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German Pages 433 [434] Year 2015
Jan Rüdiger Der König und seine Frauen
Europa im Mittelalter
Abhandlungen und Beiträge zur historischen Komparatistik Herausgegeben von Michael Borgolte und Wolfgang Huschner
Band 21
Jan Rüdiger
Der König und seine Frauen
Polygynie und politische Kultur in Europa (9.–13. Jahrhundert)
ISBN 978-3-05-006319-5 e-ISBN (PDF) 978-3-05-006320-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038059-0 ISSN 1615-7885 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. k Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co.KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt
Dank ......................................................................................................................
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Einleitung .............................................................................................................. 11 Libido und Satyriasis 11 ⋅ Zur Forschung 15 ⋅ Anliegen und Erkenntnisziel 18 ⋅ Zum Begriff ‚Polygynie‘ 21 ⋅ Aufbau 24 ⋅ Untersuchungsräume 25 ⋅ ‚Aspekte‘ der Polygynie 28 ⋅ Nachsatz 2014 30 König Haralds Frauen : zur Eigenart der Quellen .............................................. 31 „...und legte sie sich bei“ 31 ⋅ „Geliebte oder Ehefrau“? 36 ⋅ Zum Charakter der Quellen 39 ⋅ Zur Sagaforschung 42 1 Der generative Aspekt ....................................................................................... 51 Dornen, Schweine und zwei Träume 51 ⋅ Königliches Blut 56 ⋅ Dänischer Partikularismus: die Polygynie in den Chroniken 61 ⋅ Die Praxis der Waldemarenzeit 69 Dissente Stimmen: Sven Aggesen und Saxo Grammaticus 74 ⋅ Der ,generative Aspekt‘ der Polygynie 82 ⋅ Harald, der Allvater 85 ⋅ Die ‚guten‘ Bastardkönige 90 Die Geschichte der Mühlenmagd 94 ⋅ Idoneität 98 ⋅ Kooptative Verwandtschaft 100 Zweierlei Legitimität: Sverrir von Norwegen 105 ⋅ Ehelich, gekrönt, erfolglos 108 Niedrig geboren und erfolgreich 111 ⋅ Polygynie als Garant der Parität 115 ⋅ Polygynie ohne Frauen? 116
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Inhalt
2 Der habituale Aspekt ......................................................................................... 124 Vorlagen 124 ⋅ Polygynie und Historiographie: Die Oddaverjar 127 ⋅ Ein Preislied 133 „Für Liebe sehr empfänglich“: Jón Loptssons Frauen 141 ⋅ Die Saga eines Liebespaares? 146 Portrait eines Wettkämpfers 151 ⋅ Gab es Ehefrauen? 157 ⋅ ‚Ehe im Rückblick‘ 160 Eine Vokabel fürs Unsagbare: elja 161 ⋅ Die Konfrontation der Schwäger 163 ⋅ Was auf dem Spiel steht I: Bischof Þorlák 170 ⋅ Was auf dem Spiel steht II: Jón Loptsson 173 Ressourcenpolygynie 178 ⋅ Beutefrauen 179 ⋅ Von Canterbury nach Camelot 181 3 Der agonistische Aspekt .................................................................................... 190 Snorri im Bad 190 ⋅ Männervergleiche 191 ⋅ Soziale Rhetorik: Der Wettkampf um Borghild í Dali 195 ⋅ Frauen im Männervergleich 198 ⋅ Nachverhandlungen um Statusverlust I: Die Geliebte Olavs des Heiligen 202 ⋅ Der Agon der Frauen 206 4 Der expressive Aspekt....................................................................................... 210 Politische Beziehungen? 210 ⋅ Was Ælfgifu bedeutet 214 ⋅ Polygynie als semantisches System 217 ⋅ Innen- und Außenpolitik: die Frauen Haralds des Harten 219 ⋅ Eine gelungene Machtübernahme: Harald der Harte und Þóra Þorbergsdóttir (1047) 224 Eine beinahe misslungene Parteibildung: Eindriði Einarsson und Sigríð Erlingsdóttir (um 1023) 225 ⋅ Eine ,unproduktive‘ Mitteilung: Waldemar der Sieger und Helena Guttormsdatter (um 1200) 229 ⋅ Nachverhandlungen um Statusverlust II: die Brautfahrt Óláf Haraldssons (um 1017) 231 ⋅ Eine Frau in der Hinterhand: Das Beuteweib und die Vatnsdal-Orkney-Allianz (um 980) 234 ⋅ Eine Aufsteigerfamilie: die Nebenfrau des Sigurð Haraldsson (um 1150) 236 ⋅ Eine neue Partei: die Töchter des Saxi í Vík (ab etwa 1095) 238 ⋅ Der Zugriff des Königs auf die Töchter: Magnús der Gute und Margrét Þrándsdóttir (um 1040) 244 ⋅ Die Mädchen des Landes 249 ⋅ Die Kaisertochter und die Elbgrenze: Erik Ejegod und Königin Bothild (um 1100) 253 ⋅ Der Käse und die Ankerketten: Haralds des Harten Beute (1047) 259 5 Der performative Aspekt ................................................................................... 265 „Mädchen und Burgen“ 265 Abischag am Hofe des Hákon Hákonarson 266 ⋅ Nordeuropäische Hierogamie? 271 ⋅ Hákon Hlaðajarl 273 ⋅ Tod im Schweinestall 280 ⋅ Jarl Hákon und seine Beschützerin 284 ⋅ Die unablässige Hierogamie 290 6 Der vergleichende Blick : Westeuropa ............................................................. 295 Im Kerneuropa der Mediävistik 295 ⋅ Zur Forschung 296 ⋅ Zu den Quellen 299 ⋅ Figurationen der Polygynie: Die Artusliteratur 303 ⋅ Strategien der Darstellung: Im Banne des Monogamismus 306 ⋅ Die unsichtbaren Frauen 311 ⋅ Im Vergleich: der generative Aspekt 316 Im Vergleich: der habituale Aspekt 318 ⋅ Im Vergleich: der agonistische Aspekt 322 ⋅ Im Vergleich: der expressive Aspekt 327 ⋅ Im Vergleich: der performative Aspekt 330 Polygynie als politisches Prinzip: Die Normandie 331 ⋅ Die Beute des Eroberers: Rollo und Popa 336 ⋅ Die Landesmutter: Gunnor 342 ⋅ Die Tochter des Spießgesellen: Herleve 345
Inhalt
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7 Der vergleichende Blick : Südeuropa .............................................................. 350 „Unerträgliche Hitze“ 350 ⋅ Konkubinat auf höchster Ebene: Jakob I. und Aurembiaix von Urgell (1228) 352 ⋅ Ornamentale Mediterranität: Christenfürsten und Maurenmädchen 359 ⋅ Iberischer Verzicht – Llibre dels Feits und Primera Crónica general (um 1250) 362 ⋅ Ornamentale Europäität: Polygynie in Andalusien 367 ⋅ Paritäre Polygynie – autokratische Abstinenz 371 Konklusion ............................................................................................................ 378 Anhang .................................................................................................................. 389 Norwegerkönige 389 ⋅ Abkürzungen- und Siglenverzeichnis 391 ⋅ Quellen- und Literaturverzeichnis 393 ⋅ Register 431
Dank
Dieses Buch ist das Ergebnis des Forschungsprojektes „Aristokratische Polygynie im Hochmittelalter im europäischen Vergleich“, das die Fritz Thyssen-Stiftung von 2001 bis 2004 finanzierte. Sie bewilligte Forschungsreisen nach Norwegen, nach Island und in die Normandie und unterstützt nun die Drucklegung des fertigen Werkes mit einer großzügigen Beihilfe. Ich danke der Fritz Thyssen-Stiftung und dem befürwortenden Gutachter dafür, die Durchführung dieses Projektes ermöglicht zu haben. Der Antrag an die Stiftung trug die Unterschrift von Michael Borgolte. Auf seine Einladung konnte ich mein Habilitationsvorhaben an seinem Lehrstuhl an der HumboldtUniversität zu Berlin durchführen, als wissenschaftlicher Mitarbeiter am ‚Institut für vergleichende Geschichte Europas im Mittelalter‘. Ich danke ihm für die Einladung, die für mich den Weg in die akademische Welt bedeutete, für viele anregende und weiterführende Gespräche, für Freiraum und Langmut und unablässige Unterstützung. Dieses Buch erscheint in der von Michael Borgolte herausgegebenen Reihe ‚Europa im Mittelalter‘, und es gehört dorthin. Meinen Berliner Kolleginnen und Kollegen verdanke ich manchen Rat und manche Ermutigung. Den Mitarbeitern an meinem Frankfurter Lehrstuhl, Rafael Wagner und Laura Weidlich, sei für die Einrichtung des Textes zum Druck, meiner Basler Hilfsassistentin Lynn Zimmermann für das Register und Maya Gradenwitz (Frankfurt am Main), der nichts entgeht, fürs Lektorat und das Meistern zahlloser Layoutprobleme gedankt. Für ihre Hilfe danke ich Martin Aurell (Poitiers), Barbara Crawford (St Andrews), Daniel König (Frankfurt am Main), Else Mundal (Bergen) und María Jesús Viguera Molins (Madrid), für ihre Gastfreundschaft und bereichernde Gespräche Birgit und Peter Sawyer in Trondheim, Pastor Geir Waage und der Snorrastofa in Reykholt, Weihbischof Sigurður Sigurðarson † in Skálholt, dem Deutschen Historischen Institut Paris und seinem Direktor Werner Paravicini sowie Pierre Baudouin und der Maison de la Recherche en Sciences Humaines in Caen. Das Nordisk Center for Middelalderstudier bewilligte mir zwei inspirierende Aufenthalte als Gastwissenschaftler an der Süddänischen Universität Odense; mein Dank gilt Kurt Villads Jensen, Lars Bisgaard, Lars Boje Mortensen und Karen Fogh Rasmussen. Meine Frau Sabine ist immer dabei gewesen, unsere Kinder Jakob und Kathrine sind mit diesem Buch aufgewachsen. Ihnen danke ich alles.
