Auftraggebern“, wie Arbeitsbrigaden und Betrieben, vergeben. Öfter ergriffen die Komponisten die Initiative, indem sie den potentiellen Auftraggebern eine neue oder schon vorhandene Komposition anboten und den Antrag nachträglich als Auftrag deklarierten, um dafür ein Honorar zu erhalten. Und immer öfter arbeiteten sie eng und regelmäßig mit einem bestimmten Interpreten zusammen oder spezialisierten sie sich auf eine besondere musikalische Gattung. Die Ausbildung an den Musikhochschulen und das Auftragswesen bestimmten die Beruflichkeit der Komponisten, indem sie ein bestimmtes Wissen vermittelten und den Komponisten in einen größeren kulturellen und gesellschaftlichen Zusammenhang stellten. Die Berufsbilder und Praktiken wurden aber auch zwischen den Staats- und Parteiorganen und dem Verband der Komponisten und Musikwissenschaftler der DDR ausgehandelt. Dieser hatte vielfältige Funktionen zu erfüllen. Er fungierte als Berufsorganisation der Komponisten, indem er den künstlerischen Nachwuchs qualifizierte, durch seine Aufnahmerichtlinien den Eintritt in die Profession kontrollierte und das herrschende Berufsbild konkretisierte. Durch die Qualifizierung und Kontrolle der Mitglieder, etwa bei der regelmäßigen Diskussion von Werken in seinen Sitzungen, besaß der Verband auch eine musikpolitische Funktion. Die Diskussion von Werken erfolgte bis in die 1970er-Jahre hinein oft primär unter ideologischen Kriterien, ermöglichte den Komponisten aber auch, über handwerkliche Fragen und praktische Umsetzungsprobleme zu sprechen. Den jüngeren Komponisten war der Verband auch beim Einstieg in das Berufsleben behilflich. Er förderte die Absolventen der Musikhochschulen ideell (durch die Diskussion von Werken und die Möglichkeit, Werke aufzuführen) und materiell (durch Stipendien und Förderverträge). Schließlich richtete sich der Verband gleichermaßen an die politischen Akteure wie an das musikalische Publikum, indem er das Interesse an zeitgenössischer Musik wecken wollte. Seine Leiter und Mitglieder betonten immer wieder, dass

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die musikalische Bildung und Ausbildung der Hörer eine unerlässliche Voraussetzung für deren Verständnis sei. Sie forderten die politischen Akteure auf, die musikalische Bildung und Ausbildung intensiv und breit zu fördern. Argumentativ beriefen sich die Komponisten auf die von der Politik postulierte Aufgabe der Musik, die Menschen zu „erziehen“ und zu „kultivieren“. Sie teilten diese Ansicht mit den politischen Akteuren, die zu diesem Zweck Musik als anerkanntes Schulfach etablierten und die Zahl der Musikschulen und Musikschüler bis in die 1980er-Jahre hinein ständig erhöhten. Die Professionalisierungsbestrebungen der Komponisten bezogen neben den Komponisten und den Musikpolitikern also auch das Publikum ein, so dass sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der DDR die Vorstellungen und Praktiken von Künstlerschaft maßgeblich wandelten. Waren die geschilderten Programme, Strategien und Prozesse ein Spezifikum der DDR oder, worauf einiges hinweist, eine kultur-, künstler- und berufspolitische Besonderheit des mittel- und osteuropäischen Staatsozialismus? Hier kann ich darauf nicht weiter eingehen. Der exemplarische Vergleich der DDR mit einem westeuropäischen Land 3 zeigt jedoch, dass auch in Frankreich Kulturpolitiker, Funktionäre und Komponisten seit den 1970er-Jahren eine neue Künstlerpolitik und ein neues Berufsbild des Komponisten und E-Musikers entwickelten, um die so genannte ernsthafte Musik stärker in der Gesellschaft zu verankern und die Beziehungen zwischen den Komponisten, den Interpreten und dem Publikum auf eine neue und solidere Grundlage zu stellen. In Frankreich erfolgte dieser Schritt etwas später als in der DDR, die Ähnlichkeiten nahmen langfristig aber zu. Auch in Frankreich wurden die Bedingungen und Zwecke professionellen Handelns umdefiniert und dem Komponisten im Rahmen einer demokratischen, liberalen und bürokratischen Musik- und Künstlerpolitik eine neue soziale Rolle und eine neue Aufgabe zugewiesen. Im Unterschied zur DDR blieben in Frankreich die Kriterien für musikalische Professionalität jedoch vielfältiger und richtete sich die Aufforderung, das musikalische Schaffen stärker auf die gesellschaftlichen Bedürfnisse, die Nachfrage und die Geschmacksbildung des Publikums einzustellen, stärker an den einzelnen Komponisten als an die ganze Berufsgruppe. Trotz mancher – alter und neuer – Unterschiede, nahmen die Ähnlichkeiten zwischen Frankreich und der DDR auf diesem Gebiet zu. Diese Konvergenz beruhte auf der Tatsache, dass in den beiden Ländern – und vielen anderen sich als Kultur- und Sozialstaat betrachtenden Gesellschaften – die E-Musik zu einem kulturellen Gut und Medium umdefiniert wurde, das einem größeren Publikum zugänglich sein und neue soziale und kulturelle Funktionen in der Gesellschaft erfüllen sollte. Da der Markt die Vermittlungsfunktion im Falle anspruchsvoller Musik in Frankreich nur sehr beschränkt erfüllte und in der DDR nicht übernehmen durfte, intervenierte der Staat, indem er mehr oder weniger große Bereiche des musikalischen Feldes regelte, organisierte und finanzierte. Eine alte europäische Tradition der nationalen Kunst- und Kulturförderung wurde so in neue Formen gegossen. 3

Trebesius, Dorothea, Komponieren als Beruf. Frankreich und die DDR im Vergleich (1950– 1980), Göttingen 2012.

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Dorothea Trebesius

Literaturhinweise Höpel, Thomas, Die Kunst dem Volke. Städtische Kulturpolitik in Leipzig und Lyon 1945–1989, Leipzig 2011. Menger, Pierre-Michel, Le Paradoxe du musicien. Le compositeur, le mélomane et l’État dans la société contemporaine, Paris 2001. Trebesius, Dorothea, Komponieren als Beruf. Frankreich und die DDR im Vergleich (1950–1980), Göttingen 2012. Zur Weihen, Daniel, Komponieren in der DDR. Institutionen, Organisationen und die erste Komponistengeneration bis 1961, Köln 1999.

Quelle Ottmar Gerster: Die Aufgaben des Komponisten von Heute (um 1954) 4 In früheren Jahren war der Kampf ums Dasein für den Komponisten ein fast so aussichtsloser, daß nur ganz wenige Auserwählte, und auch nur die meist durch einen glücklichen Zufall dazu kamen, ohne dauernde Existenzsorgen schöpferisch tätig zu sein. Wer nicht von Haus aus begütert war, so daß er im Beruf nicht aufs Verdienen sehen musste, der konnte eben nur nebenberuflich komponieren, d.h. in der Freizeit, die ihm sein Beruf übrig ließ. Was zur Folge hatte, daß er in seinem Broterwerb den größeren Teil seiner Lebensenergie vergeudete und für sein künstlerisches Schaffen nur den kleineren Teil dieser Energie aufwenden konnte. Oder, er musste seine Werke unter Hunger und Entbehrung als tägliche Begleiter schaffen, das hat, wir wissen es nur zu gut, so manche Genies allzufrüh ins Grab gebracht. Heute nun befinden wir auf dem Gebiet kompositorischen Schaffens im Prozess einer vollständigen Wandlung, die noch durch den Aufbau des Sozialismus in unserer D.D.R. erheblich beschleunigt wird. Der Stand des Komponisten wandelt sich von dem eines gesellschaftlichen Außenseiters zu dem eines geachteten, wertvollen und begehrten Mitglieds unserer neuen Gesellschaftsordnung. Zum ersten hat der Komponist, der ein für unser Volk und damit für die Allgemeinheit wertvolles Werk geschaffen hat, Anspruch auf eine dem Wert dieses Werkes entsprechende Entlohnung, und zweitens haben sich die Themen und Vorwürfe für das kompositorische Schaffen heute so vermehrt, daß nicht nur wenige, sondern eine weit erheblichere Anzahl von Komponisten sich ihren Lebensunterhalt vom Komponieren bestreiten können, wenn, ja wenn sie sich der vielen und lohnenden Aufgaben, die ihrer in unserm sozialistischen Aufbau harren, bewusst werden. Freilich werden Spitzenleistungen auf dem Gebiet kompositorischen Schaffens, auf dem Gebiet der Oper, der Sinfonie, des großen Chorwerks immer eine seltene Kostbarkeit sein, da bedarf es der Hand des gereiften Meisters, kein Meister fällt vom Himmel, er reift im unermüdlichen Ringen um sein Ziel. Hier ist es unsere Aufgabe, einem solchen Meister Alles aus dem Weg zu räumen, was dem Entstehen seines Werkes in oft schwerem und langwierigem Schaffensprozess hinderlich sein könnte. Auch auf dem Gebiet der Sinfonie und Oper treten neue Themen und Aufgaben an den Komponisten heran, er wird seine Themata heute nicht mehr 4

Ottmar Gerster: Die Aufgaben des Komponisten von Heute, in: Akademie der Künste, Berlin, Ottmar-Gerster-Archiv, Nr. 385, ohne Datum (um 1954). Die Quelle ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte (2011), URL: http://www.europa.clio-online.de/ 2011/Article=525.

Der Beruf des Komponisten und die Künstlerpolitik der DDR

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im Turm aus Elfenbein, im Abschließen von der Umwelt suchen, sondern mitten im Leben seines Volkes, besonders des werktätigen Volkes, welches heute als Schöpfer unserer Lebenshaltung mehr denn je ein Recht darauf hat, die Probleme seiner Arbeit auch künstlerisch gestaltet zu erleben. Viele kompositorische Aufgaben gibt es auf Gebieten, die der Komponist gern ein wenig von oben herab betrachtet, und doch sind sie Probleme von größter Wichtigkeit. Wir haben z.B. heute noch keine neue Unterhaltungsmusik. Bis jetzt war und ist das Volk noch auf diesem Gebiet einer Riesenproduktion internationalen Kitsches ausgeliefert, dessen Produzenten Millionen an Tantiemen zufließen. Beinah noch schlimmer ist es auf dem Gebiet der Tanzmusik, wo der Amerikanismus ungehindert seine moralisch wie künstlerisch verheerenden Wirkungen auf unsere Jugend ausüben darf, auch hier mit gleichzeitiger Kassierung von Millionenbeträgen, die man genau so gut wirklichen Kulturwerten zuwenden könnte. […] Das sind vier Aufgabengebiete für unsere Komponisten mit scheinbar leicht zu lösenden Problemen. Bis heute sind diese Probleme noch ungelöst, trotzdem wir so dringend an ihrer Lösung interessiert sind. Folglich hat man hier die Probleme der so genannten leichteren Musik gewaltig unterschätzt. Nicht ein einzelner Komponist wird sie lösen, sondern alle daran Interessierten, Instrumentalisten, Tänzer, Textdichter, Bühnen, Komponisten, sie müssen alle zusammen helfen, dann werden sich Lösungen finden. Nicht Johann Strauss hat den Walzer erfunden, sondern seine Zeit, seine Epoche, die als Gesellschaftstanz den Walzer pflegte, schuf sich im Komponist Johann Strauss neben anderen Walzerkomponisten ihren Walzerkönig. Wir sehen, es sind der Aufgaben genug um dem Komponisten von heute zu Arbeit, Auskommen und auch zum Ruhm zu verhelfen. Dazu treten die musikalischen Kulturbedürfnisse der Organisationen, der Volksensembles, der Kulturgruppen, der Jugend, sie alle schreien nach einer neuen Musik. Der Komponist von heute braucht nicht mehr in der Dachkammer zu hungern, an Aufgaben jeglicher Art, aber auch am Lohn dafür ist ihm der Tisch gedeckt, er muss nur die Aufgaben da suchen, wo sie sind, nämlich im Volk. Daß wir ebenso gespannt Kompositionen großen Formats, wie Opern, Sinfonien, Oratorien harren, sagte ich schon oben. Möchten sich unsere Komponisten ihrer Bedeutung heute und ihrer Aufgaben bewusst sein, dann werden sie unter ganz anderen weit besseren Bedingungen ihren Beitrag zur Musik ihrer, unserer Zeit schaffen können, als das so vielen unserer großen Meister früher möglich war. Nichts wünschen wir mehr, als daß diese Werke von heute, denen unsrer großen Vorgänger nicht unwürdig sein möchten.

DAS BERUFSBILD DES KULTURWISSENSCHAFTLERS. DIE PROFESSIONALISIERUNG DER KULTURFUNKTIONÄRE IN DER DDR 1 Thomas Höpel Beim Projekt der SED, in der DDR eine sozialistische Gesellschaft zu schaffen, spielten Kultur und Bildung eine entscheidende Rolle. Sie sollten bei der Emanzipation der Arbeiter und Bauern helfen und zur Schaffung des „Neuen Menschen“ besonders im Zuge der „sozialistischen Kulturrevolution“ ab 1957 beitragen. Um dieses Projekt flächendeckend zu realisieren, setzte die SED auf hauptberufliche Kulturfunktionäre als zentrales Instrument. Seit Ende der 1950er-Jahre entstand ein breitgefächertes Qualifizierungs- und Ausbildungssystem für Kulturfunktionäre und Kulturarbeiter, das an der Spitze ein Hochschulstudium für Kulturwissenschaften vorsah. Professionelle Kulturfunktionäre sollten fortan die „sozialistische Kulturrevolution“ an der Basis durchsetzen. Sie waren einerseits abhängig von der staatlichen Partei- und Kulturbürokratie, kannten andererseits aber auch die Bedürfnisse und Nöte auf lokaler und regionaler Ebene und sollten die zentralen Direktiven den örtlichen Gegebenheiten gemäß umsetzen. Die Demokratisierung des Zuganges zu einer von der SED ästhetisch/ideologisch geformten Kunst und Kultur für breite Bevölkerungsschichten, insbesondere die Arbeiter und Bauern, stand im Mittelpunkt der sozialistischen Kulturpolitik. Die SED knüpfte damit sowohl an sozialdemokratische als auch an kommunistische Traditionen aus der Zeit vor 1933 an. Letztlich stand dahinter die Vorstellung, dass ein bestimmtes Kultur- und Bildungsniveau die Bedingung für vernünftiges und gemeinschaftsorientiertes soziales Handeln ist. Die Sozialdemokraten hatten diese in der Aufklärung entstandene bürgerliche Vorstellung im 19. Jahrhundert aufgenommen und eine eigene Bildungs- und Kulturpolitik als Mittel zur sozialen Emanzipation forciert. Allerdings drängte die zunehmend von den Kommunisten dominierte SED seit Ende der 1940er-Jahre auf eine stärker propagandistische Instrumentalisierung der Kulturpolitik nach dem Vorbild der kommunistischen Kulturpolitik der Zwischenkriegszeit sowie der sowjetischen Kulturpolitik. 2 Kulturarbeit sollte immer stärker der Massenerziehung dienen und wurde eng mit den Agitationsund Propagandabemühungen der SED-Führung gekoppelt. Es stellte sich aber die Frage, wie diese zentral konzipierte Kulturpolitik, die im Laufe der Jahre auch immer wieder Schwankungen durchmachte, flächendeckend in der DDR umgesetzt werden konnte. Zwar wurden in Berlin verschiedene 1 2

Essay zur Quelle: Das Berufsbild des Kulturwissenschaftlers in der DDR (20. August 1963). Vgl. Erbe, Günter, Die verfemte Moderne, Opladen 1993, S. 59ff.

Das Berufsbild des Kulturwissenschaftlers

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Institutionen zur Lenkung der Kunst und Kultur geschaffen – auf der Ebene des Politbüros des Zentralkomitees (ZK) der SED die Kulturkommission, auf Regierungsebene das Ministerium für Kultur (MfK), zudem verschiedene Massenorganisationen, deren zentrale Leitungen in Berlin saßen. Allerdings mussten die zentral gefassten Beschlüsse und Direktiven auch vor Ort realisiert werden. Das sollte vor allem über kompetente, verlässliche und parteiliche Kulturfunktionäre erfolgen, die zentral angeleitet wurden. Einen ersten Schub erhielt der Prozess der Professionalisierung durch die Schaffung der Kultur- und Klubhäuser seit Beginn der 1950er-Jahre, die von der sowjetischen Seite wie in anderen staatssozialistischen Ländern forciert wurden. Die ersten Kulturhäuser entstanden dann auch in den von den Sowjets geleiteten Betrieben (SAGs – Sowjetische Aktiengesellschaften). Volkseigene Betriebe übernahmen deren Vorbild. 3 Das MfK organisierte zahlreiche Schulungen, Seminare und Konsultationen für die Leiter dieser neuen Institution, später auch ein Fernstudium an der Zentralen Schule des MfK in Meißen-Siebeneichen. Beim Aufbau der dafür nötigen Ausbildungsgänge orientierte man sich an Vorbildern aus der Sowjetunion, aus Polen und der Tschechoslowakei. 4 Ein massiver Professionalisierungsschub erfolgte im Rahmen der so genannten „sozialistischen Kulturrevolution“, die seit 1957 anvisiert und von Walter Ulbricht auf dem V. Parteitag 1958 verkündet worden war. Sie sollte eine sozialistische Nationalkultur hervorbringen, die Volk und Kultur miteinander vereinte. Das stellte die Weichen zum so genannten Bitterfelder Weg, der umfassend auf der Bitterfelder Konferenz 1959 propagiert wurde. Diese Bildungs- und Kulturoffensive steht im Zusammenhang mit der Krise des sozialistischen Blocks in Folge der Entstalinisierung und der darauf folgenden Reaktionen in verschiedenen kommunistischen Staaten. 5 Während in Polen 1956 die zentralistische Kulturpolitik und Instrumentalisierung der Kultur etwas zurückgenommen sowie das Dogma des sozialistischen Realismus aufgegeben wurde 6 , entschieden sich die Hardliner in der SED um Ulbricht insbesondere im Gefolge des Aufstandes in Ungarn für eine verschärfte Durchsetzung der kommunistischen Ideologie und Politik. 7 3

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Groschopp, Horst, Der singende Arbeiter im Klub der Werktätigen. Zur Geschichte der DDRKulturhäuser, in: Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung 33 (1993), S. 92f; Morgenstern, Jürgen, Klubarbeit. Zu theoretischen und methodischen Grundlagen, Leipzig 1986, S. 32f. Hempel an die Forschungsanstalt Erwachsenenbildung Prag, Siebeneichen, 2. November 1955 (Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Fachschule für Klubleiter Siebeneichen, Nr. 141); Erfahrungsaustausch für die Volkshochschulen und Kulturhäuser der DDR, hg. von der Wissenschaftlichen und Methodischen Abteilung für kulturelle Aufklärung Meißen-Siebeneichen (1954), H. 2. Vgl. Staritz, Dietrich, Geschichte der DDR, Frankfurt am Main 1996, S. 151ff. Vgl. Malkiewicz, Anna, Die Kunstpolitik des sozialistischen Realismus im Vergleich. Die bildende Kunst in der SBZ/DDR und in Polen nach dem zweiten Weltkrieg, Dissertation, Leipzig 2008, S. 260–264. Emmerich, Wolfgang, Kleine Literaturgeschichte der DDR, Frankfurt am Main 51989, S. 106f.

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Die Werktätigen sollten jetzt noch massiver zum eigenständigen Kulturschaffen angeregt werden. Das so genannte Volkskunstschaffen sollte sich von traditionellen Formen der Folklore lösen und aktuelle Themen aus dem Alltag sowie sozialistische Werte in den Mittelpunkt rücken. Die Kluft zwischen Berufs- und Laienkünstlern sollte beseitigt werden. Zugleich sollten die Werktätigen weiterhin an die Hochkultur, das „humanistische bürgerliche Kulturerbe“ herangeführt werden. Schließlich wollte die SED mit dem Bitterfelder Weg auch eine anspruchsvolle Unterhaltungs- und Freizeitkultur schaffen. Die Kulturrevolution zielte daher zum einen auf eine kulturelle Hebung der Werktätigen, die dadurch zum sozialistischen „Neuen Menschen“ werden sollten. Sie zielte aber auch auf die Kultivierung der neuen, großenteils aus der Arbeiterschaft aufgestiegenen Funktionselite, die viele Positionen der früheren, in den Westen geflohenen, oder vertriebenen Elite übernommen hatte. Die neue Funktionselite war meist aus unterbürgerlichen Schichten hervorgegangen und ihr kulturelles Niveau wurde als zu niedrig eingeschätzt. 8 Die bisherigen Fortschritte bei der Ausbildung von Kulturfunktionären reichten aber nicht aus, um die Ziele einer viel breiter verankerten „sozialistischen Kulturrevolution“ umzusetzen. Um die Bevölkerung massiv an eine eigene kulturelle Tätigkeit heranzuführen, war es nötig, eine große Zahl von Kulturfunktionären auszubilden und das Berufsfeld insgesamt attraktiver zu machen. Professionelle, linientreue und aktive Kulturfunktionäre wurden als zentrale Instrumente zur Umsetzung der „sozialistischen Kulturrevolution“ gesehen, da weder die ehrenamtlichen Kulturfunktionäre der Gewerkschaften 9 noch die in die Betriebe und Volkskunstgruppen geschickten Künstler diese Rolle ausgefüllt hatten. Zudem misstrauten die Hardliner um Ulbricht, die sich 1957 gegen reformfreudigere SEDMitglieder durchgesetzt hatten, den Intellektuellen, die 1956 an der Reformdiskussion großen Anteil genommen hatten. Da das MfK unter Alexander Abusch die Qualifizierung und Professionalisierung nicht mit dem von der Parteispitze geforderten Nachdruck vorangetrieben hatte, musste Abusch als Kulturminister im Februar 1961 seinen Hut nehmen. 10 8

Mühlberg, Dietrich, Notizen zur Entstehung und Entwicklung der Disziplin Kulturwissenschaft in der DDR, in: Kulturation. Online-Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik 7 (2006), S. 3, URL: http://www.kulturation.de/_bilder/pdfs/2006-03-04_Report_ Muehlberg_ Erinnerungen.pdf (20.03.2012). 9 Schuhmann, Annette, Kulturarbeit im sozialistischen Betrieb. Gewerkschaftliche Erziehungspraxis in der SBZ/DDR 1946 bis 1970, Köln 2006, S. 126f. 10 Sander, Hans-Dietrich, Geschichte der Schönen Literatur in der DDR, Freiburg 1972, S. 196. Der Literaturwissenschaftler Sander sieht hinter Abuschs Absetzung den Versuch Ulbrichts, den Schriftstellern mehr eigene Gestaltungsmöglichkeiten zu geben. Tatsächlich scheint Abusch aber eher wegen fehlender Erfolge bei der breiten Durchsetzung der „sozialistischen Kulturrevolution“ versetzt worden zu sein. Bentzien suchte dann stärker die Menschen einzubeziehen und zu beteiligen. Die von Bentzien reduzierte schematische Kontrolle und Disziplinierung des Kulturlebens hatte aber zur Folge, dass die Parteibürokratie ihre Machtbasis schwinden sah. Deshalb wurde Bentzien 1965 im Gefolge des 11. Plenums des ZK der SED als Kulturminister abgesetzt. Vgl. Höpel, Thomas, Die Kunst dem Volke. Städtische Kulturpolitik in Leipzig und Lyon 1945–1989, Leipzig 2011, S. 155f.; Kaiser, Monika, Macht-

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Sein Nachfolger, Hans Bentzien, räumte Qualifizierung und Professionalisierung einen zentralen Platz ein. Er zielte darauf, mehr Fachleute auf allen Ebenen des Staatsapparates einsetzen zu können. Genau hier sah er im Bereich der Kultur ein Defizit gegenüber anderen Tätigkeitsfeldern. 11 Das Politbüro des ZK der SED beauftragte das MfK Ende 1961, umgehend ein einheitliches Qualifizierungssystem für Kulturfunktionäre zu formulieren. Zudem sollte die kulturelle Massenarbeit in Klubs und Kulturhäusern durch ein zentral geleitetes System der Aus- und Weiterbildung der Leiter dieser Klubs und Kulturhäuser sowie von Zirkeln und Arbeitsgemeinschaften verbessert werden. 12 Die Entwürfe des MfK wurden durch die „Anordnung über das Grundstudium für Kulturfunktionäre und die Spezialschule für Leiter des künstlerischen Volksschaffens“ vom 16. November 1962 gesetzlich festgeschrieben. Für hauptamtliche Kulturfunktionäre ohne abgeschlossene Ausbildung wurde das als Fernstudium vorgesehene Grundstudium verbindlich. Der Lehrplan und die Lehrbriefe wurden vom Zentralhaus für Kulturarbeit in Leipzig erarbeitet. Bezirke und Kreise sollten monatlich Lehrveranstaltungen mit geeigneten Lehrkräften organisieren. Das Zentralhaus für Kulturarbeit in Leipzig hatte zudem die Gesamtleitung der Spezialschule für Leiter des künstlerischen Volksschaffens, die als Qualifizierungssystem zum 1. Februar 1963 eingeführt wurde, aber erneut dezentral in den Bezirken und Kreisen agierte. Es handelte sich um ein auf drei Jahre angelegtes Qualifizierungssystem, das Führungskräfte für die angestrebte Laienkunstbewegung hervorbringen sollte: Laientheaterregisseure, Leiter von Laien- und Arbeitertheatern, Leiter von Kunstzirkeln, Dirigenten von Laienorchestern, Leiter von Laientanzgruppen und Puppenspieltheatern sowie Chormeister. 13 Im August 1962 beschloss das Politbüro des ZK der SED zudem die Schaffung einer Hochschulausbildung Kulturwissenschaften, mit der in den kommenden Jahren 500 Kulturfunktionäre ausgebildet werden sollten. 14 Schon auf der Kulturkonferenz im Jahr 1960 war explizit die Gründung eines Hochschulstudiums für Kulturarbeiter gefordert worden. 15 Jetzt konnten die seit langem existierenden Pläne 16 auch tatsächlich umgesetzt werden. An den Universitäten Berlin

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wechsel von Ulbricht zu Honecker. Funktionsmechanismen der SED-Diktatur in Konfliktsituationen 1962 bis 1972, Berlin 1997, S. 168, 179ff. Hans Bentzien auf der Beratung mit den Abteilungsleitern für Kultur der Räte der Bezirke am 28. und 29. März 1961 (BArch DR 1/8635, Bl. 18f.). Vorlage für das Politbüro des ZK der SED (BArch DR 1/521, Bd. 1). Gesetzblatt der DDR, Teil II, Nr. 97, Berlin, 22. Dezember 1962. MfK, Sektor Schulische Einrichtungen, Bericht über die Entwicklung der Fachrichtung Allgemeine Kulturwissenschaft, 1. Oktober 1963 (BArch DR 1/520). Kulturkonferenz 1960. Protokoll der vom Zentralkomitee der SED, dem Ministerium für Kultur und dem Deutschen Kulturbund vom 27. bis 29. April 1960 im VEB Elektrokohle Berlin abgehaltenen Konferenz, Berlin 1960, S. 461. Bereits unmittelbar nach der Bildung des MfK im Januar 1954 wurde die Schaffung einer kulturpolitischen Hochschule anvisiert, die sich der Ausbildung der Kulturfunktionäre und Kulturpolitiker widmen sollte. Vgl. Bezirkssekretär Halle der DSF an Kulturminister Becher, Halle, 17. Februar 1954 (BArch DR 1/574).

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und Leipzig wurde ein Hochschulstudium der Fachrichtung Allgemeine Kulturwissenschaft mit Beginn des Studienjahres 1963/1964 geschaffen. 17 Die vorliegende Quelle fasst die Ziele, die mit den neuen professionellen Kulturfunktionären erreicht werden sollten, zusammen. Es handelt sich um einen Entwurf aus dem Jahr 1963, der bei der Ausarbeitung des Studienganges als Grundlage diente, und der in den ersten Jahren nach Anlaufen des Studiums weiterentwickelt wurde.18 Er diente als wichtiger Ausgangspunkt für die Erstellung der detaillierten Studienpläne und wurde in Abschnitten darin übernommen. 19 Die im Hochschulstudiengang Ausgebildeten sollten als hohe Kulturfunktionäre die kulturpolitischen Direktiven der Staats- und Parteiführung vor Ort umsetzen. Das zielte in erster Line auf Leiter der Abteilungen Kultur auf Bezirksund Kreisebene, auf Leiter von Kulturzentren und großen Klub- und Kulturhäusern. 20 Seit der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre mussten auch die Stadträte für Kultur ein Hochschulstudium der Kulturwissenschaft absolvieren. 21 Daneben sollten Kunstwissenschaftler im Nebenfach Kulturwissenschaften studieren, die später auf einem oder zwei Kunstgebieten leitende Funktionen in kulturell-künstlerischer Entwicklung und Erziehung übernehmen bzw. in der Volkskunstbewegung oder in Klub- und Kulturhäusern leitend tätig sein würden. Die Kulturwissenschaften sollten damit auch zur sozialistischen Erziehung der Studierenden der Kunst- und Literaturinstitute eingesetzt werden. Das Studium vereinte eine grundlegende Ausbildung in Marxismus-Leninismus sowie sozialistischer Ästhetik und Kulturpolitik mit einer Ausbildung in einem kunstwissenschaftlichen Fach wie Theater-, Literatur-, Musik- oder Kunstwissenschaften. Die Kulturwissenschaftler und künftigen Kulturfunktionäre sollten sowohl befähigt werden, wissenschaftliche Grundlagen der Ästhetik und der Kunst zu erwerben als auch die aktuellen politischen Zielsetzungen der SED zu erkennen und in die Arbeit einzubeziehen. 22 Um dem Berufsbild gerecht zu werden, gehörten zum Studium von Beginn an Praktika, bei denen die Studenten ihre erworbenen theoretischen Kenntnisse anwenden konnten. Es waren kulturpolitische und kunstwissenschaftliche Praktika

17 MfK, Sektor Schulische Einrichtungen. 18 Ein zweiter Entwurf mit gleichem Titel vom Oktober 1965 ist ebenfalls in den Akten des MfK zu finden. Vgl. BArch DR 1/521, Bd. 2. 19 Vgl. Studienplan für die Fachrichtung Kulturwissenschaft, Juli 1965. Ausgearbeitet im Auftrage des Staatssekretariats für das Hoch- und Fachschulwesen von einer Kommission unter Leitung von Prof. Dr. E. John (BArch DR 1/521, Bd. 2). 20 Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen an den Rektor der Karl-Marx-Universität Leipzig, 5. Oktober 1962, Anlage (Universitätsarchiv Leipzig (UAL) R 321, Bd. 3, Bl. 60). 21 Vgl. Kaderentwicklungsplan der Stadtverwaltung Chemnitz, 10. Januar 1966 (Stadtarchiv Chemnitz, Rat der Stadt 1945–1989, Nr. 17987). 22 Vgl. Entwurf eines Studienplans zur Ausbildung von Kulturwissenschaftlern an den Universitäten und Hochschulen der DDR, Berlin 20. August 1963 (UAL ZM 1811); Anweisung des Staatsekretariats für das Hoch- und Fachschulwesen über die Hochschulausbildung von Kulturwissenschaftlern, 1. August 1963 (UAL R 321, Bd. 3, Bl. 120–122).

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vorgesehen sowie ein praktisches Jahr im vierten Studienjahr. 23 Diese Mischung aus marxistischer Theorie, Ideologie und Politik, kunstwissenschaftlicher Bildung, staatswissenschaftlichen Grundlagen und Praxisbezogenheit sollte die künftigen Kulturfunktionäre optimal auf ihre Aufgaben vorbereiten. Die neue Fachrichtung Kulturpolitik und Ästhetik wurde am 1. Januar 1963 an den Instituten für Philosophie der beiden Universitäten eingerichtet. Dr. Erhard John wurde in Leipzig und Dr. Erwin Pracht in Berlin zum Fachrichtungsleiter für Kulturwissenschaften ernannt und mit dem Aufbau der Fachrichtung betraut. 24 John kann als Schlüsselfigur bei der Umsetzung der Ausbildungsoffensive für Kulturfunktionäre bezeichnet werden. Er hatte 1956 an der Humboldt-Universität Berlin (HUB) promoviert und war dann in Leipzig mit der Leitung der neu gegründeten Abteilung Ästhetik (seit 1959 Ästhetik und Kulturtheorie) betraut worden. 25 Der 1919 in Goblonz an der Neiße als Arbeitersohn geborene John war seit Januar 1951 an der Landesvolkshochschule Sachsen in Meißen-Siebeneichen tätig und leitete diese von Mai 1951 bis August 1954. Unter seiner Ägide wurde die Landesvolkshochschule in die Zentrale Schule für kulturelle Aufklärung umgewandelt und widmete sich auch der Ausbildung von Kulturfunktionären. John, der schon als Fachgutachter an der Ausarbeitung der Lehrpläne für das Fachschulfernstudium für Kulturfunktionäre mitgearbeitet hatte 26 , entwarf auch den Studienplan für das Hochschulstudium Kulturwissenschaft. 27 Am 1. September 1963 begannen in Leipzig die ersten 26 Studenten im Fachbereich Ästhetik und Kulturtheorie ihr Studium mit dem Berufsziel „Leiter der kulturellen Massenarbeit“. In Berlin lief der Studiengang mit acht Studenten an. 28 Die ersten Direktstudenten wurden dabei durchgehend durch Umlenkungen aus den Fachrichtungen Philosophie, Germanistik, Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte und Musikwissenschaft gewonnen. 29 Erst ab Oktober 1964 wurden an der HUB Studenten im ersten Studienjahr immatrikuliert. 30 Leipzig folgte im Oktober

23 Entwurf: Studienplan zur Ausbildung von Kulturwissenschaftlern an den Hoch- und Fachschulen der DDR, Berlin 20. August 1965 (UAL ZM 1811); Allgemeine Vorschläge für die Gestaltung des Praktikums der Kulturwissenschaft-Studenten im 2. Fach (Literaturwissenschaft), Leipzig 5. Januar 1965 (UAL ZM 1811); vgl. zum Studienplan der Sektion Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität Berlin: Kyrieleis, Gisela, Geschlossene Stadtkultur und alltagskulturelle Nischen, in: Stiftung Mitteldeutscher Kulturrat (Hg.), Kultur und Kulturträger in der DDR. Analysen, Berlin 1993, S. 92f. 24 Rektor der Universität Leipzig Georg Mayer an Stellvertreter des Staatssekretärs für das Hoch- und Fachschulwesen, 7. Januar 1963 (UAL R 321, Bd. 3, Bl. 118). 25 UAL PA 2935, Bl. 139. 26 Erhard John an Johannes R. Becher, Leipzig 18. März 1958 (BArch DR 1/572, Bd. 2). 27 BArch DR 1/520. 28 MfK, Sektor Schulische Einrichtungen, Bericht über die Entwicklung der Fachrichtung Allgemeine Kulturwissenschaft, 1. Oktober 1963 (BArch DR 1/520). 29 Ebd. 30 In Berlin waren das 32 Studenten. Vgl. Erwin Pracht (Institut Philosophie, HUB) an Genossin Rauer (MfK), Berlin 16. Juni 1964 (BArch DR 1/520).

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1965. 31 Neben dem Direktstudium wurde auch ein Fern- und Abendstudium eingeführt, in das im ersten Semester 73 Studenten immatrikuliert wurden. 32 Das Ministerium für Kultur erhielt in der Folge gegenüber dem Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen vergrößerte Mitspracherechte bei der Ausbildung der Kulturwissenschaftler: Das bezog sich auf die Bedarfsermittlung, die Erarbeitung eines Berufsbildes, die Auswahl der Kader, die Bestimmung des Grundinhaltes der Ausbildung sowie auf die Fragen des Einsatzes der Studenten und der Praxisbeziehungen. 33 Das Kulturministerium sah 450 Absolventen bis 1970 vor, die vor allem in den Kulturabteilungen der Bezirke und dem Bereich der Klubs und Kulturhäuser eingesetzt werden sollten. In den 1970er-Jahren sollte dann die Ausbildung für die Abteilungsleiter für Kultur in den Kreisen erfolgen und ab 1975 für die nichtstaatliche Kulturarbeit. 34 Da die Bewerberzahlen zum Fernstudium, das für bereits in der Kulturverwaltung tätige Kulturfunktionäre konzipiert war, sehr hoch waren, erwirkte das Kulturministerium die Ausarbeitung langfristiger Qualifizierungspläne bei den Räten der Bezirke. 35 Tatsächlich wurden dann in den Räten der Bezirke, Kreise, Städte und Gemeinden Kaderentwicklungspläne aufgestellt, in denen die vorhandenen bzw. nachzuholenden Qualifikationen der jeweiligen Mitarbeiter im Kulturbereich aufgeschlüsselt wurden. Erhard John wurde am 16. April 1964 mit der Leitung der ständigen Lehrplankommission beauftragt, die die Lehrpläne für die Studiengänge in Berlin und Leipzig zusammenstellte, ergänzte und überarbeitete. 36 Zum 1. September 1964 wurde ein eigenständiges Institut für Ästhetik und Kulturtheorie an der Philosophischen Fakultät der Karl-Marx-Universität gegründet und John zu dessen Direktor und zum Professor mit Lehrauftrag für das Fachgebiet Allgemeine Kulturwissenschaften ernannt. 37 An der HUB wurde ebenfalls ein selbständiges Institut für Ästhetik und Kulturtheorie gegründet. Die Professionalisierung der Kulturfunktionäre und Kulturpolitiker diente vorrangig der Kultivierung, der kulturellen und ideologischen Bildung und Erziehung der DDR-Bürger. Es ging um die Schaffung einer sozialistischen Massen31 Im Direktstudium wurden jährlich abwechselnd jeweils 30 Studierende in Berlin und Leipzig immatrikuliert. Dr. Pracht (Institut Philosophie, HUB) an Genossin Rauer (MfK), Berlin 16. Juni 1964, Anlage: Theoretische und praktische Probleme der Fachrichtung allgemeine Kulturwissenschaft (BArch DR 1/520). 32 Protokoll einer Beratung der für die Ausbildung in Kulturwissenschaften verantwortlichen Institute, Berlin 18. Oktober 1963 (UAL ZM 1811). Im Herbstsemester 1963 begannen in Berlin 44 Studenten im Fern- oder Abendstudium, in Leipzig 29 Studenten. 33 Protokoll einer Beratung mit Vertretern der für die Ausbildung in Kulturwissenschaften verantwortlichen Institute, Berlin 16. April 1964 (UAL ZM 1811). 34 Bericht über die Ergebnisse des ersten Studienjahres der Ausbildung von Kulturwissenschaftlern (BArch DR 1/520). 35 Protokoll einer Beratung der für die Ausbildung in Kulturwissenschaften verantwortlichen Institute, Berlin 16. April 1964 (UAL ZM 1811). 36 Ebd. 37 Gründungsurkunde des Instituts für Ästhetik und Kulturtheorie, Berlin 12. September 1964 (UAL ZM 1811).

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kultur, die sich deutlich von westlicher Massenkultur absetzen sollte. Die Idee, dass aus dieser neuen Massenkulturbewegung der Arbeiter auch Kunstwerke hervorgehen könnten, die denen der Berufskünstler gleichwertig wären, war dagegen schon nach kurzer Zeit korrigiert worden und spielte für die Kulturfunktionärsausbildung keine Rolle. 38 Die institutionalisierte Ausbildung erhöhte zudem den Status der Kulturfunktionäre und Kulturpolitiker, machte eine Tätigkeit in diesem Feld interessant. Berufskulturfunktionäre waren für die Durchsetzung zentral konzipierter Kulturpolitik unausweichlich. Sie waren einerseits abhängig von der staatlichen Partei- und Kulturbürokratie, kannten andererseits aber auch die Bedürfnisse und Nöte auf lokaler und regionaler Ebene. 39 Hatte das MfK sich bei der Einführung und Ausgestaltung der Ausbildungsgänge für Kultur- und Klubhausleiter noch stark an Modellen aus der Sowjetunion und anderen staatssozialistischen Ländern orientiert, stellte die Schaffung eines Hochschulstudiums Kulturwissenschaft ein ostdeutsches Spezifikum dar. Ähnliches existierte weder in den westlichen Staaten noch in den meisten Ostblockländern. Nur in Ungarn erfolgte eine dem Leipziger Studiengang vergleichbare Hochschulausbildung an zwei Provinzuniversitäten unter der Überschrift Erwachsenenbildung. Zudem gab es in der CSSR seit Mitte der 1970er-Jahre eine Hochschulausbildung für Kulturfunktionäre an den Universitäten Prag, Bratislava und Olomouc. 40 In den anderen staatssozialistischen Ländern wurden hohe Kulturfunktionäre eher durch Kulturpolitik-Kurse an Parteihochschulen geschult und sie waren in noch stärkerem Maße Politfunktionäre. Ostdeutsche Kulturwissenschaftler entwickelten hingegen eine spezielle berufliche Identität und betonten zunehmend die Besonderheiten der theoretischen Ausarbeitung der DDR-Kulturwissenschaft. Die zahlreichen Kooperationsbeziehungen und wissenschaftlichen Kontakte der universitären ostdeutschen Kulturwissenschaftler erfolgten aufgrund dieser Sonderstellung zu Instituten für Ethnologie, Philosophie, Soziologie oder Geschichte und anderen an den Universitäten in Leningrad, Moskau, Kiew, Tartu, Prag, Bratislava, Sofia, Debrecen, Lublin und Gdansk sowie zu den Kulturinstituten in Moskau, Prag, Bratislava, Budapest und Sofia. 41 Die wachsende Bedeutung, die kulturelle Prozesse und Vorgänge auch in den westeuropäischen Gesellschaften besaßen, hat dort ebenfalls das Bedürfnis nach professionellen Kulturarbeitern geschaffen. In Frankreich entstand bereits kurz nach der Befreiung 1944 mit Peuple et Culture eine Organisation, die sich der Ausbildung von Animateuren widmete. 42 Mitte der 1960er-Jahre folgten weitere 38 Jäger, Manfred, Kultur und Politik in der DDR: 1945–1990, Köln 1995, S. 100f. 39 Zu Möglichkeiten und Grenzen lokaler Kulturpolitiker am Beispiel Leipzig vgl. Höpel, Thomas, Die Kunst dem Volke, hier S. 54f. 40 Simon, Heidrun, Zur Ausbildung von Kulturarbeitern in der CSSR, in: Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung 12 (1983), S. 75–84. 41 Lippold, Monika, Zur Entwicklung der marxistisch-leninistischen Ästhetik und Kulturtheorie an der Karl-Marx-Universität Leipzig, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig, Gesellschaftswissenschaftliche Reihe 34 (1985), S. 420–423. 42 Vgl. Guillaume, Christiane; Lefort des Ylouses, Nicole, Une recherche de démocratisation culturelle: La formation des cadres, in: Cahiers de l’animation 57/58 (1986), S. 127–134.

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Initiativen, so die Ecole Nationale d’Animation Globale in Chasselay, an der eine zweijährige Berufsausbildung als animateur angeboten wurde. Diese Animateure waren aber in der Regel nicht für die politische Konzipierung von Kulturprojekten zuständig. Sie sind von den eigentlichen Kulturpolitikern, Stadträten oder Beigeordneten für Kultur, Mitarbeitern von Ministerien etc. abzugrenzen, die auch weiterhin keinen vergleichbaren Professionalisierungsprozess durchmachten, selbst wenn sich viele von ihnen aufgrund einer bestimmten Affinität zu Kunst und Kultur für diese Funktion qualifizierten. Erst in den 1980er-Jahren entstanden in Frankreich, angeregt gerade durch die verstärkten kulturpolitischen Anstrengungen der sozialistischen Regierung, Ausbildungsgänge für Kulturmanager und Kulturadministratoren. 43 Allerdings hatten diese Kulturadministratoren weniger die Aufgabe, Kunst und Kultur ideologisch in ein Korsett zu zwängen, als vielmehr die vorhandene Kulturlandschaft zu unterstützen und zu verbreitern, wobei der elitäre Hochkulturbegriff verdrängt wurde von einem breiten Kulturbegriff, dem Tout Culturel. Literaturhinweise Dubois, Vincent, La politique culturelle. Genèse d’une catégorie d’intervention politique, Paris 1999. Groschopp, Horst, Der singende Arbeiter im Klub der Werktätigen. Zur Geschichte der DDR-Kulturhäuser, in: Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung 33 (1993), S. 86–131. Höpel, Thomas, Die Kunst dem Volke. Städtische Kulturpolitik in Leipzig und Lyon 1945–1989, Leipzig 2011. Jäger, Manfred, Kultur und Politik in der DDR: 1945–1990, Köln 1995. Mühlberg, Dietrich, Notizen zur Entstehung und Entwicklung der Disziplin Kulturwissenschaft in der DDR, in: Kulturation. Online-Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik 7 (2006), URL: http://www.kulturation.de/_bilder/pdfs/2006-03-04_Report_Muehlberg_Erinnerungen. pdf (20.03.2012). Schuhmann, Annette, Kulturarbeit im sozialistischen Betrieb. Gewerkschaftliche Erziehungspraxis in der SBZ/DDR 1946 bis 1970, Köln 2006.

Quelle Das Berufsbild des Kulturwissenschaftlers in der DDR (20. August 1963)44 a) Gesellschaftliche Bedeutung des Kulturwissenschaftlers Die Berufsbezeichnung „Kulturwissenschaftler“ kennzeichnet Kulturfunktionäre mit Hochschulabschluß (Diplomanden der Fachrichtung Kulturpolitik und Ästhetik der Philosophischen Fakultäten der Universitäten). 43 Dubois, Vincent, La politique culturelle. Genèse d’une catégorie d’intervention politique, Paris 1999, S. 250f. 44 Entwurf: Berufsbild des Kulturwissenschaftlers, 20. August 1963, o. V. (Bundesarchiv Berlin DR 1 (Ministerium für Kultur), Nr. 521 (Ausbildung von Kulturwissenschaftlern in der DDR), Bd. 2).

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Der Kulturwissenschaftler hilft die großen Aufgaben der sozialistischen Revolution im Bereich der Ideologie und Kultur durchführen, wirkt wesentlich an der geistigen Formung des neuen Menschen und der Herausbildung der sozialistischen Nationalkultur. Der Kulturwissenschaftler trägt die Verantwortung für die Leitung eines kulturpolitischen Aufgabenbereichs der Staatsorgane, der gesellschaftlichen Organisationen oder eines Bereiches der sozialistischen Klubarbeit. Die Tätigkeit in leitenden Funktionen innerhalb der genannten Aufgabenbereiche setzt unter den gegenwärtigen Bedingungen die Hochschulausbildung als Kulturwissenschaftler voraus. b) Aufgaben des Kulturwissenschaftlers Der Kulturwissenschaftler muß die objektiven Prozesse der sozialistischen Kulturrevolution theoretisch durchdringen, Schlussfolgerungen für die notwendigen Maßnahmen in seinem Verantwortungsbereich erarbeiten und die sich daraus ergebenden Aufgaben verwirklichen. Er muß, ausgehend von der Kenntnis der politischen und ökonomischen Entwicklung, die Kulturarbeit seines Verantwortungsbereiches zu einem festen Bestandteil der politischen Massenarbeit gestalten helfen. Auf der Grundlage der Beschlüsse der Partei der Arbeiterklasse und der sozialistischen Gesellschaft muß er die für seinen Tätigkeitsbereich erforderlichen Maßnahmen in die Praxis der kulturellen Massenarbeit umzusetzen verstehen und dabei die Zusammenarbeit mit den seiner Leitung anvertrauten Kollektiven sichern. Ausgehend von einer festen sozialistischen Orientierung muß er die unterschiedlichen Bedürfnisse der Arbeiter, der Bauern, der Intelligenz und aller Schichten der Bevölkerung auf den Gebieten der Kultur befriedigen helfen und zielgerichtet neue Bedürfnisse wecken. Das erfordert seine enge Verbindung zu allen Werktätigen, insbesondere zur Arbeiterklasse, im Sinne der neuen sozialistischen Beziehungen, die sich zwischen den Menschen unserer Gesellschaft herausgebildet haben. Der Kulturwissenschaftler muß die besonderen Wirkungsmöglichkeiten aller Kunstgattungen kennen und sie in seiner Arbeit mit dem Ziel berücksichtigen, die sozialistische Kunst sowie den großen Reichtum des humanistischen Erbes zum unzertrennlichen Bestandteil des Lebens aller werktätigen Menschen zu machen. Er muß deshalb in der Lage sein, Werke auf dem Gebiet der Literatur, der bildenden Kunst, des Theaters, des Films, der Musik und des Tanzes zu beurteilen, für die Werktätigen zu erschließen und dabei die Zusammenarbeit mit den entsprechenden Fachleuten zu sichern. Er muß die schöpferische künstlerische Tätigkeit der Werktätigen durch Unterstützung und Anleitung des künstlerischen Volksschaffens fördern und die Herstellung einer engen Verbindung zwischen Laien- und Berufskunst entwickeln helfen. Der Kulturwissenschaftler muß die Entwicklung eines vielgestaltigen niveauvollen Kulturlebens in den Betrieben, den städtischen Wohngebieten und auf dem Lande fördern. Innerhalb seines Tätigkeitsbereiches ist der Kulturwissenschaftler verantwortlich für die Planung, Koordinierung, Anleitung und Organisierung der Kontrolle der Kulturarbeit. c) Qualifikationscharakteristik Kenntnis der marxistisch-leninistischen Weltanschauung, der allgemeinen Entwicklungsgesetze der Natur, der Gesellschaft und des Denkens. Kenntnis der deutschen Geschichte, insbesondere der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Grundkenntnisse der allgemeinen Geschichte, insbesondere der Geschichte der neuesten Zeit.

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Kenntnisse des wissenschaftlichen Sozialismus. Kenntnisse der politischen Ökonomie des Kapitalismus und besonders des Sozialismus sowie der Hauptaufgaben der sozialistischen Wirtschaftspolitik. Gründliche Kenntnisnahme der Theorie der Kulturrevolution und der revolutionären Umgestaltung im Bereich der Ideologie und Kultur in der DDR. Kenntnisse der Grundprinzipien der staatlichen Leitungstätigkeit der DDR und der grundlegenden Gesetze, Beschlüsse und Maßnahmen der Partei der Arbeiterklasse und der sozialistischen Staatsmacht. Kenntnisse der für den Bereich der Kulturarbeit wichtigsten Gesetze und Beschlüsse. Gründliche Kenntnisse der Methodik der kulturellen Massenarbeit und die erforderlichen Fähigkeiten, praktisch anleiten zu können. Dazu gehören Grundkenntnisse in der marxistischen Erziehungswissenschaft und Psychologie und ihre sachgemäße und selbständige Anwendung in der praktischen Berufsarbeit. Kenntnisse über Herausbildung und Hauptprobleme des Realismus in der Kunst. Kenntnisse in einem kunstwissenschaftlichen Fachbereich. Diese Fachbereiche sind: – Literaturwissenschaft – Kunstwissenschaft (Bildende Kunst) – Musikwissenschaft – Theaterwissenschaft Kenntnisse in der marxistisch-leninistischen Ästhetik. Fähigkeit, die Aussage eines Kunstwerkes vom ideologischen Standpunkt der Arbeiterklasse und ihres Kampfes um Frieden und Sozialismus zu werten, die erzieherischen Potenzen der Kunst zu erkennen, zur Wirkung zu bringen und dadurch die Entwicklung zur sozialistischen gebildeten Nation zu fördern.

2. KULTURBERUFE ZWISCHEN KOMMERZIALISIERUNG UND POPULÄRKULTUR

PRESSE, THÉÂTRE ET LITTÉRATURE EN 1843. LE DIAGNOSTIC D’UN PROFESSIONNEL, HONORE DE BALZAC 1 Christophe Charle Le texte de Balzac est un extrait de la Monographie de la presse parisienne publiée par Balzac dans un ouvrage collectif illustré intitulé La grande ville. Nouveau tableau de Paris comique, critique et philosophique publié en janvier 1843 par Paul de Kock, Balzac, Dumas, etc. en 52 livraisons. 2 Ce type d’ouvrage collectif qui, à intervalles réguliers, tente de peindre la société parisienne fait partie de ces spéculations de librairie qui ont commencé sous la Restauration et se sont développées à grande échelle sous la Monarchie de Juillet. Ce genre entend dépeindre sur un mode badin les nouveautés et les travers de la capitale, souvent avec des allusions très précises à des personnes ou des institutions reconnaissables par les contemporains. Ce persiflage s’adresse non seulement aux initiés mais aussi à un public mêlé de Parisiens et de provinciaux qui ont l’illusion, le temps de la lecture, de participer à la vie publique de la capitale, révélée par quelques écrivains plus ou moins célèbres qui font semblant de vendre la mèche. Ces derniers font ainsi coup double en se vengeant de certains confrères qui ne participent pas au volume tout en escomptant y gagner en notoriété et en argent puisqu’ils paraissent au centre de la vie sociale et culturelle puisqu’ils en font le tableau et en dévoilent les coulisses. Cette attitude est particulièrement présente chez Balzac qui se libère ainsi des frustrations que suscitent en lui ses nombreux conflits avec les éditeurs ou ses confrères. Balzac a écrit d’autres textes de ce type (Monographie du rentier, Physiologie de l’employé, 1841), à mi chemin du journalisme, de la chronique, du pamphlet et de la saynète qui pourraient se retrouver en extrait dans certains de ses romans, mais ici il est beaucoup plus impliqué dans toutes les dimensions de sa vie et de son œuvre. Toujours à court d’argent dans ces années là, où il rêve de se marier avec Mme Hanska l’aristocrate polonaise qui s’est éprise de lui, il fait flèche de tout bois. Il republie sous diverses formes ses réflexions et typologies sociales alternativement dans les ouvrages collectifs, dans des revues et dans certains passages de ses romans. Il faut tenir compte de ce statut mixte du texte pour en comprendre la force et les limites comme source historique sur la commercialisation culturelle, le rôle nouveau de la presse à la recherche de nouveaux publics 1 2

Essay sur le texte : Honoré de Balzac : Monographie de la presse parisienne (1843). Notice sur cette œuvre dans: Balzac, Honoré de, Œuvres complètes, tome 24, Paris 1956, p. 280. Une édition séparée du texte de Balzac avait été publiée en 1842. Il existe de nombreuses rééditions outre celle de ces Œuvres complètes, dir. de Pauvert, Jean-Jacques, Paris 1965, 2008. L’édition originale est téléchargeable sur le site Gallica de la Bibliothèque nationale avec les illustrations d’origine.

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et les relations entre écrivains, journalistes et enjeux commerciaux dans ce qu’on n’appelle pas encore les « industries culturelles ». En dépit du renom actuel de Balzac, nous ne sommes ici ni dans la grande littérature ni non plus complètement dans le journalisme éphémère, mais dans un entre-deux qui permet à l’auteur du Père Goriot de jouer sur les deux tableaux : Un style enlevé, ironique, perfide, un apparent appareil sérieux avec une organisation typologique de la monographie des journalistes sous forme de lettres (A, B, C, D, E 3 ) où Balzac détourne les principes de classification des sciences naturelles, modèle scientifique dont il s’est réclamé de manière ostentatoire en 1842 dans l’avant-propos de la Comédie humaine. Les types sociaux sont ici identifiés à des espèces animales, comme dans les caricatures de Grandville (« il vit sur les feuilles comme un ver à soie » avec le jeu de mots sur « feuilles »). Balzac a déjà abordé la critique de la presse contemporaine dans ses romans, en particulier dans la deuxième partie des Illusions perdues « un grand homme de province à Paris » (1838) où il montre comment Lucien de Rubempré, type de jeune poète idéaliste sous la Restauration, est peu à peu corrompu par les journaux et l’appât de l’argent. La même idée sert d’argument central à tout l’extrait et donne une image très pessimiste des effets de la commercialisation de la presse. Les feuilletonistes (c’est-à-dire ici les détenteurs de rubriques spécialisées appelées à l’époque feuilleton et paraissant de façon hebdomadaire dans les quotidiens) se targuent d’occuper des positions de pouvoir intellectuel. Ils ne font en réalité selon Balzac que vendre leurs services aux plus offrants, en l’occurrence les théâtres commerciaux. Cette dénonciation de la corruption de la culture est fondée sur un raisonnement économique implacable qui met en évidence toute la chaîne des rapports entre les acteurs de la vie littéraire. Balzac part d’une analyse matérialiste : Entreprise avant tout économique, le journal, ménage les groupes sociaux et économiques qui le paient le mieux ; entre les deux secteurs qui se partagent le champ de la production littéraire, les théâtres et les éditeurs libraires, les théâtres sont dominants, les libraires sont nettement dominés. Les premiers peuvent en effet proposer des places gratuites, donc des heures de divertissement et de plaisir lors des premières où sont invités les critiques ; les seconds ne peuvent qu’envoyer en service de presse des livres longs à lire dans la solitude du cabinet qui donnent des articles pesants que les lecteurs négligent. Dans la nouvelle temporalité de la culture moderne le public préfère les chroniques légères ou savoir quel spectacle aller voir. Les premiers participent de la vie sociale et mondaine propre à la société du spectacle. En fréquentant assidûment les théâtres, ils accumulent à bon compte du capital social puisqu’ils retrouvent aux premières le gratin de la bonne société qui bénéficie aussi de places gratuites et sans laquelle le succès d’une pièce ne peut s’amorcer. Balzac suggère aussi tout l’attrait sexuel que représente la fréquentation des théâtres puisqu’il est connu que nombre 3

« A » regroupe le « critique de vieille roche », « B » le « jeune critique blond », « C » le « grand critique » et « D » dont il est question ici le « feuilletoniste ». En introduction de sa monographie Balzac donne une tableau synoptique de « l’ordre gendelettre » où il assimile cette « espèce sociale » aux classifications des naturalistes des « espèces animales ».

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d’actrices pour obtenir de bonnes critiques accordent leur faveurs aux écrivains ou journalistes influents (« avec ses actrices, ses danseuses, ses cantatrices, il s’adresse aux sens et à l’amour-propre »). En face, les vendeurs de livres ont peu à proposer d’aussi attrayant si bien qu’une grande partie de la production n’est même pas recensée et sombre dans l’oubli. Les éditeurs en sont alors réduits à acheter des annonces aux journaux. Depuis l’innovation des abonnements à moitié prix lancés par Emile de Girardin avec la Presse et Armand Dutacq avec le Siècle, les quotidiens ne peuvent en effet trouver leur équilibre qu’en augmentant continument la place de la publicité. 4 Balzac est particulièrement informé de la dépendance économique de la presse puisqu’il a lui-même dirigé un journal (la Chronique de Paris en 1836 5 ) et une revue, la Revue parisienne en 1840 très vite en déconfiture faute de cette ressource et dont il paie encore les dettes. Curieusement, bien qu’il publie ses propres romans en feuilleton depuis 1835, il n’a jamais réussi à gagner beaucoup d’argent avec la presse et la rancœur qui s’exprime dans sa monographie tient notamment à sa jalousie du succès remporté par Eugène Sue au même moment avec ses fameux Mystères de Paris publiés dans le Journal des Débats en 1842–1843. De même, son hostilité aux critiques dramatiques s’explique par des motifs personnels précis. Ses tentatives au théâtre 6 , notamment l’année précédente avec les Ressources de Quinola à l’Odéon (19 mars 1842), ne lui ont jamais rapporté les sommes mirifiques qu’il en attendait 7 alors que certains auteurs dramatiques, bien traités par les feuilletonistes qu’il dénonce ici, amassent des fortunes comme Scribe. Pour surmonter cette aigreur sous-jacente, Balzac adopte un ton apparemment objectif qui masque mal ses partis-pris et ses règlements de comptes avec ce monde qu’il côtoie par force, mais méprise au nom de la haute idée qu’il se fait de la fonction du romancier définie dans la avant-propos de la Comédie humaine quelques mois plus tôt. 8 Quelle est la valeur historique de ce texte ? Est-ce seulement le témoignage d’un écrivain en colère contre son temps et ses confrères ; est-ce une analyse pertinente que l’historien des professions littéraires et de la culture peut reprendre à son compte aujourd’hui ? Balzac, malgré ses engagements idéologiques et notamment sa haine du mercantilisme de la Monarchie de Juillet, régime qu’il méprise parce qu’il corrompt les journaux pour que l’opinion publique soit de son côté (cf. « immoralité des conditions législatives »), a bien perçu le tournant que vient de prendre la presse. 4 5 6 7 8

Charle, Christophe, Le siècle de la presse, Paris 2004, p. 46–48; Therenty, Marie-Ève; Vaillant, Alain, 1836. L’an I de l’ère médiatique, Paris 2001. Cf. Baudouin, Patricia, Balzac directeur de la Chronique de Paris, in: L’année balzacienne 7 (2006), p. 237–256. L’Ecole des ménages en 1839, Vautrin (1840), pièce interdite, Paméla Giraud en 1843, etc. Bouvier, René; Maynial, Édouard, Les comptes dramatiques de Balzac, Paris 1938, p. 359 s. « Avec beaucoup de patience et de courage, je réaliserais, sur la France au dix-neuvième siècle, ce livre que nous regrettons tous, que Rome, Athènes, Tyr, Memphis, la Perse, l’Inde ne nous ont malheureusement pas laissé sur leurs civilisations […] », in: Balzac, Honoré de, Avant-propos de la Comédie humaine (1842), in: Œuvres complètes, Paris 1956, p. 66 et s.

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Certains directeurs de journaux essaient depuis 1836 d’abaisser leur prix de vente pour conquérir de nouveaux lecteurs. Pour rétablir l’équilibre financier, la publicité est de plus en plus indispensable, il faut donc plaire aux annonceurs et procurer des ressources annexes aux journalistes. Cette publicité rédactionnelle ne concerne pas que le théâtre, comme l’écrit Balzac, mais elle y est cruciale. Dans une ville où la concurrence théâtrale avec près de 20 théâtres est féroce et où plus de 10.000 pièces ont été jouées dans la première moitié du siècle, tous les coups sont permis : La corruption des journaux (places gratuites) et du public (usage de la claque, c’est-à-dire de spectateurs stipendiés pour applaudir et donner une bonne image des premières représentations) est monnaie courante. De plus le théâtre, à la différence du livre, dispose d’une arme supplémentaire évoquée par Balzac : Comme le public est essentiellement concentré dans le centre de Paris, les affiches apposées sur les murs remplacent les annonces des journaux ou atténuent les effets de la critique dramatique. 9 En revanche, pour le livre dont les tirages sont malgré tout modestes (1.000–2.000 exemplaires en moyenne) et qui doit être distribué sur un vaste territoire pour trouver suffisamment de lecteurs, les annonces demeurent essentielles. A un second niveau, Balzac met le doigt sur un autre problème de la vie culturelle du début des années 1840 : La production croissante de volumes imprimés se heurte, malgré là aussi une tentative de baisse des prix à partir de 1838 (lancement du format Charpentier in 18 à 3f50), à une double difficulté. Les grands journaux publient maintenant les romans en feuilleton, ce qui concurrence la diffusion classique des livres puisqu’on peut louer les journaux dans les cabinets de lecture pour beaucoup moins cher qu’un volume acheté en librairie ou loué dans un cabinet de lecture. Pour faire connaître les livres nouveaux, la publicité n’est pas non plus aussi efficace. Elle ne peut concerner que les livres les plus faciles ou de forte vente. La publicité par ailleurs renchérit avec le développement d’une économie de consommation qui propose d’autres produits de plus forte vente et capable de payer les réclames au prix fort : « La littérature et l’industrie ont payé le timbre et la poste des journaux, du jour où les annonces ont valu deux cent mille francs par an. » Enfin une publicité payante a beaucoup moins d’impact qu’un article critique apparemment sincère et non stipendié, même si, là aussi, Balzac avait déjà souligné dans Illusion perdues combien la critique était prise dans des jeux d’influence et de renvois d’ascenseur. Pourtant, au final, Balzac n’est pas complètement désespéré par cette commercialisation de la culture liée à l’emprise de la presse. Il risque même un raisonnement utopique : Si le gouvernement levait les taxes (« le jour où les droits de poste et de timbre ne coûteront ensemble qu’un centime »), la critique pourrait refleurir puisque le journal pourrait renoncer à une partie de la publicité ce qui laisserait de l’espace pour un feuilleton littéraire sérieux. En fait, l’histoire ultérieure de la presse n’a pas du tout confirmé cet espoir. Malgré la baisse des taxes (en particulier en Angleterre à partir de 1836 et beaucoup plus tard en France), la 9

Cf. « Le théâtre peut se passer d’annonces, en jaunissant tous les coins de rue de ses affiches quotidiennes. »

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place de la publicité n’a cessé d’augmenter tandis que la volonté des journaux de toucher de nouvelles couches de lecteurs leur a fait réduire leur fonction culturelle au profit de leur fonction distractive. Le dernier paragraphe quitte ce ton dénonciateur pour revenir à la fonction descriptive des spécificités parisiennes : « Le feuilleton est une création qui n’appartient qu’à Paris. » On retrouve là un lieu commun (en partie faux) qu’entretiennent les écrivains français sur la capitale : Ville de l’esprit, ville de la critique, l’opinion des salons et des lettrés y trouverait son débouché dans ce type d’article, mi sérieux mi critique ou humoristique et dont les autres pays, réputés ennuyeux et guindés, n’auraient pas le secret. Balzac enfourche là des lieux communs sur « l’esprit parisien » qui traînent dans tous les Tableaux de Paris depuis le XVIIIe siècle. 10 Il reprend toutefois son ton critique quand il dénonce le fait que les feuilletons traitent les sujets sérieux et les sujets frivoles de la même façon (« la Science et la Mode ») ; il en résulte une débauche d’énergie et une incapacité à approfondir la réflexion critique, trait régulièrement dénoncé par les visiteurs étrangers étonnés par cette ronde permanente des idées et des modes. Après ce bref passage de lieux communs, Balzac reprend son diagnostic critique en soulignant combien sont rares les vrais talents de plume dans le monde des feuilletonistes puisque 10 pour cent seulement (« 2 sur 20 ») disposent, selon lui, de la verve nécessaire. Pour les initiés, cédant lui aussi à la « camaraderie littéraire » qu’il stigmatisait au début du texte, il risque même une allusion à un critique en vue (« un de nos poètes les plus distingués ») pour en faire l’éloge. On peut conjecturer que Balzac désigne ici Théophile Gautier qui a collaboré à sa Chronique de Paris et tient effectivement un feuilleton dans la Presse de Girardin à l’époque. Au total cet extrait souligne à la fois la clairvoyance de l’auteur sur les changements structurels qui affectent la vie culturelle avec la poussée des journaux dépendant de la publicité et l’importance de la culture du divertissement (vaudeville et mélodrame) au détriment de l’ambition littéraire portée par le roman de mœurs ou le théâtre romantique. Pour autant, Balzac ne sombre pas dans le pessimisme de Sainte-Beuve qui dénonçait sans nuance la « littérature industrielle » et la décadence de la position des créateurs au profit des médiateurs en 1839 dans la Revue des deux mondes. Dans la concurrence des figures symboliques de l’écrivain qui s’affrontent dans la première moitié du XIXe siècle, Balzac reste dans un entre-deux : Critique face à la corruption la plus cynique incarnée par les journalistes vénaux, les auteurs de pièces à la chaîne (« les pièces manufacturées aujourd’hui comme des bas ou du calicot »), les feuilletonistes complaisants, il veut croire qu’une vraie liberté de la presse avec moins de taxes et une défense collective du droit des auteurs (il a été l’un des fondateurs animateurs de la Société des gens de lettres en 1838) permettraient l’épanouissement d’une littérature de professionnels vivant honorablement de leurs gains, jugés sur pièce par une critique honnête et qui sortiraient leur public de son infantilisme et de ses bas instincts : 10 Donato, Maria Pia; Lilti, Antoine; Van Damme, Stéphane, La sociabilité culturelle des capitales à l’âge moderne: Paris, Londres et Rome (1650–1820), in: Charle, Christophe (dir.), Le temps des capitales culturelles XVIIIe–XXe siècles, Champ Vallon 2009, p. 55 et s.

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« La loi de l’écrivain, ce qui le fait tel, ce qui, je ne crains pas de le dire le rend égal et peut-être supérieur à l’homme d’Etat, est une décision quelconque sur les choses humaines, un dévouement absolu à des principes » écrit-il dans l’avantpropos de la Comédie humaine. Cette revendication d’un statut d’intellectuel avant la lettre (Balzac de manière prémonitoire avait forgé le néologisme « intelligentiel ») est bien loin de ce noir tableau proposé dans ce texte d’humeur. Cette tension entre l’ambition symbolique et politique d’une minorité qui conteste les règles du jeu dominantes et les contraintes marchandes qui s’exercent sur la très grande majorité des professions intellectuelles dans la société moderne dessine la ligne de faille majeure de l’histoire sociale du champ intellectuel et médiatique jusqu’à nos jours. Littérature Charle, Christophe, Le champ de la production littéraire, 1830–1890, in: Chartier, Roger; Martin, Henri-Jean (dir.), Histoire de l'édition française, tome 3, Paris 1985, p. 127– 157. Diaz, José-Luis, Balzac analyste du journalisme, in: L’Année balzacienne 7 (2006), p. 215–235. Kalifa, Dominique; Régnier, Philippe; Thérenty, Marie-Ève; Vaillant, Alain (dir.), La civilisation du journal, Paris 2012.

Quelle Honoré de Balzac : Monographie de la presse parisienne (1843) 11 Voici, de tous ces gâte-papier, le sous-genre le plus heureux : il vit sur les feuilles comme un ver à soie, tout en s’inquiétant, comme cet insecte, de tout ce qui file. Les feuilletonistes, quoi qu’ils disent, mènent une vie joyeuse, ils règnent sur les théâtres ; ils sont choyés, caressés ! Mais ils se plaignent du nombre croissant des premières représentations, auxquelles ils assistent en de bonnes loges, avec leurs maîtresses. Chose étrange ! Les livres les plus sérieux, les œuvres d’art ciselées avec patience et qui ont coûté des nuits, des mois entiers, n’obtiennent pas dans 1es journaux la moindre attention et y trouvent un silence complet ; tandis que le dernier vaudeville du dernier théâtre, les flonflons des Variétés12 , nés de quelques déjeuners, enfin les pièces manufacturées13 aujourd’hui comme des bas ou du calicot, jouissent d’une 11 Balzac, Honoré de, Monographie de la presse parisienne, in: Kock, Paul de, La grande ville. Nouveau tableau de Paris. Comique, critique et philosophique, Paris 1844, p. 182–183, URL: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k2067833/f201.image.r=Nouveau+Tableau+de+Paris.lang FR (22.03.2012). 12 Il s’agit du Théâtre des Variétés un des théâtres du Boulevard spécialisés dans la comédievaudeville accompagnée de musique (« flons-flons) où triomphe régulièrement un auteur comme Scribe. 13 « Pièces manufacturées »: les nombreuses pièces de l’époque étaient écrites le plus souvent à plusieurs en fonction de recettes et de mécanismes particulièrement éprouvés d’où la comparaison à une industrie.

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analyse complète et périodique. Ce travail exige dans tous les journaux un rédacteur spécial, annaliste des gravelures de la Déjazet14 , historien des répétitions kaléidoscopiques de sept situations incessamment remuées dans une lorgnette. Ce rédacteur, le Panurge du journal, se plaint, comme les sultans, d’avoir trop de plaisir ; il a le palais saturé d’ambroisie ; il plie sous le faix de quinze cents actes par an, sur lesquels se promène son scalpel et que goûte sa plume. Comme un cuisinier qui appelle parfois l’eau de Sedlitz pour se ranimer le goût, il va voir les Funambules.15 Pourquoi ce privilège accordé à cette mousse de vin de Champagne, sur l’art littéraire ? Ceci tient à une question mercantile horrible, qui dévoile l’immoralité des conceptions législatives, sous le poids desquelles se trouvent tous les journaux. Le théâtre paye le journal en plaisir ; il bourre les rédacteurs de toute espèce, les gérants, les maîtres Jacques, un chacun, de billets, de loges et de subventions ; tandis que le libraire, dont les produits ne peuvent s’enlever que par la plus grande publicité, paye le journal en écus. Si le journal analysait les livres, comme il analyse les pièces de théâtre, les annonces de la librairie seraient inutiles. Or, depuis le jour où la quatrième page des journaux est devenue le champ fertile où fleurissent les annonces, la critique des livres a cessé. Ceci est une des causes de la diminution progressive de la vente des ouvrages littéraires, à quelque catégorie qu’ils appartiennent. La littérature et l’industrie ont payé le timbre et la poste des journaux, du jour où les annonces ont valu deux cent mille francs par an. D’abord, le théâtre peut se passer d’annonces, en jaunissant tous les coins de rue de ses affiches quotidiennes ; puis il n’a pas l’insensibilité du livre. Avec ses actrices, ses danseuses, ses cantatrices, il s’adresse aux sens et à l’amour-propre ; il envoie des loges, il reçoit tous les soirs la légion de la presse ; car la presse compte plus de cinq cents entrées gratuites aux théâtres de Paris, parmi lesquelles il s’en présente tout au plus dix par soirée. Entre l’argent à empocher et le gouvernement de la plus belle partie de l’intelligence, la presse n’a pas hésité : elle a pris l’argent et a résigné le sceptre de l’article de fond. Le jour où les droits de poste et de timbre ne coûteront ensemble qu’un centime, la critique littéraire et scientifique sera tout aussi nécessaire dans un journal que le roman publié maintenant par feuilleton. Geoffroy fut le père du feuilleton.16 Le feuilleton est une création qui n’appartient qu’à Paris, et qui ne peut exister que là. Dans aucun pays, on ne pourrait trouver cette exubérance d’esprit, cette moquerie sur tous les tons, ces trésors de raison dépensés follement, ces existences qui se vouent à l’état de fusée, à une parade hebdomadaire incessamment oubliée, et qui doit avoir l’infaillibilité de l’almanach, la légèreté de la dentelle, et parer d’un falbalas la robe du journal tous les lundis. Maintenant, tout en France a son feuilleton. La science et la mode, le puits artésien et la guipure ont leur tribune dans les journaux. Baudet et Arago, Biot et Nattier se coudoient dans les comptes rendus.17 Cette vivacité de production spirituelle fait de Paris aujourd’hui la capitale la plus amuseuse, la plus brillante, la plus curieuse qui fut jamais. 14 Déjazet: Virginie Déjazet (1798–1875) était une actrice des Variétés et des Nouveautés célèbre pour sa langue acérée et ses allusions ambiguës (cf. « gravelures »); un théâtre portera son nom par la suite. 15 Funambules: théâtre du boulevard du Temple spécialisé dans les pantomimes. Balzac amateur de beau monde méprisait cette partie du théâtre. 16 Julien Louis Geoffroy (1743–1814), critique dramatique au Journal des débats. 17 Par cette énumération éclectique de noms, Balzac souligne la variété des contenus des feuilletons: Baudet, graveur du XVIIe siècle; François Arago (1786–1853): astronome et vulgarisateur scientifique; Jean-Baptiste Biot (1774–1862): physicien, professeur à la Sorbonne, membre de l’Institut, auteur de traités célèbres; Jean-Marc Nattier (1685–1766) peintre.

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Christophe Charle

C’est un rêve perpétuel. On y consomme les hommes, les idées, les systèmes, les plaisanteries, les belles œuvres et les gouvernements, à faire envie au tonneau des Danaïdes. Le métier de feuilletoniste est si difficile, qu’il n’en est que deux sur vingt qui se fassent lire avec plaisir, et dont la verve soit attendue le lundi. L’un des deux est un de nos poètes les plus distingués.

DAS EUROPA DER KONSUMENTEN: KONSUMKULTUR, KONSUMENTENMORAL UND KULTURKRITIK UM 1900 UND 2000 1 Harald Homann Im Zuge der Ausprägung kultur- und alltagshistorischer Fragestellungen, darauf hat Hannes Siegrist aufmerksam gemacht 2 , wird auch die Geschichte des Konsums zunehmend auf der Ebene der dazugehörigen Aneignungs- und Deutungsprozesse untersucht. War der Konsum ursprünglich eher ein Thema der wirtschaftsund sozialgeschichtlichen Forschung, werden seither auch deutungsorientierte Fraugestellungen und Probleme der kulturellen Repräsentation durch Konsum, wie sie in den Sozialwissenschaften prominent sind, in die historische Forschung einbezogen. Je länger und intensiver unter dieser Perspektive geforscht wird, desto deutlicher wird, dass in modernen Gesellschaften die soziale Wirklichkeit einer permanenten Aushandlung unterliegt. Das gilt auch und gerade für den modernen Konsum. Lange Zeit hat die Forschung diese Aushandlungsprozesse auf der Achse einer idealtypischen Vorstellung von sozialen Modernisierungsprozessen als mehr oder weniger atavistische Kämpfe insbesondere antimoderner Strömungen gedeutet. Auch heute noch firmieren in vielen konsumhistorischen Darstellungen idealtypische Konsum- und Kulturkritiker als Repräsentanten elitärer oder kulturkonservativer Außenseiterpositionen, die sich gegen den Lauf der Dinge stemmen. Durch solche vereinfachten und plakativen Darstellungen wird allerdings der Blick darauf verstellt, dass es bereits um 1900 nicht nur vereinzelte Auseinandersetzungen mit dem Phänomen des Konsums gab. Vielmehr entstanden und institutionalisierten sich mit den sich selbst so nennenden Käuferligen zunehmend europaweit vernetzte Bewegungen, die die soziale Realität des Konsums wahrnahmen und akzeptierten, zugleich aber einer diskursiven Ordnung unterwerfen wollten, die nicht von einer unabänderlichen Naturwüchsigkeit sozialer Prozesse überzeugt war. 3 Ihr Ansatzpunkt war der Versuch, den Einkauf als kulturelle Handlung zu kodieren. 4 In der Sprache der Zeit geht es um eine Frage der Moral des Konsu-

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Essay zur Quelle: Konsumentenerziehung in Europa im 20. Jahrhundert: Satzungen und Geschäftsbericht des Käuferbund Deutschland (1907) und des Vereins TransFair (2010). Vgl. Siegrist, Hannes, Konsum, Kultur und Gesellschaft im modernen Europa, in: Siegrist, Hannes; Kaelble, Hartmut; Kocka, Jürgen (Hgg.), Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt am Main 1997, S. 13–49, hier S. 14f. Grundlegend jetzt: König, Gudrun M., Konsumkultur. Inszenierte Warenwelt um 1900, Wien 2009, bes. Kapitel 9; zeitgenössisch: Wolff, Hellmuth, Die soziale Käuferliga, Zürich 1908. Breuer, Robert, Der Einkauf als kulturelle Handlung, in: Deutsche Kunst und Dekoration 21 (1907/1908), S. 78–82.

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menten und des Konsumierens. 5 Eine mit dieser Kodierung angestrebte Erziehung des Konsumenten sollte zu bewusstem Konsumieren führen und dadurch die Bedingungen der Produktion verändern mit dem Ziel, die sozialen Folgen des (Massen-)Konsums, die als Verelendung gedeutet wurden, zu lindern oder zu heilen. So erwies sich auch der moderne Konsument um 1900 als ein durch zeitgenössische Deutungen konstruiertes Bild des Käufers, der institutionellen Formen der Erziehung unterworfen werden sollte. Der Konsument sollte einen bewussteren, einen professionelleren Umgang mit dem Konsum einüben. Das war die Zweckbestimmung, die sich der neue, in Vereinen und Verbänden organisierte Akteur Käuferliga gab. Die Praxis des Einkaufens wurde der kulturellen Deutung unterworfen. Damit wurden erste Schritte zu einer Trennung von Experten und Laien in diesem sozialen Feld vollzogen. Und durch Erziehungsarbeit vollzogen die Experten Schritte zur Professionalisierung des Einkaufens. Das Erziehungsziel war der informierte, aufgeklärte und professionalisierte Konsument. Lange ist die Grundidee einer Verankerung und Schärfung der Konsumentenmoral zur Veränderung von als sozial ungerecht interpretierten Produktions- und Distributionsbedingungen historiografisch unbeachtet geblieben. Doch sie ist nicht nur historisch, sondern auch aktuell prominent. Heutige konsum- und globalisierungskritische Organisationen wie FairTrade setzen mit gleichen Zielvorstellungen an dem gleichen individuellen Akt des Einkaufens und Konsumierens an wie vor hundert Jahren. 6 Die FairTrade-Bewegung entstand in den 1950er-Jahren in den USA aus religiös motivierten Ansätzen. Der als ungerecht empfundene internationale Handel sollte durch direkten Einkauf bei den bäuerlichen Produzenten in den Entwicklungsländern gerechter gestaltet werden. Die Bewegung hat sich seither weltweit verbreitet und vernetzt. Parallel zu dieser Expansion entwickelte sich eine zunehmende Tendenz der Professionalisierung dieses ursprünglich rein bürgerschaftlichen und ehrenamtlichen Engagements, wie es auch bei anderen Nichtregierungsorganisationen zu finden ist. 7 Im historischen Vergleich erscheint diese Professionalisierung weniger als Gegensatz zu den historischen Käuferligen denn als eine spezifische Form der institutionellen Weiterentwicklung der in ihnen angelegten Handlungslogiken. Versteht man, gemäß einer im weiteren Sinne kulturhistorischen Fragestellung, Geschichte als Ort der Auseinandersetzung von Akteuren, die Realität deuten und diese Deutungen verhandeln, können also bisher wenig beachtete Phänomene erschlossen werden. Das gilt insbesondere dann, wenn deren Funktion bei der Ausdifferenzierung von Rollen, Institutionen und Praktiken untersucht wird, die neue Felder der sozialen Realität kulturellen Deutungen unterwerfen. Dieser 5 6 7

Vgl. Stehr, Nico, Die Moralisierung der Märkte. Eine Gesellschaftstheorie, Frankfurt am Main 2007. Wissenschaftliche Literatur zur FairTrade Bewegung ist rar und bezieht sich vor allem auf die ökonomischen Fragen. Vgl. Le Mare, Ann, The Impact of Fair Trade on Social and Economic Development: A Review of the Literature, in: Geography Compass 2 (2008), S. 1922–1942. Institut für Mittelstandsforschung (Hg.), Trends der Professionalisierung in Nonprofit-Organisationen. Ergebnisse einer Befragung von Nonprofit-Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit in Deutschland, Mannheim 2010.

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Blick auf aktive Ausdifferenzierungsprozesse bewährt sich auch für das Verständnis der europäischen Konsumgeschichte. Hundert Jahre liegen zwischen den ersten Schritten der Institutionalisierung der Konsumentenerziehung und ihrer aktuellen Ausprägung in Gestalt von professionalisierten Organisationen. Im 1907 gegründeten Käuferbund Deutschland, der sich von Beginn an als Teil einer europaweiten und darüber hinausgehenden Bewegung verstand, verbanden sich unterschiedliche Bestrebungen. So wurde um 1900 der Einkauf zunehmend als konstitutiver Akt des Konsums verstanden und mit weitreichenden Deutungen aufgeladen. 8 Für bürgerliche Frauen und Männer sollte er eine sittlich-moralische Qualität annehmen und sich darüber hinaus mit nationalen Zielen verbinden. 9 Seit der Genossenschaftsbewegung im 19. Jahrhundert und der Entstehung der Konsumgenossenschaften waren Ideen des selbst organisierten Verbraucher- und Konsumentenschutzes in den sozialreformerischen Kreisen des Bürgertums verbreitet. Das galt aber auch für die Vertreter der Sozialdemokratie und der frühen Sozialwissenschaften. 10 Die politische Bedeutung des Kaufens war in Europa mit den revolutionären Bewegungen zu Tage getreten. 11 Zudem hatten die Sozialreformer des Vereins für Socialpolitik in den 1880er- und 1890er-Jahren den Verbraucherschutz und den Arbeiterschutz in den größeren Rahmen der Socialpolitik gesetzt. 12 So wurden erstmals Verbraucherschutz und Arbeitsschutz systematisch miteinander verbunden. Die institutionelle und organisatorische Verwirklichung dieser Verbindung war der in Berlin gegründete Käuferbund Deutschland, „eine Vereinigung von Männern und Frauen aller Konfessionen und Richtungen, welche, als Käufer und Konsumenten, sich ihrer Verantwortung gegenüber den Heimarbeitern, Werkstättenarbeitern und Handelsangestellten bewusst sind und eine Verbesserung der Arbeitsverhältnisse derselben erstreben“. 13

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Vgl. zum Selbstverständnis und den Zielen des Käuferbundes die hier abgedruckten Quellenausschnitte von 1907. Katscher Leopold, Käuferorganisation und Konsumentenmoral, in: Kultur und Fortschritt, neue Folge der Sammlung Sozialer Fortschritt, Hefte für Volkswirtschaft, Sozialpolitik, Frauenfrage, Rechtspflege und Kulturinteressen 252 (1909). Kautsky, Karl, Konsumenten und Produzenten, in: Die neue Zeit. Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie 30 (1912), S. 452–464; Bernstein, Eduard, Das Consumenteninteresse und der Heimarbeiterschutz, in: Sozialistische Monatshefte 8 (1904), S. 190–194. Grau, Ute; Guttmann, Barbara, Fahnenstricken, patriotische Einkaufen und der ‚weibliche Terrorismus‘. Frauen in der Revolution von 1848/49 in Baden, Eggingen 2002. Diese Ideen wurden darauf unter dem Stichwort des ‚Kathedersozialismus’ zum Ausgangspunkt weitreichender und scharfer politischer und sozialwissenschaftlicher Kontroversen bis hin zum ökonomischen ‚Methodenstreit‘. Vgl. Gorges, Irmela, Sozialforschung in Deutschland 1872–1914. Gesellschaftliche Einflüsse auf Themen- und Methodenwahl des Vereins für Socialpolitik, Königstein, Ts. 1980; Plessen, Marie-Louise, Die Wirksamkeit des Vereins für Socialpolitik von 1872–1890. Studien zum Katheder- und Staatssozialismus, Berlin 1975. Käuferbund (Deutschland), Erster Geschäftsbericht. Erstattet in der Hautversammlung am 23. November 1907 von A.W. Schneider, Berlin 1908. Im Folgenden stammen alle Quellenzitate, soweit nicht anders vermerkt, aus den hier abgedruckten Quellenausschnitten.

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Gegründet und getragen wurde er insbesondere von Frauen des gehobenen Bürgertums mit besten Kontakten zu sozialreformerischen Wissenschaftlern und Politikern. 14 Er war Teil einer sich europaweit und international vernetzenden Bewegung, die 1891 mit der Gründung der New York City Consumer League ihren Anfang nahm. Ihr Ziel war die Verbesserung der Arbeitssituation der Arbeiter und Verkäufer. Schon 1899 schlossen sich die einzelnen amerikanischen Ligen zur National Consumers’ League, die heute noch existiert, zusammen und verwendeten als Wahlspruch einen Satz der ersten Generalsekretärin Florence Kelley von 1899: „To buy means to have power, to have power means to have responsibility.” 15 Dadurch angeregt, gründeten sich 1902 in Frankreich und 1906 in der Schweiz ebenfalls Käuferligen und bereits 1908 fand in Genf der erste Internationale Kongress der Käuferligen statt. Auf dem zweiten Kongress 1913 in Antwerpen waren Vertreter aus den USA, Frankreich, Belgien, der Schweiz, Spanien und Deutschland. Diese auch zeitgenössisch als soziale Käuferligen bezeichneten Projekte waren bürgerliche Projekte, die sich der Bearbeitung der sozialen Frage widmeten, die um 1900 als Frage des Konsums und der Konsumentenmoral interpretiert wurde. Die ideenpolitischen und ideologischen Grundlagen dieser Bewegung waren vielgestaltig und heterogen, wodurch sie eine relativ hohe Anschlussfähigkeit für unterschiedliche Akteure besaß. Philanthropische, religiöse und sozialreformerische Motivationen standen neben Überschneidungen mit dem Sozialmilieu und Gedankengut der Lebensreformbewegungen. Gewerkschaftlich orientierte, sozialdemokratische und konservative Strömungen trafen in den Debatten um die Erziehung des Publikums zur Konsumentenmoral aufeinander. Einig war man sich in der Grundidee, den Akt des Konsums und Einkaufens kulturell zu interpretieren, ihn also bewusst als Akt des individuellen Handelns zu verstehen. Der Käufer sollte über diesen Akt aufgeklärt werden, es sollten ihm Entscheidungsspielräume gezeigt werden und sein Kaufverhalten sollte dadurch verändert werden. 16 Der Käufer sollte beim Kauf von Waren deren Entstehung und die sozialen Kosten der Distribution mit bedenken. Durch das im Effekt veränderte Käuferverhalten sollten sich dann die Arbeitsbedingungen in der Produktion und Distribution verbessern. Damit die Käufer hierzu einen bewussten Beitrag leisten konnten, schlugen die Käuferligen eine Art labeling vor. 17 Durch Befragungen und Erhebungen der Käuferligen wurden die Produktionsbedingungen in Betrieben untersucht und daraufhin geprüft, ob die Bedingungen des Arbeitsschutzes, der Arbeitszeit und des Kranken- und Kündigungsschutzes überdurchschnittlich ausgeprägt waren und den Kriterien des Käuferbundes entsprachen. Entsprechen14 Für das folgende vgl. König, Konsumkultur, S. 304ff. 15 Vgl. National Consumers League, URL: http://www.nclnet.org (23.08.2011). 16 Vgl. Salomon, Alice, Die Macht der Käuferinnen, in: Dies., Soziale Frauenpflichten. Vorträge, gehalten in deutschen Frauenvereinen, Berlin 1902, S. 113–136; Bode, Wilhelm, Die Macht der Konsumenten, Weimar 21902. 17 Dies übernahmen sie von der amerikanischen National Consumers’ League. Vgl. Sklar, Kish, The Consumers’ White Label Campaign of the National Consumers’ League, in: Strasser, Susan; McGovern, Charles; Judt, Matthias (Hgg.), Getting and Spending. European and American Consumer Societies in the Twentieth Century, Washington 1998, S. 17–35.

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de Unternehmen und Geschäfte, die diese Kriterien erfüllten, wurden in einer Weißen Liste aufgenommen und mit einem Signet versehen. Sie konnten damit, quasi ein Zertifizierungsnachweis, in ihren Verkaufsstellen öffentlich werben. Das bewusste Einkaufen zertifizierter Hersteller und ihrer Waren sollte eine Verschiebung im Konsumverhalten bewirken, die Arbeitsbedingungen und damit einhergehend auch die Qualität der Waren verbessert werden. Der Käuferbund organisierte darüber hinaus Werbekampagnen für seine Ziele, hielt Tagungen ab und veröffentlichte Broschüren und Material: „Die […] Aufgabe des Käuferbundes besteht in der propagandistischen Tätigkeit, um das Publikum zur Konsumentenmoral zu erziehen.“

Zu diesem Zweck wurde zudem eine große kritische Heimarbeiterausstellung organisiert, die die Produktionsbedingungen sichtbar machte, unter denen die Waren hergestellt wurden. In der bisherigen deutschen sozial- wirtschafts- und kulturhistorischen Literatur zur Entstehung des Konsums und der Konsumgesellschaft spielen die internationalen Käuferligen und der deutsche Käuferbund keine Rolle. Erst die Pionierarbeit von Gudrun M. König hat auf diese früh organisierte und institutionalisierte Form der kritischen Auseinandersetzung mit der voll entwickelten Form des modernen Konsums hingewiesen. Dadurch wird es möglich, auch aktuelle Formen der Organisation von Konsumentenmoral mit vergangenen Formen zu vergleichen und sie dadurch zu historisieren. Als Vergleich sei hier die FairTrade-Bewegung genommen, die sich seit den 1960er-Jahren international verbreitet und organisiert hat. Nach verschiedenen Anläufen wurde 1992 unter dem TransFair ein entsprechender Verein gegründet. Wie bei dem Käuferbund sollen hier die in der Satzung formulierten Ziele sowie einige im Internet verfügbare Broschüren zur Analyse herangezogen werden. 18 Für unseren Zweck werden die Satzungen dabei als bekenntnishafte Selbstinterpretation und -festlegung der Akteure genutzt. Nahezu 100 Jahre trennen die ausgewählten Quellenausschnitte. Die Gesellschaften von 1900 und 2000 unterscheiden sich in wichtigen sozialen Dimensionen, technische, wissenschaftliche, kulturelle und politische Formen haben sich dramatisch geändert. Doch in den Überlegungen zu den Zielvorstellungen, Mitteln und Methoden zur Weckung und Hebung der Konsumentenmoral bestehen eklatante Übereinstimmungen in beiden Organisationen. Die Satzungen bieten einen nahezu identischen Aufbau und Inhalt. Hauptansatzpunkt ist die Identifizierung der sozialen Strukturen der Produktion der Waren. Diese werden als sozial ungerecht, als Missstand interpretiert, den es zu bekämpfen gilt. Ziel ist es, eine sozial gerechtere Produktion zu erreichen. Dazu bedarf es der aufklärenden Beeinflussung der öffentlichen Meinung und der Veränderung des Konsumentenverhaltens. Das Ziel von TransFair sei es, „die am meisten benachteiligten Menschen innerhalb des globalen Handelssystems“ zu stärken und „durch verantwortlichen Han18 Vgl. Satzung des Vereins TransFair in der Fassung vom 28.10.2010. Im Folgenden stammen alle Quellenzitate, soweit nicht anders vermerkt, aus dem hier abgedruckten Quellenausschnitten.