Einleitung
Libido und Satyriasis Am Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts berichtete Cornelius Tacitus in einer in die Gestalt einer Landesbeschreibung des barbarischen Nordrandes der Welt gekleideten Laudatio temporis acti, im Unterschied zu gewissen anderen Gesellschaften – seiner eigenen – hielten die Germanen in geradezu vorbildhafter Weise auf Sittenstrenge und auf Monogamie. Gewiss gäbe es einige unter ihnen, zumal die Vermögenden und Mächtigen, die den Umgang mit mehreren Frauen pflegten. Auch sie aber täten dies non libidine sed ob nobilitatem.1 In epigrammatischer Weise verdichtet der Römer damit die Leitfrage, die die vorliegende Studie über die mittelalterliche europäische Polygynie motiviert hat: Wie hängt der Umstand, mehrere Frauen zu haben, damit zusammen, Aristokrat zu sein? Anderthalb Jahrtausende später griff Montesquieu in einem Werk, das in nicht unähnlicher Weise den Nordrand des Kontinents als Chiffre für wünschenswerte vergangene Zustände und künftige Entwicklungen nutzte, das taciteische Diktum wieder auf und zog seine Linien durch die seitdem gewesene Geschichte weiter. Ohne weiteres leuchtet es ihm als Erklärung für den politischen Wert der merowingischen Vielweiberei ein. „Ces mariages étaient moins un témoignage d’incontinence qu’un attribut de dignité: c’eût été les blesser dans un endroit bien tendre, que de leur faire perdre une telle prérogative.“2 Doch der Fortschritt des Menschengeschlechts war nicht aufzuhalten, und zu seiner eigenen Zeit hatten sich in den gemäßigten Klimata der Zivilität solche Zustände überlebt. Harems existierten wohl noch „in Ländern, in denen man statt Regeln Riegel braucht“3, doch im reklassizisierten Europa der Aufklärung waren die Leidenschaften längst so harmonisiert, der Zugriff der Liebe auf die Herzen so kultiviert und das soziale Regelwerk 1
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Germania c. 18: ...exceptis admodum paucis qui, non libidine sed ob nobilitatem, plurimis nuptiis ambiuntur. Damit entwirft der Römer wohl kaum ein zuverlässiges Bild der vorgeblich Beschriebenen, sondern vielmehr ein „Anderland“, das der Ermahnung seiner kaiserzeitlichen Adressaten dienen soll, bei denen es für seinen Geschmack zu wenig um nobilitas ging. De l’esprit des lois XVIII, 24. Ebd. XVI 8: „Dans ces pays, au lieu de préceptes, il faut des verrous.“
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Libido und Satyriasis
so vollkommen, „dass die Frauen sich den Vergnügungen eines einzigen vorbehalten und dabei doch dem Amusement aller dienen.“4 Ein weiteres bewegtes Jahrhundert später stand in Norwegen Bjørnstjerne Bjørnson in einem Essay über ‚Einehe und Vielehe‘ vor dem Problem, das liberale Fortschrittsnarrativ mit dem nationalen Rekurs auf die mittelalterliche Glanzzeit seines Landes in Übereinstimmung zu bringen. Das war besonders misslich, weil das Ende der königlichen Vielweiberei ziemlich genau mit dem Ende der Eigenständigkeit Norwegens zusammenfiel: Die formelle Einführung der legitimen Erstgeburt als Ausschlusskriterium für die Thronfolge geschah unter König Magnús dem Gesetzesverbesserer (r. 1263–1280); seit 1319 befand sich Norwegen in der dynastischen Union mit erst Schweden und dann auch Dänemark, die im 16. Jahrhundert zur Einverleibung in letzteres Königreich führte. Bjørnson löste das Problem ähnlich wie Montesquieu aus der Entwicklungsperspektive: Auf die frühmittelalterliche Vielehe folgte der hochmittelalterliche Konkubinat, und mit zwei Fortschrittssprüngen im Moment der Reformation und dann wieder der bürgerlichen Revolution gelangt man in eine Gegenwart, in der „wohl keiner, der nicht von Satyriasis befallen ist, wünschen könnte, dass alles, was dadurch, dass die Frau im allgemeinen dem Gesetz der Einehe folgt, für Gesundheit, Geist und Wesen der Menschheit gewonnen worden ist, vom menschlichen Fortschrittswillen wieder aufgegeben werden sollte!“ 5 Abgesehen von Diktion und Marivaudage hat sich in der Bewertung der Polygynie beim Nachdenken über Europa seit Montesquieu nichts Wesentliches mehr geändert. Während in der Anthropologie die statistische Voraussagbarkeit der Inzidenz von Polygynie anhand von Variablen wie Klimazonen, Anbautypen, Agrartechnologie und „Niveaus gesellschaftlicher Komplexität“ diskutiert wird6, ist in der Mediävistik das im interkulturellen Vergleich auffällige Vorherrschen der Monogamie im Euromediterraneum zu einem Standardbauteil der Europageschichte geworden: Der Kontinent sei seit der Zeitenwende und zumal im Mittelalter von der unaufhaltsamen Durchsetzung der Einehe 4
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Ebd. XIII 11: „...nos pays du Nord, où leurs mœurs sont naturellement bonnes; où toutes leurs passions sont calmes, peu actives, peu raffinées; où l’amour a sur le cœur un empire si réglé, que la moindre police suffit pour les conduire? Il est heureux de vivre dans ces climats... où les femmes, se réservant aux plaisirs d’un seul, servent encore à l’amusement de tous.“ Bjørnson, Engifte og mangegifte (1912–13), 88f.: „...men tror nogen, som ikke er besat af Satyriasis, at det, som er indvundet for Menneskehedens Helse, Aand og Karakter ved, at Kvinden i stor Almindelighed er blit tro mod Engiftets Lov, skulde Menneskehedens Fremgangsvilje atter opgi?“ Den erstmals 1887 in der grundtvigianischen Volkshochschule Askov in Dänemark gehaltenen Vortrag wiederholte der Laureat mehrfach in Dänemark, Norwegen, Schweden und Finnland. Vgl. White, Re-thinking polygyny (1988), und Bretschneider, Polygyny (1995), für Untersuchungen auf Grundlage des Standard Cross-Cultural Sample (SCCS) mit 186 überwiegend rezenten „Gesellschaften“, zu denen aber auch Babylon, das Israel der späten Königszeit, die Stadtrömer unter Trajan sowie Tenochtitlan im Moment der Conquista gehören und von denen etwa 170 die Polygynie praktizieren. Bretschneider lehnt generalisierende Hypothesen auf Grundlage geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung und Subsistenzformen allerdings ab und spricht sich für spezifische Regionalstudien mit Blick auf Variationen aus.
Einleitung
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und ihrer sozialen Korollarien geprägt, die geradezu eines ihrer konstitutiven Elemente darstelle. Polygyne Verhältnisse gehören in dieser Entwicklungsgeschichte immer dem Bereich von ‚früh‘ und ‚noch‘ an, ihre Zeit ist die der Merowinger und allenfalls ‚noch‘ der Karolinger; was dann bleibt, ist residual, peripher und vor allem ‚nicht mehr‘ strukturell relevant.7 Angesichts einer – um Bjørnsons Worte zu bemühen – „von Satyriasis befallenen“ Gegenwart, die die serielle Polygynie wieder viel (und im publizistischen Selbstbild gern) praktiziert und ihr nun paritätisch die Polyandrie an die Seite stellt, überrascht die Ausschließlichkeit, mit der in Titeln und Inhalten einschlägiger Darstellungen der letzten Zeit zum Mittelalter die Begriffe ,Liebe‘ und ,Ehe‘ gekoppelt, ihre historische Separation als Missstand beklagt und emsig nach Ersatzformen erfüllter Paarbeziehungen gefahndet wird.8 Der Verdacht liegt nahe, dass es sich zumindest in einigen Fällen um eine mediävalistische Projektion handelt, mittels welcher der Diskrepanz zwischen dem Festhalten am nunmehr romantisch-individualistisch begründeten Paarideal und der Repräsentation (wo nicht dem Erleben) zeitgenössischer Polyandrie und Polygynie ein tapferes Omnia vincit Amor entgegengesetzt wird. Das Unbehagen an regelrechter Polygamie – in Immigrantenmilieus inzwischen offenbar eine häufige Praxis, die öffentliche Verwaltungen und Gerichte vor interessante Herausforderungen stellt – wird weniger mit kulturkonservativem Widerwillen als vielmehr mit emanzipatorischem Impetus vorgetragen, wobei es zu interessanten Aporien der ‚Political Correctness‘ kommen kann.9 Gerade die Vehemenz, mit der aus sonst oft eher kulturrelativistischer Position die europäische Monogamie als Frauenrecht reklamiert wird, zeigt deren sozusagen parteienübergreifende Bedeutung als konstitutives Element dessen, was ‚uns‘ ausmacht. So oft in Film, Fernsehen und Leben die PartnerInnen auch wechseln mögen: Solange sie dauern, sind ‚Paar‘beziehungen wie vor hundert oder achthundert Jahren vom nachgerade feudalen Vokabular von Treue und Verrat umhegt. Bezeichnenderweise fällt uns gewöhnlich nicht auf, dass die europäische Rechtsordnung in den letzten Jahrzehnten die meisten Elemente des Instituts ‚Ehe‘ (Dau7
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Parte pro toto: Goody, Development (1983); ders., Geschichte der Familie (2002); Mitterauer, Warum Europa? (2003), Kap. 3; nuanciert: Betzig, Medieval monogamy (1995). Zu Konkubinat/Polygynie vor dem Untersuchungszeitraum dieser Studie vgl. klassisch Wallace-Hadrill, Long-haired kings (1962), ibs. 185–204; Ewig, Studien zur merowingischen Dynastie (1974), 38–44; Stafford, Queens, concubines, and dowagers (1983), 62–79; Le Jan, Famille et pouvoir (1995), 271–277; Esmyol, Geliebte oder Ehefrau? (2002). Vgl. Otis-Cour, Lust und Liebe (2000), als nachdrückliches Beispiel und zudem unter Studierenden häufiger erster Zugriff aufs Thema. 2004 entschied das Oberverwaltungsgericht Koblenz positiv über das Bleiberecht der Zweitfrau eines Irakers; es sei unzumutbar, nur ihr die Aufenthaltsgenehmigung zu verweigern, während die Erstfrau bleiben dürfe (Az.: 10 A 11717/03). Zu den unterschiedlichen Verfahren schwedischer Verwaltungen vgl. Elin Andersson, Månggifte godkänns – ibland, Svenska Dagbladet, 12.8.2007; für eine interessante Kontroverse, in der zwei Meinungsführerinnen aus ähnlicher emanzipatorischliberaler Perspektive gegensätzlich zur islamischen Polygamie in der Einwanderergesellschaft argumentieren, vgl. Er flerkoneri nogensinde i orden?, Kristeligt Dagblad, 26.5.2007.
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Libido und Satyriasis
erhaftigkeit, Rechtsstellung der Nachkommen, Heterosexualität) stark modifiziert oder aufgehoben hat, über die Einführung der Polygamie aber nicht einmal diskutiert wird. In dieser Hinsicht sind wir uns mit Montesquieu und Bjørnson verblüffend einig. Der Blick auf historische Pluralitäten der Geschlechtsbeziehungen – und das heißt unter dem übermächtigen Eindruck des Monogamieprinzips und den Bedingungen der lateineuropäischen Geschichte: der Konkubinat – gerät unweigerlich in den Sog dieses ,méta-récit‘. Während Tacitus’ Korrelation von libido und nobilitas auf die Forschung im Großen und Ganzen wenig befruchtend gewirkt hat, scheint ein anderes bekanntes antikes Zitat, die bei Demosthenes überlieferte Kategorisierung der Zweckbestimmung athenischer Frauen10, von größerem Einfluss zu sein. Mehr oder minder ausdrücklich wird der Konkubinat – werden alle heterosexuellen Beziehungsformen außer der jeweils solennsten, als Ehenorm aufgefassten – dem Bereich der libido zugerechnet. Für die mittelalterliche Geschichte bestimmend wurde die Reduktion der demosthenischen Trias zum binomischen Paar bei Augustinus, dem Unterschied „zwischen einer rechtmäßigen Ehe, die man zum Zweck, Kinder zu zeugen, schließt, und einer Verbindung, die sich auf Lusterfüllung und Leidenschaft gründet.“11 Jahrhundertelang wiederholten Konzilien und Kirchenrechtler die Einschärfung Leos I.: aliud est uxor, aliud concubina, so dass der augustinischen Denktradition, die für den literaten Teil des Mittelalters und damit die quellengestützte Wahrnehmung dieser Epoche so bedeutsam war, die Vorstellung schließlich essentiell wurde, man könne nur entweder ein „Freund der Ehe“ oder ein „Sklave der Lust“ sein.12 Diese Dichotomie bestimmt bis in die Gegenwart die Erforschung mittelalterlicher Geschlechtsbeziehungen. Ohne in Abrede stellen zu wollen, dass die Lust eine wesentliche Triebkraft für den Konkubinat sein kann, geht diese Untersuchung im Gegensatz dazu von folgender Hypothese aus: Die Umstände der Überlieferung von polygynen Verhältnissen, angefangen damit, dass solche Verhältnisse überhaupt in Einzelheiten (wie den Namen der Beteiligten) überliefert werden, lassen vermuten, dass solche Verhältnisse weit über libidinäre Befriedigung hinausgehende Bedeutungen erlangen konnten. In zwei präzisierende Fragen gefasst: Welche anderen Aspekte können angesichts der Vielfalt der Beziehungsformen in Praxis und Imagination jeweils ausgemacht werden? Und: Worin besteht 10 Demosthenes 59, 122 (Gegen Neaira): „Wir haben Hetären zum Vergnügen, Konkubinen (παλλακαί) für die Bedürfnisse des Alltags und Ehefrauen, um legitime Kinder zu zeugen und eine zuverlässige Aufsicht über das ganze Hauswesen zu haben“ (zit. nach Rheinsberg, Ehe, Hetärentum und Knabenliebe [1989], 44). Die offensichtlich polemische Absicht des Gerichtsredners hat es nicht verhindert, dass seine Klassifizierung weithin die Vorstellung vom Frauenleben in der athenischen Antike prägt (vgl. zuletzt Hartmann, Heirat, Hetärentum und Konkubinat [2002]; zur Kritik Davidson, Kurtisanen [1999], 96ff.) – und mutatis mutandis im Mittelalter. 11 Confessiones IV 2,2: quid distaret inter coniugalis placiti modum, quod foederatum esset generandi gratia, et pactum libidinosi amoris. Konzilstext zum Beispiel: Tribur 895 (MGH Capit. 2, Nr. 252) c. 38. 12 Ebd. XV 25: non amator coniugii sed libidinis seruus.
Einleitung
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eigentlich die von römischen Ethnographen und mittelalterlichen Moraltheologen mit bestimmten Absichten generalisierte libido unter konkreten Umständen?
Zur Forschung Um es scheinparadox zu formulieren: Der Konkubinat ist vielfach behandelt worden, die Polygynie hingegen praktisch überhaupt nicht. Um Letztere geht es in diesem Buch; Ersterer ist als Begriff des römischen und später des kanonischen Rechtes seit der Spätantike ein Gegenstand der Rechtssetzung und von deren Interpretation, und seit dem 19. Jahrhundert ist er zunächst rechts- und kirchengeschichtlich, dann auch sozialhistorisch immer wieder gründlich, wenn auch meist unter Bezug auf und in Abhängigkeit von dem jeweiligen Institut der Ehe, untersucht worden.13 Allerdings liegt das Schwergewicht hier naturgemäß auf den Präzepten der unterschiedlichen Rechte und von daher auf einer gewissermaßen ,institutionellen‘ Auffassung des Konkubinats, sei es im Hinblick auf das Erbrecht, die Moraltheologie oder die öffentliche Ordnung (wobei zu bedenken ist, dass der Konkubinat als straf- und zivilrechtliches Konzept erst in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung verloren hat, was durchaus Auswirkungen auf seine historische Erforschung hatte). Die einschlägigen Vorstellungen und Bestimmungen vor allem geistlicher bzw. kirchlich geprägter Autoren, der Kirchenväter, Lehrer, Dekretisten sind vielfach aufgearbeitet, inventarisiert und leicht greifbar gemacht.14 Wenn in vorliegendem Buch von diesem Material nur wenig Gebrauch gemacht wird, dann nur deshalb, weil sein Thema nicht die Rechtskategorie ‚Konkubinat‘ ist, sondern die Polygynie, ein sozialanthropologisches Phänomen. Es gibt Fälle von Polygynie, für die der Begriff concubinatus relevant ist (zum Beispiel, weil er von einem lateinisch schreibenden Beobachter gebraucht worden ist), aber umgekehrt sind nicht alle Fälle mittelalterliche Polygynie notwendigerweise als Konkubinat aufzufassen. Es hat schon mehrfach Ansätze gegeben, jenseits des römisch-kirchlichen ‚Konkubinats‘ die Vielzahl von Bindungen begrifflich auf den Punkt zu bringen. Die insbesondere von der germanistischen Forschung des früheren 20. Jahrhunderts entwickelte These von der Existenz einer vorchristlichen Konsensehe („Friedelehe“) bei den Germanen – eine 13 Anstelle einer Reihung von rechtshistorischen Titeln zumeist älteren Datums, die hier vor allem wissenschaftsgeschichtlichen Wert hätte, verweise ich auf den sehr nützlichen Überblicksartikel von Becker, Nichteheliche Lebensgemeinschaft (1978), der eine Fülle von weitergehenden Verweisen bietet, sowie auf die einschlägigen Stichworte in den Lexika (RGA, s. v. Kebse; Beischläferin; Nebenfrau; KLNM, s. v. slegfred). Vgl. auch Kottje, Eherechtliche Bestimmungen (1990). 14 Die maßgebliche Gesamtdarstellung christlicher Sexuallehre im Mittelalter, in der auch die relevanten Belege zum Thema „Konkubinat“ gesammelt und kommentiert werden, ist Brundage, Law, sex, and Christian society (1987). Erst nach Abschluss der Arbeit an diesem Buch erschien Ines Weber, Ein Gesetz für Männer und Frauen. Die frühmittelalterliche Ehe zwischen Religion, Gesellschaft und Kultur. Ostfildern 2008.