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del die Armut im globalen Süden abzubauen“. 19 Ebenfalls nahezu identisch sind die Mittel der Organisationen: öffentliche Aktionen, Öffentlichkeitsarbeit, Pressemitteilungen. So werden im Jahresbericht 2010/2011 mit dem Titel Fair Trade bewegt laufende und zukünftige Projekte vorgestellt, Mitgliedsvereine und Partnerorganisationen präsentiert. Als primäre Adressatengruppen können in beiden Fällen bürgerliche Schichten ausgemacht werden 20 , wobei TransFair eher allgemein vom reichen Norden spricht, dessen Konsumenten Verantwortung tragen sollten, wozu es eines „Bewusstsein(s) für verantwortungsvollen Konsum“ bedürfe. 21 Auch die Gruppe der Hilfsbedürftigen wird durch beide Organisationen ähnlich bestimmt: Es sind die deprivilegierten Arbeiter, Angestellten oder benachteiligte Kleinproduzenten in den peripheren Entwicklungsländern. Beide rufen die Konsumenten auf, durch ihr individuelles Handeln (Kaufen), die Lage der aus der modernen Konsumgesellschaft Ausgeschlossenen oder an der Peripherie Lebenden zu verändern. „Jede und Jeder kann beim Einkaufen die Welt ein Stück gerechter gestalten, indem er auf das FairTrade-Siegel achtet.“ 22 In den verteilten Werbematerialien werden entweder, wie im Fall der Käuferliga, Heimarbeiterinnen der Berliner Bekleidungsbranche oder, wie bei TransFair, südamerikanische Kaffee- oder Kakaobauern zur Veranschaulichung der sozialen Probleme vorgestellt. Als Sympathieträger sollen sie ethischen Konsum bewirken. Neben diesen Gemeinsamkeiten gibt es ebenso Unterschiede zwischen Käuferbund und TransFair. Der Käuferbund strebt die Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiter und Arbeiterinnen in Deutschland an, TransFair die der Arbeiter und Arbeiterinnen in den Entwicklungsländern. Das könnte auf die veränderten Formen des globalisierten Handels verweisen, wahrscheinlicher aber ist es, dass um 1900 nur eingeschränkt Informationen über die Produktionsbedingungen in den Kolonialgebieten und außereuropäischen Regionen verbreitet waren. Die Dringlichkeit stellte sich so eher im nationalen und europäischen Zusammenhang, zumal ein weitgehend nationalisiertes bürgerliches Selbstverständnis herrschte. Das verhinderte allerdings nicht die Interpretation der selbstgestellten Erziehungsaufgabe als gemeinsame Aufgabe auf internationaler und vor allem auf europäischer Ebene. Angestrebt wurde eine Internationalisierung der eigenen Bestrebungen. Ein Unterschied in der Argumentation lässt sich allerdings auf einer anderen Deu19 TransFair e.V. (Hg.), Fairtrade bewegt. TransFair-Jahresbericht 2010/2011, Köln 2010, URL: http://www.fairtrade-deutschland.de/fileadmin/user_upload/materialien/download/downlaod_jahresbericht_2010_2011.pdf (23.08.2011). 20 Vgl. Spiekermann, Uwe, Rationalitäten im Widerstreit. Die Bildung der Präferenzen am Beispiel des deutschen Lebensmittelmarktes im 20. Jahrhundert, in: Berghoff, Hartmut; Vogel, Jakob (Hgg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt am Main 2004, S. 197–217, hier S. 208. Spiekermann zeigt, dass die Nachfrage nach ethischem, ökologischem und nachhaltigem Konsum steigt und in der bürgerlichen Mitte der Gesellschaft angekommen ist. 21 TransFair e.V., TransFair-Jahresbericht, S. 4. 22 TransFair e.V. (Hg.), 15 gute Gründe für Fairtrade. Zum kleinen Jubiläum der Siegelinitiative Transfair, o.O., 2007, S. 18, URL: http://www.fairtradedeutschland.de/fileadmin/user_uplad/ materialien/download/download_jubilaeumsbroschuere_15jahre.pdf (23.8.2011).

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tungsebene finden. So betont die TransFair-Argumentation deutlich einen spezifischen Zusatznutzen des sozialen Konsumierens für den Käufer gegenüber der Argumentation des Käuferbundes. Denn neben einem guten Gewissen verspricht der Konsum fair gehandelter Produkte auch eine Intensivierung der Genussqualität. Fair gehandelte Lebensmittel seien meist auch Bio-Produkte, die die eigene Gesundheit fördern sollen. Hatten die Bemühungen des Käuferbundes etwas Paternalistisches oder auch Autoritäres, das in der Idee von Verbraucherpflichten mitschwang, setzt TransFair also auf postmaterielle, individualisierte Motive, und verbindet in den Werbestrategien Genuss und Gesundheitsbewusstsein mit dem sozialen Gewissen. Resümierend lässt sich feststellen, dass kritische Überlegungen zur Konsumentenkultur und Konsumentenmoral um 1900 und 2000 von erstaunlicher Ähnlichkeit sind. Bis heute entfalten sie vergesellschaftende Kraft und institutionalisieren und organisieren sich in der Gestalt neuer sozialer Akteure.23 Hinzu treten europaweite und internationale Vernetzungen ähnlicher Akteure. Um 1900 trug das bürgerliche und ehrenamtliche Engagement diese Bewegung und Ansätze einer professionalisierten Organisation sind zumindest in der Gestalt der Vereinsbildung festzustellen. Formen der organisatorischen Professionalisierung dieses Handelns finden sich aber erst in den letzten Jahrzehnten in der FairTradeBewegung. Beide Bewegungen setzen auf unternehmerische Selbstverpflichtungen und individuelle Käufermoral, nicht auf staatliche Interventionen oder politische Aktionen und Akteure. Sie zeichnen ethischen Konsum und ethische Produktion aus und vergeben Zertifizierungssiegel. Sie stellen weder die warenproduzierende Form des kapitalistischen Wirtschaftsweise infrage, noch problematisieren sie den Akt des Konsums als solchen. Sie bekämpfen daher auch nicht die Konsumgesellschaft, sondern fordern eine soziale Ausweitung der Konsummöglichkeiten auch für Deprivilegierte in der nationalen, europäischen oder globalen Gesellschaft. Die Stärkung der Konsumenten und Produzenten ist ihr Ziel, Veränderung der Produktion und des Konsums durch veränderten Konsum ist das Programm. Einerseits also arbeiten beide Bewegungen an einer begrenzten Änderung der Normalität der Konsumgesellschaft; zugleich aber demonstrieren sie, dass die Probleme und Konflikte moderner Gesellschaften durch Bildung, Organisation und zunehmende Professionalisierung neuer Akteure bearbeitet werden können. Und damit erschließen sie neue Handlungsfelder und Handlungsmöglichkeiten.

23 An dieses Ergebnis ließen sich weitere Fragestellungen anschließen, die vor allem die Parallelen gegenwärtiger ‚Alternativbewegungen’ und vormaliger Lebensreformbewegungen untersuchen und deuten. So bereits Christoph Conti, der im Vergleich beider Bewegungen resümiert, dass Alternativbewegungen einen „dauerhaften Bestandteil der Gesellschaft“ bilden: Conti, Christoph, Abschied vom Bürgertum. Alternative Bewegungen in Deutschland von 1890 bis heute, Hamburg 1984, S. 9. Andere Autoren vermuten, dass Alternativbewegungen in modernen Gesellschaften in langen „Wellen“ erscheinen: Spitzer, Giselher, Lebensreform und Alltagskultur in der Gegenwart. Lebensreform heute, soziale Bewegung und Kommerz, in: Buchholz, Kai (Hg.), Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, Bd. 1, Darmstadt 2001, S. 591.

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Literaturhinweise Haupt, Heinz-Gerhard; Torp, Claudius (Hgg.), Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890–1990. Ein Handbuch, Frankfurt am Main 2009. König, Gudrun M., Konsumkultur. Inszenierte Warenwelt um 1900, Wien 2009. Siegrist, Hannes; Kaelble, Hartmut; Kocka, Jürgen (Hgg.), Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt am Main 1997. Trentmann, Frank (Hg.), The Making of the Consumer. Knowledge, Power and Identity in the Modern World, Oxford 2006.

Quelle Konsumentenerziehung in Europa im 20. Jahrhundert: Satzung und Geschäftsbericht des Käuferbund Deutschland (1907) und des Vereins TransFair (2010) 24 1. Geschäftsbericht und Satzung des Käuferbund Deutschland (1907) Was ist der Käuferbund? Der Käuferbund ist eine Vereinigung von Männern und Frauen aller Konfessionen und Richtungen, welche, als Käufer und Konsumenten, sich ihrer Verantwortung gegenüber den Heimarbeitern, Werkstättenarbeitern und Handelsangestellten bewusst sind und eine Verbesserung der Arbeitsverhältnisse derselben erstreben. Wie kann der Käuferbund das erreichen? a. Durch Einwirkung auf die Arbeitgeber. b. Durch Beeinflussung des kaufenden Publikums. Über welche Mittel verfügt der Bund, um auf die Arbeitgeber einzuwirken? Die Arbeitgeber und Firmen, welche die vom Käuferbund gestellten Bedingungen erfüllen, werden kostenlos auf eine weiße Liste, welche fortgesetzt die weiteste Verbreitung finden soll, bedeutet eine von Unternehmern geschätzte Reklame. Wie kann das kaufende Publikum an der Verbesserung der Verhältnisse mitarbeiten? Indem jeder einzelne Käufer und Konsument als Mitglied des Bundes gewissenhaft seine Pflicht erfüllt und zwar 1. die auf der weißen Liste geführten Firmen bei Einkäufen bevorzugt; 2. nicht nach 8 Uhr abends einkauft; 3. die Einkäufe am Sonntag auf das Unerlässliche beschränkt: 4. Bestellungen, namentlich bei Saisonindustrie und vor Festen frühzeitig aufgiebt, um allzu lange Arbeitszeit und Überanstrengung der Arbeiter und Angestellten zu vermeiden; 5. Einkäufe und Lieferungen bar bezahlt; 6. Propaganda macht für den Bund und sich an der Ausführung der Aufgaben des Bundes nach Kräften beteiligt. 24 Käuferbund (Deutschland), Erster Geschäftsbericht. Erstattet in der Hautversammlung am 23. November 1907 von A.W. Schneider mit Auszügen aus der Satzung, Berlin 1908; Satzung des Vereins TransFair in der Fassung vom 28.10.2010. Der Verein wurde am 10. Mai 1992 gegründet.

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Der Käuferbund ist am 27. 11. 1907 konstituiert worden, nachdem ein eigens dazu gebildetes Komitee bereits längere Zeit mit den Vorarbeiten beschäftigt gewesen ist. […] Der Käuferbund, der sich ursprünglich auf Berlin beschränken sollte, mußte sich sofort in eine Organisation für Deutschland umwandeln, da an verschiedenen Stellen des Reiches der Wunsch nach Ortsgruppen laut wurde. Zur Propaganda wurde eine kleine Flugschrift herausgegeben, welche in kurzer Form Aufklärung über die Zwecke und Ziele des Käuferbundes gibt. Die Hauptarbeit und zugleich die allerschwierigste Aufgabe des Käuferbundes während des verflossenen Sommerhalbjahres bestand in der Aufstellung der „weißen Liste“, durch welche die Firmen mit guten Arbeitsbedingungen dem kaufenden Publikum empfohlen werden. Hier gilt es sowohl den Arbeitgebern wie den Arbeitnehmern gerecht zu werden, um eine unparteiische und zuverlässige weiße Liste zusammenzustellen. […] Die zweite Aufgabe des Käuferbundes besteht in der propagandistischen Tätigkeit, um das Publikum zur Konsumentenmoral zu erziehen. […] Auf mehreren Kongressen wurden die Druckschriften des Käuferbundes aufgelegt. Von den Vereinigten Staaten ausgehend sind Vorarbeiten im Gange, die Käuferverbände der verschiedenen Länder zu einer internationalen Organisation zusammenzuschließen. Eine internationale Konferenz ist für 1908 in Aussicht genommen. Der Käuferbund Deutschland unterstützt diese Bestrebungen dadurch, daß er bereits mit sämtlichen Liguen der anderen Länder in Korrespondenz und im Austausch der Drucksachen steht. Neben die Propaganda in Vereinen und Versammlungen trat die Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch die Presse. […] Diese Veröffentlichungen hatten stets den Erfolg, weitere Kreise auf unsere Bestrebungen aufmerksam zu machen. Es wurde dadurch aber auch die Gegnerschaft geweckt, die in manchen uns feindlich gesinnten Artikeln zum Ausdruck kam. Ein Teil der Presse erkennt eben noch nicht, daß unsere Bestrebungen, das Publikum zur Konsumentenmoral zu erziehen, auch durchaus im Sinne der Arbeitgeber liegen; dazu kommen häufig noch Rücksichten auf Inserenten, die etwa nicht auf der weißen Liste stehen. […] Der Käuferbund ist, unter Vermeidung jeden Zwanges, bestrebt, auf dem Wege friedlicher Verständigung auf die Arbeitgeber und auf die Kreise des kaufenden Publikums zu wirken, daß sie durch freie Entschließung und Selbsthilfe ihr Teil zur Verbesserung der Arbeitsverhältnisse der Handelsangestellten und Arbeiter beitragen. 2. Auszüge aus der Satzung des Käuferbund Deutschland (1907) §1. Der Verein führt den Namen „Käuferbund“ und hat seinen Sitz in Berlin. §2. Zweck Der Bund bezweckt: a) bei dem kaufenden Publikum das Gefühl der Verantwortlichkeit für die Bedingungen, unter welchen die Handelsangestellten und Arbeiter arbeiten, zu wecken. b) auf die Arbeitgeber einzuwirken, um Verbesserungen im Arbeitsverhältnis der Handelsangestellten und Arbeiter zu erzielen. Den Zweck sucht der Bund zu erreichen: a) durch Veranstaltung von Vorträgen, Verbreitung von Flugschriften und durch Aufrufe in der Presse;

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b) durch Veröffentlichung und Verbreitung einer „weissen“ Liste, auf welcher diejenigen Firmen und Arbeitgeber genannt werden, welche die vom Bunde aufgestellten Bedingungen erfüllen. 3. Auszüge aus der Satzung des Vereins TransFair – Verein zur Förderung des fairen Handels mit der ‚Dritten Welt’ e.V. (2010) §1 Name, Sitz, Geschäftsjahr 1. Der Verein führt den Namen „TransFair – Verein zur Förderung des fairen Handels mit der ‚Dritten Welt’ e.V“. […] § 2 Zweck 1. Der Verein verfolgt ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige Zwecke im Sinne des Abschnitts „steuerbegünstigte Zwecke“ der Abgabenordnung. 2. Zweck des Vereins ist insbesondere die Förderung der Entwicklungshilfe und Entwicklungs-Zusammenarbeit. Ausgehend von dem Prinzip „Wandel durch Handel“ will der Verein den Handel zu fairen Bedingungen mit benachteiligten ProduzentInnen in den Ländern Afrikas, Asiens, Ozeaniens und Lateinamerikas als weiterführendes Instrument der Entwicklungshilfe und -zusammenarbeit fördern und stärken, ohne selbst diesen Handel zu betreiben. Der Verein will dazu beitragen, den benachteiligten Produzentinnen größere und direktere Absatzmöglichkeiten in der Bundesrepublik Deutschland zu schaffen. Dadurch sollen ihre Lebensbedingungen und ihre wirtschaftliche Lage nachhaltig verbessert und ihre Eigenständigkeit gefördert werden. Wesentliche Elemente für diesen Handel sind die Abnahme von Produkten von benachteiligten ProduzentInnen bzw. von deren Organisationen auf der Grundlage längerfristiger Verträge sowie der Zahlung von festgelegten Mindest- oder Mehrpreisen gegenüber dem herkömmlichen Handel. 3. Zudem dient der Verein der Förderung der Bildung und der Völkerverständigung als weitere gemeinnützige Zwecke. Der Verein will in der deutschen Öffentlichkeit auf die Lebens- und Produktionsbedingungen benachteiligter ProduzentInnen in der Dritten Welt und ihre Benachteiligung im Welthandel aufmerksam machen, viele VerbraucherInnen zur Unterstützung des Handels zu fairen Bedingungen motivieren und dadurch auf Bewusstseins- und Verhaltensänderungen bei den Verbraucher(n)Innen hinwirken. 4. Die Satzungszwecke werden insbesondere verwirklicht: a) durch Unterstützung von Maßnahmen zur Förderung des fairen Handels b) durch Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit, Forschung oder sonstige geeignete Vorhaben; c) durch Prüfung und Überwachung der der Anwendung der Kriterien für den fairen Handel mit benachteiligten ProduzentInnen in der Dritten Welt. […]

DER TRANSFER DES ARGENTINISCHEN TANGO IN DIE POPULÄRE KULTUR DER EUROPÄISCHEN GROSSSTADT UM 1900 1 Kerstin Lange Eine „Tangomanie“ ergriff in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg die europäischen Großstädte. Der argentinische Tango wurde vor allem in der Unterhaltungskultur von Paris, London und Berlin zu einem neuen Modetanz und verbreitete sich von dort aus auch in anderen Städten. Auf den Bühnen der Music Halls und Varieté-Theater kam kaum eine Vorstellung ohne eine Tango-Nummer aus, international erfolgreiche Künstler und Künstlerinnen wie Gaby Deslys oder George Grossmith Jr. nahmen den Tanz in ihr Programm auf. 2 Doch nicht nur auf den Bühnen war der Tango zu sehen, auch das Publikum tanzte. Tanzflächen fanden sich in den Palais de Danse, wie sich die glamourösen Ballsäle des Olympia in Paris oder des Metropolpalastes in Berlin nannten, sowie in den Cafés, Restaurants und neuen Grandhotels entlang der Boulevards der Städte. Tango war in der Vergnügungskultur europäischer Metropolen en vogue. Der vorliegende Beitrag zeigt, wie dieser Tanz in den Jahren 1912 und 1913 zu einem zentralen Element der populären Kultur der Großstadt wurde und fragt, welche Rolle professionelle Tanzlehrer bei einer solchen Erweiterung des Repertoires der Gesellschaftstänze und beim Wandel der populären Kultur der Großstadt um 1900 spielten. Der Tango reihte sich in eine Vielzahl neuer transatlantischer Tänze ein, die um 1900 bekannt wurden und die Presse in Paris, Berlin und London von einem Aufleben der Tanzkunst sprechen ließen. „Ein neues Jahrhundert – eine neue Tanzkunst“, schrieben die Tanzexperten. Damit waren nicht nur die neuen Strömungen des Ausdruckstanzes und der Erfolg des russischen Balletts auf europäischen Bühnen gemeint, sondern ebenso die neuen Gesellschaftstänze. Nach dem Cakewalk und einer Reihe skurriler Tiertänze, wie Grizzly Bear und Turkey Trot, die aufgrund der neuen US-amerikanischen Ragtime-Rhythmen mit tradierten Hörgewohnheiten und Körperpraktiken brachen, war es jedoch der südamerikanische Tango, der die größte Euphorie auslöste und sich langfristig in das Repertoire der europäischen Gesellschaftstänze einschreiben konnte.

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Essay zur Quelle: Weshalb sich der Tango die Welt erobert (1. November 1913). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte (2012), URL: http://www.europa.clio-online.de/2012/Article=541. Gaby Deslys (1881–1920), französische Tänzerin, Sängerin und Filmschauspielerin, spielte mit ihrem Partner Henry Pilcer eine wichtige Rolle bei der Einführung der neuen Modetänze. George Grossmith Jr. (1874–1935), englischer Schauspieler und Produzent, war einer der erfolgreichsten Künstler in den Revuen des Londoner Gaiety Theater.

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Mit dem argentinischen Tango setzte sich zum ersten Mal ein Tanz aus Lateinamerika in Europa durch. Buenos Aires, das um 1900 bereits 1,5 Millionen Einwohner zählte und damit zu den größten Städten der Welt gehörte, hatte sich seit der Unabhängigkeit von der spanischen Kolonialherrschaft 1810 zum politischen und wirtschaftlichen Zentrum Argentiniens entwickelt. Die Stadt war in vielerlei Hinsicht eine europäisch geprägte Stadt. Im Zuge einer forcierten argentinischen Einwanderungspolitik, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Immigration aus Europa gezielt gefördert hatte, waren zwischen 1880 und 1914 rund vier Millionen Einwanderer nach Argentinien gekommen. Die meisten von ihnen stammten aus Italien und Spanien, etwas kleinere Gruppen aus Mittel- und Osteuropa. Buenos Aires, wo sich die meisten der Einwanderer aus Europa niederließen, machte in diesem Zeitraum einen ähnlich umfassenden Transformationsprozess durch wie die großen Städte Europas. Dieser ging mit Neuordnungen der sozialen und räumlichen Ordnung der Stadt sowie mit der Ausdifferenzierung kultureller Repräsentationen einher. Buenos Aires bezeichnete sich selbst gern als das „Paris Lateinamerikas“. Im Zentrum der Stadt hatte man in den 1880er-Jahren nach dem Vorbild von Paris bzw. den städtebaulichen Konzepten von Baron Haussmann breite Boulevards anlegen lassen. 1908 eröffnete das Teatro Colón, ein Opernhaus, dessen Architektur und Ausstattung mit über 3.000 Plätzen seinen europäischen Pendants in nichts nachstand und Buenos Aires zu einem weltweit anerkannten Schauplatz des klassischen Musiktheaters werden ließ. Der Tango dagegen entstand als populäre Kultur der Großstadt in den ärmeren Vierteln von Buenos Aires, in denen viele europäische Immigranten und argentinische Arbeiter aus der Provinz lebten. Diese Viertel befanden sich vor allem rund um den Hafen und bildeten den „Stadtrand“, eine Bezeichnung, die mehr ein sozialpolitisches Phänomen als eine räumliche Dimension meinte. Hier entwickelten sich eigene Ausdrucksformen städtischer Erfahrung. Der Tango, als Musik und Tanz, verband europäische, afroamerikanische und argentinisch ländliche musikalische Traditionen miteinander. Die Instrumentierung bestand zunächst aus Flöte, Geige und Gitarre, später wurde das aus Deutschland stammende Bandoneon zum prägenden Instrument. 3 Die Texte handelten von den Lebensbedingungen in den Vorstädten von Buenos Aires und der Erfahrung des Heimatverlustes der europäischen Einwanderer. Um die Jahrhundertwende hatte der Tango sich bereits zu einem eigenen Genre und zu einem festen Bestandteil des populären Vergnügens in den Tanzlokalen und auf den Bühnen der Stadt entwickelt. Die argentinische Oberschicht, die sich an einer europäischen Hochkultur orientierte, lehnte den Tango zu diesem Zeitpunkt jedoch vehement ab. Die Weigerung, den Tango als Element oder Ausdruck einer argentinischen Nationalkultur anzuerkennen, spiegelte den 3

Das Bandoneon (ursprünglich Bandonion) gehört zur Gruppe der Handzuginstrumente und entstand Mitte des 19. Jahrhunderts aus einer spezifischen Weiterentwicklung der Concertina durch den Krefelder Heinrich Band. Vor allem der Betrieb des Instrumentenbauers Alfred Arnold im Erzgebirge produzierte bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges Instrumente für den Export nach Argentinien und Uruguay. In Deutschland selbst wurde das Bandoneon bis in die 1950er-Jahre vor allem in Musikvereinen der Arbeiterbewegung eingesetzt.

Der Transfer des argentinischen Tango

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Gegensatz zwischen einer nationalen Hochkultur und den kulturellen Repräsentationen einer heterogenen Bevölkerung der Großstadt. Der argentinische Tango war, ganz ähnlich wie das frühe Kino oder das populäre Theater, ein Phänomen des populären Vergnügens in der Großstadt, dessen Herausbildung und Verbreitung in Buenos Aires wie in den europäischen Metropolen mit grundsätzlichen Auseinandersetzungen über die Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Kultur einherging. Eine zunehmende Dichotomisierung von Hoch- und Populärkultur zeigte sich auf der einen Seite durch kulturkritische Debatten und ordnungspolitische Maßnahmen. Dahinter standen die Vertreter einer bürgerlichen Hochkultur, die in der populären Kultur der Großstadt generell einen Niedergang sahen und den Verlust der eigenen Deutungsmacht fürchteten. Die Kommerzialisierung und Professionalisierung von Unterhaltung im Verlauf des 19. Jahrhunderts hatte jedoch auf der anderen Seite auch neue Akteure auf den Plan gerufen, die bestrebt waren, populäre Formen aufzuwerten und ihre Einflusssphären zu sichern. In großen Teilen der historischen Literatur werden derartige Auseinandersetzungen innerhalb eines nationalen Rahmens untersucht und erklärt. Eine vergleichende Perspektive auf den kulturellen Wandel und die Entstehung einer modernen Massenkultur zeigt allerdings, dass die Entwicklungen in den europäischen Metropolen sich nicht nur ähnelten, sondern darüber hinaus durch eine zunehmende Internationalisierung der populären Kultur und vielfältige Transfer- und Austauschprozesse bedingt waren. Drei Faktoren sollen im Folgenden beispielhaft aufgezeigt werden, um die zunehmenden globalen Verflechtungen populärer Kultur und einen damit einhergehenden veränderten Erfahrungshorizont zu verdeutlichen. Erstens hatten die Entstehung einer Massenpresse sowie technische Neuerungen in der Reproduktion die Rahmenbedingungen für eine beschleunigte Diffusion von Musik geschaffen. Der Notenhandel wurde zu einem wichtigen Element der Kommerzialisierung und der Popularisierung neuer Genres. Mit der Erfindung des Phonographen und des Grammophons wurde Musik erstmalig technisch reproduzierbar und das Hören von Musik damit zu einer neuen sinnlichen Erfahrung. Auch Tanzmusik ließ sich von nun an schneller über weite Entfernungen vermitteln. Da die Möglichkeit zu Plattenaufnahmen zunächst nur an wenigen Orten bestand, stellten Großstädte hier entscheidende Zentren der Produktion dar. Mit einer solchen Beschleunigung und Vervielfältigung der Wege gingen zweitens die Zirkulation von Programmen und die zunehmende Mobilität von Künstlern und Künstlerinnen auf europäischen Bühnen einher. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden mit den Revuen standardisierte Programme, die in den Music Halls vieler europäischer Städte zu sehen waren und erstmalig international bekannte Bühnenstars hervorbrachten. Die Ausdifferenzierung des Angebotes und die Suche nach immer neuen Attraktionen auf der ganzen Welt wurden notwendig, um in der internationalen Konkurrenz bestehen zu können. Für die Künstler und Künstlerinnen ergaben sich daraus neue Einkommensmöglichkeiten und ein sehr viel größerer geographischer Radius ihrer Tätigkeit. Der Tango verbreitete sich von Paris ausgehend schnell auch in anderen großen Städten. Argen-

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tinische Tangotänzer und Tanzlehrer fanden ein lukratives Einkommen, argentinische Musiker kamen für Konzertreisen und Plattenaufnahmen nach Europa. Zeitungen und Zeitschriften sorgten mit ihren Berichten und Programmankündigungen für die Vernetzung von Künstlern und Produzenten über nationale Grenzen hinweg. Damit rückte drittens „die Welt“ in die europäischen Städte. Die Inszenierungen einer internationalen Vergnügungskultur in den europäischen Metropolen erweiterten den Erfahrungshorizont eines breiten Publikums. Dabei waren das kulturelle Rahmenprogramm der Weltausstellungen oder die exotischen Darbietungen der Music Halls immer auch Repräsentationen einer imperialen Ordnung der Welt auf der städtischen Bühne. Hier spiegelten sich somit die asymmetrischen Rezeptions- und Produktionsbedingungen populärer Kultur im Rahmen globaler Machtverhältnisse der Zeit um 1900. In der Selbstinszenierung der europäischen Städte als „Weltstädte“ waren die Internationalität der Vergnügungskultur sowie die Exklusivität des Angebots zentral. Die alten europäischen Metropolen, London und Paris, sahen dabei vor allem in Berlin eine kulturelle Konkurrenz, die sich nicht nur in der Hochkultur, sondern vor allem auch in der populären Kultur der Vergnügungsviertel manifestierte. Kennzeichen einer solchen internationalen populären Kultur waren daher Austausch und Kommunikation zwischen den Städten ebenso wie Konkurrenz und Abgrenzung untereinander. Als das Berliner Tageblatt im Herbst 1913 einen Artikel mit dem Titel Weshalb sich der Tango die Welt erobert publizierte 4 , griff es damit eine Frage auf, die damals auch in Paris und London die Presse beschäftigte: Der europäische Gesellschaftstanz war im Umbruch begriffen. Die Rede von der Weltmachtstellung des Tangos verwies dabei jedoch nicht nur auf die massive Präsenz des neuen Modetanzes in den Metropolen der europäischen Großmächte, die sich zugleich als die maßgeblichen Zentren der Weltkultur betrachteten, sondern auch auf ein gewisses Unbehagen, das sich gegenüber diesem neuen Phänomen artikulierte. Der Artikel des Berliner Tageblatts diskutierte die Rezeption und Verbreitung des Tango in den europäischen Großstädten dann allerdings nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Spannung zwischen dem Eigenen und dem Fremden, sondern sehr viel grundsätzlicher im Rahmen des langfristigen historischen Wandels der Tanzkultur. Das Repertoire des Gesellschaftstanzes hatte sich bis dato aus den Stilen gemeinsamer europäischer Herkunft zusammengesetzt. Nach der französischen Revolution hatte sich der Walzer als erster genuin bürgerlicher Gesellschaftstanz in Europa verbreitet. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden eine Reihe osteuropäischer Tänze, wie Polka und Mazurka beliebt, die sich in das Repertoire des Gesellschaftstanzes eingliederten. Die Tanzschule galt als integraler Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaft, professionelle Aufgabe der Tanzlehrer war die Vermittlung bürgerlicher Werte und gesellschaftlicher Kommunikation. In den Kreisen der Tanzlehrer, die das Wissen über Tänze standardisierten und über nationale Grenzen hinaus verbreiteten, herrschte mit der Ankunft der transatlanti4

Weshalb sich der Tango die Welt erobert, o. V., in: Berliner Tageblatt, 16.11.1913.

Der Transfer des argentinischen Tango

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schen Tänze eine gewisse Verunsicherung. Die Bühnen der Music Halls waren zu einem Einfallstor für neue Tänze geworden, die sich der Kontrolle der Tanzlehrer entzogen. Die Rezeption der neuen Tänze blieb nicht auf eine visuelle Erfahrung auf der Bühne beschränkt, sondern neue Körperpraktiken setzten sich ohne die professionelle Vermittlung von Tanzlehrern auch in den Tanzsälen zunehmend durch. Als traditionelle Mittler befürchteten die Tanzlehrer deshalb den Verlust ihres Deutungsmonopols und ihrer beruflichen Stellung. Um innerhalb einer veränderten Erfahrungswelt der Stadt ihre Ansprüche auf professionelle Autorität und die Kontrolle ihrer Tätigkeiten und Erwerbsfelder zu sichern, mussten sie sich nun auch mit dem Tango und den US-amerikanischen Ragtime-Tänzen auseinandersetzen, deren Ausdrucksformen sich grundsätzlich von den anerkannten moralischen und ästhetischen Normen unterschieden. Eine solche Umstrukturierung ihres Tätigkeitsfeldes führte unter Tanzlehrern und Tanzexperten zu Spannungen. Während die einen meinten, das tradierte europäische Repertoire gegen die „Invasion des Tango“ verteidigen zu müssen, versuchten die anderen ihre Stellung durch die Erweiterung ihres Angebotes zu stärken und die neuen kommerziellen Möglichkeiten zu nutzen. Die Auseinandersetzungen kreisten dabei nicht nur um Ausdrucks- und Umgangsformen, sondern auch um die Rolle des Tanzlehrers bei der nationalen Erziehung des Körpers. Die Tanzlehrer mussten sich aufgrund der weltweiten Zirkulation von Tänzen neu positionieren und das Verhältnis zwischen nationalen und internationalen Standards neu verhandeln. Am Beispiel des Tango lassen sich die Aneignungsprozesse populärer Kultur in europäischen Großstädten veranschaulichen. Die Herausbildung und Verbreitung der modernen Massenkultur des 20. Jahrhunderts war nicht allein durch Entwicklungen innerhalb einzelner Nationalstaaten bestimmt, sondern erfolgte ganz wesentlich in den europäischen Metropolen, in denen sich der Kulturkontakt verdichtete und der Prozess der kulturellen Ausdifferenzierung sich beschleunigte. Hier versuchten professionelle Kulturvermittler wie die Tanzlehrer die Richtung des kulturellen Wandels mitzubestimmen und mussten dabei ihre berufliche Rolle neu bestimmen. In der Großstadt wurde somit die Fähigkeit im Umgang mit kultureller Diversität erprobt und ausgehandelt. Literaturhinweise Becker, Tobias; Littmann, Anna; Niedbalski, Johanna (Hgg.), Die tausend Freuden der Metropole: Vergnügungskultur um 1900, Bielefeld 2011. Maase, Kaspar, Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850–1970, Frankfurt am Main 1997. Pelinski, Ramón Adolfo (Hg.), El tango nómade: Ensayos sobre la diáspora del tango, Buenos Aires 2000. Salas, Horacio, El Tango, Buenos Aires 1986 (Deutsche Ausgabe: Salas, Horacio, Der Tango, Stuttgart 2001). Scott, Derek B., Sounds of the Metropolis. The Nineteenth-Century Popular Music Revolution in London 2008.

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Quelle Weshalb sich der Tango die Welt erobert (1. November 1913)

5

Wenn die Begeisterung für den Tango nachgerade auch zu einem wahren Rummel ausgeartet ist, so kann man sich gleichwohl nicht der Erkenntnis verschließen, daß sein Erscheinen eine Umwälzung in der Tanzwelt bedeutet, wie sie seinerzeit die Einführung der Polka und des Walzers hervorgebracht hat. Der französische Schriftsteller Richepin hat jüngst erst in seinem vielbesprochenem Vortrag in der Pariser Akademie davor gewarnt, den Tango wegen seiner niederen Herkunft gering einzuschätzen, und dabei darauf verwiesen, daß die meisten unserer Tänze aus den Kreisen des Volkes den Weg in die Ballsäle gefunden haben. Man darf weiterhin auch nicht außer acht lassen, daß es sich die Tanzlehrer mit Fleiß haben angelegen sein lassen, die Auswüchse, die der Tango einmal besaß, soweit abzuschleifen, um ihn salonfähig zu machen. Die jungen Leute wissen ihm ferner besonderen Dank dafür, daß er ihnen gestattet, sich für den ganzen Abend einen Tanzpartner zu wählen. Das alles kann indessen als ausreichende Erklärung der Beliebtheit des Tangos nicht gelten, diese wahren Gründe für die Weltmachtstellung des Tangos wird man vielmehr in der Geschichte des Tanzes zu suchen haben. Über den Ursprung des Tangos sind sich die Gelehrten zwar noch nicht völlig einig, indessen hat doch die Hypothese, die Charles d’Albert, der fachkundige Verfasser der neusten Enzyklopädie der Tanzkunst, aufstellte, berechtigten Anspruch auf Glaubwürdigkeit. Danach stellt der argentinische Tango eine Abart des altspanischen Tango dar. Diese Variante wurde, und zwar in recht derber Form von den Cowboys auf Kuba und in den anderen Ländern des lateinischen Amerika getanzt. Von hier gelangte er nach Paris, und zwar zunächst in die Kreise der Halbwelt, die an seiner heimatlichen Urwüchsigkeit weiter keinen Anstoß nahm. Allmählich verfeinerte er sich hier auf seinem Wege nach oben und wurde schließlich der Balltango, der, wenn er auch seinen amerikanischen Ursprung nicht verleugnen kann, doch für den Gebrauch der zivilisierten Gesellschaft zurechtgestutzt und stilisiert wurde. Soviel über die geschichtlichen Anfänge des Tangos, dessen Weiterentwicklung der Zukunft vorbehalten bleibt. Die herrschende Tanzmode hat noch stets und immer ein treues Spiegelbild des jeweiligen Geistes der Zeit reflektiert. Vom Walzer erzählen uns die Historiker des Tanzes, daß die Begeisterung für ihn um 1830 in Paris ihren Höhepunkt erreichte. Es war das die Blüteperiode der Romantik, und nichts vermöchte in der Tat das Gefühlsleben jener Periode besser auszudrücken, als der schleifende, traumverlorene Walzerschritt, dessen Heimat das Vaterland Werthers war. Die Polka konnte sich ganz im Gegenteil erst in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts durchsetzten, und das auch nur nach erbittertem Kampf gegen die vornehme Pariser Gesellschaft, die an der Herkunft der Polka aus den Mittelklassen des Bürgertums Anstoß nahm. Aber gerade diese Bürgerkreise waren es auch, die unter der Herrschaft des Bürgerkönigs ihren Platz an der Sonne fanden, und die Polka damit zu Ehren brachten. War der Walzer so der Ausdruck der Machtstellung der Romantik, so bedeutet die Polka ihrerseits den Triumph des Bürgertums. Angesichts dieser sozialen Bedeutung der Modetänze drängt sich schon von selbst die Frage nach dem Zusammenhang des Tangos 5

Weshalb sich der Tango die Welt erobert, o. V., in: Berliner Tageblatt, 16.11.1913. Die Quelle ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte (2012), URL: http:// www.europa.clio-online.de/2012/Article=542.

Der Transfer des argentinischen Tango

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mit dem Empfindungsleben der Jetztzeit auf. Es kann aber keinem Zweifel unterliegen, daß die Popularität, die der Tanz überhaupt erlangte, auch in Sachen der Beliebtheit des Tangos eine Rolle spielt. Zu dieser Wiedergeburt der Tanzfreude hat gewiß auch die Anregung, die das Erscheinen des russischen Balletts gegeben, ihr wichtiges Teil beigetragen, und in England zumal hat, wie die „Times“ in einem der Tangofrage gewidmeten Artikel mit Recht hervorheben, die Pawlowa im Sinne der Anerkennung des Tanzes als eines Mittels seelische Vorgänge, durch Bewegung zum Ausdruck zu bringen, bahnbrechend gewirkt. Das auf der Bühne gegebene Beispiel hat entschieden durch die Rückwirkung auf das Gesellschaftsleben viel dazu beigetragen, dem Tango die Wege zu ebnen. Dazu kommt noch ein anderes Moment, das den Siegeszug dieses ausgesprochenen Figurentanzes begreiflich macht. Die alten Tänze waren, wenn man die Dinge bei rechtem Licht betrachtet, kurzweiliger für die Ausführenden als für die Zuschauer. Bei den neumodischen Tänzen, und ganz besonders beim Tango, kommt dagegen auch der Zuschauer reichlich auf seine Unterhaltungskosten, und diese Befriedigung des Schaubedürfnisses entspricht so ganz und gar dem Charakter der modernen Prunkbälle mit ihrer blendenden Prachtentfaltung und ihrer Neigung für exotische Raffinements, der gerade der Tango so sinngefällig entgegenkommt.

SIEGFRIED KRACAUER – ZUR ENTWICKLUNG DER PROFESSIONELLEN FILMKRITIK IN DER WEIMARER REPUBLIK 1 Irmtraud und Albrecht Götz von Olenhusen Siegfried Kracauer (1889–1966) zählt neben Rudolf Arnheim, Béla Balász und Lotte Eisner zu den bedeutendsten Klassikern der deutschen Filmkritik und Filmtheorie der 1920er-Jahre. Seine berufliche Ausprägung als Filmkritiker namentlich der Frankfurter Zeitung seit Anfang der 1920er-Jahre kann als ein herausragendes Beispiel dienen, wie sich im Gegensatz zu einer rein ästhetisch geprägten Filmkritik eine soziologische Filmkritik und die Profession des Filmkritikers nach ersten Anfängen vor und im Ersten Weltkrieg insbesondere in den 1920er-Jahren entwickelte. 2 Da weder die Geschichte der Filmkritik noch die Entwicklung der Profession des Filmkritikers unter kultur- und sozialhistorischen Perspektiven im internationalen Kontext hinreichend erforscht sind 3 , kann hier nur eine auf einen Exponenten bezogene knappe Skizze geliefert werden. Kracauers philosophisch, filmästhetisch und kulturkritisch geprägte Anfänge erweiterten sich zu einer ideologie- und gesellschaftskritischen Perspektive, in der Filme als Spiegel der bestehenden Gesellschaft gesehen wurden. Der Filmkritiker von Rang sei nur als Gesellschaftskritiker denkbar. „Seine Mission ist: die in den Durchschnittsfilmen versteckten sozialen Vorstellungen und Ideologien zu enthüllen und durch diese Enthüllungen den Einfluss der Filme selber überall dort, wo es nottut, zu brechen.“ 4

Kracauer als ein wesentlicher Protagonist der soziologischen, das heißt auch der mehr oder weniger exponierten linken Filmkritik, konfrontierte in Filmanalysen über die filmästhetische Beurteilung hinaus die „Scheinwelt […] [dieser] Filme mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit“ und ihrer Funktion als Ware und Wirtschaftsprodukt. 1 2 3

4

Essay zur Quelle: Siegfried Kracauer und die Professionalisierung der Filmkritik: Internationaler Tonfilm? (1931) und Über die Aufgabe des Filmkritikers (1932). Diederichs, Helmut H., Anfänge deutscher Filmkritik, Stuttgart 1986; Ders., Über Kinotheater-Kritik, Kino-Theaterkritik, ästhetische und soziologische Filmkritik, in: Schenk, Irmbert (Hg.), Filmkritik. Bestandsaufnahmen und Perspektiven, Marburg 1998, S. 22–42. Einen instruktiven Überblick über die amerikanische Filmkritik bietet: Roberts, Jerry, The Complete History of American Film Criticism, Santa Monica 2010. Hier konnte auf einer ganzen Reihe von Anthologien zum Werk bekannter Filmkritiker aufgebaut werden, wobei allein die gesammelten Schriften der wohl bedeutendsten amerikanischen Filmkritikerin Pauline Kael etliche voluminöse Bände umfasst. Kracauer, Siegfried, Über die Aufgabe des Filmkritikers, in: Ders., Werke. Bd. 6.3: Kleine Schriften zum Film 1932–1961, hg. von Mülder-Bach, Inka, Frankfurt am Main 2004, S. 63.

Siegfried Kracauer – Zur Entwicklung der professionellen Filmkritik

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Die Entstehung der Profession des Filmkritikers ist von der Entwicklung der deutschen und internationalen Filmindustrie, hier vor allem der US-amerikanischen, sowie von der Entstehung und der zunehmenden Bedeutung von Filmzeitschriften mit Beiträgen zur Filmkritik in Zeitungen und Zeitschriften 5 nicht zu trennen. Nach einer knappen Darstellung von Person und Biographie Siegfried Kracauers wird seine Entwicklung als Filmkritiker vor allem bei der Frankfurter Zeitung, die Grundlage und Fortentwicklung der Profession bis zu seiner Emigration vorgestellt. Anhand der beiden ausgewählten Quellen wird sein wesentliches Anliegen analysiert, sein Konzept in Bezug auf den deutschen, den US-amerikanischen, vor allem aber auf den internationalen Film betrachtet 6 und schließlich die sich aus diesen Fundamenten ergebenden Wirkungen auf die Filmkritik als Profession in den Blick genommen. 7 Siegfried Kracauer, am 8. Februar 1889 in Frankfurt am Main als Sohn eines Kaufmanns geboren, hatte zunächst nach einem Architekturstudium und Arbeit in diesem Beruf, nach seiner Promotion (1914) und nach dem Ersten Weltkrieg den Beruf des Journalisten und Publizisten bei der Frankfurter Zeitung begonnen (1921). Seine frühen, seit dem Studium durch Georg Simmel und Max Scheler geprägten Arbeiten wie etwa Soziologie als Wissenschaft (1922) zeigen ihn früh in einem Bekannten- und Freundeskreis, aus dem der junge Theodor W. Adorno, Leo Löwenthal und Walter Benjamin herausragen. 8 Mit der festen Anstellung bei der Frankfurter Zeitung 1924 und der Sicherung des Filmressorts konnte er, der sich auch mit der Fotografie befasst hatte, über die Vielzahl der durchschnittlichen deutschen und amerikanischen Filme hinaus seine geschichtsphilosophischen Ansprüche auf antizipatorische und utopische Entwürfe in kultur- und völkerüber5 6 7

8

Kracauer schrieb nicht nur für „Frankfurter Zeitung“, sondern gelegentlich auch Artikel für den „Film-Kurier“ (1 (1919) ff.) und andere Film- und Kulturzeitschriften. Kracauer, Siegfried, Internationaler Tonfilm?, in: Ders., Werke. Bd. 6.2: Kleine Schriften zum Film 1928–1932, hg. von Mülder-Bach, Inka, Frankfurt am Main 2004, S. 475–479. Eine genauere Analyse der Profession des deutschen Filmkritikers ist ein Desiderat ebenso wie eine umfassende Darstellung der deutschen Filmkritik, von einer international vergleichenden ganz zu schweigen. Ein Vergleich Kracauers mit anderen Filmkritikern der Weimarer Republik kann die Arbeiten von weniger bekannten Autoren wie Ernst Jäger, Frank Maraun, Wolfgang Duncker, Rudolf Kurtz, Kurt Pinthus, Herbert von Jhering, Hans Siemsen, Libertas von Schulze-Boysen, aber auch Kurt Tucholsky, Axel Eggebrecht u.a. einbeziehen. Siehe dazu die in der Reihe „Film & Schrift“ von Rolf Aurich und Wolfgang Jacobsen edierten Filmkritiker-Monografien (Bände 2, 3, 5, 6, 8, 12, 14, 15). Kurtz, dessen filmkritische Beiträge dokumentiert sind, ist ein Beispiel dafür, wie sich ein Filmdramaturg aus dem Kreis um Ernst Lubitsch aus einem wohl informierten Filmindustriekenner und Funktionär der Filmbranche als Filmkritiker ab Mitte der 1920er-Jahre zu einem Anhänger – neben den verklärten Lubitsch und Jannings – der engagierten sowjetischen Montagekunst entwickelt. Vgl. dazu Michael Wedel, in: Kurtz, Rudolf (Hg.), Rudolf Kurtz: Essayist und Kritiker, München 2007, S. 9ff; zur Geschichte der deutschen Filmkritik bis 1933: Hake, Sabine, The Cinema’s Third Machine. Writing on Film in Germany 1907–1933, Lincoln 1993. Zur Biografie Kracauers: Brodersen, Momme, Siegfried Kracauer, Reinbek 2001; Mülder, Inka, Siegfried Kracauer – Grenzgänger zwischen Theorie und Literatur. Seine frühen Schriften 1913–1933, Stuttgart 1985; Traverso, Enzo, Siegfried Kracauer: Itinéraire d’un intellectuel nomade, Paris 1994.

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Irmtraud und Albrecht Götz von Olenhusen

greifenden Werken von Eisenstein, Pudowkin, Vertov und Chaplin erfüllt sehen. Deren Filmsprache stand für ihn auf höchstem Niveau. Der weitere Lebensweg war durch die Versetzung nach Berlin (1930) und die Emigration nach Frankreich charakterisiert. Erst nach der Flucht in die USA (1941) und als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Museum of Modern Art in New York sowie als Stipendiat von Forschungsinstitutionen (Guggenheim und Rockefeller-Stiftung) wurden die Grundlagen für die klassischen Arbeiten From Caligari to Hitler (1947) sowie zur Filmästhetik und Filmtheorie gelegt, bevor er sich, Jahre vor seiner eingeschränkten Rezeption im Nachkriegsdeutschland, dem unvollendeten geschichtstheoretischen Werk History. The Last Things Before the Last widmete, das erst nach seinem Tode (New York 1966) aus dem Nachlass publiziert wurde (1969). Darin knüpfte er in gewisser Weise auch an filmhistorische Sichtweisen und Analysen der 1920erJahre an. Nachdem eine zunächst auf fünf, dann auf neun Bände angelegte Edition seiner Werke ab 1971 ins Stocken geraten war, liegen jetzt Kracauers Werke in einer großangelegten Edition vor. Sie ermöglicht durch die dreibändige Ausgabe der Kleinen Schriften zum Film 1921–1961 die „plastische Erkenntnis, dass er in der Frankfurter Zeitung die Filmkritik zu einem eigenständigen Genre entwickelte und die Filmanalyse auf ein theoretisches Niveau brachte“. 9

Die Profession als Filmkritiker konnte Kracauer erst wieder in den USA in der Zeitschrift New Movies auf Dauer fortsetzen. Denn trotz seines Rufs und guter Kontakte hatten die Bedingungen der acht Jahre im französischen Exil dort keine Existenz und nur bedingt eine Mitarbeit an Schweizer Zeitungen (Neue Züricher Zeitung und Baseler Nationalzeitung) ermöglicht. Kracauers Weg führte ihn von der soziologisch grundierten, auch der Kritischen Theorie der 1920er- und 1930er-Jahre verpflichteten Filmkritik zur eigenständig entwickelten Filmästhetik und Filmgeschichte sowie über eine sozialpsychologisch und ikonologisch geprägte Filmtheorie schließlich hin zu einer teleologischen Geschichtstheorie eigener Art, die durch die Erfahrung des Holocaust geprägt war. 890 Filmproduktionen aus Deutschland, den USA, Frankreich, der Sowjetunion, Österreich, Schweden und Dänemark und anderen Ländern bildeten für den „maßgeblichen Filmkritiker der Weimarer Republik“10 Basis und Vorgeschichte des späteren Caligari-Buches. Die Bewertung der Filme zum Zeitpunkt ihres Erscheinens bzw. ihre Besprechung durch Kracauer unterschied sich im Einzelnen deutlich von seiner Betrachtung ex post im amerikanischen Exil. 11

9

Mülder-Bach, Inka, Nachbemerkung und editorische Notiz in: Kracauer, Werke. Bd. 6.3, S. 572. 10 Ebd., S. 574. 11 Dies ist systematisch bisher nicht verglichen worden. Aber vgl. Schenk, Irmbert, Von Kracauer zu Kracauer. Der Filmkritiker der Weimarer Republik und der Filmhistoriker nach 1945 über die Bergfilme von Arnold Fanck, in: Preußer, Heinz-Peter; Wilde, Matthias (Hgg.), Kulturphilosophen als Leser. Porträts literarischer Lektüren, Göttingen 2006, S. 120–137.

Britisches Mandatsgebiet Palästina Dänemark Dänemark/Deutschland Deutschland Deutschland/Frankreich Deutschland/Großbritannien Deutschland/Österreich Deutschland/Schweden Deutschland/Tschechoslowakei Frankreich Frankreich/Deutschland Großbritannien Italien Japan Österreich Österreich/Deutschland Österreich/Tschechoslowakei Polen Schweden Sowjetunion Sowjetunion/Deutschland Tschechoslowakei Ungarn Ungarn/Frankreich USA USA/Deutschland 1

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1921

2

1922

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1

2

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1

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71

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1927

36

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1926

32

1925 1 2

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1924 1 1

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1923

Anzahl der Filmrezensionen von Siegfried Kracauer von 1921–1933 nach Produktionsländern

43

1 1

5

3

1 1

11

87 3

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1928

38

1 1 1 6 1 1

4

4 1

48 1 2 3 1 2 1

1929

17

3

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4 1 1

3

42

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2

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27 1

1931

8

1

5

30 1

1932

1 2

2

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1933

Siegfried Kracauer – Zur Entwicklung der professionellen Filmkritik

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Irmtraud und Albrecht Götz von Olenhusen

Eine Auszählung der zwischen 1921 und 1933 publizierten Filmrezensionen nach Ländern, die wir angestellt haben, zeigt, dass Kracauer ungefähr zur Hälfte (48,5 Prozent) deutsche, zu etwas mehr als einem Drittel amerikanische Filme (35,5 Prozent) berücksichtigt hat und zu 16,5 Prozent Koproduktionen oder Produktionen anderer Länder. Dies ist insofern bemerkenswert, als es fast genau dem jeweiligen Marktanteil der Produktionen im Deutschen Reich (47,8 Prozent), den USA (34,7 Prozent) und in anderen (meist europäischen) Ländern (17,5 Prozent) entspricht.12 In absoluten Zahlen hat Kracauer in Einzel- oder Sammelrezensionen 427 deutsche, 316 US-amerikanische und 147 andere ausländische Filme besprochen.13 Die Bedeutung Europas für und seine Avantgardefunktion in der Filmproduktion war schon während des Ersten Weltkrieges zusammengebrochen. Bis dahin hatten französische, dänische und skandinavische sowie italienische Filmproduktionen den Markt in Europa beherrscht und die amerikanische Filmindustrie konnte mit ihren Exporten noch keine Schlüsselposition einnehmen. Nach dem Ersten Weltkrieg konnte sich die Filmproduktion vieler europäischer Länder nicht mehr konsolidieren, wobei in Deutschland die UFA-Gründung der Filmproduktion deutlichen Auftrieb gab. Im europäischen Ausland oder in der Sowjetunion produzierte Filme fanden beim deutschen Publikum nur dann Beachtung, wenn sie zu den ausgesprochenen Avantgardefilmen zu rechnen waren, die auch international Aufsehen erregten. Die filmästhetische und ökonomische Entwicklung der deutschen Filmindustrie der Weimarer Republik ist nicht nur durch herausragende Produktionen – von Robert Wiene, Paul Wegener, F.W. Murnau und Fritz Lang – sondern auch durch zunehmende Kapitalinvestitionen charakterisiert, die sich alsbald einen harten Konkurrenzkampf mit der US-amerikanischen Filmwirtschaft lieferten. Die Konzentrationstendenzen in der deutschen Filmindustrie, die sich dann entwickelnde Wirtschaftskrise der Branche und die dadurch mitbedingten amerikanischen Beteiligungen und Übernahmen verwandelten den Filmmarkt. Der Film als eine der Schlüsselindustrien der USA expandierte in die profitablen ausländischen Märkte mit den Folgen einer auch in Deutschland wirksamen, wirtschaftlichen und kulturellen „Amerikanisierung“.14 Die Entwicklung einer professionalisierten Filmkritik ist ohne die von Kracauer kritisch kommentierte deutsche Filmproduktion im Vergleich zur ausländischen und ohne den „Siegeszug“ des „Hollywoodfilms“ und die dadurch ausgelösten Diskussionen über den mentalen und sozialen Wandel zwischen sogenannter Neuer und sogenannter Alter Welt nicht zu denken. In 12 Diese Zahlen sind entnommen: Saekel, Ursula, Der US-Film in der Weimarer Republik – ein Medium der „Amerikanisierung“? Deutsche Filmwirtschaft, Kulturpolitik und mediale Globalisierung im Fokus transatlantischer Interessen, Paderborn 2011, Tabelle 52, S. 255. 13 Hier kann nicht weiter differenziert werden. Es ist aber darauf hinzuweisen, dass bis 1926 amerikanische Exporte den deutsche Filmmarkt beherrschten und dass erst durch die Einführung des Tonfilms ab 1927 deutsche Produktionen dominierten, wobei der Marktanteil 1930 die 50-Prozent-Marke überschritt und 1932 sogar 62 Prozent erreichte. 14 Vgl. Saekel, Ursula, Der US-Film in der Weimarer Republik; Saunders, Thomas J., Hollywood in Berlin. American Cinema and Weimar Germany, Berkley 1994.

Siegfried Kracauer – Zur Entwicklung der professionellen Filmkritik

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einer nicht in der Frankfurter Zeitung, sondern 1931 in der Europäischen Revue publizierten Analyse Internationaler Tonfilm geht es Kracauer um die Internationalisierung des Stummfilms bzw. um Globalisierungsprozesse als Folge des methodisch durchgeführten Bildertransports, um den Lernprozess in Bezug auf die national differierenden Sichtweisen der Amerikaner, der Deutschen und der Franzosen und um die Internationalisierung und Angleichung global verwertbarer Montagetechniken und Stoffe. Zugleich entwickelte Kracauer aber für den jetzt den Stummfilm ablösenden Tonfilm ein Konzept: „Das heißt, er muss entweder bedeutende nationale Eigentümlichkeiten der Welt vorstellen oder Dinge zur Sprache bringen, mit denen sich die ganze Welt beschäftigt.“15

Der Filmkritiker wird hier zu einem Technik, Ästhetik und Produktionsbedingungen kritisch und zugleich konstruktiv begleitenden Analytiker. Als sich Kracauer 1932 über die Aufgabe des Filmkritikers im Sinne einer „unabhängigen Filmkritik […] die wir seit Jahren in der Frankfurter Zeitung zu pflegen suchen“ äußerte, ging er von der Tatsache aus, dass der Film in der kapitalistischen Wirtschaft eine Ware wie andere sei, nicht im Interesse der Kunst oder der Aufklärung, sondern ihres erwarteten Nutzens wegen produziert. Der Filmkritiker dürfe die entsprechenden gesellschaftlichen Wirkungen nicht unberücksichtigt lassen. Der Einfluss auch der gehaltärmsten Filme auf die Publikumsmassen und dessen Richtung gehöre zu den „Kardinalfragen“: „Die Aufgabe des zulänglichen Filmkritikers besteht nun meines Erachtens darin, jene sozialen Absichten, die sich oft sehr verborgen in den Durchschnittsfilmen geltend machen, aus ihnen herauszuanalysieren und ans Tageslicht zu ziehen, das sie nicht selten scheuen.“16

Kracauer will das Gesellschaftsbild, die abgebildete Scheinwelt mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit konfrontieren. Der Filmkritiker sei nur als Gesellschaftskritiker denkbar, ohne freilich bei den gehaltvollen Filmen die filmästhetische Durchdringung zu vernachlässigen. Demgegenüber blieben andere, die wie Kracauer als Linksintellektuelle zu bezeichnen waren, wie Herbert Jhering, Béla Balász und Arnheim, nach ihrem Selbstverständnis Exponenten einer primär filmästhetischen Betrachtungsweise. Sein, wenn man so will, implizites Programm für eine und speziell seine Filmkritik hatte Kracauer allerdings schon 1927 entwickelt: „Der Inbegriff der Filmmotive ist zugleich die Summe der gesellschaftlichen Ideologien, die durch die Deutung dieser Motive entzaubert werden.“17 Als sozial- und kulturkritische Abrechnung mit dem deutschen Film, der sogenannten Durchschnittsware, aber auch mit dem sogenannten Kunstfilm ist ein Jahr später 15 Kracauer, Siegfried, Internationaler Tonfilm, S. 477. 16 Kracauer, Über die Aufgabe des Filmkritikers; Forrest, Tara, The Politics of Imagination. Benjamin, Kracauer, Kluge, Bielefeld 2007. 17 Kracauer, Siegfried, Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino, in: Frankfurter Zeitung März (1927). Dies war ein Sonderdruck der Frankfurter Zeitung im März 1927. Die Artikel waren vom 11.03. bis 19.03.1927 in der Frankfurter Zeitung erschienen und wurden im Sonderdruck als „Film und Gesellschaft“ zusammengefasst.

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seine Darstellung Der heutige Film und sein Publikum zu lesen. Die Substanzlosigkeit übertreffe womöglich noch die amerikanische Produktion. Im Interesse der stabilisierten Gesellschaft würden Ideologien aufgerichtet, die dem Hauptstamm der Kinobesucher, den kleineren Angestellten, „die Aussicht versperren“. In der Gesinnung der Filme werde die gesellschaftliche Wirklichkeit „verflüchtigt, beschönigt, entstellt“.18 Das 1932 zusammengefasste Aufgabengebiet der Filmkritik praktizierte Kracauer seinem Selbstverständnis nach schon Jahre zuvor durchgehend, wobei er sich selbst auch von einer zwar kritischen, aber nur auf Symptome wie „Profitgeist und das Starwesen“19 , allenfalls auf den Zusammenhang zwischen Industrieinteressen und Filmideologie fokussierten Filmkritik abgrenzte. Literaturhinweise Bächlin, Peter, Der Film als Ware, Basel 1947. Despoix, Philippe, Ethiken der Entzauberung. Zum Verhältnis von ästhetischer, ethischer und politischer Sphäre am Anfang des 20. Jahrhunderts, Bodenheim 1998. Diederichs, Helmut H., Anfänge deutscher Filmkritik, Stuttgart 1986. Mülder, Inka, Siegfried Kracauer – Grenzgänger zwischen Theorie und Literatur. Seine frühen Schriften 1913–1933, Stuttgart 1985. Saekel, Ursula, Der US-Film in der Weimarer Republik – ein Medium der „Amerikanisierung“? Deutsche Filmwirtschaft Kulturpolitik und mediale Globalisierung im Fokus transatlantischer Interessen, Paderborn 2011.

Quelle Siegfried Kracauer und die Professionalisierung der Filmkritik: Internationaler Tonfilm? (1931) und Über die Aufgabe des Filmkritikers (1932)20 1. Internationaler Tonfilm? (1931) Der stumme Film war keineswegs in dem Sinne international, in dem die landwirtschaftlichen Maschinen und die Kragenknöpfchen es sind. Gewiß, da er das Glück hatte, keine Worte machen zu müssen – es sei denn in den Bildtiteln, die leicht übersetzbar waren –, konnte er überall hindringen, wo man zu sehen verstand. Aber die Sprache der Bilder ist kaum minder national bedingt wie die der Musik. Und so wenig die musikalische Ausdrucksweise eines Volkes einem anderen ohne weiteres einzugehen vermag, ebensowenig entsprechen die visuellen Verständigungsmittel der verschiedenen Nationen von vornherein einem natürlichen 18 Siegfried Kracauer, Der heutige Film und sein Publikum, in: Frankfurter Zeitung 30.11. und 01.12.1928, in: Ders., Werke. Bd. 6.2, S. 152. 19 Ebd., S. 163. 20 Kracauer, Siegfried, Internationaler Tonfilm?, in: Ders., Werke. Bd. 6.2: Kleine Schriften zum Film 1928–1932, hg. von Mülder-Bach, Inka, Frankfurt am Main 2004, S. 475–479; Erstveröffentlichung in: Europäische Revue, März 1931; Ders., Über die Aufgabe des Filmkritikers, in: Ders., Werke. Bd. 6.3: Kleine Schriften zum Film 1932–1961, hg. von MülderBach, Inka, Frankfurt am Main 2004, S. 61–63; Erstveröffentlichung in: Film-Kurier, 21.05.1932; Wiederveröffentlichung in: Frankfurter Zeitung, 23.05.1932.

Siegfried Kracauer – Zur Entwicklung der professionellen Filmkritik

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Esperanto. […] Ökonomisch geforderte Ausfuhr aus den hauptsächlichsten Filmproduktionsländern brachte es zuwege, daß man in den Absatzgebieten nach und nach so sehen lernte wie die Amerikaner, die Deutschen und die Franzosen, und die Rücksicht auf die Konsumentenbedürfnisse gebot zugleich die Wahl bestimmter international faßlicher Stoffe sowie die Verfestigung gewisser optischer Ausdruckszeichen. Wie mit Vorliebe Themen verfilmt wurden, die zwischen New York und Tokio heimisch waren, so näherten sich auch die verschiedenen Montagemethoden zusehends einander an. Der stumme Film ging im großen und ganzen nicht von der Internationalität der visuellen Impressionen aus, er ging auf sie zu. Aber man darf sich durch diese großartige Vermittlungsaktion, die er unternommen hatte, nicht darüber hinwegtäuschen lassen, daß der Sehraum der amerikanischen Grotesken ein anderer war als der, in dem die Kamera der Russen panoramierte. Der tönende Film hat dem durch den stummen eingeleiteten Prozeß ein Ende gemacht. Genauer gesagt: der Sprechfilm. Denn die Mick[e]y-Maus-Filme etwa, die von Musik und undefinierbaren komischen Lauten begleitet sind, werden ja in der ganzen Welt belacht. Die Grenze der Verständlichkeit beginnt erst mit dem Einsatz der Worte. Kaum hatten sie die Herrschaft an sich gerissen, so war es mit dem internationalen optischen Austausch vorbei, und man wird noch heute das bittere Gefühl nicht los, nach den paradiesischen Zeiten einer alle Völker verbindenden Bilderrede wieder in das Chaos der babylonischen Sprachverwirrung zurückgeworfen zu sein. Doch mit der Technik läßt sich schwer rechten, und die kapitalistischen Notwendigkeiten drängen zum Glück darauf, die verlorene Internationalität des stummen Films dem sprechenden zurückzuerobern. […] Je mehr die Sprache zurückgedrängt wird und die freie Bildmontage wieder in ihre alten Rechte tritt, desto besser werden die Tonfilme und desto leichter sprengen sie auch die nationalen Grenzen. […] Und nutzten gar die Tonfilme statt der Sprache des jeweiligen Entstehungslandes mehr die der Geräusche aus, die in allen Ländern heimisch ist, so kämen sie vermutlich bald der Fassungskraft des Weltpublikums kaum weniger entgegen als einst der stumme Film. 2. Siegfried Kracauer: Über die Aufgabe des Filmkritikers (1932) Die Frankfurter Tagung der Lichtspieltheater-Besitzer bietet mir einen guten Anlaß, mich einmal etwas allgemeiner über die Aufgaben einer unabhängigen Filmkritik zu äußern; jener Filmkritik, die wir seit Jahren in der Frankfurter Zeitung zu pflegen suchen. Der Film ist innerhalb der kapitalistischen Wirtschaft eine Ware wie andere Waren auch. Er wird – von wenigen Outsidern abgesehen – nicht im Interesse der Kunst oder der Aufklärung der Massen produziert, sondern um des Nutzens willen, den er abzuwerfen verspricht. […] Wie soll er sich ihnen gegenüber verhalten? Diese Filme sind bald besser, bald schlechter arrangiert und je nach dem Einsatz der Mittel und Kräfte mit einem größeren oder geringeren Aufwand hergestellt. Es versteht sich von selbst, daß die Kritik – gerade die Tageskritik – solche Unterschiede sorgfältig beachten muß, und manche Kritiker beschränken sich ja auch wirklich darauf, bei der Würdigung irgendwelcher Filme alle möglichen Einzelheiten hervorzuheben, die ihrem Geschmack entsprechen oder nicht entsprechen. Aber in einem derartigen Verhalten, das noch dazu meistens von ganz ungeklärten Empfindungen ausgeht, kann sich die Aufgabe des Filmkritikers dem Durchschnitt der Pro-

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duktion gegenüber nie und nimmer erschöpfen. Denn so wenig die filmischen Durchschnittsleistungen als Kunstwerke gewertet zu werden verlangen, ebensowenig sind sie gleichgültige Waren, denen durch eine rein geschmackliche Beurteilung schon Genüge geschieht. Sie üben vielmehr außerordentlich wichtige gesellschaftliche Funktionen aus, die kein Filmkritiker, der diesen Namen verdient, unberücksichtigt lassen darf. […] Gewiß befleißigen sich gerade die typischen Filme anscheinend der Tendenzlosigkeit; damit ist jedoch keineswegs gesagt, daß sie nicht mittelbar bestimmte soziale Interessen verträten. […] Die Aufgabe des zulänglichen Filmkritikers besteht nun meines Erachtens darin, jene sozialen Absichten, die sich oft sehr verborgen in den Durchschnittsfilmen geltend machen, aus ihnen herauszuanalysieren und ans Tageslicht zu ziehen, das sie nicht selten scheuen. Er wird zum Beispiel zu zeigen haben, was für ein Gesellschaftsbild die zahllosen Filme rnitsetzen, in denen eine kleine Angestellte sich zu ungeahnten Höhen emporschwingt oder irgendein großer Herr nicht nur reich ist, sondern auch voller Gemüt. Er wird ferner die Scheinwelt solcher und anderer Filme mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu konfrontieren und aufzudecken haben, inwiefern jene diese verfälscht. Kurzum, der Filmkritiker von Rang ist nur als Gesellschaftskritiker denkbar. Seine Mission ist: die in den Durchschnittsfilmen versteckten sozialen Vorstellungen und Ideologien zu enthüllen und durch diese Enthüllungen den Einfluß der Filme selber überall dort, wo es nottut, zu brechen. Ich habe mit Absicht nur die der Durchschnittsproduktion gegenüber gebotene kritische Einstellung behandelt. Filme, die echte Gehalte bergen, waren und sind selten. Bei ihrer Betrachtung darf natürlich der Akzent nicht allein auf der soziologischen Analyse liegen, sondern diese hat sich mit der immanent-ästhetischen zu durchdringen. Auf die Schwierigkeiten einer solchen Durchdringung kann indessen hier nicht mehr eingegangen werden.

GEBURT EINER WISSENSCHAFT. ZUR PROFESSIONALISIERUNG DER TOURISMUSFORSCHUNG 1 Hasso Spode Im Jahr 1998 fand an der Evangelischen Akademie Loccum eine Expertentagung über den Zustand der Tourismusforschung statt. Die Zusammenkunft fiel in eine Zeit des gärenden Unbehangens mit der „Theorieferne“ der Tourismusforschung und deren marginaler Rolle im Wissenschaftsbetrieb. „Die Disziplin der Liliputaner“ überschrieb denn auch die Frankfurter Rundschau ihren Bericht. 2 Gemessen am Gewicht des Tourismus im Gefüge entwickelter Gesellschaften war die damit befasste Wissenschaft in der Tat ein seltsam exotisches Fach. Als klassischer Fall einer „instrumentellen“, auf Zweck-Mittel-Optimierung limitierten „Kunstlehre“ 3 unter dem Dach der Wirtschaftswissenschaften, teils auch der Geographie, litt diese kleine Disziplin unter ihrem Spagat zwischen Wirtschaft und Wissenschaft: Die Tourismusbranche war bislang auch ohne Akademiker erfolgreich gewesen – hier musste das Fach also die Praxisorientierung pflegen und kommunizieren. Dies aber schloss es aus dem Kreis der prestigeträchtigen „reinen“ Wissenschaften aus – im akademischen Feld musste es also seine „Wissenschaftlichkeit” beschwören und versuchen, Ansprüche Dritter auf den Gegenstand abzuwehren. Dies gelang nun immer weniger: Weltweit war die etablierte Fremdenverkehrsforschung in eine schwere Legitimationskrise geraten. Im deutschsprachigen Raum, deren Kernland, hatte das multidisziplinäre Handbuch zur Tourismuswissenschaft das Monopol der etablierten „Kunstlehre“ nachhaltig herausgefordert; in dessen Gefolge erschienen 1997 gleich zwei neue Zeitschriften auf dem Wissenschaftsmarkt und im Vorjahr war es zur Gründung der ebenfalls multidisziplinären Deutschen Gesellschaft für Tourismuswissenschaft (DGT) gekommen. 4 Mit der Forderung nach einer Tourismuswissenschaft „in der Erweiterung“ hatte 1 2 3

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Essay zur Quelle: Letzte Ausgabe des Archiv für den Fremdenverkehr (1935). Die Disziplin der Liliputaner, in: Frankfurter Rundschau, 21.02.1998, zitiert nach: Burmeister, Hans-Peter (Hg.), Auf dem Weg zu einer Theorie des Tourismus, Rehburg-Loccum 1998, S. 239. Vgl. meinen Tagungsbeitrag ebd.; zur Richtungsdebatte z.B. Reeh, Tobias, Der Wunsch nach Urlaubsreisen in Abhängigkeit von Lebenszufriedenheit und Sensation Seeking, Dissertation, Göttingen 2005, S. 20ff.; Tribe, John, The Indiscipline of Tourism, in: Annals of Tourism Research 24 (1997), S. 524ff. Hahn, Heinz; Kagelmann, H. Jürgen (Hgg.), Tourismuspsychologie und Tourismussoziologie. Ein Handbuch zur Tourismuswissenschaft, München 1993; vgl. die Editorials zu den jeweiligen Auftaktbänden von Voyage. Jahrbuch für Reise- & Tourismusforschung 1 (1997), H. 1 und Tourismus-Journal 1 (1997), H. 1.

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man unbewusst zu den Anfängen der Fremdenverkehrsforschung zurückgefunden, als versucht worden war, diese als eine Kultur- bzw. Sozialwissenschaft zu begründen. Dass in der Nachkriegszeit daraus nichts wurde, führte letztlich in die Krisis der 1990er-Jahre – die bis heute weiterschwelt. Im Folgenden soll der schwierige Weg der akademischen Professionalisierung auf dem Feld des Tourismus aufgezeigt werden. Doch zunächst eine Vorbemerkung. In jenen Richtungsdebatten war viel von einem „Paradigmenwechsel“ die Rede. Dieses aus Thomas Kuhns berühmter Wissenschaftstheorie 5 entlehnte Schlagwort traf eine verbreitete Stimmung. Kuhns Modell ist zwar nur cum grano salis auf nicht-naturwissenschaftliche Disziplinen übertragbar, erweist sich aber auch hier als hilfreich. Die Etablierung einer Fachdisziplin bedarf zweier Voraussetzungen: eines abgegrenzten Gegenstands und eines „erkenntnisleitenden Interesses“. Hierzu liefert die „empirische Wirklichkeit“ das Ausgangsmaterial, aus dem ein Teil herausgetrennt und geordnet wird. Die basalen Regeln, nach denen dies geschieht, bilden einen strukturierten Wissenszusammenhang, einen Kanon von Annahmen, Fragen und Methoden. Gelingt die Etablierung, kann man idealiter von einem wissenschaftlichen Paradigma sprechen, das das puzzle solving der scientific community leitet. Im Gegensatz zu strikt konstruktivistischen Ansätzen sei jedoch angenommen, dass ein Paradigma in alltagsweltliche Erfahrungs- und Deutungsmuster eingebettet bleibt und somit auch eine Antwort auf die Welt außerhalb des Wissenschaftssystems dar- und bereitstellt – wobei, zugegebenermaßen, Modus und Umfang dieser Einbettung beträchtlich variieren können. Eine Fachdisziplin, die sich mit dem Tourismus befasst, setzt mithin eine gesellschaftliche Wahrnehmung des Tourismus voraus, die ihn erstens von anderen Formen horizontaler Mobilität unterscheidet und ihm zweitens „Kulturbedeutung“ im Sinne Max Webers beimisst. Diese Voraussetzungen waren um 1900 weithin erfüllt, führten dann aber nur zögernd und punktuell zur Herausbildung einer akademischen Disziplin. Im späten 19. Jahrhundert hatte der Tourismus einen beachtlichen Aufschwung genommen. Fast zeitgleich setzte eine systematische Reflektion dieses Mobilitätsphänomens ein und zwar vorrangig im deutschsprachigen Raum. 6 Für einen gewissen Durchbruch sorgte hierbei der Delegiertentag zur Förderung des Fremdenverkehrs in den österreichischen Alpenländern 1894, bei dem die „Fremdenindustrie“ erstmals volkswirtschaftlich definiert wurde: Sie führe den Konsumenten zu Gütern, „welche nicht transportabel sind“, wie die Berge und das Klima, und „verwandelt also bisher unbenützte Güter in wirtschaftliche Güter“, wie der Tagungspräsident Josef Stradner ausführte. 7 Es erschienen einige Aufsätze 5 6

7

Kuhn, Thomas S., The Structure of Scientific Revolutions, Chicago 1962. Zum Folgenden vgl. Dann, Graham M.S.; Liebman-Parrinello, Giuli (Hgg.), The Sociology of Tourism: European Origins and Developments, Bingley 2009 sowie Bernecker, Paul, Die Stellung des Fremdenverkehrs im Leistungssystem der Wirtschaft, Wien 1956, beide mit ausführlichen (bei Bernecker allerdings nicht immer korrekten) Literaturlisten. Material zur Fremdenverkehrsforschung seit 1900 findet sich im Historischen Archiv zum Tourismus (HAT). Bernecker, Die Stellung des Fremdenverkehrs, S. 4f.

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und 1905 verfasste Stradner das erste Buch dazu: Der Fremdenverkehr. Eine volkswirtschaftliche Studie. Diese Arbeiten waren nicht viel mehr als der Versuch, den Blick auf ein bislang wenig beachtetes Phänomen zu lenken, das nach Meinung der Autoren von hoher „Kulturbedeutung“ war. In Anlehnung an Kuhn ließe sich auch von einer „Anomalie“ im nationalökonomischen Paradigma sprechen, die von Außenseitern aufgedeckt wurde. Für die weitere Entwicklung kennzeichnend ist das Bemühen, den „Fremdenverkehr“ begrifflich zu fassen, wobei er oft vom übrigen Reiseverkehr abgegrenzt wird. Eine Grundvoraussetzung für eine professionalisierte Ausbildung und Forschung war damit gegeben: Das Kind hatte einen Namen bekommen. In der Summe waren die Produktionen aber zu sporadisch, um die Herausbildung einer Fachdisziplin einleiten zu können. So scheiterte 1921 auch der erste Versuch einer Institutionalisierung von Lehre und Forschung: Die 1914 in Düsseldorf gegründete Hochschule für das Hotel- und Verkehrswesen stellte den Lehrbetrieb ein; der Plan ihres Leiters Robert Glücksmann, dort ein Forschungsinstitut einzurichten, war damit Makulatur. Allerdings lenkte die angespannte Wirtschaftslage, auf die mit neomerkantilistischen Abschottungspolitiken reagiert wurde, nun verstärkt das Interesse auf den Tourismus als Einnahmequelle bzw. als Faktor der „Zahlungsbilanz“, dem Zauberwort der Ökonomen. Dies induzierte eine wachsende Nachfrage nach Expertenwissen. 1927 erschien dann im einflussreichen Handwörterbuch der Staatswissenschaften ein Artikel „Fremdenverkehr“, und 1930 nahm der Große Brockhaus erstmals das Lemma „Fremdenverkehr“ auf. War dieser statistischtechnische Begriff vor dem Krieg nur in Fachkreisen eingeführt, so wurde er nun Allgemeingut. 8 Der Brockhaus erwähnte auch ein einschlägiges Institut: 1929 hatte Glücksmann seinen zuvor in Düsseldorf gescheiterten Plan in Berlin umsetzen können und an der Handelshochschule das Forschungsinstitut für den Fremdenverkehr gegründet. Vorausgegangen waren ein Kursus an der IHK Berlin und intensive Verhandlungen mit kommunalen Stellen und den Spitzenverbänden; als flankierender Träger wurde eine Gesellschaft für Fremdenverkehrskunde E.V. ins Leben gerufen. Die Handelshochschule Berlin war eine innovative Lehr- und Forschungseinrichtung, an der so unterschiedliche Geister wirkten wie Werner Sombart und Carl Schmitt. Die Gründungswelle solcher Hochschulen um 1900 steht – um mit Jean Fourastié zu sprechen – am Beginn des langen Übergangs von der „sekundären“ zur „tertiären Zivilisation“. Die zunehmende Komplexität der Betriebsführung und Verwaltung ließ den Bedarf an entsprechend geschultem Personal an8

Der Begriff ist schon 1850 nachweisbar und wurde um 1900 in etliche Sprachen lehnübersetzt (z.B. movimento dei forestieri), während im Französischen die Neubildung tourisme entstand, die ins Italienische, später auch ins Englische gelangte und sich dort nach dem Zweiten Weltkrieg durchsetzte, zeitverzögert auch im Deutschen. Auch hier fand sich sporadisch „Tourismus“, doch bis Mitte des 20. Jahrhunderts waren lediglich „Tourist“ und „Touristik“ eingeführt und zwar beschränkt auf Rundeisende, zumal Wanderer und Bergsteiger.

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wachsen. Auch der Wirtschaftsbürger konnte nun Anspruch machen auf kulturelles Kapital in Gestalt von akademischen Titeln und sich „Diplom-Kaufmann“ nennen. In diesem Kontext hatte sich die Handelswissenschaft bzw. Betriebswirtschaftslehre aus der praktischen Betriebskunde und der Volkswirtschaftslehre entwickelt; freilich rang sie noch lange – letztlich bis heute – um Anerkennung im Wissenschaftssystem. In einem eher der „Kunstlehre“ als der „reinen“ Wissenschaft zugerechneten Rahmen bewegten sich auch Glücksmanns Aktivitäten. 9 Seit 1926 hielt Angelo Mariotti an der Politischen Fakultät der Universität Rom Lehrgänge in Fremdenverkehrswirtschaft ab, doch war das Berliner Institut ein Novum: Erstmals wurde ein Hochschulinstitut einzig dem Tourismus gewidmet. In der interdisziplinären Forschung wurde Pionierarbeit geleistet; zudem wurde ein historisches Archiv aufgebaut. Die Lehre umfasste eine breite Palette aus Betriebs-, Hotel- und Verkehrswirtschaft, Werbung, Geschichte, Geographie und Recht. Ein spezieller Diplom-Abschluss konnte allerdings nicht erworben werden und die Hörerzahlen waren gering. Sprachrohr des Instituts wurde 1930 eine Fachzeitschrift: das Archiv für den Fremdenverkehr. Die Vierteljahresschrift gab den entscheidenden Anschub für die Formierung einer spezialisierten Forschung, indem sie einer noch sehr überschaubaren, aber bereits internationalen scientific community die nötige Plattform bot. Statistik und Nationalökonomie bildeten einen Schwerpunkt der Beiträge, daneben wurden Fragen der Organisation und Fremdenverkehrspolitik, der Werbung, der Geographie, des Hotel-, des Verkehrs-, und des Bäderwesens behandelt; ebenfalls fanden sich theoretische Reflexionen. Für den Eröffnungsbeitrag der ersten Nummer hatte Glücksmann den renommierten Soziologen Leopold von Wiese gewonnen, der den Fremdenverkehr in seine an Simmel orientierte Beziehungslehre einordnete. Die Einladung von Wieses dokumentierte den hohen wissenschaftlichen Anspruch des Archivs, allerdings blieben soziologische Beiträge später die Ausnahme. Als Ort der „Fremdenverkehrskunde“ zeichnete sich vielmehr eine Lage zwischen Ökonomie und Geographie ab, bei allerdings ganz offenen Grenzen zu anderen Fächern. Das Berliner Institut und sein Archiv hatten – wie es ein Jahrzehnt später hieß – „bahnbrechend gewirkt“. 10 In der Folge wurden einschlägige Studien verfertigt, und es entstand das Genre der Fremdenverkehrslehren, die ihren Gegenstand in abstrakterer Form umreißen. Modellgebend war Artur Bormanns Lehre vom Fremdenverkehr 1931, gefolgt von Glücksmanns Allgemeiner Fremdenverkehrskunde 1935 und Arthur J. Norvals Rotterdamer Dissertation The Tourist Industry 1936, die sich stark auf Arbeiten aus dem Umkreis des Archivs stützte. Das Auftauchen von Zeitschriften, Lehrbüchern und Instituten ist, wie Kuhn gezeigt hat, ein untrügliches Zeichen der Etablierung einer neuen scientific com9

Vgl. auch die Erinnerungen seines Mitarbeiters Adolf Grünthal im Jahrbuch für Fremdenverkehr 10 (1962), S. 3ff. 10 Hunziker, Walter; Krapf, Kurt, Grundriss der Allgemeinen Fremdenverkehrslehre, Zürich 1942, S. 27.

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munity – oder doch zumindest einer paradigm small group. Mitte der 1930erJahre stellte sich in Mitteleuropa die „Fremdenverkehrskunde“, wenn auch randständig und ungefestigt, als eine neue Fachdisziplin dar. Allerdings gab es zunächst einen empfindlichen Rückschlag. 1934/1935 wurde das Institut aufgelöst, und das Archiv stellte sein Erscheinen ein. 11 Damit verlor die Forschung ihre zentrale Produktionsstätte und Anlaufstelle. Hierfür waren sowohl akzidentelle als auch strukturelle Ursachen maßgebend. Der Aufbau des Instituts fiel in die Weltwirtschaftskrise, auf die mit rigider Sparpolitik reagiert wurde, die auch den Spielraum der Hochschulen enorm einengte. Als dann 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kamen, bedeutete die jüdische Herkunft Glücksmanns dann das endgültige Aus für das Institut. Als „Beamter nicht arischer Abstammung“ musste Professor Glücksmann die Hochschule verlassen; er starb 1942 in Theresienstadt. Die strukturellen Ursachen waren wissenschaftsimmanenter Art: Da eine neue Fachdisziplin den vorhandenen Fächern Kompetenzen streitig macht, hat sie prinzipiell mit Widerständen zu kämpfen. Glücksmann und „sein“ Archiv hatten weite Definitionen des Fremdenverkehrsbegriffs propagiert, wodurch diese Rivalitäten noch verschärft wurden. An der Handelhochschule fürchteten Kollegen, das Institut wolle die gesamte Verkehrswissenschaft an sich reißen. Hinzutrat, dass der Gegenstand Fremdenverkehr wenig akademische Reputation verhieß, was umso schwerer wog, als die Betriebswirtschaft selbst noch um ihren wissenschaftlichen Status rang. So genoss das Institut an der Handelshochschule wenig Rückhalt. Andernorts wurde es mehr mit Wohlwollen registriert. An der Wiener Hochschule für Welthandel entstand 1934 ein Institut für Fremdenverkehrsforschung, die älteste noch bestehende Einrichtung dieser Art. Es war allerdings eher verkehrskundlich und auf die Lehre ausgerichtet. Die Außenwirkung war entsprechend bescheiden. Dies galt auch für ein weiteres Institut in Athen. In Deutschland war das Thema zwar in der Akademia etabliert, institutionell blieb Glücksmanns Werk aber ohne Nachfolger, obschon das NS-Regime dem Tourismus einen ungewöhnlich hohen Stellenwert zumaß. Die erst kurz vor Kriegsausbruch gegründete Hermann Esser Forschungsgemeinschaft für Fremdenverkehr 12 war nahezu inaktiv; einzig deren 1941 an der Heidelberger Universität eingerichtete „Außenstelle“, das Institut für Betriebswirtschaft des Fremdenverkehrs, brachte bis 1944 ein paar Veröffentlichungen zum Hotelwesen zustande. Zudem erschienen weiterhin einschlägige Arbeiten, zum Beispiel die innovative Studie des Geographen Hans Poser über die Touristifizierung des Riesengebirges. Doch der Schwerpunkt der Fremdenverkehrswissenschaft verlagerte sich in die Schweiz. Hier unternahm man einen zweiten und diesmal nachhaltigen Anlauf zu einer Institutionalisierung und zwar mit Blick auf den zu erwartenden Aufschwung nach Kriegsende. 1941 wurden gleich zwei Institute gegründet, die eng kooperierten: An der Universität Bern entstand das Forschungsinstitut für Fremdenverkehr. 11 Archiv für den Fremdenverkehr 5 (1935), H. 4, S. 1. 12 Esser, ein früher Weggefährte Hitlers, war Präsident des Reichfremdenverkehrsverbands.

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Fast namensgleich mit dem Berliner Vorbild hatte es auch ähnliche Aufgabenstellungen: Erforschung „aller“ mit dem Fremdenverkehr zusammenhängender Fragen sowie akademische Lehre. Leiter war seit 1943 der junge Ökonom Kurt Krapf. Er war enger Mitarbeiter des Direktors des Schweizerischen Fremdenverkehrsverbandes, Walter Hunziker. Dieser übernahm in St. Gallen die Leitung des Seminars für Fremdenverkehr an der Handelshochschule. Hier wurde der Schwerpunkt auf die Lehre und die Herausgabe einer Schriftenreihe gelegt. Beide Institute hatten zunächst bescheidene Hörerzahlen. Umso wichtiger waren die programmatischen Produktionen. Hierbei sind zwei Phasen zu unterscheiden. 1942 veröffentlichten Hunziker und Krapf eine Allgemeine Fremdenverkehrslehre. 13 Wie schon Bormann suchten sie die junge Disziplin mittels eines Kompendiums zu kanonisieren; grundlegend Neues findet sich kaum. Dennoch wirkte das Werk paradigmatisch hinsichtlich Definition, Systematik und Justierung des Faches als eigenständiges, aus „praktischen Erwägungen“ der Wirtschaftswissenschaft zugeordnetes Gebiet. Obschon einleitend betont wird, dass „im Mittelpunkt der Mensch“ stehe, fehlen soziologische und psychologische Aspekte nahezu, ebenso geographische. Das Buch wurde dennoch – oder deshalb – zu dem Standardwerk, zu einer Art Gebrauchsanleitung für Forschung und Lehre, die bis heute nachwirkt. Zu den Nachwirkungen zählt auch ein Darstellungsduktus, der sich in Auflistungen und Diagrammen erschöpft, die die empirische Wirklichkeit ordnen sollen. Beispielsweise findet sich bei der Untergliederung der Kurorte eine Untergruppe „Quellenbäder“, die wiederum in Anlehnung an die Balneologie säuberlich in „kalte, warme, mineralhaltige, radioaktive“ unterteilt ist. Zweck, Methode und erkenntnistheoretische Grundlagen solcher Klassifikationen bleiben unreflektiert. Nicht zuletzt solche Apodiktik bezeichnet die Differenz zwischen „Kunstlehre“ und Wissenschaft. Auf einer 1943 nach St. Gallen einberufenen Tagung hatte der Ökonom Wilhelm Röpke moniert, es fehle an Ehrgeiz, „die allgemeine nationalökonomische und soziale Rolle” des Tourismus in „irgendeinem tieferen Sinne“ zu erforschen. 14 Diese Bedenken teilten auch Krapf und Hunziker. Letzterer unternahm daher den Versuch, das junge Fach auszuweiten und theoretisch abzustützen: Die „Kunstlehre“ sollte zu einer „richtigen“, prestigeträchtigen Wissenschaft werden. 15 Indem er den Tourismus dabei neukantianisch als „Kulturerscheinung“ begriff, schwebte Hunziker nicht weniger vor, als „eine völlig neue Disziplin zu schaffen“. Diese „muss sich nach dem Kultursystem als Ganzem […] orientieren“ und gehört somit als empirische Kulturwissenschaft der Soziologie an. Keinesfalls ist sie eine Wirtschaftswissenschaft; vielmehr bilden wirtschaftliche Fragen lediglich ein Teilgebiet der „wissenschaftlichen Fremdenverkehrslehre“. Den theoretischen Ansatz der „neuen Disziplin“ entwickelte Hunziker in Anlehnung an Max Weber und 13 Hunziker; Krapf, Grundriss, passim. 14 Zitiert nach: Bernecker, Die Stellung des Fremdenverkehrs, S. 31. 15 Hunziker, Walter, System und Hauptprobleme einer wissenschaftlichen Fremdenverkehrslehre, St. Gallen 1943, hier S. 24ff.; vgl. auch Ders.; Krapf, Kurt, Beiträge zur Fremdenverkehrslehre und Fremdenverkehrsgeschichte, Bern 1941.