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Zur Forschung
These, die sichtlich durch den ,monogamistischen‘ Wunsch geprägt war, das nördliche Europa mit hochstehender Sittlichkeit auszustatten – hat sich als unhaltbar, wenn auch langlebig erwiesen.15 Währenddessen ist die Erforschung des Ortes von Geschlechtsbeziehungen in der Laiengesellschaft spätestens seit den siebziger Jahren aus einer zunächst primär anthropologischen Perspektive in Angriff genommen worden. Von dem Interesse an grundsätzlichen sozialen Strukturen und Phänomenen wie Verwandtschaft, generationaler Abfolge, Besitz- und Erinnerungsvermittlung ausgehend, sind Arbeiten erschienen, die das gesamte Mittelalter und gelegentlich mehr umfassen und aus deren komparatistischer Anlage einige grundlegende Charakteristika des lateinischen Europa sichtbar geworden sind.16 Diese sozialanthropologischen bzw. soziobiologischen Forschungen sind für vorliegende Untersuchung von Bedeutung, indem sie einige wesentliche Voraussetzungen für die zu behandelnden Phänomene verstehen helfen. In ihrer Akzentuierung des Allgemeinen auf Kosten des Besonderen ist ihre Aussagekraft für eine genuin historische, am nachvollziehbaren Einzelfall orientierte Perspektive allerdings begrenzt. Ähnliches gilt für die in den letzten beiden Jahrzehnten zahlreichen Forschungen von einem frauen- bzw. geschlechtsgeschichtlichen Ansatz aus.17 Sowohl die soziale Praxis des Konkubinats als auch die mit ihr verbundenen Repräsentationen sind jeweils unter dem Aspekt der „Lebensformen“ bzw. „Bilder“ von Frauen (und Männern), teilweise ausführlich, (mit-) behandelt worden, wobei das Erkenntnisinteresse gelegentlich eher den Geschlechterordnungen im transepochalen Vergleich als ihrem Wirken innerhalb der jeweils untersuchten politischen Kulturen gilt.18 Immerhin haben die Ergebnisse (und die Prämissen) der Geschlechtergeschichte wesentlich dazu beige-
15 Der Hauptvertreter der These war Meyer, Friedelehe und Mutterrecht (1927), und andere Veröffentlichungen; zur Forschungsgeschichte vgl. Mikat, Dotierte Ehe (1978), und jetzt Karras, History of marriage (2006). Zur Kritik vgl. in neuerer Zeit Ebel, Konkubinat (1993); dies., Art. Friedelehe, in: RGA, Bd. 9 (1995), 598–600; Esmyol, Geliebte oder Ehefrau? (2002). Die als widerlegt zu betrachtende These findet sich in mehreren weitverbreiteten neueren Darstellungen wie Duby, Ritter, Frau und Priester (1985), 50; Ennen, Frauen im Mittelalter (³1987), 35f.; Otis-Cour, Lust und Liebe (2000), 120f. u. a., und Untersuchungen wie Le Jan, Famille et pouvoir (1995), 273. 16 Zu nennen ist hier zusätzlich zu den oben, Anm. 7, genannten Titeln Herlihy, Medieval households (1985), der zahlreichende nachfolgende Studien geprägt hat. Als Proponent soziobiologischer Deutungen der mittelalterlichen Geschichte hat sich in letzter Zeit Jörg Wettlaufer präsentiert; zur Diskussion vgl. unten, Kap. 2. 17 Zu den methodologischen Prämissen und Unterschieden der beiden Ansätze vgl. programmatisch Hausen/Wunder, Einleitung, in: Dies. (Hrsg.), Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte (1992), 9–18. 18 Die Literatur zum Thema ist inzwischen unüberschaubar geworden. Statt einer beinahe beliebig erweiterbaren Liste von Einzeltiteln seien hier lediglich einige wenige Überblicksdarstellungen genannt, die dieses Feld exemplarisch vertreten sollen (während relevante Einzelstudien an entsprechender Stelle diskutiert werden): Klapisch-Zuber, Geschichte der Frauen, Bd. 2 (1990/1993); Rossiaud, Dame Venus (1989); Karras, Common women (1996); Otis-Cour, Lust und Liebe (2000).
Einleitung
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tragen, die Historizität geschlechtlich bedingter Verhaltensweisen besser verstehen zu können.19 Zahlreiche sozial- und politikhistorische Studien – auch solche, die sich der Mentalitätsgeschichte bzw. der historischen Anthropologie zurechnen lassen – vermitteln hingegen den Eindruck, als sei die Ehe eine ernste Sache, alle anderen Geschlechtsbeziehungen aber nicht. Erstere ist der „Schlussstein des sozialen Gebäudes“, „Gründungsmoment und Grundlage der Familie“, „Zentrum des Netzes verwandtschaftlicher Beziehungen“, gar „eine zentrale, alle Menschen betreffende Lebensordnung..., ein wirklich totales soziales Phänomen im Sinne von Marcel Mauss“.20 Alles andere hat mit „attraktiven jungen Frauen“ zu tun und mit „schwachen Männern“, die sich „Konkubinen im Takt ihrer Leidenschaften nehmen“, im „flüchtigen Sinnenrausch ohne Folgen“.21 Auch Georges Duby, der die aristokratische Lebens- und Vorstellungswelt zeitlich und räumlich wohldefiniert erforscht und sich in zahlreichen Schriften ausdrücklich mit den Themen „Liebe“ und „Ehe“ in der Aristokratie beschäftigt hat, behandelt die Konkubinen in der aristokratischen Gesellschaft ohne allzu viel Nachdruck und stets in Abhängigkeit von der solennisierten Form der Ehe.22 Ähnliches gilt für die Erforschung der das Thema betreffenden „literarischen“23 Quellen, der hochmittelalterlichen (vor allem volkssprachlichen) Epik, Lyrik und Narrativik. Hier wird der Umstand, dass es sowohl in der „höfischen Liebe“ als auch in epischen oder dem merveilleux zugehörenden Situationen wesentlich um Repräsentationen nichteheli19 Aus dem besonders fruchtbaren Bereich der „Neulesung“ mittelalterlicher Literatur seien hier genannt: Gaunt, Gender and genre (1995); Huchet, L’amour discourtois (1987), sowie – weniger den gender studies als der „Literaturanthropologie“ verpflichtet – Bloch, Etymologies and genealogies (1983). Eine prononciert von geschlechtergeschichtlichen Theoremen ausgehende Untersuchung des Phänomens Polygynie/Konkubinat fehlt meines Wissens, daher seien hier als geeignete Impulse die methodischen Erörterungen von Bea Lundt, Einleitung, in: Kuhn/Dies. (Hrsg.), Lustgarten und Dämonenpein (1997), 123–142 genannt. 20 Duby, Ritter, Frau und Priester (1985), 25 (dort „Eckstein“, zur deutschen Übersetzung des Originals vgl. Kap. 6, Anm. 17); Goetz, Leben im Mittelalter (1986), 39; Goody, Geschichte der Familie (2002), 89; Borgolte, Kulturelle Einheit (2004), 4 [dort im Genitiv]. 21 Brundage, Law, sex and Christian society (1987), 297 („...men of wealth often kept women of inferior social status as concubines, feeling that it was less scandalous and more convenient to retain attractive young women as companions than to marry them“); Firpo, Concubinas reales (1986), 338 (über die kastilischen Könige des 13./14. Jahrhunderts): „hombres débiles sujetos a la voluntad de sus madres, sus barraganas o sus privados“; Aurell, Noces du comte (1995), 424, über das okzitanisch-katalanische 12. Jahrhundert (vgl. Kap. 6); Borst, Lebensformen im Mittelalter (1973), 70. 22 Vgl. Duby, Ritter, Frau und Priester (1985), ibs. 49ff. 103ff. Seine Einschätzung der sozialen Signifikanz des Konkubinats geht ex negativo aus folgender Passage (95f.) hervor: „...die rechte Ehe [stellte] in einer Gesellschaft, in der das [sic] Konkubinat weithin üblich war, in erster Linie ein Instrument der Politik dar.“ Ähnlich urteilt Duby noch in seinem letzten größeren Werk Frauen im 12. Jahrhundert (1999), in dem er dem Konkubinat einen Abschnitt (270–299) widmet. 23 „Literarisch“ insofern, als sie heute primär als Gegenstand der Literaturwissenschaft betrachtet werden. Ihre „Historizität“ steht ebenso wenig in Frage wie die „Literarizität“ von Texten, die als Domäne der Geschichtswissenschaft gelten.
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cher Beziehungen geht, zumeist entweder nicht in dieser Form vertieft oder umstandslos der (meist als „kirchliches Ehemodell“ aufgefassten) Norm der dauerhaften Einehe entgegengesetzt, wiederum auf Kosten der Vielfalt. Daher sind die außerordentlich zahlreichen philologischen Studien, auch soweit sie um die Einbeziehung von im fachlichen Sinne „historischer“ Perspektiven bemüht sind, im Sinne dieser Studie meist nicht weitreichend genug.24 Am weitesten geht die Forschung bisher in Skandinavien. Nachdem das mittelalterliche Island seit den 70er Jahren mehrfach aus dezidiert historisch-anthropologischer Perspektive untersucht worden ist25, wird neuerdings das skandinavische Frillenwesen auch unter Bezug auf die konkrete (politische) Situation als zentrales Element aristokratischer Praxis und Repräsentation verstanden.26 Diese Ansätze gilt es aufzunehmen, zu vertiefen und vor allem mit Blick auf andere europäische Regionen zu erweitern.
Anliegen und Erkenntnisziel Zunächst sollte gesagt werden, was diese Studie nicht sein will: Sie ist keine Geschichte der in polygynen Beziehungen lebenden Frauen, denn nicht sie, ihr Erleben und ihre Lebenswelt stehen im Mittelpunkt, sondern die Folgen, die aus diesen erwachsen. Sie ist keine sozial- oder gar rechtsgeschichtliche Untersuchung des Konkubinats (oder welchen Namen man dem sozialen Institut beilegen will): Erstens liegt ihr Augenmerk auf der ,politischen Kultur‘, also auf den Gruppen, die heute (wieder?) „Eliten“ genannt werden, obgleich wohl nur ihre unentwegtesten Propagandisten behaupten würden (und im Fall etwa eines Ramon Llull auch behauptet haben27), dass Eliten tatsächlich im Wege einer „Auslese“ in ihre Positionen gekommen seien, wie es die Etymologie suggeriert. Poly24 Die extremsten Fälle einer recht naiven Lesart (vgl. Liebertz-Grün, ‚Amour courtois‘ [1977]) gehören angesichts der jüngeren Tendenzen in der Literaturwissenschaft der Vergangenheit an; vgl. etwa theoriegeleitet Gaunt/Kay (Hrsg.), Troubadours (1999). Dennoch bleiben auch in der jüngeren Forschung die Interpretationen mehr oder minder explizit den Mustern verbunden, die seit den ersten größeren Arbeiten von Erich Köhler (etwa: Trobadorlyrik [1962]) zumal in der deutschsprachigen Forschung weitverbreitet sind. Für ein aktuelles Panorama vgl. Rieger (Hrsg.), Okzitanistik, (2000). – Eine neuere von „literarischen“ Quellen ausgehende Studie, die das Thema dieser Untersuchung direkt berührt, ist Ebel, Konkubinat (1993). 25 Namentlich von Hastrup, Culture and history (1985); dies., Island of anthropology (1990); dies., A place apart (1998); Byock, Medieval Iceland (1988); Miller, Bloodtaking (1990); vgl. auch Turner, Anthropological approach (1971). Zur Forschungsgeschichte vgl. das Schwellenkapitel. 26 Vgl. Auður G. Magnúsdóttir, Makt och kärlek (1997); dies., Frillor och fruar (2001); Hermanson, Släkt, vänner och makt (2000). Weniger weit geht Bandlien, Å finne den rette (2001); allerdings wurde für diese Untersuchung die erweiterte englische Fassung Strategies of Passion. Love and marriage in medieval Iceland and Norway. Turnhout 2005, nicht mehr genutzt. Traditionell rechtsgeschichtlich bleibt Holtan, Ekteskap (1996); dies., Frillelevnad (1997). 27 Ramon Llull, Llibre de l’Orde de Cavalleria c. 1 zur Ätiologie des Rittertums als eines meritokratischen Ausleseverfahrens in der Urgesellschaft.
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gyne und/oder nichteheliche Beziehungen unter den allermeisten Männern und Frauen werden in diesem Buch also keine Rolle spielen. Zweitens ist ihr Ausgangspunkt gerade der Zweifel an der Vorstellung von außerehelichen – und per extensionem ehelichen – Beziehungen als rechtshistorisch fassbarer, sozialhistorisch modellhaft darstellbarer Institute. Insofern als die Konstatierung der bloßen Existenz polygyner Beziehungen außerhalb ihres Interessenhorizonts bleibt, ist sie auch keine Sozialgeschichte der Aristokratie. Stattdessen beruft sie sich auf die bald ein Vierteljahrhundert alten, aber unvermindert aktuellen programmatischen Bemerkungen Jacques Le Goffs zur „neuen politischen Geschichte“, der „politischen Anthropologie“ und die Forderung, „besondere Aufmerksamkeit auf die Untersuchung der diversen semiologischen Systeme des Politischen zu richten“.28 Als ein solches System soll die aristokratische Polygynie hier vor allem verstanden und gegenüber monistischen Erklärungen von Lust und Liebe, Macht und Status in ihrer Vielfalt greifbar gemacht werden. Diese Untersuchung versteht sich als Beitrag zur Europageschichte, betrachtet aber nur drei Regionen des Kontinents. Dies geschieht nicht in der (meist trügerischen) Erwartung, das Partikulare werde in irgendeiner Weise ins Exemplarische umschlagen. Im Gegenteil: „In Zukunft sollte europäische Geschichte anhand weniger, genau und vertiefend erforschter und erzählter Probleme dargestellt werden, ohne Anspruch auf Vollständigkeit“, forderte Árpád von Klimó 2005.29 In der Tat scheint die Zeit der europahistorischen Großvergleiche und ihrer Kulturmonismen vorbei zu sein; aktueller mutet heute (wieder) Hans Medicks Plaidoyer für den „dezentrierenden Vergleich“ an, der „nicht über die Einzelfälle hinweggeht, sondern sie stets als Bezugspunkt nimmt, von dem her die Frage nach den Ähnlichkeiten, Gemeinsamkeiten und Unterschieden historischer Phänomene und deren Erklärung zu stellen ist“.30 ‚Dezentrierend‘ ist diese Untersuchung auch in einem anderen Sinn, nämlich mit Blick auf die Diskussionen um Zentrum und Peripherie, Kern und Rand in der Europageschichte. Nordeuropa, von dem die Studie ausgeht, gehört zum „jüngeren Europa“ (J. Kłoczowski31), der lateinchristlichen Expansionszone jenseits der Grenzen des frühmittelalterlichen Karolingerreichs – eine Wahrnehmung, der die aktuelle nordeuropäische Europageschichte mit der offensiven Aufnahme und Weiterentwicklung des Peripheriebegriffs zu begegnen sucht.32 Weniger angemessen scheint der Peripheriebegriff 28 Le Goff, Vers l’anthropologie politique (1985/1999), 769; vgl. jetzt Schmitt, Historische Anthropologie des Mittelalters (2004). 29 Von Klimó, Rez. Mythen der Nationen (2005). 30 Medick, Entlegene Geschichte? (1992), 174 und 176; das Plädoyer wurde – in beiden Fällen unter Bezug auf Natalie Zemon Davis – im Editorial des ersten Heftes von Historische Anthropologie (1, 1993, 4) aufgenommen. Vgl. Emeliantseva, Historischer Vergleich (2005). 31 Kłoczowski, Młodsza Europa (1998). 32 Vgl. in den vergangenen Jahren: Ingesman/Poulsen (Hrsg.), Danmark og Europa (2000); Ingesman/ Lindkvist, Norden och Europa (2001); Staecker (Hrsg.), European frontier (2004); Blomkvist, Discovery of the Baltic (2005).