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besonders an Sombart. Fremdenverkehr ist ein – erkenntnistheoretisch gesprochen: gedachtes – „System“, das wiederum ein „Grundelement“ des modernen „Kultursystems“ bildet und mit diesem in Wechselwirkung steht: Zum einen erfüllt es „in“ ihm „Funktionen“, zum anderen bestimmt das sich wandelnde „Kultursystem“ die jeweilige „Realisierung und Konkretisierung“ des „Fremdenverkehrssystems“. 16 Manches bleibt in diesem Entwurf widersprüchlich und, wie der Funktionsbegriff, undeutlich; Hunziker selbst hatte vorsorglich von einer „Diskussionsgrundlage“ gesprochen. Gleichwohl stellen seine Überlegungen den ersten theoriegeleiteten Versuch der Fundierung einer umfassenden Grundlagenforschung dar. Hierbei entwickelte er ein funktionalistisches bzw. systemtheoretisches Konzept avant la lettre. Denn in der Schweiz war die Soziologie wenig entwickelt. Hunziker schöpfte aus der deutschen Nationalökonomie und Soziologie; die neuen funktionalistischen Modelle von Malinowski, Radcliff-Brown und Parsons waren ihm unbekannt (den Funktionsbegriff könnte er stattdessen von Richard Thurnwald übernommen haben). Die geringe sozialwissenschaftliche Expertise schmälert Hunzikers Verdienst keineswegs, im Gegenteil, wirft aber ein bezeichnendes Licht auf den diskursiven Radius der jungen Fachdisziplin. Als Zwischenbilanz ist festzuhalten: Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs war die Fremdenverkehrswissenschaft in Grundzügen ausgearbeitet und institutionalisiert – wenn auch nur in der Schweiz nebst zwei eher unbedeutenden Einrichtungen im „Großdeutschen Reich“. Dem war ein langer Prozess definitorischer Abgrenzungsbemühungen vorausgegangen. Mal waren sie inklusiv, mal exklusiv formuliert, mal standen die Konsumfunktion bzw. die Motive, mal die „Beziehungen” im Vordergrund. Häufig wurde eine Art Allquantor („Inbegriff“, „Summe“ etc.) vorangestellt. Dies verweist sowohl auf den Anspruch, das Terrain möglichst weit in bestehende Nachbardisziplinen auszudehnen als auch auf die prinzipielle Schwierigkeit, die komplexe empirische Wirklichkeit des Tourismus auf einen brauchbaren Arbeitsbegriff zu reduzieren. Gekrönt wurden die Bemühungen mit der Bestimmung, die Hunziker und Krapf 1942 gaben: Fremdenverkehr ist „der Inbegriff der Beziehungen und Erscheinungen, die sich aus dem Aufenthalt Ortsfremder ergeben, sofern durch den Aufenthalt keine Niederlassung zur Ausübung einer […] Erwerbstätigkeit begründet wird“ und die Beziehungen „friedlicher Natur“ sind. 17 Während zuvor Stradner und andere im Fremdenverkehr eine neuartige Form des Raum- und Erfahrungskonsums gesehen hatten, fällt hier der Konsumcharakter unter den Tisch und die Motive werden nur ex negativo berücksichtigt: Der Fremdenverkehrsbegriff sollte außer Krieg und Migration alle Formen horizontaler Mobilität umfassen.

16 Hunziker, System und Hauptprobleme, S. 32ff. 17 Hunziker; Krapf, Grundriss, S. 21f.; die Definition war angelehnt an Gölden, Hubert, Strukturwandlungen des schweizerischen Fremdenverkehrs, 1890–1935, Dissertation, Zürich 1939, S. 8, und wurde von der AIEST und später der OECD grosso modo übernommen.

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Die formale Weite bzw. Inhaltsleere dieser Definition stand in gewissem Widerspruch zu der Intention, ein theoriebasiertes Forschungsprogramm zu begründen, das der „Kulturbedeutung“ des Tourismus gerecht wird: „Den Fremdenverkehr in den grossen Zusammenhang unseres staatlichen, kulturellen und sozialen Lebens zu projizieren, heisst erst über Sinn und Wert dieses Gebildes Rechenschaft ablegen und touristische Theorie wahrhaft zu Ende zu denken.“18

Mit der „wissenschaftlichen Fremdenverkehrslehre“ von 1943 lag hierfür eine vielversprechende Arbeitsgrundlage vor. Nach dem Krieg nahm die Entwicklung allerdings eine entgegengesetzte Richtung. Die Allgemeine Fremdenfremdenverkehrslehre von 1942 wurde zur Bibel der Zunft, während das alternative Konzept vom Folgejahr rasch in Vergessenheit geriet. Gerade Hunziker war ein Vorreiter der neuen Bescheidenheit: „Für die Fremdenverkehrswissenschaft ergibt sich die unabwendbare Verpflichtung, in erster Linie den wirtschaftlichen Phänomenen auf den Grund zu gehen“ und dazu beizutragen, dass die Tourismuspolitik „in gesunde Bahnen gelenkt wird“. 19 Die hochfliegenden Pläne einer „reinen“ Wissenschaft schrumpften wieder zur „Kunstlehre“. Und als solche etablierte sie sich als akademische Disziplin, wobei der deutschsprachige Raum das fremdenverkehrswissenschaftliche Kernland blieb. 20 Das St. Galler Institut wurde bis 1969 von Hunziker geleitet, Krapf stand dem Berner Institut bis 1963 vor. Das Wiener Institut wurde 1951 von Paul Bernecker übernommen, der es aus der Stagnation herausführte und die Zusammenarbeit mit den Schweizern intensivierte – es begann die Ära des „Dreigestirns” St. Gallen, Bern und Wien. Zudem entstand 1950 an der Münchener Universität das Deutsche Wirtschaftswissenschaftliche Institut für Fremdenverkehr; allerdings pflegte es eine besonders strikte Praxisorientierung. Wenig Bestand hatten Neugründungen in Frankfurt (1952) und Salzburg (1969) sowie das erwähnte Heidelberger Institut, das in den ersten Nachkriegsjahren als einziges in Deutschland aktiv gewesen war. In der DDR hingegen wurde 1961 an der Dresdner Hochschule für Verkehrswesen eine ambitionierte Forschungsstelle eingerichtet, die zu einem Lehrstuhl wurde. Zudem bildeten die Handelshochschule Leipzig und die dortige Hochschule für Körperkultur im Tourismus aus. In manch anderem europäischen Land regte sich ebenfalls das Interesse an einer verwissenschaftlichen Lehre und Erkenntnisproduktion; institutionell geschah jedoch wenig: In Monte Carlo entstand schon 1947 eine Académie Internationale du Tourisme, die primär Fachwörterbücher und eine (wenig verbreitete) Zeitschrift herausgab, und an einigen Hochschulen wurde über Tourismus gelehrt (zum Beispiel Mariotti in Rom), ohne dass es zu nachhaltigen Institutsgründungen 18 Hunziker; Krapf, Grundriss, S. 79. 19 Hunziker, Walter, Gegenwartsaufgaben der Fremdenverkehrswissenschaft, in: Jahrbuch für Fremdenverkehr 2 (1954) S. 18. 20 Zum Folgenden vgl. Dann; Liebman-Parrinello, The Sociology of Tourism. Ich danke den Instituten in Bern, St. Gallen, Wien, München, Dresden und Aix-en-Provence für ihre Auskünfte.

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kam. Eine Ausnahme bildete das Centre des Hautes Études Touristiques (CHET), das 1959 an der Universität in Aix-en-Provence auf Initiative eines ehemaligen Assistenten am Berner Institut, René Baretje, gegründet wurde. 21 Die scientific community der Nachkriegsjahre war eine überschaubare aber institutionell gefestigte Gruppe, die über ein recht einheitliches Paradigma verfügte und die bevorzugt Deutsch und Französisch sprach (während in den USA und England eine professionelle Tourismusausbildung als Novität galt 22 , nicht zu reden von Forschung). 1949/1951 schlossen sich die Experts Scientifiques du Tourisme international zur AIEST zusammen, und neugegründete Zeitschriften konnten sich langfristig behaupten, was die gelungene Etablierung des Fachs unterstreicht: 1946 die dreisprachige Revue de Tourisme, die zum Organ der AIEST wurde, und 1952 das vom Münchener Institut herausgegebene Jahrbuch für Fremdenverkehr – an die Innovationskraft von Glücksmanns Archiv reichten sie freilich nicht heran. Die Ära des „Dreigestirns” währte ein Vierteljahrhundert, bis die wachsende Diversifizierung 23 und Internationalisierung 24 dem mitteleuropäischen QuasiMonopol ein Ende machte. Sie war geprägt durch das Wirken von Bernecker, Hunziker und Krapf. Keineswegs geschah dies „im Sinn und Geist Max Webers“. 25 Der Tourismus wurde nicht als „Kulturerscheinung“ betrachtet, sondern als ein technisches Problem. In Umkehr der Prinzipien der Gründungsphase wurde das Heil in enger Spezialisierung gesucht: „Der ‚Universalismus‘ in der Fremdenverkehrslehre ist tot. Ihm das Wort reden hieße, dem wissenschaftlichen Fortschritt in die Speichen greifen zu wollen.“ 26

Die Gründe der nach 1945 abrupt einsetzenden Perspektivverengung sind in Professionalisierungsstrategien zu suchen. Man hatte sich der Nachfrage aus Wirtschaft und Politik gebeugt, die nun einmal auf der Produktion unmittelbar praxisrelevanten wissenschaftlichen Wissens besteht. Unter diesen Auspizien konnte 21 Das CHET entfaltete im späten 20. Jahrhundert eine rege deskriptiv-angewandte Forschung, bis es geschlossen wurde. Stattdessen gründete Baretje 1996 das kleine Centre International de Recherches et d’Études Touristiques als Dokumentationsstelle. 22 Vgl. für die USA: Smith, Valene L., Travel Geography Courses for a New Field, in: Journal of Geography 52 (1953), H. 2; für Großbritannien: Manger, Phyllis; Sutton, Geoffrey, Travel and How to Sell it, London [um 1955], in: Historisches Archiv zum Tourismus (FVL/955/MAN). Die Autoren feierten ihren Kursus als „first travel trade paper of the world“. 23 Vgl. die Literaturhinweise in Fußnote 28. 24 Heute findet die deutschsprachige Tourismusforschung international wenig Beachtung (so sind derzeit – März 2012 – unter den zahlreichen co-editors der ATR nur drei aus dem deutschen Sprachraum) und ihre Pionierleistungen sind weithin vergessen. Vgl. kritisch zu diesem angloamerikanischen „Ethnozentrismus“: Dann; Liebman-Parrinello, The Sociology of Tourism, Kap. 1. 25 So der Nachfolger Hunzikers, Claude Kaspar, zitiert nach: Spode, Hasso, Geschichte der Tourismuswissenschaft, in: Haedrich, Günther et al. (Hgg.), Tourismus-Management, Berlin 3 1998, S. 919. 26 Geigant, Friedrich, Der Urlaubs- und Ferienverkehr als Objekt wissenschaftlicher Forschungen, in: Jahrbuch für Fremdenverkehr 10 (1962), S. 49.

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man sich ein Plätzchen im Kanon der Wissenschaften erobern. Dabei setzte ein Mechanismus ein, der immer wieder zu beobachten ist (zum Beispiel in der Geschichtsforschung), wenn eine paradigm small group zu Amt und Würden kommt: Aus Neuerern und Störenfrieden im Wissenschaftssystem werden anerkannte Experten – und es macht sich ein selbstzufriedener Konservativismus breit. Bereits 1956 verkündete Bernecker, „daß die Grundlagenforschung“ abgeschlossen sei: Röpkes Forderung, den Tourismus in einem „tieferen Sinne“ zu erforschen, habe inzwischen „ihre Erfüllung gefunden“ und man könne sich jetzt „Einzelbetrachtungen“ zuwenden. 27 Diese Schmalspur-Professionalisierung sicherte der kleinen Disziplin ihre Existenz – doch sie hatte ihren Preis: die Selbstmarginalisierung. Die Chance wurde verspielt, die Deutungshoheit über den Tourismus zu beanspruchen. Stattdessen stießen Andere in das geräumte Terrain vor. Zum einen eine zeitdiagnostische „Kulturkritik“ am „Massenreisen“, zum anderen eine sozialwissenschaftliche Grundlagenforschung 28 , die den Tourismus wieder enger als „Freizeitreise“ und zugleich breiter als historisch gewordenes „Kulturprodukt“ auffasste. 29 Inzwischen sind die Blütenträume von einer integralen Tourismuswissenschaft unter dem Dach der Sozialwissenschaften freilich verflogen; die Aufbruchsstimmung der 1990er-Jahre ist einem routinierten puzzle solving gewichen. Dabei ist die sozial- und kulturwissenschaftliche Tourismusforschung bislang in dem Sinne „unprofessionell” geblieben, dass sie von unterschiedlichen Disziplinen aus betrieben werden, die lediglich über Netzwerke verbunden sind. 30 Nur punktuell bestehen dabei auch Schnittstellen zur etablierten „Kunstlehre” (etwa im Kontext der DGT). Aus deren Reihen wird immer wieder einmal für eine thematisch-theoretische Öffnung plädiert 31 , ohne dass eine Änderung eingetreten wäre. Das Fach floriert derzeit – jedenfalls an Universities of Applied Sciences – 27 Bernecker, Die Stellung des Fremdenverkehrs, S. 31. 28 Vgl. Nash, Dennison (Hg.), The Study of Tourism: Anthropological and Sociological Beginnings, Oxford 2007; Dann; Liebman-Parrinello, The Sociology of Tourism; zum „Studienkreis für Tourismus“ (1961–1993), dem Vorreiter einer „sozial- und kulturwissenschaftlichen Analyse“, vgl. Günther, Armin et al. (Hgg.), Tourismusforschung in Bayern, München 2007; zu deren geographisch orientiertem Zweig vgl. Darbellay Frédéric; Stock, Mathis, Tourism as a Complex Interdisciplinary Research Object, in: ATR 39 (2012), H. 1; zum historisch orientierten Zweig im weiteren Sinne vgl. Spode, Hasso, La recherche historique sur le tourisme, in: Mondes du Tourisme 1 (2010), H. 2 sowie im engeren Sinne: Hachtmann, Rüdiger, Tourismus und Tourismusgeschichte, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 22. 12.2010, URL: https://docupedia.de/zg/Tourismus_und_Tourismusgeschichte?oldid=76353 (14.04.2012) sowie knapp Mayrhuber, Eva M., Wirtschaftsfaktor Fremdenverkehr, MAArbeit Wien 2010, in: Universitätsbibliothek Wien, E-Theses, URL: http://othes.univie.ac.at/ 10930 (14.04.2012). 29 So z.B. Scheuch, Erwin K., Tourismus, in: Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd. 13, Zürich 1981, S. 1089ff. 30 Vgl. Tribe, John, Tribes, Territories and Networks in the Tourism Academy, in: ATR 37 (2010), H. 1. 31 Vgl. z.B. die Anhörung des Bundestagsausschusses für Tourismus vom 07.03.2012, in: Deutscher Bundestag, URL: http://www.bundestag.de/bundestag/ausschuesse17/a20 (14.04. 2012).

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ohnehin. Indes bleibt der Makel der „Kunstlehre“. Ihr Mangel an explanativer Kraft und kulturellem Kapital macht ihre Stellung im Wissenschaftssystem prekär und wird zudem als eine narzisstische Kränkung empfunden. Wie sehr dies an der Seele nagen kann, zeigte sich just bei Walter Hunziker: Kurz vor seinem Tod erteilte der hoch Geehrte dem von ihm etablierten Paradigma eine Absage und empfahl de facto die Rückkehr zur soziologisch fundierten Systematik seiner „wissenschaftlichen Fremdenverkehrslehre“ von 1943. 32 Literaturhinweise Bachleitner, Reinhard et al. (Hg.), Der durchschaute Tourist. Arbeiten zur Tourismusforschung, München 1998. Burmeister, Hans-Peter (Hg.), Auf dem Weg zu einer Theorie des Tourismus, RehburgLoccum 1998. Dann, Graham M.S.; Liebman-Parrinello, Giuli (Hgg.), The Sociology of Tourism. European Origins and Developments, Bingeley 2009. Hahn, Heinz; Kagelmann, H. Jürgen (Hgg.), Tourismuspsychologie und Tourismussoziologie. Ein Handbuch zur Tourismuswissenschaft, München 1993. Nash, Dennison (Hg.), The Study of Tourism: Anthropological and Sociological Beginnings, Oxford 2007.

32 Hunziker, Walter, Le système de la doctrine touristique, Bern 1973.

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Quelle Letzte Ausgabe des Archiv für den Fremdenverkehr (1935) 33

33 Archiv für den Fremdenverkehr 5 (1935), H. 4, S. 1.

DDR-LITERATUR AUS DER SCHWEIZ 1 Siegfried Lokatis Europa im Kopf hieß aus gutem Grund eine Ausstellung, die 2003 in Eisenhüttenstadt stattfand. Sie war einem einzigen DDR-Verlag gewidmet, dem Verlag Volk und Welt 2 , dem führenden und mit Abstand bedeutendsten Verlag für internationale Gegenwartsliteratur, der, Tomas Tranströmer mitgerechnet, nicht weniger als 43 Nobelpreisträger zu seinen Autoren zählte. Damit nahm der Verlag im Zensursystem der DDR die Funktion eines unverzichtbaren Filters ein. Hier hatte sich im Verlauf von drei Jahrzehnten ein hochspezialisiertes Team von über zwanzig Lektoren mit einer wohl einmaligen Kompetenz für alle inhaltlichästhetischen Fragen der romanischen, englischsprachigen, slawischen, germanistischen – kurz der internationalen und Weltliteratur herausgebildet, das zugleich über ein grandioses Expertenwissen verfügte, wenn es um Fragen der Zensur ging. Unermüdlich und ein schier unerschöpfliches Repertoire zensurtaktischer Finten handhabend sorgte der Verlag dafür, dass die umstrittene literarische Moderne ihren Einzug ins „Leseland“ halten konnte. Hier wurde dafür gekämpft, dass Anna Achmatowa und Woody Allen, Simone de Beauvoir und Isaak Babel, Elias Canetti und Italo Calvino, Roald Dahl, Umberto Eco, Sigmund Freud, Günter Grass, Bohumil Hrabal, Eugen Ionesco, Ernst Jandl, Karl Kraus, Stanislaw Lem, Henry Miller, Anais Nin, Ortega y Gasset, Thomas Pynchon, Salvatore Quasimodo, Juan Rulfo, J. D. Salinger, Juri Trifonow, John Updike, Kurt Vonnegut, F. K. Waechter, Francoise Xenakis und Marina Zwetajewa auch in der DDR gelesen werden konnten. Aus gegebenem Anlass wird hier nur verfolgt, wie in diesem Verlag mit Literatur aus der Schweiz umgegangen wurde. Nur wenige in der DDR erschienene Bücher aus der Schweiz 3 sind nicht im Verlag Volk und Welt herausgekommen. Dazu gehörten vor allem die Klassiker wie Jeremias Gotthelf 4 und Gottfried Keller 5 , die bei den Erbe-Verlagen, also bei 1 2 3 4

Essay zur Quelle: Zensurgutachten über „Das Walroß und die Veilchen“ von Heinrich Strub (1952). Barck, Simone; Lokatis, Siegfried, Fenster zur Welt. Eine Geschichte des DDR-Verlages Volk und Welt, Berlin 2003. Vgl. Lokatis, Siegfried, DDR-Literatur aus der Schweiz, aus Österreich und der Bundesrepublik, in: Estermann, Monika; Lersch, Edgar (Hgg.), Deutsch-deutscher Literaturaustausch in den 70er Jahren, Wiesbaden 2006, S. 42–70. Vgl. das Verlagsgutachten vom 15. Juni 1962 in der Druckgenehmigungsakte zu Jeremias Gotthelf, Erzählungen aus der Schweiz, Leipzig 1963 (BArch DR 1, 3986): „Aus der Fülle von Gotthelf’s Erzählungen eine kleine Auswahl zu treffen, die einigermaßen repräsentativ sein und möglichst wenig verstaubt wirken soll, ist nicht ganz einfach, da fast in allen Erzählungen sehr viel Positives sich mit Provinziell-Beschränktem und Politisch-Rückständigem mischt.“ Alle hier zitierten Druckgenehmigungsakten der HV-Verlage im Ministerium für

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Aufbau, Reclam und Insel, eifrig gepflegt wurden. Und natürlich die wenigen Kinderbücher: Johanna Spyris Heidi erschien ein einziges Mal, 1954, seltsamerweise in der Evangelischen Verlagsanstalt. Die Probleme mit der doch noch recht ruppigen, mehr an privaten Dispositionen der Gutachter als, wie in späteren Jahren 6 , an „wissenschaftlichen Konzeptionen“ orientierten Zensur in den 1950er-Jahren verdeutlicht ein 1952 gescheiterter Versuch des privaten Berliner Kinderbuch-Verlegers Alfred Holz, Das Walroß und die Veilchen des Schweizers Heiri Strub herauszubringen. Der war dort 1944 immerhin ein Mitbegründer der Partei der Arbeit und wanderte später, 1957, in die DDR aus. 1952 geriet er jedoch unglücklicherweise an die griesgrämige Kinderbuch-Zensorin Ursula Miessner, die sein Buch mit folgenden Worten erledigte: „Es ist zu bedauern, dass wir zu diesem Kinderbuch eines Schweizer Autors nicht ja sagen können […].“ 7 Der Text sei „eine zu deutliche Widerspiegelung der anderen, der alten und zu überholenden Welt, so dass man zu diesen Zeichnungen (nach Sichtung derselben!) einen neuen Text schaffen müsste. Das würde m.E. jedoch nicht schwer sein für einen ideologisch taktfesten Autor.“

Neben der Frage, ob eine Melonenzucht in Grönland nicht als Verhöhnung der in Stalins Sowjetunion geltenden biologischen Theorien Mitschurins und Lyssenkos anzusehen sei, trieb sie ein Problem um, das auf das Kinderbuch eher neugierig macht: „Können wir eine Hure, selbst wenn sie mit der Bezeichnung ‚Parfümdame’ umschrieben wird, als Figur eines Kinderbuches akzeptieren?“ 1957 illustrierte Heiri Strub das Werk eines Schweizer Autorenkollektivs im DDR-Verlag Neues Leben. Es kostete keine Devisen, weil der Künstler inzwischen in die DDR übergesiedelt war. Der Titel hieß Sonne, Schnee und Fels und der Herausgeber Theo Pinkus. Das Lektoratsgutachten lobte: „Ein Kollektiv Schweizer Naturfreunde legt hier ein Buch vor, das sich mit den Leistungen der Arbeiter –Alpinisten in der Schweizer Bergwelt befaßt. Die Autoren schildern die Leistungen der Mitglieder der Naturkunde-Bewegung und widmen ein großes Kapitel ihres Werkes den Ferienlagern, die von Naturfreunden organisiert wurden. Dieses Werk macht den Leser mit den Leistungen einer Gruppe vertraut, die in Deutschland viele Jahre nicht nur unbekannt war, sondern verboten und verfolgt wurde. Der Leser erkennt, welche große Kraft die Naturfreunde-Bewegung in der Schweiz darstellt und lernt die großen Leistungen ihrer Mit-

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Kultur sind inzwischen online auf der Seite des Bundesarchivs Berlin-Lichterfelde zugänglich. Hier musste 1963 das Vorwort zu „Die Leute aus Seldwyla“ „völlig neu geschrieben werden, da das alte Vorwort auf der falschen Lukács-These von der angeblichen ‚urwüchsigen’ Schweizer Demokratie aufgebaut war.“ Vgl. Gutachten Blasche, 5. März 1962 (BArch DR 1, 5012). Lokatis, Siegfried, Im Reiche Baron Hagers oder wie modern war die Zensur in der DDR, in: Frankfurter Rundschau, 22.07.2000 (zugleich: Kulturation. Online-Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik 2 (2004), URL: http://www.kulturation.de/ki_1_thema.php?id=61 (20.03.2012). Zu diesem und den beiden folgenden Zitaten vgl. Gutachten Gärtner-Scholle vom 11. September 1952 (BArch DR 1, 5086a).

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glieder kennen. Darüber hinaus tritt das Werk in seiner ganzen Grundhaltung der (gerade in breiten Kreisen der Naturfreunde verbreiteten) Tendenz ‚Hinaus in die Natur’ entgegen. Die Autoren zeigen, welche Kraft das Erlebnis der Natur gerade dem Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft für seinen täglichen Kampf geben kann.“ 8

Zensiert wurde das Buch von Arno Hausmann, der auch gleich das Haar in der Suppe fand. Naturfreunde und Arbeitersportbewegung seien unter austromarxistischem Einfluss entstanden. Diese Richtung würde sich „in Worten radikaler gebärden als die deutsche Sozialdemokratie und durch die Synthese Marxismus – philosophischer Idealismus die Wissenschaft des Proletariats zu revidieren trachten“. 9 Revisionismus war im Sommer 1957 für ein Manuskript leicht ein tödlicher Vorwurf. Hausmann favorisierte wegen ihrer Verdienste im Widerstand die abgespaltenen „Arbeiterkletterer“, während er bei den Schweizern „Naturschwärmerei und Sternensehnsucht“ witterte. Und er monierte den Satz „Die ‚Brettli-Hüpfer‘ sollen leben! Hier in den Bergen haben wir alle sozialen Unterschiede vergessen, aber unvergessen bleiben wird uns die Freude dieser schönen Tage.“ Das würde aber „ausgeglichen durch sachlich-reale Feststellungen über die Lage der Arbeiterklasse in der Schweiz. Wenn diese Feststellungen die reformistischen Tendenzen auch nur abschwächen und nicht aufheben, so wirken sie doch so weit korrektivierend, daß die Herausgabe der Schrift in der DDR durchaus vertretbar ist.“ Obgleich „die Möglichkeiten der Bergkletterei in unserer Republik beschränkt“ seien, würde das Buch zu einem erzieherisch wirksamen Vergleich zwischen dem „Arbeitersport“ in einem kapitalistischen Land und dem „Massensport unserer Republik“ anregen. Gibt es eigentlich heute noch das Wort „korrektivierend“? Die Sprache des Zensors ist immer für Überraschungen gut. 1963 wurde das gesamte Verlagswesen der DDR zentralisiert und neu gegliedert. Es entstand ein von der Zensurbehörde, der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel arbeitsteilig organisiertes System spezialisierter Verlage, in dem die parteinahen Großverlage privilegiert mit Papier und Devisen versorgt wurden. Fortan wurde der Import westlicher Belletristik im Prinzip über den AufbauVerlag und Volk und Welt abgewickelt. Wie wir heute wissen, ermöglichte diese Konzentration der Devisen bei zwei als SED-Unternehmen geltenden Verlagen fortan die Praxis der sogenannten Plusauflagen-Geschäfte: Man druckte unter der Hand weit mehr, als mit den westlichen Lizenzgebern vereinbart worden war. Die neue Arbeitsteilung schien den Germanistik-Lektor von Volk und Welt, Roland Links, beschäftigungslos zu machen: Für sein gewohntes Arbeitsfeld, die deutschsprachige Gegenwartsliteratur aus der Bundesrepublik, war fortan der AufbauVerlag zuständig. Doch dann entdeckte Roland Links die Schweiz als neues und überraschend fruchtbares Tätigkeitsfeld. Die Einarbeitung war gar nicht leicht, weil an Schweizer Literatur kaum heranzukommen war. Links stützte sich zunächst auf die literarischen Rezensionen des Autors der DDR-Zeitschrift Die Weltbühne Jean Villain, eigentlich Marcel 8 9

Sonne, Schnee und Fels, Gutachten Lütke, 21. Oktober 1957 (BArch DR 1, 5126a). Gutachten Arno Hausmann, 15. Juni 1957 (BArch DR 1, 5126a). Die folgenden Zitate beziehen sich, soweit nicht anders vermerkt, auf dieses Gutachten.

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Brun, der als Korrespondent des Schweizer Vorwärts ohnehin beauftragt war, die eidgenössische Gegenwartsliteratur zu verfolgen und zu rezensieren. „Leseexemplare konnten wir bei Theo Pinkus, bei Ruth Liepmann und natürlich bei Mohrbooks bestellen, was aber voraussetzte, daß man sich schon ein wenig auskannte und einen Überblick gewonnen hatte. Dazu war vor der ‚Mauer’ für uns Berliner in West-Berlin Gelegenheit, und ich nutzte vor allem die Heine-Buchhandlung im Bahnhof Zoo. Zweimal jährlich bot zur Leipziger Messe der Gemeinschaftsstand des Schweizerischen Buchhändlerund Verlegervereins mehr als genug. Dort habe ich viele Stunden verbracht.“ 10

Die guten Beziehungen des Verlagsleiters Walter Czollek zu führenden Schweizer Literaturagenturen erwiesen sich dabei als wichtige Starthilfe. Diese Beziehungen gründeten sich auf gemeinsame Jahre im Konzentrationslager und im höheren Sinn war Volk und Welt sogar in der Schweiz gegründet worden: „Es war so, daß sich Mischa Tschesno, Bruno Kaiser, Hans Mayer, Stephan Hermlin, Eduard Claudius und ein gewisser Alois Kolb nach 1945 alle in einem Internierungslager in der Schweiz begegneten. Dort wurde die Idee geboren, einen Verlag zu gründen. Tschesno sagte, er gehe in die Sowjetzone und bemühe sich, einen Verlag zu bekommen für internationale Literatur. Er war Baltendeutscher, sprach fließend russisch und hatte gute Verbindungen […]. 1947 [! Anm. d. Verf.] hat er formal den Verlag gegründet und dann alle rübergeholt, Hermlin, Mayer und die anderen. Die waren ja alle erst in Frankfurt am Main. Mayer hat er den Lehrstuhl in Leipzig besorgt […].“ 11

Der beliebteste Volk und Welt-Autor aus der Schweiz war zweifellos Walter Vogt (Der Wiesbadener Kongreß, 1978; Vergessen und Erinnern, 1982). Seine Lesungen in der DDR waren stets überfüllt und regelrechte Happenings. Seine Fans schätzten den Autor vor allem als Psychiater und suchten seinen ärztlichen Rat. Die Psychoanalyse galt in der DDR als unwissenschaftlich und Werke Sigmund Freuds konnten dort erst später gedruckt werden. In Westdeutschland war Walter Vogt hingegen noch ganz unbekannt und in Bern kamen nicht mehr als sechs Leute zu seinen Buchvorstellungen. Und das war typisch: „Noch unbekannte Schweizer Autoren hat man damals im westdeutschen Buchhandel gar nicht wahrgenommen. In der DDR wurden sie gelesen, und deshalb waren viele Schriftsteller daran interessiert, bei uns zu erscheinen.“ 12

Auf diese Weise leistete Volk und Welt anscheinend eine Pionierarbeit, die auf die Literaturszene in der Schweiz zurückwirkte, was vor allem für linke Autoren hilfreich war. Jakob Bührer, dessen Trilogie Im Roten Feld 1973/1974 zuerst bei Volk und Welt erschien, darbte davor in der Schweiz vergessen dahin und gilt seitdem als moderner Klassiker. Ähnliches gilt für den notorischen „Nestbeschmut10 Links, Roland, Kurzes Nachdenken über anregendes Fremdsein, in: Lenschen, Walter (Hg.), Literatur übersetzen in der DR, Bern 1998, S. 119–124. 11 Berger, Walter, Michael Tschesno-Hell – Die frühen Jahre, in: Barck; Lokatis, Fenster zur Welt, S. 356. 12 So Vogts Lektorin Ingeborg Quaas: Dies., Auf Schweizer Erkundungen, in: Barck; Lokatis, Fenster zur Welt, S. 116.

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zer“ Walter Matthias Diggelmann, den Pionier der Vergangenheitsbewältigung, und für Walter Kauer, dessen Schachteltraum 1974 bei Volk und Welt Premiere feierte. Andererseits wirkte es in der konservativen Schweiz für den Autor leicht rufschädigend, mit einem DDR-Verlag in Verbindung gebracht zu werden, was für den schriftstellerischen Bekanntheitsgrad natürlich nicht unbedingt schädlich ist. So kam es 1966 zu einer heftigen Kampagne gegen Diggelmann, als er für die DDR-Ausgabe seiner Hinterlassenschaft einige Passagen über den UngarnAufstand von 1956 auf Wunsch des ostdeutschen Verlegers änderte: Aus der unterdrückten Linksrevolution im Münchener Piper-Verlag wurde bei Volk und Welt ein faschistischer Putsch. Der, so Roland Links, „von uns eigentlich kreierte Schriftsteller Kauer“, der auch „als der von der DDR Entdeckte überall genannt“ wurde 13 , avancierte erst durch den Schachteltraum bei Volk und Welt bei Benziger zu einem Starautor. Später spielte Kauer die Rolle des DDR-Verlages herunter, aber bis zur endgültigen fünften Fassung hatte das Buch den Berliner Lektoren einiges abverlangt. „Kauer legte uns ein verwirrtes und verwirrendes Manuskript vor, aus dem wir in drei oder vier Jahren einen Roman gemacht haben, der dann auch den Titel ‚Schachteltraum‘ bekam.“ 14

1975 konnte Roland links befriedigt konstatieren: „Jakob Bührer und Walter Kauer sind zu ‚Fällen‘ geworden wie seinerzeit Diggelmann. Nur hat jetzt niemand die Autoren denunziert. Nun klagt man, daß Schweizer Verlage nicht genug Initiative entwickelten, und man warnt vor uns wie vor den schönen Stimmen antiker Sirenen.“ 15

Im Juni 1975 fand in Zürich eine Ausstellung von DDR-Büchern statt und bei dieser Gelegenheit präsentierte Volk und Welt nicht weniger als ein Dutzend neuer Bücher von Schweizer Autoren. Darunter befand sich die erste ÜberblicksAnthologie Erkundungen. 35 Schweizer Erzähler (1974). Vor allem Adolf Muschgs alpine Inzest-Saga Der Zusenn oder das Heimat eroberte sich in der DDR einen gewissen Kultstatus. Die NZZ lobte des Herausgebers „genaue Kenntnisse und Informationen über das literarische Leben in der Schweiz“. 16 Die waren nicht vom Himmel gefallen. Bei der „Sammelreise“, auf der Suche nach geeigneten Beiträgern für die Erkundungen hatte der Herausgeber Roland Links aufmerksam zugehört,

13 DG-Antrag Schweiz heute, Gutachten Roland Links 1975, (BArch DR 1, 2362). 14 So sein damaliger Lektor, der spätere Verleger Simon, Dietrich, Steine des Anstoßes – Rückblicke, in: Barck; Lokatis, Fenster zur Welt, S. 110. 15 DG-Antrag Schweiz heute (BArch DR 1, 2362). 16 Keckeis, Peter, Schwierigkeiten mit deutscher Literatur. Eine DDR-Anthologie „Erkundungen 35 Schweizer Erzähler“, in: NZZ, 13.04.1975.

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Siegfried Lokatis „was die Baseler Autoren über meine Auswahlreise aus Zürich und Bern, die Züricher über Basel und Bern und die Berner über Basel und Zürich gesagt haben. Es waren sehr schöne Begegnungen, bei denen immer nur die erste Flasche auf meine Rechnung ging.“17

Die NZZ unterschob den Erkundungen jedoch auch „politische Absichten, die an Unterwanderung“ grenzten: „Wir hatten diese Absicht nicht, wußten aber, daß man im deutschsprachigen Bereich keine nur literarisch repräsentative Auswahl verantworten kann. Mit unseren 35 Autoren haben wir natürlich auch in den jahrelangen Auseinandersetzungen zwischen den miteinander rivalisierenden Schriftstellerverbänden in Zürich (SSV) und Bern/Basel/Olten (Gruppe Olten) Akzente gesetzt.“ 18 Es folgte ein 675 Seiten umfassender Wälzer, das Lesebuch Schweiz heute, das im Verlag einen neuen Buchtyp darstellte und zum Vorbild für ähnliche Bände über Österreich, Schweden und die Bundesrepublik werden sollte. Dieser Band enthielt Beispiele aller literarischen Genres, also außer Erzählungen auch Essays, Dramen und Lyrik – eine eigene Anthologie mit Schweizer Lyrik scheiterte im November 1976, als der intendierte Herausgeber Bernd Jentzsch sich mit Biermann solidarisierte und in Bern einen Offenen Brief an Erich Honecker verfasste. Neu an Schweiz heute war auch der Versuch, diesmal die romanischen Sprachen der Schweiz zu berücksichtigen. 1986 erschien ein zweiter Band der Erkundungen mit 42 Erzählern, darunter Corinna Bille aus Lausanne, der Walliser Maurice Chappaz und der Tessiner Giorgio Orelli. Man versuchte in die Anthologien „so viel wie möglich reinzupacken, weil die Leute ganz verrückt danach waren. Durch die Literatur hat man sich die Welt näher herangeholt. Man war in diesem abgeschlossenen Bezirk darauf angewiesen. Eigentlich wurde einem jedes schweizerische oder österreichische Buch von den Leuten aus den Händen gerissen. Werbung war gar nicht nötig.“ 19

Zum Leidwesen der meisten Anthologie-Autoren wurde nur von wenigen auch eine eigene Monographie publiziert. Diese glücklichen waren Hugo Loetscher (Die Kranzflechterin, 1968), Friederich Glauser (Gouramma, 1972), Silvio Blatter (Mary Long, 1975), Otto F. Walter (Die ersten Unruhen, 1975), Werner Schmidli (Fundplätze, 1975), Jürg Federspiel (Orangen vor ihrem Fenster, 1977), Beat Brechbühl (Traumhämmer, 1978), Peter Bichsel (Kindergeschichten, 1980) und Reto Hänny (Zürich, Anfang September, 1982). Von Urs Widmer erschienen nach dem schwarzen Spektrum-Bändchen Schweizer Geschichten gleich drei Romane in einem Band, Liebesnacht, Die gestohlene Schöpfung, Indianersommer (1988). Beinahe die Hälfte der insgesamt 76 bei Volk und Welt bis 1989 erschienenen Bücher aus der Schweiz stammte von nur vier Autoren, und zwar von Adolf Muschg (sieben), Walter M. Diggelmann (sieben), Max Frisch (zehn) und Fried-

17 Links, Kurzes Nachdenken, S. 119–124. 18 DG Antrag Schweiz heute (BArch DR 1, 2362). 19 Quaas, Auf Schweizer Erkundungen, S. 115.

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rich Dürrenmatt (zwölf). Frisch und Dürrenmatt waren auch die Autoren, die dem Verlag die meisten Probleme mit der Zensur bescherten. Es ist noch immer nicht klar, weswegen genau der Stiller verboten wurde, ob es mehr an dem russischen Geheimagenten oder an dem Nachwort Hans Mayers lag. Das Hauptwerk Max Frischs, 1963 bereits druckgenehmigt, wurde jedenfalls nach einer Denunziation beim Zentralkomitee wieder angehalten, und Volk und Welt musste trotz kluger Bemühungen nicht weniger als zwölf Jahre warten, bis der Stiller 1975 erscheinen konnte, pünktlich zur DDR-Buchausstellung in Zürich. Eine Auswahl der Dramen Max Frischs enthielt 1965 „die für uns gültigsten und in der Aussage nutzbarsten Stücke“, also lieber Biedermanns Brandstifter als den Anarcho Graf Öderland. Und es war schwer, für die Zensur ein Nachwort zu schreiben, das das Verhältnis zu Brecht korrekt fasste. Dem Verlag gelang hier „eine wesentliche Verbesserung, auch wenn wir Herrn Frisch damit ein wenig ärgern sollten“. 20 Mein Name sei Gantenbein, mit seinem Blindheit simulierenden Liebhaber als Füllhorn fiktiver Lebensentwürfe ein Großangriff auf den Sozialistischen Realismus, galt als die „Grenze des gerade noch Möglichen bei uns.“ Um das Buch zu retten, verstieg sich der Verlag zu dem Argument, wie Gantenbein könnten auch im Westen Millionen guter Bürger der Wirklichkeit nicht mehr ins Auge sehen: „Max Frisch weiß, daß er einer dieser Gantenbeins ist.“ 21 Frisch war jedoch keineswegs damit einverstanden, die ihm zugemutete Rolle eines „nützlichen Idioten“ zu spielen und lehnte ein Nachwort zum SpektrumBand Biographie-Ein Spiel als „pfäffisch“ ab. 22 Dem Spektrum-Band Aus einem Tagebuch und Reden sah man schon am Titel an, dass es ausgeschlossen war, die kompletten Tagebücher zu drucken – hauptsächlich eine Folge des Faibles Max Frischs für Sowjetunion-Reisen. Stattdessen bastelte man aus den Fragebögen 1967–1971 1988 einen niedlichen Lederband und schrieb dem Verfasser, es schließe „auch die Frage nach dem ganzen Tagebuch ein. Wir denken oft darüber nach und sind zuversichtlich, es in absehbarer Zeit vorzeigen zu können.“ 23 Dafür war es inzwischen zu spät. All diesen Schwierigkeiten mit den Werken Max Frischs zum Trotz galten als noch ungleich gravierender die Probleme mit der Zensur der Werke von „Dörrenmatt“ (ein O-Ton, so geisterte er anfangs durch die Akten der Hauptverwaltung). Friedrich Dürrenmatt hatte „eindeutig antikommunistische“ Texte geschrieben, wie Die Ehen des Herrn Mississippi, perhorreszierte jede Form von Macht als „Zerstörung des Individuellen, Schöpferischen usw. des Humanen“ und setzte sich in zahlreichen Essays kritisch mit der Sowjetunion auseinander. Deshalb betrieb Volk und Welt eine „grundsätzliche Grenzziehung“ und trennte sein 20 DG-Antrag Max Frisch, Stücke. Roland Links an HV Verlage und Buchhandel, 12. März 1965 (BArch DR 1, 3978). 21 DG-Antrag Max Frisch, Mein Name sei Gantenbein. Verlagsgutachten Herbst 1965 (BArch DR 1, 2328). 22 DG Antrag Max Frisch, Biographie ein Spiel. Verlagsgutachten 12. September 1969 (BArch DR 1, 2342a). 23 Volk und Welt (Jürgen Gruner und Dietrich Simon) an Max Frisch, 9. Februar 1988 (Volk und Welt-Archiv in der Akademie der Künste).

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„theoretisches, quasi-philosophisches“ von dem literarischen Werk komplett ab. Auch im Verlag empfand man „diese Herauslösen der fiktionalen Teile“ als eine Verfälschung, oder „positiver ausgedrückt: diese geplante Herauslösung erzählerischer Texte aus ihrem Kontext ist eine deutliche Interpretation“. 24 Trotz dieser prinzipiellen Grenzziehung blieb auch eine ganze Reihe fiktionaler Texte in der DDR unpublizierbar, so die Erzählung Der Sturz, in der ein kommunistisches Politbüro im Mittelpunkt stand und ein Nächtliches Gespräch mit einem verachteten Menschen, in dem es um die diskrete, nächtliche Hinrichtung eines Oppositionellen ging. Der „heimliche Leser“, erfahrene Bücherschmuggler und linke Oppositionelle Thomas Klein schätzte als Schüler in Ost-Berlin Dürrenmatts Physiker als eine willkommene Abwechslung zu Brechts Galileo und stellt dem Verlag Volk und Welt trotz jener Amputationen ein gutes Zeugnis aus: Er ließ sich die fehlenden Dürrenmatt-Titel nach Berlin schmuggeln. „Beim Schicken von Büchern auf dem Postweg war es am sichersten, ein Buch zwischen zwei Waschmittelkartons zu quetschen. Aber dieses Interesse wurde durch die Veröffentlichungen von Volk und Welt erst geweckt, und als ich schließlich alles zusammen hatte und ein Urteil wagen konnte, mußte ich schon sagen, daß das Beste von Dürrenmatt auch in der DDR erschienen war. Auf jeden Fall sorgte der Verlag dafür, daß der gezielte Blick bei solchen Autoren hängengeblieben ist. Ich hatte übrigens den Eindruck, daß die Schweiz mit Frisch, Muschg und Diggelmann besonders gut wegkam. Das habe ich alles gekauft, und gerade die Beschaffung dieser Bücher bedurfte einiger Anstrengungen.“ 25

Man sollte also nicht nur in die Gutachten schauen, sondern auch deren editionspolitisches Resultat, die erschienenen Bücher in die Wertung mit einbeziehen. Ein so positives Urteil eines so kritischen und so kundigen Lesers spricht dafür, dass der Nutzen für den Leser die Kosten an zensurtaktischen Kompromissen sogar im Falle Dürrenmatts bei weitem überwog, und das gilt jedenfalls auch für Max Frisch und die ohnehin weniger ‚problematischen’ Autoren aus der Schweiz. Dieses Resultat war hauptsächlich der taktischen Raffinesse der Lektoren zu verdanken. Es würde jedoch entschieden zu kurz greifen, die Lektoratsarbeit des Verlages nur aus zensurgeschichtlicher Sicht zu betrachten. Bei einem Verlag für internationale Literatur war ein wichtiges Zeichen von Professionalisierung der Trend, auf die Originalsprachen zurückzugreifen. Seit den 1970er-Jahren war es beispielsweise Standard, direkt aus dem Aserbeidschanischen und Walisischen statt über den Umweg aus dem Russischen und Englischen zu übersetzen. Für die Schweiz lässt sich ein ähnlicher Trend beobachten: Die für die Schweiz zuständigen Germanisten öffneten ihren Blick über die Grenzen ihrer eigentlichen Zuständigkeit hinaus und entdeckten schließlich auch die romanischen Autoren. Im Ergebnis verschaffte der Verlag als ein Fenster zur Welt der eingemauerten Bevölkerung der DDR eine beeindruckende Kenntnis nicht nur der europäischen, sondern der Weltliteratur. Denn weil diese ein begehrteres, knappes, über lange Jahre 24 DG-Antrag Friedrich Dürrenmatt, Erzählungen. Gutachten Manfred Küchler, o. D. (BArch DR 1, 2387). 25 Klein, Thomas, XY – Der unbekannte Leser: Prägung durch Bücher, in Barck; Lokatis, Fenster zur Welt, S. 387f.

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hinweg von der Zensur versperrtes Gut war, wurde sie auch mit ungleich größerer Intensität und in riesigen Auflagenhöhen gelesen. Hier ist leider anzumerken, dass es sich bei den realen Auflagenhöhen in erheblichem Umfang um sogenannte „Plusauflagen“ gehandelt hat. Sie wurden natürlich nicht veröffentlicht und lassen sich weder den Druckgenehmigungsakten noch den Lizenzverträgen entnehmen 26 : Vertraglich vereinbarte Auflage Fran Arnau, Tätern auf der Spur 10.000 Blatter, Mary Long 10.000 Dürrenmatt, Stücke 6.000 Erkundungen, 35 Schweizer Erzähler 8.000 Erkundungen II, 42 Schweizer Erzähler 8.000 Frisch, Homo Faber 8.000 Frisch, Stiller 10.000 Frisch, Stücke 8.000 Frisch, Blaubart 8.000 Diggelmann, Ich und das Dorf 10.000 Muschg, Der blaue Mann 8.000 Muschg, Albissers Grund 10.000 Muschg, Baiyun 6.000 Vogt, Wiesbadener Kongreß 8.000 Vogt, Vergessen und Erinnern 6.000 R.Walser, Romane (2 Bde.) 3.000 Widmer, Schweizer Geschichten 6.000 Zollinger, Stille des Wunders (Lyrik) 1.200

Gedruckte Auflage 15.000 15.000 25.000 25.000 25.000 15.000 17.500 12.000 20.000 20.000 16.000 15.000 30.000 12.000 20.000 15.000 20.000 2.500

Für die 6.000 kontraktierten Exemplare von Adolf Muschgs Roman Baiyun erhielt der Suhrkamp-Verlag 7.400 „Verrechnungseinheiten“, also Westmark, obwohl ihm die fünffache Summe zugestanden hätte. In der Schweiz wurde besonders der Diogenes-Verlag mit seinen in der DDR populären Krimi-Autoren ein Opfer dieser Methode. Von den zahlreichen Chandler-Romanen beispielsweise wurden regelmäßig 50.000 Exemplare gedruckt, aber stets nur 10.000 davon bezahlt. Insgesamt addierten sich die durch den Plusauflagen-Betrug bis 1990 ersparten ValutaBeträge für westliche Literatur auf eine Summe von über 20 Millionen DM, die in den 1990er-Jahren den betroffenen Westverlagen von der Treuhand zurückgezahlt wurden. Grundlage dieser im Schutz der Mauer ausgeübten, zentral gesteuerten kriminellen Praxis, das internationale Urheberrecht konsequent und systematisch zu unterlaufen, war die weitgehende Konzentration des Belletristik-Imports auf nicht mehr als zwei Verlage, den Aufbau-Verlag und Volk und Welt. Durch diese Spezialisierung blieb das Wissen um den im Auftrag der SED-Finanzverwaltung 26 Die realen Zahlen sind einer Auflagenstatistik im Verlagsarchiv von Volk und Welt in der Berliner Akademie der Künste zu entnehmen.

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durchgeführten Betrug parteiintern, und nur wenige Führungskader waren eingeweiht. Eine weitgehend illegale Massenproduktion, die mehr schlecht als recht den enormen Bedarf befriedigte, der durch die Zensurpraxis angekurbelt war – und für die Buchproduktion wie für die Zensur war ein- und dieselbe Behörde zuständig. Das von der Hauptverwaltung Verlage gesteuerte „Leseland“ funktionierte als geschlossenes buchhändlerisches Produktions- und Distributionssystem, dem eine gewisse Professionalität vermutlich nicht abzusprechen ist. Zugleich ist es aber auch evident, dass für die Leser so eine breite Kenntnis der westlichen Welt entstand, die sich nicht nur auf den deutsch-deutschen Einigungsprozess, sondern auch auf ein wachsendes europäisches Selbstverständnis günstig ausgewirkt hat. Literaturhinweise Barck, Simone; Langermann, Martina; Lokatis Siegfried, Jedes Buch ein Abenteuer! Zensursystem und literarische Öffentlichkeit(en) in der DDR bis Ende der sechziger Jahre, Berlin 1997. Barck, Simone; Lokatis, Siegfried (Hgg.), Fenster zur Welt. Eine Geschichte des DDRVerlages Volk und Welt, Berlin 2003. Estermann, Monika; Lersch, Edgar (Hgg.), Deutsch-deutscher Literaturaustausch in den 70er Jahren, Wiesbaden 2006. Links, Roland, Kurzes Nachdenken über anregendes Fremdsein, in: Lenschen, Walter (Hg.), Literatur übersetzen in der DDR, Bern 1998. Lokatis, Siegfried, Im Reiche Baron Hagers oder wie modern war die Zensur in der DDR, in: Frankfurter Rundschau, 22.07.2000 (zugleich: Kulturation. Online-Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik 2 (2004), URL: http://www.kulturation.de/ki_1_thema.php?id=61 (20.03.2012).

Quelle Zensurgutachten über Das Wallroß und die Veilchen von Heinrich Strub (1952) 27 Das Kinderbuch „Das Walroß und die Veilchen“, von dem zweifellos begabten Schweizer Heinrich Strub, ist ein Beweis dafür, daß auch der wohlmeinende, dem Fortschritt zustrebende Künstler, den Gesetzen des geistigen und kulturellen Verfalls der imperialistischen Welt unterliegt. Ein Professor und ein Gärtner gerieten in Streit. Der Gärtner widerspricht dem Professor, der behauptet, daß Melonen als Südfrüchte nur im Süden wachsen können und erklärt ihm, daß es auf die Pflege ankäme und sowohl Melonen als auch Veilchen am Nordpol wachsen würden.

27 Zensurgutachten von Ursula Miessner über Heinrich Strub, Das Walroß und die Veilchen (Bundesarchiv Berlin, DR 1 (Ministerium für Kultur, Teil 3: Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel, Druckgenehmigungsvorgänge), 1947–1991, 5126a, Sonne, Schnee und Fels, Gutachten Lütke, 21. Oktober 1957).

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Der Professor verspricht 1.000 Franken, wenn eine derartige Züchtung gelänge. Der Versuch gelingt. Der Gärtner hat am Nordpol in Gewächshäusern Melonen zum Reifen und Veilchen zum Blühen gebracht. Ein Walroß entdeckt seine Leidenschaft zu diesen seltenen Pflanzen, als es durch die Glasfenster in das Treibhaus fällt. Es wird ein Freund des Gärtners, hilft ihm, bläst das Feuer in den Öfen an, bringt ihm Heringe und ißt dafür Melonen und genießt den Veilchenduft. Das Walroß begibt sich eines Tages auf die Suche nach dem „Land, wo die Zitronen blüh’n“. Nach einigen Irrfahrten gelangt es, den Veilchenduft verfolgend, (der Gärtner ist inzwischen auf einem Dampfer mit Veilchen und Melonen heimgefahren) in eine Stadt am Mittelmeer. Sein erstes Erlebnis dort hat es mit einem Auto, mit dem es zusammenstößt. Das Auto „unterliegt“ hierbei. Dann folgt es einer „Parfüm-Dame“, von der sein geliebter Veilchenduft ausströmt und wird von 3 Gangstern, Freunden der „Dame“, eingesperrt, die es am nächsten Tage schlachten wollen und in Vorfreude auf den zu erwartenden Erlös ein Gelage veranstalten. Ein Mäuslein kommt zu dem gefangenen Dickhäuter, er erzählt ihm seine Geschichte. Die Maus will den Gärtner, den sie kennt, benachrichtigen, wird aber unterwegs überfahren. Die Verwandten der Maus kommen ebenfalls neugierig zu dem Walroß und bald ist der Gärtner von ihnen benachrichtigt. Die Polizei wird verständigt. Das Walroß wird befreit. Die Gangster und die „Dame“ werden eingelocht. Das Walroß wandert nun durchs „Land, wo die Melonen blüh’n“, nimmt am Mäusebegräbnis teil und rehabilitiert den Gärtner vor dem Prof., die seine Züchtungsergebnisse am Nordpol nicht glauben wollten. Der Gärtner erhält 1.000 Franken und fährt mit dem Professor und dem Walroß an Bord zu neuen Taten an den Pol. Die Eskimos lernen Melonen essen. Obwohl viele der Zeichnungen sehr reizvoll und kindertümlich sind und beweisen, daß der Künstler nicht nur nette Einfälle besitzt, sondern auch über ein ausgezeichnetes Darstellungsvermögen verfügt und mit Liebe für Kinder zeichnet, so entgleist er doch infolge des Mangels an pädagogischem Verantwortungsbewußtsein vielfach aus der Welt des Kindes in die kindlich verspielter Erwachsener. Wie kann z.B. ein Kind den Witz, der in der Abwandlung „wo die Melonen blüh’n“ liegt, überhaupt erfassen? So kann auch den Humor eines Bildes, wie jenes, auf dem das Walroß mit der Miene eines Münchener Bierphilisters mit aufgeblähten Nüstern der „schönen Dame“ nachsteigt, nur ein Erwachsener aufnehmen. Diese Zeichnung gehört eher in den „Frischen Wind“, als in ein Buch für unsere Jüngsten. Das Bild des nächtlich von den Mäusen besuchten Gärtners könnte bei Kindern Angstträume erwecken. Wir können keine Prostituierte, selbst wenn die mit der Bezeichnung „Parfüm-Dame“ umschrieben wird, als Figur eines Kinderbuches akzeptieren. Sie ist „Schlepperin“ für ihre 3 Freunde, die Gangster, und tritt in 4 Bildern in Erscheinung. Eins davon ist eine regelrechte Kaschemmenszene. Wir können und wollen unseren Kindern, die in der Volkspolizei ihre Freunde und Beschützer sehen, nicht mit solch einer Polizei bekannt machen, die typische Vertreter einer anderen alten und überholten Welt sind. Wir können und wollen unseren Kindern nicht in einer Zeit, in der die großartigen Versuche der klimatischen Umgewöhnung von Pflanzen durch die Methoden von Mischurin und Lysenko längst zu tatsächlichen Erfolgen geführt haben, durch eine märchenhafte Behandlung dieses Themas diese Versuche so karikiert und unwirklich darstellen.

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Wollen wir eine der populärsten Zeilen Goethes (Kennst Du das Land, wo die Zitronen blüh’n) humoristisch abgewandelt als Leitmotiv eines Kinderbuches verwenden? Es wäre also bei einer Ausgabe für die DDR einmal notwendig, nur eine Auswahl der Illustrationen zu bringen, und nach ihnen müsste man eine neue Form der Fabel machen. Diese ist durchaus denkbar und man könnte dann ohne Einbuße des Humorvollen den Gärtner etwa als Symbol des Neuerers aus Erfahrung machen, den Professor noch mehr als den Buchgelehrten und Erstarrten charakterisieren.

DAS EUROPA DER MOTIVFORSCHUNG. KULTUR UND BERUF AM BEISPIEL DER WERBETREIBENDEN NACH DEM ZWEITEN WELTKRIEG 1 Manuel Schramm Die Werbewirtschaft gilt heutzutage als wichtiger Teil der neuen, dynamischen „kreativen Industrien“ bzw. der sie tragenden „kreativen Klasse“.2 Obwohl ihr Anteil am gesamten Bruttoinlandsprodukt selbst in OECD-Mitgliedsstaaten immer noch relativ gering ist (zwischen 0,2 und 0,8 Prozent 3 ), widmen ihr die meisten Regierungen seit ungefähr zehn bis 15 Jahren wachsende Aufmerksamkeit, da sie als Wachstumssektor von post-industriellen Gesellschaften gilt. Über die wirtschaftliche Bedeutung hinaus ist natürlich die Werbung ein wichtiger Teil der Kultur unserer Gesellschaft. 4 Stärker als die politische oder religiöse Symbolik besetzt sie den öffentlichen Raum, vor allem in den Metropolen Europas. Ist die kulturelle Bedeutung der Werbung unumstritten, so ist doch der Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Werbung, ihrer Professionalisierung und Verwissenschaftlichung, und der Europäisierung Europas noch nicht erforscht. Inwiefern trug die Werbung zur kulturellen Einigung Westeuropas bei? Lassen sich hier, wie in anderen Bereichen des Konsums, europäische Besonderheiten ausmachen, die die europäischen Konsumgesellschaften von anderen, zum Beispiel der US-amerikanischen oder japanischen, unterschieden? Welche Vorstellungen von Europa herrschten bei den Werbetreibenden selbst vor? Wie stark war die Orientierung an den USA? Diese Fragen können in der folgenden Skizze zwar nicht befriedigend beantwortet, sollen aber an dem Beispiel des österreichisch-amerikanischen Psychologen und Werbefachmanns Ernest Dichter näher ausgeführt werden. Im Folgenden werden zunächst Person und Biographie Dichters und das damit verbundene Feld der Motivforschung vorgestellt. Zweitens wird die Motivforschung als europäischamerikanischer Kulturtransfer analysiert. Drittens wird, ausgehend von der zugehörigen Quelle, das Europakonzept Dichters näher untersucht. Viertens schließlich soll die Frage nach Ähnlichkeiten und Unterschieden in der europäischen Werbung angesprochen werden. 1 2 3 4

Essay zur Quelle: Ernest Dichter: Europas unsichtbare Mauern (1962). Florida, Richard, The Rise of the Creative Class and How it’s Transforming Work, Leisure, Community and Everyday Life, New York 2002; Howkins, John, The Creative Economy. How People Make Money from Ideas, London 2002. United Nations, Creative Economy Report 2008, Genf 2008, S. 31. Vgl. Schug, Alexander, Werbung und die Kultur des Kapitalismus, in: Haupt, Heinz-Gerhard; Torp, Claudius (Hgg.), Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890–1990. Ein Handbuch, Frankfurt am Main 2009, S. 355–369.

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Ernest (ursprünglich Ernst) Dichter wurde am 14. August 1907 in Wien geboren. Sein Vater, den er später als „unbeschreiblich erfolglosen Verkäufer“ 5 bezeichnete, war ein ambulanter Textil- und Kurzwarenhändler. 6 Dichter war also von klein auf mit dem Verkaufen von Waren vertraut. Er selbst machte eine Ausbildung zum Verkäufer und Schaufensterdekorateur, bevor er das Abendgymnasium besuchte und schließlich ab 1930 zunächst Literatur und Romanistik, später dann Psychologie studierte. Nach seiner Promotion 1934 schlug er sich mit verschiedenen Arbeiten durch, unter anderem in der Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle des Soziologen Paul Lazarsfeld. Bereits hier sammelte er erste Erfahrungen in der Marktforschung. 1937 emigrierte er über Paris in die USA, wo er ebenfalls in einem Marktforschungsinstitut Anstellung fand, bevor er sich 1946 mit seinem Institute for Motivational Research selbständig machte. Bekannt wurde er durch eine Reihe von klassischen Studien, die er Ende der 1930er und in den 1940er-Jahren für US-amerikanische Firmen durchführte, zum Beispiel für das Männermagazin Esquire, den Seifenhersteller Procter & Gamble und die Automobilfirma Chrysler. Seine einfache, aber für die damalige Zeit ungewöhnliche Idee bestand darin, die Konsumenten und Konsumentinnen nicht direkt nach ihren Kaufmotiven zu fragen, sondern eine Reihe von so genannten Tiefeninterviews durchzuführen, um der wahren Bedeutung der Produkte und den unbewussten Motiven auf die Spur zu kommen. Offensichtlich inspiriert von psychoanalytischen Methoden, verstand er Kaufentscheidungen als häufig unbewusst irrational motivierte Handlungen voller sexueller Konnotationen. So interpretierte er in einem berühmten Beispiel das Cabrio als Symbol für die Geliebte, während die Limousine für die Ehefrau stand. 7 Seine daraus abgeleitete Empfehlung war, die Kunden mit Hilfe des Cabrios anzulocken, um ihnen dann eine Limousine zu verkaufen. Auf Dichter geht in diesem Zusammenhang der Begriff „Image“ zurück. Er suchte in Anlehnung an die Gestaltpsychologie nach einer Übersetzung der deutschen Wörter Gestalt, Konfiguration, Totalität oder Melodie.8 Mit seinen für die damalige Zeit unkonventionellen Methoden wurde Dichter in den 1950er-Jahren zum weltweit gefragten Werbefachmann, aber auch zur Zielscheibe von Gesellschaftskritik. In dem Bestseller des konsumkritischen Journalisten Vance Packard (Die geheimen Verführer 9 ) von 5 6

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Dichter, Ernest, Motivforschung, mein Leben. Die Autobiographie eines kreativ Unzufriedenen, Frankfurt am Main 1977, S. 46. Mucha, Christian W., Wie Ernest Dichter mein Leben veränderte, in: Gries, Rainer; Schwarzkopf, Stefan (Hgg.), Ernest Dichter. Doyen der Verführer. Zum 100. Geburtstag des Vaters der Motivforschung, Wien 2007, S. 7–11, hier S. 7; Fullerton, Robert, Ernest Dichter, der Motivforscher, in: ebd., S. 58–75, hier S. 59; Gries, Rainer; Schwarzkopf, Stefan; Lahm, Stefanie, Der große Verführer?, in: ebd., S. 12–31, hier S. 14. Vgl. Karmasin, Helene, Auto-Suggestionen. Dichters Studien zum Kraftfahrzeug, in: Gries; Schwarzkopf, Ernest Dichter, S. 158–169. Dichter, Motivforschung, mein Leben, S. 80. Packard, Vance, Die geheimen Verführer. Der Griff nach dem Unbewussten in jedermann, Frankfurt am Main 1957 (Originaltitel: Packard, Vance, The Hidden Persuaders, New York 1957).

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1957 erschien er als der zentrale Bösewicht, der mit Hilfe seiner psychologischen Kenntnisse die Konsumenten und Konsumentinnen nach Belieben manipulieren kann. Das Buch machte Dichter noch bekannter als er ohnehin schon war. 10 Einige Jahre später begann sein Stern allerdings zu sinken, in den USA bereits nach 1960 und in Europa seit Mitte der 1960er-Jahre. Er blieb bis ins hohe Alter als Management-Berater aktiv und verstarb 1991. 11 Die Ursprünge der Motivforschung liegen nach Dichters Angaben in seiner Kindheit: „Ich hatte rote Haare, war nicht so athletisch gebaut wie die anderen und trug Jahre hindurch nur alte Kleider, weil meine Familie sehr arm war.“ 12 Sein Interesse an Motiven erwuchs demnach aus seiner Außenseiterposition, die ihn befähigte, die Menschen anders wahrzunehmen als sie sich selbst und gerade deswegen in die Rolle des Beobachters und Beraters zu schlüpfen. 13 Ein weiteres Schlüsselerlebnis stellte seine Verhaftung 1936 dar. Die österreichische Polizei hielt die Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle insgesamt für einen Spionagering und Dichters Aufzeichnungen über die Milchtrinkgewohnheiten seiner Landsleute für einen chiffrierten Text. So wurde Dichter gefragt: „Was ist die wirkliche Bedeutung des Wortes Milch?“ 14 Die Parallelen zur Motivforschung sind nicht zu übersehen – und dennoch handelt es sich hierbei nur um Ursprungsmythen. Ernest Dichter war natürlich nicht der erste, der auf die Idee kam, psychologische Methoden in den Dienst kommerzieller Interessen zu stellen. Bereits 1914 hatte der in den USA lehrende deutsche Psychologe Hugo Münsterberg seine Grundzüge der Psychotechnik veröffentlicht, die ebenfalls verschiedene mögliche Anwendungen der Psychologie auf wirtschaftliche Probleme diskutierten, unter anderem auf die Werbung. 15 Auch Schriften aus dem Gebiet der Werbelehre wie Viktor Matajas Reklame (1910) beschäftigten sich bereits mit psychologischen Fragestellungen. 16 Die intellektuellen Einflüsse auf Dichters Motivforschung sind vielfältig und liegen neben der Freudschen Psychoanalyse in der Gestaltpsychologie, der Ethnologie und dem Positivismus des Wiener Kreises. 17 Die meisten Anregungen dürfte er in seiner Studienzeit in Wien und Paris empfangen haben. Die Motivforschung entstand somit aus einem Zusammentreffen bestimmter europäischer intellektueller Traditionen mit der US-amerikanischen Konsumkultur. 18 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Motivforschung nach Europa re-exportiert und wurde dort sogleich trotz ihrer europäischen Wurzeln als Teil einer umfassenden AmerikaniF

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Dichter, Motivforschung, mein Leben, S. 134f. Gries; Schwarzkopf, Ernest Dichter, S. 28f.; Fullerton, Ernest Dichter, S. 59. Dichter, Motivforschung, mein Leben, S. 13. Gries; Schwarzkopf; Lahm, Der große Verführer?, S. 13. Dichter, Motivforschung, mein Leben, S. 62. Münsterberg, Hugo, Grundzüge der Psychotechnik, Leipzig 1914. Mataja, Viktor, Die Reklame. Eine Untersuchung über Ankündigungswesen und Werbetätigkeit im Geschäftsleben, München 21916. 17 Gries; Schwarzkopf; Lahm, Der große Verführer?, S. 24f. 18 Horowitz, Daniel, Von Wien in die USA und zurück. Ernest Dichter und die amerikanische Konsumkultur, in: Gries; Schwarzkopf, Ernest Dichter, S. 108–127.

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sierung kritisiert. Mit gleicher Berechtigung könnte man in ihr auch einen Beitrag zur Europäisierung der USA sehen. Die Fixierung auf die Amerikanisierung dürfte ihre Ursache in den weitreichenden Veränderungen haben, denen die Werbebranche nach dem Zweiten Weltkrieg ausgesetzt war. US-amerikanische Werbeagenturen verbreiteten sich in Europa. Mit ihnen kam das neue Konzept der Full-Service-Agentur, die alle Werbedienstleistungen aus einer Hand lieferte. Die großen Unternehmen gingen mit recht unterschiedlicher Geschwindigkeit von der Werbung zum Marketing über, also zur marktorientierten Unternehmensführung mit gezielter Produkt-, Preis-, Kommunikations- und Vertriebspolitik. 19 Insofern wurde die Motivforschung als Teil eines größeren Umgestaltungsprozesses von Wirtschaft und Gesellschaft wahrgenommen. Insbesondere versprach sie die Verwissenschaftlichung der Werbung, die bis dahin noch viele Merkmale einer Kunst trug. So bezeichnete Dichter die Motivforschung als „praktische Anwendung von Methoden der Sozialwissenschaft auf die Probleme menschlicher Motivation“. 20 Damit schien ein Schlüssel zur Lösung vieler gesellschaftlicher Probleme gefunden zu sein und Dichter hatte keine Zweifel, dass sich die Motivforschung auch im politischen Bereich einsetzen ließe, wie die vorliegende Quelle zeigt. Die Rezeption der Motivforschung in Europa war uneinheitlich. Einerseits war Dichter auch und gerade in Europa in den 1950er- und 1960er-Jahren ein gefragter Mann, als Redner wie als Berater. Andererseits fehlte es nicht an Kritikern. Vertreter der deutschen Werbelehre wie Hanns Kropff warfen ihm eine Überbewertung der emotionalen und vor allem sexuellen Komponente des Konsums vor. 21 In Frankreich kehrte nach anfänglichem Interesse von Seiten der Unternehmen in den 1960er-Jahren Ernüchterung ein, da die Motivforschung offenbar nicht die erwünschten Resultate zeitigte. 22 In Großbritannien kam Dichter nie über den Status eines Außenseiters hinaus. 23 Heutzutage sind die von Dichter propagierten Methoden wie Tiefeninterviews weitgehend akzeptiert und werden vor allem in explorativen Pilotstudien verwendet, ohne die standardisierten Umfragen verdrängen zu können. 24 Die Verwissenschaftlichung und Professionalisierung der Werbung stieß jedoch an Grenzen. Nach wie vor ist das Berufsbild des Werbers sehr heterogen und die Ausbildung uneinheitlich. F

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19 Vgl. Schröter, Harm, Die Amerikanisierung der Werbung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte (1997), S. 93–115; Berghoff, Hartmut (Hg.), Marketinggeschichte. Die Genese einer modernen Sozialtechnik, Frankfurt am Main 2007. 20 Dichter, Ernest, Strategie im Reich der Wünsche, Düsseldorf 1961, S. 21. 21 Gries, Rainer, Produktkommunikation. Geschichte und Theorie, Wien 2008, S. 25f. 22 Joannis, Henri, De l’étude de motivation à la création publicitaire et à la promotion des ventes, Paris 1969, S. 5f. 23 Schwarzkopf, Stefan, Ernest Dichter motiviert Großbritannien. Oder: Wie der Kalte Krieg eine „amerikanische“ Marktforschungstechnik etwas „englischer“ machte, in: Gries; Schwarzkopf, Ernest Dichter, S. 218–233, hier S. 231. 24 Vgl. Berekoven, Ludwig; Eckert, Werner; Ellenrieder, Peter, Marktforschung. Methodische Grundlagen und praktische Anwendung, Wiesbaden 122009, S. 89f.

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Ernest Dichter äußerte sich nur sehr zurückhaltend zu im engeren Sinne politischen Fragen. Grundlegend war für ihn aber die Bejahung der westlichen Demokratie, ihrer Konsumkultur und Marktwirtschaft, die er als untrennbar verknüpft ansah. 25 Ein überzeugter Europäer war er wohl nicht. Jedenfalls amerikanisierte er sich schon kurz nach seiner Ankunft in den USA selbst: Er versuchte, seinen österreichischen Akzent abzulegen und gab seinen Kindern bewusst amerikanische Vornamen. 26 Es ist somit kein Zufall, dass in Dichters Ausführungen zur europäischen Einigung die US-amerikanische Perspektive dominiert. Das unausgesprochene Vorbild für die angestrebten Vereinigten Staaten von Europa sind für ihn ganz selbstverständlich die Vereinigten Staaten von Amerika – so beispielsweise in seinem Hinweis, der Amerikaner fühle sich eben als Amerikaner und nicht als Mainer oder New Yorker. Er stellte sich die Vereinigten Staaten von Europa nicht als Summe von Nationalstaaten vor, sondern als Nationalstaat, mit dem sich die Europäerinnen und Europäer identifizieren sollten. Dazu galt es, die nationalen Identitäten und die damit verbundenen Vorurteile innerhalb Europas zu überwinden und nicht sie zu integrieren. Loseren Konzepten der europäischen Integration erteilte er eine Absage. So könne Großbritannien nicht gleichzeitig das Commonwealth beibehalten und alle Vorteile der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft genießen. 27 Was ist nun der spezifische Ertrag der Motivforschung? Zu Recht betont Dichter die Bedeutung der kulturellen Komponente. Die europäische Einigung, wenn sie erfolgreich sein soll, könne nicht nur politisch und wirtschaftlich erfolgen, sondern es müsse zuvor ein Europäer erschaffen werden. Das größte Hindernis bestand nach seiner Meinung in der Furcht vor zu großer Vereinheitlichung und dem Verlust von nationaler oder regionaler Identität. Dementsprechend richteten sich seine Empfehlungen stark auf die symbolische Ebene: Geschichtsunterricht, Landkarte, Pässe, Währung und anderes. Damit befindet sich Dichter in Übereinstimmung mit der neueren Nationalismusforschung, die ebenfalls die Integrationsleistung von Symbolen, Mythen und Ritualen betont. 28 War Dichter also seiner Zeit voraus? Ja und nein. Seine Vorschläge erinnern stark an die nation-building genannten Bemühungen europäischer Nationalisten des 19. Jahrhunderts. Nach der italienischen Einigung sagte der Schriftsteller und Politiker Massimo D’Azeglio, man habe Italien gemacht, jetzt müsse man ItalieF

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25 Gries; Schwarzkopf; Lahm, Der große Verführer?, S. 26f.; Prechtl, Gerd, Der Pragmatiker der Macht, in: Gries; Schwarzkopf, Ernest Dichter, S. 268–273, hier S. 269f. 26 Horowitz, Von Wien in die USA und zurück, S. 114; Gries; Schwarzkopf; Lahm, Der große Verführer?, S. 19. 27 Dichter, Ernest, Europas unsichtbare Mauern. Die Rolle nationaler Vorurteile und ihre Überwindung. Eine Motivuntersuchung zur europäischen Einigung für die Europa-Union Deutschland, Düsseldorf 1962, S. 47. 28 Vgl. Siegrist, Hannes; François, Etienne; Vogel, Jakob (Hgg.), Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich, 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1995.

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ner machen. 29 Der Einsatz von Symbolen wie Flaggen, Landkarten oder Hauptstädten, die Instrumentalisierung der Schulen, alles das war für Nationalisten wie D’Azeglio selbstverständlich, auch ohne über Kenntnisse in der Motivforschung zu verfügen oder Umfragen durchgeführt zu haben. Dichters Europa-Untersuchung zeigt also letztlich die Chancen und Grenzen der Motivforschung gleichzeitig auf: Einerseits berücksichtigt sie zu Recht kulturelle Komponenten und thematisiert vorhandene, nicht eingestandene Ängste. Andererseits gehen die daraus resultierenden Empfehlungen jedoch nicht über die Ebene des common sense hinaus. Dichter ermahnte nicht zuletzt die Werbetreibenden und die Firmen, nicht nur passiv auf die Entstehung des europäischen Konsumenten zu warten, sondern ihn oder sie aktiv hervorzubringen. Diesem Rat scheinen nur wenige gefolgt zu sein. Jedenfalls gibt es zwar viele europäische Produkte, aber keines, das symbolisch für Europa steht wie etwa der Volkswagen für Deutschland. Ob es mittlerweile, fast 40 Jahre nach Dichters Untersuchung, einen europäischen Konsumenten gibt, ist selbst unter Fachleuten umstritten. Die deutsche Gesellschaft für Konsumforschung spricht von acht europaweit vorhandenen Zielgruppen, die sie als „Euro Socio Styles“ bezeichnen. 30 Nach diesem Ansatz variieren weniger die Zielgruppen an sich als vielmehr ihre quantitative Verteilung zwischen den europäischen Ländern. Andere Forscher verweisen darauf, dass selbst zwischen benachbarten und ähnlich wohlhabenden europäischen Ländern nach wie vor wichtige Unterschiede im Konsumverhalten bestehen – vom Fleischverbrauch über die Ausgaben für Bekleidung bis zur Ausstattung der Haushalte mit Geschirrspülern und Mikrowellen. 31 Auch die Werbeausgaben weisen zwischen den europäischen Ländern erhebliche Unterschiede auf. Sie variieren zwischen 0,6 Prozent (Italien) und 1,4 Prozent (Portugal) des Bruttoinlandsprodukts. 32 Inwieweit es im Werbestil Vereinheitlichungstendenzen gibt, ist schwerer zu beurteilen. Manche Beobachter sehen bis heute Unterschiede zwischen deutscher, britischer, italienischer und französischer Werbung. Die britische Werbung sei ironisch und unterhaltend, die französische eher romantisch und emotional. Die deutsche und italienische Werbung seien dagegen stark auf den Binnenmarkt ausgerichtet. 33 Ob es sich hierbei um Klischees oder reale Unterschiede handelt, ist schwer zu beurteilen. In der gut untersuchten Automobilwerbung scheint es durchaus Angleichungstendenzen zu geben, die vor allem auf die zunehmende Bedeutung internationaler WerbekamF

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29 Hobsbawm, Eric, Nations and Nationalism since 1780. Programme, Myth, Reality, Cambridge 1990, S. 44. 30 GfK Group, Euro-Socio-Styles. Zielgruppenorientierung für strategische Marketingplanung, URL: http://www.gfk.com/imperia/md/content/homepage_old/produkte/produkt_pdf/50/ess 2002d.pdf (30.09.2011). 31 De Mooij, Marieke, Global Marketing and Advertising. Understanding Cultural Paradoxes, Los Angeles 32010, S. 4; Eurostat (Hg.), Verbraucher in Europa. Zahlen, Daten, Fakten, Luxemburg 2002, S. 70, 87, 111. 32 Ebd., S. 38. 33 Tungate, Mark, Adland. A Global History of Advertising, London 2007, S. 92, 127, 149.

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pagnen zurückgehen. War Volkswagen mit seiner standardisierten Werbekampagne für den Käfer in den 1960er-Jahren noch eine isolierte Ausnahme, so brachten die 1990er-Jahre hier einen Durchbruch. 34 Unter Werbefachleuten wird die Diskussion über die Frage, ob international standardisierte Werbekampagnen sinnvoller sind als länderspezifische Abwandlungen schon seit 50 Jahren geführt und ein Ende ist nicht in Sicht. Offenbar funktionieren standardisierte Kampagnen für bestimmte Produkte (zum Beispiel Whisky, Parfum und Computer), aber nicht für andere. 35 Die in den 1980er-Jahren etwas vorschnell postulierte globale Angleichung des Konsums und der Konsumenten und Konsumentinnen36 wird jedenfalls zunehmend in Zweifel gezogen. F

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Literaturhinweise Berghoff, Hartmut (Hg.), Marketinggeschichte. Die Genese einer modernen Sozialtechnik, Frankfurt am Main 2007. Gries, Rainer; Schwarzkopf, Stefan (Hgg.), Ernest Dichter. Doyen der Verführer. Zum 100. Geburtstag des Vaters der Motivforschung, Wien 2007. Schramm, Manuel, Konsum im 20. Jahrhundert. Regionalisierung, Europäisierung, Amerikanisierung?, in: Eberhard, Winfried; Lübke, Christian (Hgg.), Die Vielfalt Europas. Identitäten und Räume, Leipzig 2009, S. 235–249. Schröter, Harm, Die Amerikanisierung der Werbung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte (1997), S. 93–115. Tungate, Mark, Adland. A Global History of Advertising, London 2007.

Quelle Ernest Dichter, Europas unsichtbare Mauern (1962) 37 F

Aus der Praxis der Motivforschung In meinem Beruf, den ich vor mehr als 25 Jahren begonnen habe, habe ich eine Reihe von Prinzipien zu verwenden gelernt, und vielleicht war es eine glückliche Heirat zwischen der europäischen Philosophie, philosophischer Ausbildung und dem Pragmatismus Amerikas, die sich in mir selbst vollzog. Ich habe gelernt, daß, will man menschliche Fortschritte erzielen, man zunächst einmal das Gewebe der Scheinheiligkeit zerstören muß. Man muß lernen, sich selbst so zu sehen, wie man wirklich ist, und dann von diesem Standpunkt aus den nächsten Schritt vorwärts gehen. Was ich vor mehr als 25 Jahren Motivforschung genannt habe, wurde von der Presse als Sensation abgestempelt. Alle möglichen Bezeichnungen wurden mir an den Kopf geworfen, 34 Minucci, Marko, Automobilwerbung in Italien und Deutschland, Wilhelmsfeld 2008, S. 466f. 35 De Mooij, Global Marketing, S. 14–17. 36 Levitt, Theodore, The Globalization of Markets, in: Harvard Business Review 61 (1983), S. 92–102. 37 Dichter, Ernest, Europas unsichtbare Mauern. Die Rolle nationaler Vorurteile und ihre Überwindung. Eine Motivuntersuchung zur europäischen Einigung für die Europa-Union Deutschland, Düsseldorf 1962, S. 35f., 39–42, 44, 49, 51–54.

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vom geheimen Verführer bis zum unmoralischen Mann, der dem armen Publikum das Geld aus der Tasche zieht, die Leute Dinge kaufen macht, die sie in Wirklichkeit gar nicht brauchen […]. In den meisten Fällen, in denen die Leute direkt danach gefragt werden, warum sie dies und jenes tun oder lassen, geben sie sehr rasch intelligent und logisch klingende Erklärungen, weil sie von oder in der Illusion leben, daß sie sich rationell, intelligent benehmen. In Wirklichkeit sind sehr viel mehr unserer Handlungen auf emotionaler Basis fundiert, haben irrationale Gründe. […] Womit wir uns also beschäftigen – und unser Institut hat über 2000 Studien durchgeführt – ist, daß wir professionell ungläubig sind, daß wir uns immer wieder die Frage stellen: Ist es auch wirklich so? […] Unsere Aufgabe ist es meist, diese wahren Gründe aufzuspüren, die logisch gar nicht stichhaltig sind, eben weil sie eine irrationale, emotionale Basis haben, und weiterhin, den Kunden Hinweise zu geben, wie sie am besten verfahren, unterschwellige Widerstände solcher Art abzubauen. Solche Probleme und Verhaltensweisen gibt es natürlich nicht nur auf dem rein kommerziellen Sektor. […] Auch in der Politik, wo wir viele Studien durchgeführt haben und von der hier die Rede sein soll. Deutschland und Europa In einer der letzten Studien, die wir durchgeführt haben, haben wir uns nun auf das Problem der Europäischen Union konzentriert. Mit derselben pragmatischen Einstellung – zumindest war das unsere Absicht – und mit demselben ehrlichen, naiven Zynismus. Beinahe jeder Europäer ist natürlich sehr gern bereit, zu erzählen, daß er selbstverständlich für die Vereinigten Staaten von Europa ist, daß er der erste ist, der dafür stimmen würde, daß er schon längst darauf gewartet hat, und irgendeinmal müßte das doch tatsächlich zustande kommen. Wir haben ungefähr 700 Personen in ganz Deutschland befragt […]. Erfahren wollten wir, was die wirklichen Motive, die wirklichen Einstellungen, die wirklichen Emotionen sind, die in Europa existieren, welche dieser emotionellen Einstellungen gefördert werden könnten, welche korrigiert werden müßten. Wir haben eine ganze Reihe von Tiefeninterviews durchgeführt und zusätzlich auch eine Reihe von sogenannten Projektivtests, die so konstruiert waren, daß Gefühlsbereiche aufgedeckt wurden. Eines zum Beispiel: ‚Aus welcher Nation würden Sie jemanden heiraten‘? Da zeigte sich eine ganz deutliche Richtung nach dem Norden. Ob die Deutschen tatsächlich, wie die Untersuchung zeigt, so gern Schweden oder Schwedinnen heiraten, wenn es wirklich dazu kommt, ist natürlich eine andere Sache. Womit wir es aber zu tun haben, sind Leitbilder, und da werden die südlichen Länder vom Standpunkt des Ehepartners her negativ angesehen. Gleichzeitig sind die Deutschen, die hier befragt wurden, der Gesamtidee der EuropaUnion gegenüber außerordentlich positiv eingestellt. […] Die psychologische Analyse zeigt, daß wir in den meisten Fällen mit einer ganz besonderen Art von Furcht konfrontiert werden. Der Furcht, die sich auf den Verlust der Individualität bezieht: Müssen jetzt plötzlich die Europäer die gleiche Sprache sprechen? Um Gottes willen, müssen wir jetzt alle französischen Käse essen oder – ich weiß nicht, was das Pendant wäre – deutsches Bier trinken? […] Was sind die Tatsachen, die wir bezüglich Europas gefunden haben? Vor allem dieses: daß sich die Europäische Union oder auch die EWG zu wünschen oder durchzuführen,

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nicht genügt. Um eine echte europäische Einigung zu schaffen, muß zuerst einmal ein ‚Europäer’ erschaffen werden, den es noch nicht gibt. […] Praktische Hinweise […] Ein erster Punkt, der vielleicht etwas vage klingt, aber doch meiner Meinung nach sehr konkret und praktisch ist: Zunächst mal in Ihrem täglichen Gespräch, beginnend heute abend oder morgen früh, nicht mehr von sich als einem Deutschen, Franzosen oder Italiener zu sprechen, sondern als Europäer. Der Amerikaner spricht nicht von sich als Mainer oder als New Yorker oder New Engländer, er ist ein Amerikaner. […] Weitere praktische Maßnahmen: Wie oft haben Sie Ausländer in Ihren Familienzirkel eingeladen? Wieviele Fremdsprachen können Sie wirklich? Wieviel ‚Europa’ wird in den Schulen gelehrt? Ist es nicht doch wahr, daß in deutschen, französischen, italienischen Schulen viel mehr italienische, französische, deutsche Geschichte gelehrt wird als europäische? […] Die Möglichkeit zum Beispiel, für eine Reihe industrieller Firmen nicht nur nationale, sondern europäische Landkarten zu drucken, die – vielleicht ein schrecklicher Gedanke – keine nationalen Grenzen mehr haben, um, wie bei den Schulkindern auch den Erwachsenen zunächst einmal das Bild, die Umrisse, die Gestalt Europas einzuprägen. […] Vielleicht könnte man langsam an europäische Werbung denken, in der nicht mehr eine deutsche, französische oder englische Zigarette, sondern eine europäische Zigarette, ein europäisches Bier, ein europäischer Wagen herausgestellt und angeboten wird. […] Eine weitere praktische Idee, die mir persönlich sehr am Herzen liegt, weil sie pragmatisch ist und als Symbol gelten kann, wäre die Schaffung eines europäischen Passes. Eine verrückte Idee! […] Man könnte ein europäisches Zahlungsmittel einführen, ähnlich den American Travellers’ Cheques, das von einer Reihe von Banken garantiert wird. Eine europäische Hauptstadt! Ich bin mir völlig bewußt, daß die Frage, welches die Hauptstadt sein soll, sehr viele Schwierigkeiten aufwirft. Aber Menschen brauchen – das wissen wir von unserer Werbearbeit, von unseren politischen Aufgaben – Symbole. Es gibt noch keine richtige europäische Flagge, es gibt keine europäische Hauptstadt, es gibt keinen europäischen Paß, es gibt keine europäischen Konturen. es gibt eine ganze Reihe von Dingen nicht, die wir brauchen, an die wir von unserem nationalen Denken her gewohnt sind. […] Der europäische Konsument wächst außerordentlich rasch heran. Man müßte die Regierungen, die Firmen dafür interessieren, nicht nur passiv darauf zu warten, bis es den europäischen Konsumenten, den europäischen Käufer gibt, sondern ihn mehr und mehr in der Werbung, in public-relations, in allen öffentlichen Kontakten als Europäer ansprechen und dabei nicht nur etwa vom ‚deutschen Fabrikat’ reden. […] Zusammenfassend würde ich sagen: Die wirkliche Vereinigung Europas kann nicht nur ein politischer, ein gesetzgeberischer, nicht einmal ein ökonomischer Entschluß sein wie die EWG, sondern die Vereinigung Europas muß zunächst in jedem Menschen selbst beginnen […].

3. TRANSFER, KOOPERATION, KONKURRENZ – EUROPA ALS WISSENSCHAFTSRAUM

MAKING RESPECTED GENTLEMEN OUT OF LAW PROFESSORS. A COMMENTARY ON ALBERT VENN DICEY, CAN ENGLISH LAW BE TAUGHT AT THE UNIVERSITIES? 1 F

David Sugarman One striking difference between the English and Continental European legal traditions is that English legal education has been organised and controlled by the legal profession, rather than universities. Until the late twentieth century, most English lawyers, and the vast majority of England’s higher judiciary, learnt their law as apprentice-lawyers in practice, as a consequence of the legal professions’ examination requirements 2 , rather than at university. While Civil Law (Roman Law) was taught at the Universities of Oxford and Cambridge from the thirteenth century onwards, the Common Law was taught at the Inns of Court in London by legal practitioners. The Inns, which today are the institutional home of the Bar, provided a relatively informal system of training for barristers, solicitors and attorneys, from medieval times to the late seventeenth century. Thereafter, such education as was provided by the Inns died out, and professional training for barristers and solicitors alike, was very largely dependent on apprenticeship. Education in English (common) law emerged remarkably late. The first university professorship in English law – the Vinerian Chair at Oxford – was established in 1758. Its first incumbent was William Blackstone, and his published lectures rapidly became the pre-eminent commentary on the Common Law. Despite Blackstone’s success, university legal education at Oxford failed to flourish. By the 1840s there were still only two law professors at Oxford: one of whom offered no courses, and the other – the Chair of Canon Law – which remained unfilled. The stories at Cambridge and London were similar. Cambridge created its first professorship in English Law in 1800; however, for much for the nineteenth century legal education at Cambridge struggled to become established. Professorships in law were created at the new University College in London in the 1820s, and at King’s College in 1831; nevertheless, as in Oxford and Cambridge, the number of students and faculty remained small. From the 1850s onwards, the number of university law schools gradually increased. By 1909 there were eight law faculties in England and Wales. Yet the numbers of faculty, students, and degree courses remained relatively small. Meanwhile, more formalised training for lawyers was gradually introduced by the legal profession in association with the introduction and development of examination requirements from the 1860s onwards. F

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Essay on the source: Albert Venn Dicey: Can English Law be Taught at the Universities? (1883). All paragraph references are to the edited version of this work appended to this essay. These examination requirements were gradually introduced from the 1860’s onwards.

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Intellectually, the position of law within the university was highly contested. Significant elements within the legal profession were hostile to academic law and those lawyers who graduated from university, especially barristers, tended not to study law. Scholars in other disciplines were sceptical about the potential of law to contribute to academia. Legal practitioners and academics in other disciplines tended to regard law as a practical subject, like plumbing, and best learnt in practice. Law schools were frequently regarded as intellectually inferior to the better established disciplines within the university firmament, such as classics, mathematics and science. It was this collective distain for university legal education that Albert Venn Dicey (1835–1922) confronted in his inaugural lecture as the Vinerian Professor of Law at the University of Oxford, entitled Can English Law Be Taught at the University? (1883). 3 Addressing legal practitioners, judges and members of the university community, Dicey sought to persuade them that university legal education had something special and worthwhile for the legal community and universities, something above and beyond that which could be attained through apprenticeship and professional exams. In establishing a competence that was both useful to the legal community and sufficiently scholarly to merit a place in the university sector, without being unduly threatening, the principal role carved out by the new professional law professors was the exposition, simplification and synthesis of the leading cases of the Common Law, together with the core principles of which the leading cases were illustrative. University legal education would develop the notion of law as principled and coherent, demonstrate that the apparent chaos of the law was in fact grounded in a small number of general principles, and formulate and exposit these general principles by connecting particular cases to general principles and vice-versa. Persuading the legal profession and the universities to acknowledge the place of university legal education and scholarship called for tact, circumspection and a sense of balance. The legitimacy of the university law school was, of course, asserted, but in a way that was congruent with the established provinces of the lawyer and the professor. Indeed, the rhetorical strategies available to Dicey were undoubtedly limited. For centuries, the legal profession had managed without university legal education. Legal practitioners had exhibited little intellectual interest in law. Moreover, Dicey, and the legal community of which he was a member, were not revolutionaries. Thus, Dicey sought not to monopolise legal education and scholarship, but merely to share it with the legal profession (para. 21). Nonetheless, the division of labour espoused by Dicey represented a radical departure from the English tradition of legal education and scholarship.4 F

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See, Dicey, Albert Venn, Can English Law be Taught at the Universities? An inaugural lecture delivered at All Souls College, Oxford, 21 April 1883 by Albert Venn Dicey to mark his election as Vinerian Professor of English Law at the University of Oxford, London 1883. Dicey exercised a significant influence on English legal education and scholarship. See, Cosgrove, Richard A., The Rule of Law. Albert Venn Dicey, Victorian Jurist, London 1980. Dicey took a keen interest in contemporary politics, and until the 1880s he embraced orthodox Liberalism and law reform. The conversion of William Gladstone (the leader of the

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What, then, was yielded to the sole competence of the legal profession? Dicey conceded that practitioners were the masters of how the law actually operated in practice, and of practical skills, such as drafting documents and arguing cases (paras. 3 and 4). While Dicey acknowledged the value of apprenticeship (“reading in chambers”), he laid out in much greater detail its anomalies and defects (paras. 2, 5, 6, and 7). Dicey articulated why law can and should be taught in universities by reference to the sole competence of university legal education and professors of law. He argued that only the new university law teachers could teach law in a logical and coherent manner, enabling students to gain a firm grounding in legal principles, and that legal academics would create a new and important legal literature (paras. 8, 9, 10, 11, 16). Thus, the new professional jurist, would simplify, rationalise and codify the law, providing a guide to and a warranty of “legal authority”. Comparative experience – in France, Germany, Scotland, the United States, as well as England – demonstrated that the published lectures of university law professors had significantly shaped the form and content of the law, and that law professors were the de facto codifiers of modern legal systems. It was in this context that the casebook and treatise (textbook) became the pre-eminent forms of legal scholarship in the United States and England respectively. Dicey celebrated the creative and legislative role of jurists, as well as the importance of the new juristic scholarship (paras. 12, 13, 14, 15, 17, 18, 19). Dicey’s measured denunciation of contemporary legal education followed the charges already levelled in parliamentary reports and debates as well as newspapers and magazines, notably the highly critical government reports of 1846 and 1854 – charges that almost invariably emphasised the invidious comparison between legal education in England, and that in Continental Europe and the United States. Thus, Dicey’s lecture drew upon a pre-existing linguistic repertoire and rhetoric to underpin his arguments. From a comparative perspective, Dicey’s inaugural lecture was one of several such clarion calls. It was part of a transnational movement, associated with the period circa 1850–1914, that sought to establish a particular form of modern university law school and of liberal legal science that became the “orthodoxy” of modern legal education and scholarship. The project entailed creating a significantly enhanced province for the university law teacher, while sustaining a mode of legal education primarily concerned with the teaching of “black-letter” law and the teaching of the student to “think like a lawyer” and attain an education in “legal science”. It is a story of a small number of full-time, elite jurists in a small number of elite institutions in Continental Europe, England and the United States, constituting, transmitting and legitimating university-based legal education and scholarship principally for the elite who it was envisaged would become the legal establishment.