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auf den ersten Blick für den nordwestlichen Mittelmeerbogen, eine Zone altchristlicher Durchdringung mit stark romanisierten Zügen. Doch im mittelalterlichen Kontext ist die Region, die im Verhältnis zu den angrenzenden Teilen des Dar al-Islām meist eher mit dem für die heutige europahistorische Diskussion ebenfalls bestimmenden Begriff der ‚frontier‘ belegt wird (die regionalspezifische Bezeichnung ‚frontera‘ ist natürlich schon erheblich länger in Gebrauch), als hochmittelalterliche Rückzugszone der Latinität ohne weiteres als ein Fall von Peripherisierung begreifbar. Dies kann nicht von der dritten Großregion, den Ländern um den Ärmelkanal, behauptet werden, die – in der französischen und vor allem anglo-amerikanischen Forschung noch in weit ausgeprägterem Maße als in der deutschen – zuweilen als die mediävistische Zentralregion überhaupt erscheint, in jedem Fall aber in allen Kern-Rand-Dichotomien oder Graduierungen unzweifelhaft zum Kernbereich gerechnet werden dürfte. Im Sinne dieses Modells sind es also zwei periphere und eine zentrale Region, die hier zur Untersuchung anstehen. Wenn in dieser Studie also zwei der in ‚postkarolingisch‘ zentrierten Europageschichten gern marginalisierten Regionen und eine dritte zwar zentrale, ihre eigene behauptete Marginalität aber geradezu kultivierende Zone in den Mittelpunkt gerückt werden, während weite Teile der Zentralregionen ausgespart bleiben, so ist damit auch der Versuch verbunden, das europahistorische Gleichgewicht ein wenig zurechtzurücken. Dies allein wäre aber ein kümmerlicher, weil polemischer Grund für die Auswahl des Untersuchungsgegenstandes. Seine Begründung liegt vielmehr darin, dass in einem engeren Sinn die Rede von Kern und Rand Lateineuropas durchaus seine Berechtigung hat. Bis in die Mitte des 13. Jahrhunderts (dem Ende des Zeitraums dieser Studie) war das postkarolingische Europa – ‚la dorsale‘, die ,Banane‘, das Europa der Römischen Verträge abzüglich seiner Mezzogiorni; kurz, das Europa, das in der Regel zunächst gedacht wird, wenn von seinem Kern die Rede ist – wahrlich ein lateinisches. Abgesehen von wenigen recht eng umgrenzten Bereichen dominierte die lateinische Schriftsprache die Produktion dessen, was uns als Schriftquellen zur Verfügung steht, nahezu vollständig. An der geographischen Peripherie des Kontinents, in Irland, Norwegen und Island, in Okzitanien und, mutatis mutandis, auf der iberischen Halbinsel, war dies wesentlich anders. Und bei den nichtlateinischen Schriftsprachen Lateineuropas handelt es sich keineswegs um die nächstliegende Reaktion einer semiliteraten Population auf die Begegnung mit der wahren, nur grob verstandenen grammatica, sondern um eine enorme kulturelle Zusatzleistung, bei der die soliden lateinischen Grundlagen schöpferisch auf eine sprachliche Situation angewandt wurden, für die sie nicht geschaffen waren – eine Leistung, die im kultischen Bereich eben nicht erbringen zu wollen eine der weitestreichenden Entscheidungen der westlichen Kirchengeschichte gewesen ist. Das macht deutlich, wie sehr die bloße Existenz eines relevanten Quellenkorpus in einer ,Volkssprache‘ (tatsächlich einer alternativen Hochsprache) bereits ein Zeugnis für den Willen der jeweiligen Kultur zur Distanz vom lateinischen Kern des Kontinents ist. Es muss keine konfrontative Distanz sein; eine reflexive ist es in jedem Fall. Eine Studie, deren methodisches Grundanliegen es ist, der durch lateinsprachige Quellen suggerierten Ein-
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heitlichkeit des Phänomens concubinatus die Vielfalt der praktizierten und imaginierten Spielarten europäischer Magnatenpolygynie mit ihren frillur, soignants, amasias und barraganas (mit einem Blick auf die ğawāri) entgegenzusetzen, tut also gut daran, den Blick auch auf die nichtlateinischen Zeugnisse Lateineuropas zu richten. Diese Untersuchung ist überwiegend aus erzählenden Quellen gearbeitet. Das damit verfolgte Ziel ist, den Einzelfall und seine jeweilige Kontextualisierung zum Ausgangspunkt der Interpretation zu machen. Während dokumentarische Quellen zur Polygynie im Hochmittelalter ohnedies nur eine nachrangige Rolle spielen können, spielen die zahlreichen zur Verfügung stehenden Rechtsquellen anders als in den meisten bisherigen Studien zum Themenkreis Ehe/Konkubinat eine nachgeordnete Rolle. Das liegt zum einen daran, dass solche Studien eben schon zahlreich existieren und ich hier einen anderen Zugang erproben möchte, zum anderen daran, dass sich der signifikante Einzelfall eher in der Narrativik findet und die Verallgemeinerung eher in Traktaten, Rechtsbüchern und Konzilsbeschlüssen.33 Aus jenen erfährt man eher Alleuropäisches, aus diesen, wenn man Glück hat, Dinge, die sich in Norwegen im zwölften Jahrhundert ziemlich anders ausnehmen als in Frankreich im elften. Manche dieser Quellen mögen in der geschichtswissenschaftlichen Diskussion bislang auch eher unbekannt geblieben sein, sie hier vorzustellen daher auch in dieser Hinsicht nützen. Wenn die Ergebnisse dieser Studie also von anderen, möglicherweise majoritären Positionen abweichen, so liegt dies vermutlich nicht zuletzt an der Quellenauswahl.34 Sie spricht früheren konträren Ergebnissen ihre Gültigkeit nicht ab; allenfalls wirft sie die Frage auf, ob und in welchem Maße scheinbar gegenläufige Befunde durch die Vielfalt von Lebens- und Wahrnehmungsweisen gedeckt sind und damit in ihrer jeweiligen Relevanz abgewogen werden müssen oder ob es doch nötig sein könnte, bisherige generalisierende Auffassungen zu modifizieren. Die künftige Diskussion wird dies zu klären haben.
Zum Begriff ‚Polygynie‘ Diese Untersuchung trägt im Titel das Wort „Polygynie“. Das erfordert eine Begriffsbestimmung. ,Polygynie‘ heißt Vielweiberei. Eine verbreitete Gebrauchsweise des Wortes ist, Polygynie (die Geschlechts- bzw. Rechtsverbindung eines Mannes mit mehreren Frauen) und ihr Gegenbegriff Polyandrie (die Verbindung einer Frau mit mehreren Männern) als die beiden Varianten der Polygamie als ihres Oberbegriffs zu 33 Natürlich ist diese Unterscheidung lediglich modellhaft und selbst dann von zweifelhaftem Wert (zum ‚narrativen‘ Charakter von Rechtsquellen vgl. das anschließende Kapitel). 34 In diesem Sinne möchte ich mich auf ein Diktum der dänischen Anthropologin Kirsten Hastrup berufen, die in der Vorrede zu Culture and history (1985), 7, erklärt: „I claim that my story tells the truth; and if this is not the whole truth, then it is at least one whole truth, about the early history of Iceland.“
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Zum Begriff ‚Polygynie‘
verstehen.35 Meint Polygamie dabei in Anlehnung an die engere Bedeutung von γάμος („Geschlechtsverkehr“) die sexuelle Mehrfachbindung, so ist dieser Auffassung durchaus zuzustimmen, wenngleich beachtet werden muss, dass Geschichte keine Sache der Sexualwissenschaft oder Humanbiologie ist und die ,Beziehung‘ eines Mannes zu einer oder mehreren Frauen nicht notwendigerweise im physischen Sinn geschlechtlich sein muss, um im sozialen Sinn als solche zu gelten. Der Begriff ,Polygamie‘ wird aber häufig nicht als die Pluralität des Geschlechtsverkehrs verstanden (für den der Begriff ,Polykoitie‘ geprägt worden ist), sondern gemäß der übertragenen Bedeutung von γάμος als „Mehr- oder Vielehe“; ‚Polygynie‘ bezeichnete dann lediglich die Ehe eines Mannes mit mehreren Frauen. Die Ehe, namentlich die ,Vollehe‘ (das matrimonium iustum/legitimum der juridischen Texte), ist aber nur eine Form der Paarbeziehung und kann neben anderen Formen existieren, muss mithin als Teilaspekt des Komplexes Polygynie (beziehungsweise Polyandrie, die aber im mittelalterlichen Europa als Repräsentationsform nur ausnahmsweise vorkommt) betrachtet werden. Zudem stellt die Tauglichkeit des Ehebegriffs eine der zu untersuchenden Fragen dar, weswegen er nicht Teil der Prämisse sein kann. Daher wird in dieser Untersuchung auf das Wort „Polygamie“ ganz verzichtet und stattdessen durchweg der Begriff der Polygynie als deskriptiver Terminus verwendet: er bezeichnet den Umstand, dass ein Mann sozial in geschlechtlicher Verbindung mit mehreren Frauen sichtbar ist. (Die Polygynie kann ‚seriell‘/‚sukzessiv‘ oder ‚simultan‘ sein, wobei letztere Variante, die in schärferem Widerspruch zu den kirchenrechtlichen Positionen steht, die interessantere ist.) Damit ist bereits ersichtlich, warum der für nichteheliche Beziehungen im Mittelalter gebräuchlichere Begriff ,Konkubine, Konkubinat‘ als deskriptiver Terminus (im Gegensatz zur engeren Verwendung im Kontext der Quellen, die ihn enthalten) nicht in Frage kommt.36 Er definiert sich in Abhängigkeit zur Ehe und als Mängelzustand dieser gegenüber, kann also keinesfalls als Begriff für eine Situation gebraucht werden, die beide – und andere – Formen umfasst.37 Zudem ist er begriffsgeschichtlich untrennbar mit der 35 Peter Gerlitz, Art. Polygamie, in: LThK, Bd. 8 (³1999), 399f. Aus anthropologischer Sicht wird Polygynie zum Beispiel definiert als „a man to be married to more than one wife simultaneously“ (Bretschneider, Polygyny [1995], 11, was gerade bei einer transkultural vergleichenden Studie über immerhin 186 vergangene und gegenwärtige Gesellschaften ein ernstes – wenn auch nicht erkanntes – Definitionsproblem hinsichtlich des Wortes „married“ mit sich bringt. 36 Clunies Ross, Concubinage (1985), 3–34, hier 6, spricht sich in einer Studie mit einem vorliegender Untersuchung recht ähnlichen Gegenstand aufgrund einer anderen Herangehensweise für den Begriff ,concubinage‘ aus: „[Polygyny] refers to a situation in which a man is permitted to have more than one wife on a fully legal basis, though it is rare for the several wives to share equal social status. (...) [Concubinage] is a type of polygyny available to certain groups of men within a community that overall practises monogamy.“ 37 Für den Begriff „Polygynie“ fehlt ein Nomen agentis wie „Konkubine“ zu „Konkubinat“; ich verwende daher fallweise Begriffe wie „Nebenfrau“, „Mitfrau“ (analog zum Begriff ‘co-wife’ der Anthropologen), nach Möglichkeit die jeweiligen Quellenbegriffe oder einfach „(seine) Frau“, „eine