Liberal Party) to home rule for Ireland, the increasing power of the working classes and a fear of socialism turned Dicey into a Conservative in all but name.

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Consistent with this cosmopolitan project, Dicey celebrated those foreign jurists and institutions that he treated as exemplars for the English – including Pothier (French); Savigny (German); Kent, Story and Langdell (American) and the Harvard Law School (US) – as well as role models closer to home, such as the authors of the first systematic treatment of Scottish and English law, Lord Kames and Sir William Blackstone respectively, both of whom were jurists and judges (paras. 17, 18, 19). The German professoriate, German private law science and the German university law school were influential role models in England, and, in particular, the United States. Savigny epitomised, perhaps more than anyone, the rigour, scientific pretensions, importance and status to which the new professional jurists, such as Dicey, aspired. 5 Indeed, Dicey’s inaugural echoes Savigny’s important manifesto on the importance of jurists with respect to the clarification and systematisation of the law. 6 Dicey pointed to the fact that elsewhere, the relationship between the legal profession and university legal education was harmonious, and that in countries, such as the United States, some of the foremost judges were also jurists, law professors and the authors of the leading legal texts in their fields. The superior status enjoyed by law professors abroad, especially the ease with which law professors in the United States might be appointed to the highest courts of the land, was in stark contrast to the inferior status of jurists in England together with the mixture of condescension and contempt that law professors frequently encountered from legal practitioners. It was common parlance within the legal community that those who taught law did so because they were unable to make a successful career in legal practice. Dicey was obsessed with the inferior status of university law teachers relative to the established professions, and in particular, the legal elite. His recurrent discontent with the world of legal practice was personal: originally, Dicey – in the hope that it would provide a springboard into the world of politics – had sought and failed to establish a career at the Bar. His failure to win distinction in legal practice was a significant context for understanding his transition from would-be barrister-politician and senior judge to Dicey the Vinerian Professor of Law. On the one hand, Dicey’s dissatisfaction with his experience at the Bar, and the Bar as an institution, was evident in his earliest publications 7 where he attacked the Bar’s culture of patronage, deference and restrictive practices – criticisms that provide part of the background to his inaugural lecture. On the other hand, Dicey never ceased aspiring to membership of the imperial class to which elite legal practitioners and senior judges belonged. Dicey’s inaugural lecture came close to advocatF

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Reimann, Mathias (ed.), The Reception of Continental Ideas in the Common Law World 1820–1920, Berlin 1993. Von Savigny, Friedrich Carl, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Heidelberg 21828 (English translation: Of the Vocation of our Age for Legislation and Jurisprudence, translated from the German by Abraham Hayward, London 1831). Dicey, Albert Venn, Legal Etiquette, in: Fortnightly Review 8 (1867), pp. 169–179.

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ing what would then have seemed heresy to many – namely, that the qualities and virtues of the new university law teachers were such that in class terms they merited parity with elite legal practitioners. In effect, Dicey argued that the important work of legal academics would be thwarted until they were released from the prison of their lower middle-class status. Thus, Dicey set out to transform both himself and university law teachers from upstart opportunists to successful gentleman professionals. Such efforts are evidence of politics articulated by class and of the cultural strains in English social relationships. Dicey’s life and work were rooted in mid-Victorian values and the politics of class. He was a jurist concerned with appearances and status. Dicey’s career is illustrative of the hidden strengths of such considerations, and the power they exerted on his creative mentality. It is one of the most significant and still least acknowledged keys to Dicey’s complexities. 8 Dicey’s struggle to accommodate legal practitioners, and to gain admittance to the upper echelons of the profession, came at a cost. By defining the province of the university law school in such narrowly positivistic terms, and ceding “reality” to the exclusive competence of legal practitioners, Dicey’s inaugural lecture embodied and ratified a conception of legal education and scholarship that does not take full account of the institutional, practical, moral, political and historical foundations of law. Although Dicey was among a generation of university law teachers who ultimately fostered a closer rapport between university legal education and practising lawyers, he was not interested in bringing other disciplines – such as history, politics, sociology and anthropology – into the law school. Law has become predominantly a profession of law graduates. While the Diceyan orthodoxy remains at the heart of the legal education enterprise 9 , university law schools have not only grown considerably, but the approach taken to legal education and scholarship has broadened enormously. 10 The discipline of Law has become increasingly integrated within the academy. In terms of professional standing and confidence, law teachers at the beginning of the twenty-first century have a far more equal relationship with practising lawyers. Yet even today there are a relatively small, but influential, number of lawyers who argue that non-law graduates tend to produce the best lawyers. As in Dicey’s time, the relationship between legal academics and practitioners continues to be a site of struggle and contestation. F

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It also points to the value of understanding Dicey’s inaugural lecture through the lenses of contemporary middle-class politics and professional turf wars. 9 Collier, Richard, We’re All Socio-legal Now?, in: The Sydney Law Review (2005) pp. 503– 536; Bartie, Susan, The Lingering Core of Legal Scholarship, in: Legal Studies 30 (2010), pp. 345–369. 10 Twining, William, Blackstone’s Tower: The English Law School, London 1994; Cownie, Fiona, Legal Academics: Culture and Identities, Oxford 2004; Cownie, Fiona; Cocks, Raymond, ‘A Great and Noble Occupation!’: The History of The Society of Legal Scholars, Oxford 2009.

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Bibliography Abel-Smith, Brian; Stevens, Robert, Lawyers and the Courts. A Sociological Study of the English Legal System 1750–1965, London 1967, chaps. 7 and 13. Bush, Jonathan A.; Wijffels, Alain A. (eds.), Learning the Law. Teaching and the Transmission of Law in England 1150–1900, London 1999. Polden, Patrick, The Education of Lawyers, in: The Oxford History of the Laws of England, vol. XI (1820–1914), Oxford 2010, pp. 1175–1222. Sugarman, David, Legal Theory, the Common Law Mind and the Making of the Textbook Tradition, in: Twining, William (ed.), Legal Theory and Common Law, Oxford 1986, pp. 26–62. Sugarman, David, A Special Relationship? American Influences on English Legal Education, c. 1870–1965, in: International Journal of the Legal Profession 18 (2011), pp. 7–57.

Source Albert Venn Dicey: Can English Law be Taught at the Universities? (1883) 11 F

(1) My purpose in this address is to set forth […] the marked merits, and the no less patent defects, of the present system of legal study, and to show what is the field which this system leaves open for professorial and academical teaching. (2) The prevailing method of reading in chambers is […] a method of instruction which would strike a foreigner as strange […]. When a student “reading for the bar” enters the chambers of a barrister […] the [barrister] does not in any way undertake to teach. Our student pays a hundred guineas, and the barrister undertakes that his pupil shall see all the work that goes on in chambers, and have an opportunity of trying his own hand at doing it […]. What teaching (if any) he may obtain is a matter of chance […]. Our young man reading for the bar […] [if] he is to learn law, he must pick it up for himself […]. The oddity of the thing is, that he after all gets in due time, mainly by the process of imitation, to make pretty tolerable bricks […]. (3) There are […] things of the highest value which can be learned in court or in chambers, and can be learned nowhere else […]. The mechanism of legal practice, such as the drafting of deeds, the drawing of claims, the arguing of cases, and the like, must be learned in chambers or in court. Experience and practice can do a great deal to bring a man’s mind into harmony with judicial opinion. This quality of judiciousness is not a fruit to be fostered by lectures. (4) The merits, in short, of the present system may be all summed up in the one word “reality”. It brings a student in contact with the real actual business […] [of the law]. (5) But to admit […] that from reading in chambers something of great worth, can be

11 Dicey, Albert Venn, Can English Law be Taught at the Universities? An inaugural lecture delivered at All Souls College, Oxford, 21 April 1883 by Albert Venn Dicey to mark his election as Vinerian Professor of English Law at the University of Oxford, London 1883. The text reproduced here is an edited version of the original work. Paragraph numbers have been added to assist the reader.

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gained which no other mode of training can by any possibility replace, is a very different thing from admitting that a hand-to-mouth system of learning under which a young man when reading for the Bar is plunged into details, and left to pick up legal principles haphazard, is a perfect system, or does not exhibit glaring defects which lead to grave evils […]. (6) It is demonstrable that legal education in England has grave defects, and that the circumstances of modem times have rendered these faults of far more importance than they were even as late as fifty years ago. (7) The inherent defects of [reading in chambers] […] are threefold. The knowledge gained in chambers is fragmentary, unsystematic, [and] is wasteful of time and labour. (8) Academical instruction at Oxford ought to form the proper preparation for observation of business in London; the proper sphere of professorial activity is to supply all the defects which flow directly or indirectly from a one-sided system of practical training. It is for professors to set forth the law as a coherent whole – to analyse and define legal conceptions – to reduce the mass of legal rules to an orderly series of principles, and to aid, stimulate, and guide the reform or renovation of legal literature […]. At the Universities can be taught what from the nature of things can never be learnt in chambers – the habit of analysing and defining legal conceptions […]. (9) There is indeed no more appropriate or profitable sphere for professorial industry than the explanation, the simplification, and the analysis of legal terminology. It is hardly too much to predict that till the terminology of the law has been reviewed and settled, as it has been in other countries, under the influence of professorial teaching, England will never possess a code at all worthy of the merits of English law. (10) At the Universities can be taught, and can hardly, as things stand, be taught elsewhere, the habit of looking upon law as a series of rules and exceptions, and of carefully marking off the exact limits of ascertained principles. The first duty of a competent teacher is to impress upon himself and upon his pupils that law can be digested into a set of rules and exceptions, and to make his hearers feel that general, common, normal principles are far more important than what is exceptional, uncommon, or abnormal. (11) By adequate study and careful thought whole departments of law can thus be reduced to order and exhibited under the form of a few principles which sum up the effect of a hundred cases, and can thus hundred cases […]. Nothing can be taught to students of greater value either intellectually or for the purpose of legal practice, than the habit of looking upon law as a series of rules; and further that a school of lawyers imbued with this turn of mind would gradually reduce the whole chaotic mass of legal principles to a clear, logical, and symmetrical form. Here, however, we stand on the confines of the last, the most interesting, and perhaps the most important sphere of professorial energy. (12) At the Universities can be aided, stimulated, and guided as nowhere else the muchneeded reform, I had almost said creation, of legal literature. (13) We have […] not twenty treatises worthy to stand side by side with the productions of great jurists in other countries […]. On academical teachers […] naturally falls the task, as full of importance as it is of interest, of aiding that reform or revival of legal literature which is one of the most remarkable phenomena of the last thirty years. If we look to the needs of our students, it is clearly of primary importance to supply them with works which may enable them to see that law is a rational study, and can be treated like other sciences in a clear, rational, and interesting manner.

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(14) By teaching and by literature they can influence far more than is generally believed not the form only but the substance of the law. The rules of law which are supposed to be so inflexible are, for the most part, in fact enactments of judicial legislation, and nothing is more remarkable or more intelligible than the ease with which judicial legislation is swayed by the pressure of authoritative opinion […]. (15) Particular authors have notoriously, even in recent times, modelled, one might almost say brought into existence, whole departments of law. (16) Exposition (it may be said with truth) is not erudition. But […] the qualities which ought to distinguish academical teaching of law – the habit of looking at our subject as a whole, the desire to define and […] simplify legal ideas […], the effort to reduce law to a series of propositions which are both intelligible and in correspondence with the decisions of the court and the opinions of practising lawyers – these qualities are all fostered by the necessity for clear and effective exposition of actual law […]. (17) The names of Pothier, of Savigny […] are sufficient to remind us that the great works of foreign jurists, the treatises or the codes which have been the result and the embodiment of their teaching, were in many instances the more or less immediate growth of lecture […]. The best Scotch institutional works are the fruit of lectures delivered in the University of Edinburgh [and] Glasgow. (18) The experience of the United States is full of instruction […]. At the present moment English law is […] admirably taught in the colleges of America. The […] practising counsel of Massachusetts would undoubtedly tell you that the best preparation for practice in court is study in the lecture rooms of Professor Langdell and his colleagues of Harvard University […]. There has never too, we must add, in America, been any encouragement given to the idea that there was an inconsistency between practical knowledge and the theoretical exposition of the law. Kent retired to his professorship from high judicial office […]. Story’s lectures were delivered at Harvard, while Story himself was by far the most eminent among the Judges of the Supreme Court at Washington […]. (19) The one book of [English] law which can claim a high and permanent place in the literature of England was originally produced as lectures to the University of Oxford…The preeminent influence exerted by the professorial lectures which make up Blackstone's Commentaries is an almost irresistible argument in favour of the conclusion at which we arrive from whatever side we approach our subject. (20) The immense merits and the patent defects of the present system of teaching; the actual wants of young men studying the law; the faults which have marred the legal literature of England; the movement of reform by which these faults are being day by day corrected or removed; the experience of the whole of continental Europe, of Scotland, of America, and, in the single instance to which it is possible to refer, of England itself – all supply the answer to our original question. (21) There is no real rivalry between reading in chambers and teaching at the Universities. The law of England can be taught, and if only the teachers are competent, and clearly perceive the limits and aim of their teaching, can be taught as it can nowhere else, at the English Universities.

WISSENSCHAFT AM RANDE EUROPAS? OSMAN HAMDI BEY UND DIE PROFESSIONALISIERUNG DER OSMANISCHEN ARCHÄOLOGIE 1 F

Jakob Vogel Die Ausgrabung der Nekropole von Sidon im Südlibanon im Jahr 1887 gilt noch heute als Meilenstein der Archäologiegeschichte. Mit ihren bedeutenden antiken Funden warf die Ausgrabung nicht nur ein wichtiges neues Licht auf die Begräbniskultur der hellenistischen Zeit, sondern bildete durch die breite öffentliche Aufmerksamkeit auch eine zentrale Etappe für den Aufbau und die Popularisierung der Archäologie im Osmanischen Reich. Hauptfundstück der Grabung war der sogenannte „Alexandersarkophag“, ein prächtig gestalteter Marmorsarkophag aus dem dritten Jahrhundert v. Chr., der aufgrund seines reichen, mit polychromen Farbresten bestückten Figurenfrieses bald nach seiner Entdeckung von der Öffentlichkeit fälschlicher Weise zum Sarkophag Alexanders des Grossen erklärt wurde. Geleitet worden war das Unternehmen von Osman Hamdi Bey 2 , dem Chef der osmanischen Altertümerverwaltung, der als Autor der Gesetze von 1884 zum Schutz der antiken Kulturgüter auf dem Boden des Osmanischen Reiches eine entscheidende Rolle bei der Institutionalisierung und Professionalisierung der osmanischen Archäologie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts spielte. Zusammen mit dem französischen Archäologen und Gräzisten Theodore Reinach veröffentlichte er 1892 einen zweibändigen Bericht der Grabung und eine wissenschaftliche Beschreibung der wichtigsten Fundstücke aus Sidon, die er dem osmanischen Sultan Abdülhamit II. widmete. Die von Hamdi Bey verfasste Einleitung der Schrift verdeutlicht dabei die großen Anstrengungen zur Etablierung der klassischen Archäologie und einer professionellen Antikenverwaltung in dem islamisch geprägten Reich, bei denen die Funde von Sidon eine zentrale Stellung einnahmen. 3 Der Text offenbart aber auch die Spannungen und Vorurteile, mit denen ein derartiges Unternehmen am Ende des 19. Jahrhunderts zu kämpfen hatte. Diese ergaben sich nicht allein durch die Probleme einer im Aufbau begriffenen Verwaltung und durch das Unverständnis der heimischen Bevölkerung – Umstände, welche zu jener Zeit vergleichbare UnF

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Essay zur Quelle: Osman Hamdi Bey über die Ausgrabungen in Sidon (1892). Für den Namen Hamdi Beys finden sich in den Quellen wie in der Literatur verschiedene Schreibweisen. Da sich in der heutigen internationalen Forschung eher die Schreibweise „Hamdi Bey“ durchgesetzt.hat, wurde auch hier (sieht man von den Literaturhinweisen ab) diese Form gewählt. Hamdy Bey, Osman; Reinach, Theodore, Une nécropole royale à Sidon: fouilles de Hamdy Bey, Bd.1: Texte, S. I–V. Im Folgenden stammen alle Quellenzitate, soweit nicht anders vermerkt, aus der hier abgedruckten Quelle.

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ternehmungen auch in westeuropäischen Ländern beklagten –, sondern auch durch die Schwierigkeiten und kulturellen Vorurteile, unter denen die osmanische Archäologie unter dem Vorzeichen des westeuropäischen Imperialismus und Orientalismus zu leiden hatte: Ihre Vertreter waren die Repräsentanten einer sich erst allmählich professionalisierenden und institutionalisierenden Wissenschaft 4 , die nicht nur mit den Anfangsschwierigkeiten jeder wissenschaftlichen Disziplin kämpfte, sondern sich durch die umkämpfte Position des Osmanischen Reiches im Südosten Europas auch im Zentrum der imperialistischen Politik der anderen europäischen Mächte wiederfand. Dabei hatten sie sowohl den Widerstand der Traditionalisten im eigenen Land als auch die Vorurteilen der westlichen Kollegen zu gewärtigen. Der Fall Osman Hamdi Beys und der Ausgrabungen in Sidon verweist damit auf die ambivalente Stellung der osmanischen Archäologie im Rahmen einer europäischen Kultur- und Sozialgeschichte. Denn auch wenn der osmanische Archäologe unzweifelhaft durch seine wissenschaftlichen Anschauungen und Kontakte, sein professionelles Selbstverständnis und seinen Habitus ganz in den Kreis der europäischen Wissenschaftler einbezogen war 5 , wurde er doch stets – und dies in der Forschung durchaus bis heute – aus diesem Kreis ausgegrenzt, sei es aufgrund seiner „orientalischen“ Herkunft 6 oder sei es wegen eines vermeintlich nicht vollwertigen Status als „Facharchäologe“. 7 Gerade der letzte Vorwurf erscheint besonders unpassend, repräsentierte Hamdi Bey doch den in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in der westeuropäischen Archäologie verbreiteten Typus eines Angehörigen der europäischen Oberschicht, der keine formelle universitäre Ausbildung etwa in der klassischen Philologie oder Geschichte besaß, den fehlenden akademischen Abschluss aber durch breites historisches Wissen und ein großes Engagement in der praktischen Grabungswissenschaft wettmachte. Auch westeuropäische gentleman scientists wie Carl Humann, Max von Oppenheim, John Lubbock oder Henry Underhill lassen sich in ähnlicher Weise in den allmählichen Professionalisierungsprozess der europäischen Archäologie einordnen. Tatsächlich kannte diese um 1900 noch kein klares Berufsbild eines akademisch geschulten Archäologen. Vielmehr handelte es sich um eine recht bunt gemischte Gruppe unterschiedlicher Herkunft und Ausbildung, welche die Kenntnisse der antiken Geschichte sowie ihrer schriftlichen und bildlichen Quellen mit F

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Vgl. etwa Biehl, Peter; Gramsch, Alexander; Marciniak, Arkadiusz (Hgg.), Archaeologies of Europe. History, Methods and Theories/Archäologien Europas. Geschichte, Methoden und Theorien, Münster 2002. Vgl. Metzger, Henri, La correspondance passive d’Osman Hamdi bey, in: Comptes-rendus des séances de l’Académie des Inscriptions et Belles-Lettres 132 (1988), S. 672–684. Pottier, Edmond, Eloge funèbre de S.E. Hamdy-bey, directeur des Musées impériaux de Constantinople et correspondant étranger de l’Académie, in: Comptes-rendus des séances de l’Académie des Inscriptions et Belle-Lettres 54 (1910), S. 71–75. So etwa Radt, Wolfgang, Carl Humann und Osman Hamdi Bey – Zwei Gründerväter der Archäologie in der Türkei, in: Istanbuler Mitteilungen 53 (2003), S. 491–506, hier S. 503.

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einem eher praktisch ausgerichteten Grabungswissen verband. 8 Zu Gute kam Hamdi Bey dabei seine künstlerische Ausbildung, die ihm wichtige Bereiche der wissenschaftlichen Bearbeitung und der musealen Präsentation der Fundstücke erschloss. In diesem Sinne repräsentierte Hamdi Bey – anders als dies die gelegentlichen abwertenden Äußerungen der Quellen und Forschung suggerieren – den Typus eines Archäologen, der vollständig in die europäischen Netzwerke der Disziplin einbezogen war, durch seine Herkunft und Arbeit im Osmanischen Reich aber auch immer wieder an den Rand der europäischen Wissenschaft gedrängt wurde. Die Ausgrabungen von Sidon und die wissenschaftliche Publikation ihrer Funde bildeten aus Sicht der zeitgenössischen Wissenschaften tatsächlich so etwas wie das Gesellenstück Osman Hamdi Beys für seine zu diesem Zeitpunkt bereits langjährigen Karriere als Archäologe im Dienst des Sultans, führten sie doch zu seiner Aufnahme als ausländisches korrespondierendes Mitglied in die Pariser Académie des Inscriptions et Belles-lettres im Jahr 1894. 9 Doch schon Jahre bevor seine Leistungen auf diese Weise durch die community der französischen Altertumswissenschaftler anerkannt wurden, hatte Hamdi Bey eng mit seinen ausländischen Kollegen beim Aufbau einer osmanischen Archäologie zusammengearbeitet: 1881 zum Direktor der kaiserlichen Museen in Konstantinopel berufen, übertrug er beispielsweise die Erstellung des ersten wissenschaftlichen Katalogs des Museums dem älteren Bruder Theodore Reinachs, dem Archäologen und Religionswissenschaftler Salomon Reinach. Auch andere französische Altertumswissenschaftler bildeten von Anfang an den Kreis der Wissenschaftler, die durch die Vermittlung Hamdi Beys in Konstantinopel und in den verschiedenen Regionen des Reiches zur antiken Geschichte forschten. 10 Der enge Austausch mit den französischen Kollegen war nicht nur der verbreiteten Frankophilie der omanischen Oberschicht geschuldet, sondern hatte auch tiefergehende persönliche Gründe: Ähnlich wie schon sein Vater, ein hoher Beamter und zeitweilig Minister des Sultans, hatte Hamdi Bey ab 1860 mehrere Jahre in Paris verbracht mit dem Ziel, dort Französisch zu lernen und ein JuraStudium zu absolvieren. 11 Im Gegensatz zu den Wünschen seines Vaters blieben seine akademischen Studien jedoch eher oberflächlich, stattdessen nahm der junge Hamdi Bey Unterricht im Atelier des Salonmalers Gustave Boulanger, dessen orientalistischen Malstil er für die eigenen Werke übernahm. Der väterliche Wunsch einer höheren Verwaltungslaufbahn im Dienste des Sultans verwehrte F

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Vgl. Samida, Stefanie, Literatur, Geschichte und Archäologie im 19. Jahrhundert. Der Burghügel von Hisarlik, in: Burmeister, Stefan; Müller-Scheeßel, Nils (Hgg.), Fluchtpunkt Geschichte. Archäologie und Geschichtswissenschaft im Dialog, Münster 2010, S. 73–92; Callmer, Johann et al. (Hg.) Die Anfänge der ur- und frühgeschichtlichen Archäologie als akademisches Fach (1890–1930) im europäischen Vergleich, Rahden 2002. 9 Pottier, Eloge funèbre, S. 73. 10 Ebd., S. 73f. 11 Zu dieser Frühphase seines Lebens vgl. Eldem, Edhem, Introduction, in: Ders, (Hg.), Un Ottoman en Orient. Osman Hamdi Bey en Irak, 1869–1871, Paris 2010, S. 17–68, bes. S. 17– 34.

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ihm allerdings die von ihm zunächst anvisierte Malerkarriere in Frankreich und zwang ihn 1868 zur Rückkehr an den Bosporus. Dank der vielfältigen persönlichen Beziehungen des Vaters in der osmanischen Oberschicht nahm Hamdi Bey in den Folgejahren als Verantwortlicher für die diplomatischen Beziehungen mit den Europäern an einer Regierungsmission im Irak teil, wo er auch erstmals mit den archäologischen Ausgrabungen in der Region in Kontakt kam. Fortan blieb sein Weg in der Administration des Sultans von den beiden Polen der Kunst und der Archäologie gekennzeichnet: als künstlerischer Leiter des Beitrags seines Landes auf der Weltausstellung in Wien 1873, als Direktor des Kaiserlichen Museums, des späteren Archäologischen Museums und der osmanischen Antikenverwaltung, und schließlich ab 1882 als Direktor der neu gegründeten Kunstakademie. Als erste derartige Ausbildungsstätte im Osmanischen Reich hatte diese nicht nur einen großen Einfluss auf die Entwicklung der modernen Malerei im gesamten islamischen Raum, sondern beeinflusste auch die osmanische Archäologie, denn die hier ausgebildeten Zeichner und Bildhauer kamen bei den Ausgrabungen beim Abzeichnen oder Abgießen der Fundstücke zum Einsatz. 12 Die Verwaltungsaufgaben in Konstantinopel hinderten Hamdi Bey nicht, sich gleichzeitig mit großer Energie der Förderung der Grabungstätigkeit in den osmanischen Provinzen zu widmen. 1883 erhielt er beispielsweise den Auftrag, Ausgrabungen auf dem Tumulus in Nemrut Dagi im Südosten Anatoliens vorzunehmen, den im Jahr zuvor der deutsche Ingenieur Karl Sester im osmanischen Regierungsauftrag vermessen hatte. Die hier wie an anderen Stellen des Reiches geborgenen Fundstücke, allen voran der in Sidon gefundene Alexandersarkophag, dienten wiederum der Ausstattung des von Hamdi geleiteten Kaiserlichen Museums, für das 1891 ein neues Gebäude in Konstantinopel errichtet wurde. 13 Seine Platzierung auf dem Gelände des Topkapi-Palasts im symbolischen Herzen der osmanischen Hauptstadt wie auch der neoklassische, an einen antiken Tempel erinnernde Stil des von dem französisch-osmanischen Architekten und Professor an der Kunstakademie Alexandre Vallaury geschaffenen Bauwerkes unterstrichen sichtbar den zentralen Stellenwert, welcher der Sultan der antiken, vorislamischen Vergangenheit in der Selbstdarstellung des Reiches beimaß. Ebenso großes Gewicht wie auf die fachgerechte Ausstellung der Fundstücke im neuen Museum – die Experten der Académie des Inscriptions rühmten es 1910 im Nachruf auf den Museumsgründer als „un des premiers musées du monde […] qui par ses aménagements, ses classements, est un modèle à proposer à beaucoup d’autres“ 14 – legte Hamdi Bey auf die Publikation der Grabungsergebnisse, die allgemeinen Standards des Faches entsprechen sollte. Einen Bericht seiner Ausgrabung im Südosten Anatoliens veröffentlichte er daher zusammen mit Osgan Efendi, einem Bildhauer und Professor an der Kunstakademie, noch 1883 in KonF

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12 Radt, Carl Humann, S. 500. 13 Zur Vorgeschichte der archäologischen Sammlungen in Konstantinopel, vgl. Shaw, Wendy M. K, Possesors and Possesed. Museums, Archeology, and the Visulation of History in the Late Ottoman Empire, Berkeley 2003, S. 45ff. 14 Pottier, Eloge funèbre, S. 72f.

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stantinopel auf Französisch unter dem Titel Le Tumulus de Nemroud-Dagh 15 – ein Ausweis dafür, dass die Grabungsergebnisse der internationalen scientific community zur Verfügung gestellt werden sollten. Die Publikation der Grabung von Sidon wurde von Hamdi Bey noch sorgfältiger geplant: Während ein erster Bericht aus seiner Hand 1887 in der renommierten Revue archéologique erschien 16 , wurde die ausführliche, mit Theodore Reinach verfasste Dokumentation erst fünf Jahre später in einem angesehenen Pariser Verlag publiziert, der auf altertumskundliche Werke spezialisiert war. Die aufwändige bildliche Dokumentation der Fundstücke, von denen einige sogar als Fotografien bzw. als farblich kolorierte Zeichnungen wiedergegeben wurden, sowie die Karten und Skizzen des Abbildungsbandes machten dabei das Interesse Hamdis deutlich, die geborgenen Kunstwerke möglichst spektakulär und auf höchstem wissenschaftlichem Niveau zu präsentieren. Seine künstlerische Ausbildung und zeichnerischen Fähigkeiten kamen ihm hierbei zweifellos zu Gute – auch wenn sie in einer eher von naturwissenschaftlichen und philologischen Methoden dominierten Wissenschaft außergewöhnlich erscheinen musste. Entsprechend groß war daher das Echo der Fachwelt auf die Publikation. 17 Hamdis Bericht über die zweijährige Grabungskampagne in Sidon lässt jedoch auch erkennbar werden, wie eng begrenzt letztlich der Radius der osmanische Archäologen im eigenen Reich trotz der Förderung durch die allerhöchsten Stellen war: Die geringe Zahl von archäologisch geschulten Beamten machten sie abhängig von der Unterstützung der lokalen Bevölkerung und der örtlichen Behörden, denen in aller Regel die Fachkenntnisse bei der Bergung der Fundstücke fehlten. Mitte der 1880er-Jahre besaß die Osmanische Verwaltung tatsächlich nur in wenigen Provinzhauptstädten des Reiches einen archäologischen Dienst, so etwa in Smyrna (Izmir), das aufgrund der zahlreichen griechischen Ausgrabungsstätten an der kleinasiatischen Küste ein besonders exponierte Stellung für die zeitgenössischen Archäologen einnahmen. Entsprechend positiv hob Hamdi Bey in seinem Bericht über die Grabungen in Sidon die Zusammenarbeit des Besitzers des Grundstücks der Nekropole sowie der regionalen Beamten hervor, die nicht, wie in vielen anderen Fällen, die ersten Fundstücke an ausländische Sammler verkauft, sondern ganz vorschriftsmäßig die übergeordneten Stellen über die Funde informiert hätten. 18 Noch deutlicher hatte Hamdi in seinem in der Revue archéologique erschienenen Aufsatz darüber hinaus den Vandalismus beklagt, mit dem in Sidon wie in anderen Orten des Reiches die antiken Überreste zerstört würden. Explizit erhob er den Vorwurf an einzelne, nicht namentlich genannte Vertreter europäischer Mächte vor Ort, die nicht nur die Raubgrabungen unterstützt, sondern auch in der F

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15 Hamdy Bey, Osman; Effendi, Osgan, Le Tumulus de Nemroud-Dagh, Konstantinopel 1883 (Neuauflage 2007). 16 Hamdy Bey, Osman, Mémoire sur une nécropole royale découverte à Saida, in: Revue archéologique 3. Série, 10 (1887), S. 138–150. 17 Vgl. auch Metzger, La correspondance, S. 676. 18 Hamdy Bey, Osman, Introduction, in: Ders; Reinach, Theodore, Une nécropole royale à Sidon: fouilles de Hamdy Bey, Bd. 1: Texte, Paris 1892, S. If.

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Region eine lukrative Produktion von nachgebildeten, „antiken“ Objekten und Inschriften betrieben hätten. 19 Weit mehr noch als die Konkurrenz der westeuropäischen Kollegen, die seit Mitte des Jahrhunderts in zunehmendem Ausmaß eigene Grabungskampagnen auf dem Gebiet des Osmanischen Reiches vornahmen, bildeten tatsächlich die Grabräuberei sowie der florierende illegale Handel mit echten und vermeintlichen Ausgrabungsstücken einen ständige Herausforderung für die osmanischen Archäologen. Die kontinuierliche, unkontrollierte Ausfuhr von antiken Objekten wenigstens halbwegs einzudämmen, war daher das Ziel der von Hamdi Bey 1884 formulierten Antikengesetze, die eine striktere Kontrolle der Grabungen und eine Aufteilung der Fundstücke zwischen den grabenden ausländischen Archäologen und den osmanischen Altertumsbehörden vorsah. Die große Ausdehnung des Reiches und die zahllosen antiken Fundstätten machten eine systematische Überwachung aber nicht möglich. Angesichts der beschränkten Mittel der Verwaltung konnten diese Regelungen daher auch nur in einem sehr begrenzten Rahmen umgesetzt werden. Der Fall Osman Hamdi Beys und seiner Ausgrabungen in Sidon verweist jedoch nicht nur auf Erfolge der Professionalisierung der osmanischen Archäologie und die Grenzen ihrer Institutionalisierung am Ende des 19. Jahrhunderts. Ebenso deutlich werden auch die kulturellen Vorurteile und Stereotypen, mit denen die osmanischen Archäologen angesichts des in Westeuropa florierenden „Orientalismus“ zu kämpfen hatten, der mit seinen kulturellen Vorurteilen und Fremdbildern des „Orients“ – wie die Forschung seit Edward Saids Pionierstudie deutlich gemacht hat – gerade in den Wissenschaften und in der Kunst außerordentlich verbreitet war. 20 Augenfällig werden diese Stereotypen selbst in dem Nachruf, den der Präsident der Pariser Académie des Inscriptions, Edmond Pottier, nach dem Tod Hamdi Beys während der Akademiesitzung am 4. März 1910 verlas. 21 Während Pottier auf der einen Seite die Verdienste des Verstorbenen für die osmanische Archäologie und die Wissenschaft im allgemeinen lobte und ihn dabei als „homme de goût“ und „savant de haute intelligence“ pries, kam der Kunsthistoriker und Archäologe offenbar nicht umhin, seine Leistungen dem verbreiteten Bild des Osmanen entgegen zu setzen: „Une telle vie donne un singulier démenti à la réputation de mollesse des Orientaux.“ 22 In der Beschreibung Pottiers erschien Hamdi eher als eine seltsame Zwischengestalt, die Orient und Okzident in sich vereinte – wobei letzterer und insbesondere Hamdi Beys Ausbildung in Paris für die außergewöhnlichen intellektuellen Fähigkeiten des Osmanen verantwortlich F

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19 Hamdi Bey, Mémoire, S. 149f. 20 Vgl. aus der Vielzahl der Forschungsbeiträge u.a. Marchand, Sabine Suzanne L., German Orientalism in the Age of Empire. Religion, Race, and Scholarship, Cambridge 2009; Schimmelpenninck van der Oye, David, Russian Orientalism. Asia in the Russian Mind from Peter the Great to the Emigration, New Haven 2010; allgemeiner zur Forschungsgeschichte: Schnepel, Burkhard; Brands, Gunnar; Schönig, Hanne (Hgg.), Orient – Orientalistik – Orientalismus. Geschichte und Aktualität einer Debatte, Bielefeld 2011. 21 Pottier, Eloge funèbre. 22 Ebd., S. 74.

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gemacht wurden: „Le contraste était piquant entre sa physionomie d’Oriental et la vivacité tout occidentale de ses manières et de son langage.“ 23 Immer wieder vorgeworfen wurde Hamdi Bey darüber hinaus ein gewisser „Nationalismus“, insbesondere im Zusammenhang der im Westen meist als zu harsch empfundenen Regelungen des Antikengesetzes von 1884 24 , das Hamdi Bey in der Einleitung seines Werkes noch einmal als gutes Recht des in seinem Reich souveränen Sultans rechtfertigte. Die Elogen, welche er für sein Werk von Kollegen und offiziellen Stellen nicht nur aus Frankreich, sondern aus allen westeuropäischen Ländern erhielt 25 , hatten insofern leicht einen instrumentellen Charakter, wussten die Westeuropäer doch, dass die Person Hamdi Beys in den kulturdiplomatischen Beziehungen mit der Hohen Pforte eine zentrale Position einnahm. Die verbreitete Abgrenzung des „Orients“ und der „europäischen Zivilisation“ hatte aber noch weitergehende Folgen für das Bild der osmanischen Archäologen im Westen. Der französische Historiker Charles Diehl äußerte beispielsweise über das von Hamdi Bey neu aufgebaute Museum in Konstantinopel, diesem gelänge es lediglich aufgrund der griechischen Fundstücke, der Türkei einen „europäischen und zivilisierten“ Anstrich zu verleihen. 26 Von der Ablehnung des „europäischen“ und „zivilisierten“ Status des Osmanischen Reiches war es dann kein weiter Schritt mehr, den osmanischen Archäologen generell die Legitimität und Kompetenz einer fachwissenschaftlichen Behandlung der antiken Überreste abzusprechen, die man eher dem „europäischen“ Griechenland als der „orientalischen“ Türkei zugestehen wollte. 27 Die Entdeckung der Sarkophage in Sidon führte in der westeuropäischen Öffentlichkeit daher auch zu einer heftigen Kontroverse darüber, ob derartige antike Fundstücke überhaupt in den Händen des osmanischen Staates bleiben dürften. Gegenüber der britischen Zeitung The Times forderte ein Leser gar „to take immediate measures to secure these treasures and prevent their falling into the hands of the vandal Turk” und verlangte die sofortige Überstellung der Kunstschätze an das British Museum in London. 28 Angesichts der engen fachlichen und zum Teil auch freundschaftlichen Beziehungen, die Hamdi Bey mit vielen ausländischen Archäologen pflegte, wäre es allerdings falsch, derartige radikal abgrenzende Äußerungen als Maßstab für das Verhältnis der osmanischen Archäologen mit der westeuropäischen Fachwissenschaft heranzuziehen. Die Zusammenarbeit mit dem aus einer säkularen jüdischen Familie stammenden Theodore Reinach bei der Publikation der GrabungsergebF

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23 Ebd., S. 72. 24 Ebd., S. 73. 25 Zur engen freundschaftlichen Beziehung Hamdi Beys zu dem deutschen Archäologen Carl Humann vgl. Radt, Carl Humann. 26 Çelik, Zeynep, Defining Empire’s Patrimony: Ottoman Perceptions of Antiquities, in: Archaeologists & Travelers in Ottoman Lands. Katalog der Ausstellung des Penn Museums 2010, S. 2, URL: http://www.ottomanlands.com/sites/default/files/pdf/CelikEssay_0.pdf (20.03.2012). 27 Jezernik, Bozidar, Constructing Identities on Marbles and Terracotta: Representations of Classical Heritage in Greece and Turkey, in: Museum Anthropology 30 (2007), S. 3–20. 28 Ebd., S. 14.

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nisse aus Sidon ist hier sicherlich ein sprechendes Gegenbeispiel. Unterschiedliche religiöse oder nationale Hintergründe bedeuteten in Hamdis Augen vielmehr, wie auch der Quellentext noch einmal deutlich macht, keinerlei Schranken für den Dienst an der „cause archéologique“. Auffällig ist vielmehr die starke Affinität, die er, wie viele Anhänger einer „westlichen“ Modernisierung im Dienst des Sultans 29 , gegenüber den Angehörigen der religiösen Minderheiten im eigenen Land hegte: Gleich eine ganze Reihe von engen Mitarbeitern und Kollegen, wie Alexandre Vallaury oder Démostène Baltazzi, gehörten als Levantiner, Griechen oder Juden den nationalen bzw. religiösen Minderheiten im Reich an. 30 Angesichts dieser religions- und grenzüberschreitenden Perspektive, die Hamdi Bey seinem Engagement für die osmanische Archäologie und damit für eine Anpassung des Reiches an die Standards der westlichen Wissenschaft zu unterlegen versuchte, fallen jedoch die relativ scharfen Worte auf, mit denen der Quellentext die Käuflichkeit und Ignoranz „des basses classes de la population, tant musulmane que chrétienne“ angreift. Zwar warnte Hamdi davor, die verbreiteten Zerstörungen der antiken Kunstwerke der Nekropole dem „fanatisme des habitants“ von Sidons zuzuschreiben und machte hierfür die Agitation einzelner ausländischer Personen verantwortlich, doch teilte er offenkundig – wie die Passage unterstreicht – mit vielen Angehörigen der osmanischen Oberschicht die Vorurteile über die einheimische Bevölkerung des Libanons. Diese in der Forschung unter dem Stichwort eines „Ottoman Orientalism“ 31 thematisierten Stereotypen verweisen hier allerdings eher auf die soziale Distanz eines gebildeten hohen Beamten gegenüber den ärmeren Schichten des Reiches als auf ein kulturell geprägtes Vorurteil gegenüber der arabisch-stämmigen Bevölkerung – eine Distanz, die er durchaus mit seinen europäischen Kollegen und gentleman scientists teilte. Es wäre daher voreilig Osman Hamdi Bey in die Kategorien eines „osmanischen Orientalisten“ einzuordnen 32 oder, wie der amerikanische Archäologiehistoriker Stephen L. Dyson, ihn wegen der Verschiffung der Fundstücke aus Sidon und anderen Grabungsorten gar auf einer Stufe mit vielen westeuropäischen Forschern als „imperialist“ zu bezeichnen. 33 Vielmehr verschließt Hamdi Bey sich einer einfachen Kategorisierung: Als osmanischer Archäologe stand er zwar in der F

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29 Vgl. hierzu u.a. Dinçkal, Noyan, „The Universal Mission of Civilisation and Progress”. Infrastruktur, Europa und die Osmanische Stadt um 1900, in: Themenportal Europäische Geschichte (2009), URL: http://www.europa.clio-online.de/2009/Article=348 (05.04.2012). 30 Dabei spielte sicherlich eine Rolle, dass auch seine eigene Familie griechische Wurzeln hatte: Der Vater entstammte einer griechischen Familie von der Insel Chios, war aber in Konstantinopel in der Familie eines osmanischen Würdenträgers im islamischen Glauben erzogen worden. Vgl. Eldem, Introduction. 31 Makdisi, Ussama, Ottoman Orientalism, in: The American Historical Review 107 (2002), S. 768–796; Eldem, Edhem, Ottoman and Turkish Orientalism, in: Architectural Design 80 (2010), S. 26–31. 32 Ähnlich: Eldem, Edhem, What’s in a Name? Osman Hamdi Bey’s Genesis, in: Archaeologists & Travelers. 33 Dyson, Stephen L., In Pursuit of Ancient Pasts. A History of Classical Archaeology in the Nineteenth and Twentieth Centuries, New Haven 2006, S. 147.

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Mitte der europäischen archäologischen Wissenschaft, befand sich gleichzeitig aber am Rande einer eher von naturwissenschaftlichen Methoden und der Philologie geprägten disziplinären Entwicklung einer Wissenschaft und ihrer in Westeuropa beheimateten akademischen Zentren. Literaturhinweise Çelik, Zeynep, Defining Empire’s Patrimony: Ottoman Perceptions of Antiquities, in: Archaeologists & Travelers in Ottoman Lands. Katalog der Ausstellung des Penn Museums 2010, URL: http://www.ottomanlands.com/sites/default/files/pdf/Celik Essay_0.pdf (20.03.2012). Eldem, Edhem, Un Ottoman en Orient. Osman Hamdi Bey en Irak, 1869–1871, Paris 2010. Gramsch, Alexander, Eine kurze Geschichte des Archäologischen Denkens in Deutschland, Leipzig 2008, in: Leipziger online-Beiträge zur Ur- und Frühgeschichtlichen Archäologie, URL: http://museum-herxheim.academia.edu/AlexanderGramsch/Papers/275740/Eine_Kurze_Geschichte_Des_Archaologischen_Denkens_In_Deutschla nd (20.03.2012). Hitzel, Frédéric, Osman Hamdi Bey et les débuts de l’archéologie ottomane, in: Turcica 42 (2010), S. 167–190. Trümpler, Charlotte (Hg.), Das große Spiel. Archäologie und Politik zur Zeit des Kolonialismus, Essen 2008.

Quelle Osman Hamdi Bey über die Ausgrabungen in Sidon (1892) 34 F

Introduction Au commencement de l’année 1887, le nommé Mehmed Chérif Effendi, propriétaire d’un terrain connu sous le nom de Ayaa, et situé aux environs de Saïda, l’ancienne Sidon, entreprit, en vertu d’un permis délivré par l’autorité locale, certains travaux dans sa propriété, à l’effet d’extraire des pierres à bâtir. Le 2 mars 1887, Mehmed Chérif Effendi, se conformant à la loi sur les antiquités, vint avertir le caïmakam de Saïda, Sadik Bey, qu’il avait découvert un puits au fond duquel il pouvait y avoir des tombeaux35 . Le caïmakam se rendit le lendemain sur le lieu de la découverte pour constater l’exactitude de cette information ; là il aperçut à fleur de terre, sur la paroi orientale du puits, un trou par lequel apparaissait l’intérieur d’un caveau contenant deux sarcophages, dont l’un était orné de sculptures. Il s’empressa de porter ce fait à la connaissance du gouverneur général de la Syrie, Nachid Pacha, ainsi que du mutessarif de Beyrouth, Nassouhi Bey, et confia le puits à la garde d’Essad Effendi, officier de la gendarmerie de Saïda. Le caïmakam ne tarda pas à recevoir l’ordre de débarrasser le puits d’une grande quantité de terre qui l’obstruait encore, pour voir s’il ne contenait pas, par aventure, d’autres caveaux. F

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34 Hamdy Bey, Osman, Introduction, in: Ders.; Reinach, Theodore, Une nécropole royale à Sidon: fouilles de Hamdy Bey, Bd. 1: Texte, Paris 1892, S. I–V. 35 À Saïda, tout le monde a fouillé dans les jardins; par conséquent personne n’ignore comment un tel puits est configuré ni ce qu’il peut contenir.

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Dans le cours de cette opération, Sadik Bey découvrit, en effet, l’entrée de deux autres chambres funéraires, s’ouvrant l’une au sud, l’autre au nord, et qui contenaient aussi des sarcophages. Nachid Pacha, averti immédiatement par le télégraphe, fit suspendre les travaux jusqu’à l’arrivée de Béchara Effendi, ingénieur en chef du Vilayet, qu’il envoya pour les reprendre et les diriger. Le 15 mars, Béchara Effendi arrivait à Saïda et ouvrait l’un après l’autre une série de sept caveaux, qui, tous, contenaient des sarcophages. Il rédigea à la hâte un rapport36 , accompagné de quelques plans et profils, qu’il adressa, à la date du 24 mars, à Nachid Pacha, pour être communiqué au Ministère de l’Instruction publique, à Constantinople. Ce rapport, rédigé très rapidement par un fonctionnaire étranger à la science archéologique, renfermait forcément de nombreuses inexactitudes ; aussi je crois devoir me dispenser de le reproduire ici, mais je m’empresse de rendre hommage au tact et à l’intelligence que Béchara Effendi a déployés dans l’accomplissement de sa mission ; les travaux ont été conduits avec tant de prudence qu’aucun des objets trouvés dans la terre extraite du puits et des vestibules n’a été perdu et qu’aucun des sarcophages n’a été endommagé. C’est à la suite du rapport de Béchara Effendi que S. M. I. le Sultan, dont la sollicitude pour son Musée est si grande, m’a confié la mission d’aller à Saïda pour procéder à l’extraction des précieux monuments qu’on venait d’y découvrir, les faire transporter sur un bâtiment de l’Etat à Constantinople, et exécuter, s’il y avait lieu, d’autres fouilles au même endroit. Je quittai Constantinople le 18 avril 1887, et, en passant à Smyrne, je priai mon ami Démosthène Baltazzi Bey, directeur du service archéologique du Vilayet d’Aïdin, de m’accompagner à Saïda. Le 30 du même mois nous arrivions dans cette ville et nous nous mettions à l’œuvre sans retard. Le 20 juin l’extraction et l’embarquement des sarcophages étaient terminés. S. M. I. le Sultan, appréciant les résultats de cette première campagne de fouilles, rendit, dès mon retour à Constantinople, un Iradé en vertu duquel le Ministère était invité : 1° A me renvoyer l’année suivante à Saïda pour y continuer les fouilles ; 2° A faire bâtir un local spécial pour recueillir les sarcophages découverts ; 3° Enfin, à donner à Mehmed Chérif, propriétaire du terrain des fouilles, une gratification de 1,500 livres turques. M. Vallauri, architecte et professeur à l’Ecole des Beaux-Arts, à qui la construction du nouveau bâtiment fat confiée, en fit jeter les fondements dans le courant de la même année. A l’heure où j’écris ces lignes, cette construction est achevée, et les sarcophages occupent les places qui leur sont assignées dans les grandes salles du rez-de-chaussée. Osgan Efendi, sculpteur et professeur à l’Ecole des Beaux-Arts, voulut bien se charger de la réparation de ces monuments. Aidé d’un de ses élèves, Ihsan Efendi, il exécuta ce travail délicat avec une habileté remarquable. Il s’agissait de rapporter des centaines de fragments détachés lors de la violation des sépultures, fragments que j’avais minutieusement recueillis au pied des sarcophages, avant même d’enlever ceux-ci de leurs places dans les caveaux. En entreprenant la narration qu’on va lire, mon but n’est autre que de porter à la connaissance du monde savant l’historique aussi précis que possible de nos fouilles et découvertes à Saïda. J’y ai consigné jusqu’à la moindre de nos observations, et je me suis efforcé de donner une description exacte et détaillée de tous les objets découverts et de l’endroit qui les F

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36 Ce rapport a été publié dans la Revue archéologique de juillet-août 1887, p. 101 suiv.

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Wissenschaft am Rande Europas?

recelait. Pour me diriger dans cette description, comme dans les travaux eux-mêmes, j’ai eu d’ailleurs un guide excellent : je veux parler de M. Ernest Renan, qui nous a précédés dans ces contrées et y a exécuté des fouilles avant nous. Nous avons puisé dans son ouvrage37 des renseignements et des conseils précieux dont on trouvera la trace à chaque page du nôtre. Je m’empresse d’ajouter que ma part personnelle dans ce livre consistera, comme je viens de le dire, en une narration pure et simple de ce que nous avons fait et de ce que nous avons vu. Pour diriger l’impression du livre et l’exécution des planches, ainsi que pour commenter les sculptures au point de vue archéologique, il fallait le concours d’un archéologue. M. Théodore Reinach m’a proposé sa collaboration et c’est avec un grand empressement que j’ai accepté son offre. Un voyage à Constantinople et une étude prolongée des originaux lui ont permis de recueillir tous les documents nécessaires à son travail. Je me plais à dire dès à présent que le sol de l’antique Sidon renferme encore d’immenses richesses archéologiques, malgré l’œuvre de dévastation qui se poursuit depuis des siècles, et qu’aujourd’hui encore, je suis désolé de le dire, nous avons peine à arrêter complètement. Ce serait une erreur profonde de croire que cette œuvre de dévastation est due, comme on se plait à le répéter, au fanatisme des habitants. Il faut en chercher la cause véritable dans la vénalité et l’ignorance des basses classes de la population, tant musulmane que chrétienne, excitées et entretenues sans cesse par quelques personnes étrangères établies dans ce pays, sans autre but que d’y trafiquer largement des antiquités. Il serait superflu de citer ici des noms, car il n’est pas un touriste, un archéologue, parmi tous ceux qui visitent la Syrie depuis plus de vingt-cinq ans, qui ne les connaisse.38 Mais S. M. I. le Sultan, soucieux de la conservation des monuments antiques dans son vaste empire, a décrété coup sur coup des lois et des règlements sévères à l’effet de prévenir les fouilles clandestines et d’infliger une juste punition à ceux qui oseraient les entreprendre. Partout, les autorités provinciales, se conformant aux ordres du Souverain, se sont mises sérieusement au service de la cause archéologique, et c’est grâce à des mesures aussi sages qu’équitables que les merveilles de l’art antique, auxquelles nous consacrons ce volume, sont entrées intactes au Musée Impérial, au lieu d’être mises en pièces, comme tant d’autres, pour être vendues morceau par morceau aux touristes étrangers. Je n’aurais pas acquitté toute ma dette de reconnaissance si, en terminant, je ne me faisais un devoir d’exprimer ma gratitude au Ministère de l’Instruction publique de France, qui a bien voulu, par son libéral concours, favoriser la publication de cet ouvrage. O. HAMDY. Courou-Tchechmé, le 15 novembre 1890. F

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37 « Mission en Phénicie », dirigée par M. Ernest Renan, membre de l’Institut et professeur au Collège de France. Paris, Imprimerie Impériale, 1864 (et années suivantes). Un volume de texte et un volume de planches exécutées sous la direction de M. Thobois, architecte. La « campagne de Sidon » occupe les p. 361 à 527 (pl. 42–46; 59–68). 38 « … Je me plais à passer presque toutes mes nuits au sein des décombres avec mes fidèles ouvriers. Aussi nous arrive-t-il fréquemment, dans mes fouilles clandestines et souterraines, de courir le risque d’être écrasés sous les éboulements; mais rien n’ébranle notre courage. A peine échappés au danger, nous poursuivons nos fouilles avec une nouvelle ardeur. » Fragment d’une lettre d’un marchand d’antiquités de Saïda, publiée en feuilleton dans l’Univers, 3, 4, 5, 6 et 7 septembre 1890.

DAS BEMÜHEN DES US-AMERIKANISCHEN HISTORIKERVERBANDES UM EIN NATIONALES SCHULCURRICULUM IN GESCHICHTE NACH DEUTSCHEM VORBILD 1 F

Katja Naumann Im Winter des Jahres 1896 setzte der Historikerverband in den USA, die American Historical Association (AHA), eine Kommission ein, in der sechs ihrer führenden Köpfe und ein Lehrer die Lage des Faches an den Schulen sowie den Übergang an die Universität bewerteten und Empfehlungen formulierten, wofür sich die Berufsvereinigung in diesem Bereich einsetzen sollte.  Ihr Bericht mit dem Titel The Study of History in Schools (1898) 2 zirkulierte innerhalb des Verbandes, wurde aber vor allem an Schulleiter und Geschichtslehrer im ganzen Land versandt. Er enthielt den Vorschlag eines vierjährigen Lehrplanes für das Fach Geschichte, der zunächst die Alte Geschichte bis zum Jahr 800 behandeln würde, danach das Mittelalter und das Moderne Europa, gefolgt von einem Jahr Unterweisung zur Englischen Geschichte und der abschließenden Erörterung der US-Geschichte. Gedacht war er als Voraussetzung für die Zulassung an das College. Dieses Curriculum sollte den weit verbreiteten einjährigen Kurs general history ersetzen und damit Geschichte breiter sowie zugleich differenzierter vermitteln. Mit dem Vorstoß in Richtung eines einheitlichen Schulunterrichts hatte sich die AHA als nationaler Akteur in der historischen Bildung etabliert. Immerhin steckte sie mit dem Curriculum die Eckpunkte eines historischen Grundlagenwissens ab, das an allen der höchst verschiedenen Schulen unterrichtet werden sollte, so dass an den Universitäten mit einem tatsächlich akademischen Studium der Geschichte begonnen werden könnte. Schon in dem Bericht klingen Zweifel durch, ob die Empfehlung aufgegriffen würde, denn er bot zugleich zwei Minimallösung an, entweder eine knappere Fassung über zwei Schuljahre im Fach mit fünf Stunden pro Woche oder aber fachliche Zulassungsprüfungen an den Colleges. In einem Bildungssystem, dass dem Leitstern institutioneller wie inhaltlicher Originalität folgte, dezentral organisiert F

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Essay zur Quelle: The Study of History in Schools: A Report to the American Historical Association by the Committee of Seven (1898). The Study of History in Schools: A Report to the American Historical Association by the Committee of Seven, Washington 1898. Neben diesen Passagen und der detaillierten Vorstellung des empfohlenen Curriculums enthält der Bericht Erörterungen zur Geschichtsdidaktik, zur Lehrerausbildung sowie zu Zulassungsprüfungen für das College.

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war – „it’s our rule here for every tub to stand on its own bottom“ 3 – und folglich weder überregional geltende Lehrpläne und vergleichbare Prüfungen noch curriculare Ecksteine für einen Schulabschluss kannte, der die Hochschulreife anzeigen würde, konnte die AHA nur auf Selbstverpflichtung setzen. Obwohl der Verband intensiv für sein Modell eines landesweit standardisierten Geschichtsunterrichts warb, fand er nur begrenzt Gehör. Auch die beiden Neufassungen aus den Jahren 1911 und 1915 stiften nicht den angestrebten Konsens und noch Mitte der 1990er-Jahre rang man in den USA um landesweite school standards für Geschichte. Wenngleich das ursprüngliche Vorhaben nicht gelang, reflektiert es drei Entwicklungen, die langfristig folgenreich waren: Erstens dokumentiert der Bericht einen kulturellen Transfer von Deutschland in die USA, der sich um 1900 auf viele Bereiche erstreckte, angefangen von der Professionalisierung der medizinischen Ausbildung (Flexner Report 4 ), über das Entstehen eines Universitätssystems bis hin zur schulischen Bildung. Im Bezug auf letztere wurde die Idee einer standardisierten historischen Allgemeinbildung aufgegriffen und auf spezifische Weise angeeignet. Zweitens spiegelt sich im Bericht der einschneidende Wandel, den die US-amerikanische Gesellschaft seit der Mitte des 19. Jahrhundert durchlief, in dem Geschichte überhaupt erst zu einer gesellschaftlichen Ressource wurde und zu einem Thema für das expandierende Bildungssystem. Drittens markiert er einen entscheidenden Schritt in der Formierung einer Geschichtswissenschaft und der Konsolidierung eines Berufsbildes für Historiker. Zum kulturellen Transfer: Um ihren Empfehlungen Überzeugungskraft zu verleihen bzw. sie auf eine solide Grundlage zu stellen, erörterte die Kommission nicht nur die Lage im eigenen Land, sondern betrachtete auch den Geschichtsunterricht in Deutschland, Frankreich und auf den britischen Inseln; am Rande wurde auch Kanada behandelt. Lucy M. Salmon, Direktorin des Historischen Instituts am Vassar College und später die erste Frau in der Geschäftsführung der AHA, bereiste für ihre Analyse drei Monate lang 32 deutsche und schweizerische Gymnasien und hospitierte in 70 Unterrichtsstunden. Charles H. Haskins, ein Mittelalter-Historiker an der Harvard University, schrieb auf der Grundlage seiner Forschungen über das Schulsystem in Frankreich, während sich George L. Fox, Leiter der Hopkins Grammar School in New Haven, für die Kommission über Großbritannien belesen hatte. 5 Ihre Beobachtungen und Schlussfolgerungen finden sich F

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Hammer, Carl I. ‘Every Tub on its own Bottom’. Financing Higher Education in the United States, 1638–2000, in: Schwinger, Rainer Christoph (Hg.), Finanzierung von Universität und Wissenschaft in Vergangenheit und Gegenwart, Basel 2005, S. 271–293. Vgl. den Beitrag von Charles McClelland in diesem Band. Bei den anderen Mitgliedern der Kommission handelte es sich um John Herbert B. Adam (John Hopkins University), einer der Gründungsväter der AHA. Wie er zählten auch seine Kollegen Andrew C. McLaughlin (University of Chicago) und Albert B. Hart (Harvard University) zu den Doyens der Geschichte der USA in dieser Zeit. Allesamt wurden sie später zu Präsidenten der AHA berufen. Hinzu kam H. Morse Stephens, der an der Cornell University und später in Berkeley arbeitete.

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am Anfang des Berichts sowie in seinem Anhang, aus beiden sind die diesem Essay beigefügten Quellenausschnitte entnommen. An dem deutschen Schulsystem faszinierten die gut ausgebildeten Lehrer und der mehrjährige Lehrplan, der die Vergangenheit in ganzer Gestalt behandelte und Geschichte nicht nur als Hilfswissenschaft für den Unterricht der Alten Sprachen begriff oder auf den Verlauf im eigenen Land reduzierte. Vor allem aber begeisterte die Einheitlichkeit, dass an jeder Schule der gleiche Wissenskorpus unterrichtet wurde und das Schulzeugnis ein historisches Allgemeinwissen kodifizierte. Anstatt des gewohnten laissez-faire, das partikularen Interessen Raum gab, wollte die AHA den Geschichtsunterricht standardisieren. Aus der Vermittlung eines breiten, systematischen Wissens über das Vergangene, das überregional anerkannt wäre, würde sich so etwas wie eine Hochschulreife ergeben, die Colleges sowie Universitäten davon befreite, zunächst einmal historische Eckdaten beibringen zu müssen. Während sich für die Lehrerausbildung lange Zeit keine überzeugende Lösung fand 6 , entstanden bereits zu der Zeit, als die AHA über ein Geschichtsabitur nach deutschem Vorbild nachdachte, zwei institutionelle Formate, die die gleiche Funktion erfüllten, aber den Vorzug hatten, dass sie nicht auf Kooperation mit den Schulen angewiesen waren, sondern auf das Eigeninteresse der Historiker an den Universitäten setzten und daher durchsetzbar waren: Zulassungsprüfungen zum College und verpflichtende general education-Programme innerhalb des Bachelorstudium. Propagiert worden war der erste Mechanismus durch die National Education Association (NEA), einer der zentralen Fürsprecher der Schaffung eines öffentlichen Schulwesens um 1900, der sich über einen geregelten Hochschulzugang eine Standardisierung des schulischen Wissens erhoffte. Bereits 1895 schuf die NEA dazu ein Committee on College Entrance Requirements, dessen Überlegungen so überzeugten, dass fünf Jahre später Vertreter von 15 Colleges und Universitäten das College Entrance Examination Board (CEEB) schufen, welches umgehend für neun Fächer, einschließlich der Geschichte, Aufnahmeprüfungen entwarf und für die Bewerber an den beteiligenden Colleges abzuhalten begann. Zwar wurde das CEEB weder zu der nationalen Zulassungsinstanz, die ihre Gründer anvisiert hatten, sondern ein Vorläufer des auch heute noch existieF

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Anders als in Deutschland ist in den USA weder der Grad eines Staatsexamens noch ein eigenständiges Lehramtsstudium entstanden, weshalb Lehrer an den regulären „Departments“ und im Rahmen des allgemeinen Geschichtsstudiums ausgebildet wurden. Selbst heute genügt häufig ein Bachelorabschluss, um sich bei den „State Boards of Education“ um eine „Teacher’s License“ zu bewerben, die einzig nennenswerten Zertifizierungsstellen für die Lehrbefähigung an öffentlichen Schulen. An den Colleges, besonders an den renommierten, erwartete man zwar ab 1900 mindestens einen Masterabschluss und dieser konnte bald auch an den entstehenden Instituten für Pädagogik bzw. den außeruniversitären Pädagogischen Hochschulen (Schools of Education) ablegt werden. Allerdings gelangten diese Institutionen zu keinem besonders guten Ruf und wurden an vielen Universitäten wieder geschlossen. Künftige Lehrer studierten daher häufig ein Fach und erwarben parallel dazu bzw. später pädagogische Kompetenzen, zumal sich spezielle Kurse zur Vorbereitung auf die Lehre an den Historischen Seminaren nicht durchsetzten bzw. randständig blieben.

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renden Graduate Record Examination Board, noch erfüllten seine Prüfungen, allen voran die in Geschichte, die Erwartungen. Doch die Idee einer fachlichen entrance examination war konsensfähig. Mit ihr institutionalisierte sich die Notwendigkeit, einigermaßen klar die Grundinhalte der Studiengänge zu definieren und damit auch ein historisch-akademisches Allgemeinwissen abzustecken. Dies geschah in der Zwischenkriegszeit vor allem im Rahmen von general education-Programmen. Zwei Kerngedanken lagen diesem curricularen Modell zu Grunde: erstens die ausdifferenzierten Wissenschaftsdisziplinen auf ihren gemeinsamen Nenner zu bringen und zweitens den Erwerb von Wissen mit einer Moralerziehung, Charakterbildung und der Vermittlung eines Weltbildes zu flankieren. Organisatorisch übersetzte sich das in fest vorgeschriebene Kurse innerhalb des Bachelorstudiums, die, ähnlich wie an der Schule, Grundlagen aus allen Fachbereichen vermittelten, der Leitmaxime folgend, die College-Ausbildung nicht auf die Vorbereitung eines akademischen Studiums zu reduzieren, vielmehr ein Studium Generale, sprich eine akademische inspirierte Allgemeinbildung zu offerieren. Dass auch diese curriculare Neuerung – wiewohl eine spezifisch US-amerikanische 7 – wie das schulische Curriculum der AHA aus dem Jahr 1898 in Referenz auf das deutsche System erdacht wurden, belegt der radikalste Fürsprecher der general education, Robert M. Hutchins, Präsident der University of Chicago. Am College seiner Universität hatte er zum Jahr 1931 verpflichtend interdisziplinäre Kurse in den Natur-, Lebens-, Sozial- und Geisteswissenschaften eingeführt und deren Anteil am Studienprogramm sukzessive erhöht. Im Grunde jedoch lag ihm an einer noch radikaleren Reform. In der Regel immatrikulierten sich die Jugendlichen im Alter von 18 bis 21 Jahren, nachdem sie sechs Jahre Grundschule und acht Jahre High School absolviert hatten. Nach zwei Jahren general education am College begannen sie erst mit 22 oder 23 Jahren eine wissenschaftliche Ausbildung, während ihre Altersgenossen in Europa bereits den Magister abgeschlossen hatten. Damit entsprach der Bachelor-Abschluss kaum noch einem akademischen Grad. Dies vor Augen wollte Hutchins die ersten beiden Studienjahre mit den letzten beiden Schuljahren verbinden und für die Klassen 11–14 einen abgestimmten Lehrplan entwickeln, in explizitem Verweis auf das deutsche Abitur. Mit der Struktur sechs Jahre Grundschule, drei bis vier Jahre High School, gefolgt von drei bis vier Jahren College suchte er dem Bachelor-Abschluss die Bedeutung einer Hochschulreife zugeben. Letztlich konnte er sich damit nicht durchsetzen, aber der Vorstoß belegt, dass das deutsche (Geschichts-) Abitur auch in den 1940er-Jahren in der bildungs- und hochschulpolitischen Debatte der USA weiter präsent war. F

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Die „general education“ ist zutreffend als ein Instrument der Nationalisierung in einer sich globalisierenden Gesellschaft und einer werdenden Weltmacht interpretiert worden. Vgl. Geyer, Michael, Multiculturalism and the Politics of General Education, in: Critical Inquiry 19 (1993), S. 499–533; Ders., World History and General Education. How to Bring the World into the Classroom, in: Schissler, Hanna; Nuhoğlu Soysal, Yasemin (Hgg.), The Nation, Europe, and the World. Textbooks and Curricula in Transition, New York 2005, S. 193–210.

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An dem skizzierten deutsch-US-amerikanischen Kulturtransfer lassen sich mehrere Charakteristika kultureller Transfers verdeutlichen: Selten bedeutet der Blick über die Grenze, das Lernen vom Anderen eine schlichte Übernahme, vielmehr schließt er ein genaues Abwägen ein, was im eigenen Kontext nützlich und machbar ist, und übersetzt sich in ein partielles Aufgreifen von Ideen und Mechanismen, die im Zuge der Implementierung eine Eigendynamik entwickeln und sich verändern. Das Argumentieren mit internationalen Entwicklungen, die die Konstruktion einer eigenen Rückständigkeit erlauben, wird zum Mittel für die Initiierung von Reformen. Der AHA lag in ihrem Bericht an einem nationalen Curriculum und der wiederholte Verweis, man wolle nicht, und es sei auch undenkbar, das im Ausland Vorgefundene importieren, signalisiert sowohl, dass man sich des Prestiges von Internationalisierung bedienen wollte, als auch die realistische Einschätzung, dass die Bewahrer des status quo ihre Interessen häufig mit dem Argument einer postulierten Singularität durchzusetzen versuchen. Und schließlich zeigt das Beispiel, dass Ideen in andere Kontexte in verwandelter Form zurückkommen können, denn ironischerweise wurde die Idee einer general education in jenem Moment, als sie in den USA ihre Attraktivität verlor, in der Bundesrepublik aufgegriffen. 8 In ihrem Bericht reagierte die AHA auf eine schon länger währende Expansion des Bildungswesens. Allerorten wurden Schulen gegründet, nun auch public High Schools. Immer häufiger stand das Fach Geschichte auf dem Programm, wenngleich nicht im Sinne eines Pflichtfaches über mehrere Jahre, sondern in Form von immer populäreren Wahlkursen. Zu Beginn seiner Empfehlungen attestierte der Berufsverband, dass in den 1890er-Jahren die Zahl der Schüler, die in der einen oder anderen Form history wählten, um 115 Prozent gestiegen war. Einerseits hatte das zwar die erfreuliche Folge, dass immer mehr Schüler das Fach auch studieren wollten und sich an der wachsenden Zahl von Colleges dazu die Gelegenheit bot. Andererseits war man dort, wie an den entstehenden Universitäten, mit einem höchst unübersichtlichen Vorwissen konfrontiert; und das in jenem Moment, in dem der Verband und die Historikerschaft insgesamt das Studium als wissenschaftliche Ausbildung etablieren, sprich auf forschungsnahes und spezielles Wissen fokussieren wollten. Das Vorhaben eines schulischen Geschichtsunterrichts zeigte, dass um 1900 in den USA ebenso wie anderswo die Vergangenheit zu einer gesellschaftlichen Größe wurde. Die gravierenden zeitgenössischen sozialen, wirtschaftlichen und F

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Im Oktober 1950 versammelten sich zahlreiche Universitätsdirektoren, Pädagogen und Studentensprecher in Tübingen zum „Kongress für studentische Gemeinschaftserziehung und Studium Generale“. Sie wollten die während des Krieges stagnierten Bemühungen in Richtung einer grundlegenden Universitätsreform aufgreifen. Aus den Diskussionen ging eine Denkschrift hervor, verfasst u.a. von Carl-Friedrich von Weizäcker, damals Mitglied des Hamburger Studienausschusses für Hochschulreform. Darin wurde gefordert, ein curriculares Gegengewicht zum deutschen Spezialistentum sowie unter den angehenden Akademikern ein Bewusstsein für allgemeingesellschaftlichen Probleme zu schaffen – mit direktem Verweis auf die „general education“. Vgl. dazu: Paulus, Stefan, Vorbild USA? Amerikanisierung von Universität und Wissenschaft in Westdeutschland 1945–1976, München 2010.

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kulturellen Umbrüche sowie die Wahrnehmung eines beschleunigten Wandels lenkten die Aufmerksamkeit auf den Faktor Zeit und sensibilisierten für Vergangenes. Landesweit entfaltete sich eine Bewegung zur Konservierung historischer Stätten, entstanden Vereine und Museen, die Traditionen, Symbole und Mythen schufen, parallel zu einer Kultur der Festumzüge, in denen Episoden aus der Geschichte der eigenen Gemeinde oder Stadt nachgestellt und inszeniert wurden. In diesen Aktivitäten formierten sich ein kollektives historisches Bewusstsein und ein kulturelles Erbe. Zugleich ergänzten geschichtliche Bezüge und Argumente das Repertoire der intellektuellen und politischen Reaktionen auf die erlebten Dynamiken sowie die geistige Krise des Gilded Age. 9 Je mehr Akteure, zumal mit höchst divergierenden Interessen, auf die Geschichte zurückgriffen, desto größer wurde der Bedarf nach Gewichtung und Prüfung der kursierenden Deutungen und Fragmente. Dazu fühlten sich Historiker an den Colleges und Universitäten berufen. Sie reklamierten ein professionelles historisches Rekonstruieren für sich, umgaben sich mit eigenen Organisationsformen und schufen damit eine Kluft zu den anderen, die bald als amateur historians firmierten, nicht zuletzt indem die akademischen Historiker die Deutungshoheit über den Schulunterricht in Geschichte reklamierten. 10 Damit ist der dritte Prozess angesprochen, der in der Quelle reflektiert wird: die Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung und das Entstehen des Berufs des Historikers. Der Prozess der Professionalisierung beinhaltet, das hat Hannes Siegrist aus seinen Forschungen über Rechtsanwälte und andere Berufe abgeleitet, „die Systematisierung des Wissens und die Formalisierung von Ausbildung und Berechtigung, sowie die qualifikationsmäßige Homogenisierung der Berufsangehörigen“. 11 Für die Historiker hieß dies zu bestimmen, was Geschichte überhaupt ist, mit welchen Ausschnitten sie sich befassen wollen – die meisten votierten für die Nationalgeschichte in europäisch-westlicher Rahmung ohne zeitgeschichtliche Bezüge – und sich auf Methoden zu verständigen, mit denen allgemeingültiF

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Umso mehr, da eine nationale Identität nicht aus einer ethnischen, religiösen oder kulturellen Herkunft zu gewinnen war, sondern über eine gemeinsame „civic culture“ konstruiert wurde, die wesentlich auf ein geteiltes Geschichtsbild gründete. Vgl. dazu: Kammen, Michael, Mystic Chords of Memory. The Transformation of Tradition in American Culture, New York 1991; Glassberg, David, American Historical Pageantry. The Uses of Tradition in Early Twentieth Century, Chapel Hill 1990. 10 Tyrrell, Ian, Historians in Public. The Practice of American History, 1890–1970, Chicago 2005; Waechter, Mathias, Die ‚Progressive Historians‘ und die Modernisierung der amerikanischen Geschichtswissenschaft, in: Küttler, Wolfgang; Rüsen, Jörn; Schulin, Ernst (Hgg.), Geschichtsdiskurs, Bd. 1, Frankfurt am Main 1993, S. 124–135; Jaeger, Friedrich, New History. Historismuskritik und Sozialgeschichte in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Oexle, Otto Gerhard (Hg.), Historismus in den Kulturwissenschaften. Geschichtskonzepte, historische Einschätzungen und Grundlagenprobleme, Köln 1996, S. 341–367. 11 Zudem eine Loslösung des Experten von dem Laien und das Herstellen einer kollektiven Autonomie sowohl in der Regelung der Beziehungen innerhalb der Berufsgruppe als auch des Verhältnisses gegenüber der Außenwelt: Siegrist, Hannes, Bürgerliche Berufe. Die Professionen und das Bürgertum, in: Ders. (Hg.), Bürgerliche Berufe. Zur Sozialgeschichte der freien und akademischen Berufe im internationalen Vergleich, Göttingen 1988, S. 11–48, hier S. 15.

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ge Erkenntnisse entstehen. Zugleich gaben sie dem Geschichtsstudium eine neue Gestalt und Bedeutung, denn die Curricula und Studienordnungen sorgten nun für die Aneignung eines fachlichen Kanons sowie der Spielregeln für die Produktion neuen Wissens. Und der Abschluss, der Magister, vor allem aber die Promotion, gewährt den Zutritt zur Profession; mit ihm deutet man historische Verläufe mit dem Ansehen von Professionalität. Diese Standardisierung der Ausbildung hatte jedoch eines zur Voraussetzung: die Vermittlung eines historischen Grundlagenwissens an der Schule. Gerade darauf zielte der Vorstoß der AHA von 1896 in Anlehnung an das deutsche Format mit der Idee eines mehrjährigen Curriculums. Literaturhinweise Geyer, Michael, World History and General Education. How to Bring the World into the Classroom, in: Schissler, Hanna; Nuhoğlu Soysal, Yasemin (Hgg.), The Nation, Europe, and the World. Textbooks and Curricula in Transition, New York 2005, S. 193–210. Laugesen, Amanda, The Making of Public Historical Culture in the American West, 1880–1910: The Role of Historical Societies, Lewiston, NY 2006. Lingelbach, Gabriele, Klio macht Karriere. Die Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft in Frankreich und den USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2003. Tyrrell, Ian, Historians in Public. The Practice of American History, 1890–1970, Chicago 2005.

Quelle The Study of History in Schools: A Report to the American Historical Association by the Committee of Seven (1898) 12 F

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Preliminary Work of the Committee […] In the German gymnasia the course of history, from Homeric times to the present day, is covered with great thoroughness and system. To this part of the report on the German schools we wish to call special attention, for while we do not think that it is profitable for us, even in this particular, to follow the German curriculum exactly, we believe that there should be an effort on the part of those who are organizing programmes to reach toward this ideal, by extending the course of history over a number of years, and by developing it in accordance with the psychological principles which have been adhered to in the preparation of the German course of study. […] The system and methods of instruction in the schools of France are interesting, but somewhat less suggestive than those of the German schools. There, as in Germany, history is in the hands of trained teachers, who have a capacity for holding the pupil's attention, arous12 The Study of History in Schools: A Report to the American Historical Association by the Committee of Seven (1898), Washington 1898. Der Volltext ist auf der Webseite der AHA zu finden, URL: http://www.historians.org/pubs/archives/CommitteeofSeven/index.cfm (18.04. 2012).

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ing interest, and developing a love for historical study, as well as for giving a vast amount of historical information. The course of study is long, thorough, and systematically organized. The conditions of German Switzerland are essentially similar to those of Germany itself. The situation in England does not offer many valuable lessons to American teachers. The most noticeable features are a lack of historical instruction, a common failure to recognize the value of history, and a certain incoherence and general confusion. We cannot here discuss the reasons for these conditions. It is enough to say that the laissez faire idea has been carried farther and is more marked in England than in America; for, on the whole, we have an educational system, and each passing year shows an increase in the common stock of principles. And yet one who examines the condition of historical instruction in this country, and compares it with that of France and Germany, feels that Englishmen and Americans are of one blood; the individualistic spirit of the race has found unusual expression in educational practices, and has made against cooperation and harmony, while instinctive aversion to theoretical arrangement has hindered the development of general principles. A comparison of English conditions with those of the continent will be likely to show the value of system and order, and the advantage resulting from the sway of good pedagogical doctrines. We must endeavor in America to reach a system of our own, and to recognize the force of sound principles, without losing sight of the fact that our local conditions are many, and that we must rely on individual initiative and enthusiasm, if not on impulse. Nevertheless, in spite of local diversity, and in spite of the fact that a rigid régime seems on the whole impossible if not undesirable, in this country, there are sound general principles that may be termed absolute rather than relative. […] While it is impossible to transplant any foreign course of study to our schools, and unwise to imitate blindly European methods of instruction, there are at least two lessons that may be learned from foreign schools; namely, the wisdom of demanding thoroughly trained teachers of history, and that of giving a large place to historical instruction in all courses. Appendix III: History in German Gymnasia […] The curriculum in every State is the same in the same class of schools, and the uniformity among the twenty-six different State systems is far greater than among the forty-five States of America. […] The curriculum is a unit; it is complete in itself, but it represents at the same time one stage in the development of the educational system. This fact must never be lost sight of, or the corresponding fact that the American programme of studies presents an absolute contrast to the German Lehrplan. The American programme is often regarded as a convenient vehicle for conveying the instruction desired by interested parties. Does a State legislature believe that the schools exist for the purpose of implanting patriotism, they are forthwith commanded to teach American history; if a group of business men believe that the schools should have a bread-and-butter aim, stenography and typewriting are made compulsory; if one branch of the church considers that the schools exist for the purpose of teaching religion, the study of the catechism is demanded; if an association deems that it is the first duty of the schools to inculcate the principles advocated by that association, it asks for the study of physiology with special reference to the injurious effects of alcoholic drinks. The American programme represents the idiosyncrasies of individuals, not the wisdom of the many. […] What are the lessons to be learned by Americans from this examination of historical instruction in the German gymnasia? The first great lesson we should all do well to heed is this:

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That the course in history serves the double purpose of being complete in itself and of being an ideal preparation for university work. The course is complete in itself; because, if the boy does not go beyond the gymnasium, or if he leaves at the end of the sixth year in school, he has gained a wide outlook into the future because of this thorough study of the past; he has gained a proper historical perspective and he has learned that “hinter dem Gebirge sind auch Leute”. […] But the special object of the German gymnasial course is to prepare for the university. […] And here, in the case of the boy who enters the university, as in the case of the boy who does not, the German arrangement of historical work seems superior to our own. The university knows precisely what work in history has been done, and therefore it can assume this admirable preparation and shape its advanced courses accordingly. But the American university or college makes its entrance requirement in history in deference to the antiquated idea that preparation in history should be the one that will most assist the study of Latin and Greek, and that every boy should know something of the history of his own country. The boy therefore studies American history in the grammar grades, and Greek and Roman history in the high school-an arrangement of studies radically wrong, because false chronologically and false in principle. On such a basis it is impossible to build up a systematic course of history in the college or the university without doing in the college a part of the work that should have been done before entrance. […] This conclusion must follow: The work in history in American schools will never be on a rational basis until, as in Germany, it recognizes the double purpose that history in these schools is to serve; until it is so organized as to give the boy or girl who does not go to college a well-rounded conception of the epoch-making events in the world's history; until it plans its college entrance requirements in history with reference to the college work in history; until it makes the course of history in the schools identical for those who do, and for those who do not, go to college; until it correlates the work done in history with the work of every other subject in the school curriculum.

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Charles E. McClelland The “Flexner Report” (originally published in 1910) recently passed its hundredth anniversary. It was the culmination of a study commissioned by the new Carnegie Foundation and carried out by a German-American educational reformer (and former student at Johns Hopkins, Harvard and Berlin Universities), Abraham Flexner. Not only did it ring the death knell of apprentice-like, unscientific and private medical education in the USA; Flexner’s fame led him into a position with the Rockefeller Foundation to channel funding into the reforms he advocated and ultimately to found the Princeton Institute for Advanced Study, thanking Germanspeaking scholars who inspired him – such as Einstein – by recruiting them and saving them from Nazi persecution. His report may be regarded partly as a cultural manifesto, since it proposed to revolutionize higher education and the ancient “art” of healing. It still makes compelling reading and retains a number of unique features. First, few such public documents have had such a deep impact on any cultural activity anywhere in the twentieth century, and certainly on the structure of medical education and practice in the USA and ultimately, through imitation, around the world. Second, although this “cultural document” is much better known in North America than Europe, its background and principal ideas are distinctly European in origin and represent a successful massive cultural transfer. Effectively, this transfer meant the adoption of an organically-developed system of medical education – including an emphasis on scientific research, the integration of patient treatment and teaching, national normatization of the medical arts and professional standards previously lacking in the disparate and vast territory of the USA. Third, although much of the lengthy analysis and even longer presentation of data concentrate on the details of each step in recruitment and rigorous scientific training of future physicians as well as how medical faculties should be reorganized to accomplish those tasks, the “unspoken assumptions” behind the detailed analysis derived largely from a European – and specifically German – model as understood by the author, himself the child of a German-Jewish émigré family. Fourth, this blueprint for standardized and demanding professionalization carried implications of wider educational and cultural mobilization, since it presupposed a radical restructuring and upgrading of the secondary and university system in both humanistic and science fields to prepare not only future physicians for medical study but also the broader educated elite in other professions. What began 1

Essay on the source: Abraham Flexner: Medical Education in the United States and Canada (1910).

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as an attempt to bring some order and transparency into the extremely variegated congeries of “tertiary education”, led to the realization, in the words of the report, “that the time had come when the relation of professional education in medicine to the general system of education should be clearly defined”. 2 Along with comparable (if less stringent) reforms in the legal profession, the tightening of standards and certification for two of the leading academic professions (medicine and law) effectively placed the USA on a century-long path to a highly stratified and elite-dominated professional culture. Finally, the full title of the document reveals a major reason for the successful implementation of the report, the fact that it was backed with the inducement of massive financial incentives provided by the Carnegie and Rockefeller Foundations (and later other philanthropic beneficiaries of the massive untaxed wealth accumulated by the industrial oligarchs of America’s Gilded Age, then often called “robber barons”). Indeed, the way in which the wealth of two of these philanthropists, in particular Carnegie (the steel magnate) and Rockefeller (the oil czar), was funneled from the first great philanthropic foundations under the guidance of a handful of ordinary bourgeois professional advisers in order to decisively reshape cultural and educational institutions has deserved a study of its own. 3 In today’s era of comparable unequal distributions of wealth and enfeebled state support for cultural institutions, the capacity for radical interventions in modes of cultural transmission by small and well-financed elites – for good or ill – is instructive. The Flexner Report furthermore reflected rapid changes in the economy, demographics, and cultural needs of many parts of North America by the beginning of the twentieth century. Instead of a primarily agricultural economy based on the free or cheap lands of expanding frontiers, the USA especially had become primarily an industrial, urban, and advanced capitalist land. Waves of immigrants to burgeoning cities provoked crises in delivery of such services as health care and education. American education, like professional and cultural organization, had been at least since the Jacksonian Era (1830s) a variegated, mostly local and often entrepreneurial affair with little or no public regulation. “Free enterprise” meant almost literally that virtually anybody (except of course women and to some extent the racially discriminated) could claim to be a physician, attorney, clergyman, professor or artist, and if one of them wanted the “competitive edge” of some certificates (e.g. a medical degree), established practitioners were happy to take on “apprentices” or even set up proprietary “schools” to provide small groups – by lecture and rote learning – a few weeks of instruction in return for the fees that were the only serious requirement for admission. F

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Flexner, Abraham, Medical Education in the United States and Canada. A Report to the Carnegie Foundation for the Advancement of Teaching, New York 1910, pp. vii–viii, x–xi, 14, here p. viii. In the following, all the citations of the source are part of the text printed here, if not mentioned otherwise. Wheatley, Steven. C., The Politics of Philanthropy. Abraham Flexner and Medical Education, Madison 1989.

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Of course in the more settled parts of North America (e.g. the large cities of the Northeast and a few other places), many old “colleges” had transformed themselves into something a visiting Berlin professor could recognize as a modern “university” by 1900 4 and several (e.g. Harvard, Yale, Columbia, the University of Pennsylvania – all in urban areas) had taken steps emulating the example of the newly founded Johns Hopkins University (Baltimore) – itself clearly modeled on German examples – by grafting a full-time medical faculty and urban teaching hospital onto the previous “college.” Until the last third of the nineteenth century, American institutions of higher education had normally embraced what in Germany would be called the philosophical and theological faculties. Even these resembled more the classical and humanistic traditions of their old English models, with considerably less rigor than even lethargic Oxford and Cambridge. Few such institutions awarded MD degrees or doctorates in law; the first PhD has been awarded (by Yale) as late as 1867. The transformation of old-line “colleges” and recently-founded (many of them “land-grant”) state universities was loosely based on the German model and notably included the addition of medical and legal faculties. Furthermore, the faculties strove toward a fully “professional” professoriate, implying as in Germany full-time salaried professors rather than “moonlighting” (part-time) local physicians and attorneys, as well as investment in laboratory sciences and other costly resources. These innovations also distinguished many brand-new foundings in the American Midwest and along the Pacific and Gulf Coasts. The process of cultural transfer was thus already underway by 1900, even without Flexner. Stimulated by his Harvard postgraduate work, especially with the transplanted German psychology experimenter Professor Hugo Münsterberg, who urged Flexner to take a year of further study in Berlin, which would become one of “the defining experiences of his life”. 5 His subsequent book criticizing American education led to the offer of a unique job by the Carnegie Foundation, seeking to distribute some of the massive wealth of its founder by improving education, including the support for and establishment of hundreds of public libraries. Flexner’s personal training and his connections through his physician brother to the medical profession in general as well as the Johns Hopkins University in particular led to his being chosen to prepare a survey on the effectiveness of medical education in the USA. But the majority of the 155 self-styled “medical schools” visited by Flexner before issuing his report continued as free-standing proprietary F

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For an example, see Münsterberg, Hugo, Amerika, in: Kirchhoff, Arthur (ed.), Die akademische Frau. Gutachten hervorragender Universitätsprofessoren, Frauenlehrer und Schriftsteller über die Befähigung der Frau zum wissenschaftlichen Studium und Berufe, Berlin 1897, pp. 343–353, and the discussion of its findings in: McClelland, Charles E., American Examples for German Universities. Admitting Women before World War I, in: Keiner, Edwin (eds.), Metamorphosen der Bildung. Historie – Empirie – Theorie, Bad Heilbrunn 2011, pp. 323–335. Münsterberg became a close advisor to Flexner a decade later when the latter did postgraduate work at Harvard. Bonner, Thomas Neville, Abraham Flexner and the German University. The Progressive as Traditionalist, in: Paedagogica Historica 33 (1997), p. 103.

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institutions or, even if they were nominally linked up with a private or even public institution of higher learning, they often disposed over inadequate or non-existent laboratories, equipment, hospitals or the funds to acquire them. Their educational requirements for admission were often abysmally low, the course of study short and superficial, based chiefly on lectures and textbooks. In an era when Nobel Prizes were regularly being awarded to German medical researchers for lifesaving scientific discoveries, many American physicians probably did not know how to use a microscope or read an x-ray properly. Flexner demanded a minimum standard of prior education (high school diploma and at least two years of college with basic science), four full years of medical study, exposure to laboratory science, the predominance of full-time faculty rather than part-time local MDs as instructors, and active clinical experience in a hospital. This represented something approaching the minimum standards of universities he knew in Germany, such as Berlin. The rigorous, university-based, clinic-linked education of many Central European physicians (supplemented by continuing education after licensing), strict licensing requirements, and the incidental vast increase in public medicalization as a result of state-sponsored health insurance schemes contrasted sharply with the haphazard, still loosely-controlled formal education, clinical experience, licensing and professional sanctions typical of the USA as late as 1900. Flexner’s report received widespread public discussion that generated political pressure in the Progressive Era. For example, whereas only 16 out of 155 medical schools had required two years of prior undergraduate college education for admission in 1910, over 90 per cent of the surviving ones did by 1920. Up to 40 per cent of proprietary medical schools closed, merged, or linked up with universities and upgraded, many as a result of Flexner’s harsh criticisms. Flexner’s report mentions Germany only once (and indeed the other European models he had in mind never). The American Progressive Era in which his report is imbedded eschewed references to Europe’s superiority in matters of culture and science. It was the beginning of American world empire and self-confidence. Nevertheless, the handful of exemplary American medical faculties cited in Flexner’s long report were all based on the reforms introduced in a few elite private and ambitious public universities scant decades before, themselves the result of a cultural transfer carried personally by tens of thousands of American students who had studied in Central Europe. Indeed, the Flexner Report may be seen not so much as a completely novel initiative as the culmination of this longer transfer, even as a cultural “declaration of independence” from the long-standing need of Americans to spend years during the nineteenth century – first in Britain, then Paris, latterly in Germany, Austria-Hungary or Switzerland – to obtain cuttingedge higher education. It was only fitting that Flexner, one of the first great administrators of vast private cultural patronage in the USA, was able to repay America’s debt to Europe by raising funds for and organizing the Princeton Institute for Advanced Study as the clouds of fascist anti-intellectualism gathered in 1930s Europe. He could offer a refuge to Albert Einstein and others there, promoting another kind of cultural interchange and transfer of world-historical significance.

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Abraham Flexner’s own biography 6 and career arc are interesting in themselves as signs of an era in transnational cultural interchange. His father began as an itinerant Jewish peddler, an immigrant from Bohemia to Kentucky. His brother Simon became a distinguished professor of medicine and later director of the Rockefeller Institute for Medical Research in New York. From this position he could lever Abraham out of running an experimental private prep school in frontier America along the lines of Pestalozzi and Dewey (leading to a book about American school failure) and into the unprecedented job of advising billionaires about how to spend their money to improve education. Flexner’s concern, as well as that of his backers, was not merely the reform of professional higher education, but of the entire structure of American education. Here Continental school models, from Kindergarten to the German Realgymnasium, appealed as an alternative to the haphazard anarchy of a parochially-grown, decentralized American patchwork. Carnegie’s hundreds of public free libraries were as much a part of this cultural adaptation as were efforts to reform medical training. And, as in Europe, a medical or legal professional was meant to take on the attributes of a gentleman learned in the humanities and sciences, transcending the artisanal and uncultured reputation of many small-town and rural doctors emitted by the de facto businesses that proprietary short-course medical “schools” represented. One important intended result of making medical education more demanding – and expensive – was to reduce the quantity of physicians, reduce competition and “quackery” while massively enhancing the authority, incomes and social standing of this new medical elite. As Flexner stated in his report, the USA was then producing four to five times the number of physicians per capita as Germany – too many and too poorly prepared to meet the health needs of the nation. This was incidentally exactly the wish list of German physicians at the time as well, but their successes in the “professionalization project” (partly no doubts as a consequence of World War I) were not as dramatic as their American colleagues. The new American medical elite in turn, principally through the massive influence of a reinvigorated American Medical Association, was largely able for the first time to dictate the terms of medical care in the United States for a half-century or more after the Flexner Report. The relative success of the “professionalization project” among American (as contrasted to Central European) physicians should also alert us to the nonlinearity of cultural transfers, as well as to the significance of widely diverging economic and political matrices after 1910. The radical tightening of standards for the production of physicians attributed to the Flexner reforms, which produced a trend toward greater social exclusivity and dominance over the market for medical services in America, contrasted strongly with the wartime loosening of educational and licensing standards followed by opening the floodgates to university study in post-1918 Germany. Despite the many contrasts and even ironies wrapped up in the further history of this cultural transfer, the Flexner Report and its largely unspoken assumptions F

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The best biography is Bonner, Thomas Neville, Iconoclast. Abraham Flexner and a Life in Learning, Baltimore 2002; Wheatley, The Politics of Philanthropy.

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about contemporary Central European educational purposes and outcomes arguably deserves more attention outside the narrower history of medicine than it now receives. Bibliography Barzansky, Barbara M.; Gevitz, Norman, Beyond Flexner. Medical Education in the Twentieth Century, New York 1992. Bonner, Thomas Neville, Abraham Flexner and the German University. The Progressive as Traditionalist, in: Paedagogica Historica 33 (1997), pp. 100–114. Bonner, Thomas Neville, Iconoclast. Abraham Flexner and a Life in Learning, Baltimore 2002. Flexner, Abraham, Medical Education. A Comparative Study, New York 1925. Wheatley, Steven. C., The Politics of Philanthropy. Abraham Flexner and Medical Education, Madison 1989.

Source Abraham Flexner: Medical Education in the United States and Canada (1910) 7 F

When the work of the Foundation began five years ago the trustees found themselves intrusted with an endowment to be expended for the benefit of teachers in the colleges and universities of the United States, Canada, and Newfoundland. It required but the briefest examination to show that amongst the thousand institutions in English-speaking North America which bore the name college or university there was little unity of purpose or of standards. A large majority of all the institutions in the United States bearing the name college were really concerned with secondary education. Under these conditions the trustees felt themselves compelled to begin a critical study of the work of the college and of the university in different parts of this wide area, and to commend to colleges and universities the adoption of such standards as would intelligently relate the college to the secondary school and to the university. While the Foundation has carefully refrained from attempting to become a standardizing agency, its influence has been thrown in the direction of a differentiation between the secondary school and the college, and between the college and the university. It is indeed only one of a number of agencies, including the stronger colleges and universities, seeking to bring about in American education some fair conception of unity and the attainment ultimately of a system of schools intelligently related to each other and to the ambitions and needs of a democracy. At the beginning, the Foundation naturally turned its study to the college, as that part of our educational system most directly to be benefited by its endowment. Inevitably, however, the scrutiny of the college led to the consideration of the relations between the college or university and the professional schools which had gathered about it or were included in it. The confusion found here was quite as great as that which exists between the field of the college and that of the secondary school. Colleges and universities were discovered to have 7

Flexner, Abraham, Medical Education in the United States and Canada. A Report to the Carnegie Foundation for the Advancement of Teaching, New York 1910, pp. vii–viii, x–xi, 14.

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all sorts of relations to their professional schools of law, of medicine, and of theology. In some cases these relations were of the frailest texture, constituting practically only a license from the college by which a proprietary medical school or law school was enabled to live under its name. In other cases the medical school was incorporated into the college or university, but remained an imperium in imperio, the college assuming no responsibility for its standards or its support. In yet other cases the college or university assumed partial obligation of support, but no responsibility for the standards of the professional school, while in only a relatively small number of cases was the school of law or of medicine an integral part of the university, receiving from it university standards and adequate maintenance. For the past two decades there has been a marked tendency to set up some connection between universities and detached medical schools, but under the very loose construction just referred to. Meanwhile the requirements of medical education have enormously increased. The fundamental sciences upon which medicine depends have been greatly extended. The laboratory has come to furnish alike to the physician and to the surgeon a new means for diagnosing and combating disease. The education of the medical practitioner under these changed conditions makes entirely different demands in respect to both preliminary and professional training. Under these conditions and in the face of the advancing standards of the best medical schools it was clear that the time had come when the relation of professional education in medicine to the general system of education should be clearly defined. The first step towards such a clear understanding was to ascertain the facts concerning medical education and the medical schools themselves at the present time. In accordance, therefore, with the recommendation of the president and the executive committee, the trustees of the Carnegie Foundation at their meeting in November, 1908, authorized a study and report upon the schools of medicine and law in the United States and appropriated the money necessary for this undertaking. The present report upon medical education, prepared, under the direction of the Foundation, by Mr. Abraham Flexner, is the first result of that action. […] The striking and significant facts which are here brought out are of enormous consequence not only to the medical practitioner, but to every citizen of the United States and Canada; for it is a singular fact that the organization of medical education in this country has hitherto been such as not only to commercialize the process of education itself, but also to obscure in the minds of the public any discrimination between the well trained physician and the physician who has had no adequate training whatsoever. As a rule, Americans, when they avail themselves of the services of a physician, make only the slightest inquiry as to what his previous training and preparation have been. One of the problems of the future is to educate the public itself to appreciate the fact that very seldom, under existing conditions, does a patient receive the best aid which it is possible to give him in the present state of medicine, and that this is due mainly to the fact that a vast army of men is admitted to the practice of medicine who are untrained in sciences fundamental to the profession and quite without a sufficient experience with disease. A right education of public opinion is one of the problems of future medical education. The significant facts revealed by this study are these: (1) For twenty-five years past there has been an enormous over-production of uneducated and ill trained medical practitioners. This has been in absolute disregard of the public welfare and without any serious thought of the interests of the public. Taking the United

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States as a whole, physicians are four or five times as numerous in proportion to population as in older countries like Germany. (2) Over-production of ill trained men is due in the main to the existence of a very large number of commercial schools, sustained in many cases by advertising methods through which a mass of unprepared youth is drawn out of industrial occupations into the study of medicine. (3) Until recently the conduct of a medical school was a profitable business, for the methods of instruction were mainly didactic. As the need for laboratories has become more keenly felt, the expenses of an efficient medical school have been greatly increased. The inadequacy of many of these schools may be judged from the fact that nearly half of all our medical schools have incomes below $10,000, and these incomes determine the quality of instruction that they can and do offer. Colleges and universities have in large measure failed in the past twenty-five years to appreciate the great advance in medical education and the increased cost of teaching it along modern lines. Many universities desirous of apparent educational completeness have annexed medical schools without making themselves responsible either for the standards of the professional schools or for their support. (4) The existence of many of these unnecessary and inadequate medical schools has been defended by the argument that a poor medical school is justified in the interest of the poor boy. It is clear that the poor boy has no right to go into any profession for which he is not willing to obtain adequate preparation; but the facts set forth in this report make it evident that this argument is insincere, and that the excuse which has hitherto been put forward in the name of the poor boy is in reality an argument in behalf of the poor medical school. (5) A hospital under complete educational control is as necessary to a medical school as is a laboratory of chemistry or pathology. High grade teaching within a hospital introduces a most wholesome and beneficial influence into its routine. Trustees of hospitals, public and private, should therefore go to the limit of their authority in opening hospital wards to teaching, provided only that the universities secure sufficient funds on their side to employ as teachers men who are devoted to clinical science. […] The experience of older countries is therefore suggestive […] Professor Paulsen […] reports that “the number of physicians has increased with great rapidity so that now there is, in Germany, one doctor for every 2000 souls, and in the large cities one for every 1000.” What would the amazed philosopher have said had he known that in the entire United States there is already on the average one doctor for every 568 persons, that in our large cities there is frequently one doctor for every 400 or less, that many small towns with less than 200 inhabitants each have two or three physicians apiece! Overproduction is stamped on the face of these facts; and if, in its despite, there are localities without a physicians, it is clear that even long-continued -overproduction of cheaply made doctors cannot force distribution beyond a well-marked point.

DIE INSTITUTIONALISIERUNG SOZIALWISSENSCHAFTLICHEN WISSENS IN DER ZWISCHENKRIEGSZEIT: DAS RUMÄNISCHE SOZIALINSTITUT UND DER VEREIN FÜR SOCIALPOLITIK 1 F

Dietmar Müller Nach dem Ersten Weltkrieg standen die Staaten Ostmittel- und Südosteuropas unter erheblichem Druck, den Charakter ihrer Staatlichkeit den Herausforderungen anzupassen, die durch Prozesse der Industrialisierung und Urbanisierung sowie durch Agrarreformen und das allgemeine (Männer-)Wahlrecht entstanden waren. In Gestalt von Industriearbeitern und Grund besitzenden Kleinbauern hatten die Massen die Bühne betreten, auf der ihre Interessenvertreter politische und soziale Teilhabe forderten. Große Teile der akademisch gebildeten Elite sahen darin eine Herausforderung, der man mit den Mitteln der Honoratioren- und Klientelparteien in einem durch Improvisation geprägten Politikprozess nicht mehr gerecht werden konnte. Überall im östlichen Europa entstanden Institutionen, die – oftmals angelehnt an westeuropäische Vorbilder – Prozesse in Gang setzten, die man mit Lutz Raphael als Verwissenschaftlichung des Sozialen und als Professionalisierung des Politischen charakterisieren kann. 2 Dabei begann sich der Charakter der Staatlichkeit in der Region vom Interventions- zum Wohlfahrtsstaat zu wandeln. Am Beispiel des Rumänischen Sozial-Instituts (RSI) werden im Folgenden zunächst akteursbezogene Transferprozesse bezüglich der Konzeptualisierung und institutionellen Umsetzung der sozialen Frage in den Blick genommen, wobei der Verein für Socialpolitik als wichtigstes Vorbild für das RSI diente. Sodann werden charakteristische Adaptionen an die rumänischen Erfordernisse dargestellt, bevor abschließend die bäuerlich-ethnische Engführung in Theorie und Praxis des RSI analysiert wird. In den Jahrzehnten um die Wende zum 20. Jahrhundert übten deutsche Universitäten eine starke Anziehungskraft auf Studenten aus Osteuropa aus. Hervorzuheben ist insbesondere Leipzig und Karl Bücher, der dort von 1892 bis 1917 unter anderem Nationalökonomie lehrte. 3 Er allein betreute im genannten ZeitF

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Essay zur Quelle: Dimitrie Gusti und die Gründung der rumänischen Gesellschaft zu Studium und Umsetzung von Sozialreformen (April 1918). Vgl. Raphael, Lutz, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165–193. Vgl. Schefold, Bertram, Karl Bücher und der Historismus in der deutschen Nationalökonomie, in: Hammerstein, Notker (Hg.), Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Stuttgart 1988, S. 239–267; Wagner, Hendrik, Die Nationalökonomie an der Universität Leipzig in der

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raum 25 Doktorarbeiten aus Osteuropa, davon sieben aus Rumänien. 4 Zwei seiner rumänischen Schüler, Dimitrie Gusti (promoviert 1903 zu Egoismus und Altruismus, Erstbetreuer Wilhelm Wundt) sowie Virgil Madgearu (1910 Zur industriellen Entwicklung Rumäniens) 5 , entwickelten sich zu zentralen Persönlichkeiten der rumänischen Sozialwissenschaften und Politik in der Zwischenkriegszeit. Neben der allgemeinen Attraktivität der Stadt und ihrer Universität – Leipzig wurde im rumänischen Raum als Messe-, Buch- und Universitätsstadt seit der Frühen Neuzeit geschätzt – hatte die bemerkenswerte Dichte osteuropäischer Doktoranden bei Karl Bücher vor allem strukturelle Gründe. Diese liegen im wissenschaftlichen Ansatz der Historischen Schule der Nationalökonomie sowie im sozialpolitischen Anliegen des 1872 in Eisenach gegründeten Vereins für Socialpolitik begründet. Während sich die Bedeutung des Vereins für die zeitgenössische Sozialpolitik wohl in engen Grenzen hält, ist sein Einfluss auf die inhaltliche und institutionelle Entwicklung der Sozialwissenschaften kaum zu überschätzen. 6 Bekanntermaßen war die Historische Schule der Nationalökonomie in der Kritik des Manchesterliberalismus sowie der ihm zugrunde liegenden Freihandelsdoktrin David Ricardos und Adam Smiths entstanden. Von Friedrich List über die Vertreter der Alten Schule der Nationalökonomie – wie Wilhelm Roscher bis hin zu denen der Jüngeren Schule der Nationalökonomie wie Gustav Schmoller – bestanden in Deutschland erhebliche Zweifel, dass allein und durchgehend der Freihandel die wirtschaftpolitische Grundlage für die wirtschaftliche Entwicklung sein könne. In wirtschaftswissenschaftlicher Hinsicht wurde der (Neo-)Klassik vorgeworfen, Modelle der Wirtschaft zu entwerfen, die auf reinen Annahmen gründeten und in der Empirie keine Entsprechung fänden, letztlich also ideologische Konstrukte zur Perpetuierung der britischen Wirtschaftsdominanz seien. Diese Zweifel am Freihandel müssen auf einen Teil der jüngeren Eliten Rumäniens faszinierend gewirkt haben, sahen sie ihre Gesellschaft und Wirtschaft doch vor derselben, aber zeitversetzten Herausforderung, wirtschaftliche Entwicklung als nachholenden Prozess zu gestalten. In der Tradition von List und Schmoller wurde das Denken über Wirtschaft und das Handeln der Wirtschaftspolitik im Rumänien der Zwischenkriegszeit dann im nationalen Rahmen als Nationalökonomie und als Volkswirtschaftslehre vollzogen. F

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Zwischenkriegszeit. Eine Untersuchung ihrer wirtschaftswissenschaftlichen Institute 1918– 1939, Leipzig 2008. Vgl. Hasel-Wagner, Beate, Die Arbeit des Gelehrten. Der Nationalökonom Karl Bücher (1847–1930), Frankfurt am Main 2011; Bücher, Karl, Leipziger Hochschulschriften 1892– 1926, hg. von Koenen, Erik; Meyen, Michael, Leipzig 2002. Ebd., S. 86, 102. Vgl. Kruse, Volker, Von der historischen Nationalökonomie zur historischen Soziologie. Ein Paradigmenwechsel in der deutschen Sozialwissenschaft um 1900, in: Zeitschrift für Soziologie 19 (1990), S. 149–165; Grimmer Solem, Eric, The Rise of Historical Economics and Social Reform in Germany 1864–1894, Oxford 2003.

Die Institutionalisierung sozialwissenschaftlichen Wissens in der Zwischenkriegszeit

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Ein weiterer struktureller Grund für die Attraktivität Karl Büchers als Doktorvater war sein Engagement im Verein für Socialpolitik. 7 Dort hatten sich vornehmlich Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler in der Überzeugung organisiert, dass eine sich rapide industrialisierende Gesellschaft unbedingt von einer sozialen Reformpolitik begleitet werden müsse, wenn die soziale Frage nicht zwangsläufig in revolutionäre Umbrüche münden solle. Das Wirken des Vereins richtete sich in Form von Enqueten und Politikempfehlungen an die deutsche Politik und Verwaltungsbürokratie, aber auch an die Öffentlichkeit im Sinne der Popularisierung der eigenen Lösungsansätze. Diese Institutionalisierung sozialwissenschaftlichen Wissens – theoretisch fundiert und empirisch gewonnen – muss auf Dimitrie Gusti und Virgil Madgearu aus mehreren Gründen Eindruck gemacht haben. In Rumänien waren bis dahin eine formalistische Jurisprudenz sowie eine spekulativpatriotische Geschichtswissenschaft die unbestrittenen Leitwissenschaften gewesen. In beiden spielte die Empirie der rumänischen Gegenwart systematisch kaum eine Rolle. Der Verein für Socialpolitik bot Gusti und Madgearu ein Vorbild, wie sie die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften verstärkt etablieren, zugleich Einfluss auf die (Sozial-)Politik nehmen und nicht zuletzt ihre eigene Visibilität steigern konnten. In keinem mir bekannten Äußerungen Gustis und Madgearus zur Entstehungsgeschichte des Rumänischen Sozial-Instituts wird explizit auf den Verein für Socialpolitik Bezug genommen, eine Analyse der Statuten und des Wirkens des RSI legt einen erfolgten Transfer sowie eine Adaption an die rumänischen Verhältnisse jedoch zwingend nahe. 8 Im Rumänien der Zwischenkriegszeit lebten immer noch mehr als 80 Prozent der Bevölkerung auf dem Land und von der Landwirtschaft, so dass die soziale Frage nicht wie in Deutschland durch die Industriearbeiterschaft, sondern durch das Bauerntum konstituiert wurde. Aber ähnlich wie die wissenschaftliche Expertise und Lobbytätigkeit des Vereins für Socialpolitik darauf abzielte, der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften die revolutionäre Spitze zu brechen, so bestand der Gründungsimpuls des RSI 9 nicht zuletzt darin, ein Überschwappen bolschewistischen Gedankengutes auf die rumänischen Bauern zu verhindern. Deutlich wird dies in der herausgehobenen Erwähnung der „sozialen Revolutionen von 1888 und 1907“ 10 – gemeint waren damit Bauernrevolten, von denen die letztgenannte mit einer Jaquerie mit mehreren Tausend toten Bauern endete – im GrünF

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Vgl. Lindenlaub, Dieter, Richtungskämpfe im Verein für Sozialpolitik. Wissenschaft und Sozialpolitik im Kaiserreich vornehmlich vom Beginn des „Neuen Kurses“ bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs (1890–1914), Wiesbaden 1967; Plessen, Marie-Louise, Die Wirksamkeit des Vereins für Sozialpolitik von 1872–1890, Berlin 1975. 8 Virgil Madgearu wurde 1940 im Alter von 53 Jahren von Mitgliedern der faschistischen Legion „Erzengel Michael“ aufgrund seiner konsequent antifaschistischen Haltung ermordet. 9 Das 1920 gegründete Rumänische Sozial-Institut hatte mit der 1918 gegründeten Gesellschaft zu Studium und Umsetzung von Sozialreformen eine Vorläuferorganisation. 10 Gusti, Dimitrie, Appell vom April 1918 anlässlich der Gründung der Gesellschaft zu Studium und Umsetzung von Sozialreformen, in: Arhiva pentru Ştiinţa şi Reforma Socială 1 (1919), S. 291–293. Aus dem Rumänischen übersetzt von Dietmar Müller. Im Folgenden stammen alle Quellenzitate, soweit nicht anders vermerkt, aus der hier abgedruckten Quelle.

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dungsaufruf des Vorläuferorganisation des RSI im April 1918 sowie in der Tatsache, dass die erste von sieben Sektionen des RSI sich mit Agrarfragen beschäftigte. Die Argumente für die Notwendigkeit des RSI kommt einer Radikalkritik der rumänischen Politik und Wissenschaft gleich: „Denn jedermann wird anerkennen, dass mit der ausgefallenen Herangehensweise und der chaotischen Improvisation der Politik bis heute, die zu so vielen, verschiedenen und überstürzten sozialen Experimenten auf dem Rücken der rumänischen Gesellschaft geführt haben, ein für alle Mal Schluss sein muss: Vertrauen in die Führer anstelle der Wissenschaft, Dogmen anstelle von Beobachtung und blinde Disziplin anstelle kritischer Methode ist nicht mehr ausreichend.“

Dagegen setzten sich die Vorläuferorganisation sowie das RSI zur Aufgabe, eine Bestandaufnahme und Analyse der notwendigen Sozialreformen mit dem Ziel des Umbaus des gesamten sozialen Lebens des Landes vorzunehmen, dafür Lösungsvorschläge zu erarbeiten sowie dies gegenüber der Politik und der Öffentlichkeit zu popularisieren. Auch in dieser doppelten Wirkungsrichtung der Lobbyarbeit ist das Vorbild des Vereins für Socialpolitik unverkennbar. Mit dem Umzug der Gesellschaft zu Studium und Umsetzung von Sozialreformen aus dem nordmoldauischen Iaşi nach Bukarest 1920 ging die Umbenennung in Rumänisches Sozial-Institut (RSI) einher. Dimitrie Gusti war dessen Präsident und Virgil Madgearu dessen Generalsekretär. Gusti, der seit 1910 in Iaşi die Professur für Soziologie innehatte, wechselte nun auch auf die gleichnamige Professur in die Hauptstadt. Madgearu begann – neben seiner wissenschaftlichen und wissenschaftsorganisatorischen Tätigkeit – ab den 1920er-Jahren Schriften zu veröffentlichen, die ihn als den Theoretiker der Bauernpartei etablierten. Mehrere Aspekte des Wirkens von Gusti und Madgearu im RSI sowie im politischen Raum lassen sich methodologisch und inhaltlich auf Karl Bücher zurückführen. In seiner Autobiographie – Autosoziologie eines Lebens betitelt – schreibt Gusti, eine bestimmte Haltung und Methode Büchers habe ihn in jungen Jahren stark beeinflusst: Dieser habe die Realitätsferne der Sozialwissenschaften kritisiert – Historiker und Sozialwissenschaftler seien eher auf dem Forum Romanum zu Hause, als vertraut mit den Gegebenheiten ihres Geburtsortes und -landes – und Bücher habe seinen Doktoranden geraten, die Sozialwissenschaften in realistischer Manier, nämlich als Feldforschung und Soziologie des Alltags zu betreiben. 11 Der Empirismus konstituierte dann die grundlegende Methode der beiden rumänischen Schüler Büchers. Der Auftritt der Massen auf der politischen Bühne Rumäniens war bäuerlich gefärbt. Die Mobilisierung der Bauern-Rekruten im Ersten Weltkrieg, die Gewährung des allgemeinen (Männer-)Wahlrechts sowie die Agrarreform hatten die ländliche Bevölkerung zu einer erstrangigen Integrationsherausforderung für die kulturellen Eliten und für das politische System gemacht. F

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11 Vgl. Gusti, Dimitrie, Fragmente autobiografice. Autosociologia unei vieţi 1880–1955, in: Ders., Opere, Bd. 5, Bukarest 1971, S. 121–130.

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Für Gusti und für Madgearu lag es auf der Hand, die rumänischen Realitäten vom Dorf und der Landwirtschaft her zu denken. Wie ein Leitmotiv durchzog die Schriften Madgearus die rhetorische Frage, wie es in einem demokratischen Staat anders sein könne, als dass sich die Wirtschaftspolitik an den Interessen der überwiegenden Mehrheit, also an den Bauern auszurichten habe. 12 Auch für Dimitrie Gustis Fernziel – eine Soziologie der Nation zu verfassen 13 – war das Dorf essenziell, denn nicht nur seien die Bauern quantitativ wichtig, sondern im dörflichen Leben sei zudem das kulturell Spezifische, die Essenz der Rumänen aufbewahrt. Umgesetzt wurde dieses riesenhafte empirische Forschungs- und Dokumentationsprojekt mithilfe einer monographischen Erfassung aller relevanten Bereiche einer sozialen Einheit, meistens eines Dorfes. Die mit anthropologischen und soziologischen Mitteln erhobenen Daten waren eingebettet in juristische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen. Durchaus war geplant, dies auch auf Städte auszudehnen, aber zu Gustis Lebzeiten und in seiner Tradition blieb es bei der Analyse von rumänisch besiedelten Dörfern. Diese doppelte Engführung lag in der Vorannahme Gustis von dem Ort der Spezifik der Rumänen begründet, die auf seinen ersten Doktorvater, Wilhelm Wundt, zurückzuführen ist. Wenn Rumänien einen eigenständigen, typologischen Beitrag zur Völkerpsychologie bringen könne, dann sicher durch die Erforschung des Dorflebens, denn in den Sitten und der Lebensweise der Bauern sei die Essenz des Rumänentums aufbewahrt. Diese Vorannahme hat mehrere Konnotationen – die meisten problematisch. Aus der bereits erwähnten Vernachlässigung der Stadt- und Industriesoziologie und der Konzentration auf das Dorf entstand ein archaisierendes Bild Rumäniens in der Zwischenkriegszeit. Die in das Dorf einbrechende Moderne wurde als Störung der rumänisch-bäuerlichen Identität wahrgenommen. Darauf wurde mit kulturellem Protektionismus reagiert: Die Bewahrung der bäuerlichen Lebensweise erschien als Schutz der rumänischen Identität. Eine weitere Folge dieser bäuerlich bestimmten rumänischen kulturellen Identität bezieht sich auf die Dimension der Staatsbürgerschaft. Gusti war in dieser Hinsicht ein typischer Vertreter einer zentristischen, offiziellen Haltung vieler Intellektueller und Politiker in der Zwischenkriegszeit: Man vertrat eine politische Definition der rumänischen Nation im Sinne einer Staatsbürgernation ohne Ansehen von Ethnizität und Religionszugehörigkeit, so wie sie in der Verfassung von 1923 verankert war. Die Minderheitenschutzklauseln der Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg empfand man aber als Einmischung in interne Belange, und im Übrigen seien sie mit Verweis auf die Verfassung auch unnötig. In der Praxis von Politikern und Wissenschaftlern offenbarte sich aber immer wieder ein ethnisches Nationsverständnis, in dem die Minderheiten keinen Platz hatten und Staatsbürger zweiter Klasse blieben. 14 F

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12 Vgl. Müller, Dietmar, Agrarpopulismus in Rumänien. Programmatik und Regierungspraxis der Bauernpartei und der Nationalbäuerlichen Partei Rumäniens in der Zwischenkriegszeit, St. Augustin 2001, S. 92–121. 13 Vgl. Gusti, Dimitrie, Sociologia naţiunii, in: Ders., Opere, Bd. 4, Bukarest 1970, S. 7–95. 14 Vgl. Müller, Dietmar, Staatsbürger auf Widerruf. Juden und Muslime als Alteritätspartner im rumänischen und serbischen Nationscode. Ethnonationale Staatsbürgerschaftskonzeptionen, 1878–1941, Wiesbaden 2005.

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Virgil Madgearus Wirtschaftsdenken baute wiederum auf eine These Karl Büchers auf – weitere Bezugspunkte waren die Agrardebatte in der europäischen Sozialdemokratie um die Wende zum 20. Jahrhundert und die 1924 von dem russischen Agrarökonomen Aleksandr Čajanov publizierte Studie Zur Frage einer Theorie der nichtkapitalistischen Wirtschaftssysteme. 15 Bücher hatte versucht, die Geschichte der Menschheit in einer Lehre der „Volkswirtschaftliche(n) Entwicklungsstufen“ 16 zu fassen. Die erste der drei Kernstufen, die tauschlose Hauswirtschaft, prägte wesentliche Grundannahmen des maßgeblich von Madgearu entwickelten rumänischen Ţărănismus (von rum. ţăran = der Bauer). Die reinste Form der tauschlosen Hauswirtschaft sei die Situation, dass alle Güter innerhalb einer Familie oder Sippe sowohl erzeugt als auch konsumiert werden; keine Güter verlassen den Kreis und keine kommen von außen herein. Unter dieses Modell fallen auch die Oikenwirtschaft der klassischen Antike mit umfassendem Sklaveneinsatz sowie die Frohnhofwirtschaft des Früh- und Hochmittelalters. Als Konstante bleibt die überragende Bedeutung von Grund und Boden für die Produktion der Güter, aber auch für die Abhängigkeitsverhältnisse der Personen untereinander bestehen. Für Madgearu stellte sich die Agrarreform als Wiederherstellung der natürlichen Verhältnisse dar, nämlich eine „Verkleinbäuerlichung der Landwirtschaft“. Ohne außerökonomische Einflüsse – Kriege, Fremdherrschaft, Feudalismus – seien bäuerliche Kleinbetriebe auf dem Markt immer erfolgreicher als Großbetriebe, so seine Grundüberzeugung. Madgearu berief sich erneut auf Bücher, wenn er an das Gesetz der fallenden Bodenerträge im Verhältnis zum investierten Kapital erinnerte: Anders als in der Industrie sei die Agrarproduktion von biologischen Voraussetzungen abhängig, eine kapitalintensive Nutzung von Landmaschinen und stark ausgeprägte Arbeitsteilung stoße also an natürliche Grenzen. Die Arbeit in der Landwirtschaft sei nicht kapital-, sondern arbeitsintensiv, so dass der landwirtschaftliche Familienbetrieb Krisenzeiten überleben könne, während der Großbetrieb längst aufgeben müsse. Zudem seien die Beziehungen der bäuerlichen Familienbetriebe zum Marktgeschehen nicht nur auf der Finanzierungsseite, sondern auch hinsichtlich des Absatzes minimal, da sie kaum Produkte auf den Markt brächten. Insgesamt müsse die kleinbäuerliche Landwirtschaft also als ein Sektor eingeschätzt werden, der nichtkapitalistischen Handlungslogiken folge. Im Verhältnis Karl Büchers zu seinen rumänischen Schülern Dimitrie Gusti und Virgil Madgearu bzw. von der Historischen Schule der Nationalökonomie und des Vereins für Socialpolitik zum rumänischen Wirtschaftsdenken und dem Rumänischen Sozial-Institut ist ein Transfer unübersehbar. Wie allerdings regelmäßig bei Transfer- und Verflechtungsbeziehungen zu beobachten ist, wird die transferierte Idee oder Institution an lokale Bedürfnisse und Bedingungen adapF

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15 Vgl. Tschayanoff, Alexander, Zur Frage einer Theorie der nichtkapitalistischen Wirtschaftssysteme, in: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik 51 (1924), S. 577–613. 16 Vgl. Bücher, Karl, Volkswirtschaftliche Entwicklungsstufen, in: Grundriss der Sozialökonomik. I. Abteilung: Historische und theoretische Grundlagen, Tübingen 1924 (Erstveröffentlichung: Frankfurt am Main 1895), S. 1–18.

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tiert. Weder die bäuerliche und ethnonationale Engführung bei den Dorfmonographien Gustis, noch die Verstetigung der tauschlosen Hauswirtschaft zu einem intermundium zwischen Kapitalismus und Kommunismus bei Madgearu sind bei Bücher zu finden. Von diesen Inhalten abgesehen, über die die Zeit hinweggegangen ist, bleibt das Rumänische Sozial-Institut als rumänische Ausprägung der Verwissenschaftlichung des Sozialen und der Professionalisierung des Politischen das wichtigste Ergebnis des analysierten Transfers. Die Analyse der inhaltlichen, biographischen und institutionellen Wurzeln des Rumänischen Sozial-Instituts deutet darauf hin, dass sein Gepräge adäquat nur eingebettet in einer europäischer Sozial- und Kulturgeschichte verstanden werden kann, die aufmerksam ist für transnationale Einflüsse, Mehrfachprägungen und lokale Adaptionen. Literaturhinweise Bücher, Karl, Volkswirtschaftliche Entwicklungsstufen, in: Grundriss der Sozialökonomik. I. Abteilung: Historische und theoretische Grundlagen, Tübingen 1924 (Erstveröffentlichung: Frankfurt am Main 1895), S. 1–18. Gusti, Dimitrie, Fragmente autobiografice. Autosociologia unei vieţi 1880–1955, in: Ders., Opere, Bd. 5, Bukarest 1971. Müller, Dietmar, Agrarpopulismus in Rumänien. Programmatik und Regierungspraxis der Bauernpartei und der Nationalbäuerlichen Partei Rumäniens in der Zwischenkriegszeit, St. Augustin 2001. Raphael, Lutz, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165–193. Schefold, Bertram, Karl Bücher und der Historismus in der deutschen Nationalökonomie, in: Hammerstein, Notker (Hg.), Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Stuttgart 1988, S. 239–267.

Quelle Dimitrie Gusti und die Gründung der rumänischen Gesellschaft zu Studium und Umsetzung von Sozialreformen (April 1918) 17 F

Dimitrie Gusti, Universitätsprofessor, Vorsitzender der Gesellschaft zu Studium und Umsetzung von Sozialreformen Sehr geehrter Herr, Heute ist im Gefolge äußerer und innerer Ereignisse, die das Schicksal der Nation und des rumänischen Staates entscheiden, eine Gesellschaft zu Studium und Umsetzung von Sozialreformen in Rumänien gegründet worden. Sie verfolgt vier Ziele: sämtliche sozialen Aspekte Rumäniens ohne eigene Vorteile und vorgefasste Urteile und Tendenzen wissenschaftlicher 17 Gusti, Dimitrie, Appell vom April 1918 anlässlich der Gründung der Gesellschaft zu Studium und Umsetzung von Sozialreformen, in: Arhiva pentru Ştiinţa şi Reforma Socială 1 (1919), S. 291–293. Aus dem Rumänischen übersetzt von Dietmar Müller.

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oder politischer Art zu analysieren; Reformen vorzuschlagen, die sich natürlich und logisch aus diesen Studien ergeben; mit allen Mitteln der Propaganda für die Umsetzung dieser Reformen zu kämpfen und schließlich, in starkem Maße an der sozialen Bildung der Massen teilzunehmen. Mit guten Gründen kann davon ausgegangen werden, dass das Fehlen einer tiefen Kenntnis sowie einer realistischen Einschätzung der sozialen Realitäten Rumäniens einer der Gründe für die Erschütterungen unseres Staates war – wir erwähnen nur die der letzten Jahrzehnte: die sozialen Revolutionen von 1888 und 1907, die Finanzkrise von 1900 und die äußerst schmerzliche Lage, in der wir uns gegenwärtig befinden. Die Gesellschaft entspricht, so viel ist sicher, den großen Erfordernissen unserer Zeit. Denn jedermann wird anerkennen, dass mit der ausgefallenen Herangehensweise und der chaotischen Improvisation der Politik bis heute, die zu so vielen, verschiedenen und überstürzten sozialen Experimenten auf dem Rücken der rumänischen Gesellschaft geführt haben, ein für alle Mal Schluss sein muss: Vertrauen in die Führer anstelle der Wissenschaft, Dogmen anstelle von Beobachtung und blinde Disziplin anstelle kritischer Methode ist nicht mehr ausreichend. Das rumänische öffentliche Leben muss auf neue Grundlagen gestellt werden. Einfache Glücks- oder Unglücksfälle, einfache Gelegenheit oder Grübeln sowie die Unterstützung der Unkundigen aber nicht selten der Interessierten müssen endgültig durch die Einführung verlässlichen Wissens über den Stand der Dinge ersetzt werden, durch eine möglichst große Sicherheit in der Anwendung zur Verfügung stehender Mittel zur Erreichung der wertvollsten Ziele und schließlich durch eine systematische Arbeitsteilung insofern, als jeder das tut, worauf er sich versteht. Aus solchen Überlegungen ist die Idee zur Gründung der Gesellschaft entstanden. Die Sozialwissenschaft wird in der Gesellschaft in all ihren Disziplinen gepflegt und zur Lösung der größten Probleme des Volkes und rumänischen Staates erheblich beitragen. Klare Kenntnisse der Realitäten ist der einzige Weg, dem Patriotismus neuen Inhalt und neue Impulse zu geben und ihn dadurch zu vertiefen. Dadurch wird das Gefühl sozialer Verantwortlichkeit und des sozialen Gewissens geweckt und entwickelt und eine klare Perspektive für politische Unmöglichkeiten, aber auch politische Notwendigkeiten aufgezeigt, die es umzusetzen gilt. Die Gesellschaft ist gleichzeitig von einem tief empfundenen demokratischen Geist durchdrungen, wohl wissend, dass das Licht von oben kommen mag, die Kraft aber von unten, so dass die Konsolidierung und der Fortschritt eines demokratischen Staates – ob groß oder klein – von zwei bedeutenden Bedingungen abhängt: Von der Art und Weise, wie er geführt wird und von der Qualität seiner Staatsbürger – eine wahrhafte Demokratie bedeutet neben einer gut informierten und aufgeklärten Öffentlichkeit die tatsächliche Teilhabe aller Staatsbürger am öffentlichen Leben. Die Gesellschaft ist beseelt durch Idealismus und sozialen Optimismus, ist durchdrungen vom Glauben an eine glücklichere Zukunft des rumänischen Volkes und Staates, und weil sie sich verpflichtet fühlt dafür zu arbeiten, setzt sie sich zum Ziel, mit allen Mitteln an der sozialen Bildung der Massen mitzuwirken, so dass das rumänische Volk dadurch ein von anderen Völkern zu unterscheidendes, Kultur schaffendes Wesen wird, dass in jedem Staatsbürger der entschlafene Wille nach einem besseren, würdigeren und bewussten Leben erweckt wird.

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Die Gesellschaft ist geleitet durch den ethischen Impuls der Realisierung von Frieden und sozialer Gerechtigkeit, der durch das schrittweise Verschwinden der harten Grenzen zwischen arm und reich, zwischen Stadt und Land, zwischen gebildet und ungebildet umgesetzt wird. Sie will zur Schaffung einer energischen Nation beitragen, die sich ihrer Bestimmung in der Weltgeschichte bewusst ist, und eines organisierten, gesunden und starken Staates als Spiegel der Aspirationen und des Selbstbildes der Nation. In großen Zügen sind dies die leitenden Ideen, die den Geist der Gesellschaft zu Studium und Umsetzung von Sozialreformen sowie ihre Organisationsprinzipien und Funktionen ausmachen. Die Tätigkeit der Gesellschaft wird in erster Linie auf die Durchführung bestimmter Forschungen zur umfassenden und methodischen Kenntnis des sozialen Lebens Rumäniens ausgerichtet sein. Diese Studien werden in folgenden Sektionen durchgeführt: 1) die Agrarsektion, 2) die Handels- und Industriesektion, 3) Finanzen, 4) Justiz, 5) Politik und Verwaltung, 6) Politik und soziale Hygiene und 7) Kultur. Weitere Sektionen werden nach Bedarf ins Leben gerufen. Die Mitglieder der Gesellschaft werden anhand ihrer Spezialisierung in die entsprechenden Sektionen gruppiert: Jedermann, der durch seine Aktivität Kompetenzen auf sozialem Gebiet vorweist, kann als Mitglied aufgenommen werden – besonderer Wert wird auf Objektivität und Unabhängigkeit der kompetenten Persönlichkeit gelegt. Unter Kompetenz verstehen wir nicht nur wissenschaftliche Kenntnisse, sondern auch weitgefächerte praktische Erfahrungen – mögen sie auch enggefasst oder lokal sein – von Fachleuten aus der Provinz oder vom Lande, die uns bei der Erhebung der Daten, bei der Durchführung der Studien vor Ort sowie bei der Einschätzung lokaler Interessen – die in den verschiedenen Landesteilen variieren – ebenso helfen wie bei der Formulierung allgemeiner, theoretischer Erkenntnisse. […] Besonders wichtige Probleme und deren Lösungsvorschläge werden vom Komitee der Gesellschaft der Generalversammlung zur Entscheidung vorgelegt, so dass diese Fragen, nachdem sie zunächst von den entsprechenden Sektionen und dem Komitee diskutiert worden sind, von den Spezialisten aller Komitees nochmals diskutiert werden können. Dadurch können diese Lösungsvorschläge aufgrund der Debatten in den Sektionen und der Verabschiedung durch die Generalversammlung als wohl abgewogene und wahre Empfehlung der gesamten Gesellschaft und als ihre verlässliche Meinung in Fragen der Sozialreform gelten.

GRABEN WIE DIE GROSSEN IN KLEINASIEN: EIN FRISCH BERUFENER PRAGER PROFESSOR UMREISST MIT WELTPOLITISCHEN ARGUMENTEN SEIN ARCHÄOLOGISCHES KARRIEREFELD 1 F

Frank Hadler Wer die Zeichen einer durch tiefgreifende politische wie gesellschaftliche Umbrüche bestimmten Zeit für sein eigenes wissenschaftliches Tun erkennen und nutzen will, braucht erstens einen breiten Überblick, zweitens gute Pläne und drittens viel Selbstbewusstsein. Von den genannten drei Dingen besaß Bedřich Hrozný (1879– 1952) 2 offenbar reichlich, als er Ende 1919 angesichts der durch „Weltkrieg und Weltfrieden“ 3 radikal veränderten Weltlage den hier gekürzt ins Deutsche übertragenen Zeitschriftenbeitrag zu Papier brachte. Dem Text kam für Hroznýs spätere, über weitere Zeitenwenden hinweg reichende berufliche Karriere als Wissenschaftler von europäischem Rang hohe Bedeutung zu. Dass der Name Hrozný bis heute weltweit in nahezu allen großen Lexika zu finden ist, gründet sich zuvorderst auf der Tatsache, dass er die dreieinhalbtausend Jahre alte, in Keilschrift geschriebene Sprache der Hethiter entschlüsselte und zudem den zweifelsfreien Nachweis ihrer Zugehörigkeit zur indoeuropäischen Sprachfamilie erbrachte. In der hier ausgewählten Quelle wird diese Leistung explizit nicht erwähnt; die Lesbarkeit der Sprache aber schon mit dem Autoren in Verbindung gesetzt durch den Hinweis auf die von ihm geplante Edition des hethitischen Gesetzbuches. Hroznýs Weltruhm als Altorientalist hat jedoch neben der erwähnten Sprachentzifferung auch mit der Realisierung jener im Quelltext prospektiv umrissenen Planungen F

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Essay zur Quelle: Bedřich Hrozný: Nové úkoly orientální archeologie [Neue Aufgaben der Orientarchäologie] (1920). Leben und Werk von Bedřich Hrozný widmete sich zuletzt: Vavroušek, Petr, Pán chtitických tabulek [Der Herr der hethitischen Tafeln], Prag 2009. An älteren Arbeiten, wenngleich ohne wissenschaftlichen Apparat, immer noch von Bedeutung sind: Zamarovský, Vojtěch, Za tajemstvím Chetitů [Hinter dem Geheimnis der Hethiter], Prag 1961 (leicht gekürzt auf Deutsch: Auf den Spuren der Hethiter. Ein vergessenes Großreich wird entdeckt, Leipzig 1965) sowie Matouš, Lubor, Bedřich Hrozný. Leben und Forschungswerk eines tschechischen Orientalisten, Prag 1949. Mit Zurückhaltung zu behandeln ist die kleine, von Selbstüberschätzungen nicht freie, auch auf Französisch erschienene Schrift: Hrozný, Bedřich, Stručný přehled mých vědeckých objevů [Kurze Übersicht meiner wissenschaftlichen Entdeckungen], Prag 1948. Eine vollständige Bibliographie der Schriften Hroznýs nebst Hinweisen auf Rezensionen seiner Werke und einem Personenregister hat zusammengestellt: Prosecký, Jiří, Bibliography of Bedřich Hrozný, in: Archiv orientální 67 (1999), S. 459–502. Hrozný, Bedřich, Nové úkoly orientální archeologie [Neue Aufgaben der Orientarchäologie], in: Naše doba 27 (1920), S. 484–490. Im Folgenden stammen alle Quellenzitate, soweit nicht anders vermerkt, aus den hier abgedruckten Quellenausschnitten.

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künftiger „tschechoslowakischer“ Ausgrabungen in Kleinasien zu tun, die ihn – wie zu zeigen sein wird – zu einem hochprofessionellen europäischen Orientarchäologen machten, der in der ersten Liga grub. Doch der Reihe nach: 1901 hatte der Sohn eines tschechischen evangelischen Pfarrers aus Lysá nad Labem seine Studien der altorientalistischen Philologie (Hauptfach Keilschriften) an der Universität Wien mit einer Dissertation über sabäische Weihinschriften abgeschlossen. Ein Jahresstipendium des österreichischen Schulministeriums ermöglichte es ihm, sofort im Anschluss nach Berlin und London zu gehen. An der Spree hörte er bei den Assyriologen Friedrich Delitzsch und Hugo Winckler. Auf Anregung des ersteren konnte er eine Semesterarbeit als kurzen Aufsatz zum Druck bringen. 4 An der Themse kopierte Hrozný 1902 im British Museum die Tafeln eines sumerisch und babylonisch geschriebenen Epos. Hieraus ging eine kleine Buchveröffentlichung hervor. 5 Diese europaweit gemachten Erfahrungen eines raschen Einstiegs in die Welt der Wissenschaft ließen ihn das Angebot einer Vertretungsstelle am Gymnasium der böhmischen Kleinstadt Kolín (hier war er zur Schule gegangen) ablehnen. Sprache, Geschichte und Kultur des Alten Orients als Beruf im Blick nahm er statt dessen eine Praktikantenstelle an der Wiener Universitätsbibliothek an. Als Bibliothekar war er hier bis in die Zeit des Weltkrieges tätig, was ihm die angestrebte berufliche Nähe zur wissenschaftlichen Arbeit ermöglichte. Mit dem 1897 nach Wien berufenen Professor für evangelische Theologie Ernst Sellin reiste Hrozný 1904 auf eine Expedition nach Palästina, bei der in Taannek neue Keilschriftentafeln gefunden wurden. Hrozný edierte sie in den Denkschriften der Kaiserlich österreichischen Akademie der Wissenschaften ein Jahr nachdem er sich 1905 in Wien habilitiert hatte. Als Privatdozent für semitische Sprachen mit besonderer Berücksichtigung der Keilschriftenforschung, der er fortan war, veröffentlichte er 1913 eine nicht zuletzt ob der Kapitel über die sumerische Bierbrauerei vielbeachtete Monographie über Getreidenutzung im Babylonischen Reich. Die Entstehungsgeschichte dieses in den Sitzungsberichten der bereits genannten Akademie in Wien erschienen Buches belegt, wie normal-transnational die damalige Altorientalistenzunft über die Grenzen im alten Europa hinweg und darüber hinaus zusammenarbeitete. Hroznýs Danksagungen an Lehrer und Kollegen gingen von Wien aus in Richtung Berlin, Strassburg, Szeged, Breslau, Dublin, Assur und Philadelphia. Waren ihm doch aus Irland in Palästina ergrabene „Pflanzensamen“ zur Verfügung gestellt, aus Amerika „Proben der bei den Ausgrabungen in Niffer gefundenen Pflanzenreste“ zugesandt worden. Und die Universitätsbibliothek in Leiden hatte sich zu einer „sehr liberale[n] Verleihung“ von arabischen Handschriften bereit erklärt […]. 6 F

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Ders., Zum Geldwesen der Babylonier, in: Beiträge zur Assyriologie und semitischen Sprachwissenschaft 4 (1902), S. 546–550. Ders., Sumerisch-babylonische Mythen von dem Gotte Ninrag (Ninib), Berlin 1903. Ders., Das Getreide im alten Babylonien. Ein Beitrag zur Kultur- und Wirtschaftsgeschichte des alten Orients, Wien 1913, S. 8–9.

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Die knapp skizzierte berufliche Wiener Karriere Hroznýs begann sich 1910 durch eine Anfrage der Deutschen Orient-Gesellschaft in Richtung Berlin zu erweitern. Als für seine hohe Präzision bekannter Experte sollte er an der Aufarbeitung des Keilschriftenarchives von Boghazköi teilnehmen, von dem im Quelltext mehrfach die Rede ist, ohne dass jedoch der Name des 1913 verstorbenen Grabungsleiters Hugo Winckler auftaucht. In dessen Kreis aufgenommen, reiste der tschechische Keilschriftenexperte, von seinen Wiener Bibliotheksdiensten freigestellt, im deutschen Auftrag im Frühjahr 1914 nach Konstantinopel, um die dort deponierten hethitischen Tafeln zu sichten, zu kopieren und zu transkribieren. Im Rahmen der so erlebten transnationalen Forscherverflechtung bekam Hrozný vom ottomanischen Museum am Bosporus mehr als die für die geplante Edition gedachten Tafeln vorgelegt und als er nach nur wenigen Monaten wegen des Kriegsausbruchs zurück an die Donau musste, hatte er ausreichend Material gesammelt, um an die Entschlüsselung der bis dahin nicht lesbaren Sprache der Hethiter zu gehen. Im Herbst 1915 war ihm die Tat gelungen, von der publikumswirksam zu berichten er – inzwischen zum außerordentlichen Professor der Universität Wien bestellt – umgehend Gelegenheit bekam: in je einem Berliner und Wiener Vortrag sowie schriftlich in den Mitteilungen der Deutschen OrientGesellschaft. 7 Dass Hrozný gleichzeitig als Schreiber des Wiener Regiments der Deutsch- und Hochmeister zum Militärdienst eingezogen worden war, hatte offensichtlich nur geringen verzögernden Einfluss darauf gehabt, seine Entdeckung rasch auch in Buchform vorzulegen. Mit dem Untertitel Ein Entzifferungsversuch und unter Nutzung der deutschen Version seines Vormanens legte Hrozný damit 1917 den ersten Band der in Leipzig inaugurierten Schriftenreihe BoghozköiStudien vor. 8 Dieser Rückblick auf die berufliche Karriere bis zum Ersten Weltkrieg belegt ein hohes Maß an Professionalität und internationaler Reputation. Beides hat ohne Frage dazu beigetragen, dass Hrozný sofort nach dem für Österreich-Ungarn verloren gegangenen Krieg in der am 28. Oktober 1918 gegründeten Tschechoslowakischen Republik eine Stelle angeboten wurde. Aus Sicht des Prager Schulministeriums war nur er für das an der tschechischen Karlsuniversität neu geschaffene Ordinariat für Keilschriftenforschung und Geschichte des Alten Orients prädestiniert. Der außerordentliche Professor aus Wien nahm den Ruf nach Prag an, doch eine Heimkehr im akademischen Sinne war es nicht, denn an der Prager Alma Mater hatte er nie studiert. Für den transnational bestens vernetzten Forscher war es ein Neuanfang unter nationalstaatlichen Prämissen. Gleichwohl verstand es der gerade vierzigjährige vorzüglich, den politisch erwarteten Bezug auf den eigenen Staat gezielt für die Realisierung seiner wissenschaftlichen Ziele zu nutzen. Er artikulierte diese zunächst in der akademischen Öffentlichkeit. So forderte er von F

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Zusammen mit einer Einführung von Otto Weber und Eduard Meyer erschienen als: Die Lösung des hethitischen Problems. Ein vorläufiger Bericht, in: Mitteilungen der Deutschen Orientgesellschaft 56 (1915) S. 1–50. Hrozný, Friedrich, Die Sprache der Hethiter, ihr Bau und ihre Zugehörigkeit zum indogermanischen Sprachstamm, Leipzig 1917.

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der Universitätsleitung beträchtliche Zusatzmittel für die Ausstattung seines Seminars. 9 Noch bevor diese Forderung vom Schulministerium Anfang Februar 1920 zu einem nicht unbeträchtlichen Teil bewilligt wurde, speiste Hrozný seine programmatischen Überlegungen mit dem hier als Quelle ausgewählten Beitrag auch in die politische Öffentlichkeit des jungen Staates ein. Ort und Zeitpunkt für den Abdruck hätten kaum besser gewählt sein können. Naše doba [Unsere Zeit] war 1893 als Revue für Wissenschaft, Kunst und soziales Leben niemand anderem gegründet worden als Tomáš G. Masaryk, der – nun als erster Präsident der Tschechoslowakei – seit Dezember 1918 nach seinem vierjährigen Weltkriegsexil wieder in Prag weilte. Masaryk hatte die weit verbreitete Revue bis Ende 1914 selbst redigiert. Ihm folgte als Redakteur Edvard Beneš, bevor er im September 1915 ebenfalls ins Exil ging und – nun als erster tschechoslowakischer Außenminister – nach Prag zurückkehrte, nachdem der Friedensvertrag mit Österreich in St. Germain unterzeichnet worden war. Das war im September 1919. Zeitgleich mit den ersten Parlamentsreden des Außenministers, in denen er bei aller Konzentration auf die Probleme des „neuen Europa“ Anfang November 1919 eine mangelnde „světovost [Weltgängigkeit]“ des neuen Staates beklagte und betonte, „auch bei uns gibt es viel Provinzialismus“ 10 , verfasste Hrozný seinen an weltpolitischen Reflexionen nicht armen Artikel. Ihn Naše doba anzubieten, hatte zum einen sicher mit der Intention einer möglichst regierungsnahen Wahrnehmung zu tun. Zum anderen aber war es Naše doba, das 1903 Hroznýs ersten tschechischen Text veröffentlicht 11 und dessen Redaktion im Januar 1916 von der „Enträtselung des hethitischen Problems“ durch „unseren Landsmann Prof. Dr. B. Hrozný in Wien“ berichtet hatte. 12 Entscheidend für den Abdruck in Heft sieben des Jahrgangs 1920 dürfte gewesen sein, dass sich der als „tschechischer Lawrence von Arabien“ bezeichnete Alois Musil (1868–1944) 13 wenige Hefte früher mit einem programmatischen Artikel über Unsere Aufgaben in der Orientalistik und im Orient zu Wort gemeldet hatte. Musil, ein anerkannter Arabienkenner, der während des Weltkrieges zum Generalsekretär der österreichischen Orient- und Überseegesellschaft und wirklichen Geheimrat des Kaisers Karl ernannt worden war, hatte gerade mit direkter Unterstützung von Präsident Masaryk eine Professur an der Karluniversität für orientalische Hilfswissenschaften und Neuarabisch erlangt, womit er zu einem Kollegen Hroznýs an der Philosophischen Fakultät geworden war. In seinem Beitrag postulierte Musil die Bedeutung F

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9 Vgl. Vavroušek, Pan chetitských tabulek, S. 51f. 10 Beneš, Edvard, Problémy nové Evropy a zahraniční politika československá. Projevy a úvahy z r. [Die Probleme des neuen Europa und die tschechoslowakische Außenpolitik. Reden und Erwägungen aus den Jahren] 1919–1924, Prag 1924, S. 40. 11 Hrozný, Bedřich, Vznik mythu o Leviatanovi [Die Entstehung des Mythos vom Leviathan], in: Naše doda 10 (1903), S. 321–329, S. 407–415. 12 Rozluštění problému hettitského dra B. Hrozného [Dr. Hroznýs Entschlüsselung des Hethitischen Problems], in: Naše doda 22 (1916), S. 315f. 13 Über Musil zuletzt prägnant die entsprechende Passage in: Borovička, Michael, Cestovatelství [Reisen], Prag 2010, S. 515–521.

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des Orients für die Tschechoslowakei und betonte, dass „von den neuen Staaten hauptsächlich wir dem Orient helfen können“. Nach dem Ausruf: „Der alte Orient bleibt ewig jung“ fragte er, ob es „nicht für die Wahrnehmung des alten Lebens in Europa eine überwichtige Entdeckung war, die während des Krieges unser Landsmann Prof. Hrozný gemacht hat, der nachwies, dass die alten Hethiter indoeuropäischen und, wie es vielen erscheint, slawischen Ursprungs waren“? 14 F

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Das war die Steilvorlage für Hrozný, der, was das künftige wissenschaftliche Engagement im Orient betraf, mit seinen tschechoslowakischen Ausgrabungsplänen in Kleinasien nachlegte und in Anknüpfung an Musil sowie unter Verweis auf anderswo in Europa praktizierte Institutionalisierungen die Gründung eines tschechoslowakischen Orientinstituts anregte, das sowohl die wissenschaftlichen Beschäftigung als auch die wirtschaftlichen Beziehungen mit dem Orient koordinieren sollte. Die erhoffte institutionsbildende Wirkung zeigte sich eher als die expeditionsunterstützende. Am 25. Januar 1922 beschloss das tschechoslowakische Parlament ein Gesetz zur Bildung des Orientální ústav [Orientinstitut] in Prag. In eine Kultur- und eine Wirtschaftssektion gegliedert, sollte es aus mehreren Quellen finanziert werden. Aus dem persönlichen Fonds des Präsidenten Masaryk, der ihm 1920 anlässlich seines 70. Geburtstages zur Verfügung gestellt wurde, kamen vier Millionen Kronen. Eine halbe Million für die Bibliothek stellte das Handelsministerium zur Verfügung. Das Bildungsministerium schließlich gab drei Millionen für den Erwerb eines Gebäudes und 300.000 Kronen jährlich für die Grundausstattung. Dennoch dauerte es bis 1927, bis der Staatspräsident die ersten 34 Institutsmitglieder berief, die am 1. März 1928 zu einer ersten Sitzung zusammentrafen und ein gutes Jahr später auf ihrer Generalversammlung über die Statuten abstimmten. Ebenfalls 1929 begann unter der Leitung von Bedřich Hrozný mit dem Archiv orientální jenes Periodikum zu erscheinen, das noch heute als Quarterly Journal of African and Asian Studies am Orientální ústav der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik in Prag herausgegeben wird und seit Hroznýs Zeiten Beiträge einheimischer wie ausländischer Gelehrter in mehreren Sprachen – heute nur noch Englisch, Französisch und Deutsch – veröffentlicht. 1931 schließlich bezog das Orientinstitut sein Quartier im Lobkovic-Palais (heute Sitz der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland) auf der Prager Kleinseite 15 , heute ist es in einem Plattenbau des Stadtteiles Prosek im Prager Norden untergebracht. Nun aber zurück zu den von Hrozný Anfang 1920 in seinem Artikel veröffentlichten Plänen, mit tschechoslowakischen Ausgrabungen die durch den „Ausschluss der Deutschen vom Wettkampf auf dem archäologischen Kampfplatz OriF

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14 Musil, Alois, Naše úkoly v orientalistice a v orientě, in: Naše doda 27 (1920), S. 176, 180. 15 Dudák, Vladislav, Concise Survey of the History of the Oriental Institute, in: Prosecký, Jiří (Hg.), Ex pede pontis. Papers presented on the occasion of the 70th anniversary of the foundation of the Oriental Institute Prague, Prag 1992, S. 7–15, bes. 8–9.

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ent“ in Folge der Weltkriegsniederlage entstandene Lücke zu schließen. Schon 1919 und 1920 war er zweimal nach Berlin gereist, um weitere Tontafeln zu kopieren, die von den Wincklerschen Expeditionen stammten. Diese edierte er 1921 in Leipzig in den Wissenschaftlichen Veröffentlichungen der Deutschen OrientGesellschaft 16 , womit er sich aktiv an dem beteiligte, was Hrozný in seinem Beitrag als Aufgabe dieser Gesellschaft antizipiert hatte, „sich in den kommenden Jahren nur mehr der Publizierung des wissenschaftlichen Materiales [zu] widmen […], das in den vergangenen Jahrzehnten im Orient zusammengetragen wurde“. 1922 erschien Hroznýs im Quellentext angekündigte und mit französischer Übersetzung besorgte Edition des hethitischen Gesetzbuches als erster Band der neuen Reihe Hethitica. Collection de travaux relatifs à la philologie, l’histoire et l’archéologie hittites in Paris. 17 Der in seinem Artikel getroffenen Feststellung, dass es sich bei den edierten Texten nur um Bruchstücke handelte, ließ Hrozný die Frage folgen: „Wo aber sind die fehlenden Teile dieser überwichtigen historischen Denkmale?“ Sie zu finden, wollte er wie die großen seines Faches in Kleinasien graben. Um aber genau diesen Plan zu realisieren, brauchte er die politische und finanzielle Unterstützung der Prager Regierung, die er mit der nicht weiter belegten Feststellung lockte, „die tschechoslowakischen Ausgrabungen in den vorderasiatischen Ländern [tragen] auch zur Stärkung der wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen unserer Republik und dem Orient bei“. Parallel zur nur kurz gestreiften Gründung des Orientinstituts, an der er sich offenbar eher im Hintergrund beteiligte, war es Hrozný vor allem an der Beschaffung der notwendigen Finanzmittel für seine Grabungen gelegen. In der kurzen Würdigung, die Lubor Matouš zum 70. Geburtstag seines Lehrers Bedřich Hrozný 1949 in hoher Auflage (3.200 Exemplare allein der deutschen Version) veröffentlichte, ist in Bezug auf die Finanzierungsfrage ausgeführt, dass das Werben des frisch berufenen Prager Professors letztlich erfolgreich war: F

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„Doch ermöglichte ihm der auf Anregung des Präsidenten der Republik T. G. Masaryk und des Außenministers Dr. Beneš zur Verfügung gestellte bedeutende Geldbetrag, in den Jahren 1924 und 1925 an drei Stellen im Orient Ausgrabungen zu unternehmen.“ 18 F

Die Ergebnisse der hier im Einzelnen nicht zu beschreibenden Expeditionen, für die er nach eigenen Angaben innerhalb von eineinhalb Jahren insgesamt eine halbe Million Kronen 19 unter anderem auch bei Unternehmen wie dem Schuhkonzern Bat’a oder den Škodawerken zusammenzutragen in der Lage war, dokumenF

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Hrozný, Bedřich, Keilschriftentexte aus Boghozköi, Hefte 5 und 6, Leipzig 1921. Ders., Code hittite provenant de l’Asie Mineure (vers 1350 av. J.-C.), Paris 1922. Matouš, Bedřich Hrozný, S. 31. Zamarovský, Auf den Spuren der Hethiter, S. 143; Vavroušek, Pan chetitských tabulek, S. 57. Hier auch die Faksimiles der Bewilligungsschreiben des Schulministeriums vom 8. Februar 1924 über 50.000 Kronen (Abb. 9, S. 90) vor der Expedition sowie der Zuteilung einer „ehrenhaften Sonderzuwendung“ (zvláštní čestný dár) durch die Regierung „für Ihre wissenschaftlichen Verdienste“ vom 11. Februar 1926 über 20.000 Kronen danach (Abb. 2, S. 84).

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tierte Hrozný in mehreren Artikeln für die Prager Zeitung Národní listy sowie in zahlreichen öffentlichen zum Teil auch im Radio übertragenen Vorträgen. Auf diesen basierte schließlich der für ein breites Publikum bestimmte und reich bebilderte Grabungsbericht aus dem „Reich des Halbmondes“. 20 Hier beschrieb er ausführlich jene zum Teil entbehrungsreichen Unternehmungen, bei denen die erste tschechoslowakische archäologische Expedition im Orient zwar nicht die im Quellentext „ganz sicher […] in Boghazköi unter der Erde“ vermuteten „fehlenden Teile“ des hethitischen Königsarchives, wohl aber ein bedeutendes hethitisches Handelsarchiv mit den sogenannten Kappadokischen Tafeln entdeckte. Auch mit diesen aber stellte sich jener professionelle Erfolg als Archäologe ein, auf den Hrozný an der Jahreswende 1919/1920 als Keilschriften-Professor mit seinem Artikel hingearbeitet hatte. Der in ganz Europa anerkannte tschechische Wissenschaftler wurde nach seinen Ausgrabungen eingeladen, das Stichwort „Hethiter“ sowohl für das erste tschechoslowakische Lexikon 21 als auch für die Encyclpaedia Britannica 22 zu verfassen. Kurz darauf fanden Hroznýs philologische und archäologische Entdeckungstaten auch Eingang in die erste tschechoslowakische Weltgeschichte: „Heute gibt es in der Welt der Wissenschaft keinen Streit mehr darum, dass die Hethiter zum indoeuropäischen Geschlecht (čeleď) gehören, was der tschechische Wissenschaftler Dr. Bedřich Hrozný nachgewiesen hat.“ 23 Da es sich um eine illustrierte Weltgeschichte handelte, lag es nahe, dass man eine hethitische Tontafel abbildete, die „aus den Funden der tschechischen Expedition des Dr. Hrozný“ stammte. 24 Diese Expedition betreffend wurde festgehalten, Hrozný habe über eine „Genehmigung der türkischen Regierung“ verfügt, was freilich wirklich der Fall war. Sein „wertvollster Fund“ sei ein „Handels- und Börsenarchiv“ gewesen, mit „Handelsbriefen (manchmal auch deren Kopien), Rechnungen, Bestellungen, aber auch Gerichtsfällen in Handelsstreitigkeiten“. 25 Zehn Jahre später war Hrozný dann selbst als Mitautor des (von ihm mehrfach und letztlich bis in die Zeit der deutschen Besatzung verzögerten) ersten Bandes am Projekt einer vielbändigen, dem Vorbild des Propyläen Weltgeschichte folgenden tschechoslowakischen Menschheitsgeschichte beteiligt. 26 F

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20 Hrozný, Bedřich, V říši půlměsíce. Cesty a výkopy v Turecku [Im Reich des Halbmondes. Reisen und Grabungen in der Türkei], Prag 1927. 21 Ders., Chetité [Hethiter], in: Masarykův slovník naučný, Bd. 3, Prag 1927, S. 456. 22 Ders., The Hittites, in: Encyclopaedia Britannica, Bd. 11, Chicago 141929, S. 598–608. 23 Kosina, Jaroslav, Ilustrované dějiny světové. Díl I. Starověk. Dějiny starého věku od počátku dějin do stěhovýní národů [Illustrierte Weltgeschichte. Teil I: Altertum. Geschichte des Altertums von den Anfängen bis zur Völkerwanderung], Prag 1929, S. 36. 24 Ebd. 25 Ebd., S. 47. 26 Hrozný, Bedřich, Vstup Přední Asie do dějin: Sumer, Akkad a Hethité [Der Einstieg Kleinasiens in die Geschichte: Sumer, Akkad und die Hethiter], in: Dějiny lidstva od pravěku k dnešku. Díl I. Světla východu a Hellady [Geschichte der Menschheit von der Urzeit bis heute. Teil I: Lichter des Ostens und der Hellada], Prag 1940, S. 265–384.

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In der bislang einzigen Überblicksgeschichte der tschechischen Historiographie ist Hrozný gleichwohl nicht mehr als ein halbe Seite Text gewidmet, dafür aber mit einem nahezu unübertrefflichen Ausdruck seiner Weltgeltung: „Mit der Entdeckungstat Bedřich Hroznýs drang die tschechische philologische und historische Wissenschaft durch in die Welt und half eine der Grundfragen der ältesten Weltgeschichte zu lösen.“ 27 F

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Dieses Urteil bezog sich auf die Entschlüsselung der hethitischen Sprache von 1915, träfe aber auch auf die Ausgrabungen von 1924/1925 zu, für deren Realisierung er in dem als Quelle gewählten Zeitschriftenbeitrag letztlich erfolgreich mit weltpoltischen Argumenten die Basis gelegt hatte. Dass er trotz der eingeübten Internationalität seines professionellen Tuns als altorientalistischer Linguist für die Erweiterung seines Karrierefeldes als Orientarchäologe bereit war die nationale Karte zu spielen, hat unzweifelhaft mit den politischen Gegebenheiten in Europa nach dem Ersten Weltkrieg zu tun. Diese pragmatisch zu nutzen, um neben den Sprachen auch die „unter der Erde“ verborgene Kultur des Alten Orients zu seinem Beruf zu machen, schien Hrozný ein Gebot der Stunde, auf die Zeichen der Zeit zu reagieren. Wie sonst wäre folgende, bewusst an das Ende dieses Essays gestellte Passage in seiner noch 1919 erschienen Antrittsvorlesung zu erklären: „Ich würde mir sehr wünschen – und dies wird mein heißestes Bestreben sein – daß es möglich werde, auch von hieraus, aus Prag, unter tschechischer Flagge Ausgrabungen an irgendeinem Orte des Orients zu unternehmen, damit sich auch auf diese Art der Name der tschechischen Nation unter den Namen der ersten Kulturnationen wiederfinde, die die Weltkultur verbreiten.“ 28 F

Literaturhinweise Matouš, Lubor, Bedřich Hrozný. Leben und Forschungswerk eines tschechischen Orientalisten, Prag 1949. Prosecký, Jiří, Bibliography of Bedřich Hrozný, in: Archiv orientální 67 (1999), S. 459– 502. Vavroušek, Petr, Pán chtitických tabulek [Der Herr der hethitischen Tafeln], Prag 2009. Zamarovský, Vojtěch, Auf den Spuren der Hethiter. Ein vergessenes Großreich wird entdeckt, Leipzig 1965.

27 Diese Weltbedeutungspassage findet sich wortgleich sowohl in: Kutnar, František, Přehledné dějiny českého a slovenského dějepisetctví [Überblicksgeschichte der tschechischen und slowakischen Historiographie], Bd. II, Prag 1977, S. 166, als auch in der von Jaroslav Marek besorgten einbändigen (und gekürzten) Neuauflage, Prag 1997, S. 578. 28 Hrozný, Bedřich, O problému hetitském a o úkolech vědy staroorientální vůbec [Über das hethitische Problem und überhaupt die Aufgaben der altorientalischen Wissenschaft], in: Nové Atheneum 1 (1919), S. 32–51, hier S. 37.

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Quelle Bedřich Hrozný: Nové úkoly orientální archeologie [Neue Aufgaben der Orientarchäologie] (1920) 29 F

Weltkrieg und Weltfrieden, die Europa gründlich revolutioniert haben, bringen auch die alte, jahrhundertlange Ordnung in Vorderasien zum Einsturz. Die alte nationalitätenstaatliche Türkei ist liquidiert; an ihre Stelle treten neue Nationalstaaten, ein arabischer oder mehrere arabische Staaten, ein jüdischer Staat (?)30 , ein armenischer Staat. Dabei teilt man den Vorderen Orient in mehrere politische Sphären: in eine englische, französische und italienische. Einige wenige Städte fallen Griechenland zu; den Rest bildet die Türkei. Diese weitreichenden Veränderungen erweitern auf ungeahnte Weise den Einfluss auf diese rückständigen Länder, in politischer wie in kultureller und wirtschaftlicher Hinsicht. Dies wird natürlich einen tiefgreifenden Einfluss auf die wissenschaftliche Erforschung dieser Länder haben, die unter den neuen Bedingungen weitaus einfacher wird als zuvor. Nicht nur die Geologie, Ethnologie und die Naturwissenschaften, sondern auch – und vor allem – die Orientarchäologie im weitesten Sinne, das heißt die altorientalische Geschichte, die Philologie, Epigrafik usw. werden den größten Nutzen aus der neuen Sachordnung im Vorderen Orient ziehen. Auch wenn es keine Orientarchäologen geben würde, die sich übrigens bereits zu Wort melden, führte allein die wirtschaftliche Entwicklung der vorderasiatischen Länder in neuerer Zeit zu einer näheren archäologischen Erforschung des Orients. […] Mit Ausgrabungen im Orient waren bisher vor allem die Engländer, Franzosen, Deutschen und Amerikaner befasst. Es reicht hier, die ruhmreichen Namen der Archäologen Rawlinson, Layard, Rassam, de Sarzeca, de Morgan, Koldewey, Andrae, Hilprecht, Peters und anderer zu nennen. Die neue politische Ordnung, von den Entente-Großmächten in Vorderasien eingeführt, wird ganz sicher eine mächtige Unterstützung für die Bemühungen der Orientarchäologen darstellen, den Orient durch Ausgrabungen zu erforschen. Es wird schon keine Hindernisse mehr geben, die die türkischen Gesetze und die türkische Bürokratie den Ausgrabungen in den Weg stellten: Im Gegenteil, die neuen politischen Verhältnisse und das lebendige wirtschaftliche Treiben, das sich im Orient entfaltet, erleichtert erheblich all diese Unternehmungen. […] Es ist meine feste Überzeugung, daß es unter den neuen Bedingungen die Pflicht auch unserer tschechoslowakischen Nation ist, sich an dem in den kommenden Jahrzehnten entwickelnden archäologischen Treiben zu beteiligen. Unsere Nation ist dazu zum einem durch seine Vergangenheit verpflichtet; als Volk von Bibellesern hat sie sich, hoffe ich, auch in der heutigen materialistischen Zeit so viel Idealismus erhalten, daß ihr das Forschen über die biblischen Länder nicht gleichgültig ist. Zum anderen ist sie dazu unstrittig auch durch die Gegenwart verpflichtet. Es ist überaus wahrscheinlich, daß eine der Folgen der deutschen Niederlage im Weltkrieg darin bestehen wird, daß Deutschland in der Zukunft archäologische Grabungen in Vorderasien nicht erlaubt sein werden. Deutschland hat mit seinen Ausgrabungen im Orient außer wissenschaftlichen Zielen mit großem Eifer auch politische Ziele verfolgt: Die Ausgrabungen in Babylon und Assur waren nur ein Element seiner am besten F

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29 Hrozný, Bedřich, Nové úkoly orientální archeologie [Neue Aufgaben der Orientarchäologie], in: Naše doba 27 (1920), S. 484–490. Aus dem Tschechischen übersetzt von Frank Hadler. 30 Dieser Artikel wurde vor mehreren Monaten geschrieben. Letzten Nachrichten zufolge ist die Gründung eines jüdischen Jerusalemer Staates eine abgewiesene Sache (věc odbytá).

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durch das Bagdadbahn-Projekt charakterisierten Außenpolitik. Deshalb werden die Engländer und Franzosen kaum bereit sein, Deutschland, wenn auch nur zu rein wissenschaftlicher Forschung, in die politisch so unberechenbaren vorderasiatischen Länder zu lassen. Die deutschen Archäologen rechnen bereits mit diesem unglückseligen Stand der Dinge: So hat die Deutsche Orient-Gesellschaft auf ihrer Vollversammlung im vergangenen Jahr beschlossen, daß sie sich in den kommenden Jahren nur mehr der Publizierung des wissenschaftlichen Materiales widmen werde, das in den vergangenen Jahrzehnten im Orient zusammengetragen wurde. Von einem rein theoretischen, fachlichen Standpunkte aus wird dieser wahrscheinliche Ausschluss der Deutschen vom Wettkampf auf dem archäologischen Kampfplatz Orient für die altorientalistische Wissenschaft unstrittig einen Verlust bedeuten. Es geht einfach nicht an, den Deutschen nicht zuzugestehen, daß ihre Orient-Gesellschaft sich mit ihren systematischen und kostspieligen Ausgrabungen im Orient große Verdienste um die Orientarchäologie erworben hat. Es genügt allein ihre Ausgrabungen in Assur, in Babylon und vor allem in Boghazköi zu erwähnen. Und hier, denke ich, wird es eine moralische Pflicht der Entente-Nationen sein, zu denen man auch unsere Nation zählt, diesen Verlust der deutschen archäologischen Arbeit durch eigene Arbeit zu ersetzen, eine nicht weniger systematische und nicht geringere aufopferungsvolle Arbeit. […] Lebendige Kultur- und Wirtschaftsbeziehungen mit dem Orient werden auf günstige Weise ergänzt durch unser aufrichtiges Interesse auch für den alten Orient, für die Vergangenheit eines Landes, das uns in kultureller Hinsicht derart viel – ich nenne nur die Religion und die Schrift – gegeben hat. Und im Gegenzug tragen die tschechoslowakischen Ausgrabungen in den vorderasiatischen Ländern auch zur Stärkung der wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen unserer Republik und dem Orient bei. Aus rein wissenschaftlichem Interesse gesehen, wie im Interesse unserer Verbindungen mit dem Orient, wäre die Einrichtung eines Instituts für Orientarchäologie wünschenswert zum Beispiel in Jerusalem, Bagdad oder anderswo, das unseren Archäologen Aufenthalt und Studium im Orient ermöglicht, sich um die Ausgrabungen sorgt, die orientalistischen Altertümer sammelt, auch den modernen Orient wahrnimmt, unseren Landsleuten, die den Orient besuchen, Berater wäre usw. Die Aufwendungen für ein solches Institut und die Ausgrabungen würde teilweise die Regierung, teilweise das neu eingerichtete Orientinstitut tragen.31 Ich will noch die Frage antippen, wo es sich empfehlen würde zu graben. […] Praktische Vorschläge können aber erst auf der Grundlage eine Autopsie gemacht werden, auf der Grundlage persönlicher Kenntnis der betreffenden Orte und aller lokalen Verhältnisse, politisch usw. Vor Beginn eines solchen Unternehmens wäre es nötig, einen geeigneten Archäologen auf eine Forschungsreise zu entsenden, damit er die Stellen heraussucht, die in Betracht kämen, und hernach konkrete Vorschläge macht. Zum Schluss kann ich mich der Bemerkung nicht erwehren, daß meiner Ansicht nach Syrien und Kleinasien die archäologischen Zukunftsländer sind. Eine der wichtigsten Entdeckungen der Orientarchäologie ist der Fund des Hethitischen königlichen Archivs, das in Boghazköi in Kleinasien ausgegraben wurde. Dieses Archiv, etwa 20.000 Fragmente und Tafeln umfassend, mit Keilschrift in hethitischer Sprache beschrieben, […] hat mit klarstem Lichte das uns bislang im Dunkeln verborgene Vor-Homerische Kleinasien erleuchtet. Jetzt wissen wir, daß um das J. 1500 v. Chr. in Kleinasien ein Volk herrschte, das eine indoeuropäF

31 In Frankreich werden ähnliche Unternehmen vom Ministère de l’instruction publique organisiert.

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ische Sprache sprach […]. Die Tontafeln aus dem hethitischen Archiv sind sehr bruchstückhaft. So sind vom hethitischen Gesetzbuch, dessen Edition ich vorbereite, zu großen Teilen nur kleine Fragmente erhalten; dasselbe gilt auch für andere wichtige Tafeln aus Boghazköi über die Staatsverträge, die Annalen der Hethiterkönige usw. Wo aber sind die fehlenden Teile dieser überwichtigen historischen Denkmale? Ganz sicher liegen sie bislang in Boghazköi unter der Erde. […] Bereits aus dieser kurzen und bruchstückhaften Übersicht ist ersichtlich, welch riesige Aufgaben der Orientarchäologie harren. Es wird der Beteiligung aller Kulturnationen bedürfen, sollen die umrissenen Aufgaben in befriedigender Weise gelöst werden. Ich würde mir wünschen, daß unter diesen Nationen, die dem Orient nur ihre alte Schuld zurückzahlen, unsere Nation nicht fehlen wird.

PROFESSIONALISIERUNG ALS DIPLOMATISCHE STRATEGIE: DAS US-AMERIKANISCHE CARNEGIE ENDOWMENT IN EUROPA VOR 1945 1 F

Helke Rausch Blickt man auf die professionellen Akteure, die Europa als „kulturellen Handlungsraum“ (so die Herausgeber) gestaltet haben, so lässt sich die Vorstellung von Europa auf eine spezielle Art plausibel machen: Im Licht ihrer Praktiken und Strategien erscheint Europa nicht nur als Bühne vielfältiger Interventionen, sondern auch als dichtes personales Vernetzungsgefüge und als filigraner Strukturzusammenhang, in dem die Professionalisierungsstrategien mit oftmals politischer Absicht betrieben wurden. Diese Sichtweise greifen die folgenden Überlegungen zu einem Quellentext auf. Dabei wird versucht, den Blick über die gedachten Randbereiche europäischer Handlungsspielräume und Konstellationen hinaus zu richten. Es soll um ein sprechendes Beispiel für die dynamischen Bezüge europäischer zu außereuropäischen Professionalisierern gehen, die sich spätestens seit dem frühen 20. Jahrhundert in die Definition Europas zutiefst eingeschrieben haben. Einen solchen amerikanischen Professionalisierer mit europäischer Agenda stellte das 1910/1911 gegründete Carnegie Endowment for International Peace (CEIP) dar. Als eine der zahlreichen vom amerikanischen Industriemagnaten Andrew Carnegie gegründeten Stiftungen betätigte sich das Endowment – ähnlich wie die Rockefellerstiftung während der 1920er-Jahre und später die Ford Foundation nach 1945 – als selbsternannter kultureller Mäzen und professioneller Förderer von Wissen. Mit teils kaschierten, teils offen formulierten (kultur-)diplomatischen und machtpolitischen Agenden wollte man sich federführend daran beteiligen, Europa als Raum moderner, transnational aufgestellter Wissenschaft mitzugestalten. 2 Steht das CEIP also im Mittelpunkt, dann nicht so sehr als punktuell oder ausnahmsweise intervenierende Variable in ein sonst überwiegend autopoietisches Akteursgefüge „Europa“. Vielmehr erscheinen die folgenden Momentaufnahmen vom US-amerikanischen Stiftungsengagement im Westeuropa der Zwischenkriegszeit symptomatisch für eine ganze Serie permanenter Infiltrationen quer über den Atlantik, die den europäischen Raum nachhaltig geprägt haben. Die Carnegie-, Rockefeller- und Ford-Stiftung betätigten sich dabei mit je unterschiedlichen Schwerpunkten als kulturdiplomatische Agenten der Professionalisierung akademischen Wissens in Europa im Geiste erst des Zwischenkriegsinternationalismus und später des Kalten Krieges. Zunächst einmal dezidiert amerikanisch definierte Institutionen zur transatlantischen Einflussnahme auf die Produktion von anwenF

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Essay zur Quelle: New Carnegie Work Planned for Europe (29. Juni 1926). Vgl. dazu vor allem die Literaturhinweise am Ende dieses Beitrags.

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dungsbezogenem wissenschaftlichem Orientierungswissen, waren die Stiftungen allerdings durchaus auch von europäischer Seite her nutzbar. Versuchten die amerikanischen Stiftungen in Europa als auswärtige Professionalisierer europäischer Wissenskultur aufzutreten, so rührte diese Ambition von programmatischen Grundüberzeugungen her, die sich mancher Veränderung zum Trotz wie ein roter Faden durch die mittleren Dekaden des 20. Jahrhunderts zogen. In letzter Konsequenz ging es darum, eine stark am USamerikanischen Vorbild orientierte Kultur und Praxis von akademischer Wissensproduktion europa- oder weltweit zu etablieren. Insbesondere sollte mit den Sozialwissenschaften einer Sorte politikberatender oder gesellschaftspolitisch anwendbarer Expertise zum Durchbruch verholfen werden, die, so die philanthropische Einschätzung, in den USA schon weithin erfolgversprechend genutzt wurde und nun auch die Entwicklungsprobleme des massiv krisenanfälligen modernen Europa würde lösen können. 3 Die Stiftungsaktivitäten des CEIP waren eingebettet in einen überaus betriebsamen Transatlantizismus: Zum einen waren die Carnegie-Philanthropen mindestens intellektuell federführend an den transnationalen Aushandlungen beteiligt, die im Windschatten steigender internationaler Spannungen 1919 zur Gründung des Völkerbunds führten. 4 Zum anderen flankierte in den Jahren nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs noch während der anfänglichen US-Neutralität bis 1917 und danach eine Welle von privaten und gouvernementalen relief programs vor allem im kriegsgeschädigten Belgien die Aktivitäten der Carnegiestiftung. 5 Ging es dort aber um punktuelle Sofortkatastrophenhilfe, visierten die CarnegiePhilanthropen eine langfristige kulturdiplomatische und wissenschaftspolitische Präsenz in Europa an. Mit den Agenten der relief-Maßnahmen verband sie freilich die zeittypische Überzeugung, dass das internationale Engagement besonders dann erfolgreich und effizient verlaufen würde, wenn es von US-Experten vorgeplant war. Schon lange bevor Roosevelt im Juli 1938 auf eine offizielle auswärtige Kulturpolitik der USA drängte, spielten sich die kulturdiplomatischen Aktivitäten des CEIP in außenpolitischen Gestaltungsräumen ab, in denen die Stiftung durchaus absprachepflichtig gegenüber dem US-amerikanischen State Department blieb. 6 Solche Handlungsräume wurden nicht nur für die Carnegie-, sondern auch für die Rockefeller- und Fordstiftungen später noch enger, erst angesichts des neuen F

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Vgl. Rausch, Helke, US-amerikanische “Scientific Philanthropy” in Frankreich, Deutschland und Großbritannien zwischen den Weltkriegen, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (2007), S. 73–98. Vgl. Dubin, Martin David, The Carnegie Endowment for International Peace and the Advocacy of a League of Nations, 1914–1918, in: Proceedings of the American Philosophical Society 123 (1979), S. 344–368. Dazu gehörte die von Hoover präsidierte Commission for Belgian Relief ebenso wie eine umfassende Kampagne des American Red Cross. Vgl. u.a. Warren, Whitney, American Charity in France. What has Been Done, What Remains to be Done, Boston 1916. Vgl. Ninkovich, Frank, The Diplomacy of Ideas. US Foreign Policy and Cultural Relations, 1938–1950, Cambridge 1981, Kap. 1.

Professionalisierung als diplomatische Strategie

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Weltkriegs und schließlich unter dem Eindruck der festgefahrenen Ost-West-Konfrontation. Zu schlichten Handlangern US-amerikanischer Außenpolitik konnten allerdings auch solche Handlungsbedingungen die Philanthropen nicht reduzieren. Vielleicht auch deshalb haben die Philanthropen die Wissensproduktion in Europa zu keinem Zeitpunkt vollständig bestimmt. Im Falle des CEIP, dessen Entscheidungsgremien sich vor allem aus republikanisch orientierten Anwälten, ehemaligen Diplomaten und führenden Vertretern der Wirtschaft und Wissenschaft rekrutierten, lagen die programmatischen Wurzeln der Wissenschaftsförderung in Europa offen zutage. Die Carnegie-Vertreter bekannten sich zu einem legalistischen Internationalismus: In der New Yorker Zentrale wie im Pariser Büro des Endowment unterstellte man, unter den Bedingungen unaufhaltsamen Fortschritts sei eine Weltfriedensordnung in einem dichten Regelwerk internationalen Rechts aushandelbar. 7 Auch setzte man auf einen quasi wissenschaftlich begründeten Antimilitarismus. Unter diesem Vorzeichen sympathisierte das CEIP zwar mit pazifistischen europäischen Organisationen, die vor und nach Kriegsausbruch die Nähe des Endowment suchten. Zugleich blieb es offiziell auf Distanz zu ihnen, indem sich der Stiftungsvorstand anders als sie mit der amerikanischen Kriegserklärung an Deutschland ausdrücklich solidarisch erklärte. 8 Obschon der Erste Weltkrieg und der Kriegseintritt der USA die Legalisten frustrieren mussten, versuchten die Carnegie-Strategen nach 1919 erneut, europäische Intellektuelle und Repräsentanten nicht nur aus Wirtschaft und Politik, sondern besonders aus der Wissenschaft zumindest formell an ihrer philanthropischen Mission teilhaben zu lassen. 9 Man rekrutierte sie, wie im Falle des deutschen Nationalökonomen Moritz Julius Bonn oder des französischen Germanisten Henri Lichtenberger, im weitesten Sinne aus den Reihen liberaler Anhänger der Idee zivilgesellschaftlicher Verständigung und Annäherung. 10 Solche innereuropäF

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Vgl. Organization of the Carnegie Peace Foundation, in: The Advocate of Peace 73 (1911), S. 74–75; Root, Elihu, The Outlook for International Law, in: Proceedings of the American Society for International Law 9 (1915), S. 2–11; vgl. zum CEIP allgemein u.a. Lutzker, Michael A., The Formation of the Carnegie Endowment for International Peace: A Study of the Establishment-Centered Peace Movement 1910–1914, in: Israel, Jerry (Hg.), Building the Organization Society. Essays on Associational Activities in Modern America, New York 1972, S. 143–162; Alexandre, Philippe, Messianisme et américanisation du monde. Les Etats-Unis et les organisations pacifistes de France et d’Allemagne à la vieille de la Première Guerre Mondiale (1911–1914), in: Themenportal Europäische Geschichte (2007), URL: http: www.europa.clio-online.de/2007/Article=192. (20.03.2012); zum Kontext vgl. Herren, Madeleine, Hintertüren zur Macht. Internationalismus und modernisierungsorientierte Außenpolitik in Belgien, der Schweiz und den USA 1865–1914, München 2000. 8 Vgl. Year Book of the Carnegie Endowment for International Peace 1918, Washington D.C. 1918, S. 18. 9 Vgl. Wegner, Jens, An Organization, European in Character. European Agency and American Control at the Centre Européen 1925–1940, in: Krige, John; Rausch, Helke (Hgg.), American Foundations and the Coproduction of World Order in the 20th Century, Göttingen 2012. 10 Vgl. Bock, Hans Manfred, Berlin – Paris, Paris – Berlin. Zur Topographie zivilgesellschaftlicher Begegnungen in der Locarno-Ära 1925–1930, in: Ders., Topographie deutscher

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ischen und transatlantischen wissenschaftspolitischen Vernetzungen, die das CEIP mitfinanzierte, sollten wesentlich zum Internationalism beitragen. Die speziell begünstigten Sozial- und Geisteswissenschaften sollten ihn intellektuell reflektieren und – so die zeitgenössische Erwartung – strategische Impulse dazu geben, ihn tatsächlich umzusetzen. 11 Davon zeugten nicht nur die Binnenstrukturen des Endowment, dessen drei Divisionen dem „International Law“, dem Studium von Kriegsursachen und -effekten in der „Division of Economics and History“ und der Förderung einer kooperativen Friedensarbeit in der Abteilung für „Intercourse and Education“ verpflichtet waren. 12 Diese Ausrichtung verkörperte auch eine ganze Reihe führender Persönlichkeiten an der Spitze des CEIP. Unter dem New Yorker Senator und früheren Secretary of War and of State Elihu Root, der dem Endowment bis Mitte der 1920er-Jahre vorstand, konzentrierte sich die Europäische Zentrale zunächst darauf, im Krieg zerstörte öffentliche und akademische Bibliotheken in Europa wieder in Stand zu setzen. Auf diesem Weg sollte vor allem jene traditionelle europäische Wissenschaftskultur erhalten werden, die man jetzt als dezidiert westliche, zivilisatorische Errungenschaft und verbindlichen Anknüpfungspunkt für die transatlantische Wissensallianz feierte. Zugleich war daran gedacht, die Infrastruktur verfügbaren Wissens, den technischen Zugriff und damit nicht zuletzt die Kanonisierungslogik dieses Wissens nach amerikanischer Maßgabe zu modernisieren. 13 In das Herz solcher amerikanischer Aktivitäten in Europa zielte an führender Stelle auch das Engagement Nicholas Murray Butlers. Kaum erkennbar hinter dem eher nüchternen Berichtsstil der US-Tagespresse, dem der beigefügte Quellentext aus der New York Times vom Juli 1926 entnommen ist, waren Butlers umtriebige Vernetzungsaktivitäten unmittelbarer Ausdruck einer weitreichenden philanthropischen Programmatik europäischer Intervention: Präsident der Columbia University in New York und stellvertretender Leiter der CEIP-Division of Intercourse and Education, spitzte Butler seit 1925 und bis 1945 die Professionalisierungstaktik der Carnegie-Philanthropie noch weiter zu. Deren Vorkriegsengagement bilanzierte er inzwischen nämlich skeptisch als übertrieben unpolitisch und zögerlich. 14 Dass das Endowment demgegenüber deutlich stärker sichtbar werden müsse und zwar vor allem an der Seite dezidiert demokratischer Kräfte in Europa, zählte zum Kernbestand seines Credos. Der lapidare Ton der Presseerklärung mochte leicht darüber hinwegtäuschen, wie energisch Butler im Zuge jener F

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Kulturvertretung im Paris des 20. Jahrhunderts, Tübingen 2010, S. 121–164 (Wiederabdruck aus: Ders., Mieck, Illja (Hgg.), Berlin – Paris (1900–1933). Begegnungsorte, Wahrnehmungsmuster, Infrastrukturprobleme, Frankfurt am Main 2005, S. 15–68. Vgl. Organization of the Carnegie Peace Foundation, S. 74–75. Vgl. u.a. Carnegie Endowment for International Peace. Year Book for 1911, Washington D.C. 1911. Vgl. u.a. Butler, Nicholas Murray; Putnam, Herbert, The Louvain Library, in: Bulletin of the American Library Association 17 (1923), S. 32–33. Vgl. Winn, Joseph W.; Butler, Nicholas Murray, The Carnegie Endowment for International Peace and the Search for Reconciliation in Europe, 1919–1933, in: Peace & Change 31 (2006), S. 555–584.