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juridischen Verankerung im spätrömischen Zivilrecht, im Kirchenrecht und dann in den weltlichen Rechtssetzungen des Mittelalters verbunden und verliert diesen spezifischen Wert, benutzt man ihn zur Bezeichnung von Fällen, die dieser Nuance entbehren. Schließlich ist folgende Setzung wichtig: Für eine „Beziehung“ (und damit ihre Subsumption unter den Polygyniebegriff) werden hier keine Mindestcharakteristika und Mindestdauer bestimmt. Das Kriterium für das Bestehen einer „Beziehung“ ist, dass sie sozial bedeutsam war, also wahrgenommen, berichtet und tradiert wurde; per Definition ist also jede in den Quellen als individualisiert greifbare Verbindung eines Mannes mit einer Frau, und währte sie im Extremfall nur einige Minuten, eine „Beziehung“ im Sinne dieser Untersuchung, weil sie soziale Dauer erlangte.38 In der Neuausgabe des Reallexikons der germanischen Altertumskunde hat Hermann Reichert folgende Begriffsbestimmung vorgenommen: „Der Begriff N[ebenfrau] bezeichnet Frauen in polygynen Eheformen von Ges[ellschaften], in denen die Rechtsordnung gestattet, dass ein Mann neben einer Hauptehe gleichzeitig eine oder mehrere weitere Bindungen von geringerem Rechtsstatus oder gleichrangige Ehen nebeneinander eingeht. Dadurch unterscheidet sich die Polygynie einerseits von Konkubinaten, das sind Einehen mit geringeren Regelungen als das matrimonium, insbesondere im Scheidungsund Erbrecht (Lebensgemeinschaften), andererseits von kurzfristig wechselnden oder illegalen sexuellen Beziehungen während einer Einehe.“ Im Folgenden räumt Reichert ein: „Das Ausmaß der echten Polygynie ist ungewiß“, da sowohl von kirchlicher Seite noch in Berichten über Könige „nicht klar“ zwischen den verschiedenen Bindungstypen unterschieden werde. Es ist deutlich, dass der in diesem Buch verwendete Polygyniebegriff in allen wesentlichen Punkten von Reicherts abweicht: Polygynie ist keine Eheform, sondern die Ehe kann eine Beziehungsform innerhalb der Polygynie sein39; der Konkubinat ist keine Beziehungsform, sondern eine Wahrnehmungskategorie, die kontextabhängig sehr unterschiedliche Bindungsarten meinen kann; der Rechtsstatus tut für die In- oder Exklusion eines Falls in die Gesamtmenge nichts zur Sache; auch kurzzeitige Verbindungen werden berücksichtigt. Verschiedene Beziehungen verhalten sich innerhalb eines Kontinuums zueinander als ‚länger/kürzer‘, ‚angesehener/weniger angesehen‘, mit mehr oder weniger Status verbunden; es gibt aber kein Minimum (denn es ist immer mit Beziehungen zu rechnen, von denen wir nicht einmal wissen) und auch nur ein relationales Maximum seiner Frauen“. Anliegen ist es, die kategoriale Unbestimmtheit der Quellenberichte nach Möglichkeit nicht durch einen modernen Terminus zurechtzuinterpretieren. 38 H[ermann] Reichert, Art. Nebenfrau, in: RGA, Bd. 11 (2002), 18–31, hier 18. 39 Bernhard Jussen, Art. Scheidung, Konkubinat, Polygynie, in: EdM, Bd. 1 (2008), 166f., führt diese Position mit Verweis auf meine Habilitationsschrift aus und kontrastiert sie mit der von Michael Borgolte, Kulturelle Einheit (2004), 4, vertretenen Sicht der Polygynie als einem „Aspekt... aus dem weiten Bereich von Eherecht und Ehepraxis“. Borgoltes Aufsatz dürfte thematisch durch vorliegende, damals an seinem Institut entstehende Studie angelegt worden sein (vgl. deren Erwähnung in einer Sammelfußnote ebd., 6f. Anm. 23), ist inhaltlich aber eigenständig.
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Aufbau
(eine Frau ist zu einem bestimmten Zeitpunkt oder in einer bestimmten Situation die angesehenste). Ob die ‚Vollehe‘ der Rechtshistoriker – gewissermaßen die, jenseits derer nichts Größeres gedacht werden kann – in einem bestimmten Kontinuum vorkommt und darin ein absolutes Maximum definiert (mehr als legitima kann die uxor nicht sein), ist zu untersuchen, nicht vorauszusetzen.
Aufbau In ihrer ursprünglichen Anlage ist diese Studie als praktische Umsetzung der methodischen Vorannahme konzipiert worden, dass ein Vergleich, der auf Repräsentativität jenseits seiner unmittelbaren Gegenstände hofft, in der Regel mindestens dreiteilig sein müsse (und aus praktischen Gründen kaum je mehr als dreiteilig sein kann). Der Vergleich der ausgewählten Regionen in Nord-, West- und Südeuropa war daher im Großen und Ganzen gleichgewichtig geplant. Die Arbeit an den Quellen hat diesen Plan zunichte gemacht. Die Narrativik Nordeuropas ist an Fundorten zur Polygynie so viel reicher und diejenige insbesondere Westeuropas so viel ärmer als erwartet, dass sich ein Gleichgewicht der Darstellung nur um den Preis einer ungleichgewichtigen Wertung der Quellen hätte erreichen lassen. Statt eines dreiteiligen Vergleichs bietet dieses Werk daher nun zunächst eine monographieartige Untersuchung der Polygynie im mittelalterlichen Nordeuropa zwischen dem 10. und dem 13. Jahrhundert – oder besser: der narrativen Konstitution sozialer Ordnungen anhand der Darstellung polygyner Praktiken in Quellen des 12. und 13. Jahrhunderts, die jenen Zeitraum darstellen wollen. Das geschieht in einem das gute französische Modell des ‚chapitre liminaire‘ aufgreifenden vorangestellten „Schwellenkapitel“, in dem die Eigenarten der nordischen Quellen skizziert und einige Leitfragen formuliert werden. In den Kapiteln 1–5 werden die fünf ‚Aspekte‘ aristokratischer Polygynie formuliert und an der nordeuropäischen Geschichte untersucht. Dabei geht es gelegentlich etwas kleinteilig zu. Das ist unvermeidlich, denn es sollen nicht nur flotte Thesen formuliert, sondern diese auch begründet und belegt werden. Ich weiß, dass die Geduld des Lesers hier streckenweise auf recht harte Proben gestellt wird; auch das auch fürs Auge oft unvertraute Namens- und Vokabelmaterial macht die Lektüre nicht leichter. Ich kann zur Abhilfe nur dazu ermuntern, gelegentlich das Lesetempo zu erhöhen, und mich mit dem wenig tröstlichen Hinweis verteidigen, dass auch das hier Gebotene nur eine Auswahl ist. Die Kapitel 6 und 7 enthalten die beiden „vergleichenden Blicke“. Für Westeuropa lautet dabei die Leitfrage, ob die Ergebnisse aus der Untersuchung der nordeuropäischen Polygynie helfen können, die dortige Situation umfassender zu verstehen, als dies allein auf Grundlage des dortigen Materials möglich ist. Bei der Betrachtung der südlichen lateinchristlichen Kontaktzone zum muslimischen Spanien mit Akzent auf der ,Scharnierstelle‘ europäischer Geschichte um 1200 schließlich tritt, da Wiederho-
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lungen nicht immer gefallen, an die Stelle systematischen Abgleichs die eher thesenartige Pointierung. Wie es das Wesen einer Pointierung ist, erhebt sie keinen Anspruch auf eigenständige Vollständigkeit; vielmehr will sie, bereits auf die Konklusion zusteuernd, Fährten legen und Anregungen geben. Die so material- und facettenreiche Mittelmeergeschichte kann hier, wenn überhaupt, ohnedies nur in knapper Pointierung angesprochen werden, denn das Buch ist auch so schon lang genug. Darum muss es auch – was für ein europahistorisches Werk eigentlich unverzeihlich ist – fast ohne Byzanz auskommen; in seinem Verhältnis zum Zentrum des euromediterranen Weltteils am Bosporus ist es also (und das ist ein geringer Trost) ähnlich ‚peripher‘ wie die meisten Werke zur Mittelaltergeschichte. Ob und inwieweit sich aus der beschriebenen und gedeuteten Vielfalt ein allgemeines Bild gewinnen lässt, wird abschließend in einem europahistorischen Ausblick diskutiert.
Untersuchungsräume „Der Norden“ umfasst die skandinavische Halbinsel, Nord- und Ostsee mit ihren Küstensäumen sowie die nördlichen atlantischen Inseln. Auf die Diskussion um gesamtnordische Gemeinsamkeiten und innernordische Unterschiede kann hier nicht weiter eingegangen werden40; es sei lediglich betont, dass „der Norden“ hier im Bewusstsein der Konstrukthaftigkeit des modernen „Nordens“, wie ihn der politische und kulturelle Skandinavismus des 19. und 20. Jahrhunderts entworfen hat, bestimmt wird. In diesem Sinne sind die britischen Inseln, Friesland, Sachsen und Teile Osteuropas gelegentlich ebenfalls „Norden“. Angesichts der Tatsache, dass in der Heimskringla des Snorri Sturluson die Entstehung des norwegischen Einheitskönigreiches ursächlich auf das Verhältnis von Harald ‚Schönhaar‘ zu einer frilla zurückgeführt wird (mehr dazu im Schwellenkapitel), bedarf das Thema kaum einer weiteren Begründung. Bezüge auf „Konkubinate“ finden sich in allen relevanten Zeugnissen, angefangen mit den Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum des Adam von Bremen, dessen einschlägige Diatriben gegen die schwedischen Großen (4,21) durchaus ernst zu nehmen sind. Die Bestimmungen der verschiedenen Landschaftsrechte vor allem im Bereich des Erbrechts enthalten viele Auskünfte über die Formen und Folgen heterosexueller Beziehungen. Ihre Abhängigkeit von den Sichtweisen und Interessen der Rechtssetzer sowie das grundsätzliche Problem der Datierung einzelner Wortlaute und Inhalte dieser erst seit dem späten zwölften Jahrhundert überlieferten Rechte begrenzen allerdings ihre Aussagekraft für die Frage nach der aristokratischen Praxis und vor allem Imagination der Polygynie.