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unzähligen transatlantischen Reisen und Vorträge in Europa seine Überzeugungen als Prophet eines neuen International Mind und selbsterklärter transatlantischer Kulturdiplomat vortrug. 15 Nicht zuletzt diese von Butler verfochtene Neujustierung der CarnegieStrategie schlug sich in den beiden westeuropäischen Zentren amerikanischer Stiftungsaktivitäten ganz unmittelbar nieder. 1925 war bereits ein Carnegie-Lehrstuhl in Paris gestiftet worden. Auf eine zweite Professur, die 1927 an der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin (DHP) eingerichtet werden sollte, arbeitete Butler im Jahr des Presseberichts 1926 bereits tatkräftig hin. Beide Lehrstühle zielten – anders als dies für parallele Investitionen der Rockefeller-Stiftung an gleicher Stelle galt – nicht so sehr darauf, die sozialwissenschaftlichen Disziplinen in Europa als solche zu professionalisieren. Stattdessen war beabsichtigt, auf dem Weg individueller Austauschstipendien für Sozial- und Geisteswissenschaftler eine möglichst breite Gruppe vor allem deutscher und französischer Intellektueller für einen versöhnenden Verständigungsdiskurs im konfliktbelasteten Nachkriegseuropa zu gewinnen. 16 Zweierlei Probleme blendete der zeitgenössische Pressebericht freilich ganz aus: Zum einen blieb die Kluft zwischen den philanthropischen Plänen und ihrer Umsetzung im Rahmen der hier von Butler animierten europäischen Wissenschaftsförderung weit. Mitunter nahmen administrative Mechanismen solchen Initiativen die Wirkung, wenn etwa die Berliner Carnegie-Professur an der Deutschen Hochschule, wie mit einem Misstrauensvorbehalt belastet, lange international rotierend vergeben und erst Anfang der 1930er-Jahre dem Berliner Historiker Hajo Holborn zuerkannt wurde. Zum anderen und vor allen Dingen zeichnete sich aber schnell ab, dass das philanthropische Ansinnen, vor allem deutsche Wissenschaftler demonstrativ in den Kreis der ehedem entzweiten WissenschaftsCommunity wiederaufzunehmen, und damit auf eine deutsch-französische Kooperation und Annäherung hinzuwirken, gesamtgesellschaftlich und im Gros der europäischen Nachkriegspolitik nicht auf enthusiastischen Zuspruch stieß. 17 Die F

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15 Vgl. u.a. Dr. Butler Sails Today on Peace Fund Mission, in: New York Times, 04.06.1926, S. 13; Butler, Nicholas Murray, The International Mind. Opening Address of Dr. Butler […] May 15, 1912, in: The Advocate of Peace 74 (1912), S. 143–146 und Ders., The Development of the International Mind. Address Delivered Before the Academy of International Law, at The Hague July 20, 1923, in: Advocate of Peace Through Justice 85 (1923), S. 342–345. Als Kulturdiplomat apostrophierte sich Butler vor allem in seinen Memoiren. Vgl. Butler, Nicholas Murray, Across the Busy Years. Recollections and Reflections, Bd. 2, New York 1940, S. 86–227. 16 Zur Einrichtung des Carnegie-Lehrstuhls in Berlin vgl. Telegramm von E. B. Babcock aus Paris und Prittwitz an die DHP Berlin, 29. Oktober 1926 (Carnegie Endowment for International Peace, Centre Européen, Records 1911–1940, CEIP CE Box 182, Folder 6 Berlin (Carnegie Lehrstuhl), 1926–1927); zur Förderung der DHP vgl. vor allem Korenblat, Steven D., A School for the Republic? Cosmopolitans and Their Enemies at the Deutsche Hochschule für Politik 1920–33, in: Central European History 39 (2006), S. 394–430. 17 Vgl. zum Zwischenkriegseuropa: Steiner, Zara, The Lights That Failed. European International History, 1919–1933, Oxford 2007; Gerwarth, Robert (Hg.), Twisted Paths. Europe 1914–1945, Oxford 2007.

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philanthropische Strategie gestaltete sich demnach deutlich weniger planbar, als im programmatischen Artikel der New York Times suggeriert. Das CEIP schien hoffnungslos überlastet mit seiner Agenda, der Wiederannäherung vor allem der deutschen und französischen Zivilgesellschaften über die Einrichtung universitärer Lehrstühle in großem Stile voranzuhelfen. Und dennoch waren es die im New York Times-Artikel unerwähnten subtileren Teile des philanthropischen Programms, das die Carnegie-Vertreter durchaus erstens zu Professionalisierern und zweitens zu politischen Wissensdiplomaten machte. Dafür stand etwa ihre Förderung renommierten Personals wie des französischen Sozialwissenschaftlers André Siegfried im Zuge des Carnegie-LehrstuhlProgramms. Zum einen ging es den Philanthropen darum, mit Siegfried einen französischen (und eben nicht amerikanischen) Exponenten der noch kaum erkennbaren sozialwissenschaftlichen Disziplin der Internationalen Beziehungen zum Austausch nach Berlin zu bringen. Offenkundig sollte so einer Art innereuropäischem kognitivem Westernisierungseffekt der akademischen Eliten zugearbeitet werden. 18 Zum anderen suchten die Carnegie-Philanthropen Siegfried als französischen Amerikaexperten genau an den Schaltstellen der elitebildenden Einrichtung zu kreieren, als die sich sowohl die École Libre des Sciences Politiques (ENSP) als auch, an diese angelehnt, die DHP verstanden. Offenbar spekulierten sie darauf, dass Intellektuelle vom Schlage Siegfrieds als Lehrende an der ENSP und als politische Journalisten der zeitgenössischen amerikaskeptischen Stimmung in Frankreich entgegenarbeiten würden. 19 Damit blieben die Strategen des CEIP freilich erneut im Bereich reinen Kalküls und kaum überprüfbarer Erwartungen. Siegfrieds französische Amerikakunde, um bei diesem Beispiel zu bleiben, enthielt jedenfalls beides: Einerseits verwarf er die amerikanische Massenkultur, andererseits äußerte er sich emphatisch über die Dynamik, mit der die amerikanische Gesellschaft wandelbar schien. 20 Symptomatisch für das vergleichsweise geringe Ausmaß, in dem sich die Effekte US-amerikanischer Interventionen in den europäischen Wissensmarkt durch das CEIP planen ließen, war kaum erkennbar, ob Siegfrieds Einbeziehung in das Carnegie-Lehrstuhlprogramm dazu angetan war, das französische Amerikabild positiv zu beeinflussen. Anders als die philanthropische Programmatik glauben machte, wie sie der Presseartikel vom Juli 1926 einigermaßen ungefiltert weitergab, erwiesen sich auch andere, dort nicht erwähnte Fördertranchen des CEIP als eher unkalkulierF

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18 Zur Westernisierung als Zirkulation nicht nur transatlantischer, sondern auch innereuropäischer Ideenströme vgl. Doering-Manteuffel, Anselm, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999. 19 Vgl. zu Siegfried: Roussellier, Nicolas, André Siegfried, in: Julliard, Jacques; Winock, Michel (Hgg.), Dictionnaire des Intellectuels français. Les personnes, les lieux, les moments, Paris 1996, S. 1060–1061. 20 Vgl. Siegfried, André, Les Etats-Unis d’aujourd’hui (englische Übersetzung: America Comes of Age 1927); Kennedy, Sean, André Siegfried and the Complexities of French Anti-Americanism, in: French Politics, Culture & Society 27 (2009), S. 1–22. Siegfrieds Buch hatte hohe Auflagen- und Verbreitungszahlen. Vgl. Favre, Pierre, Naissances de la science politique en France 1870–1914, Paris 1989, S. 289.

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bar. Dies gilt ganz deutlich für die unwägbaren Langzeiteffekte, die aus der erheblichen Subventionierung der über hundertbändigen Economic and Social History of the World War durch die Carnegie-Stiftungen (Endowment und Corporation) im Umfang von knapp 850.000 US-Dollar resultierten. Für die Carnegiestiftung koordinierte James T. Shotwell das Projekt, seit 1917 nicht nur in seiner Eigenschaft als etablierter Historiker an der New Yorker Columbia University, sondern vor allem als ehemaliger außenpolitischer Berater Präsident Wilsons während der Pariser Friedenskonferenz. Shotwell spielte später eine wesentliche Rolle bei der Aushandlung des Kellogg-Briand-Pakts und stand 1949/1950 selbst kurzzeitig dem Endowment vor. 21 In seinem editorischem Mammutprojekt spiegelte sich die einschlägige philanthropische Erwartung an „Europa“ wider, die Vertreter der verfeindeten Mittelmacht- und Entente-Staaten aus der Spirale anhaltender propagandistischer Verwerfungen herauszuholen und sie stattdessen auf ein innereuropäisch egalitäres, wiewohl unmissverständlich US-amerikanisch kontrolliertes Diskursverfahren über die Ursachen des Ersten Weltkrieges zu verpflichten. Beabsichtigt war darüber hinaus auch ein Professionalisierungseffekt für die Historiographie über den Weltkrieg. Unter amerikanischer Ägide schrieben an der Economic and Social History allerdings nur zum kleineren Teil europäische Historiker mit, während viele Autoren sich aus den Reihen ehemaliger Diplomaten und Experten verschiedenster Provenienz rekrutierten. In der internationalen Historiographie hinterließen die Bände wohl auch deshalb kaum langfristige Spuren. Sie liefen allerdings dem zeitgenössischen Haupttrend nationalstaatlicher Geschichtsschreibung entgegen, die sich in der Regel auf nationale Politik- und Militärgeschichte kaprizierte. Demgegenüber zielte das Carnegie-Projekt darauf ab, sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Aspekte zumindest der wichtigsten Kriegsteilnehmerstaaten systematisch nebeneinanderzustellen und bei aller Staatszentriertheit auch die Situation an den Heimatfronten der europäischen Gesellschaften mit in den Blick zu nehmen. 22 Zugleich wurde im Zusammenhang mit dem Economic and Social History of the World War-Projekt aber auf symptomatische Weise erkennbar, dass die philanthropische Organisation kein monolithischer Selbstläufer war. In diesem Sinne trat anlässlich von Shotwells Großprojekt zutage, dass die Emphase für eine Art aufklärerische, anwendungsorientierte Historiographie als Form einer wissensbasierten Kriegsprävention innerhalb der Stiftung keinesfalls immer konsensfähig war: Stattdessen argwöhnten mit Frederic A. Delano und James Brown Scott profilierte progressive Reformer im Stiftungsrat des Endowment, manche Bände könnten, diametral im Widerspruch zur editorischen Absicht der Amerikaner, eher F

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21 Vgl. Shotwell, James T., Economic and Social History of the World War, Washington 1924; Josephson, Harold, James T. Shotwell and the Rise of Internationalism in America, Madison 1974, S. 111–112, 160; Wala, Michael, Weimar und Amerika. Botschafter Friedrich von Prittwitz und Gaffron und die deutsch-amerikanischen Beziehungen von 1927–1933, Stuttgart 2001, S. 69; zur Beteiligung eines deutschen Komitees vgl. Germans to Help Write War History, in: The New York Times, 28.12.1922, S. 6. 22 Vgl. Horne, John, Introduction, in: Horne, John (Hg.), A Companion to World War I, Oxford 2010, S. 23.

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als Handreichung für das Kriegshandwerk missverstanden werden. Auch tendierten die Bände womöglich zu einem Rechtfertigungsstil, der dem Objektivitätspostulat der Carnegie-Vertreter widersprechen müsse. Womöglich auch deshalb intervenierte Shotwell besonders stark, wo er einem revisionistischen Unterton der Autoren glaubte zuvorkommen zu müssen, mit dem gelegentlich auch anderen als der deutschen Regierung eine Mitverantwortung für den Kriegsausbruch unterstellt und der US-amerikanische Kriegseintritt kritisch kommentiert wurde. 23 Im politischen und gesellschaftlichen Kontext der späten 1920er- und 1930erJahre, in denen Europas Demokratien strauchelten und schließlich mehrheitlich totalitär umkippten, fanden dergleichen Aktivitäten des Carnegie Endowment in Europa nur schwer Widerhall. Bezeichnend blieb aber das amerikanische Projekt, eine neue, als „modern“ ausgewiesene Art europäischen Wissens über den Ersten Weltkrieg voranzutreiben, indem man eine ökonomisch ausgerichtete Erforschung der Kriegsursachen und -effekte lancierte. Zugleich sollte das in den Kriegsjahren nationalistisch verengte europäische Traditionswissen – über die vermeintliche zivilisatorische Differenz zwischen den Kriegsgegnerstaaten und -gesellschaften 24 – diskreditiert und eine Art unpolemischer Vernunftdiskurs unter den ehedem Verfeindeten angestoßen werden. Im Hinblick auf Deutschland verband sich das Carnegie-Programm schließlich mit einer bemerkenswerten amerikanischen Intervention in das Institutionengefüge der Weimarer Wissensgesellschaft. So begünstigten die Carnegiegelder die bis zur Gleichschaltung weitgehend liberal geprägte Berliner Hochschule, die – ursprünglich am französischen Vorbild orientiert – außeruniversitär gegründet worden war und für die Versorgung der deutschen Nachkriegseliten mit demokratischer Expertise sorgen wollte. Ähnlich favorisierte auch die Rockefellerstiftung in diesen Jahren das ebenfalls privat betriebene Hamburger Institut für Auswärtige Politik. Unter der Leitung des Juristen Albrecht Mendelssohn-Bartholdy lief dort nicht nur die Editionsarbeit deutscher Beiträge zur Economic and Social History of the World War. Die Amerikaner nahmen das Institut als, wenn auch nachrangiges, Pendant zum American Council on Foreign Relations und zum Londoner Royal Institute of International Affairs (Chatham House) wahr. Mithin sollte es als Institution neuer Ordnung, als deutscher Think Tank und potentieller Berater deutscher Politik im Sinne legalistischer Aushandlungspolitik und Verständigung dienen. 25 Die Intervention US-amerikanischer Philanthropen im europäischen Raum, hier im Prisma einiger CEIP-Aktivitäten eingefangen, blieb langfristig bedeutsam – wenn auch in weit bescheideneren Dimensionen als im Stiftungsprogramm und F

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23 Vgl. Josephson, James T. Shotwell, S. 110. 24 Vgl. Mommsen, Wolfgang J., Die europäischen Intellektuellen. Schriftsteller und Künstler und der Erste Weltkrieg, in: Ders., Bürgerliche Kultur und politische Ordnung. Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle in der deutschen Geschichte 1830–1933, Frankfurt am Main 2002, S. 196–215. 25 Vgl. u.a. Beardsley Ruml an Mendelssohn-Bartholdy, 16. November 1925 (Rockefeller Archive Center, Tarrytown, New York, Laura Spelman Rockefeller Memorial Series III Subs. 6, Box 52, Folder 561).

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im, als Quelle zu diesem Beitrag, zitierten Presseartikel anvisiert. Zum einen machten die Förderaktivitäten das CEIP zu einem wichtigen politisch-diplomatischen Koalitionspartner liberaler Internationalisten im Europa der Zwischenkriegsjahre. In ihrer teils kulturdiplomatischen, teils machtpolitischen Katalysatorfunktion ist die zentrale Bedeutung der US-Philanthropen für den europäischen Wissenschaftsraum zu sehen. Zum anderen suspendierten die Carnegie-Philanthropen in gewisser Weise auch bis dahin gültige Regeln der Professionalisierung und Disziplinenbildung, wie sie sich spätestens im 18./19. Jahrhundert eingeschliffen hatten, indem sie nicht selten außeruniversitäre, private Forschungseinrichtungen und -projekte subventionierten. Denn noch bis deutlich in das 20. Jahrhundert hinein waren es in erster Linie die Universitäten gewesen, die über die Professionalisierungschancen neuer Berufsgruppen an zentraler Stelle mit entschieden. Nur so erklärt sich der bisweilen verzweifelte Ehrgeiz, mit dem sich die seit dem frühen 20. Jahrhundert gerade erst herausbildende Experten-Community europäischer Sozialwissenschaftler darum bemühte, universitär anerkannt zu werden, um als professionelle Sozialwissenschaftler gelten zu können. 26 Das politisch motivierte Mäzenatentum der Carnegie-Stiftung zugunsten außeruniversitärer Institute und Projekte eröffnete den europäischen Akteuren dort die Möglichkeit, etablierte Wirkungszusammenhänge bei der Generierung professionellen Wissens aufzuweichen. Denn mit den US-amerikanischen Geldern entstanden potenzielle Handlungsspielräume für die Bereitstellung von als „modern“ klassifizierter Expertise jenseits universitärer Kontrollinstanzen der Professionalisierung. Damit erwies sich die Carnegie-Philanthropie in doppeltem Sinne als symptomatischer Moment einer außereuropäischen Prägung des europäischen Raums der Zwischenkriegsjahre: als Intervention in kulturdiplomatischer und politischer Absicht und als transatlantischer Impuls zur Entwicklung des europäischen Professionsraums. F

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Literaturhinweise Berghahn, Volker R., Philanthropy and Diplomacy in the „American Century“, in: Diplomatic History 23 (1999), S. 393–419. Krige, John; Rausch, Helke (Hgg.), American Foundations and the Coproduction of World Order in the 20th Century, Göttingen 2012. Winn, Joseph W., The Carnegie Endowment for International Peace. Missionaries for Cultural Internationalism, unveröffentlichtes PhD-Manuskript, Lexington, University of Kentucky 2004.

26 Vgl. dies in Anlehnung an Stichweh, Rudolf, Professionen und Disziplinen: Formen der Differenzierung zweier Systeme beruflichen Handelns in modernen Gesellschaften, in: Ders., Wissenschaft, Universität, Professionen. Soziologische Analysen, Frankfurt am Main 1994, S. 278–336.

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Quelle New Carnegie Work Planned for Europe (1926) 27 F

London, July 28. – Important increases in European operations of the Carnegie Endowment for International Peace were made known today by Dr. Nicholas Murray Butler of Columbia University, President of the Endowment, before sailing for New York from Southampton on the Majestic. Dr. Butler has spent two months in Europe, chiefly in Paris, Berlin and London, in the interest of the Endowment. He has been in conference with many leaders in public life and in the intellectual world with a view to obtain suggestions and cooperation. The new Carnegie plans are designed to strengthen the work of international good-will already being carried on in Europe, especially in France, Germany and Austria, in which countries systematic courses of lectures to be given. The main project envisaged is the publication of a quarterly review of international affairs, to be entitled The International Mind, which will appear in January next year. […] Especially interesting is the announcement that similar arrangements with the German Political School in Berlin have been arranged to mark the “hearty cooperation” which Germany are giving to the Carnegie peace movement. Dr Butler’s announcement was as follows: […] “A most important step in advance will be made for 1926-27 by the cooperation between the Carnegie Endowment and the Institute des Hautes Etudes Internationales, established as part of the advanced and research work of the University of Paris. Lectures and discussion offered by the Institution, other than on purely juridical topics, will be given in the Lecture Hall of the Carnegie Endowment Building. Various other courses of lectures and discussions are in the process of organization and will definitely be announced in September. […] “In Berlin cooperation will be established between the Endowment and the Deutsche Hochschule in Politik, where a Carnegie Chair will also be established and occupied each year by a different German or foreign scholar. “The first incumbent of the chair will probably be an American or English authority on international relations. “The Endowment proposes to continue its policy of multiplying contacts as far as practicable between groups drawn from different lands having like interests. International conferences and meetings will be steadily encouraged, whether economic, industrial, literary, scientific or other.”

27 New Carnegie Work Planned for Europe, in: New York Times, 29.07.1926.

UNGLEICHE SCHWESTERN IN DER EUROPÄISCHEN FAMILIE: RUSSISCHE ORIENTALISTIK UND SOWJETISCHE AFRIKANISTIK ALS TEIL DER EUROPÄISCHEN REGIONALWISSENSCHAFTEN SEIT DEM ENDE DES 19. JAHRHUNDERTS 1 F

Steffi Marung Aus mindestens zwei Richtungen wären Nachfragen wegen der Themenwahl für diesen Essay zu erwarten. Zum einen: Waren russische und sowjetische Fachleute für außereuropäische Weltregionen Teil der europäischen wissenschaftlichen Gemeinschaft? Und zum anderen: Die hier vorzustellende Berufsgruppe beschäftigte sich nun gerade nicht mit Europa, sondern verfolgte ein professionelles Interesse an gänzlich anderen Weltregionen. Inwiefern kann also für sie ein Platz in diesem Band gefunden werden? Die erste Frage sei eingangs schon einmal eindeutig bejaht, bevor dies weiter unten näher erläutert wird. Und zur zweiten wird im Folgenden zu zeigen sein, dass der Bezug auf Europa bei der Herausbildung der russischen Orientalistik und der sowjetischen Afrikanistik seit dem 19. Jahrhundert eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte. Diese Verbindung ergab sich nicht zuletzt deshalb, weil „in Afrika“ und „im Orient“ konkurrierende Europa-Vorstellungen und Europäisierungsprojekte aufeinander trafen: nämlich Vorstellungen von Afrika als Ergänzungsraum des europäischen Hochimperialismus einerseits und Afrika als Aktions- und Zielraum der revolutionären Avantgarde unter Führung der sich als anti-kolonial und anti-imperial(istisch) verstehenden Sowjetunion andererseits. Doch obwohl – oder vielleicht gerade weil – es diese Konkurrenz gab, war der vergleichende Blick auf andere europäische politische und wissenschaftliche Projekte in und mit diesen Weltregionen zentral. In welcher Weise dieser Bezug hergestellt wurde, wandelte sich und wurde besonders in Krisenmomenten immer wieder neu verhandelt. So spiegelt sich in der diesem Essay beigefügten Quelle ein Moment großer Verunsicherung. Gleichzeitig wurde sich hier noch einmal Vergewisserung verschafft in Bezug auf die wissenschaftliche und gesellschaftliche Position zweier Regionalwissenschaften, deren Geschichte in der Sowjetunion mal enger, mal loser miteinander verknüpft war. Die Verflechtungen zwischen der Orientalistik 2 und der Afrikanistik schlug sich auch in der Gründung einer gemeinsamen ZeitF

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Essay zur Quelle: Wissen für eine neue Weltordnung. Die Perspektiven der Perestroika in der sowjetischen Zeitschrift Narodi Azii i Afriki (1989). Der russische Begriff für dieses Fach, „Vostokovedenie“, ist mit Orientalistik nicht ganz treffend übersetzt, da sich die geographische und inhaltliche Ausrichtung des russischen Unternehmens vom deutschen teilweise unterschied. Mit diesem Vorbehalt wird im folgenden die deutsche Bezeichnung „Orientalistik“ weiter verwendet.

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schrift nieder, Die Völker Asiens und Afrikas, aus der die hier in Auszügen dokumentierte Diskussion der am 7. Juni 1988 anberaumten Redaktionskonferenz stammt. 3 Herausgefordert von Perestroika und Glasnost, aber auch in Reaktion auf eine offensichtlich brüchig werdende alte Weltordnung diskutierten die neu berufenen Mitglieder des Gremiums die zukünftige Ausrichtung der Zeitschrift. Wie unter einem Brennglas verschmolzen dabei mehrere Probleme: Wie sollten Afrikanisten und Orientalisten auf den gesellschaftlichen Umbau und die sich abzeichnende neue globale Ordnung reagieren? Welche Folgen könnten diese Vorgänge für die innere Ordnung des Fachs haben? Und waren vor diesem Hintergrund die wissenschaftlichen Standards neu zu bewerten? Insofern suchte sich dieses Forum als „Schrittmacher akademischer Professionalisierung“ zu präsentieren. 4 Aus diesem Grund lassen sich hier Hinweise darauf erhoffen, wie sowjetische Afrikanisten und Orientalisten über ihren akademischen Beruf nachdachten, welche Bedeutung sie Europa – und dem Rest der Welt – zumaßen und was das eine mit dem anderen zu tun haben könnte. Um das Ringen der hier versammelten Gruppe von Orientalisten und Afrikanisten um eine neue gemeinsame Position im gesellschaftlichen Umbruch der Perestroika, aber auch in der sich abzeichnenden Neuordnung der Welt zu verstehen, ist ein Blick zurück in das 19. Jahrhundert in die Blütezeit der russischen Orientalistik hilfreich, jener Disziplin, aus der heraus sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die sowjetische Afrikanistik entwickelte. Diese Reise in die Vergangenheit ist in der gebotenen Kürze auch deshalb notwendig, um das Erbe der russischen und sowjetischen Forscher in der europäischen und internationalen Wissenschaftslandschaft zu rekonstruieren. In ihren Anfängen schien die russische Orientalistik im hohen Maße ein deutsches Unterfangen zu sein. Peter I. hatte im 18. Jahrhundert deutsche Fachleute wie Gottlieb-Siegfried Bayer und Georg Jakob Kehr an die 1724 begründete Akademie der Wissenschaften geholt. 5 Diese kümmerten sich jedoch vor allem um ihre eigenen Forschungen und weniger um die Ausbildung von Studenten, weshalb ihr Einfluss auf die junge russische Disziplin letztlich begrenzt blieb. Mitte des 18. Jahrhunderts hatten alle russischen Geisteswissenschaften unter der Wissenschaftspolitik der Zarin Elisabeth zu leiden, die nur in den Naturwissenschaften nützliche Wissensproduzenten sah. Doch im Laufe des 19. Jahrhunderts erwachte das russische Interesse an der Orientalistik erneut. Sie stieg nun auch im Kontext einer neuen imperialen Politik im eurasischen Osten an die Spitze des europäischen Wissenschaftsfeldes jener Zeit auf. Bevor Lehre und Forschung in F

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Die Perspektiven der Perestroika in der Zeitschrift (Versammlung des neuen Redaktionskollegiums), in: Narodi Azii i Afriki 35 (1989), S. 5–19. Im Folgenen stammen alle Quellenzitate, soweit nicht anders vermerkt, aus den hier abgedruckten Quellenausschnitten. Middell, Matthias, Vom allgemeinhistorischen Journal zur spezialisierten Liste im H-Net. Gedanken zur Geschichte der Zeitschriften als Elemente der Institutionalisierung moderner Geschichtswissenschaft, in: Ders. (Hg.), Historische Zeitschriften im internationalen Vergleich, Leipzig 1999, S. 7–31, hier S. 7. Vgl. hier und im Folgenden: Schimmelpenninck van der Oye, David, Russian Orientalism. Asia in the Russian Mind from Peter the Great to the Emigration, New Haven, Conn. 2010.

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Ungleiche Schwestern in der europäischen Familie

Sankt Petersburg und Moskau unter Nikolaus I. in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zentralisiert wurden, waren es vor allem die Universitäten in Charkov und Kazan, die europäische Vorreiter für die Beschäftigung mit „dem Osten“ wurden. Zunächst wurden die Professuren auch dort von deutschen Wissenschaftlern besetzt. Der erste russischstämmige Orientalist in Moskau, Aleksej Bodyrev, hatte in Göttingen und Paris studiert, bevor er 1811 nach Moskau kam. Aber auch hier war das Erbe der Deutschen wenig nachhaltig, zum einen weil die Zahl der von ihnen ausgebildeten Studenten wiederum klein blieb, zum anderen weil sie sich selten bemühten, ihre Ergebnisse auf russisch zu publizieren. Neu im europäischen Vergleich war seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die thematische Breite der russischen linguistischen, historiographischen und anthropologischen Arbeiten sowie die frühe Integration zentral- und ostasiatischer gebildeter Akademiker – Muttersprachler – in das russische Wissenschaftssystem. Damit stellten sich die orientalistischen Institute in den russischen Metropolen als im hohen Maße internationale Unternehmungen dar, in denen westliche und östliche Fachleute zusammengeführt wurden. Die 1855 gegründete Sankt Petersburger Einrichtung schließlich blieb bis 1917 einzigartig, denn nirgendwo sonst gab es weltweit eine ganze der Orientalistik gewidmete Fakultät. Der exzellente Ruf der russischen Orientalistik war gegen Ende des 19. Jahrhunderts vor allem mit dem Namen Viktor Romanovič Rozen 6 verbunden, ein Arabist, der von 1893 bis 1902 als Dekan der Orientalistischen Fakultät in Sankt Petersburg wirkte und zahlreiche Orientalisten zu seinen Schülern zählte, die über den politischen Umbruch 1917 hinaus einflussreich waren, wie Vasilij Vladimirovič Bartol’d, Sergej Fedorovič Ol’denburg und Nikolaj Jakovlevič Marr. Als Deutschbalte publizierte Rozen zunächst fast ausschließlich auf Deutsch, bevor er in den 1860er-Jahren nach Sankt Petersburg kam. Allerdings war seine nichtrussische Herkunft im multiethnischen Russischen Reich durchaus mit seinem Vorhaben vereinbar, die russische Orientalistik an die Weltspitze zu führen. Diesem Unterfangen kamen seine hervorragenden wissenschaftlichen Beziehungen nach Österreich und Deutschland zugute. Seine Strategie einer forcierten Internationalisierung der Disziplin stand also nicht im Widerspruch zum Projekt ihrer Nationalisierung, sondern stützte dieses. Er forderte seine Schüler auf, im (westlichen) Ausland Erfahrungen zu sammeln. Außerdem institutionalisierte er den internationalen Austausch durch die Gründung der Zeitschrift Zapiski, die 1886 als erstes orientalistisches Periodikum in Russland erschien, und in der regelmäßig Besprechungen internationaler Forschung ebenso wie Originalquellen veröffentlicht wurden – weshalb die Zeitschrift auch über die Sprachbarriere hinweg von westlichen Wissenschaftlern konsultiert wurde. Unter seinen Schülern setzte Sergej Ol’denburg, Spezialist für Indien und China, das Internationalisierungsprojekt möglicherweise am effektivsten fort. Ebenfalls deutscher Abstammung war er für seine Forschungen auch nach Paris, Cambridge und London in Bibliotheken gereist. Mit der Bibliotheca Buddhica F

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Vgl. hier und im Folgenden: Tolz, Vera, Russia's Own Orient. The Politics of Identity and Oriental Studies in the Late Imperial and Early Soviet Periods, Oxford 2011.

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begründete er 1987 ein großes internationales Projekt, an dem Fachleute aus Deutschland, Frankreich, Japan, England und Russland an der Edition buddhistischer Texte arbeiteten und die bis heute einen hervorragenden Ruf genießt. Auf diese Weise waren die russischen Orientalisten des 19. Jahrhunderts einerseits ein wichtiger Teil der paneuropäischen Orientalistik. Andererseits entwickelten sie früh eine radikale Kritik am (west-)europäischen Imperialismus gegenüber den „Völkern des Ostens“ und missbilligten den unbeirrbaren Glauben an eine Überlegenheit des Westens. Die Historikerin Vera Tolz sieht darin bereits eine Vorwegnahme jener Argumente, mit denen postkoloniale Kritiker die westlichen Geisteswissenschaften am Ende des 20. Jahrhunderts einer grundsätzlichen Revision unterzogen. Arabische Intellektuelle, die in der Sowjetunion studiert hatten, wurden in den 1960er-Jahren, so Tolz, von dieser russisch-sowjetischen Imperialismuskritik nachhaltig geprägt. 7 Edward Saids einflussreiche Thesen verdanken sich also auch einem Ost-West-Süd-Transfer. Die Kritik am europäischen Imperialismus und Kolonialismus gehörte auch zu den Gründungsbekenntnissen der sowjetischen Afrikanistik. Diese verdankte ihre Professionalisierung den Aktivitäten der KomIntern in den 1920er-Jahren, den globalen politischen Umwälzungen im Zuge der Dekolonisierung in den 1960er-Jahren und ihrer engen Verbindung zur russischen bzw. sowjetischen Orientalistik. Die Anfänge der russischen und später sowjetischen Beschäftigung mit Afrika lassen sich in die Zeit vor der Oktoberrevolution zurückverfolgen. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wandten sich russische Orientalisten auch der Erforschung von Teilen des afrikanischen Kontinents zu. Eine eigenständige Afrikanistik entwickelte sich in den 1920er- und 1930er-Jahren dann einerseits aus der Orientalistik, andererseits in einem engen inhaltlichen und institutionellen Zusammenhang mit der 1919 gegründeten KomIntern. Die mehr oder weniger enge Verbindung zwischen Orientalistik und Afrikanistik löste sich auch im Verlauf der folgenden Jahrzehnte nie ganz, auch wenn sie nicht immer konfliktfrei blieb. Die Expansion der afrikanistischen Forschung und Lehre setzte um das sogenannte Afrikanische Jahr 1960 herum ein, als eine breite Dekolonisierungswelle eine Vielzahl afrikanischer Gesellschaften gleichzeitig ergriff. Zur selben Zeit wurde das sowjetische Bildungs- und Hochschulwesen enorm ausgeweitet, was der jungen Regionalwissenschaft ebenfalls zugute kam. Das 1960 begründete Afrikainstitut der Akademie der Wissenschaften, das bis heute das größte seiner Art weltweit ist, verdankt seine Gründung diesen Umständen. Eine besondere Rolle übernahm die 1960 als Universität der Völkerfreundschaft eröffnete und 1961 in Patrice-Lumumba-Universität umbenannte Ausbildungsstätte für Studenten aus Afrika, Asien und Lateinamerika, denn die hier aufgenommenen afrikanischen Studenten boten in gewisser Weise Möglichkeiten zur „Feldforschung“ – in Moskau. Bereits in den 1920er- und 1930er-Jahren waren erste Abteilungen für Afrika an einzelnen Lehr- und Forschungsanstalten der KomIntern eingerichtet worden. F

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So erhielt die Universität der Ostarbeiter (KUTV) – eine der vier Parteischulen der KomIntern der 1920er-Jahre – eine afrikanistische Abteilung. Im Jahr 1927 wurde innerhalb der KUTV ein Forschungsinstitut für nationale und koloniale Fragen (NIANKP) gegründet, das ab 1929 eigenständig operierte und ebenfalls eine afrikanistische Abteilung erhielt. Die Professionalisierungswege der russischen und später sowjetischen Orientalisten unterschieden sich dabei in jener Zeit von jenen der frühen Afrikanisten. Erstere waren mehrheitlich grundständig akademisch ausgebildet worden und unterhielten zumeist intensive wissenschaftliche Kontakte nach Westeuropa. Letztere rekrutierten sich häufig aus politischen Aktivisten aus dem Umkreis der KomIntern und pflegten in diesem Zusammenhang ebenfalls vielfältige internationale Kontakte, die jedoch zunächst eher politisch motiviert waren. Und während sich die Expertise der Orientalisten vor allem auf Kenntnis der Geschichte und Sprachen der Region gründete, beherrschten viele Mitglieder der ersten Generation der sowjetischen Afrikanisten keine der afrikanischen Sprachen und besaßen auch sonst keine besonderen regionalspezifischen Vorkenntnisse. Zu dieser heterogenen Gruppe der ersten sowjetischen Afrikanisten gehörten politische Emigranten aus Deutschland und Ungarn ebenso wie Orientalisten, die ihre regionalen Interessen neu ausgerichtet hatten. Die wissenschaftliche Biographie von Dmitrij Alexeevič Ol’derogge, der bis heute als Patriarch der sowjetischen Afrikanistik verehrt wird, vereint eine Reihe der Brüche und Wechsel zwischen verschiedenen politischen Welten, innerhalb derer sich die russischen bzw. sowjetischen Regionalwissenschaften positionieren mussten. Sein Berufsweg begann im späten Zarenreich und nahm unter Stalin, Chruščëv und Brežnev bis zur Ära Gorbačëv verschiedene Wendungen. In seiner Karriere zeigen sich dabei spezifische Professionalisierungspfade sowohl von russischen Orientalisten als auch von sowjetischen Afrikanisten. Ol’derogge wurde 1903 in Vilnius als Sohn eines russischen Offiziers mit deutschen Wurzeln geboren. Er schlug nach Familientradition zunächst eine militärische Karriere ein, die durch die Ereignisse des Jahres 1917 eine neue Wendung erhielt. Nach seinem Dienst in der Roten Armee 1920 bis 1922 trat er in die Sankt Petersburger Universität ein und studierte bei Bartol’d Ägyptologie. In den späten 1920er-Jahren wurde er von der Akademie der Wissenschaften nach Deutschland, Belgien und Frankreich geschickt, um sich dort mit den führenden Afrikanisten und Orientalisten – unter anderem mit dem Mitbegründer der deutschen Afrikanistik Diedrich Westermann – auszutauschen und Erfahrungen zu sammeln. Diese sollten für den Aufbau der Afrikaabteilung des Museums für Ethnologie und Anthropologie in Sankt Petersburg genutzt werden. Ende der 1930er-Jahre wurde er Direktor des Museums für Ethnologie und Anthropologie (heute: Kunstkammer). Nachdem er und andere Afrikanisten die stalinschen Säuberungen überstanden hatten, folgte er dem Arabisten Nikolaj Vladimirovič Jušmanov auf den Lehrstuhl für Afrikastudien an der Orientalistischen Fakultät der Staatlichen Universität Leningrad. Er gehörte zu den wenigen sowjetischen Afrikanisten, die bereits in den 1950er- und 1960er-Jahren zu Feldforschungen nach Afrika fahren konnten. So reiste er nach Ägypten, Senegal und Mali. Ol’derogges Weg in die Afrikanistik

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begann also nahe an der Orientalistik und mit einer universitären Ausbildung. Seine Karriere durchzog von Anfang an ein Netz weitreichender internationaler wissenschaftlicher Kontakte. Drei weitere Protagonisten der frühen sowjetischen Afrikanistik waren eher über ihre politischen Aktivitäten zu Spezialisten für die Region geworden. Ivan Izosimovič Potechin, im selben Jahr wie Ol’derogge geboren, entstammte einer Bauernfamilie aus dem Krasnojarsker Kreis. Er begann in den 1920er-Jahren mit seiner politische Arbeit, die sich zunächst allerdings nicht auf Afrika bezog. Er wurde 1930 an die Leningrader Universität geschickt, wo er bei Ol’derogge studierte. Später unterrichtete er an der KUTV afrikanische Geschichte. Aufgrund von Trotzkismus-Vorwürfen wurde Potechin 1936 entlassen und kehrte erst 1946 als Mitarbeiter an das Ethnographische Institut der Akademie der Wissenschaften zurück. Dort wurde er 1956 zum Initiator und später zum ersten Direktor des 1960 gegründeten Afrikainstituts der Akademie – ein Erfolg, der sich auch seinen exzellenten Beziehungen zu dem in der Sowjetunion hoch angesehen W.E.B. Du Bois verdankte. Auch Potechin reiste bereits in den 1950er-Jahren nach Afrika, er spezialisierte sich auf Ghana. Aleksander Zacharovič Zusmanovič, ein Jahr älter als Ol’lderogge und Potechin, engagierte sich frühzeitig in der KomIntern für afrikanische Belange und übernahm 1934/35 die Leitung der Afrikasektion der KUTV und des Afrikalabors an der NIANKP. Aber auch er wurde wenig später Opfer der Trotzkismus-Kampagne. Mitte der 1950er-Jahre kehrte er als Forscher an die Afrikaabteilung des Orientalistischen Instituts der Akademie der Wissenschaften zurück und folgte schließlich Potechin an das neu gegründete Afrikainstitut. Endre Sik schließlich gehört wahrscheinlich zu den schillerndsten Figuren der Disziplin. Der 1891 geborene Ungar war nach seiner Beteiligung an der ungarischen Novemberrevolution 1919 in das sowjetische Exil geflüchtet und hatte an der KUTV seine Leidenschaft für Afrika entdeckt. Bevor er nach Ungarn zurückkehrte, wo er Ende der 1950er-Jahre Außenminister wurde, hinterließ er 1929 der sowjetischen Afrikanistik ein lange nachwirkendes Forschungsprogramm für die zukünftige marxistische afrikanistische Forschung sowie die ersten vier Bände einer Geschichte Schwarzafrikas. Sik bemühte sich in seinem Programm auch um eine Bestimmung des Verhältnisses der marxistischen zur westlichen, „bürgerlichen“ Forschung. Er erklärte einerseits, dass Schwarzafrika mit hoher Wahrscheinlichkeit in naher Zukunft zum Protagonisten in den Konflikten mit den imperialistischen Mächten werden würde, zum Nährboden für revolutionäre Erhebungen gegen die „imperialistischen Unterdrücker“. 8 Andererseits bezeichnete er die westliche Forschung über Afrika als Instrument der imperialistischen Interessen. Allerdings sah er – in Ermangelung F

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Sik, Endre, K postanovke markstistkogo isučenija sozialno-ekonomičeskich problem Černoj Afriki [Zum Stand der marxistischen Forschung zu den sozio-ökonomischen Problemen von Schwarzafrika], in: Revuljuzionny vostok 8 (1930), S. 86f; vgl auch die englische Übersetzung seines Programms in: Darch, Colin; Littlejohn, Gary, Endre Sik and the Development of African Studies in the USSR: A Study Agenda from 1929, in: History in Africa 10 (1983), S. 73–108.

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neuerer eigenständiger empirischer sowjetischer Forschung – die erste Aufgabe der marxistischen Beschäftigung mit Afrika darin, diese Forschung kritisch aufzuarbeiten und für die eigenen Belange nutzbar zu machen. Man könne sich zwar in keinster Weise darauf verlassen, so Sik, was ein englischer oder deutscher Autor über die jeweiligen Kolonien schreibe. Aber wenn man das von ihnen produzierte reiche Material akribisch prüfe, könne man es durchaus als wertvolle Quelle nutzen. 9 Das Verhältnis zur westlichen Forschung blieb in der sowjetischen Afrikanistik ein gespaltenes: Der Vorwurf, sie sei ein Instrument imperialer oder neokolonialer Interessen, in jedem Fall aber Teil einer reaktionären Weltbewegung, wurde von den meisten Wissenschaftlern geteilt. Gleichzeitig mischte sich diese Kritik mit Hochachtung vor der jeweiligen empirischen Forschung und auch ein gewisser Neid ob des unkomplizierteren Zugangs zu Originalquellen und zum Feld, das vielen Afrikanisten in der Sowjetunion aufgrund von Reisebeschränkungen verschlossen blieb. Dem Boom der 1960er-Jahre folgte in den beiden darauf folgenden Dekaden eine – jedenfalls in den Selbstzeugnissen der Afrikanisten vielfach so beschriebene – Phase der Stagnation. Gleichwohl ließe sich die Gründung des Sektors (später Zentrum) für afrikanische Geschichte innerhalb des Akademieinstituts für Weltgeschichte Anfang der 1970er-Jahre gewissermaßen als die Belebung der innerwissenschaftlichen Konkurrenz und damit auch als den Beginn des innerdisziplinärer Wettkampfs um Deutungshoheit über Professionalisierungsprozesse interpretieren. Diese Phase mündete in einen konfliktreichen Prozess der Selbstreflexion, der auch durch die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen im Zuge der Gorbačëvschen Perestroika bereits in der Mitte der 1980er-Jahren ausgelöst wurde. Der gesellschaftliche und politische Umbruch der 1990er-Jahre, durch den auch das Verhältnis der Sowjetunion bzw. Russlands zu den Ländern der Dritten Welt neu bestimmt wurde, führte zu einer grundlegenden Legitimationskrise der russischen Afrikanistik. Der Prozess der Neuausrichtung, verbunden mit der Suche nach einem Ersatz für die geschwundenen finanziellen und personellen Ressourcen, ist bis heute nicht abgeschlossen. Womit wir uns wieder auf der Redaktionskonferenz des Jahres 1988 befinden. Die hier versammelten Experten für die Länder Asiens und Afrikas sahen sich nun vor der Aufgabe, ihrer Gesellschaft mit Blick auf zwei zentrale Entwicklungen Orientierung zu geben. Erstens galt es, den innergesellschaftlichen Wandel in der Sowjetunion auch mit regionalwissenschaftlicher Expertise zu deuten. Und zweitens musste der sich abzeichnende Umbruch der globalen Ordnung begreifbar gemacht werden – ein Umbruch, der sich beispielsweise in der veränderten Rolle Chinas, aber auch in den Vorgängen in Zentralasien zeigte. Dabei wurde die neue internationale Lage nicht nur als Bedrohung verstanden, sondern gleichzeitig als Chance, neue wissenschaftliche Themen und neue theoretische Ansätze zu erschließen. Dazu gehörte auch, die traditionellen Interpretationen des westlichen Imperialismus und des sowjetischen Anti-Kolonialismus einer Revision zu unterziehen. Das hieß auch, das Verhältnis zum globalen Süden zu überdenken, da ofF

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fensichtlich nicht mehr selbstverständlich vom anti-kolonialen Charakter der UdSSR ausgegangen werden konnte. Um diese wissenschaftliche Erneuerung in die Wege zu leiten, musste allem Anschein nach zunächst die konstatierte internationale Isolation der sowjetischen Regionalstudien überwunden werden. Im internationalen wissenschaftlichen Austausch schien ein Ausweg aus verhärteten, dogmatischen Strukturen zu liegen. Der Vergleich mit „ausländischen“ Regionalwissenschaften, die Orientierung an „internationalen“ Modellen – namentlich Frankreich, Großbritannien und den USA – besaß dabei eine Beglaubigungsfunktion, konnte als Ausweis hoher wissenschaftlicher Standards gelten. Allerdings ging es hier nicht nur um den Verweis auf internationale wissenschaftliche Traditionen, sondern auch auf westliche Modelle imperialer Herrschaft: Mit dem zum Beispiel vorgeschlagenen Vergleich zwischen dem russischen und dem britischen Kolonialismus wurde ein Tabubruch in der sowjetischen Weltdeutung angedeutet und die russische Geschichte als Teil der globalen Expansion des Westens interpretiert. Gleichzeitig scheint der Topos „Europa“ hier, am Ende des Kalten Krieges, eher im Hintergrund zu bleiben. Explizit benannt wurden die ehemaligen kolonialen Großmächte, aber vor allem ein nicht näher bestimmtes „Ausland“ oder eine „internationale Wissenschaft“, bei der vermutlich nicht zuerst Fachleute aus den „Bruderstaaten“ des Ostblocks gemeint waren, sondern jene aus Westeuropa, den USA, aber auch afrikanische und asiatische Kollegen. Damit wurde diese Diskussion allerdings am Ende einer Entwicklung geführt, an deren Anfang ein deutlicher Europabezug gestanden hatte – und zwar vor allem ex negativo, im Sinne einer Abgrenzung von (West-)Europa durch den erklärten Anti-Imperialismus und Anti-Kolonialismus der russischen und sowjetischen Regionalwissenschaften, wobei die russische Orientalistik des 19. Jahrhunderts eine Führungsrolle in der europäischen Wissenschaftslandschaft übernommen hatte. Dieses Leitmotiv der Imperialismuskritik war in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts um die Konkurrenz mit den USA ergänzt worden, als der zweiten, als neokolonial charakterisierten Supermacht des Kalten Krieges. In der Umbruchssituation der Perestroika schließlich war es wieder der Bezug auf Europa, auf den Westen, der gleichermaßen als Katalysator wie als Folie für die Neuverhandlung des akademischen Feldes mobilisiert wurde. Die eigentliche Herausforderung bestand jedoch darin, ein weiteres Mal eine Weltordnung zu deuten, die sich im Wandel befand, und dieses Mal auch den globalen Süden – sowie den „eigenen und ausländischen Osten“ – ernsthaft zur Kenntnis zu nehmen. Wissenschaftsgeschichtlich war vor allem die russische Orientalistik, aber auch die sowjetische Afrikanistik mit ihren Institutionen und Professionalisierungswegen fest in der europäischen Tradition dieser Regionalwissenschaften verwurzelt. Doch nicht nur das: Vor allem die russischen Orientalisten prägten dieses akademische Feld in seinen Anfängen maßgeblich mit. Die oben beschriebene normative bzw. politisch begründete Abgrenzungsbewegung stand also in Spannung zum institutionellen, wissenschaftsgeschichtlichen Erbe. Dies war sicher einer der Gründe, warum die Wissenschaftler am Ende des Kalten Krieges ein weiteres Mal darauf zurückkommen mussten.

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Literaturhinweise Davidson, Apollon et al. (Hgg.), South Africa and the Communist International: A Documentary History. Bd. 1: Socialist Pilgrims to Bolshevik Footsoldiers, 1919– 1930, Bd. 2: Bolshevik Footsoldiers to Victims of Bolshevisation, 1931–1939, London 2003. Davidson, Apollon, Stanovlenie otečestvennoj Afrikanistiki, 1920-e – načalo 1960-ch, Moskau 2003. Kemper, Michael; Conerman, Stephan (Hgg.), The Heritage of Soviet Oriental Studies, London 2011. Schimmelpenninck van der Oye, David, Russian Orientalism. Asia in the Russian Mind from Peter the Great to the Emigration, New Haven, Conn. 2010. Tolz, Vera, Russia's Own Orient. The Politics of Identity and Oriental Studies in the Late Imperial and Early Soviet Periods, Oxford 2011.

Quelle Wissen für eine neue Weltordnung. Perspektiven der Perestroika in der sowjetischen Zeitschrift Narodi Azii i Afriki (1989) 10 F

V.L. Šejnis11 : Ja, man muss die Zeitschrift nicht radikal verändern. In den letzten Jahren war sie meiner Ansicht nach eine der besten geisteswissenschaftlichen Zeitschriften: sie hat sich nicht davor gescheut das zu drucken, worin andere „Revisionismus“ sahen, sie hat sich nicht darin gefallen, die „bürgerliche Ideologie“ zu entlarven, und sie hat sich nicht krampfhaft bemüht, alle historischen Ereignisse in das Prokrustesbett der Formationstheorie zu pressen. […] Das allergrößte Augenmerk muss nun darauf gelegt werden, wie historische Prozesse – und zwar alle Aspekte, kulturhistorische wie sozio-ökonomische – theoretisch erfasst werden können. Diese Notwendigkeit ergibt sich zwangsläufig aus dem Chaos in der Theorieentwicklung, das wiederum entstand, als der Dogmatismus bei der Beurteilung vieler Konstellationen offensichtlich wurde, von Dingen, die bis dahin als unumstößlich galten. […] Sogar die Parteifunktionäre haben im Moment keine Antworten, sondern sie stellen den sowjetischen Wissenschaftlern Fragen: Zum Beispiel kann es einen Imperialismus ohne neokoloniale Ausbeutung geben? Ohne Kriege? Stellt die Phase der freien Konkurrenz nicht bloß die Anfangsphase des kapitalistischen Systems dar, und ist der Imperialismus nicht die ihm angemessene Form? […] A.V. Gudymenko12 : […] Die Gesellschaft erstickt förmlich an den schwierigen und akuten Problemen, die sich ihr plötzlich eröffnen, an den inneren wie an den äußeren. Deren F

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10 Die Perspektiven der Perestroika in der Zeitschrift (Versammlung des neuen Redaktionskollegiums), in: Narodi Azii i Afriki 35 (1989), S. 5–19. Nach dem Austausch des Chefredakteurs der Zeitschrift trat am 7. Juni 1988 das neue Redaktionskollektiv zusammen, um über die Perspektiven der Zeitschrift für die nächsten fünf Jahre zu beraten. Die Diskussion wurde anschließend in der Zeitschrift dokumentiert. Kursiv sind hier erläuternde Einschübe der Redaktion gesetzt. Aus dem Russischen übersetzt von Steffi Marung. 11 Viktor Leonidovič, Wirtschaftswissenschaftler, leitender Forscher am IMĖMO (Institut für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen an der Russischen Akademie der Wissenschaften) für die Wirtschaft der Entwicklungsländer. 12 Anatolij Vasilevič, neuer stellvertretender Chefredakteur, Soziologe, Forschungen über soziale und wirtschaftliche Probleme der Entwicklungsländer.

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Lösung erfordert die fachmännische Mitwirkung von Wissenschaftlern, auch der Orientalisten und Afrikanisten. Es ist notwendig, so wie sich die Lage darstellt, die Erforschung der aktuellen Probleme in der Entwicklung der Länder Asiens und Afrikas in folgende Richtungen erheblich voran zu treiben: […] Die Analyse von Problemen in der inneren Entwicklung der Länder Asiens und Afrikas – wirtschaftliche, soziale wie politische – auf der regionalen wie auf der nationalen Ebene, und im Kontext von sich verstärkenden Globalisierungsprozessen. […] Ju.G. Aleksandrov13 : […] Es gibt eine Vielzahl akuter und ungelöster Fragen, die die weitere Entwicklung [der Orientalistik, Anm. d. Verf.] betreffen. Die Verfügbarkeit von Quellen und Literatur ist unbefriedigend, sie ist im Großen und Ganzen von der ausländischen Orientalistik isoliert und es herrscht im erheblichen Maße eine konfrontativen Atmosphäre und nicht ein konstruktiver Dialog mit vielen wichtigen nicht-marxistischen Richtungen der Gesellschaftswissenschaften. Viele ausländische Ideen werden häufig gleich als unmarxistisch angesehen. […] Die Entwicklung der Orientalistik leidet in erheblichem Maße unter der enormen Orientierung auf die je aktuellen Erfordernisse der ideologischen und politischen Propaganda. […] Ich glaube, dass die Zeitschrift aktiv die Lösung einiger interdependenter Fragen befördern muss: […] Das Führen dieser [wissenschaftlichen, Anm. d. Verf.] Diskussion auf Weltniveau in einem konstruktiven Dialog mit verschiedenen Richtungen der ausländischen Gesellschaftswissenschaften. […] Bis vor kurzem waren die Bedingungen für die Weiterentwicklung dieser Ideen nicht besonders günstig […]. Aber jetzt enstehen neue Voraussetzungen dank der zunehmenden Besinnung auf die wirklichen Gegebenheiten des heutigen Ostens, der immer klarer seine Fähigkeit unter Beweis stellt, eine selbstständige und positive Rolle im welthistorischen Prozess spielen und Unterentwicklung und Abhängigkeit überwinden zu können, ohne gleichzeitig seine tatsächlichen zivilisatorischen Eigenheiten zu verlieren. G.I. Čufrin14 : In unserer Zeitschrift erscheinen immer noch Artikel, in denen alles Elend und Unglück, das die Länder der „Dritten Welt“ erfahren, ohne jeden Zweifel dem Imperialismus zugeschrieben wird. Das ist vom wissenschaftlichen Standpunkt aus mindestens nicht ganz korrekt. […] Bei uns verstellen nicht selten die „allgemeinen Gesetzmäßigkeiten“ den Blick auf die realen Prozesse, die in diesen Ländern ablaufen. B.A. Litvinskij15 : […] Selten wird der Kern der aktuellen Probleme beleuchtet. Dies sind die Ethnogenese und die ethnischen Geschichte der Völker des Ostens, einschließlich der Völker Zentralasiens und des Kaukasus. Dies ist auch das Schicksal der Völker, die durch die Willkür Stalins unterdrückt wurden. Und die wahrheitsgetreue Aufarbeitung der russländischen Eroberungen im Osten […]. Man könnte einen objektiven Vergleich anstellen, zwischen, sagen wir, dem britischen Kolonialismus in Indien und dem russländischen Kolonialismus in Zentralasien. […] A.A. Starikov16 : Der Universalismus unserer Zeitschrift sieht wie ein Anachronismus aus und scheint unzulänglich, aber man muss darin eine Stärke sehen. Es kann unser F

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13 Jurij Georgijevič, Wirtschaftswissenschaftler, leitender Wissenschaftler am Institut für Orientalistik, Forschungen zu Landwirtschaft und politischer Ökonomie der Entwicklungsländer. 14 Genadij Illarionovič, Wirtschaftswissenschaftler mit Schwerpunkt auf den Problemen Südostasiens und der Wirtschaft asiatischer Entwicklungsländer. 15 Boris Anatolevič, Historiker, Tadžikische Akademie der Wissenschaften, Spezialist für Archäologie, Antike und mittelalterliche Geschichte Zentralasiens. 16 Redaktioneller Mitarbeiter.

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Markenzeichen werden, Wissenschaft an den Schnittstellen zwischen den Disziplinen zu fördern. […] B.A. Litvinskij: Ich würde gern anmerken, dass unsere Zeitschrift in der thematischen Ausrichtung nicht einzigartig ist. Sie gehört zu den orientalistischen Zeitschriften mit einem universellen Profil, wie das französische „Journal Asiatique“ (JA), das englische „Bulletin of the School of Oriental and African Studies“17 (BSOAS), das amerikanische „Journal of the American Oriental Society“ (JAOS) und andere. Richtig ist, dass in diesen Zeitschriften Entwicklungen des heutige Ostens und Afrikas nur selten behandelt werden. […] A.M. Model’18 : Die hauptsächliche Schwäche unserer Zeitschrift besteht im Wesentlichen in ihrer Isolation von der internationalen Orientalistik. Die Autoren schreiben so, als würden sie Amerika entdecken. Auf den Seiten der Zeitschrift finden sich nicht die hervorragenden Errungenschaften wieder, die die ausländische Orientalistik hervorgebracht hat. F

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17 Im Original irrtümlich als „Bulletin der Schule für orientalische und asiatische Studien“ bezeichnet. 18 Aaron Moiseevič, langjähriger Redaktionssekretär, Historiker, Spezialist für Kolonien und abhängige Länder.

4. EXPERTENKULTUREN IM 20. JAHRHUNDERT: KRISEN UND TRANSFORMATIONSPROZESSE

IN THE GOVERNMENT’S SERVICE AND IN THE SHADOW OF THE STATE: CIVIL SERVANT IN THE SERBIAN AND YUGOSLAV SOCIAL CONTEXT IN THE 19TH AND 20TH CENTURIES 1 F

Milan Ristović Critique of bureaucratic careerism of senior and junior civil servants was among the frequent topics in comedies of character written by the most famous Serbian writer Branislav Nušić (1864–1938). In their effort to “earn the rank” they stopped at nothing to get a promotion, like some of his characters whose greatest desire, regardless of abilities and education, was to succeed in getting into civil service. Throughout the nineteenth century, from the gradual expansion of the autonomy of the Principality of Serbia, as an Ottoman vassal, to an independent Principality (1878) and the Kingdom of Serbia (since 1882), the Serbian society, predominantly rural, was slowly changing its structure, experiencing all “birth pangs” of modernisation. Rudimentary administration of the autonomous Principality of Serbia rested on a few literate domestic clerks as well as educated Serbs and other immigrants from the Habsburg Monarchy. Since the 1840s the state started to send an increasing number of students to study at foreign universities with state scholarships. After returning to the country, in addition to the Belgrade Higher School (founded in 1863, since 1905 the University of Belgrade), they largely filled the ranks of civil servants as the state administration expanded. High schools, both lower and higher, and teacher’s schools produced the more numerous, poorly paid echelon of civil servants. The “European experience” of the Serbian political and intellectual elite until 1914, with many among them having diplomas from European universities, was extremely important in shaping the Serbian variant of middle-class culture, modernisation of society and state, and development of institutions. However, this experience was not strong enough to set an example for the change of attitude toward practical skills and professions associated with them. After all, even Nikola Pašić (1845–1926), the patriarch of Serbian politics at the turn of the century, with a diploma from the Zurich Polytechnic, did not choose to pursue his career as a civil engineer but opted for politics and civil service. Commonplace in the request of all opposition parties at the end of the nineteenth century, particularly populist radicals, was the reduction in the number of civil servants, who were seen as incarnations of an alienating and – for the rural majority – hostile state. Laza Paču (1855–1915), Radical Party ideologue, wrote 1

Essay on the source: Civil Servants in the Serbian and Yugoslav Social Context: Report by the Belgrade City Administration About Improper Conduct of Junior Civil Servants (1901) and Law on Civil Servants and Other Civil Public Employees of the Kingdom of Serbs, Croats and Slovenes (Yugoslavia) (1923).

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in 1881 in his book Bourgeois Society about “contradiction between a bureaucrat and people” which, in an undeveloped and socially non-stratified society, leads “ultimately to contradiction between the state and the people”. By idealising rural municipality and demanding its self-government, which would restrict the right of government bureaucracy and the “state”, another prominent radical, Pera Todorović (1852–1907), stressed its democratic and anti-bureaucratic significance. In a poor, economically backward state as Serbia, which it had been for a long time, civil service and the position of a government employee – in addition to (relative) material security, further “reinforced” by corruption that, nevertheless, was not the main motive for choosing it – also brought about the sense of belonging to a “higher” social status of “authority” and the “state”. This explains the longstanding attraction of civil servant’s calling, even if only as a scribe in a remote small provincial town surrounded by countless villages. According to the 1890 census, among Serbia’s two million inhabitants at the time, only 4.7 percent belonged with regards to their social status to the educated and diverse stratum composed of employees in government administration, justice, education, as well as officers, medical doctors in state-run hospitals, journalists. Ten years later, less than 2 percent of the population were employed in public services. The middle-class lifestyle model, including the concept of privacy, as well as the relationship between the public and private, continued to strengthen among young Serbian bourgeoisie during the last third of the nineteenth century. The bourgeoisie had been accepted in the society and had increasingly spread in the numerous stratum of educated people, members of the civil servants’ and officers’ ranks, a new generation of merchants and the first entrepreneurs in the national manufacturing. Since the time of the second reign of Prince Mihailo (1860–1868), and particularly during the reign of King Milan (1872–1889), their model was based on the court, whose internal rules of conduct, interior decoration, customs imported from abroad – combined with certain local specifics – were comparable with the standard and lifestyle of (Central) European bourgeoisie. In areas beyond the borders of the Principality/Kingdom of Serbia, Serbian rich middle class, landowners, military, nobility, merchants and intellectuals in the Dual Monarchy were the promoters of this lifestyle and cultural pattern, which became increasingly influential and were imitated, depending on material capabilities, among the lower classes of urban population. This included further processes of nationalisation, in line with the penetration of national ideology and greater politicisation of the Serbian population in the Habsburg Monarchy. In the complex discourse and plurality of the forms of Serbian culture among the middle-class and civil servants’ circles, both within and outside of Serbia, family continued to be equally sacralised as a part of a specific nation in miniature. Social modernization of the Serbian society at the end of the nineteenth century had a strong adversary in the populism of the radicals, who claimed to be acting in “defence of the people” against what was perceived as “foreign influences” and accused the Progressive Party for spreading such influences. The radicals’ demagoguery encouraged animosity among the lower urban strata and peasants for anything that bore the “Schwabian” mark (as sublimation of negative for-

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eign influence) – including police uniforms, bourgeois attire, tailcoats, and top hats – and fuelled fear against the big Austrian neighbour. The critique of social order in an increasingly stratified Serbian society at the end of the nineteenth and the beginning of the twentieth centuries, launched by the first socialists, proceeded from a more complex analysis of the unfavourable situation in which the lower social strata lived, which resulted from a combination between the capital and police-bureaucratic state system. However, when they assumed power, radicals in practice departed from their verbal anti-civil-servant vocabulary, continuing with further bureaucratisation of the state with their “cadres”. Expansion of the civil servant apparatus and state administration in Serbia, with the high school diploma opening up the opportunities of finding a livelihood in government employment, caused at the end of the nineteenth century not only political resistance but also criticism that the obsolete educational system cannot respond to the needs of social modernisation, particularly in the economy. Increasing interest among the lower social strata to continue education in high schools was, in the opinion of one contemporary critique, the sign of “tendency for gentility”. This argumentation was support by claims that acquiring a high school diploma served this purpose as well as was a means to finally break away from the village, even from the family. Many new high schools opened after World War I and the creation of the Yugoslav state in many smaller towns in Serbia, often in inadequate conditions, were symptomatic of this situation. High schools were opened after the Balkan Wars in towns in Kosovo and Macedonia. In the 1930s there were fifteen state high schools in the territory of Vojvodina. There was also an increasing number of female children who attended and graduated from high schools. Having in view the limited possibilities for their employment, the increasing number of young women continuing their education and obtaining a high school diploma was seen as a part of an “emancipating package”. Insistence on education of their daughters was also the result of the parents’ awareness of the importance of the education of women as well as, among other things, a compulsory element of social identification of young urban women. Their entry into the labour market provoked numerous and hostile reactions that criticised the situation as “unfair competition” to unemployed men and alleged that women enjoyed “preference” in recruitment, particularly in the civil service. Proposals presented during the 1930s how to deal with this “problem” – as their authors perceived it – was to substantially reduce salaries of married women in civil service or by dismissing married employed women whose husbands worked. Toward the 1920s this situation resulted in the saturation of this educational profile and caused problems in their employment, prompting debates about the need for change in the educational system. This led to a gradual modification of parents’ attitude and discouraged them from the obsessive effort to ensure for their children, at any cost, a future in civil service, having been regarded as the only “worthy” occupation as opposed to practical occupations in the economy, trade or crafts. Instead of enrolling female children in high schools, their parents were advised to enrol them in public secondary schools, which provided them with more

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practical skills necessary for them to be “good mothers and homemakers” on whom “the home would rest” one day, rather than employees in civil service. The lack of attraction of economic occupations was noticed after World War I as a “national problem” in ethnically mixed communities in Vojvodina. Critiques, such as politician Vasa Stajić (1878–1947) or philosopher and ethnologist Vladimir Dvorniković (1888–1956), blamed the parents for “hypertrophy of high schools” as a social anomaly. Attention has also been drawn to the fact that the economic bourgeoisie was becoming increasingly composed of members of nonYugoslav minority nations, Germans and Hungarians, while Yugoslavs predominantly belonged to “civil-service proletariat”. The Civil Service Laws of 1923 and 1931 established in detail the conditions for entering civil service in the Kingdom of Serbs, Croats and Slovenes (SCS)/Yugoslavia. 2 The political profile of the civil servant, i.e. unreserved loyalty to the present order, was of crucial importance, therefore the candidate was required to produce a certificate of good conduct to this end. Entering civil service, in addition to status and material aspect, imposed a limitation of freedom and complete submission, including waiving of certain political rights, i.e. membership in political parties. If the needs of the service required, civil servants were obliged to accept reassignment to another post, even to the most remote areas. They were required to safeguard “their reputation and reputation of their superiors”, both “in service and outside it”, to avoid everything “that may harm the reputation and trust entailed by this position”. This obligation also extended following retirement, which was granted at the age of 70. Service could be terminated in case of the deprivation of civil rights, conscription, illness, three consecutive negative evaluations out of six evaluations, as well as when the competent authorities decided on the termination of service. Civil servants were prohibited from engaging in any other activity, particularly trade, crafts, and manufacturing. They were subject to continuous supervision, arbitrary dismissal, often toward the very end of their career, and coercion. Except for those on the top and senior positions (numbering some 20.000 in Yugoslavia in the mid-1930s) – which entailed significant material benefits and influence on the career of subordinated lower-level civil servants – earnings of middle and lower ranks of civil servants, classified into grades based on education and position, did not ensure significant material security. Teachers, also a specific part of the civil servant army, had the hardest time to make ends meet, as they were poorly paid and were under close scrutiny of the community, which assumed the role of moral judges. They often were transferred to different areas as a form of punishment, forced to live a very meagre existence, which caused great problems in their private lives. F

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See, Narodna Skupština Kraljevine Srba, Hrvata i Slovenaca. Zakon o činovnicima i ostalim državnim službenicima građanskog reda [Peoples’ Parliament of the Kingdom of Serbs, Croats and Slovenes. Law on Civil Servants and Other Civil Public Employees], Belgrade 1923.

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Authorities often resorted to political pressure and coercion against civil servants, including judges. Official documents ordered that civil servants, which became particularly numerous after the mid-1930s, should join the ruling party and vote for it under the threat of transfer or dismissal from service. The general characteristic of the situation in this heterogeneous, disunited stratum was inefficiency, insufficient motivation and inclination to corruption. The number of students in law schools and similar faculties and colleges, both in the Kingdom of SCS/Yugoslavia and in the post-war period, was continuously rising, which the socialist state also filled the ranks of its burgeoning “army” of civil servants with. After 1945 and the establishment of the communist system, the term used to refer to civil servants was službenici (officials) instead of činovnici (officers). Nevertheless, the attitude did not change much toward these occupations that offered the “security of office” in the government or party bureaucracy and far less toward desirable ones in factory plants or construction sites, irrespective if they were managerial positions. The new stratum of civil servants, predominantly originating from rural communities or small towns, with a secondary education, since the early 1960s, in “mature self-management socialism” (increasingly with junior college or university diplomas), replaced their “déclassé” predecessors in socialist Yugoslavia, although accepted the same behavioural pattern, attitude to work, and opinion about the importance of being a member of an oversized and inefficient bureaucratic mechanism, even as its smallest screw. A part of the old bureaucratic apparatus, nevertheless, survived the ideological “purge”, particularly middle- and lower-rank civil servants, which were absorbed into the new system. Dependency and submission to “higher instances” and Communist Party membership as a prerequisite for further promotion, with a modest average salary and long waiting time to solve one’s housing problem, was the framework within which the active life of civil servants in socialism took place. They were, however, the most numerous part of the socialist “middle class”, as well as were promoters of the new socialist consumerism, accepting and copying the western provincial rather than the bourgeois model of privacy and private life in housing culture, clothing, entertainment and leisure, while incorporating their legacy, which was still visible in family relations. In smaller communities they were members of the “local elite”, who had pronounced influence on social life, where they introduced new customs and fashions as well as set standards, even in the organization of privacy. In all states and systems that changed in the Serbian territory in the past two centuries the officers’ corps was a closed professional group, with great political leverage, which was also a very specific social group of “civil servants” in respect to its lifestyle, family relations and connections. The state took early care of education of military elite. In societies, such as in Serbia and Yugoslavia, the elite assumed a part of tasks that in other more developed societies were assigned to separate, professionally and socially distinct strata. Officers played many roles in politics, diplomacy, cultural life, and economy, including the role of the military in the social modernisation of the Serbian society. Sending the most talented young officers to foreign military academies was a part of a practice that contrib-

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uted, on the eve of the Balkan Wars, to the Serbian army’s modernisation and capacity to fulfil ambitious national-political tasks. Among the officers in active service in 1912, 160 were educated outside of Serbia in 11 European countries, while 235 attended advanced professional training, spent internships at foreign academies or studied foreign languages. Research of the social background of generals in Serbia and the Kingdom of Yugoslavia has shown that two out of three generals came from urban communities and that their fathers were mainly in civil service. The military profession, which typically ran through several generations of the same family, in the predominant peasant society in Serbia was a form of substitution for a non-existent “informal nobility”. This particularly refers to high-ranking officers originating from families of vojvode (war lords) from the early nineteenth-century uprisings (the Cincar-Markovićs, the Čolak-Antićs, the Dokićs, the Dimitrijevićs, the UzunMirkovićs, etc.). In the officers’ corps of the Austro-Hungarian army, particularly among the lower- and middle-ranking officers, there were traditionally many officers of Serbian origin, mainly having completed lower-ranking cadet schools. Advancement toward higher and top ranks, reserved for the members of nobility, entailed for them many obstacles, including the requirement to convert from Orthodox Christianity into Catholicism (like in the case of Field Marshal Borojević). Immediately after the end of war, the officers’ corps in socialist Yugoslavia, regardless of major ideological and other differences compared with the “old Yugoslavia”, in addition to most officers who were members of the wartime partisan command cadres, accepted into its ranks former officers and members of enemy formations at war (Independent State of Croatia’s Domobrani (Home Guard), the Royalist Chetnik movement, German Wehrmacht, and the Italian and Bulgarian armies). When social background of the top Yugoslav Peoples’ Army command cadre until 1980 is concerned, data indicate that there was a significant shift in the later period toward lower social classes and visible reduction of those who originated from middle-class families. Benefits afforded by free education in military schools – along with the coverage of all material costs for a cadet (accommodation, food, clothing, teaching aids), the attraction that this profession retained in rural communities, and the declining interest for “epaulets” among urban male population – caused changes in the social background of officers’ cadre in the last decades of the existence of the Yugoslav state. In addition, regional differences and traditions caused uneven ethnic representation, despite the “national key” (Montenegrins, Serbs from Croatia, Bosnia and Herzegovina, lower participation of Serbs from Serbia, particularly from Vojvodina, same as Slovenes and national minorities). Creation of a tight-knit network of family and in-law relations within this professional and social milieu, through several generations of marriages with young women originating from officer’s families, made the generals’ ranks in the period 1918–1941 a closed, extremely compact group, whose widespread influence “covered” a good part of the political scene, in addition to being well-connected with the business sector. Marriages of Serbian and Yugoslav royal officers, with their rigid conventions, were to some extent a part of the “planned elite creation”. Social

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engineering included direct interference of the state in the professional segment of their life as well as interference in and supervision of their privacy, decisions on under what circumstances they can marry and whom they can marry, and an unstable residence with continuous movement. Territorial mobility, particularly after 1945, resulted, among other things, in a higher percentage of ethnically mixed marriages, which were concluded with less (at least visible) interference of military authorities, except in the case of top-ranking military commanders. This brought about more pronounced “Yugoslavianisation” of the officers’ ranks, in line with the declared policy in the Communist Party and army. Reputation enjoyed by the members of the military profession in the Yugoslav and Serbian societies did not always have an adequate reflection of their earnings. In addition to salary, there were special benefits (for family, movement, heating fuel) at different times. Nevertheless, the life of officers with families, particularly younger ones, who often moved from one garrison to another, where they lived in rented quarters, was far from the privileges enjoyed by colonels or generals. In the meagre reality of average Yugoslavs in the 1960s, these privileges, such as official cars, the opportunity to spend vacations in numerous exclusive tourist resorts, luxurious apartments and villas, access to exclusive stores where goods were sold at privileged prices, were another reflection of stratification within a declaratively egalitarian system. As an important part of state-party nomenclature, high military representatives also had a fundamental role in other public segments of society, including in sports clubs and different social organisations, and were trusted pillars of Tito’s personal power. Military personnel and members of their families were provided medical care in hospitals and clinics built specially for them, with the best medical staff and equipment; compared with the civilian part of society, military personnel enjoyed legal autonomy and were exempt from the authority of civil courts and law enforcement authorities. In the post-war period, military professionals were a part of Yugoslav society, which, in addition to their special status, by their characteristics bore all the marks in many ways of the controversial process of accelerated urbanisationruralisation and modernisation, as the result of the predominant non-urban origin of those who chose this profession. Officers’ corps in socialist Yugoslavia were often criticised for their ideological hard-line orthodoxy and as a (extremely expensive) conservative obstacle to faster development. On the other hand, with their education they, particularly those belonging to technical branches or medical corps, provided significant contribution to technological and professional progress of the society. Despite their specifics and the role in the Yugoslav state, this part of the power structure both in 1941 and during the 1990s has demonstrated all inherent weaknesses, splitting primarily at its “national seams”. Bibliography Bjelajac, Mile, Military Elites-Continuity and Discontinuities: The Case of Yugoslavia, 1918–1980, in: Höpken, Wolfgang; Sundhaussen, Holm (eds.), Eliten in Südosteu-

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ropa. Rolle, Kontinuitäten, Brüche in Geschichten und Gegenwart, München 1998, pp. 229–241. Dimić, Ljubodrag, Kulturna politika Kraljevine Jugoslavije 1918–1941 [Cultural Policy of the Kingdom of Yugoslavia 1918–1941], vol. 1–3, Belgrade 1997. Dobrivojević, Ivana, Pod budnim okom države. Državni činovnici u Kraljevini Jugoslaviji [Under a Wathchful Eye. Civil Servants in the Kingdom of Yugoslavia], in: Ristović, Milan (ed.) Privatni život kod Srba u dvedesetom veku [Private Life of the Serbs in the 20th Century], Belgrade 2007, pp. 479–504. Perović, Latinka (ed.) Srbija u modernizacijskim procesima (XIX i) XX vek. Uloga elita [Serbia in Modernization Processes. The Role of Elites], Belgrade 2003. Sundhausen, Holm, Historische Statistik Serbiens 1834–1980. Mit europäischen Vergleichsdaten, München 1989.

Source Civil Servants in the Serbian and Yugoslav Social Context: Report by the Belgrade City Administration About Improper Conduct of Junior Civil Servants (1901) and Law on Civil Servants and Other Civil Public Employees of the Kingdom of Serbs, Croats and Slovenes (Yugoslavia) (1923) 3 F

1. Report by the Belgrade City Administration about improper conduct of junior civil servants (1901) Belgrade, 2 September 1901 Belgrade City Administration to the Head of the Quarter Confidential Sir: It came to my attention, and I have noticed the same to some extent myself, that junior civil servants of certain Quarters and Sections do not come to office on time and leave it before the end of office hours, are often absent from duty under various unjustified and sometimes false excuses, loaf in the offices and spend time in futile conversation instead of working as they are obliged to work, in their communication with gendarmes behave too familiarly, and are unhelpful and often arrogant toward public, while Quarter heads do not pay sufficient attention to all this, because if they did, things like that could not happen. For the first and the last time I hereby issue this order, which you will take note of seriously and communicate it to all civil servants who will certify with their signature that they have been notified thereof, as follows:

3

Živeti u Beogradu 1890-1949. Dokumenti Uprave grada Beograda [Living in Belgrade 1890– 1940. Doccuments of the Belgrade City Administration], vol. 6, Istorijski arhiv Beograda, Belgrade 2008, doc. 24, pp. 62–64; Narodna Skupština Kraljevine Srba, Hrvata i Slovenaca. Zakon o činovnicima i ostalim državnim službenicima građanskog reda [Peoples’ Parliament of the Kingdom of Serbs, Croats and Slovenes. Law on Civil Servants and Other Civil Public Employees], Belgrade 1923.

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If I notice any civil servant outside the office and idle during office hours, I will punish strictly both that civil servant and his chief officer, unless the latter has not already taken measures against this misconduct of his subordinate employee. Quarter and Section heads must not grant their employees absence from duty for irrelevant reasons, but only in case of justified and urgent needs, and then only if they cannot be dealt with outside office hours. In case of absence due to illness, the chief officer will have to verify this through the Quarter physician, who will report what illness is the employee concerned suffering from and whether that illness indeed prevents him from coming to work. […] During the working hours, employees must not only work, but prove with their results that they have actually worked, which shall be the subject of everyday control by their superiors. If they truly work, there will be no backlogs as there are now, and if they persist, that shall be clear evidence that neither the employees worked diligently, nor their superiors adequately supervised their work. […] I regret having to instruct civil servants that in their communication with gendarmes they should behave with dignity and superiority, because that is so self-evident and necessary that they should understand it without my notice. Their intimacy with gendarmes is appalling and disgusting. It harms the reputation of a civil servant and I shall not refrain from adequate punishment of such behaviour. Likewise, unaccommodating and arrogant behaviour of civil servants to the public should not be allowed. Civil servants should generally in their service behave appropriately for a noble citizen, and nobility is incompatible with unaccommodating attitude, and especially with arrogance. A civil servant’s reputation will not be harmed if he receives and listens to everyone kindly, while maintaining the appropriate formal attitude, because that is the best way to prove that he is a worthy member of authority, and will thus raise his reputation. Communicating you the foregoing, I expect from you, Sir, as the chief officer, to wholeheartedly accept these advices and remarks of mine and do your best that they do not remain a dead letter, because that is required by the interests of service. […] Chief of the City Administration 2. Excerpts from the Law on Civil Servants and other Civil Public Employees of the Kingdom of Serbs, Croats and Slovenes (Yugoslavia) from 1923 Chapter 1 Principal provisions Article 1 A civil servant […] is a person admitted to government’s civil service according to the provisions of the law. […] Article 2 All titles in all branches of civil service are equally accessible, under legal provisions, to all citizens, both by birth and […] naturalized, who are of Serbian/Croatian/Slovenian nationality. Other naturalized citizens may enter civil service only after they are residents of the KINGDOM for at least ten years, and pursuant to special authorisation of the State Council,

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upon the justified proposal of the competent minister. Foreign nationals may be admitted […] to civil service only as contract employees. […] A judge shall take the following oath: “I, [name and surname], swear by Almighty God that I will be loyal to the ruling King [name], that I will discharge my duty correctly and conscientiously, and that I will only observe the law, irrespective of the person, when pronouncing judgments […]. So help me God”. […] Article 89 A civil servant shall be required to observe the Constitution and the laws; to discharge his duty conscientiously, diligently, fairly and unselfishly, having in view only general public interests and avoiding anything that may harm the duty conferred upon him. Article 90 A civil servant shall be required to execute orders of his superiors, if they are issued within the framework of the law. When required by the official interest, a civil servant shall, upon the invitation of his superior, perform official duties that fall outside the scope of his work. […] A junior civil servant shall never perform at the order of a senior official only those acts prohibited and punishable by penal code and shall be required to report such an order to his superiors. […] Article 92 A civil servant shall, in the service and outside it, safeguard his reputation and reputation of his superiors and shall avoid anything that may harm the reputation and trust entailed by his position. A retired civil servant shall be equally required to adjust his behaviour to the position he occupied. In the official communication with the public, a civil servant shall be helpful and courteous. […] Article 94 A civil servant shall not be allowed to have any auxiliary employment, in addition to his civil service, unless authorised by the minister. He may not occupy any other position that would be contrary to the dignity and honour of his occupation or which would hamper the discharge of his regular official duties. Article 95 Use of authority and position by civil servants for partisan purposes, as well as any influence of senior officials on civil servants in this aim, shall be punishable as misconduct according to Article 165, section 2, 3 or 4 hereof, and in serious cases by dismissal from service. If there is abuse of authority as provided for by the criminal code, its provisions shall apply, either in response to a claim of a private individual or ex officio. A civil servant who according to Article 73 of the Constitution is not entitled to stand as a candidate for member of the Parliament, or who is not entitled to stand as a candidate in the electoral district of his territorial jurisdiction, shall not […] convene public partisan and political gatherings, or be an official thereof, or stand as a candidate. He may not organise or

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represent political parties and groups. If he acts contrary, he shall be punished for misconduct, and if he stands as a candidate – by dismissal from service. […] Article 96 A civil servant shall not be allowed to be a member of an association whose objectives are contrary to the interests of the State, or contrary to state laws. Likewise, he shall not be allowed to participate in movements that would be aimed at obstructing or stopping the work in the service. A civil servant may not belong to a foreign company, regardless of where it is headquartered, without consent of the competent minister. Article 97 Civil servants shall not be parties in public procurement contracts […]. Civil servants may not be members of managing or supervisory boards of business companies or mutual co-operatives, if by their position in civil service they are in charge of supervising such institutions or deciding and giving opinions in matters in which any of such institutions is a stakeholder. […] Article 98 A civil servant may not receive, either indirectly or directly, any gift in money or value, nor any profit aimed at influencing his decision-making in official capacity. He shall be punished for such an act according to the penal code. […]

GEORG SIMMEL ALS KULTURPOLITIKER 1 F

Klaus Christian Köhnke Lange bevor der späte Simmel mit seinem Theorem einer Tragödie der Kultur als Kulturkritiker hervortrat (1911), schien ihm eine Aneignung der „objektiven Kultur“ durch die Subjekte noch möglich oder denkbar. Die objektive Kultur, der ganze Reichtum der Sachkultur, habe früher noch der Kultivierung der Subjekte gedient: „Was das Griechentum an Politik und Wissenschaft, an Strategie und Genußmöglichkeiten hervorgebracht hatte, das war an Stil einheitlich und an Struktur einfach genug, um von jedem gebildeten Mann einigermaßen begriffen zu werden: er konnte die Summe der objektiven Kultur ohne weiteres zum Aufbau seiner subjektiven verwenden, und so konnten sich beide in jener Harmonie entwickeln, die durch ihre moderne Verselbständigung gegeneinander zerrissen ist.“ 2 F

‚Kultur‘ besaß einen noch unzweifelhaften objektiven Wert weil – und genau insoweit – sie die Subjekte kultivierte, und: „Die eigentlichen Kulturnöte des modernen Menschen gehen auf diese Diskrepanz zwischen der objektiven Kultursubstanz an Greifbarkeiten und Geistigkeiten auf der einen Seite und der Kultur der Subjekte auf der andern zurück, die sich gegen jene fremd, von ihr vergewaltigt, unfähig zu gleichem Fortschrittstempo fühlen. Wenn heute vielfach der Eindruck herrscht, dass es uns gegenüber dem Perikleischen Athen, gegenüber dem Italien des 15. u. 16. Jahrhunderts […] an Kultur gebräche, so sind es nicht irgend welche Kulturinhalte, die uns fehlen, und keine Vermehrung von Wissenschaft und Literatur, von Gütern des politischen Lebens und Kunstwerken, von Verkehrsmitteln und feinen Umgangsformen kann unserm Mangel abhelfen. Wie der Besitz von alledem den Menschen noch keineswegs glücklich macht, so macht es ihn auch noch nicht kultiviert. Kultur vielmehr erscheint mir als die Beziehung der subjektiven, in dem Einheitspunkte des Ich gesammelten seelischen Energien zu dem Reiche der objektiven, historischen oder ideellen Werte. Der Mensch ist kultiviert, wenn diese objektiven Güter geistiger oder auch äußerlicher Art in seine Persönlichkeit derart eingehn [sic], dass sie sie über das gleichsam natürliche, rein durch sich selbst erreichbare Maß von Vollendung fortschreiten lassen.“ 3 F

Diese kanonischen – europäischen – Leitbilder und Ideale individueller Kultiviertheit, gewonnen aus der (J. J. Winckelmann’schen) griechischen Antike, der (Jacob Burckhardt’schen) italienischen Renaissance und wohl allenfalls noch aus der 1 2

3

Essay zur Quelle: Anlage zum Brief Georg Simmels an Stefan George (24. Februar 1903). Köhnke, Klaus Christian; Jaenichen, Cornelia; Schullerus, Erwin (Hgg.), Georg Simmel: Miszellen, Glossen, Stellungnahmen, Umfrageantworten, Leserbriefe, Diskussionsbeiträge 1889– 1918. Anonyme und pseudonyme Veröffentlichungen 1888–1920 (= Georg Simmel Gesamtausgabe Bd. 17), Frankfurt am Main, 2004, S. 81. Ebd., S. 81f.

Georg Simmel als Kulturpolitiker

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eigenen Goethezeit, geben den Hintergrund einer kulturpolitischen Initiative ab, die sich als Fortsetzung und Erweiterung der Berliner Sezession von 1898/1899 verstand, als nach einer Vorgeschichte seit 1892 eine Gruppe von Malern um Max Liebermann und Walter Leistikow eine eigene Berliner Kunstausstellung – jenseits der Akademie – plante und veranstaltete. 4 Nun aber, 1903 ging es nicht mehr nur um einen Abschied vom Akademismus in der Malerei, sondern, wie man einem Brief des Philosophen und Soziologen Georg Simmels an den Dichter Stefan George, einem der ganz seltenen Zeugnisse dieser Initiative entnehmen kann, jetzt ging es darum, etwas gegen die Barbarei zu unternehmen. Simmel schreibt am 24. Februar 1903: F

F

„Lieber Freund, Ich freue mich sehr, dass ich Gelegenheit habe, Ihnen ein Zeichen von Leben u. Gedenken zu geben. Aus der Anlage sehen Sie, um was es sich handelt – ein Unternehmen, dem ich mich angeschlossen habe, weil ich davon einen Kulturmittelpunkt erhoffe, wie wir ihn bitterlich bedürfen; denn täglich wird es einem klarer, dass wir unter Barbaren leben. Das erste Komitee besteht aus Liebermann, L. von Hofmann, Graf Kessler u. mir selbst. Wir haben die gleiche Aufforderung wie an Sie an eine Reihe von Persönlichkeiten gerichtet, die schon im Wesentlichen gewonnen sind, Persönlichkeiten der verschiedensten Kunst- u. Denkrichtungen, auch solche, die Ihre künstlerischen Antipoden sind, wie Hauptmann u. Dehmel. Aber wir meinten, dass hier, mit der größten Strenge in Bezug auf die Reinheit u. Unabhängigkeit des künstlerischen Wollens, die größte Weitherzigkeit in Bezug auf Wege u. Stile verbunden werden müßte. […] Ich nenne Ihnen aus den c. 20 Mitgliedern des Komitees noch: Klinger, Wölfflin, Mommsen, Lichtwark, Vandevelde, Richard Strauss. – Es handelt sich eben darum, bei dem immer bedrohlicheren Übergewicht der offiziellen u. der Philisterkunst, ein sichtbares Wahrzeichen aufzurichten, zur Sammlung derer, denen die Unabhängigkeit u. das Sich-selbst-gehören der Kunst am Herzen liegt u. die die Leidenschaft für die Kultur der Menschheit fühlen. Es scheint mir ein innerer Widerspruch, wenn Sie dabei fehlen sollten.“ 5 F

Der beabsichtigte anti-barbarische Kulturklub, die Sezession im Großen, überregional und deutschlandweit, beschränkte sich nicht mehr auf bildende Künstler, Museumsleute und Mäzene, sondern bezog weitere – horribile dictu – ‚Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens‘ ein, mit denen – oder mittels deren Namen – man in diesem Falle Kulturpolitik machen könne, hier also außer Künstlern auch Schriftsteller, Komponisten und schließlich auch Universitätsprofessoren, die über rein akademische Kreise hinaus einigen Einfluss zu haben versprachen. Wobei zu letzteren, wie überhaupt zur Riege dieser „Persönlichkeiten“ sich just zu dieser Zeit auch Georg Simmel aufgestiegen sah, irgendwann nach 1900, nachdem er mit seiner Philosophie des Geldes ein Buch veröffentlicht hatte, von dem er glaubte, dass erst dieses tatsächlich ‚sein Werk‘, jedenfalls ein Buch sei, das von keinem

4 5

Vgl. Silbereisen, Gabriele, Die Berliner Secession, in: Engel, Helmut (Hg.), Geschichtslandschaft Berlin. Orte und Ereignisse, Bd.1: Charlottenburg, Berlin 1985, S. 378–397. Vgl. Anlage zum Brief Georg Simmels an Stefan George vom 24. Februar 1903, in: Köhnke, Klaus Christian (Hg.), Georg Simmel. Briefe 1880–1911 (= Georg Simmel Gesamtausgabe Bd. 22), Frankfurt am Main 2005, S. 445f. Im Folgenden stammen alle Quellenzitate, soweit nicht anders vermerkt, aus der hier abgedruckten Quelle.

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Klaus Christian Köhnke

anderen hätte geschrieben werden können. 6 Irgendwann nach 1900 aber auch, weil er 1900 nach 16-jähriger Privatdozentur nunmehr zum Professor befördert worden war, aber einen sogenannten Revers, eine Verzichterklärung, hatte unterzeichnen müssen, dass er – für jetzt und für immer – keinerlei Gehaltsansprüche aus dieser Titelverleihung herleiten werde, was wiederum eine Auseinandersetzung im Preußischen Abgeordnetenhaus und in der Tagespresse nach sich gezogen hatte. 7 Und schließlich stellt diese Initiative zur Gründung eines Kulturklubs und die kulturpolitische Ambition Simmels selber einen Teilsaspekt einer umfassenden Veränderung seines Selbstverständnisses dar, indem Simmel sich nunmehr an künstlerischen Individuen wie Stefan George und Auguste Rodin orientiert und sein Theorem vom individuellen Gesetz entwickelt. Was zugegeben eine fast paradoxe Formulierung darstellt, aber doch insoweit verstehbar ist, als hiermit ein Verständnis von Individualität angestrebt wird, das diese nicht aus einer Entgegensetzung zu Anderen oder einer Unterscheidung von ihnen, sondern als Eigentümlichsein, „Sich-selbst-gehören“, als ‚aus eigener Wurzel gewachsen‘ begreift (qualitative Individualität) und gleichwohl doch die Verbindlichkeit eines Gebotes oder moralischen Gesetzes behauptet. 8 Dieses Stefan George gegenüber betonte „Sich-selbst-gehören der Kunst“, ebenso wie Simmels eigenes Konzept des ‚individuellen Gesetzes‘, kann zum Ausgangspunkt einer Kritik des Ästhetizismus respektive zur Kritik der Überhöhung von Personen herangezogen werden. Denn die Behauptung eines „Sichselbst-gehörens“ kann freilich immer auch eine Strategie der Immunisierung gegen jegliche Verantwortung darstellen. 9 Dass dies im Jahre 1903 noch nicht der Fall war, dass es vielmehr um einen Versuch der Durchsetzung der Autonomie der Kunst – wie auch einer Behauptung des Individuums gegen die Vereinnahmung durch vielfältige Ismen – ging, läßt sich sehr gut aus dem wohl frühesten Zeugnis zur Gründung eines Kulturklubs entnehmen, einer Tagebuchnotiz von Harry Graf Kessler, der zu dem Vorhaben unter dem 19. Januar 1903 notierte: F

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„Vormittags bei Liebermann mit Simmel und Vandevelde; über die Clubgründung verhandelt. Liebermann und Simmel sagten mir jeder für sich mit fast denselben Worten der Zweck müsse sein, dass die paar Kulturmenschen, die unter den Barbaren lebten, sich organisierten. Vor allem gegen die offizielle Kunst, gegen die Siegesallee. Positiv: etwa l’Art pour l’Art. […] Simmel übernahm es, den ‚L’Art pour l’Art‘-Standpunkt für die Beitrittseinladung passend zu formulieren.“ 10 F

Dieser „‚L’Art pour l’Art‘-Standpunkt“, den Simmel zu formulieren übernahm, lässt sich nun aber nicht jenem „Sich-selbst-gehören“ – hier der Kunst – zuordnen, 6 Köhnke, Klaus Christian, Der junge Simmel: In Theoriebeziehungen und sozialen Bewegungen, Frankfurt am Main1996, S. 505ff. 7 Köhnke, Der junge Simmel, S. 377ff. 8 Ebd., S. 489 ff. 9 Vgl. Köhnke, Klaus Christian, Kann der Vorwurf des Ästhetizismus gerechtfertigt sein?, in: Merz-Benz, Peter Ulrich; Renz, Ursula (Hgg.), Ethik oder Ästhetik? Zur Aktualität der neukantianischen Kulturphilosophie, Würzburg 2004, S. 189–202. 10 Köhnke, Klaus Christian, in: Ders. (Hg.), Georg Simmel. Briefe 1880–1911, S. 448.

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sondern stellt eine dezidierte Antithese „vor allem gegen die offizielle Kunst, gegen die Siegesallee“ dar. Der „‚L’Art pour l’Art‘-Standpunkt“ nämlich ist rein taktisch gemeint und zielt durchaus nicht auf einen Verzicht auf jegliches Engagement von Kunst, sondern vielmehr auf einen Verzicht Wilhelms II. auf Einmischung in die Kunst respektive den Missbrauch der Kunst zu Zwecken der nationalistischen Propaganda, bezeichnet damals mit der Chiffre Siegesallee. Denn das Großprojekt „Siegesallee“, das der Kaiser anlässlich seines 36. Geburtstages am 27. Januar 1895 als „Zeichen seiner Anerkennung“ für die Stadt Berlin und zur „Erinnerung an die ruhmreiche Vergangenheit unseres Vaterlandes“ zu stiften ankündigte, belief sich auf nicht weniger als 32 Marmorstandbilder der Fürsten Brandenburgs und Preußens von Markgraf Albrecht dem Bären (1134–1170) bis zu seinem Großvater Wilhelm I. (1861–1888), monumentale nationale Denkmäler, die bis 1901 tatsächlich realisiert wurden. 11 Wenn also Simmel im Einladungsschreiben zum Club den „‚L’Art pour l’Art‘Standpunkt“ formuliert, dann in Kritik der „Siegesallee“, wie man leicht übersehen könnte. Denn Simmel sagt: F

„Den aeusseren Zweck dieses Klubs bildet die Förderung derjenigen ernsten u. eigenartigen Kunstbestrebungen, die einstweilen oder dauernd der Förderung durch die Gunst der Majorität entbehren. Ein Klubhaus grossen Stiles soll Räume für Ausstellungen, Vorlesungen, Rezitationen, künstlerische Darbietungen jeder Art zur Verfügung stellen. Es handelt sich um eine allseitige Erweiterung des Prinzips der ‚Sezession‘, deren Ausstellungen in dieses Gebäude übergehen würden. Dieses Prinzip lässt jeder künstlerischen Richtung Raum, solange sie nur die Kunst um ihrer selbst willen pflegt. Denn was man der Wissenschaft jetzt endlich einräumt: dass sie sich ausschliesslich ihren eigenen inneren Bedingungen gemäss, völlig gleichgültig gegen alle rechts u. links liegenden Interessen, entwickle – darum muss die Kunst noch immer kämpfen! Jegliche Kunstrichtung, mag sie überlieferte Wege weiterbilden oder völlig neue versuchen, soll sich hier darbieten dürfen, ausser derjenigen, die keine künstlerische Qualität jenseits der leichten Verkäuflichkeit erstrebt.“

Versteht man den Sinn dieses ‚L’Art pour l’Art‘ also richtig (das heißt historisch), als Zurückweisung staatlicher und politischer Übergriffe, dann auch die Analogie der Kunst zur Wissenschaft, welch letzterer man endlich einräume, dass sie sich ausschließlich ihren eigenen inneren Bedingungen gemäß entwickle, denn hier wie dort geht es lediglich um die Autonomie der Kunst respektive die der Wissenschaft. So weit also der äußere Zweck der Klubgründung, der anti-wilhelminische, der immerhin einige Plausibilität für sich hat, wohingegen die Formulierung des sogenannten inneren Zweckes, „die klubmässig ungezwungene gegenseitige Annäherung geistig interessirter [sic] Persönlichkeiten“ teils an britische Gentlemen’s Clubs, teils an die die Berliner Salons der 1830er-Jahre erinnert, die hier beschworen werden, wenn Simmel fortfährt: „Allgemein wird geklagt, dass weder der durch Berufsgleichheit bestimmte, noch der familiäre Verkehr in Berlin eine ‚Gesellschaft‘ – in dem Sinne, wie sie im Anfang des 19. Jahrh. hier

11 Vgl. Reissig, Harald, Die Berliner Secession, in: Engel, Geschichtslandschaft Berlin, S. 37–48.

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Klaus Christian Köhnke bestand – zustande gebracht hätte, einen Kreis höchster Bildung, der bei aller individuellen Mannigfaltigkeit, sich als Träger einer einheitlichen Gesammtkultur [sic] fühlte.“

Denn darum geht es: eine „einheitliche Gesammtkultur“, um die Wiederherstellung einer vormodernen Integration der gesellschaftlichen Eliten, die freilich, das weiß auch Georg Simmel, so ohne weiteres nicht wieder zu haben ist, die aber durch Institutionalisierung eines seinen Zwecken nach unterbestimmten Klubs mitbewirkt, wenn nicht bewirkt werden soll, eines Klubs, dessen Mitgliedern einzig ein gemeinsames Interesse an der Kunst, an Kunst überhaupt, unterstellt wird, worin man denn eine letzte Schwundstufe kultureller Integration erreicht sehen mag: „Denn“, so drückt Simmel diese Hoffnung aus, „gegenüber den Spezialisirungen [sic] der Wissenschaft, den Feindseligkeiten des politischen u. sozialen Daseins, der Veräusserlichung des Lebens durch das Dominiren [sic] der wirtschaftlichen u. technischen Fortschritte – haben wir eigentlich nur an dem künstlerischen Interesse den Träger einer ebenso innerlich-persönlichen, wie über die Gegensätze der Personen hinweggreifenden Kultur.“

Dieses Kunst-Interesse als Minimalkonsens, Kultivierungs- und Integrationsinstrument, aber auch als Symbol eines immerhin kulturpolitischen Anti-Wilhelminismus hat sich nicht durchsetzen können, jedenfalls nicht in Form eines allgemeinen Kulturklubs, für den selbst die materiellen Voraussetzungen keineswegs ungünstig waren, denn die Mittel für den Bau eines Klubhauses standen bereits Anfang 1903 bereit, und dieses Klubhaus – dann jedoch wieder Ausstellungshaus der Sezession – sollte tatsächlich im Mai 1905 in Berlin, Kurfürstendamm 208, eröffnet werden. Für den Moment aber, für Februar und März 1903, wissen wir nur noch, dass Simmel mit einem ähnlichen Anschreiben auch an Ricarda Huch herangetreten ist, die dankend ablehnte, und dass er sich eine herbe Zurückweisung durch Stefan George zugezogen hat, woraufhin sich Simmel damit entschuldigte, dass „auch wenn wir Ihre [Georges] Einwilligung für das Unwahrscheinlichste von der Welt gehalten hätten, so hätten wir Sie doch fragen müssen. Mit Recht dürften Sie es übel nehmen, wenn ein Unternehmen mit der Tendenz auf allgemeine deutsche Kultur ohne die Bitte um Ihre Mitwirkung begonnen wäre. Ob Sie dieses Unternehmen für zweckmäßig u. in Ihrem Sinne halten oder nicht – das zu entscheiden mußte man Ihnen überlassen u. durfte es nicht eigenmächtig präjudiziren.“ 12 F

F

Womit diese Episode der Beteiligung Georg Simmels an der Klubgründung endete, denn Simmel, der im Sommersemester 1903 beurlaubt war, reiste Anfang März nach Italien ab, wo er sich bis zum September aufhielt 13 , so dass die Geschichte des nicht zustande gekommenen Kulturklubs hiermit an sich also zu Ende wäre. Aber es gibt eine zweite und parallel verlaufende Geschichte und diese, die mit fast der gleichen Besetzung, in gleicher Kulisse und zunächst völlig identischer Handlung auskommt, ist eine Erfolgsgeschichte, genauer gesagt ist die VorF

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12 Georg Simmel an Stefan George vom 4. März 1903, in: Köhnke, Klaus Christian, Georg Simmel. Briefe 1880–1911, S. 454f. 13 Köhnke, Klaus Christian, in: Ders., Georg Simmel. Briefe 1880–1911, S. 463.

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Georg Simmel als Kulturpolitiker

schichte des Deutschen Künstlerbundes, der mit heute circa 600 Mitgliedern den wohl einflussreichsten kulturpolitischen und berufsständischen Zusammenschluss von bildenden Künstlerinnen und Künstlern der Bundesrepublik Deutschland darstellt. 14 Dessen Vorgeschichte, die sehr wenig erforscht ist, dies auch weil die Archivbestände des Künstlerbundes von seiner Gründung im Dezember 1903 bis zu seinem Verbot im Jahre 1936 als verloren gelten müssen, ist die Geschichte eines Bundes, der – ebenfalls – auf Initiative des Kunstförderers Harry Graf Kessler gegründet wurde, in Zusammenarbeit mit Lovis Corinth, Max Klinger, Alfred Lichtwark, Max Liebermann und anderen, und der sich als „ein überregionaler Verband, der über die bisher bestehenden Secessionen hinaus“ ging, verstand und der der ‚Freiheit der Kunst‘, einer Freiheit von jeglicher ‚Bevormundung durch den staatlichen Kunstbetrieb‘ dienen sollte. 15 Aber dieser tatsächlich zustande gekommene Künstlerbund diente nicht mehr, wie dies Simmels noch im Auge gehabt hatte, dem klubmäßigen Zusammenschluss kultivierter Persönlichkeiten, sondern der Professionalisierung künstlerischer Berufe. Und das bis heute. F

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Literaturhinweise Köhnke, Klaus Christian, Der junge Simmel: In Theoriebeziehungen und sozialen Bewegungen, Frankfurt am Main 1996. Köhnke, Klaus Christian (Hg.), Georg Simmel. Briefe 1880–1911 (= Georg Simmel Gesamtausgabe Bd.22), Frankfurt am Main 2005. Reissig, Harald, Die Berliner Secession, in: Engel, Helmut (Hg.), Geschichtslandschaft Berlin. Orte und Ereignisse, Bd.1: Charlottenburg, Berlin 1985, S. 37–48. Silbereisen, Gabriele, Die Berliner Secession, in: Engel, Helmut (Hg.), Geschichtslandschaft Berlin, S. 378–397.

Quelle Anlage zum Brief Georg Simmels an Stefan George (24. Februar 1903) 16 F

Die Unterzeichneten planen die Gründung eines Klubs zur Vereinigung von Persönlichkeiten, die an gemeinsamen künstlerischen u. kulturellen Interessen die Voraussetzung eines fruchtbaren Zusammenwirkens u. erwünschter persönlicher Berührungen besitzen. Den aeusseren Zweck dieses Klubs bildet die Förderung derjenigen ernsten u. eigenartigen Kunstbestrebungen, die einstweilen oder dauernd der Förderung durch die Gunst der Majorität entbehren. Ein Klubhaus grossen Stiles soll Räume für Ausstellungen, Vorlesun14 Vgl. die Homepage des Deutschen Künstlerbund e.V., URL: http://www.kuenstlerbund.de/deutsch/projekte/deutscher-kuenstlerbund/index.html, Stichwort: ‘Projekte’ (19.07.2011). 15 Ebd. unter Stichwort ‚Historie’. 16 Anlage zum Brief Georg Simmels an Stefan George vom 24. Februar 1903, in: Köhnke, Klaus Christian (Hg.), Georg Simmel. Briefe 1880–1911 (= Georg Simmel Gesamtausgabe Bd. 22), Frankfurt am Main 2005, S. 449–451; Original: Typoskript, Stefan George Archiv Stuttgart.

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gen, Rezitationen, künstlerische Darbietungen jeder Art zur Verfügung stellen. Es handelt sich um eine allseitige Erweiterung des Prinzips der „Sezession“, deren Ausstellungen in dieses Gebäude übergehen würden. Dieses Prinzip lässt jeder künstlerischen Richtung Raum, solange sie nur die Kunst um ihrer selbst willen pflegt. Denn was man der Wissenschaft jetzt endlich einräumt: dass sie sich ausschliesslich ihren eigenen inneren Bedingungen gemäss, völlig gleichgültig gegen alle rechts u. links liegenden Interessen, entwickle – darum muss die Kunst noch immer kämpfen! Jegliche Kunstrichtung, mag sie überlieferte Wege weiterbilden oder völlig neue versuchen, soll sich hier darbieten dürfen, ausser derjenigen, die keine künstlerische Qualität jenseits der leichten Verkäuflichkeit erstrebt. Ihrem inneren Zwecke nach soll die Vereinigung die klubmässig ungezwungene gegenseitige Annäherung geistig interessirter [sic] Persönlichkeiten ermöglichen. Allgemein wird geklagt, dass weder der durch Berufsgleichheit bestimmte, noch der familiäre Verkehr in Berlin eine ‚Gesellschaft’ – in dem Sinne, wie sie im Anfang des 19. Jahrh. hier bestand – zustande gebracht hätte, einen Kreis höchster Bildung, der bei aller individuellen Mannigfaltigkeit, sich als Träger einer einheitlichen Gesammtkultur [sic] fühlte. Einen Mittelpunkt für die Gestaltung eines solchen soll der Klub bilden und als Mitbildner der öffentlichen Meinung in den Interessen geistigen Lebens, eine Quelle jener Produktion sein, die nicht in Büchern u. Werken, sondern in dem Wechselverkehr geistiger Persönlichkeiten besteht; denn ohne diesen wäre, trotz seines ephemeren Charakters, weder die Kultur von Athen noch von Florenz, von Weimar oder von Paris denkbar. Was das langsame organische Heranwachsen einer geistigen Atmosphäre oder das glücklich-zufällige Zusammenkommen bedeutender Individuen an diesen Stätten bewirkte, muss das moderne Leben, hier wie sonst, durch Institutionen u. bewusste Anregungen zu ersetzen suchen. Diesem kulturellen Zweck dürfte keine Vereinigung besser als auf der Basis des gemeinsamen Interesses für die Kunst dienen. Denn gegenüber den Spezialisirungen [sic] der Wissenschaft, den Feindseligkeiten des politischen u. sozialen Daseins, der Veräusserlichung des Lebens durch das Dominiren [sic] der wirtschaftlichen u. technischen Fortschritte – haben wir eigentlich nur an dem künstlerischen Interesse den Träger einer ebenso innerlichpersönlichen, wie über die Gegensätze der Personen hinweggreifenden Kultur. Die materielle Möglichkeit für die Verwirklichung dieses Planes, zunächst nach seiner äusseren Seite hin, ist gegeben, indem die Mittel für den Bau des Klubhauses bereitgestellt sind. Unser Ansuchen an Sie, sehr geehrter Herr, geht dahin, durch ihre moralische Unterstützung dem Klub die für ihn geeigneten Elemente zuführen u. die Bedenken zerstreuen zu helfen, denen künstlerische Bestrebungen bei uns oft nur deshalb begegnen, weil sie der offiziellen Initiative u. Legitimirung [sic] entbehren. Sind sie mit uns darin einverstanden, dass unser Plan die von allen Schlagworten u. allen äusseren Rücksichten freie Kunst in einer Form fördere, die zugleich ihren Ertrag für die allgemeine geistige Kultur erhöht – so bitten wir Sie, Ex. dieses Briefes zu unterschreiben u. mir zurück zu senden. Sie treten damit, ohne jede weitergehende Verpflichtung, dem engeren Komittee zur Vorbereitung des Planes bei u. ermächtigen uns, Ihren Namen unter die diesem Briefe gleichlautende, an weitere geeignete Kreise zu richtenden Einladung zu setzen.

„WIR VERWANDELN UNS IN EINE KOLONIE FREMDSPRACHIGER BÜCHER“. DAS BUCH ALS KULTURPROBLEM IM JUGOSLAWIEN DER ZWISCHENKRIEGSZEIT 1 F

Augusta Dimou Obschon dem serbischen Literaten Miloš Crnjanski ein Ruf als widerspenstiger Schöngeist, leidenschaftlicher Streiter und eigensinniger Provokateur bereits vorauseilte, ahnte er wahrscheinlich im Frühling 1932 wenig von der Lawine, die seine Feder diesmal ins Rollen bringen würde. Ging es ihm bei dem aphoristischen Ausruf „Wir verwandeln und in eine Kolonie fremdsprachiger Bücher“ 2 darum, eine Warnung über die Umstände – oder, akkurater gesagt – die Missstände in Sachen Literatur- und Buchproduktion im Jugoslawien der 1930er-Jahre an die Welt zu senden, mündete seine Tirade – nicht ohne Mitschuld seines streitsüchtigen Charakters – in eine Polemik, die einen beträchtlichen Teil der jugoslawischen Intelligenz erfasste und schließlich vor Gericht endete. Das Thema „Buchkrise“ war allerdings kein neues Thema im Königreich Jugoslawien. Es beschäftigte unaufhörlich die jugoslawische literarische Öffentlichkeit der Zwischenkriegszeit und sorgte bereits in den 1920er-Jahren für heftige Auseinandersetzungen und gegenseitige Anschuldigungen zwischen Autoren, Verlegern und Buchhändlern in den Printmedien. Wie beim Prinzip der kommunizierenden Gefäße war die Polemik unterschwellig dennoch unmittelbar mit der Buchkrise verknüpft und brachte sowohl eine Identitäts- wie auch eine Professionalisierungskrise zum Ausdruck. In seiner Argumentationsstrategie in der diesem Essay beigefügten Quelle versuchte Crnjanski eine Gratwanderung. Er prangerte die künstlich vorangetriebene Konjunktur für das fremdsprachige Buch im Original und in Übersetzung an; sie habe massiv zur Krise des heimischen Buches und schließlich zur Verdrängung und Abwertung der heimischen Literatur beigetragen. Seine Forderung einer „nationalen“ Antwort auf das Kulturproblem „Buch“ nahm er nicht als xenophobisch angehauchten Chauvinismus, sondern als merkantilistischen Protektionismus wahr, obwohl seine Anspielung auf den „schädlichen“ Einfluss des „Fremdländischen“ auf die jugendlichen Gemüter an die Grenze zur ZweideutigF

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Essay zur Quelle: Miloš Crnjanski: Wir verwandeln uns in eine Kolonie fremdsprachiger Bücher. Das Problem unserer Kultur (1932). Crnjanski, Miloš, Wir verwandeln uns in eine Kolonie fremdsprachiger Bücher. Das Problem unserer Kultur, in: Vreme, Bd. XII, H. 3659, 09.03.1932, S. 2 und H. 3662, 12.03.1932, S. 2. Übersetzt aus dem Serbokroatischen von Augusta Dimou, Redaktion Ruža Tokić. Im Folgenden stammen alle Quellenzitate, soweit nicht anders vermerkt, aus den hier abgedruckten Quellenausschnitten.

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keit stieß. Bekanntermaßen war auch sehr viel Trivialliteratur und vor allem Pornografie im Umlauf. Crnjanski verlangte eine ähnliche Regelung wie beim Filmimport in Form einer staatlichen Intervention (Kontingentierung) gegen die unkontrollierte Einfuhr fremdsprachiger Bücher und unterstrich die Notwendigkeit, einen sowohl reellen wie virtuellen, staatlich protegierten Raum zu schaffen, wo der heimische Kultur- und Büchermarkt uneingeschränkt wachsen und reifen könnte. Einerseits ging es ihm um die gewerbliche Komponente der Buchproduktion und des Buchverkehrs, andererseits um die identitätsstiftenden, ideellen Wesenszüge von Kultur und geistigem Gut, die im Buch verkörpert und enthalten, und schließlich dadurch weiter kolportiert wurden. Crnjanski legte seine Polemik nicht eindeutig auf den materiellen oder immateriellen Charakter des Buches fest bzw. spielte abwechselnd auf beiden Registern und perpetuierte somit eine semantische Ambiguität, welche entsprechend dann auch die darauffolgende Polemik prägte. Auf Crnjanskis passionierten Aufruf antwortete prompt Milan Bogdanović, Epigone der Gründergeneration der serbischen Literaturkritiker 3 , dem linken Ideenspektrum angehörend und Redakteur des Serbischen Literarischen Kuriers wie auch des linksorientierten und für seine Fremdübersetzungen bekannten Belgrader Verlages Nolit. In „Sollten wir übersetzen oder nicht?“ 4 attackierte er den negativen und seines Erachtens unbestimmten Inhalt der crnjanskischen Aussagen. Sollte denn jegliche fremdsprachige Übersetzung unterbunden werden? Der Vorwurf, fremde Bücher seien für das lokale Desinteresse an der heimischen Literatur verantwortlich, übersehe die wichtige Frage, warum denn das heimische Publikum der fremdsprachigen Literatur den Vorzug gab. Bogdanovićs Antwort auf diese Frage glich den seit jeher geäußerten Vorwürfen der Verleger: Entweder versäumte es die serbische Literatur, jene Werte zu vermitteln, welche die heimischen Leser in der ausländischen Literatur finden konnten, oder die lokale literarische Produktion war einfach nicht zeitgemäß und auf dem erforderlichen Niveau. „[I]st unsere Literatur in lebendigem Kontakt mit unserem Publikum? Erfüllt sie die Erfordernisse hoher Kunst?“ Die Antwort sei schlichtweg negativ, und dieser Umstand treibe die Leser zum fremden Buch. Schließlich hätten sich auch die Zeiten geändert. Die bekannte Fixierung auf die Nationalliteratur sei einer allgemeinen transnationalen Wissbegierde gewichen. „Wenn auch wir empfänglich für diese Wissbegierde sind, worin liegt dann das Problem?“ 5 Crnjanski sei von einem engstirnigen und altmodischen Denken beherrscht; Bogdanović forderte, er möge seine nebulösen Vorwürfe durch aussagekräftiges Beweismaterial belegen. Die Konfrontation Crnjanski – Bogdanović erhitzte die Gemüter und löste eine typische Intellektuellenpolemik aus. Vordergründig berührte die Polemik eine Vielfalt von literaturtechnischen Themen wie die Übernahme oder NichtF

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Vgl. Palavestra, Predrag, Istorija Srpske književne kritike 1768–2007, Bd. 1, Novi Sad 2008, S. 349–359. Bogdanović, Milan, Prevoditi ili ne prevoditi, in: Tešič, Gojko (Hg.), Zli volšebnici, Bd. 2, Belgrad 1983, S. 462–464. Ebd., S. 463.

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Übernahme fremder literarischer Modelle und Paradigmen, den Anspruch auf lokale literarische Originalität oder das Bekennen der jugoslawischen Literaten zu den kosmopolitischen Werten der Weltliteratur, den Qualifizierungskriterien, die „gute“ Literatur ausmachten. Schlussendlich war sie symptomatisch für eine tief sitzende Identitätskrise. Aus literaturhistorische Warte dokumentiert sie das frische Auftreten der „sozialen“, „engagierten“ Literatur und die von ihr betriebene Infragestellung der etablierten literaturästhetischen Richtungen, insbesondere der des führenden Expressionismus. Crnjanskis unerbittliche Haltung verschaffte ihm wenig Unterstützung unter seinen Kollegen. Im Gegenteil provozierte er eine geschlossene Front, die sich in kollektiven Unterschriftsaktionen in allen Teilen des Königreiches gegen ihn richtete. Milan Bogdanović bekam seine Satisfaktion vor Gericht. Crnjanski wurde eine Geldstrafe wegen persönlicher Verleumdung auferlegt und er musste auch für die Gerichtsspesen aufkommen. Crnjanskis Gegner konzentrierten sich mehrheitlich auf einen Hauptkritikpunkt, der paradoxerweise quasi auf einer ‚falschen‘ Lesart seiner Aussagen beruhte. Literaten und Schriftsteller schrieben sich die Finger wund und protestierten gegen Crnjanskis angebliche Absicht, die Meinungsfreiheit in den Belangen der Literatur unterbinden zu wollen. In langatmigen idealistischen Plädoyers richteten sie sich gegen Crnjanskis Nationalismus und Xenophobie, seine angebliche Vorstellung einer Abkapselung Jugoslawiens von der großen Welt und ihrer Literatur, und setzten sich leidenschaftlich für die freie und uneingeschränkte Bewegung der Ideen ein. Bemerkenswert bei der Rezeption des crnjanskischen Essays und gleichzeitig bezeichnend für das etwas „naive“ Selbstverständnis der jugoslawischen Intellektuellen war die Unfähigkeit seiner Kontrahenten, sein materialistisches Argument zu erfassen, also das Buch als Handelsware. Denn Crnjanski bekräftigte in recht expliziter Weise, er wende sich eben nicht allgemein gegen die Werte fremdsprachiger Literatur, sondern gegen die Art ihrer Kommerzialisierung und ihres Vertriebs in Jugoslawien. Nur einige isolierte und keinesfalls repräsentative Stimmen reagierten auf sein Argument aus dem gleichen Verständnishorizont heraus. Sollte man die Literatureinfuhr tatsächlich kontingentieren, nach welchen Kriterien solle man dabei vorgehen, und wie darüber entscheiden, was gute und was schlechte Literatur sei? Weder Polizei- noch Zollbehörden konnten damit beauftragt werden über literarische Werte zu entscheiden und den freien Verkehr zu regulieren. Auch die Unterbindung der Einfuhr von fremdsprachigem „Schund" sei keine Garantie dafür, dass das Publikum nicht länger anfällig für den heimischen „Schund" werde. Die Kontrolle des Bücherimports sei nicht der richtige Weg, um das Niveau der Leser zu heben und es sei praktisch unmöglich, das Publikum zu einem bestimmten Konsumverhalten in Bezug auf Bücher zu zwingen. 6 Die Verknüpfung von Crnjanskis Abneigung gegen marxistische bzw. soziale Literatur und sein Aufruf zum nationalen Handeln verweist nicht zuletzt auf eine F

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Aus den ca. 50 Texten, die die Polemik ausmachten, war nur einer im Stande, Crnjanski auf einem ebenbürtigen pragmatischen Niveau zu antworten.

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bestimmte Phase in seiner Biographie. Seine Kapitalismuskritik entstammte dem rechten ideologischen Lager, und in dieser Hinsicht steht er emblematisch für den ideologischen Wandel vom Sozialismus zum Faschismus, den sämtliche Intellektuelle in der Zwischenkriegszeit europaweit vollziehen sollten. Analog zur Erfahrung einer ganzen Generation wurde Crnjanski vom Ersten Weltkrieg, dem internationalen geistigen Klima der Antikriegsgesinnung sowie der Internationalisierung der Literatur geprägt. Als einflussreicher Vertreter des Belgrader Modernismus stellt Crnjanskis Werk einen bedeutenden Beitrag zu den Bemühungen seiner Generation dar, eine neue literarische Sprache als Ausdrucksmittel für neue Motive und Konzepte zu entwickeln. Politisch rechnete er sich den progressiven sozialen Kräften zu und flirtete mit dem Sozialismus. In den späten 1920er-Jahren wanderte er ideologisch zunehmend nach rechts ab, kam zuerst der königlichen Diktatur nah, und liebäugelte schließlich mit dem Faschismus. 7 Angestoßen durch die Auseinandersetzung zwischen Miloš Crnjanski und Milan Bogdanović, entwickelte die Polemik durch Interventionen und öffentliche Stellungnahmen bald ein Eigenleben. Thematische Inhalte nahmen auf der diskursiven Metaebene eine symbolische Valenz an und mündeten in unterschwelligen und unausgesprochenen Identitätsfragen. Was sei die Bedeutung, aber auch der Stellenwert des „Nationalen“, was die Rolle des Autors und seines Standesbewusstseins zwischen nationalem Kontext und transnationalen Ideenströmungen? Als Dilemmata wurden das anhaltende identitäre Defizit und die beharrliche Identitätssuche der Intellektuellen im Rahmen des neuen jugoslawischen Staatsgebildes zur Sprache gebracht. Dieses Gefühl der Ungewissheit resultierte aus der komplexen Realität des neuen Staates, der aus der Zusammenfügung verschiedener kultureller Bausteine und Identitäten entstanden war. Daraus folgte der Anspruch auf eine doppelte Emanzipation der heimischen Kultur. Einerseits sollte eine gegenüber dem Ausland eigenständige und originelle jugoslawische, den anderen europäischen Kulturen ebenbürtige Kultur entwickelt werden. Andererseits richteten sich die Emanzipationsbestrebungen nach innen und kamen in der wiederholten Aufforderung nach einer Hebung der literarisch-ästhetischen Qualität zum Tragen. Die jugoslawische Identitätsfrage wurde durch eine zusätzliche Aufspaltung entlang der gegensätzlichen Drehpunkte Einheit und Distinktion verkompliziert. Zum einen ging es um die Frage, was Jugoslawien von anderen Nationen unterscheide und worin die jugoslawische Besonderheit bestehe. Zum anderen – dies unterschied den Vielvölkerstaat Jugoslawien von anderen europäischen Staaten – ging es um die interne kulturelle Kohärenz und die noch viel mühseligere Frage, was angesichts der verschiedenen Elemente und Traditionen Jugoslawiens eigentliche kulturelle Gemeinsamkeit ausmache. Diese letzte Frage wurde durch chronische politische Krisen ständig unterminiert. Als Antwort darauf wurden verschiedene identitäre Modelle entwickelt. Als möglicher, jedoch nur mäßig populärer Entwurf galt die Idee der Schaffung einer neuen jugoslawischen Kultur auf der F

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Zu Crnjanskis literarischer Biografie vgl. Deretić, Jovan, Istorija Srpske književnosti, Belgrad 2 1996, S. 405–423.

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Grundlange einer der schon existierenden Kulturen, womöglich der Serbischen. Weit ansprechender erschien die Schaffung einer neuen supranationalen Kultur, wodurch lokale Partikularitäten überwunden werden sollten. Eine solche supranationale Kultur wurde in zwei Variationen vorgestellt: Einerseits als modernistischer Markstein durch die Anbindung der jugoslawischen an die westeuropäische Kultur; andererseits ab den 1930er-Jahren als universalistisch orientiertes sozialistisches Kulturmodell, welches in der Form national, inhaltlich jedoch sozialistisch geprägt sein sollte. Als drittes Modell galt das Paradigma des integralen Jugoslawismus, konzipiert als eine neuartige kulturelle Verschmelzung in eine originelle und dynamische, des neuen Nationalstaates würdige Nationalkultur. 8 In den 1930er gaben viele Intellektuelle das synthetische zugunsten des supranationalen Modells auf oder wechselten sogar auf die Seite des kulturellen Nationalismus über. Ausdruck des Ideals des integralen Jugoslawismus war das Heranwachsen einer Generation, die geschult war in den nationalen Idealen und gleichzeitig geschützt vor den als verderblich angesehenen materialistischen Einflüssen der westlichen Zivilisation. 9 Daraus erwuchs der Imperativ einer Nationalkultur als erfolgreiche Amalgamierung der verschiedenen lokalen Partikularitäten zu einer jugoslawischen Einheit. Kultur wurde in den Dienst der Integration gestellt und Kulturvorstellungen wurden von der ständigen Agonie getragen, die neue jugoslawische Kultur als partikulare und homogene Kultur gegenüber anderen Kulturen erscheinen zu lassen. Phobien unterschiedlichster Art wie eben Assimilationsängste angesichts fremder Einflüsse, Furcht vor konfessionellen und nationalen Spaltungen, partikularistischem und traditionalistischem Bewusstsein bildeten die Grundlagen der Modernisierungsvorstellungen von Literaten über die politische, nationale und kulturelle Einheit der jugoslawischen Völker.10 Die Unzulänglichkeit, ja sogar das zeitweise Versagen der politischen Institutionen in der Zwischenkriegszeit überhöhte den Anspruch auf die integrative Rolle von Kunst und Literatur als Wächterinnen der nationalen Identität.11 Daher rührten das ständige Selbstauspeitschen und mangelnde Selbstvertrauen, die Ablehnung der mimetischen oder oberflächlichen Übernahme fremder literarischer Modelle und das fortwährende Infragestellen sowohl der Originalität wie auch der Qualität der jugoslawischen Literaturproduktion. 12 Auf diese Herausforderung antworten die Autoren F

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8 Wachtel, Andrew B., Ivan Meštrović, Ivo Andrić and the Synthetic Yugoslav Culture of the Interwar Period, in: Djokić, Dejan (Hg.), Yugoslavism. Histories of a Failed Idea 1918–1992, London 2003, S. 239–241. 9 Dimić, Ljubodrag, Kulturna politika Kraljevine Jugoslavije 1918–1941, Bd. 1, Belgrad 2009, S. 304. 10 Ebd., Bd. 3, S. 411. 11 Das Argument wird von Dimitris Tziovas im Zusammenhang mit der Entwicklung der griechischen Zwischenkriegsliteratur avanciert. Mir erscheint es im jugoslawischen Fall ebenso relevant. Vgl. Tziovas, Dimitris, Oi metamorfoseis tou ethnismou kai to ideologima tis hellenikotitas sto mesopolemo, Athen 1989, S. 14. 12 Vgl. zum Beispiel: Naši književnici i jugoslovensko duhovno jedinstvo, in: Riječ, Bd. XXVII, H. 6, 14.02.1931, S. 1.

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im Laufe der Polemik ganz unterschiedlich. Während Miloš Crnjanski Protektionismus auf allen Ebenen forderte, verwies die andere Seite auf die Unreife und Mängel der heimischen Literatur und unterstrich die befruchtende Rolle ausländischer Literatur als einzigen Ausweg aus der geistigen Stagnation. In der Zwischenkriegszeit wurden Inhalt und Bedeutung der Nationalliteratur in einem Wechselspiel zwischen kontradiktorischen, sich jedoch in diesem Kontext auch ergänzenden Wertigkeiten wie national und kosmopolitisch gedeutet. Ziel des Nationalen war es, den ästhetischen und künstlerischen Stellenwert des Universalen zu erreichen, ohne dabei jedoch die nationale Eigenart und Besonderheit zu verlieren. Der Beitrag zum Universalen ist in der Verfeinerung und Sonderart des Nationalen zu finden, was wiederum als Antwort auf die Herausforderung durch die großen Bezugskontexte europäischer Literatur und Weltliteratur zu verstehen ist. Anders als bei den Berührungsängsten der herkömmlichen Verfechter einer exklusiven nationalen Identität fließt hier das Nationale ins Universale ein und wird allein durch diese Berührung unsterblich und bedeutsam. Der politische Kontext Jugoslawiens gestaltete sich freilich anders. Hier erweckte die politische Dominanz der Serben verschiedenartigste Phobien; während die serbische politische Elite sich vor einer weiteren Demokratisierung der politischen Kultur fürchtete, ging es bei den anderen Nationalitäten um fest verwurzelte Identitätsverlustängste. Der Sinngehalt des Signifikats „national“ ist im Rahmen dieser polyphonen wie polymorphen Sinngestaltung alles andere als eindeutig und wird immer wieder neu ausgehandelt und nuanciert. Crnjanski dürfte in diesem Zusammenhang „national“ vom Standpunkt des integralen Jugoslawismus her füllen. Sein „Nationalismus“ entsprang zugleich seiner politisch konservativen Gesinnung und richtete sich gegen den marxistischen Internationalismus; zum einen, weil Crnjanski der marxistischen Belletristik keinen echten literarischen Wert, sondern nur propagandistische Absichten zusprach. Zum zweiten, weil die mit Hilfe moderner soziologischer Instrumente und Kategorien neuartige semantische Aufladung der Signifikaten „Volk“ und „Nation“ seitens des Marxismus die nationale Einheit als Priorität des integralen Jugoslawismus im Vielvölkerstaat Jugoslawien herausforderte. Bei seiner Intervention ging es Crnjanski an erster Stelle um die gewerbliche Dimension des Buches, die Identitätsfrage war nur ein Epiphenomenon. Die berüchtigte „Buchkrise“ kehrte seit Mitte der 1920er-Jahre immer wieder in die Öffentlichkeit zurück. So auch Anfang der 1930er-Jahre, als sie für mediale Aufregung sorgte, weil Schriftsteller, Buchhändler und Verleger sich gegenseitig die Schuld für die Krise in die Schuhe schoben. Die eigentlichen Ursachen der Krise hingen jedoch kaum vom Willen vereinzelter Akteure ab, sondern grundlegend von den sozioökonomischen Strukturen und den literarischen Produktionsverhältnissen eines Agrarstaates, wie es Jugoslawien in der Zwischenkriegszeit war. Die Polemik schöpfte aus einer Reihe realer Probleme, die, obgleich sie bei dieser Auseinandersetzung thematisch nicht vorkamen, immer wieder für Brisanz sorgten und die Beziehungen zwischen den gesellschaftlichen Gruppen strukturierten – wie die Autorenhonorare, das Angebot der Buchhandlungen, die Strategien der Verleger, das Anrecht auf den Buchvertrieb, die staatliche Büchereinfuhrpolitik,

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die Professionalisierung des Verleger- und Buchhändlerberufes und anderes mehr. Die so bezeichnete „Krise“ war nur Ausdruck einer Reihe zusammenhängender Probleme, die auf den unzulänglichen Kreislauf Produktion – Zirkulation – Konsum des Buchmediums, hinwiesen. Somit war sie symptomatisch für einen kleinen und unbeständigen Büchermarkt, in Verbindung mit einem niedrigen Professionalisierungsgrad und einem eher zufälligen und unkonsolidierten Lesepublikum. Die Vereinheitlichung der lokalen Büchermärkte schritt im neuen jugoslawischen Staat nur langsam voran. Zu bewältigen galt es nicht nur die unterschiedlichen Wirtschafts- und Handelsräume und -bedingungen, die regional massiv auseinanderklaffende Alphabetisierungsrate, die zu unterschiedlichen Graden erschlossenen Regionen und die mangelnde Verkehrsinfrastruktur, sondern auch und insbesondere die lang bewährten Traditionen und Handelsrouten des Buchhandels, die sich auch in der post-habsburgischen Zeit noch behaupten konnten. Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg bis Anfang der 1920er-Jahre wurden Bücher in serbokroatischer Sprache aufgrund der niedrigen Druckkosten im Ausland gedruckt und unverzollt eingeführt. Auf den Protest der Grafiker und Drucker hin, man solle der verlegerischen Tätigkeit im Königreich zu Hilfe kommen, wurde die Einfuhr der im Ausland gedruckten serbokroatisch- und slowenischsprachigen Bücher mit Zoll belegt. Fremdsprachige Bücher konnten weiterhin unverzollt eingeführt werden. Trotz der Verabschiedung einer einschlägigen Gesetzgebung zur Bekämpfung sittenwidriger Konkurrenz (1930) blieb der jugoslawische Buchmarkt weitgehend unreguliert. Buchvertrieb und Verkauf bewegten sich großteils innerhalb einer Grauzone, wo Schmuggler und Schleichhändler sich gut behaupten konnten. Das galt sowohl für das inländische wie auch für das ausländische Buch. Heimische Buchhändler und Verleger verkauften zu willkürlich gesetzten Rabattpreisen und verletzten dadurch die Vereinbarung ihres eigenen Verbandes. Aber auch das ausländische Buch machte Karriere. Gemäß Tradition und Gesetzgebung der Habsburger Monarchie hatten früher Vertreter ausländischer Verleger und Buchhändler in den südlichen Regionen des Reiches mit dem Buch gehandelt und setzten diese Tätigkeit trotz der Errichtung des neuen Staates in den gleichen Regionen (Kroatien und Slowenien) fort. Sie arbeiteten inoffiziell, nahmen meistens Bestellungen von Privatpersonen auf und besorgten die bestellten Bücher zu niedrigeren Preisen als die offiziellen Buchhändler, obwohl der Buchhandel für nicht registrierte Firmen gesetzlich unterbunden war. Buchhändler und Verleger aus Wien, Berlin und Leipzig gründeten Agenturen in Zagreb und anderen Ortschaften. Es wurde grundsätzlich mit dem deutschen Buch gehandelt, da italienische und französische Bücher meist über die Buchhändler besorgt wurden. Es gab ca. 100 ausländische Agenten und ungefähr 50 Bücher vertreibende Firmen. 13 Das qualitätsvolle und seriöse Buch machte Mitte der 1920er-Jahre allerdings kaum Karriere in Jugoslawien. Am meisten verbreitet waren Schulbücher, modische Zeitschriften, Krimis und Pornografie. Im Jahre 1926 wurde in Buchhändlerkreisen sogar behauptet, ausländische Werke in Übersetzung verkauften sich besF

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13 Durkovic-Jakšić, Ljubomir, Jugoslovensko knjižarstvo 1918–1941, Belgrad 1979, S. 141–145.

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ser als die heimische Literatur. 1930 wiesen die Zagreber Buchhändler eine ganz schlechte Bilanz beim Verkauf jugoslawischer Bücher auf. Aufgrund der schlechten Erfahrungen der letzten Jahre, wo nicht einmal das investierte Kapital eingetrieben werden konnte, weigerten sich die Verleger, Werke jugoslawischer Autoren zu drucken. Anfang der 1930er-Jahre kam es tatsächlich dazu, dass die Schriftsteller Schwierigkeiten hatten, Verleger für ihre Werke zu finden. 14 Die Verleger konzentrierten sich auf das Schulbuch und die fremdsprachige Literatur, vor allem die deutschsprachige. Die Autorenhonorare lagen in der Zwischenkriegszeit fünfmal niedriger als vor dem Krieg. Ebenso schlecht wurden Übersetzungen bezahlt, welche meist in Raten über einen unbestimmten Zeitraum hinweg honoriert wurden. 15 Schließlich legte auch noch der Staat einen so hohen Posttarif auf den Bücherversand, dass die Buchhändler sich weigerten, die Pakete von der Post abzuholen. Hätten die Verleger mehr bezahlt, hätten sie wahrscheinlich das Leben der Schriftsteller erleichtert, das strukturelle Problem der „Buchkrise“ hätten sie aber gleichwohl kaum gelöst. Urbane Kultur und Stadtleben erfassten in der Zwischenkriegszeit nur 15,8 Prozent der Bevölkerung. Der Analphabetismus betrug Anfang der 1930er-Jahre ca. 45 Prozent, 42 Prozent bei den Männern und 60 Prozent bei den Frauen. Noch größere Variation zeigten diese Messungen in ihrer regionsspezifischen Ausprägung: Die niedrigsten Analphabetenraten hatte Slowenien mit weniger als 9 Prozent, es folgten die Vojvodina (23 Prozent), Kroatien, Slawonien und Istrien (32 Prozent), Dalmatien (50 Prozent), Nordserbien (65 Prozent), Montenegro (67 Prozent), Bosnien und Herzegowina (80 Prozent) und schließlich Kosovo (84 Prozent). Diese Umstände hätte Crnjanskis Protektionismus auch nicht aufheben können. Es war aber die Erkenntnis dieser Umstände, die seinen Protektionismus an erster Stelle motivierte. F

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Literaturhinweise Novaković, Stojan, Srpska kniga, njeni prodavci i čitaonici u XIX veku. Državna štamparija kraljevine Srbije, Belgrad 1900. Popović, Radovan, Kniga o Cvijanoviću. Poslovna zajednica izdavača i knižara Jugoslavije, Belgrad 1985. Starčević, Velimir, Staro Srpsko knižarstvo, Belgrad 1997. Ders., Kniga o geci konu, Belgrad 2009. Velmar-Janković, Svetlana, Kniževnost između dva rata, Bd. 1-2, Belgrad 21972.

14 Siehe dazu Naši književnici i naši knjižari, in: Riječ, Bd. XXVII, H. 30, 01.08.1931, S. 1–2. 15 Pandurović, Sima, Jedan retrospektivan pogled, in: Misao, kniga XIX, sveska 3 (1925), S. 1246–1247.

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Quelle Miloš Crnjanski: Wir verwandeln uns in eine Kolonie fremdsprachiger Bücher. Das Problem unserer Kultur 16 F

Vor dem Krieg verkaufte sich unser Buch verhältnismäßig gut und genoss dabei auch noch einen hervorragenden Ruf. Heutzutage werden in der Regel ausländische Bücher und Übersetzungen aus fremdsprachigen Literaturen in all unseren Buchläden verkauft. Um unser Buch – das kann man wohl auch nach den offiziellen Feierlichkeiten zum 100jährigen Jubiläum des ersten gedruckten Buches in Belgrad und auch nach der Buchausstellung im Pavillon von Cvijeta Zuzorić17 – behaupten, kümmert sich kaum jemand. Den Grund dafür sollte man vor allem in der tiefen Gleichgültigkeit gegenüber dem Unsrigen und in der beträchtlichen Zunahme Fremdstämmiger in unserer Mitte oder zumindest Fremdgeistiger suchen, die nicht nur nach französischen Zeitungen, sondern auch nach deutschen Büchern gieren und dabei unserer Sprache, unserer Literatur und unserer allgemeinen kulturellen Entwicklung gegenüber vollkommen gleichgültig sind. Hinzu kommt eine beachtliche Spekulationswelle fremden Kapitals für die Publikation von Zeitungen und Büchern, die unser ganzes Land ergriffen hat. […] Das Gesetz musste uns letztendlich vor dem höhnischen Spiel retten, das Ausländer seit zehn Jahren mit unserer Sprache und mit fetter Ausbeute in den (unseren) Kinos treiben. Der Verkauf und organisierte Vertrieb fremder Bücher und Übersetzungen hingegen, die politisch defätistische Literatur beiseite gelassen, entwickelt sich immer mehr zur Krebswunde unserer Literatur und Bildung und zur Hauptgefahr für jegliche Entwicklung unserer wissenschaftlichen, populären und so genannten schönen Literatur. Die Mentalität der künftigen Generation – von jener der heutigen ganz zu schweigen – wird auf der Grundlage fremdsprachiger Bücher und in einem fremden Umfeld ausgebildet. Welche Auswirkungen das hat, bedarf keiner weiteren Erklärung. Wir verwandeln uns langsam in eine Kolonie für die Verbreitung fremdsprachiger Bücher, von den Übersetzungen ganz zu schweigen; das fremde Kapital, gestützt auch von unseren Buchhändlern, nutzt unsere Verlagsumstände aus und verdient sich dumm und dämlich, grundsätzlich durch falsche Werbung, die systematisch organisierte Aufdrängung fremdsprachiger Bücher und deren Übersetzungen im ganzen Land, und das ohne jegliche Kontrolle seitens unserer Presse und noch weniger seitens unserer Literaturzeitschriften und -zirkel. […] Es ist allgemein bekannt, dass manche ungarische und deutsche illustrierte Blätter in gewissen Teilen unseres Landes eine aktive Bilanz nur dank der Verkäufe in Dinar verzeichnen. Man weiß jedoch nicht bzw. möchte nicht wissen, dass die Buchkrise auch hier in Belgrad angelangt ist, wobei sie allerdings nur unser Buch erfasst hat und von einer Krise beim Verkauf fremdsprachiger Bücher und Übersetzungen kaum die Rede sein kann. Im Gegenteil sind hier wie auch in ganz Jugoslawien fremdsprachige Bücher und Übersetzungen zu einer Handelsware geworden, mit der sich leicht Gewinne erzielen lassen. Somit ist es nicht verwunderF

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16 Crnjanski, Miloš, Wir verwandeln uns in eine Kolonie fremdsprachiger Bücher. Das Problem unserer Kultur, in: Vreme, Bd. XII, H. 3659, 09.03.1932, S. 2 und H. 3662, 12.03.1932, S. 2. Übersetzt aus dem Serbokroatischen von Augusta Dimou, Redaktion Ruža Tokić. 17 Cvijeta Zuzović (1552–1648), Lyrikerin aus der Republik Ragusa. Schrieb auf Italienisch und Serbokroatisch.

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Augusta Dimou

lich, dass auch unsere Verleger und Buchhändler, vor allem die Händler, nur diese Ware im Kopf haben. […] Nimmt man allerdings die Tätigkeit unser Verleger unter die Lupe, dann erkennt man, dass sie grundsätzlich für das fremdsprachige Buch und die Übersetzung arbeiten und dass sie größtenteils nur diese herausgeben, vertreiben und somit aufdrängen. Die ausländische Ware überwiegt in unseren Buchhandlungen. Aus deren Verkauf ergibt sich weder eine Weiterentwicklung unserer Literatur, noch die Hebung unseres (kulturellen) Niveaus und Umfelds. Die einzige Folge daraus ist, dass sich unsere Bücher vor den fremdsprachigen in jene armseligen provinziellen Antiquariate zurückziehen, in denen Vuk, Miličević, Genoveva und Marko Kraljević18 nebeneinander verrotten. Jedenfalls kann man unserem Nachkriegssnobismus kaum etwas entgegensetzen. Der Großteil unserer Bourgeoisie liest nur fremdsprachige Bücher und Übersetzungen, die ihnen zudem noch aufgedrängt werden. Bekanntermaßen war es ein Leichtes für Sterija19 , seine nouveau riche in unserer Gesellschaft zu finden. Ein guter Teil des Erfolges fremdsprachiger Bücher und Übersetzungen liegt in dem Zynismus unserer Verleger und der Verdorbenheit der Intellektuellen, die im Dienste dieser Arbeitgeber stehen. Zweifelsfrei werden alle, die sich vor der Kontrolle der Presse, der Kritik und vor unseren Literaturzirkeln im Allgemeinen fürchten, der hohen Gewinne wegen alles tun, um unsere Welt zu täuschen, so als ob diese Flut fremdsprachiger Bücher und Übersetzungen ein echter Gottessegen wäre. Als ob die größten Menschheitsgeister, die Blüte der menschlichen Kultur in diesen Büchern und Übersetzungen stecke, die sich so gut bei uns verkaufen lassen. Mit fetter Ausbeute. […] Fremdsprachige Bücher und Zeitungen, Übersetzungen fremdsprachiger Werke, das internationale Wort der großen Kulturen überschreiten jede Grenze und das ist gut so. Aber die schmutzige Konjunktur jedes fremdsprachigen Buches, die geleitete Werbung für jedes fremdsprachige Buch, die Agenturen fremden Kapitals, eine ganze Händlerverschwörung gegen unsere Welt, die immer weniger über die eigene Literatur erfährt, während ihr fremdsprachige Bücher und jede Art von Übersetzungen aufgezwungen werden, kann und darf nicht das wichtigste Merkmal des hundertjährigen Jubiläums der Vozarović-Zeit20 sein. Wenn wir schließlich zum ersten Mal nach dem Krieg unsere Stimme gegen diese verlegerischen und literarischen Plünderung auf Kosten unserer Literatur und unseres Publikums erheben, dann – es versteht sich von allein – denken wir freilich nicht daran, eine chinesische Mauer gegen die ausländische Literatur zu errichten oder jede Banalität gutzuheißen, nur weil sie die unsrige ist, sondern möchten lediglich mit dem Finger auf eine Spekulation auf Kosten unserer Schriftsteller und die Entwicklung unserer Literatur zeigen. Auch wir halten es für selbstverständlich, dass heutzutage, im Jahrhundert des internationalen Verkehrs, der PEN Klubs, der Konferenzen fremdsprachiger Literaturen, der Jubelfeiern zu Ehren Goethes etc. das Buch, die Zeitung, der literarische Name, die ÜbersetzunF

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18 Mythische und/oder volkstümliche Figuren und Helden aus der populären Volksdichtung. Die Anspielung deutet auf Attribute wie archaisch, irrelevant und anspruchslos hin. 19 Jovan Sterija Popović (1806–1856), serbischer Schriftsteller und Dichter, führender Intellektueller und Dramatiker seiner Zeit. In seinen Komödien gab er authentische Porträts der serbischen Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19 Jahrhunderts wieder und persiflierte ihre Gepflogenheiten. Die Anspielung hier geht auf sein Stück Pokondirena Tikva (Der Emporkömmling, 1838) zurück. 20 Gligorije Vozarović (1790–1848) gilt als der erste serbische Verleger und Buchhändler.

„Wir verwandeln uns in eine Kolonie fremdprachiger Bücher“

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gen amerikanischer, französischer, sowjetischer oder deutscher Literatur schnell bei uns Eingang finden. Wir betrachten das allerdings als nichts Neues, sondern es kommt uns lediglich wieder wie eine fremdländische Flut vor, ohne tieferen Sinn, wie auch die deutschen Einflüsse in der Vergangenheit, die Jubelfeiern für Shakespeare oder die Nachahmung französischer Literatur vor dem Krieg. Es reicht, daran zu erinnern, dass es in Zagreb keinen Platz für unsere Bücher gibt; wenn die Bibliothek des Journalistenverbandes nur fremdsprachige Bücher anpreist und herausgibt, wenn der bekannteste kroatische Verlag, die „Zabavna Biblioteka“, nach eigenen Angaben von den bis jetzt 500 erschienen Büchern lediglich zehn heimische listet, muss doch jedem klar sein, wovon die Rede ist. Es reicht, den riesigen und üppigen Katalog des Minerva-Verlags in Zagreb in die Hand zu nehmen, in welchem neben 197 englischen, 90 französischen und 683 heimischen Autoren, worunter auch die Schulbuchautoren fallen, 3.359 deutsche Autoren aufgeführt werden, um zu verstehen, dass es sich um eine mehr als berechtigte Empörung im Namen unserer Literatur handelt, und die enorme Verantwortung derer zu sehen, die heute bei uns als bezahlte Werber oder verschleierte Verleger fremdsprachiger Bücher agieren. […] Diejenigen, welche ein Interesse daran haben, werden zweifellos die Situation in rosaroter Farbe darstellen, als ob unser unterentwickeltes Umfeld ein großes Interesse für fremdsprachige Literatur hege, vor allem für jene mit sozialkritischen Tendenzen. Sie werden auch jeden Widerstand gegen diese koloniale Art der Ausnutzung unseres Publikums und unserer literarischen Umstände als intellektuelle Unterentwicklung brandmarken usw. Die Wahrheit ist hingegen, dass ohne eine große heimische Literatur von einem Fortschritt nicht die Rede sein kann. Es ist wahr, dass zum Beispiel die slowenische Literatur nur durch originelle heimische Autoren bis zur bäuerlichen Hütte vorgedrungen ist und dass die slowenische Literatur vor dem Erscheinen solcher Werke verlassen und vernachlässigt im Meer der deutschen Kultur schwamm. […]

FLUCHTHILFE ZUR RETTUNG DER ZUNFT: DIE AKADEMISCHE ZWANGSMIGRATION IN DEN 1930ER-JAHREN 1 F

Isabella Löhr Europa als Wissensraum definierte und definiert sich bis heute besonders über die europäische Wissenschaftslandschaft und ihrer Institutionalisierung in Universitäten. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert unterlagen diese einem fortlaufenden Prozess der Professionalisierung und der Bildung von Disziplinen, in dessen Verlauf das deutsche Modell der modernen Forschungsuniversität zum Vorbild avancierte. Auch wenn die Umsetzung dieses Modells europaweit jeweils anders verlief, lag dem Aufbau moderner Universitäten ein Bündel von Merkmalen zugrunde, das Walter Rüegg unter der Trias „Säkularisierung, Bürokratisierung, Spezialisierung“ zusammengefasst hat. 2 Dazu gehörten die Formulierung eines öffentlichen Interesses an Wissenschaft sowie deren Finanzierung durch und Integration in eine nationale Bildungspolitik; eine zumindest relative Freiheit von Studium, Lehre und Forschung vor staatlichen oder kirchlichen Eingriffen; die Ermächtigung der Professoren, Diplome und andere akademische Grade zu verleihen, die das Nadelöhr für den Zugang zu akademischen Berufen bildeten; die Bindung der Lehrbefugnis an Promotion und Habilitation und damit an genau definierte Ausbildungsstufen; und schließlich die Entstehung wissenschaftlicher Disziplinen, Institute, Fachzeitschriften und Fachkongresse, die zu den zentralen Orten wissenschaftlicher Selbstverständigung wurden. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten im Januar 1933 entzog diesem komplexen Gefüge aus Selbstbestimmung, Wettbewerb und institutioneller Unabhängigkeit die Grundlagen und läutete einen Prozess der De-Professionalisierung ein, der Wissenschaftler in Europa und Nordamerika alarmierte. Denn obwohl die Autonomie von Universitäten bereits zuvor durch eine zunehmende Abhängigkeit von öffentlicher Finanzierung und staatlicher Eingriffe in Berufungsverfahren geschwächt worden war, nahm das Ausmaß der Gleichschaltung mit der systematische Abwertung von akademischen Titeln, der Einschränkung der Freiheit von Forschung und Lehre sowie der sukzessiven Aufhebung der Trennung von Staat und Universität eine neue Dimension an, die nicht nur von Wissenschaftlern in Deutschland als fundamentaler Angriff auf die akademische Produktion von Wissen und eine europäische Wissenskultur wahrgenommen wurde, der es entgegen zu treten galt. Am Beispiel der britischen Society for the Protection of Science and F

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Essay zur Quelle: Memorandum on Formation of Society for the Protection of Science and Learning (1935). Rüegg, Walter, Themen, Probleme, Erkenntnisse, in: Ders (Hg.), Geschichte der Universität in Europa. Bd. 3: Vom 19. Jahrhundert zum Zweiten Weltkrieg (1800–1945), München 2004, S. 20.

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Fluchthilfe zur Rettung der Zunft

Learning wird im Folgenden gezeigt, wie aktive Fluchthilfe für verfolgte Kollegen erst aus Deutschland und später auch aus Österreich, Italien, Spanien, Portugal, der Sowjetunion und den ostmitteleuropäischen Staaten zu einem Instrument wurde, die Autonomie der Universitäten zu behaupten, professionelles Wissen und die Standards akademischer Wissensproduktion zu bewahren und den verfolgten Wissenschaftlern durch Neuansiedlung im Ausland eine Zukunftsperspektive zu eröffnen. Mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom April 1933 setzte das nationalsozialistische Regime „eine in der neueren westeuropäischen Geschichte beispiellose akademische Auswanderung“ in Gang. 3 Alle Beamte „nicht-arischer Abstammung“ und diejenigen, die im Verdacht standen, dem NSStaat kritisch gegenüber zu stehen, wurden endgültig und unter Ausschluss des Rechtsweges aus dem Dienst entlassen. Der Begriff „Entlassung“ war in diesem Kontext allerdings ein Euphemismus, bedeutete er doch in den meisten Fällen entweder die sofortige Wirkungslosigkeit der Bildungspatente, die Hochschullehrern ihren exklusiven Status garantierten, oder die Unmöglichkeit für Nachwuchswissenschaftler, den Weg zur Professur einzuschlagen. Diese Maßnahmen beinhalteten erzwungenen Ruhestand, der im ungünstigsten Fall mit der Nichtigkeit erworbener Pensionsansprüche einhergehen konnte. Jüngere Wissenschaftler mussten mit vorläufigen Beurlaubungen, dem gezielten Auslaufen von Arbeitsverträgen und mit dem Entzug der Venia Legendi rechnen, der für den Erwerb einer Professur bis heute unumgänglichen Lehrberechtigung. Schließlich erhielten alle Betroffenen die Auflage, akademische Titel mit dem Kürzel „a. D.“ zu versehen. Eine weitgehende Kontrolle des wissenschaftlichen und des literarischen Publikationswesens kam mit der Gründung der Reichskulturkammer im September 1933. Die Bindung jeder Publikationserlaubnis an die Mitgliedschaft in der für Wissenschaft und Verlage zuständigen Reichsschrifttumskammer, die jüdisch stämmigen Personen oder Einrichtungen versagt blieb, bedeutete das Ende jeder offiziellen Publikationstätigkeit. Institutionell wichtige Posten wie Professuren, Leitungsstellen in Forschungsinstitutionen wie den Kaiser-Wilhelm-Instituten und Herausgebergremien wissenschaftlicher Zeitschriften bzw. Reihen waren nun mit politisch konformen Wissenschaftlern besetzt, die Auswahl des akademischen und wissenschaftlichen Nachwuchses folgte rassenideologischen Gesichtspunkten und die aus ihren Ämtern vertriebenen Wissenschaftler bekamen auch außerhalb der Universitäten, Akademien und Forschungsinstitute nur noch selten Forschungsund Publikationsmöglichkeiten. Damit trat neben das direkte das indirekte Berufsverbot. Genaue Angaben über die Zahl der ab 1933 gezielt vertriebenen und anschließend aus Deutschland geflohenen Wissenschaftler sind nicht verfügbar. Allerdings liefern zeitgenössische Zählungen von Fluchthilfeorganisationen zumindest F

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Widmann, Peter, Politische und intellektuelle Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Deutschland und dem von Deutschland besetzten Europa seit 1933, in: Bade, Klaus J. et al. (Hgg.), Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2008, S. 859.

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einen Einblick in das Ausmaß, in dem das NS-Regime Wissenschaftler in kürzester Zeit aus dem öffentlichen Leben entfernte. Diese Zahlen geben indes nur Auskunft über die bekannt gewordenen Emigrationszahlen, während die entlassenen, aber nicht aus Deutschland geflohenen Wissenschaftler in den Zählungen nicht enthalten sind. Die erste große Fluchtwelle unter Wissenschaftlern, Akademikern, Literaten und Künstlern setzte bereits nach dem Reichstagsbrand ein und fand ihren traurigen Höhepunkt im direkten Anschluss an das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ im April und den öffentlich inszenierten Bücherverbrennungen im Mai 1933. Für diese erste Fluchtwelle wird die Zahl der geflohenen Wissenschaftler auf ungefähr 1.200 Personen geschätzt. Bis Ende der 1930er-Jahre vergrößerte sich diese Gruppe auf 1.700, ergänzt um ungefähr 400 Hochschulangehörige, die nach der Gleichschaltung Österreichs 1938 ihre Positionen räumen mussten und bei Fluchthilfeorganisationen mit der Bitte um Unterstützung bei der Ausreise vorstellig wurden. Das Hochkommisssariat für Flüchtlinge aus Deutschland des Völkerbundes schätzte 1935, dass die bis dahin entlassenen Wissenschaftler 16 Prozent der Universitätsangehörigen und elf Prozent des Lehrkörpers der Technischen Universitäten ausmachten. 4 Nach dem Erlass der „Nürnberger Rassegesetze“ im September 1935 schnellte die Entlassungsquote noch einmal rapide nach oben und bis 1938 verloren ungefähr 39 Prozent der Hochschulangehörigen ihre Positionen, in den Geisteswissenschaften sogar 43 Prozent der Lehrenden. 5 Die aus Deutschland fliehenden Wissenschaftler unterschieden sich von den meisten Flüchtlingen durch ihre wissenschaftliche Qualifikation und durch den außerordentlich guten Ruf, den Disziplinen wie Kunstgeschichte, Altertumswissenschaften oder Physik im Ausland genossen. Mit den refugee scholars, wie die Zeitgenossen sie nannten, setzte das nationalsozialistische Regime beinahe über Nacht führende, in ihren Fächern über die Landesgrenze hinaus bekannte Wissenschaftler auf die Straße, deren Klopfen an die Pforten der europäischen und nordamerikanischen Nachbarn in den jeweiligen Ländern mit großer Aufmerksamkeit verfolgt wurde – und das trotz aller Skepsis gegenüber Flüchtlingen, die besonders in Großbritannien, einem beliebten Ziel der Emigranten, als destabilisierender Faktor auf dem durch die Weltwirtschaftskrise ohnehin schon angespannten Arbeitsmarkt wahrgenommen wurden. Als mit der Bücherverbrennung im Mai 1933 die erste Auswanderungswelle ihren Höhepunkt erreichte, standen im europäischen Ausland bereits einige ad hoc gegründete Hilfsorganisationen bereit, die bei der Beschaffung von Einreisepapieren, Aufenthaltsgenehmigungen und der Vermittlung von Arbeitsmöglichkeiten halfen. Neben einer Vielzahl kleiner Initiativen, wie das vom Lehrkörper der London School of Economics (LSE) gegründete Academic Freedom Committee, entF

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The Office of the High Commissioner for Refugees (Jewish and Other) Coming from Germany, A Crisis in the University World, London 1935. Wegeler, Cornelia, „… wir sagen ab der internationalen Gelehrtenrepublik“. Altertumswissenschaften und Nationalsozialismus. Das Göttinger Institut für Altertumskunde 1921–1962, Wien 1996, S. 193.

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standen drei große auf Wissenschaftler spezialisierte Fluchthilfeorganisationen, die bei Ausreise oder Flucht erst aus Deutschland und später auch aus Italien, Spanien, Portugal und den Staaten Ostmitteleuropas zur Seite standen: Der im Mai 1933 von Angehörigen der LSE sowie der Universitäten Oxford und Cambridge gegründete Academic Assistance Council (AAC), die im April 1933 in Zürich von den bereits emigrierten Physiologen Philipp Schwartz initiierte Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland und schließlich das im Mai 1933 in New York ins Leben gerufene Emergency Committee in Aid of Displaced German Scholars. 6 Die Gründung des AAC ging auf William Beveridge zurück, einen Ökonomen, der seit 1919 Präsident der LSE und der britischen Öffentlichkeit als vehementer Befürworter des Ausbaus sozialer Sicherungssysteme bekannt war. Erschüttert von den Berichten über Diskriminierungen und Entlassungen von Hochschullehrern in Deutschland, von denen er während eines Aufenthaltes im Frühjahr 1933 in Wien erfuhr, widmete Beveridge sich nach seiner Rückkehr der Organisation von Unterstützungsmaßnahmen, die der Vernichtung der beruflichen Existenz von Wissenschaftlern in Deutschland praktisch und bestenfalls auch nachhaltig entgegen wirken sollten. Seine prominente Position im britischen Universitätssystem nutzend, initiierte Beveridge die Formierung einer Solidargemeinschaft zwischen deutschen und britischen Wissenschaftlern. Sein Argument, warum die Vorgänge in den deutschen Universitäten auch Wissenschaftler auf der Insel betreffe, war dabei professioneller Natur: Beveridge beschwor das frühneuzeitliche Bild der Gelehrtenrepublik, deren konstitutives Merkmal die Hingabe an die Welt der Ideen, der Literatur und der Wissenschaft sei und das frei von politischen, sozialen oder religiösen Eingriffen und Denkverboten jeder Art. Die ideologisch motivierte Aushebelung dieser Grundwerte unter dem NS-Regime, so das Argument, bedeute einen prinzipiellen Angriff auf die Freiheit der Forschung und das jenseits aller nationalen Unterschiede oder Grenzen, den jeder, der europäischen Universitätslandschaft verpflichtete Wissenschaftler als Angriff auf die eigene Unabhängigkeit auffassen müsse. Die einzig angemessene Reaktion seien konzertierte Hilfsmaßnahmen und politische Einflussnahme zu Gunsten der verfolgten Kollegen auf dem europäischen Kontinent. Die so beschworene transnationale community definierte sich über die Verteidigung eben der akademischen Traditionen, die der Entstehung der modernen Universität seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ihr spezifisches Gepräge verliehen hatten: die Freiheit von Forschung und Lehre und die Definition wissenschaftlicher Standards im innerfachlichen Gespräch. Im Mai 1933 unterschrieben gemeinsam mit Beveridge mehrere Präsidenten britischer Universitäten und Colleges sowie eine Reihe prominenter, der Öffentlichkeit bekannter Wissenschaftler wie die Nobelpreisträger Lord Rutherford of F

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Beveridge, William H., A Defence of Free Learning, London, New York 1959; Schwartz, Philipp; Peukert, Helge, Notgemeinschaft. Zur Emigration deutscher Wissenschaftler nach 1933 in die Türkei, Marburg 1995; Duggan, Stephen; Drury, Betty, The Rescue of Science and Learning, New York 1948.

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Nelson und A.V. Hill den Gründungsaufruf des AAC. Konzipiert war der AAC als eine nationale Hilfsorganisation, die einen privaten Unterstützungsfond für die Beschäftigung deutscher Wissenschaftler an britischen Universitäten schaffen wollte. Auf diese Weise sollten die ohnehin schon angespannten Etats der Universitäten entlastet und zugleich Anreize für die Einstellung ausländischer Wissenschaftler geschaffen werden. In seinem Gründungsmanifest hob der AAC seinen Charakter als eine zwar private, trotzdem strikt wissenschaftliche Organisation hervor, die sich jeder politischen Partei- oder Stellungnahme enthalte. Um diesen Anspruch zu unterstreichen, suchte der AAC von Beginn an engen Kontakt zur Royal Society, die den AAC nicht nur während der ersten Jahre beherbergte, sondern deren Mitglieder zugleich die wissenschaftliche Kompetenz von Bewerbungen ausreisewilliger Wissenschaftler begutachteten, die aus Deutschland und später auch aus anderen europäischen Ländern beim AAC eintrafen. 7 Bei der Gründung des AAC waren die Initiatoren, wie viele Zeitgenossen, davon ausgegangen, dass der Nationalsozialismus nur ein vorübergehendes Phänomen sei und sich nicht dauerhaft an der Macht halten könne. In dieser Annahme war auch der AAC nur als temporäre Hilfsorganisation gegründet worden, deren Hilfestellung nach zwei oder drei Jahren auslaufen sollte. Aber spätestens der Erlass der Nürnberger Gesetze im September 1935 offenbarte, wie wenig begründet diese Hoffnung war. Der Vorstand des AAC reagierte entsprechend und verabschiedete im Dezember 1935 das Memorandum on Formation of S.P.S.L. Mit dem Memorandum löste der Vorstand den AAC auf und setzte an dessen Stelle die Society for the Protection of Science and Learning (SPSL), die als dauerhafte Organisation gegründet wurde „for the defence of science and learning against attacks such as those from which they are suffering in Germany and elsewhere” (Absätze drei und fünf). Das Kernstück der SPSL war der Academic Assistance Trust, eine Stiftung zur Abwicklung der Finanzen, aus deren Mitteln die SPSL die Hilfsmaßnahmen für verfolgte Wissenschaftler auf dem europäischen Festland bis 1939 ausschließlich finanzierte. Den Grundstock der Stiftung bildeten 2.000 regelmäßig zahlende Mitglieder, ergänzt um Spenden von Privatpersonen, Universitäten, jüdischen philanthropischen Stiftungen oder Unternehmen wie Imperial Chemical Industries Ltd., das der SPSL wenige Monate nach seiner Gründung 2.5000 Pfund bereitstellte (Absatz acht). Die auf diese Weise gesammelten Zuwendungen summierten sich bis 1939 auf die beachtliche Summe von 90.000 Pfund und erst als der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges die privaten Spenden zum Erliegen brachte, erhielt die SPSL staatliche Unterstützung. 8 Die SPSL unterstützte die verfolgten Wissenschaftler in zwei Hinsichten. Erstens agierte sie als eine Art Informationsdienst, der Kontakt zu allen Einrichtungen herstellte, die bei der Flucht wichtig sein konnten: Einwanderungsbehörden, Universitäten und Forschungsinstitute in Großbritannien, auf dem europäischen Kontinent und in Nordamerika. Das Kernstück der Hilfsmaßnahmen war dabei ein F

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Zur frühen Zusammenarbeit zwischen AAC und Royal Society: The Royal Society Archive (MS/876 Academic Assistance Council, 1933–1950). Adams, Walter, The Refugee Scholars of the 1930s, in: The Political Quarterly (1968), S. 9.

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zentral geführtes Register, in dem die SPSL alle Informationen über die Wissenschaftler sammelte, die auf Unterstützung und Neuanstellungen im Ausland hofften. 1938 hielt das Register Informationen über 1.400 Wissenschaftler aus Deutschland, 418 aus Österreich und 140 aus Italien bereit, bis 1945 wuchs es auf 2.541 Einträge an, darunter auch Wissenschaftler aus Spanien, Portugal, der Sowjetunion und den ostmitteleuropäischen Staaten. Dieses Register, das aus Personalakten mit einem ausführlichem Lebenslauf, Publikationslisten, Gutachten und einer fachlichen Einschätzung des für die Begutachtung von Bewerbungen zuständigen Expertenausschusses der SPSL bestand, erwies sich mit der Zeit als wertvollste Ressource der SPSL. Denn keine andere Organisation hielt so detailreiche Informationen über eine so große Zahl von Wissenschaftlern bereit wie die SPSL, so dass Unternehmen, Universitäten und Regierungsstellen, die an der fachlichen Expertise der geflohenen Wissenschaftler interessiert waren, einen engen Kontakt mit der SPSL pflegten. Das zweite Standbein der SPSL war ein eigenes Stipendiensystem, das bald zu einem Alleinstellungsmerkmal avancierte. Dieses sollte aber keinesfalls als Hilfsmaßnahme verstanden werden, sondern im Gegenteil als eine hohen akademischen Standards genügende Förderung ausgezeichneter Wissenschaftler. Die Stipendien sollten den Wissenschaftlern beim Wechsel in ein anderes Universitätssystem helfen, das neben einer neuen Sprache immer auch neue Standards in Forschung und Lehre mit sich brachte, die erst einmal erlernt und erfolgreich praktiziert werden wollten. Entsprechend wurden Stipendien nur ausgezahlt, sofern sich eine Universität in Großbritannien oder im europäischen Ausland fand, die die von der SPSL geförderten Wissenschaftler während der maximal zweijährigen Förderung fachlich und institutionell integrierte in der Hoffnung, dass die Exilanten sich bewährten und nach Ablauf der Stipendien auf eine dauerhafte Position wechseln konnten. Mit diesem auf Kompetenz und wissenschaftliche Expertise fokussierten Profil setzte die SPSL sich klar von anderen Organisationen ab, die seit 1933 politisch oder religiös Verfolgten bei der Flucht aus Deutschland halfen. In den Augen der SPSL waren die refugee scholars in erster Instanz scholars, von denen die aussichtsreichen Kandidaten auf eine wissenschaftliche Karriere gefördert werden sollten mit dem Ziel, Wissen und Fähigkeiten dieser Personengruppe zu schützen und an anderen Orten zugunsten der Profilierung einzelner Wissenschaftsbereiche sowie des allgemeinen Erkenntnisfortschrittes fruchtbar zu machen. Die Förderung der Wissenschaftler, die das Bewerbungs- und Auswahlverfahren erfolgreich absolviert hatten, zielte dementsprechend auf die Fortsetzung ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit, auf ihre dauerhafte Integration in ein neues Arbeitsumfeld und auf die Kontaktaufnahme mit Kollegen im Ausland. Dafür zahlte die SPSL Voll- oder Teilstipendien, die die Geförderten von existentiellen Sorgen befreien und sie wieder arbeitsfähig machen sollten, Reisekosten für Bewerbungsgespräche, Druckkostenzuschüsse für Monographien, deren Publikation die Aussicht auf eine Anstellung im Ausland vergrößerten, oder finanzielle Zuschüsse an Universitäten, mit denen Vorlesungsreihen und Sonderprogramme finanziert wurden, die den refugee scholars die Pforten britischer Universität öffnen sollten (Absatz sechs).

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Nach Kriegsende offenbarte sich die globale Dimension der SPSL, deren Hilfsmaßnahmen weit über einen europäischen Radius hinausgereicht hatten. Von den 2.541 registrierten Wissenschaftlern konnte die SPSL bis 1945 mehr als die Hälfte auf dauerhaften Stellen unterbringen: 624 Wissenschaftler waren in die USA weitergewandert, 612 in Großbritannien geblieben, 80 wurden in Länder Mittel- und Südamerikas vermittelt, 74 blieben innerhalb des Commonwealth, 66 gingen nach Palästina und 62 Wissenschaftler hatten Positionen an Universitäten im Nahen und Mittleren Osten angenommen. 9 Dieser geographischen Breite in der Vermittlungsarbeit entsprachen die Kooperationen, auf denen diese Vermittlungserfolge weitestgehend beruhten. Bis 1936 hatte die SPSL von dem internationalen Netzwerk privater, auf akademische Flüchtlinge spezialisierter Hilfsorganisationen profitiert, das James G. McDonald, der zuständige Hochkommissar des Völkerbundes, initiiert hatte. Als dieses Netzwerk nach dem Rücktritt McDonalds seine Effizienz einbüsste, zahlte sich die Zusammenarbeit mit dem US-amerikanischen Emergency Committee in Aid of Displaced German Scholars aus, das trotz massiver Kritik an der Politik der SPSL, Wissenschaftler zur Emigration in die USA motivierte, seine guten Kontakte zu den maßgebenden philanthropischen Stiftungen Rockefeller Foundation und Carnegie Endowment for International Peace nutzte, um einer großen Zahl wissenschaftlicher Flüchtlinge die Weiterreise in die USA zu ermöglichen. Die Hilfsmaßnahmen der SPSL für verfolgte Wissenschaftler wirkten sich langfristig auf den europäischen Wissenschaftsraum aus – auch wenn nicht immer in der Weise, wie die Initiatoren der SPSL dies gehofft hatten. Die massenhafte Flucht teils prominenter Wissenschaftler aus Deutschland bedeutete immer auch die Emigration wissenschaftlicher Paradigmen, Methoden und Themen, die besonders im angloamerikanischen Raum langfristig einen enormen Professionalisierungsschub auslösten. Disziplinen wie die Kunstgeschichte, die außerhalb Deutschlands bis dahin ein akademisches Mauerblümchendasein gefristet hatten, erhielten durch den Umzug der Bibliothek des Kunsthistorikers Aby Warburg 1934 von Hamburg nach London maßgebende Impulse, die der Kunstgeschichte als wissenschaftliche Disziplin im englischsprachigen Raum zum Durchbruch verhalfen. Die 1933 als gesonderte Fakultät der New School for Social Research in New York mit Hilfe der Rockefeller Foundation gegründete University in Exile, in der sich Sozialwissenschaftler, Philosophen und Nationalökonomen der Universität Frankfurt wieder fanden, ist ein zweites prominentes Beispiel für den Einfluss der wissenschaftlichen Expertise der Emigranten auf die Entwicklung der jeweiligen Disziplinen in den Aufnahmeländern. 10 Diese viel zitierten Beispiele eines positiv verlaufenden Transfers wissenschaftlicher Disziplinen und Paradigmen dürfen allerdings nicht darüber hinweg täuschen, dass die Nationalsozialisten mit dem Selbstbestimmungsrecht der Universitäten den Anspruch auf individuelle und kollektive Autonomie gegenüber F

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9 Ders., S. 10. 10 Krohn, Claus-Dieter, Wissenschaft im Exil. Deutsche Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler in den USA und die New School for Social Research, Frankfurt am Main 1987.

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Staat und Kirche und damit einen Leitwert moderner Gesellschaften aushebelten. Was als radikale politische Schwächung der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Eliten gegenüber dem NS-Staat gedacht war, provozierte allerdings eine Gegenreaktion, die das Bewusstsein für Autonomie und professionelle Selbstbestimmung eher schärfte. Denn mit der Internationalisierung des Problems durch die SPSL und andere akademische Fluchthilfeorganisationen bestärkten diese Organisationen die Selbstwahrnehmung von Wissenschaft als einer grenzüberschreitenden Gemeinschaft, die sich weniger über nationale Zugehörigkeit als vielmehr professionell über die Verpflichtung an Forschung, Lehre, akademische Selbstbestimmung und wissenschaftliche Standards definierte. Obwohl diese Internationalisierung des wissenschaftlichen Selbstverständnisses in der Nachkriegszeit nur bedingt weiterwirkte, hatte sie zumindest mit der Verlagerung der Epizentren wissenschaftlicher Innovation von Europa in den angloamerikanischen Wissenschaftsraum konkrete und langfristige Konsequenzen. Literaturhinweise Adams, Walter, The Refugee Scholars of the 1930s, in: The Political Quarterly (1968), S. 7–14. Beveridge, William H., A Defence of Free Learning, London 1959. Hirschfeld, Gerhard, „The defence of learning and science ...": Der Academic Assistance Council in Großbritannien und die wissenschaftliche Emigration aus Nazideutschland, in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 6 (1988), S. 28–43. Krohn, Claus-Dieter et al. (Hgg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933– 1945, Darmstadt 1998. Marks, Shula; Weindling, Paul; Wintour, Laura (Hgg.), In Defence of Learning. The Plight, Persecution, and Placement of Academic Refuges, 1933–1980s, Oxford 2011.

Quelle Memorandum on Formation of the Society for the Protection of Science and Learning (1935) 11 F

1. On the establishment of the present regime in Germany in the spring of 1933 and the dismissal or putting into retirement of a number of distinguished university teachers, either on grounds of opinion or on grounds of race, the Academic Assistance Council was formed (in May 1933) with a view to finding for those so displaced opportunities of continuing their scientific work in various institutions in this country or elsewhere. 2. The Academic Assistance Council (under the presidency of Lord Rutherford) has succeeded in the past two and a half years both in finding more or less permanent places (in Britain and outside it) for a number of those displaced from Germany, and in providing temporary maintenance for many others. Of the approximately 700 scholars who have left 11 Memorandum approved by the Executive Committee on 19th December 1935 for submission to the Council recommending the formation of a Society for the Protection of Science and Learning, in: Beveridge, A Defence of Free Learning, S. 129–132.

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Germany, 348 have already been permanently re-established and 324 are being temporarily supported in universities while continuing their research. A feature of this work has been the ready co-operation which the Council has secured from practically all university institutions in giving an opportunity to those displaced of continuing their scientific and learned pursuits. Assistance from the Council has been dependent in every case upon some university or similar institution being willing to offer this opportunity. In other words it has been confined to those who would be accepted by academic institutions as men of proved academic standing. 3. At the time when the Council was formed, it was not certain that proscription of ‘non-Aryans’ and of persons of independent thought in Germany would be permanent. The work of the council, it was hoped, might be required only to meet a temporary need. It was hard to believe that the cultural traditions of Germany would be abandoned completely. It is now clear that there is little hope of early amelioration of the attitude of the German authorities in this matter. Everyone who has any direct contact with Germany can cite cases of men of science and learning who have no opportunity of continuing their work in Germany, and even if they have resources there, are unable, under the exchange restrictions, to transfer money out of Germany. They cannot use such resources as they have, either to make a fresh start for themselves or to give their children the education and the chance in life which they can no longer get in the country where they were born or where they have been living for many years. 4. It has to be added that dismissal of scholars and scientists on political grounds or other grounds irrelevantly to their work is not confined to Germany. In Russia and Italy freedom of study and teaching in large portions of the field of learning has long been proscribed. Within the past year in Portugal a number of university teachers in various faculties have been retired on grounds of political opinion. 5. In the circumstances there is clear need of a continuing organization for the defence of science and learning against attacks such as those from which they are suffering in Germany and elsewhere. The specific suggestion now made is that the Academic Assistance Council should establish as its permanent successor a ‘Society for the Protection of Science and Learning’ and that all those who now form the Academic Assistance Council should be invited to become the first Council of this Society with power to add to their number. 6. The Society would be incorporated as a company limited by guarantee, to carry on all varied forms of help which have been given by the Academic Assistance Council in the finding of permanent openings whether in this country or elsewhere for those displaced, and in providing grants for maintenance, travelling expenses, costs of publication, costs of special lecturers, emergency relief, loans, &c., to suit the special circumstances of each case. It would administer through the Council, an ‘Academic Assistance Trust’ for the granting of fellowships and studentships tenable at Universities and other approved institutions for teaching and research in this or other countries, by persons who, on grounds of race, religion, or opinion have been prevented from carrying on learned or scientific work for which they are qualified. […] 8. All those who are interested in the Protection of science and learning would be invited by public appeal or by letter to join the Society (a) with a minimum annual subscription to be continued until further notice of one guinea a year; (b) with a larger annual subscription if they can afford it; (c) with an undertaking to covenant with the Trustees of the Academic Assistance Trust for a seven-year contribution to the funds of the Trust, thus allowing income-tax to be recovered by the Trustees.

„WO MAN DIE STÄRKSTEN BINDUNGEN FÜHLT“: ZUR REMIGRATION VON HISTORIKERN NACH 1945 1 F

Konrad H. Jarausch Im Vergleich mit der offeneren Atmosphäre in England und Frankreich hatte die nationalsozialistische Vertreibung fortschrittlicher Historiker einen retardierenden Effekt auf die Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft. Auch ohne die Zwangsemigration nostalgisch zu verklären, kann man feststellen, dass dieser Aderlass eine dynamische Minderheit der Forscher eliminierte, die nicht nur die Weimarer Republik unterstützt hatten, sondern auch neue methodologische Wege gegangen waren. Die teils populistisch von NS-Studenten betriebene, teils legalistisch von diversen Ministerien verordnete Exklusion unliebsamer Wissenschaftler verdrängte innovative Nachwuchsforscher wie Eckhart Kehr, demokratische Historiker wie Hajo Holborn und renommierte jüdische Gelehrte wie Aby Warburg. Dadurch bekamen die konservativen und nationalistischen Fachvertreter wieder Oberwasser und die jüngere Generation orientierte sich eher in Richtung einer Volksgeschichte, wodurch sie sich international weitgehend isolierte. 2 Dieser intellektuelle Bruch erschwerte den Neuanfang nach 1945. Für den Wiederaufbau der deutschen Geschichtswissenschaft war daher die Frage einer Remigration vertriebener Forscher von zentraler Bedeutung. In der sowjetischen Besatzungszone versuchte die Zentralverwaltung für Volksbildung nicht nur den Verfolgten im Lande, sondern auch den Emigranten eine Chance zu geben am universitären Wiederaufbau mitzuwirken und dadurch vergangenes Unrecht wieder gut zu machen. Der Aufruf der ostdeutschen Zentralverwaltung für Volksbildung, der diesem Essay als Quelle beigegeben ist, war eine pragmatische Reaktion auf den eklatanten Personalnotstand der Berliner Universität, die durch Kriegsverluste, Entnazifizierung und Weggang nach Westen etwa vier Fünftel ihres Lehrkörpers verloren hatte. Gleichzeitig war er aber auch ein ideologisches Signal, dass ein echter wissenschaftlicher Neubeginn unbelastete, kritische Wissenschaftler verlangte, die bereit waren an einer humanistisch-sozialistischen Umgestaltung der Hochschulen mitzuarbeiten. Da wegen des konservativen Anstrichs der Mehrheit der Professoren nur wenige Linke die entsprechenden akademischen Qualifikationen aufweisen konnten, bot dieser ostdeutsche Neuanfang vor allem nichthabilitierten Intellektuellen wie Jürgen Kuczynski oder Walter Markov einen Weg zu einer Professur. 3 F

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Essay zur Quelle: Aufruf: Gemaßregelte Dozenten sollen sich melden (29. Dezember 1945). Jarausch, Konrad H., Die Vertreibung jüdischer Professoren und Studenten von der Berliner Universität, 1933–1939, in: vom Bruch, Rüdiger (Hg.), Jahrbuch für Universitätsgeschichte 1 (1998), S. 112–133. Keßler, Mario, Exilerfahrung in Wissenschaft und Politik. Remigrierte Historiker in der frühen DDR, Köln 2001.

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In Westdeutschland hatten Emigranten dagegen deutlich geringere Chancen zur Rückkehr, auch wenn dort ein weltanschauliches Bekenntnis nicht so wichtig war. Einerseits wurde die Entnazifizierung weniger streng gehandhabt, so dass nur schwer belastete Hochschullehrer wie Erich Anrich ihre Stelle verloren. Auch blickten die in Deutschland Gebliebenen mit einem gewissen Unwillen auf ihre vertriebenen Kollegen und waren eher bereit, aus den verlorenen Ostgebieten geflohene Forscher aufzunehmen. Andererseits glaubten viele von ihrer Vertreibung traumatisierte Wissenschaftler im Exil kaum, dass die postfaschistische Gesellschaft zu einer wirklichen Läuterung oder Wiedergutmachung bereit sei. Zu tief hatte sie die radikale Vernichtung ihrer Existenz und der Ausschluss aus deutscher Kultur getroffen, um danach einfach zur Tagesordnung übergehen zu können. Trotz der langsam wieder attraktiveren Arbeitsbedingungen kehrten daher erheblich weniger emigrierte Wissenschaftler, wie der konservative jüdische Historiker Hans-Joachim Schoeps, nach Westdeutschland zurück. 4 Unter den Professoren spielten die Historiker, die sich aufgrund der borussischen Tradition als geistige Hüter der deutschen Nation verstanden, eine Sonderrolle. Da die akademische Überfüllung in den Zufluchtsländern die Umsetzung des Nimbus deutscher Wissenschaft in Stellen erschwerte, stürzte die Zwangsemigration viele von ihnen in materielle Not. Gleichzeitig löste der Ausschluss aus dem eigenen Vaterland auch eine ideelle Krise ihres Rollenverständnisses aus. Um überhaupt in einer neuen Umgebung wie den USA Fuß fassen zu können, mussten sie lernen, mit einer neuen Sprache, einem anderen Stil und einer fremden Kultur umzugehen. Eine Rückkehr ins zerstörte und zerrissene Deutschland hätte dagegen die berufliche Unsicherheit erneuert und die Aufgabe dieser intellektuellen Integrationsleistungen verlangt. Wegen des Fehlens einer Habilitation unter den Jüngeren war eine einflussreiche Fürsprache in der früheren Heimat erforderlich, die nur einige, wie zum Beispiel die Schüler Friedrich Meineckes, aufweisen konnten. 5 Wie reagierten emigrierte Historiker daher auf die Frage einer Remigration? Die Voraussetzung dafür, eine Rückkehr überhaupt ernsthaft in Betracht zu ziehen, war die Wiederanknüpfung der zerrissenen Fäden in das Herkunftsland. Wegen der chaotischen Lage brachten auch respektable Medien wie die New York Times durchaus widersprüchliche Nachrichten aus Deutschland. Es machte viel Mühe herauszubekommen, wer überhaupt überlebt und wo Zuflucht gefunden hatte. Nun waren es aber die Emigranten, die wegen ihres höheren Lebensstandards CARE Pakete oder Päckchen mit Tabak oder Kaffee in das besetzte Deutschland schickten. Im Vergleich zu ihrer beängstigenden Flucht hatten sich die Machtverhältnisse völlig ins Gegenteil verkehrt – statt ein armer Vertriebener zu sein, konnte der Geisteshistoriker der Frühen Neuzeit Felix Gilbert nun als uniformierter Vertreter der Besatzungsmacht Eindrücke von der Haltung der Besiegten F

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Remy, Steven P., The Heidelberg Myth: The Nazification and Denazification of a German University, Cambridge 2002. Meinecke, Friedrich, Akademischer Lehrer und emigrierte Schüler. Briefe und Aufzeichnungen 1910–1977, eingeleitet und bearbeitet von Gerhard A. Ritter, München 2006.

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sammeln, die zwischen nationalem Selbstmitleid und echtem Willen zum Neuanfang schwankten. 6 Eine Entscheidung zur Remigration verlangte deshalb die Klärung eigener, oft gemischter Gefühle, die vom unbändigen Hass auf die deutschen Täter bis zu nostalgischer Erinnerung an die alte Heimat reichten. Die häufigste Reaktion war die Absage an eine Rückkehr, da teils praktische, teils ideelle Gründe dagegen sprachen. Weil er an der Yale University eine hervorragende Stelle gefunden hatte, führte der nichtjüdische, demokratische Historiker Hajo Holborn seine amerikanischen Kinder, seine Einbürgerung in die USA und seine große Schar von begabten Doktoranden als Argumente an. Obwohl er nur an dem kleinen Frauencollege Sweet Briar in Virginia lehrte, begründete der Kulturhistoriker Gerhard Masur seine Ablehnung der Rothfels-Nachfolge mit Überlegungen darüber, „wo man die stärksten Bindungen fühlt, und welche Aufgaben man als die wichtigsten ansieht“. 7 Der sozialistische Historiker Gustav Mayer, der in England Zuflucht gefunden hatte, wies dagegen auf die NSVerbrechen hin: „Nun ist der breite Blutstrom da, den ich so wenig noch einmal überschreiten könnte, wie die Bewohner des Hades den Styx, der sie in ihre Welt unrettbar bannte.“ 8

Bei jüngeren, in den USA aufgewachsenen und ausgebildeten Forschern, wie dem Diplomatie- und Militärhistoriker Gerhard Weinberg, kam eine Remigration ohnehin nicht mehr in Frage. Ein Kompromiss zwischen den neuen Verpflichtungen und alten Bindungen waren häufige Besuche oder längere Gastprofessuren in der Bundesrepublik. Bei Forschern wie dem Kulturhistoriker Peter Gay, der eine starke Aversion entwickelt hatte, erlaubten Reisen nach Europa und schließlich auch nach Deutschland eine Erkundung der dortigen Veränderungen, die zum Abbau von verständlichen Vorurteilen führte. Anderen Kollegen, wie dem Sozialhistoriker Hans Rosenberg, der seine Ablehnung eines Rufs nach Köln als „grundsätzliche[n] Fehler“ und „Verrat der inneren Überzeugung“ im Nachhinein bedauerte, boten Gastprofessuren zum Beispiel an der Freien Universität in Berlin eine Möglichkeit der Einwirkung ohne Aufgabe der neuen Stellung. Durch persönlichen Einsatz wollte er dabei helfen, die „emotionalen Ressentiments, geistige Einsamkeit, moralische Konfusion und intellektuelle Verwirrung“ deutscher Historiker zu überwinden, um ein kritisches Verständnis der eigenen Zeitgeschichte anzuregen. 9 Besonders jüngere

6 Gilbert, Felix, Lehrjahre im alten Europa. Erinnerungen 1905–1945, Berlin 1989, S. 209–230; vgl. Lehmann, Hartmut; Sheehan, James J. (Hgg.), An Interrupted Past. German-Speaking Refugee Historians in the United States After 1933, Washington 1991. 7 Meinecke, Friedrich, Akademischer Lehrer, S. 247, 217. 8 Ebd., S. 463. 9 Ebd., S. 366ff., 377ff.