40 Vgl. aber die transdisziplinäre, von kulturanthropologischen Prämissen ausgehende Kollektivstudie Hastrup (Hrsg.), Den nordiske verden (1992).
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Diese finden sich an hervorragender Stelle in der altwestnordischen Narrativik, den Sagas41, wobei das Schwergewicht auf den ,Königssagas‘, mithin der norwegischen Geschichte liegt. Die Schilderungen polygyner Beziehungen sind hier oft ausführlich genug, um sie als sozialsemantisch „dichte“ Momente42 analysieren zu können. Neben den Sagas werden die lateinischen Geschichtswerke betrachtet, allen voran die Gesta Danorum des Saxo Grammaticus, ein Opus sui generis, dessen Spezifik in den letzten Jahren sorgfältig erkundet worden ist43, sowie kleinere Historien und die Annalistik, inzidentiell auch die Hagiographie44 und verstreute Quellen, die die inzwischen reiche skandinavische und angloamerikanische Historiographie zur Wikingerzeit zugänglich macht. „Der Westen“ ist vertreten durch, grosso modo, das Land um den Ärmelkanal: die Normandie, das „Grand Anjou“45 und England. Im Zentrum der Untersuchung steht das (anglo-)normannische Herrscherhaus, in dessen Geschichte (der nach heutigem Verständnis belegten wie der eigenen imaginierten) die Herkunft aus zweifelhaft legitimierten Verbindungen eine herausragende Rolle spielen, ja gelegentlich zum wesentlichen Movens der Ereignisse stilisiert werden (Wilhelm „der Bastard“). Aus dem Blick auf die erzählenden Quellen ergibt sich, dass polygyne Praktiken nicht allein in Abgrenzung vom „kirchlichen Ehemodell“ für die Stilisierung aristokratischer Existenz von Bedeutung war, sondern in vielfältiger Weise semantisiert werden konnte. Zugleich erfordert die Behandlung des anglonormannisch-angevinischen Westens, die vernakuläre Literaturproduktion im Blick zu behalten: sich keltisch gebende lais, mehr oder minder vom neuen komportamentalen Standard der „höfischen Liebe“ geprägte Romanzen, archaisierende Epen und chansons de toile. Hier begegnet man Fragen der Polygynie überall, inzidentiell oder an hervorgehobener Stellung, von den beiden großen imaginären Königen, Arthur und Karl46, bis hin zu den vielfältigen Aventuren der Ritter 41 Zu den Quellen und den methodischen Grundlagen dieser Studie vgl. anschließend „Zur Eigenart der Quellen“. 42 Im Sinne der längst klassischen „dichten Beschreibung“, vgl. Geertz, Thick description: towards an interpretative theory of culture, in: Ders., The interpretation of cultures (1973), 3–30. Der zu Recht geübten Kritik an der Unschärfe von Geertz’ Begriff der „social semiosis“ (vgl. Pecora, Limits of local knowledge [1989]) lässt sich mit einer sorgfältigeren Unterscheidung von signifikanten und weniger signifikanten Ereignissen begegnen; vgl. Hastrup, Kultur som analytisk begreb (1998). 43 Vgl. Friis-Jensen, Saxo Grammaticus (1981); Strand, Kvinnor och män (1980); Skovgaard-Petersen, Da tidernes herre var nær (1987); Santini, Saxo Grammaticus (1992); Riis, Gesta Danorum (2006). 44 Stephens (Hrsg.), Ett forn-svenskt legendarium (1847–74); Unger (Hrsg.), Heilagra manna søgur (1877); Wolf (Hrsg.), Heilagra meyja s™gur (2003); vgl. Gad, Helgener (1971); Carlquist, De fornsvenska helgonlegenderna (1996). 45 Barthélemy, Note sur le ‚maritagium‘(1992), 10: neben dem Anjou im engeren Sinne umfasst diese (für das Hochmittelalter sehr hilfreiche) Bezeichnung die angrenzenden Regionen wie Maine, Vendômois und westliche Touraine – also den Südteil der „Westregion“ dieser Untersuchung. 46 Vgl. Boutet, Bâtardise et sexualité (1992).
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der Tafelrunde. Ihnen begegnen Frauen, die aus dem vertrauten oder scheinbar vertrauten Umfeld stammen – die pucelles der Burgen und Entouragen – ebenso wie Frauen, die in mehr oder minder eindeutiger Weise als anderweltlich gekennzeichnet sind – die sarrasines und die fées. Hinzu kommt, wo einschlägig (und das ist nicht häufig), die reiche urkundliche Überlieferung. Anders als im „Norden“ sind die westeuropäischen Zeugnisse über Polygynie oft kurz, knapp, inzidentiell, ,bruchstückhaft‘ in dem Sinne, dass sie den Kontext vermissen lassen, der eine weitergehende Interpretation erlaubte. Solche im besten Fall ‚bezeichnende Einzelheiten‘47 oder gar an sich insignifikante Befunde gilt es im Sinne Pierre Bourdieus zu einer signifikanten Faktenkette zu verbinden48; vor allem aber werden die westeuropäischen Befunde hier durchweg mit Blick auf die Ergebnisse der an Nordeuropa durchgeführten Untersuchung der ‚Aspekte‘ der Elitenpolygynie betrachtet. „Der Süden“ ist im engeren Sinne der Nordwesten des Mittelmeerbeckens, also Katalonien und das mediterrane Okzitanien; im weiteren Sinne umschließt er die gesamte iberische Halbinsel mit einzelnen ultramarinen Ausblicken. Der Schwerpunkt liegt auf der Krone Aragon, also einer Region, die sich in unmittelbarer Nachbarschaft zum muslimisch kontrollierten Teil der Halbinsel und zugleich in stetigem Kontakt mit den unmittelbaren transpyrenäischen Nachbarn steht; bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts ist es vermutlich sogar sinnvoller, beide Seiten der Pyrenäen als einen vor allem durch Gemeinsamkeiten geprägten Raum zu sehen. Als Ausgangspunkt dient hier ein besonders auffälliger Fürstenkonkubinat: König Jakob I. (,der Eroberer‘) und Gräfin Aurembiaix von Urgell. Die Untersuchung dieses Falles wird auf den Kontrast eines früheren, ,paritären‘ aristokratischen Stils mit dem ,monarchischen‘ Stil, den Jakob I. für sich wählte und kultivierte, hin pointiert49 und auf das Konzept der „Grammatik der Mentalität“50, das symbolische Idiom der okzitanisch-katalanischen Aristokratie bezogen, das auf der sprachlichen und praktischen Polysemie der Frau beruhte. Iberische Ausblicke richten sich auf Kastilien (der heute wahrscheinlich bekannteste, wenn auch apokryphe Fall eines herrscherlichen Konkubinats im Mittelalter, die Geschichte der „Jüdin von Toledo“, fällt allerdings nicht mehr in den Untersuchungszeitraum) und die auf andersartiger religionsgesetzlicher Grundlage von vergleichbaren politischen Kontingenzen geprägte polygynen Praktiken der Aristokratie in al-Andalus.
47 Vgl. Ginzburg, Spurensicherungen (1988). 48 Vgl. Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen (1974), 14. 49 Vgl. Rüdiger, Mit Worten gestikulieren (2000); ders., Aristokraten und Poeten (2001); ders. Herrschaft und Stil (2005). 50 Zum Begriff ders., Das Morphem Frau (2000).
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‚Aspekte‘ der Polygynie
‚Aspekte‘ der Polygynie Die Ausgangshypothese dieser Untersuchung lautet: Unter gewissen Umständen können polygyne Beziehungen sozialsemantische Bedeutung erlangen. Welche Bedeutungen, welche ‚Gebrauchsweisen‘ sind das? Wenn wir davon ausgehen, dass es bei diesen Beziehungen nicht (nur) um „den Takt der Leidenschaften“ mächtiger Männer ging, sondern dass Männer und Frauen mit ihnen (auch) das betrieben, was wir mit einer gewissen Verlegenheit ‚Politik‘ nennen – dann gilt es, diese Gebrauchsweisen zu benennen und zu charakterisieren. Dazu benenne ich fünf ‚Aspekte‘. Der generative Aspekt (Kap. 1) ist die in der Polygynie angelegte erweiterte Möglichkeit, sozial akzeptable Erben zu zeugen, denen die materielle und immaterielle Nachfolge übertragen werden kann. In der sozialanthropologisch orientierten Forschung in der Nachfolge von Jack Goody51 geht es vor allem um diesen Aspekt. Goody hebt die einschneidenden Veränderungen hervor, die die kirchliche Lehre seit der Spätantike mit sich brachte und die zu Beginn des Untersuchungsschwerpunktes dieser Studie ihre schärfste Form erreichten: Endogamie („Inzest“), Adoption, Sororat und Konkubinat werden zurückgedrängt oder nachhaltig beseitigt. Spuren dieser Konflikte – namentlich die zunehmende Zurücksetzung der „Konkubinen“ und ihrer Kinder in säkularen und kirchlichen Rechtssetzungen – finden sich in allen Untersuchungsregionen. Das Schwergewicht liegt auf Norwegen und Dänemark, wo mit dem ‚Geblütsrecht‘ ein System der Nachfolgeregelung praktiziert wurde, in dem der Polygynie eine zentrale Funktion zukam. Dass polygyne Praktiken großes