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Emigranten, wie die Kulturhistoriker Georg Mosse und Fritz Stern, wählten diese Art der Einwirkung von außen. 10 Ein weiterer Versuch der Vermittlung war der Aufbau einer transatlantischen Doppelexistenz durch institutionelle Verankerung auf beiden Seiten. Mit Zustimmung beider Institutionen praktizierte der Frühneuzeitler Dietrich Gerhard eine „Doppeltätigkeit mit einem regelmäßigen Turnus“ zwischen der Washington University in St. Louis und der Universität Köln. Durch Gründung des Instituts für Amerikanistik wollte er dort eine „Brücke für gegenseitiges deutsch-amerikanisches Verstehen“ bauen, das durch seine eigene Präsenz „eine mehr persönliche Färbung“ erhielt. 11 In der zweiten Generation war es der Historiographiehistoriker Georg G. Iggers, der eine Lehrtätigkeit an der SUNY Buffalo mit einer Anbindung an das MPI für Geschichte in Göttingen verband. 12 Auch ich habe dieses Modell durch meine Direktion des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam und meinen Stifterlehrstuhl an der University of North Carolina jahrelang erprobt. 13 Eine Doppelexistenz vertagte eine schwierige Entscheidung in der Hoffnung, auf beiden Seiten wirken zu können. Im Gegensatz zur häufigen Remigration nach Ostdeutschland blieb jedoch eine völlige Rückkehr nach Westdeutschland die Ausnahme. Die anti-faschistische Rhetorik der SED inspirierte Linksintellektuelle wie Alfred Meusel oder Albert Schreiner in die DDR zurückzugehen, um dort eine neue, marxistische Geschichtswissenschaft aufzubauen. 14 Da sich die frühe Bundesrepublik nicht so deutlich von der Nazi-Vergangenheit distanzierte und weniger Anstrengungen machte, die vertriebenen Kollegen zurückzuholen, remigrierten wesentlich weniger Historiker in den Westen. Der prominenteste von ihnen war Hans Rothfels, der von der Universität Königsberg als Jude vertrieben worden war, obwohl er sich im anti-slawischen Volkstumskampf stark engagiert hatte. Da er sich in den USA an der renommierten University of Chicago einen Lehrstuhl erkämpft hatte, kehrte er erst 1950 nach Tübingen zurück. Trotz seiner nationalistischen Vergangenheit war er maßgeblich an der Gründung des Instituts für Zeitgeschichte in München und der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, also an der Demokratisierung der Geschichtswissenschaft in Westdeutschland beteiligt. 15 F

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10 Gay, Peter, My German Question. Growing Up in Nazi Berlin, New Haven 1998, S. 185ff; Mosse, George L., Confronting History. A Memoir, Madison 2000; Stern, Fritz, Five Germanys I Have Known, New York 2006. 11 Meinecke, Friedrich, Akademischer Lehrer, S. 189ff. 12 Iggers, Georg G.; Iggers, Wilma, Two Lives in Uncertain Times. Facing the Challenges of the 20th Century as Scholars and Citizens, New York 2006, S. 134ff. 13 Jarausch, Konrad H., Contemporary History as Transatlantic Project: Autobiographical Reflections on the German Problem, in: Historical Social Research, Supplement 24 (2012), (i.E.). 14 Klein, Fritz, Drinnen und draußen. Ein Historiker in der DDR. Erinnerungen, Frankfurt am Main 2001. 15 Meinecke, Friedrich, Akademischer Lehrer, S. 156ff.; vgl. Eckel, Jan, Hans Rothfels. Eine intellektuelle Biographie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2005.

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Einige andere Forscher kehrten erst nach Beendung ihrer Berufstätigkeit an ihrem Lebensabend in ihr Herkunftsland zurück. So siedelte Hans Rosenberg aufgrund des vorzeitigen Todes des Sohnes seiner Frau von Berkeley nach Freiburg über, um die deutschen Enkel betreuen zu können. Wegen der freundlichen Aufnahme an der Universität und der schönen Landschaft des Schwarzwaldes fühlte er sich dort durchaus wohl, denn er erfuhr von Gerhard A. Ritter und Hans-Ulrich Wehler eine verspätete Anerkennung als Schutzpatron der in den 1960er-Jahren entstehenden historischen Sozialwissenschaft.16 Auch der durch seine akribischen Rezensionen gefürchtete Slavist Fritz T. Epstein ging nach seiner Emeritierung wieder in die alte Heimat, da er in den USA lange um Anerkennung ringen musste. In der zweiten Generation war es zum Beispiel der Historiker des Kommunismus Werner T. Angress, der zum Ärger seiner Familie in seine Geburtsstadt Berlin übersiedelte, um dort durch Vorträge das Verständnis der Jugend für die Verfolgung der Juden zu stärken. 17 Schließlich gab es auch noch Wünsche nach Rückkehr, die zwar selten ausgesprochen, aber aufgrund von Unverständnis oder widriger Umstände unerfüllt blieben. Manche Historiker, wie der Marxist Arthur Rosenberg, starben schon im Exil, auch weil sie mit dessen Belastungen nicht fertig wurden. 18 Andere träumten, wie der Frühneuzeitler Hans Baron, von einer Remigration, „wenn die wissenschaftliche Einsamkeit hier zu drückend wird“ oder weil er fürchtete, dass „die Tradition der Renaissanceforschung“, die er mitbegründet hatte, in Deutschland abzureißen drohte. Obwohl er lange in die Betreuung der Bibliothek verbannt war, konnte Baron schließlich an der University of Chicago lehren und durch wichtige Bücher auch in den USA entsprechende Anerkennung finden. 19 Weitere Forscher, wie Helene Wieruszowski, resignierten trotz schwieriger Lebensumstände in den USA, denn das große Deutschland der Toleranz und Weltoffenheit „ist in dem Deutschland des Dritten Reiches verloren gegangen“. 20 Dieses Land geistiger Kreativität existierte nur noch in der Erinnerung. Obwohl die Frage einer Rückkehr fast alle Emigranten umtrieb, hing eine Entscheidung zu diesem Wagnis von individuellen Erfahrungen wie strukturellen Bedingungen ab. Zunächst ging es darum, ob die Vertreibung als lebensgefährliche Flucht vor rassistischer Verfolgung oder als relativ normale Übersiedlung empfunden wurde. Dann war der Grad der Integration in ein neues Gastland wichtig, denn eine soziale Marginalisierung stärkte den Wunsch, während beruflicher Erfolg den Drang eher abschwächte. Daneben spielte die Art der Einladung zur Heimkehr eine erhebliche Rolle, denn persönliche Bitten und generöse WiedergutF

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16 Meinecke, Friedrich, Akademischer Lehrer, S. 410ff; vgl. Ritter, Gerhard (Hg.), Entstehung und Wandel der modernen Gesellschaft. Festschrift für Hans Rosenberg zum 65. Geburtstag, Berlin 1970. 17 Angress, Werner T., „…immer etwas abseits“. Jugenderinnerungen eines jüdischen Berliners, 1920–1945, Berlin 2005. 18 Keßler, Mario, Arthur Rosenberg. Ein Historiker im Zeitalter der Katastrophen (1889–1943), Köln 2003. 19 Meinecke, Friedrich, Akademischer Lehrer, S. 294f. 20 Ebd., S. 303f.

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machungsentscheide förderten die Bereitschaft. Schließlich war auch die Einschätzung der künftigen Entwicklung in Deutschland entscheidend, denn man wollte nicht in ein antisemitisches, geteiltes Land zurückkehren, das ohnehin keine politische Zukunft zu haben schien. Weil das nationalsozialistische Unrecht nicht einfach ungeschehen gemacht werden konnte, musste jeder Historiker letztlich selbst entscheiden, wo er sich zu Hause fühlte und wie eine erfüllende Lebensaufgabe sah. 21 Ironischer Weise hatte die Vertreibung fortschrittlicher Historiker aus dem Dritten Reich daher langfristig einen eher entgegengesetzten Effekt. Nur während der verbrecherischen Hitler-Diktatur konnte die Verdrängung von innovativen, demokratischen und jüdischen Forschern die Vorherrschaft eines konservativen, nationalistischen und völkischen Geschichtsbildes stabilisieren. Trotz enormer individueller Schwierigkeiten trug die Flucht verfolgter Wissenschaftler zur Internationalisierung der Beschäftigung mit der deutschen Vergangenheit bei. Durch ihre Hinterfragung aus der Perspektive einer parlamentarischen Demokratie destabilisierten die Emigranten mit neuen Interpretationen die nationale Meistererzählung der Zwangsläufigkeit einer preußisch-deutschen Entwicklung. Ganz im Gegensatz zur ungebrochenen Kontinuität patriotischer Historiographie in anderen europäischen Ländern stärkte die Vertreibung daher die kritischen Ansätze, die, wie die Studie von Georg Iggers, die deutsche Tradition nationaler Geschichtsschreibung fundamental in Frage stellten. 22 Statt selbst zurückzukehren, entwickelten die meisten Nichtmarxisten unter den emigrierten Historikern daher ein neues Rollenverständnis als kulturelle Mittler zwischen ihrem Herkunfts- und ihrem Zufluchtsland. Wegen der nur spärlichen Nachrichten aus dem Feindesland während des Zweiten Weltkrieges verfolgten sie mit brennendem Interesse das Schicksal ihrer Familienangehörigen und Freunde. In zahlreichen Vorlesungen, Vorträgen, Artikeln und Büchern kommentierten sie das Geschehen in Deutschland, arbeiteten für den US-amerikanischen Nachrichtendienst OSS und mischten sich in die Diskussion um die künftige Behandlung des besiegten Landes ein. 23 Dabei erarbeiteten sie im Dialog mit angloamerikanischen Kollegen wie William Langer oder Gordon Craig eine kritische, demokratische Interpretation der deutschen Geschichte, die an linksliberale und sozialistische Vorkriegsansätze zum Beispiel eines Eckhart Kehr anknüpfte. Nach dem Krieg förderten sie den persönlichen und intellektuellen Austausch mit deutF

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21 Krauss, Marita, Heimkehr in ein fremdes Land. Geschichte der Remigration nach 1945, München 2001, S. 73ff. 22 Iggers, Georg G., The German Conception of History. The National Tradition of Historical Thought from Herder to the Present, Middletown 1968. 23 Hönicke-Moore, Michaela, Know Your Enemy. The American Debate About Nazism, 1933– 1945, New York 2010; vgl. Bauerkämper, Arndt; Jarausch, Konrad H; Payk, Markus M. (Hgg.), Demokratiewunder? Transatlantische Mittler und die kulturelle Öffnung Westdeutschlands 1945–1970, Göttingen 2005.

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schen Studenten und Kollegen und beschleunigten dadurch die Entstehung einer transatlantischen Historikergemeinschaft. 24 Durch ihr Wirken trugen Emigranten wesentlich zur Professionalisierung der Geschichtswissenschaft und zur Herausbildung eines Spezialfachs deutscher Geschichte in den USA und England bei. In ihren Seminaren gaben sie die Standards der akribischen Quellenkritik und der monographischen Publikation weiter, wodurch Studenten einen neuen Stil stringenter Forschung lernten. Aufgrund ihres oft bewundernswerten Detailwissens und der Kenntnis der Diskussionen auf dem Kontinent konnten sie eine von medialer Kriegspropaganda vergröberte Wahrnehmungsweise hinterfragen. Durch die Ausbildung „einer neuen Generation von Hochschullehrern in der europäischen Geschichte“ wollte Hajo Holborn wenigstens „indirekt die Aufrechterhaltung und den Wiederaufbau deutscher historischer Forschung“ fördern. 25 Daraus entwickelte sich im anglo-amerikanischen Raum eine ungemein lebendige und innovative Beschäftigung mit deutscher Vergangenheit, die über eine landeskundliche Beschäftigung mit anderen europäischen Geschichten hinausgeht, den deutschen Fall als Beispiel für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts behandelt und ein internationales Korrektiv zu internen Sichtweisen bildet. 26 Teils durch externe Einwirkung, teils durch eigene Rückkehr unterstützten emigrierte Historiker auch in Deutschland die Entwicklung einer kritischen Sicht auf die Vergangenheit. Hans Rosenberg war davon überzeugt, dass der Zusammenbruch des Dritten Reichs eine „völlig einzigartige und nicht wiederholbare Chance“ der Neukonstruktion eines Geschichtsbildes bot. Dabei musste, so der Konsens, die provinzielle Selbstbezogenheit durch einen vergleichenden Blick aufgebrochen, die katastrophalen Folgen autoritärer Politik verdeutlicht und die demokratischen Minderheitstraditionen gestärkt werden. Allen Anzeichen einer Rechtfertigung des Nationalismus und einer Relativierung eigener Schuld musste entschieden begegnet werden. 27 Und jeder kritische Ansatz unter den älteren Kollegen und besonders in der jüngeren Generation musste, wie in der Fischerkontroverse um die deutsche Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges, international unterstützt werden. 28 Im Gegensatz zur eher internen Deutung der Erneuerung von Winfried Schulze war diese informelle Einwirkung der Emigranten wie ReF

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24 Stelzel, Philipp, Rethinking Modern German History: Critical Social History as a Transatlantic Enterprise, 1945–1989, Dissertation, Chapel Hill 2010. 25 Meinecke, Friedrich, Akademischer Lehrer, S. 246ff. 26 Krieger, Leonard; Stern, Fritz (Hgg.), The Responsibility of Power. Historical Essays in Honor of Hajo Holborn, London 1968. 27 Meinecke, Friedrich, Akademischer Lehrer, S. 371, 377ff. 28 Jarausch, Konrad H., Der nationale Tabubruch. Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik in der Fischer-Kontroverse, in: Sabrow, Martin; Jessen, Ralph; Große Kracht, Klaus (Hgg.), Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen seit 1945, München 2003, S. 20–40.

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migranten eine entscheidende Hilfe in der Entstehung eines selbstkritischen Geschichtsbildes. 29 F

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Literaturhinweise Eckel, Jan, Hans Rothfels. Eine intellektuelle Biographie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2005. Kessler, Mario, Exilerfahrung in Wissenschaft und Politik. Remigrierte Historiker in der frühen DDR, Köln 2001. Lehmann, Hartmut; Sheedan, James J. (Hgg.), An Interrupted Past. German-Speaking Refugee Historians in the United States after 1933, Washington 1991. Meinecke, Friedrich, Akademischer Lehrer und emigrierte Schüler. Briefe und Aufzeichnungen 1910–1977, eingeleitet und bearbeitet von Gerhard A. Ritter, München 2006. Stelzel, Philipp, Rethinking Modern German History: Critical Social History as a Transatlantic Enterprise, 1945–1989, Dissertation, Chapel Hill 2010.

Quelle Aufruf: Gemaßregelte Dozenten sollen sich melden (29. Dezember 1945) 30 F

Die Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung in der Sowjetischen Besatzungszone fordert alle von den Nazis in den Jahren 33 bis 45 vom Lehreramt [sic] entfernten Professoren, Dozenten und Assistenten deutscher Hochschulen auf, sich zu ihrer Erfassung schriftlich bei der Abteilung Hochschulen und Wissenschaft der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung in der Sowjetischen Besatzungszone zu melden. Es wird gebeten, kurz anzugeben, an welcher Hochschule und in welcher Stellung zuletzt die akademische Lehrtätigkeit ausgeübt wurde und aus welchem Grunde die Entlassung erfolgte. Desgleichen werden alle Mitglieder des Lehrkörpers der früheren Universitäten Königsberg (Pr.), Posen, Breslau, Prag, der Technischen Hochschulen Danzig, Breslau, Prag, soweit sie nachweisbar nicht Mitglieder der Nazipartei oder ihrer Gliederungen waren, aufgefordert, sich umgehend bei der Abteilung Hochschulen und Wissenschaft schriftlich zu melden.

29 Vgl. Jarausch, Konrad H., German Social History. American Style, in: Journal of Social History 19 (1985), S. 349–360; Schulze, Winfried, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1989. 30 Aufruf: Gemaßregelte Dozenten sollen sich melden, o. V., in: Berliner Zeitung, 29.12.1945. Für den Hinweis auf diesen Aufruf möchte Annette Vogt danken. Vgl. Vogt, Annette, Vom Wiederaufbau der Berliner Universität bis zum Universitäts-Jubiläum 1960, in: Jarausch, Konrad H. (Hg.), Die Humboldt-Universität 1945–2000. Bd. 3 der Jubiläumsgeschichte der Berliner Universität, Berlin 2012 (i.E.).

INTELLEKTUELLE IN FRANKREICH UND DER BUNDESREPUBLIK UM 1970 1 F

Hartmut Kaelble Alfred Grosser brachte um 1970 alle Voraussetzungen mit, um über französische und deutsche Intellektuelle zu schreiben. In Frankfurt am Main 1925 geboren, lebte er seit der Emigration seiner Familie 1933 in Frankreich. Er wurde zuerst Germanist, wechselte bald zur Politikwissenschaft, lehrte seit 1955 an der Science Po, daneben auch an anderen der prestigereichen grandes écoles, schrieb seit 1965 regelmäßig für Le Monde und hatte schon eine ganze Reihe von französischen und deutschen Büchern über Deutschland veröffentlicht. Alfred Grosser hatte sich schon immer für die deutsch-französische Verständigung eingesetzt, war schon als junger Mann 1948 Mitglied des Comité français de relations avec l’Allemagne nouvelle und gehörte um 1970 neben Joseph Rovan und Robert Minder zu den international bekannten, französischen Brückenbauern zwischen Frankreich und Deutschland. Er erhielt 1975 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. 2 Alfred Grosser zog in dem ausgewählten Buchausschnitt einen Vergleich zwischen den französischen und den deutschen Intellektuellen, die sich für ihn in der Geschichte ganz unterschiedlich entwickelt hatten. Die französischen Intellektuellen stellte er als Modell mit ihrer jahrhundertalten Tradition vor. Sie waren vor allem Schriftsteller, aber auch Künstler, Maler, Schauspieler und Filmemacher und engagierten sich in gemeinsamen Manifesten in politischen Protesten. Ihr Engagement, nicht unbedingt ihre Kompetenz spielte in der französischen Öffentlichkeit eine große historische Rolle. Allerdings stellte Alfred Grosser fest, dass die Soziologen als Gesellschaftskritiker in den 1960er-Jahren dabei waren, unter den Intellektuellen eine wachsende Rolle zu spielen. Die deutsche Entwicklung blieb nach Grosser weit dahinter zurück. Die deutschen Intellektuellen, vor allem Schriftsteller und Wissenschaftler, hatten sich lange Zeit von der Politik ferngehalten, sei es aus Politikverachtung oder sei es aus dem Gefühl der Inkompetenz. Mit diesem Mangel an politischem Engagement und dem Rückzug in den Elfenbeinturm trugen sie, so der Vorwurf Grossers, zum Aufstieg Hitlers bei. Allerdings gab es für ihn in der Weimarer Republik ein paar Jahre lang durchaus Intellektuelle, ohne dass er Namen nennt. Seit dem Zweiten Weltkrieg änderte sich zudem die Geschichte der deutschen Intellektuellen, zuerst unter der Herausforderung der Nachkriegszeit, während der etwa die Gruppe 47 entstand, dann wieder in den 1960er-Jahren, in denen Grosser diesen Text schrieb. F

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Essay zur Quelle: Alfred Grosser: Die Intellektuellen (1976). Vgl. Grosser, Alfred, Die Freude und der Tod. Eine Lebensbilanz, Reinbek 2011; Rovan, Josef, Erinnerungen eines Franzosen, der einmal ein Deutscher war, München 2000; Kwaschik, Anne, Auf der Suche nach der deutschen Mentalität. Der Kulturhistoriker und Essayist Robert Minder, Göttingen 2008. H

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Grosser scheint geschwankt zu haben, ob er die damalige Übernahme politischer Ämter durch Journalisten wie Conrad Ahlers und Theo Sommer sowie durch Sozialwissenschaftler wie Ralf Dahrendorf wirklich als politisches Engagement von Intellektuellen werten sollte. Aber Schriftsteller wie Heinrich Böll und Günter Grass waren für ihn Intellektuelle ganz im Sinne des französischen Modells. Trotzdem blieben für ihn weiterhin wichtige deutsch-französische Unterschiede bestehen. Die Intellektuellen hatten zwar in der Bundesrepublik ein gutes Auskommen, wurden aber von der Politik nicht wirklich ernst genommen und als „Pinscher“ 3 oder als Hofnarren angesehen. Zwischen den deutschen Intellektuellen und den neuen sozialen Bewegungen (den „systematischen Protestlern“, wie Grosser sie nennt) kam es zudem anders als in Frankreich zum Bruch. Schließlich sah Grosser die Stärken der Kreativität der deutschen Kultur in Bereichen wie Musik, die für ihn nur wenig zur Sozialkritik beitragen kann. Er sah gleichzeitig eine Schwäche der deutschen Kultur im Film, der sozialkritisch sein kann und eine Stärke der französischen Kultur war. Das politische Engagement der Intellektuellen blieb für ihn daher auch in der Bundesrepublik schwächer als in Frankreich. Nur mit dem Kabarettisten, so Grosser, brachte die deutsche Kultur eine besondere Art des Intellektuellen hervor, die umgekehrt in Frankreich fehlte. Das Modell des politisch engagierten Intellektuellen, ein wichtiger Schutz gegen Diktatur, so schließt man insgesamt als Leser dieses Textes, setzte sich auch in der liberalen Bundesrepublik nicht wirklich durch. Alfred Grosser schrieb diesen Text gleichzeitig für französische und deutsche Leser. Er wollte mit diesem Buch, wie er im Vorwort schrieb, gegen ein zu negatives Deutschlandbild in Frankreich und gleichzeitig gegen die bundesdeutsche Selbstzufriedenheit anschreiben. Der Text wurde von ihm zuerst auf Französisch verfasst, unter dem Titel L’Allemagne de notre temps 1970 veröffentlicht, dann ins Deutsche übersetzt und von Alfred Grosser 1974 in der deutschen Fassung noch einmal durchgesehen und ein Nachwort 1975 hinzugefügt. Er sah sich nicht genötigt den deutschen Text grundlegend zu ändern, obwohl, wie er selbst betont, sich zwischen dem Erscheinen der französischen und der deutschen Fassung viel ereignete: der Tod des französischen Präsidenten Georges Pompidou 1974, der Rücktritt des Bundeskanzlers Willy Brandt 1974, die Ölkrise 1973 und der dramatische Rückgang der europäischen wirtschaftlichen Wachstumsraten. Der Passus über die Intellektuellen war jedenfalls in der deutschen und französischen Fassung fast identisch. 4 Alfred Grossers Darstellung der Intellektuellen war stark vom Kontext der damaligen Zeit geprägt. Die französischen Intellektuellen waren voll etabliert. Sie F

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Grosser, Alfred, Geschichte Deutschlands seit 1945. Eine Bilanz, München 1974, S. 359– 362. Im Folgenden stammen alle Quellenzitate, soweit nicht anders vermerkt, aus den hier abgedruckten Quellenausschnitten. Grosser, Alfred, L’Allemagne de notre temps, Paris 1970, S. 444–447. Allerdings fehlt der Schlusssatz der französischen Version, den er wohl dem deutsche Leser nicht zumuten zu können glaubte, obwohl er seinem eigenen Verständnis von einem Intellektuellen sehr nahe kam: „Il est vrai que les intellectuels veulent exercer une influence et il ferait beau voir qu’on agisse par rire comme un quelconque Voltaire.“

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besaßen eine weltweite Bedeutung mit Schriftstellern wie Albert Camus, mit Philosophen wie Jean-Paul Sartre, mit französischen Filmemachern, Theaterregisseuren und Chansonniers. Der französische Intellektuelle war ein globales Modell. Selbst die Politik folgte in Frankreich diesem Modell. Der Präsident Georges Pompidou stellte sich stärker als sein Vorgänger, General de Gaulle, als ein Mann mit intellektuellen Zügen dar. Der einstige Gymnasiallehrer präsentierte seine Bildung öffentlich und orientierte sich in seinem Rede- und Schreibstil demonstrativ an dem Niveau der Intellektuellen. All das erklärt die Sicherheit und Selbstverständlichkeit, mit der Alfred Grosser das Modell des französischen Intellektuellen den deutschen Lesern präsentierte. In Deutschland überwog dagegen ein starkes Desinteresse an dem französischen Modell des Intellektuellen. Nur wenige Jahre bevor Alfred Grosser sein Buch schrieb, las man 1966 im Bertelsmann Lexikon unter dem einschlägigen Begriff nur die dürre Feststellung „Intellektuelle (frzs.), Verstandesmenschen, i.w.S. geistige Oberschicht eines Volkes". 5 Irgendein Sensus für das französische Modell des engagierten Intellektuellen lässt sich aus diesen, in müdem Desinteresse oder in gewolltem Missverständnis geschriebenen Zeilen nicht erkennen. Der Aufstieg der Experten überall in Europa war ein zweiter wichtiger Zug des historischen Kontextes, in dem das Buch Alfred Grossers entstand. Mit der Planungseuphorie, die in Frankreich mit der planification schon unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Anfang genommen hatte und in den 1960er-Jahren auch die Bundesrepublik ergriff, orientierte sich die Politik stärker an Wirtschaftsund Bevölkerungsprognosen, an der Stadt-, Bildungs- und Gesundheitsplanung. Dadurch gewannen Experten, vor allem Soziologen, Ökonomen und Politikwissenschaftler in der Öffentlichkeit einen steigenden Einfluss. Zukunftsforscher, die in der Regel Sozialwissenschaftler waren, wurden viel gelesen und gehört. In den deutsch-französischen Beziehungen, einem dritten Kontext des Textes, bahnten sich damals ebenfalls Veränderungen an. Der Elysée-Vertrag, ein Meilenstein der deutsch-französischen Partnerschaft und damals erst rund zehn Jahre alt, hatte zwar nicht die Wirkung, die sich Präsident de Gaulle erhofft hatte. Die Präambel, die der Bundestag bei der Verabschiedung dieses Vertrages beschloss und die von der französischen Regierung als Abwertung verstanden wurde, vermied eine exklusive deutsch-französische Beziehung, die gegen die USA gerichtet war. Trotzdem besaß der Vertrag Wirkungen. Die französische und deutsche Regierung sahen sich weit regelmäßiger. Pompidou und Brandt arbeiteten in einem neuen Anlauf der europäischen Integration seit dem Gipfel von Den Haag 1969 eng zusammen. Zwar war das Misstrauen der Franzosen in die Deutschen und der Deutschen in die Franzosen nach den Umfragen um 1970 weiterhin groß. Aber es milderte sich doch ab und verschob sich dann im Verlauf der 1970er-Jahre in ein Überwiegen des Vertrauens in das Land jenseits des Rheins. Die Verfassungen, Parteien und Verbände, politischen Konflikte, Gewerkschaften und Medien blieben zwar sehr verschieden und für die jeweils andere Seite des Rheins schwer verständlich. Aber alte wirtschaftliche und soziale Kontraste in der ExportwirtF

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Stichwort ‘Intellektuelle’, in: Das Bertelsmann Lexikon, Gütersloh 1966, Bd. 3, S. 1211.

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schaft, in der Verstädterung, im Bildungsniveau und den Sozialausgaben schwächten sich während der 1960er-Jahre ab. Es war eine Epoche mit einer Mischung von Konvergenzen und Kontrasten, in der für die Zeitgenossen nur schwer klare Tendenzen auszumachen waren. Vor diesem Hintergrund ist die Leistung des Textes von Alfred Grosser zu sehen. Ein Vergleich der Intellektuellen, der auf einer so intensiven Kenntnis beider Länder beruhte, war sehr selten. Seine These, dass es auch außerhalb Frankreichs und sogar in Deutschland Intellektuelle gab, besaß eine Bedeutung, die heute nicht mehr leicht zu würdigen ist. Alfred Grosser wird gewiss gewusst haben, dass das Interesse an diesem Thema auf der deutschen Seite sehr begrenzt war und versuchte aus guten Gründen, mit seiner These das deutsche Interesse an den Intellektuellen zu wecken. Den französischen Lesern wollte er gleichzeitig zeigen, dass es in Deutschland auch so etwas wie Intellektuelle gab und damit Deutschland weniger fremd war als viele Franzosen glaubten. Französische Leser konnten in den beiden wichtigsten deutschen Beispielen von Intellektuellen, die Alfred Grosser nannte, auch vertraute Züge finden: Heinrich Böll, ein linksrheinischer Katholik, der durch den Nobelpreis weltweit anerkannt worden war, und Günter Grass, mit polnischen Vorfahren, der eine Zeit in Frankreich gelebt hatte. Mit seiner These brach Grosser auch aus der hexagonalen Beschränktheit vieler französischer Darstellungen über die Intellektuellen aus. Intellektuelle als ein von Frankreich ausgehendes, aber internationales Phänomen anzusehen, war eine neue Perspektive, die erst viel später von Christophe Charle in einer systematischen Analyse der europäischen Intellektuellen des 19. Jahrhunderts wieder aufgenommen wurde. 6 Auch seine mutige Kritik an der Vergangenheit der deutschen Intellektuellen hatte ihre pädagogische Seite. Sie machte ihn dem französischen Publikum glaubwürdiger, da er die Frage nach den Gründen für die Gefährlichkeit des östlichen Nachbarn aufgriff, der innerhalb von nur sieben Jahrzehnten dreimal in Frankreich eingefallen war. Er wollte zeigen, dass auch die Kernfigur des klassischen französischen Bildes vom guten Deutschen, der deutsche Philosoph, in der Form der deutschen Wissenschaftler an den Ursachen des NS-Regimes beteiligt war. Er wollte gleichzeitig den deutschen Leser aus seiner Selbstzufriedenheit und Selbstvergessenheit aufrütteln, an die dunkle Vergangenheit der Geschichte der deutschen Wissenschaftler und Schriftsteller während des NS-Regimes erinnern und diejenigen, die diese Geschichte aufarbeiteten, von außen ermutigen. Sein Argument, dass die deutschen Intellektuellen, vor allem Wissenschaftler, sich lange Zeit geweigert hatten, sich politisch zu engagieren, war eine unter den Experten schon vertretene, aber noch umstrittene These, die auf Forschungen von amerikanischen und deutschen Historikern und Politikwissenschaftlern wie Fritz F

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Charle, Christoph, Vordenker der Moderne. Die Intellektuellen im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1996; vgl. auch Bachoud, Andrée; Cuesta, Josefina; Trebitsch, Michel (Hgg.), Les intellectuels et l’Europe, Paris 2000.

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Ringer, Fritz Stern und Kurt Sontheimer beruhte. 7 Aber in der breiten deutschen Öffentlichkeit war diese These noch nicht anerkannt und auch die Aufarbeitung der Rolle der deutschen Wissenschaftler in der Weimarer Republik und im NSRegime stand überwiegend noch bevor. In den Jahrzehnten seit den 1970er-Jahren blieb das mangelnde politische Engagement der deutschen Intellektuellen und Wissenschaftler ein wichtiges Forschungsthema. Allerdings wurden auch eingehend ihre aktiven Verstrickungen in das NS-Regime und die Unterschiede zwischen den deutschen Experten und den französischen Intellektuellen untersucht. 8 Darauf wird gleich zurückzukommen sein. Alfred Grosser spürte darüber hinaus auch sehr genau, dass sich die Intellektuellen in Frankreich veränderten, die klassischen Schriftsteller und Künstler etwas zurückgedrängt wurden, während die sozialwissenschaftlichen Intellektuellen in der Öffentlichkeit einen Aufstieg erlebten, den er vielleicht auch selbst wünschte und vorantrieb, weil er selbst eher diesem neuen Typ des Intellektuellen angehörte, der später mit Pierre Bourdieu und Michel Foucault den Weltruhm der französischen Intellektuellen erneuern sollte. 9 Unterschiede nicht Ähnlichkeiten zwischen Frankreich und der Bundesrepublik standen im Zentrum des Vergleichs von Alfred Grosser. Beide Gesellschaften wurden als getrennte Welten vorgestellt, die man einander erklären muss. Die eigene Rolle sah Alfred Grosser darin, Brücken des Verständnisses zwischen beiF

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Stern, Fritz, The Politics of Cultural Despair. A Study in the Rise of the Germanic Ideology, Berkeley 1961; Sontheimer, Kurt, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, München 1962; Ringer, Fritz, The Decline of the German Mandarins, Cambridge 1969. Vgl. Lepenies, Wolf, Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, München 1985; Bering, Dietz, Die Epoche der Intellektuellen 1898–2001. Geburt, Begriff, Grabmal, Berlin 2010; Bock, Hans Manfred, Der Intellektuelle als Sozialfigur. Neuere vergleichende Forschungen zu ihren Formen, Funktionen und Wandlungen, in: Archiv für Sozialgeschichte 51 (2011), S. 591–643; Brunkhorst, Hauke, Der Intellektuelle im Land der Mandarine, Frankfurt am Main 1987; Dahrendorf, Ralf, Engagierte Beobachter. Intellektuelle in ihrer Zeit, Wien 2005; Geyer, Michael (Hg.), The Power of Intellectuals in Contemporary Germany, Chicago 2001; Gilcher-Holtey, Ingrid, Eingreifendes Denken. Die Wirkungschancen von Intellektuellen, Weilerswist 2007; Grunewald, Michael et al. (Hgg.), Frankreich und Deutschland im 20. Jahrhundert. Akademische Wissensproduktion über das andere Land, Bern 2011; Hübinger, Gangolf, Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit. Eine Intellektuellengeschichte, Göttingen 2006; Lepsius, Rainer M., Kritik als Beruf. Zur Soziologie der Intellektuellen, in: Ders., Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990; Morat, Daniel, Intellektuelle und Intellektuellengeschichte. Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 20.11.2011, URL: https://docupedia.de/zg/Intellektuelle_und_Intellektuellengeschichte? oldid=80818 (03.04.2012); Mommsen, Wolfgang J. (Hg.), Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, München 1996; Müller, Jan Werner, Contesting Democracy. Political Ideas in the Twentieth Century Europe, New Haven 2011; Oberloskamp, Eva, Fremde neue Welten. Reisen deutscher und französischer Linksintellektueller in die Sowjetunion 1917–1939, München 2011; Strickmann, Martin, L’Allemagne nouvelle contre l’Allemagne éternelle. Die französischen Intellektuellen und die deutsch-französische Verständigung 1944–1950. Diskurse, Initiativen, Biografien, Frankfurt am Main 2004; Winock, Michel, Das Jahrhundert der Intellektuellen, Konstanz 2003. Vgl. seine Selbstzuordnung vierzig Jahre später: Grosser, Die Freude und der Tod, S. 41.

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den Länder zu bauen, die zu voreingenommen oder zu selbstzufrieden waren, um sich überhaupt für die andere Gesellschaft zu interessieren. Nur wenn man über Unterschiede diskutierte, hatte man eine Chance, die Mauern des Desinteresses zu durchlöchern. Eine Leistung des Textes lag darin, auf deutsch-französische Unterschiede aufmerksam gemacht zu haben, mit denen Grosser die Öffentlichkeit herausforderte und das Interesse an der anderen Gesellschaft weckte. Aus dem Abstand von fast vierzig Jahren hat sich allerdings unser Blick auf die Themen dieses Textes verändert. Das Verhältnis von Intellektuellen und Diktaturen wird inzwischen in mehr Dimensionen diskutiert als damals von Alfred Grosser. War fehlendes politisches Engagement tatsächlich der entscheidende Unterschied zwischen französischen und deutschen Intellektuellen? Die Distanziertheit und Verachtung, die viele Wissenschaftler und Intellektuelle der Politik entgegenbrachten, war sicher eine wichtige Dimension mit verhängnisvollen Folgen in Deutschland. Es gab aber auch wichtige Wissenschaftler in Deutschland, die dem NS-Regime viel Engagement entgegenbracht hatten – Philosophen wie Martin Heidegger, Juristen wie Carl Schmitt, Historiker wie der damals junge Werner Conze. Ein verfehltes, politisch kurzsichtiges oder blindes Engagement wiesen auch die deutschen Wissenschaftler auf, die 1914 die so genannte Erklärung der Hundert unterschrieben. Diese Erklärung ähnelte in der Form sogar den Manifesten der klassischen engagierten französischen Intellektuellen. Nicht nur gegenüber dem Ersten Weltkrieg und dem NS-Regime engagierten sich deutsche Intellektuelle in verhängnisvoller Weise. Auch gegenüber den kommunistischen Diktaturen waren manche engagierte deutsche Intellektuelle blind, in der Zwischenkriegszeit ebenso wie in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Vor solchem fehlgeleiteten Engagement waren umgekehrt auch französische Intellektuelle keineswegs gefeit. Nur wenige französische Intellektuelle stützten das NS-Besatzungsregime, aber viele engagierten sich während und direkt nach dem Zweiten Weltkrieg für den sowjetischen Kommunismus und waren zeitweise blind für die Verbrechen des Stalinismus. Freilich sahen die französischen kommunistischen Intellektuellen die Gefahren des Stalinismus doch eher als die deutschen Intellektuellen. Die wohl heftigsten Kontroversen unter französischen Intellektuellen brachen über Kommunismus und Stalinismus aus. Der Unterschied zwischen französischen und deutschen Intellektuellen lag daher wohl nicht allein im französischem politischem Engagement und deutscher Politikverachtung, sondern eher in der größeren Sensibilität der französischen Intellektuellen für die Gefahren von Diktaturen und Krieg. Die Veränderungen der Intellektuellen, die Alfred Grosser in den 1960erJahren schon scharfsinnig aufspürte, sind inzwischen ein klarer Trend geworden. In den europäischen Gesellschaften bestehen seit damals zwei Typen von Intellektuellen nebeneinander: Einerseits der Intellektuelle als Generalist, als Schriftsteller, Künstler oder Philosoph, der nicht Experte in einem Fachgebiet ist, sich in der Politik aber engagiert und dabei oft in einer Gruppe agiert, die Manifeste verfasst, eigene Zeitschriften oder Buchreihen hält, sich in besonderen Cafés, Restaurants oder Ferienorten trifft, vielleicht sogar in bestimmten Stadtvierteln zusammenlebt, einen eigenen Lebensstil entwickelt; und andererseits der Intellektuelle als Exper-

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te, der in seinem Fachgebiet – sei es der Biologie, sei es der Physik, sei es den Sozialwissenschaften, sei es der Geschichte – Experte ist, sich darüber hinaus politisch engagiert und publiziert, manchmal auch politische Ämter übernimmt, aber meist eher Einzelgänger bleibt und sich nicht mit einem bestimmten Lebensstil profiliert. Alfred Grosser beobachtete das neue Nebeneinander dieser beiden Typen von Intellektuellen im Frankreich der 1960er-Jahre. Für diese sozialwissenschaftlichen Intellektuellen spielten der Beruf und die berufliche Qualifikation eine wichtigere Rolle als für die andere Gruppe von Intellektuellen, die Schriftsteller oder Künstler. Die sozialwissenschaftlichen Intellektuellen konnten beanspruchen, durch ihren Beruf einen besonderen Zugang zum Wissen von der Gesellschaft, Politik und Wirtschaft zu besitzen. Damit wurden auch die Intellektuellen vom Prozess der Verberuflichung erreicht, der sich in den akademischen Berufen und in vielen Berufen der Wirtschaft schon im 19. Jahrhundert durchgesetzt hatte. Ähnlich spät setzte sich diese Verberuflichung auch im Gegenpart der Intellektuellen in der Öffentlichkeit, unter den Politikern, durch. In diesem Nebeneinander von zwei Typen von Intellektuellen gehen zudem gleichzeitig französische und deutsche Wurzeln des Intellektuellen ein. Der Intellektuelle als Generalist findet sich immer auch in Deutschland, hat aber stärkere französische Wurzeln; der Intellektuelle als Experte findet sich auch in Frankreich, hat aber stärkere deutsche Wurzeln, da es in Deutschland schon im langen 19. Jahrhundert häufig Experten waren, die sich öffentlich engagierten und öffentlich Einfluss gewannen – Mediziner wie Rudolf Virchow, Juristen wie Hugo Preuß, Historiker wie Theodor Mommsen, Sozialwissenschaftler wie Max Weber. Das führt zu einem anderen Blick auf den französisch-deutschen Vergleich, der heute allmählich zu überwiegen beginnt. Der Blick ausschließlich auf die Unterschiede, den Alfred Grosser wählte, ergab sich für die Zeitgenossen der 1960erJahre gleichsam automatisch. Er war verständlich, nachdem Frankreich und Deutschland nicht nur in drei Kriegen auf unterschiedlichen Seiten gestanden hatten, sondern auch eine ganz andere Industrialisierung, Verstädterung, Entwicklung der Nation, des kolonialem Imperiums und der Bildung erlebt hatten und dadurch der Dialog zwischen den beiden Ländern schwierig geworden war. Der Blick von heute dagegen ist auch geprägt von jahrzehntelanger Zusammenarbeit in der europäischen Integration, von der Erfahrung einer gemeinsamen Prosperität während der 1950er- und 1960er-Jahre, von der danach folgenden gemeinsamen Erfahrung der Ölkrise, der Inflation und der Arbeitslosigkeit, auch der gemeinsamen Erfahrung des Kalten Kriegs (wenn auch für die Ostdeutschen nicht auf derselben Seite). Dadurch öffnete sich der Blick für die Gemeinsamkeiten und parallelen Entwicklungen, der heute auch die historische Literatur eher prägt. 10 Gleichzeitig verloren die deutsch-französischen historischen Unterschiede ihre gleichsam magische, intellektuelle Anziehungskraft, die sie noch in den 1960er-Jahren besaßen. F

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10 Vgl. für diesen Blick ein Handbuch über die Zeit, in der Alfred Grosser diesen Text schrieb: Miard-Delacroix, Hélène, Deutsch-französische Geschichte. 1963 bis in die Gegenwart, Darmstadt 2011.

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Der Text von Alfred Grosser über die Intellektuellen bringt den heutigen Leser, wenn er sich in ihn hinein vertieft, immer noch zum Nachdenken. Auch wenn der Text nicht mehr die intellektuelle Frische wie damals besitzt, kann man doch noch erkennen, wie mutig, scharfsinnig und gleichzeitig gekonnt herausfordernd dieser Text für die französischen ebenso wie für die deutschen Leser war. Literaturhinweise Bock, Hans, Der Intellektuelle als Sozialfigur. Neuere vergleichende Forschungen zu ihren Formen, Funktionen und Wandlungen, in: Archiv für Sozialgeschichte 51 (2011), S. 591–643. Grosser, Alfred, Die Freude und der Tod. Eine Lebensbilanz, Reinbek 2011. Müller, Jan Werner, Contesting Democracy. Political Ideas in the Twentieth Century Europe, New Haven 2011.

Quelle Alfred Grosser: Die Intellektuellen (1976) 11 F

Die Intellektuellen, die in der Zeit der Prüfung unmittelbar nach dem Kriege sehr deutlich in Erscheinung traten, wurden später [in der Bundesrepublik, H. K.] zu Außenseitern in einer satten und ideologisch allzu einigen Gesellschaft. Außer während einiger Jahre der Weimarer Republik hat Deutschland jedenfalls niemals den Begriff des Intellektuellen im selben Sinne wie Frankreich gekannt. Seit eh und je waren das geistige Leben und die wirtschaftliche und politische Entwicklung getrennt. Aus Hochmuth oder Unverständnis haben die deutschen Intellektuellen immer dazu tendiert, sich vom politischen Leben fernzuhalten. Die Schriftsteller machten sich bereitwillig auf die Suche nach dem „ewig Menschlichen“, ohne sich um die zweifellos vergänglichen, doch gewiß wichtigen Realitäten zu kümmern. Die Gleichgültigkeit der Universitäten, die sich in ihrem Elfenbeinturm der reinen Wissenschaft verschanzten, hat nicht wenig dazu beigetragen, Hitlers Aufstieg zur Macht zu erleichtern. Welche Meinung man auch immer haben mag vom Begriff des Engagements oder von der Kompetenz (oder Inkompetenz) der Intellektuellen in politischen Dingen, jedenfalls nahmen sie im deutschen öffentlichen Leben im Allgemeinen einen geringeren Platz ein als ihre französischen Kollegen. In den 1950er-Jahren gab es eine Evolution zu einer Art moralischen Ordnung, wobei die Vorstellung von einer zu schaffenden besseren Ordnung, die das deutsche Denken seit dem Verhängnis beherrscht hatte, vor dem Gedanken zurückzutreten schien, daß eine Ordnung zu erhalten und zu verteidigen sei, und sei es auch gegen die Kritik. Die Intellektuellen mußten sich gegen den Vorwurf wehren einen „zersetzenden“ Einfluß auszuüben. Voll Zorn griff Bundeskanzler Erhard die „Pinscher“ an, die sich an ihn heranwagten. Aber schon damals, das heißt um die Mitte der 1960er-Jahre, war wieder die Zeit der Unsicherheiten und Prüfungen gekommen. Sie verlieh denen wieder Kraft und Prestige, die von Berufs wegen nachdenken und in Frage stellen. Nicht, daß sie sich jemals schrecklich zu 11 Grosser, Alfred, Geschichte Deutschlands seit 1945. Eine Bilanz, München 1974, S. 359– 362.

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beklagen gehabt hätten: selbst in der konservativsten Periode der Bundesrepublik ermöglichten die Wochenblätter, Zeitschriften, Taschenbücher und vor allem Rundfunk und Fernsehen vielen Kritikern des Lebensstils der Umwelt, gehörig teilzuhaben an dem Komfort, dessen Missbräuche sie anprangerten. Die mutigen und ihrer sozialen Verantwortung bewußten Schriftsteller der „Gruppe 47“ um Hans Werner Richter verstanden es zugleich, fest zusammenzuhalten, um ihre individuelle und kollektive Reputation zu heben, so daß sie zeitweise die allgegenwärtigen Repräsentanten der neuen deutschen Kultur zu sein schienen. Allerdings mußten sie sich auch sagen, daß die politische Gesellschaft sie vielleicht duldete, die Hofnarren ohne Bedeutung. Gegen Ende der 1960er-Jahre und insbesondere unter der Regierung Brandt machte sich ein doppeltes Phänomen bemerkbar. Einerseits wurde der Bruch zwischen den systematischen Protestlern und den liberalen Intellektuellen immer deutlicher. Andererseits nahm die unmittelbare Teilnahme von Intellektuellen an der institutionalisierten politischen Tätigkeit zu, und die beiden Entwicklungen förderten sich gegenseitig. Ende 1966 verließ Konrad Ahlers den Spiegel und wird stellvertretender Regierungssprecher. Anfang 1970 gibt Theo Sommer seinen Posten in der Zeit für ein halbes Jahr auf, um für den Verteidigungsminister Helmut Schmidt ein Planungsbüro zu leiten. Zur Zeit ist der Spiegel die kräftige Stütze einer Regierung geworden, in der so erklärte Kritiker der Deutschen Gesellschaft wie Ralf Dahrendorf bis zu seinem Abgang nach Brüssel und Klaus von Dohnanyi eine Rolle spielen. Zwei Journalisten, ein Soziologe, ein Jurist: handelt es sich wirklich um Intellektuelle? Alles hängt von den Definitionen ab, und die Definitionen wiederum hängen von den Realitäten des gesellschaftlichen Lebens ab, zu dem das kulturelle Leben gehört. Jahrhundertelang war der Intellektuelle in Frankreich vor allem der engagierte Schriftsteller, ob er sich in seinem Werk engagierte oder außerhalb dessen. Wenn man als Intellektuelle diejenigen ansieht, die sich als Unterzeichner politischer, im allgemeinen protestlerischer Manifeste als solche bezeichnen, dann kamen noch die Künstler dazu, angefangen mit den Malern bis zu den Filmregisseuren und Schauspielern. Allmählich haben die Schriftsteller in ihrer Rolle als Gesellschaftskritiker den Soziologen den Vortritt gelassen. Dieser Wandel macht sich auch in der Bundesrepublik bemerkbar, wo die Generation der Schriftsteller, die wohl in der Literatur verfaßten, in den Hintergrund tritt, ohne daß es einen wirklichen Ersatz für sie gibt, obwohl ein Günter Grass die Nachfolge und die Erweiterung eines Heinrich Böll bedeutet (wenn auch der Nobelpreis von 1972 in Heinrich Böll den weltbekanntesten lebenden deutschen Schriftsteller belohnte, dessen politisches Engagement, insbesondere an der Spitze des PEN-Klubs, immer im Namen der Grundfreiheiten stattfand), während die Sozialwissenschaften die Literatur ablösen. Aber die Schwerpunkte und die Schwächen der kulturellen Produktion sind nicht dieselben wie in Frankreich, was dazu führt, daß Prestige und Einfluß unterschiedlich sind. Denn das Gebiet, auf dem Deutschland in der Nachkriegszeit die größte Kreativität bewies, ist am wenigsten geeignet, einen sozialen Gedanken unmittelbar auszudrücken, und zwar die Musik. Dagegen ist der westdeutsche Film nicht über Mittelmäßigkeit hinaus gelangt: die große Weimarer Zeit ist nur eine Erinnerung, und die besten Filme, die man seit einem Vierteljahrhundert in deutschen Kinos sieht, sind im allgemeinen amerikanische, italienische und französische. Und in den prächtigen Theatern, vor einem Publikum, das bereit ist, der Avantgarde Beifall zu spenden, sind Stücke von deutschsprachigen Autoren nach wie vor rar, die beiden bedeutendsten sind Bertolt Brecht und Friedrich Dürrenmatt, und der eine gehört dem anderen Deutschland und der andere der Schweiz.

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Die einzige Theatergattung, in der sich Deutschland zumindest seit Kriegsende auszeichnet, ist indes ganz unmittelbar politisch. Die Kabaretts in Berlin, München, Düsseldorf, Hamburg und Köln bieten satirisches, intelligentes, aggressives, gute inszeniertes, gut gespieltes und gesungenes Theater, das nur eine entfernte Ähnlichkeit mit den Darbietungen Pariser Chansonnier hat, die darauf aus sind, einem betuchten Publikum zu gefallen. Man findet hier eine ebenso scharfsinnige Analyse wie bei den Romanschriftstellern, Soziologen und Leitartiklern, und dazu noch jenen Humor, an dem es dem gesamten intellektuellen Leben, in Deutschland wie in Frankreich, so beklagenswert gebricht.

TRADITION UND TRANSFORMATION. DAS LEIPZIGER VERLAGSWESEN NACH ENDE DER GUTENBERG-GALAXIE 1 F

Lena Heinze Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sehen sich Verleger, Drucker, Buchhändler und Verlagsagenten vor neue Herausforderungen gestellt. Innovative Formen der Herstellung und Verbreitung von Wissen und Unterhaltung gewinnen an Bedeutung und eine gesamte Branche rätselt. Es verändert sich etwas, da ist man sich sicher. Doch das ‚wie‘ und ‚wohin‘ bleibt verborgen hinter wolkigen Werbesprüchen. „So, wie sich das Medium Buch im digitalen Zeitalter weiterentwickelt hat, ist auch aus der traditionellen Buchstadt Leipzig heute ein Zentrum für Kreative aller Metiers geworden“ 2 , F

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wirbt eine Imagebroschüre der Stadt aus dem Jahr 2011. Aber was bedeutet diese „Weiterentwicklung“ für den traditionellen Verlagsstandort Leipzig und seine professionelle Zukunft? Burkhard Jungs Ausführungen zur Geschichte und Gegenwart des Buches in Leipzig sind Teil einer Festschrift zum 125-jährigen Jubiläum des Deutschen Buch- und Schriftmuseums in Leipzig im Jahr 2009. Unter dem Titel Zeichen – Bücher – Wissensnetze würdigen in diesem Sammelband Personen aus Kulturpolitik, Kulturpraxis, Verlagswesen und Buchwissenschaft die 1884 als Museum für das Buchgewerbe gegründete Institution und erörtern das Wesen des Buches, die Zukunft des Verlags- und Druckereigewerbes sowie Möglichkeiten und Nutzen ihrer musealen Präsentation. Den Fokus der Reflektionen bildet aus gegebenem Anlass das für das gesamte Buchwesen errichtete Leipziger Museum. Das heutige Buch- und Schriftmuseum ist nicht nur das älteste Fachmuseum seiner Art in der Welt, sondern nach Umfang und Qualität der Bestände auch eines der bedeutendsten. Seit 1990 gehört es zur Bundesanstalt Die Deutsche Bibliothek und dient als Dokumentationsstätte für die Buchkultur sowie als Arbeitsstätte für die Papiergeschichtsforschung. 3 In der jüngeren Vergangenheit stellte die Eröffnung des vierten Erweiterungsbaus im Jahr 2011 einen wichtigen Meilenstein in der Entwicklung des Museums dar. Ziel des Neubaus ist es, ein „Zentrum für die deutschsprachige Buchkultur“ zu schaffen und mit attraktiven Ausstellungsräumen und museF

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Essay zur Quelle: Burkhard Jung: Geschichte und Gegenwart des Buches in Leipzig (2009). Stadt Leipzig, Amt für Wirtschaftsförderung (Hg.), Flyer zur Medien- und Kreativwirtschaft in Leipzig, Leipzig 2010, URL: http://www.leipzig.de/imperia/md/content/80_wirtschaftsfoerderung/10_cl_medien-kreativ/flyer_mkw_27042010.pdf (29.03.2012). Vgl. Lehmann, Klaus-Dieter, Tradition als lebendige Verpflichtung, in: Jacobs, Stephanie (Hg.), Zeichen – Bücher – Wissensnetze. 125 Jahre Deutsches Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek, Göttingen 2009, S. 206.

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aler Infrastruktur, mit neuem Lesesaal und erweiterten Magazinen an die Öffentlichkeit zu treten. 4 Vor dem Hintergrund der Neueröffnung des vierten Erweiterungsbaus und der Zelebrierung des Buch- und Schriftmuseums als langjährige Institution sind die Aussagen Burkhard Jungs, Oberbürgermeister der Stadt Leipzig, zu sehen, der die Perspektive des Buch- und Schriftmuseums in der dem Essay beigefügten Quelle ausdrücklich positiv bewertet. F

„[…] [W]ir in Leipzig schätzen uns glücklich, ein solches kulturhistorisches Kleinod in unserer Stadt zu wissen. Gerade heute, gerade in einer für das Buch spannungsgeladenen Gegenwart“ 5 , F

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so Jung. Das Deutsche Buch- und Schriftmuseum besäße eine gute Zukunft und werde seine in Deutschland einmalige Stellung als buchkulturelles Zentrum, insbesondere mit dem Abschluss des Erweiterungsbaus der Deutschen Nationalbibliothek, ausbauen können, lautet seine Prognose. Auffällig ist, wie zentral diese „spannungsgeladene Gegenwart“ in seinem und anderen Beiträgen des Sammelbandes thematisiert wird. So betont der Buchund Bibliothekswissenschaftler Bernhard Fabian in der Festschrift: „Dass das Buch als kulturelles Artefakt in seiner Eigenart und Wirkung etwas gänzlich Exzeptionelles darstellt, muss uns wieder (oder auch neu) vor Augen geführt werden. […] Es geht darum, dass wir uns der zeitgemäßen Bedeutung des Buches vergewissern und dass wir uns der prägenden Kraft bewusst werden, die es über einen langen historischen Zeitraum gehabt hat, noch immer hat und wohl auch für die Zukunft behalten wird.“ 6 F

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Auch Klaus-Dieter Lehmann, langjähriger Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, hebt in demselben Band hervor: „Gerade ein Buch- und Schriftmuseum bedarf in einer Zeit, in der elektronische Medien zunehmend in Konkurrenz zum Buch treten, besonderer Aufmerksamkeit und fördernder Zuwendung.“ 7 F

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„Das Buch droht aus dem Zentrum der Kulturvermittlung zu verschwinden, wie es gleichzeitig zu einer Ware unter anderen wird“, beschreibt Jung die „doppelte Gefahr“. Ob nur gefühlt oder real, diese Frage müsste an anderer Stelle geklärt werden, das Buch scheint bedroht. „Fördernde Zuwendung“ und Vergewisserung seiner Bedeutung sind seine Rettung. Doch nicht nur das Medium Buch steht gefühlt auf der Kippe: die „Welthauptstadt des Buches“ Leipzig, der „paradiesische 4 5 6 7

Vgl. Deutsche Nationalbibliothek (Hg.), Das Deutsche Buch- und Schriftmuseum. Hauseigene Broschüre, Leipzig, Januar 2009. Jung, Burkhard, Geschichte und Gegenwart des Buches in Leipzig, in: Jacobs, Zeichen – Bücher – Wissensnetze, S. 243–248. Im Folgenden stammen alle Quellenzitate, soweit nicht anders vermerkt, aus der hier abgedruckten Quelle. Fabian, Bernhard, Warum wir Buchmuseen brauchen, in: Jacobs, Zeichen – Bücher – Wissensnetze, S. 211. Lehmann, Tradition als lebendige Verpflichtung, S. 207.

Tradition und Transformation

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Ort der Monografien und Lexika […] der Verlage und des Buchhandelswesens“ und seine ganze Verlagsbranche mit ihm. „Als im Jahr 1884 das Deutsche Buchgewerbemuseum gegründet wurde, […] konnte man mit vollem Recht behaupten: Leipzig ist Sitz der bedeutendsten Verlage, Studieneinrichtungen und das Zentrum der Druckkunst in Deutschland. Dies heute auch nur als Zielvorstellung zu erwägen, wäre vermessen“,

resümiert Jung. Nicht nur die wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen hätten sich dramatisch geändert, auch die Welt des gedruckten Wortes sei eine andere geworden. „Das Buch ist nicht mehr das zentrale Medium, Wirklichkeit zu verarbeiten. Unser Fenster zur Welt ist viereckig geworden und funktioniert auf Knopfdruck.“ Das Buch habe in Leipzig auch heute noch einen öffentlichen Stellenwert wie in kaum einer anderen Stadt in Deutschland, so die Aussage des Oberbürgermeisters. Relativierend fügt er jedoch an, dass Leipzig nach der Wende 1989/1990 habe beginnen müssen, etwas Neues aus den Traditionen der Buchstadt zu entwickeln. In der Tat prägen heute nicht mehr die bekannten Verlagshäuser das Profil der „Buchstadt“. 8 Nach einer Phase von Abschwüngen infolge des Ersten Weltkrieges und verschiedener Wirtschaftskrisen der Weimarer Republik hinterließen insbesondere die Zeit des Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg tiefe Spuren im Leipziger Buchhandel und Buchgewerbe. Eingriffe in die buchhändlerische Logistik, eine zunehmende internationale Isolierung des deutschen Buchhandels, die Kontrolle des Verlagswesens, Kontingentierungen des Papiers, die Einschränkung schriftstellerischer Tätigkeit sowie „Arisierung“ und Verfolgung erschwerten die Arbeit von Buchhändlern und Zwischenbuchhändlern, Buchdruckern, Verlegern und Autoren oder machten sie gar unmöglich. Die Bombardements des Luftkrieges sorgten schließlich für die fast vollständige Zerstörung der über Jahrhunderte gewachsenen Leipziger Infrastruktur. 9 In der Nacht vom 3. zum 4. Dezember 1943 fielen fast 80 Prozent des Buchhändlerviertels in der Ostvorstadt einem Bombenangriff zum Opfer. Die Verlage Goldmann, Brockhaus, Hendel, Hirzel, die Betriebe von B. G. Teubner, Brandstetter, Breitkopf & Härtel, das Bibliographische Institut und viele andere Verlagsgebäude und Druckereien wurden in dieser Nacht vollständig vernichtet, mit ihnen die darin lagernden Bücher, Druckbögen, Papierbestände sowie unzählige Maschinen und Transportfahrzeuge. Reimar Riese schätzt die Zahl der damals insgesamt im Leipziger Graphischen Viertel verbrannten Bücher auf 50 Millionen. 10 Nach Ende des Krieges im Frühjahr 1945 wurde Leipzig zum Interessenobjekt der Siegermächte. Während der zehnwöchigen Besatzungszeit der AmerikaF

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8 Zum Begriff der Buchstadt, seiner Entstehung und Verwendung vgl. Keiderling, Thomas, Aufstieg und Niedergang der Buchstadt Leipzig, Beucha 2012. 9 Ebd. 10 Vgl. Riese, Reimar, Die Zerstörung des Buchhändler- und Buchgewerbeviertels im Zweiten Weltkrieg, in: Herzog, Andreas (Hg.), Das Literarische Leipzig. Kulturhistorisches Mosaik einer Buchstadt, Leipzig 1995, S. 297.

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ner blieben Herstellung und Vertrieb fast ausnahmslos verboten. Ziel war es nicht, der sowjetischen Armee ein funktionierendes Buchgewerbe zu hinterlassen, sondern im Gegenteil, wichtige Verlags- und Organisationsstrukturen in die künftige eigene Besatzungszone zu überführen. Ausgewählte Verlegerfamilien und leitende Angestellte wurden zur Übersiedlung aufgefordert. Ihr Wegzug und die darauf folgenden Umzüge zahlreicher Berufskollegen bewirkten einen regelrechten Fachkräfte-Entzug für das Leipziger Verlagswesen. 11 Unter sowjetischer Besatzung wurde ein Großteil der Druckereien und Verlage später in Volkseigentum überführt. Die Verlage behielten zumeist ihre bewährten Firmennamen, während in den westlichen Besatzungszonen Verlage mit gleichem Namen fortgeführt wurden. Parallel fand in der Druckindustrie eine weitgehende Konzentration in Großbetrieben statt. In den Jahren 1989/1990 stellten schließlich die Auflösung der politischen, administrativen und wirtschaftlichen Strukturen der DDR die Buchbranche in Ostdeutschland vor eine völlig neue Situation. Die vertrauten Strukturen des bisherigen Buchmarktes verschwanden regelrecht über Nacht. Fach- und Erfahrungswissen der Buchhändler und Verleger wurde vielfach unbrauchbar. ‚Neue‘ Medien, wie der nun frei empfangbare private Rundfunk und unzählige Publikumszeitschriften, stellten eine besondere Konkurrenz für Bücher dar. Verschärfend wirkte sich die Hinwendung ostdeutscher Leser zu den bisher nicht erhältlichen Titeln westdeutscher Buchverlage aus, die für Erschütterung in den bislang erfolgsverwöhnten Verlagshäusern sorgte. Die Strukturkrise der Wirtschaft, die sich nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten im Oktober 1990 zuspitzte, und die Privatisierung volkseigener Betriebe durch die Treuhandanstalt gemäß Einigungsvertrag taten ihr Übriges. Zahlreiche Betriebe wurden abgewickelt, erwiesen sich als nicht konkurrenzfähig oder hatten mit ungeklärten Eigentumsfragen und Restitutionsansprüchen zu kämpfen. 12 Der Leipziger Bibliophilen-Abend wurde 1991 wiederbelebt, 1995 entstand das Museum für Druckkunst und im Jahr 1996 wurde das Haus des Buches eröffnet, jedoch kaum einer der ehemaligen DDR-Verlage hat die Wende überstanden. Im Jahr 1995 konstatierte die Leipziger Volkszeitung angesichts von Platz 24 in der vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels herausgegebenen Rangliste der deutschen Verlagsstandorte, dass von der Buchstadt Leipzig keine Rede mehr sein könne. 13 Knapp zehn Jahre nach dieser Diagnose wird durchaus noch von der Buchstadt Leipzig geredet. Aber wie es scheint nur in der Vergangenheitsform. In der Konzeption des von der Sächsischen Akademie der Wissenschaft geförderten Forschungsprojektes Leipziger Verlagsarchive – Reclam als Erinnerungsspeicher und Labor aus dem Jahr 2009 heißt es zur derzeitigen Situation: F

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11 Vgl. Knopf, Sabine; Titel, Volker, Der Leipziger Gutenbergweg. Geschichte und Topographie einer Buchstadt, Beucha 2001, S. 40; Keiderling, Aufstieg und Niedergang, S. 144ff. 12 Vgl. Rumland, Marie-Kristin, Leipziger Verlage nach der Wende, in: Herzog, Das literarische Leipzig, S. 344; Keiderling, Aufstieg und Niedergang, S. 174. 13 Vgl. Leipziger Volkszeitung vom 04.08.1995, zitiert nach: Knopf; Titel, Der Leipziger Gutenbergweg, S. 45.

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„Seit dem Ende der DDR und dem Vollzug der deutschen Einheit im Jahr 1990 war der Verlagsstandort Leipzig tiefgreifenden Transformations- und Schrumpfungsprozessen unterworfen. Leipzig als die einstige ‚Welthauptstadt des Buches‘ des 19. Jahrhunderts und als das Buchhandelszentrum der DDR findet sich gegenwärtig in Deutschland auf Platz 16 der Verlagsstädte wieder. Die Abwanderung und Schließung der Traditionsfirmen Insel, Reclam und Gustav Kiepenheuer, Brockhaus und der großen Musikverlage lässt die Verluste schmerzhaft deutlich werden. Sie sind Spätfolgen einer infrastrukturellen und kulturhistorischen Krise, die der historischen Aufarbeitung bedarf.“ 14 F

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Auch in der Kulturpolitik der Stadt Leipzig scheint der Verlagsstandort Leipzig der Vergangenheit anzugehören. Im Jahr 2008 wurde ein neuer Kulturentwicklungsplan verabschiedet, der die kulturpolitischen Leitlinien für die kommenden Jahre festschreibt. Mit diesem Plan wurden vier Schwerpunkte der Kulturentwicklung beschlossen: „1. Markenzeichen: kulturelle Vielfalt; 2. Vision: Kunst und Kultur in einer jungen Stadt; 3. Verpflichtende Tradition: Musikstadt; 4. Potential: Kreativwirtschaft“. 15 F

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Auf den ersten Blick wird ersichtlich, dass das Verlagswesen in den oben genannten Schwerpunkten nicht erwähnt wird, wohingegen die Ausrichtung und Entwicklung der Stadt als Musikstadt mit internationaler Ausstrahlung deutlich hervorgehoben wird. Mit dieser Schwerpunktsetzung in der Kulturentwicklung ist die Prioritätensetzung des langjährigen Kulturbürgermeisters Georg Girardet aus dem Jahr 1996 überholt: „[M]ein kulturpolitisches Leitbild […] fußt auf drei Prioritäten: Leipzig als Musikstadt, als Hort der Literatur- und Buchpflege im Schnittpunkt neuer Medien – und […] als Museumsstandort.“ 16 F

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Zu dem Literatur- und Buchmarkt heißt es im Kulturentwicklungsplan aus dem Jahr 2008 hingegen sehr deutlich: „Im Literatur-, Buch- und Pressemarkt hat Leipzig eine große Vergangenheit als Verlagsstadt. Realistisch werden hier zur Zeit keine Chancen gesehen, hieran wieder anzuknüpfen.“ 17 F

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Benannt werden zwar die Leipziger Buchmesse, der Buchpreis zur Europäischen Verständigung, das Lesefestival Leipzig liest und das Haus des Buches, es werden jedoch keine weiteren Perspektiven oder Zielsetzungen formuliert.

14 Universität Leipzig, Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft (Hg.), Konzeption zum Forschungsprojekt Leipziger Verlagsarchive – Reclam und Insel als Erinnerungsspeicher und Labor, Leipzig 2009 (unveröffentlicht). 15 Vgl. Stadt Leipzig, Kulturentwicklungsplan der Stadt Leipzig für die Jahre 2008–2015, URL: http://www.leipzig.de/imperia/md/content/41_kulturamt/kulturentwicklungsplanung/iv-ds1581-anlage.pdf (27.03.2012). 16 Girardet, Georg, Potential- und Konfliktreich: Die Leipziger Museumslandschaft, in: Deutscher Museumsbund (Hg.), Museumskunde 61 (1996), S. 111f. 17 Vgl. Stadt Leipzig, Kulturentwicklungsplan 2008–2015, S. 20.

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Die Geschichte der Stadt könne parallel zur Geschichte des Buches erzählt werden, so Jung zu Beginn seines Aufsatzes. Eine parallele Geschichte – also auch eine parallele Musealisierung? „Die Druckindustrie, das moderne Verlagswesen, die Buchkunst, der Musikaliendruck und handel, das Antiquariatswesen, der Zwischenbuchhandel, die Buchhandelsorganisationen, das Zeitschriftenwesen, die Nationalbibliografie, die Enzyklopädien, die buchhandelsgeschichtliche Forschung besitzen für den deutschen Sprachraum, aber auch weit darüber hinaus, wenn nicht ihren einzigen Ursprung, so doch entscheidende Wurzeln in unserer Stadt“,

schwärmt Jung anlässlich des Jubiläums des Buchmuseums, dessen Zelebrierung nun in einem anderen Licht erscheint. Leipzigs Vergangenheit als ‚Hauptstadt des Buches‘ und als Verlagsstandort internationaler Größe wird im Museum in das nächste Jahrhundert überführt, bewahrt und über Bücher und Schriftstücke ganz physisch zugänglich gemacht. Das Verlagswesen, das einen integralen Teil des städtischen Selbstverständnisses bildet, wird versucht über Objekte, die als Nachweise einer bestimmten Wirklichkeit für wichtig erachtet werden, möglichst unbegrenzt zu erhalten 18 ; es wird musealisiert. Dies soll nicht andeuten, dass das Bestreben, Dinge für die Nachwelt zu konservieren, denen man eine besondere geschichtliche oder kulturelle Bedeutung zumisst, für Leipzig spezifisch ist. Man könnte eine kleine Europareise von Standort zu Standort buch- und schriftbezogener Museen machen. So reicht die Spanne vom Muzeum Książki Artystycznej in Lodz (Polen), dem Muzeum knihy in Žďár nad Sázavou (Tschechien), der Basler Papiermühle, Schweizerisches Museum für Papier, Schrift und Druck in Basel (Schweiz), über das Museo del libro in Burgos (Spanien), dem Musée du livre et de la typographie in Grignan (Frankreich), dem Boekmuseum/Musée du Livre in Brüssel (Belgien), dem Huis van het boek in Den Haag (Niederlande) bis zum National Print Museum in Dublin (Irland), dem John Jarrold Printing Museum in Whitefriars Norwich (Großbritannien) und dem Museum of Writing in London (Großbritannien) wieder zurück nach Deutschland zum Gutenberg Museum in Mainz. Museen leisten einen entscheidenden Beitrag zur Bildung einer eigenen Identität, indem sie die Geschichte und Entwicklung einer Gesellschaft in ihrer gesamten Breite nachzeichnen. 19 Sie erlauben „historische Prozesse und somit Wurzeln [kursiv Anm. d. Verf.] – vor Ort – nachzuvollziehen und unterbreiten Identitätsangebote“ 20 , so Klaus Winterfeld, Mitarbeiter der sächsischen Kulturverwaltung und mitwirkend tätig an den Kulturentwicklungsplänen der Städte Dresden, ChemF

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18 Vgl. Friedrich Waidachers Definition von Musealität in: Heilig, Nadine, Authentizität und Musealität historischer Bauwerke, in: unter hamburg, URL: http://www.unter-hamburg. de/Authentizitaet_und_Museal.419.0.html (27.03.2012). 19 Vgl. Winterfeld, Klaus; Voigt, Karen, Optimale Rechts- und Betriebsformen für Kultureinrichtungen. Eine sozialwissenschaftliche Studie unter besonderer Berücksichtigung der Leipziger Museen, Leipzig 2006. 20 Winterfeld; Voigt, Optimale Rechts- und Betriebsformen, S. 20. Die identische Wortwahl Jungs zum Verlagswesen Leipzigs und Winterfelds zur Identitätsstiftung durch Musealisierung offenbart Parallelen.

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nitz und Görlitz. Identität, Identitätsverlust und Musealisierung gehen ein Wechselspiel ein, das ist auch den Autoren der oben genannten Festschrift nicht verborgen geblieben. So spitzt Fabian in seinem Aufsatz mit dem treffenden Titel Warum wir Buchmuseen brauchen zu: „Hat das Buch ausgedient – wenn nicht schon jetzt, dann doch in der voraussehbaren Zukunft? Entstehen Buchmuseen deswegen, weil wir, wie bei vielen anderen Dingen, glauben, die Überbleibsel der Vergangenheit für eine mitleidige (oder auch nostalgische) Betrachtung konservieren zu sollen in der Annahme, damit ‚die Geschichte‘ zu bewahren? […] Sind Buchmuseen retrospektive Institutionen – memory institutions [kursiv im Original] im kulturbürokratischen Jargon – die das Gedächtnis an etwas bewahren wollen oder sollen, was nicht mehr zeitgemäß ist?“ 21 F

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Insbesondere im Fall Leipzigs scheint die Bewahrung von etwas Verlorengegangenem eine zentrale Rolle zu spielen. Winterfeld erläutert mit Blick auf den jüngsten Museumsboom in Ostdeutschland, dass in Regionen, die besonders schwer von Strukturbrüchen betroffen waren, das Anliegen der Selbstvergewisserung besonders intensiv verfolgt werde. 22 Die Zäsuren der Jahre 1945 und 1989 hatten in Leipzig Auswirkungen, die einem Strukturbruch nahekommen. Die Stadt, deren Topographie und Selbstverständnis von der einzigartigen Konzentration des Buch- und Verlagswesens geprägt wurde, verlor wesentliche Teile der buchherstellenden und -vertreibenden Betriebe, zahlreiche Arbeitsplätze in allen beteiligten Berufsgruppen und damit auch Teile ihres Selbstbildes. F

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„Für viele Leipziger war und ist die Beziehung zum Buch eine sehr direkte, eine persönliche und sogar existentielle, fand doch in den Zeiten der größten Ausdehnung des Buchwesens in dieser Stadt einer von zehn Erwerbstätigen in Verlagen und Buchhandelsfirmen, in Druckereien und Buchbindereien sowie in einer großen Anzahl weiterer, zum Teil hochspezialisierter Unternehmen der Branche und als Zulieferer Lohn und Brot“ 23 , F

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formuliert es Poethe, Buchhistoriker und ehemaliger Leiter des Buch- und Schriftmuseums, im Jahr 1996, lange nach der Hochphase des Verlagswesens in Leipzig. Mit der Zerstörung und Abwanderung verschwanden nicht nur Betriebe aus dem Stadtbild, die Relevanz zahlreicher Berufsgruppen schmolz zusammen. Musealisierung ist nur eine Strategie, sie als Bestandteil des städtischen Selbstverständnisses zu erhalten. Die Transformation der verlegerischen Tradition in neue kulturpolitische Schwerpunkte ist eine andere. An die Stelle der traditionellen Verlagsbranche treten nun neue Akteure, die die Sorge um die Kultur zum Beruf erklärt haben. Unter dem Namen Potential: Kreativwirtschaft stehen sie heute 21 Fabian, Warum wir Buchmuseen brauchen, S. 209. 22 Vgl. Winterfeld, Klaus, Erlebt die Ostkultur eine „Renaissance“? Vortrag anlässlich des Forums Engagement für Kultur – Perspektiven in Ostdeutschland der Kulturstiftung des Bundes am 29. und 30.06.2007 in Plauen, S. 9, in: Kulturstiftung des Bundes, URL: http://www.kulturstiftung-des-bundes.de/cms/media_archive/1186056696896.pdf (27.03.2012). 23 Poethe, Lothar, „Buchstadt Leipzig“ oder Merkur und die Bücher. Die neue ständige Ausstellung des Deutschen Buch- und Schriftmuseums in Leipzig, in: Dialog mit Bibliotheken 8 (1996), S. 14.

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wieder auf der Agenda. 4.315 Unternehmen, 44.500 Mitarbeiter und ca. 3,5 Mrd. Euro Gesamtumsatz umfasst das neue Cluster Medien- und Kreativwirtschaft, das, gefördert vom European Regional Development Fund der Europäischen Union, von der Stadt untersucht und als Leipziger Modell mit bunten Flyern und auf einer eigenen Webseite präsentiert wird. 24 Wie Jung es sagt: Leipzig muss sich neu erfinden. Die Lösungsvorschläge hierfür sind zahlreich: Leipzig als Musikstadt, Leipzig als Medienstadt des 21. Jahrhunderts die Leipziger Buchmesse als weltgrößtes Leseforum. Und wo die Welt nicht mehr erreicht werden kann, konzentriert man sich auf Europa. So wird aus Leipzig liest das größte europäische Lesefest, Leipzigs Messe dient als Brücke nach Osteuropa und Schriftsteller von europäischem Rang werden mit Hilfe eines Buchpreises in die Stadt bewegt. Das Buch- und Schriftmuseum indes erzählt „ein neues Kapitel jener unendlichen Geschichte der Wörter […], deren Ende nicht abzusehen ist“. Leipzigs unendliches Ende als Buchstadt tritt in den Hintergrund und der Übergang in eine „veränderte Welt am Anfang eines neuen Jahrhunderts“ scheint gelungen. Anfang 2010 nahm die New York Times Leipzig als einzige deutsche Stadt in ihr Ranking der weltweit spannendsten Reiseziele The 31 Places to Go in 2010 auf. Leipzig erreichte in dieser Rangliste Platz zehn und befindet sich damit noch vor Metropolen wie Los Angeles (11), Shanghai (12) oder Mumbai (13). 25 F

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Literaturhinweise Gäbler, Mario, Was von der Buchstadt übrig blieb. Die Entwicklung der Leipziger Verlage nach 1989, Leipzig 2010. Herzog, Andreas (Hg.), Das Literarische Leipzig. Kulturhistorisches Mosaik einer Buchstadt, Leipzig 1995. Jacobs, Stephanie (Hg.), Zeichen – Bücher – Wissensnetze. 125 Jahre Deutsches Buchund Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek, Leipzig 2009. Keiderling, Thomas, Aufstieg und Niedergang der Buchstadt Leipzig, Beucha 2012. Winterfeld, Klaus; Voigt, Karen, Optimale Rechts- und Betriebsformen für Kultureinrichtungen. Eine sozialwissenschaftliche Studie unter besonderer Berücksichtigung der Leipziger Museen, Leipzig 2006.

24 Vgl. Medien- und Kreativstandort Leipzig. Eine Studie zur Medien- und Kreativwirtschaft 2010. Präsentation zur Studie. Erstellt im Auftrag des Amtes für Wirtschaftsförderung der Stadt Leipzig und der Sächsischen Staatskanzlei Dresden sowie der DREFA Media Holding GmbH, in: Stadt Leipzig, URL: http://www.leipzig.de/imperia/md/content/80_wirtschaftsfoerderung/10_cl_medien-kreativ/pr__sentation-zur_studie-medien-und-kreativstandortleipzig-2010.pdf (22.03.2012). 25 Vgl. Pressetext.de: „New York Times“ wählt Leipzig als Top-Reiseziel. „31 Places to Go in 2010“ – Musik und Kunst stützen Leipzig-Empfehlung, Pressemeldung vom 15.01.2010, URL: http://www.pressetext.com/news/20100115011 (27.03.2012).

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Quelle Burkhard Jung: Geschichte und Gegenwart des Buches in Leipzig (2009) 26 F

In einer Broschüre des Leipziger Verkehrsamtes aus dem Jahr 1928 findet sich eine Darstellung, die das städtische Selbstbild dieser Zeit beispielhaft dokumentiert. Im Vordergrund sehen wir den Gebäudekomplex aus Neuem Rathaus und Stadthaus, aus dem der Rathausturm hervortritt. Diesen Gesamtkomplex überragt ein im Bildhintergrund stehendes aufgeschlagenes Buch. In dessen Schatten erscheint das städtische Verwaltungszentrum beinahe klein. Sabine Knopf beginnt ihre 2008 erschienene Arbeit „Die Buchstadt Leipzig“ mit diesem gelungenen Selbstporträt unserer Stadt. Dass Leipzig eine Buchstadt ist, dass die Geschichte unserer Stadt parallel zur Geschichte des Buches erzählt werden könnte, davon spricht diese symbolische Darstellung. Die historische Tatsache der Buchstadt Leipzig ist mit vollem Recht Teil unseres urbanen, ja vielleicht sogar unseres nationalen Gedächtnisses. Leipzig ist eine Stadt mit einer langen Tradition im Bereich des geschriebenen und vertriebenen Wortes. 1481 entstand hier das erste gedruckte Buch, 1650 erschien in Leipzig die erste Tageszeitung der Welt. Die Identität unserer Stadt wurde wesentlich durch das erfolgreiche Verlags- und Druckereiwesen geprägt. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs war Leipzig unangefochten ‚die‘ deutsche Hauptstadt des Buchdrucks. Die Geschichte von renommierten deutschen Verlagen wie Brockhaus und Reclam, um nur zwei der bekanntesten zu nennen, ist eng mit Leipzig verbunden. Im Zweiten Weltkrieg wurde dann das Graphische Viertel unserer Stadt stark beschädigt, und die deutsche Teilung trug ein Übriges dazu bei, Leipzigs Bedeutung als Buchstadt zu reduzieren. Im Rückblick erscheint die Messestadt als ein paradiesischer Ort der Monographien und Lexika, der Romane und Zeitungen, der Verlage und des Buchhandelswesen. Die Druckindustrie, das moderne Verlagswesen, die Buchkunst, der Musikaliendruck und -handel, das Antiquariatswesen, der Zwischenbuchhandel, die Buchhandelsorganisationen, das Zeitschriftenwesen, die Nationalbibliografie, die Enzyklopädien, die buchhandelsgeschichtliche Forschung besitzen für den deutschen Sprachraum, aber auch weit darüber hinaus, wenn nicht ihren einzigen Ursprung, so doch entscheidende Wurzeln in unserer Stadt. […] Nun sind historische Meriten das eine, die tagespolitischen Bedingungen das andere. Leipzig musste nach der Friedlichen Revolution aus den Traditionen der Buchstadt etwas Neues entwickeln, im Versuch, das Bewahrenswerte zu erhalten und sich den veränderten Verhältnissen zu stellen. Der Aderlass an großen Verlagen, der bereits nach 1945 einsetzte und nach 1989 einen neuen Schub bekam, hat eine ganz andere Buchstadt Leipzig hervorgebracht. Heute prägen nicht mehr die bekannten Verlagshäuser das Profil, sondern die Autoren und Leser, die sich des Buches bemächtigen. Die anfangs totgesagte Leipziger Buchmesse stellt heute das weltgrößte Leseforum der Welt dar. Was man ihr in der Geburtsstunde anlastete, die fehlende Geschäftigkeit, wird heute als ihr großer Vorzug gepriesen. „Leipzig liest“, das einzigartige Lesefest zur Leipziger Frühjahrsmesse, ist zu einem Markenzeichen geworden und mittlerweile das größte seiner Art in Europa. 26 Jung, Burkhard, Geschichte und Gegenwart des Buches in Leipzig, in: Jacobs, Stephanie (Hg.), Zeichen – Bücher – Wissensnetze. 125 Jahre Deutsches Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek, Göttingen 2009. S. 243–248.

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1991 wurde der Leipziger Bibliophilen-Abend wiederbelebt. 1995 entstand das Museum für Druckkunst und 1996, im Jahr der Einweihung der Neuen Leipziger Messe, wurde das „Haus des Buches“ eröffnet. Das Buch hat in Leipzig also auch heute einen öffentlichen Stellenwert wie in kaum einer anderen deutschen Stadt. […] Das Buch, die Literatur, die Schrift haben also auch weiterhin einen prominenten Platz in unserer Stadt. Aber gleichzeitig muss sich Leipzig in einer veränderten Welt am Anfang eines neuen Jahrhunderts neu erfinden: als moderner Messeplatz mit einer starken Brückenfunktion nach Osteuropa, als Wirtschafts-, Kultur- und Wissenschaftszentrum. Leipzig muss dabei aus seiner reichen Tradition als Buchstadt schöpfen, um zu einer Medienstadt des 21. Jahrhunderts zu werden, in der neben den traditionellen Print- auch die digitalen Kommunikationsmedien einen attraktiven Platz finden. Als im Jahr 1884 das Deutsche Buchgewerbemuseum gegründet wurde, der Vorläufer des „Deutschen Buch- und Schriftmuseums“, konnte man mit vollem Recht behaupten: Leipzig ist Sitz der bedeutendsten Verlage, Studieneinrichtungen und das Zentrum der Druckkunst in Deutschland. Dies heute auch nur als Zielvorstellung zu erwägen, wäre vermessen. Denn nicht nur die wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen haben sich dramatisch verändert. Auch die Welt des gedruckten Wortes ist eine andere geworden. Das Buch ist nicht mehr das zentrale Medium, Wirklichkeit zu verarbeiten und Wissen zu verbreiten. Unser Fenster zur Welt ist viereckig geworden und funktioniert auf Knopfdruck. Wir sind auf dem Weg in die elektronische Mediengesellschaft. Hier sind wir in Leipzig als Standort für Medienunternehmen, Telekommunikation und der Computerbranche in den letzten Jahren einen entscheidenden Schritt vorangekommen. Nur München besitzt einen höheren Anteil an Medienunternehmen als Leipzig, wo 5,5 % der Unternehmen in der Medienwirtschaft tätig sind. Leipzig bietet Investoren in diesem Feld beste Bedingungen. Mit dem MDR ist einer der Großen der Branche in Leipzig ansässig und als Partner bestens geeignet. Mit unserer 2000 eröffneten „Media City“ stehen in unmittelbarer Nachbarschaft des MDR vorzügliche Ansiedlungsmöglichkeiten für Medienunternehmen zur Verfügung. Heute fahren wir mehrspurig und fördern alle Medien, die nachgefragt werden und zudem unseren Sinnenhaushalt anregen. Auch die Kunst des Drucks und der Buchproduktion wird daher in Leipzig weiterhin hochgehalten. Unsere Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) stellt hier eine erste Adresse dar. Die HGB ist eine Einrichtung, deren Ruf auch in den Jahren der DDR keinen Schaden genommen hat. […] Das „Deutsche Buch- und Schriftmuseum“ feiert 2009 seinen 125. Geburtstag und wir in Leipzig schätzen uns glücklich, ein solches kulturhistorisches Kleinod in unserer Stadt zu wissen. Gerade heute, gerade in einer für das Buch spannungsgeladenen Gegenwart. Denn die Zukunft des Buches erscheint heute ungewisser als im Moment der Gründung des „Deutschen Buch- und Schriftmuseums“. Das oft beschworene Ende der GutenbergGalaxie lässt eine doppelte Gefahr aufscheinen. Das Buch droht aus dem Zentrum der Kulturvermittlung zu verschwinden, wie es gleichzeitig zu einer Ware unter anderen wird. Es wird eine Investition wie vieles andere und hat sich entsprechend zu rechnen. […] Aus diesem Grunde bin ich sicher: Das „Deutsche Buch- und Schriftmuseum“ in Leipzig besitzt eine gute Zukunft. Es wird seine in Deutschland einmalige Stellung als buchkulturelles Zentrum ausbauen können, insbesondere mit dem Abschluss des 4. Erweiterungsbaus der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig.

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Mit der Einweihung, die für das Jahr 2010 geplant ist, werden sich deutlich verbesserte Arbeits- und Präsentationsmöglichkeiten ergeben. Der zukünftig an der durchschaubaren Gebäudefront liegende Ausstellungsraum wird jeden Besucher der Nationalbibliothek begrüßen und zum Schaufenster der Nationalbibliothek werden. Die Dauerausstellung des Museums wird dann eine ganz eigene Evolutionsgeschichte präsentieren, die von den ersten Schriftzeichen bis in die digitale Welt des Cyberspace reicht. Sie wird ein neues Kapitel jener unendlichen Geschichte der Wörter erzählen, deren Ende nicht abzusehen ist.

AUTORINNEN UND AUTOREN Christophe Charle Prof. Dr., Université de Paris-I-Panthéon-Sorbonne/Institut d’histoire moderne et contemporaine (CNRS/ENS), Frankreich Augusta Dimou Dr., GWZO – Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas e.V. an der Universität Leipzig Albrecht Götz von Olenhusen Dr., Rechtsanwalt, Lehrbeauftragter an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Irmtraud Götz von Olenhusen Prof. Dr., Institut für Geschichtswissenschaften VII, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Frank Hadler Prof. Dr., GWZO – Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas e.V. an der Universität Leipzig Lena Heinze M.A., Global and European Studies Institute/Centre for Area Studies, Universität Leipzig Harald Homann Dr., Institut für Kulturwissenschaften, Universität Leipzig Thomas Höpel Prof. Dr., Institut für Kulturwissenschaften, Universität Leipzig Konrad H. Jarausch PhD, Lurcy Professor of European Civilization, Department for History, University of North Carolina at Chapel Hill, USA Hartmut Kaelble Prof. Dr. em., Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt Universität Berlin Jügen Kocka Prof. (i.R.) Dr. Dr. h.c. mult, Internationales Geisteswissenschaftliches Kolleg „Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive“, Humboldt Universität zu Berlin Klaus Christian Köhnke Prof. Dr., Institut für Kulturwissenschaften, Universität Leipzig

Autorinnen und Autoren

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Kerstin Lange M.A., Graduiertenzentrum Geistes- und Sozialwissenschaften, Research Academy Leipzig Heide Lazarus M.A., Institut für Kulturwissenschaft, Universität Leipzig Isabella Löhr Dr., Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Siegfried Lokatis Prof. Dr., Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaften, Universität Leipzig Steffi Marung Dr. des., Centre for Area Studies, Universität Leipzig Charles McClelland Prof. Dr., University of New Mexico/Institute for the Medical Humanities University of Texas, USA Matthias Middell, Prof. Dr., Global and European Studies Institute, Universität Leipzig Dietmar Müller Dr., GWZO – Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas e.V. an der Universität Leipzig Katja Naumann M.A., GWZO Leipzig/Global and European Studies Institute, Universität Leipzig Helke Rausch Dr., Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Milan Ristović Prof. Dr., Abteilung Geschichte, Philosophische Fakultät, Universität Belgrad, Serbien Juliane Scholz M.A., Institut für Kulturwissenschaften, Universität Leipzig Manuel Schramm PD Dr., Institut für Europäische Geschichte, Technische Universität Chemnitz Hannes Siegrist Prof. Dr., Institut für Kulturwissenschaften, Universität Leipzig Hasso Spode Prof. Dr., Institut für Soziologie, Leibniz-Universität Hannover David Sugarman Prof. Dr., Centre for Law and Society, Law School, Lancaster University, UK

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Autorinnen und Autoren

Dorothea Trebesius Dr. des., Institut für Kulturwissenschaften, Universität Leipzig Stefan Troebst Prof. Dr., GWZO – Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas e.V. an der Universität Leipzig Jakob Vogel Prof. Dr., Centre d’histoire, Sciences Po Paris, Frankreich

Was ist ein Künstler? Wie unterscheiden sich Kulturschaffende von kulturell gebildeten Laien und wie lässt sich feststellen, ob aus einem Quereinsteiger ein professioneller Künstler geworden ist? Was kennzeichnet einen Wissensberuf und wie entsteht eine spezifische Experten- und Wissenskultur? Tänzer, Komponisten, Filmkritiker, Verleger, Werbetreibende, Kulturfunktionäre, Kulturpolitiker, Intellektuelle und Wissenschaftler dienen den Autorinnen und Autoren dieses Bandes als Beispiele für die facettenreiche

isbn 978-3-515-10111-0

Geschichte der Professionalisierung von Kunst, Kultur und Wissenschaft in Europa im 19. und 20. Jahrhundert. Die Kombination von historischer Quelle und einem kurzen, einleitenden Essay führt den Lesern plastisch vor Augen, wie die historischen Akteure Europa über die soziale und symbolische Inszenierung ihres Spezialwissens, der dazugehörigen Praktiken, Institutionen, Selbst- und Fremdbilder herstellten. Der Band bietet eine kurzweilige Lektüre und zahlreiche Anregungen für Lehre und Studium.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag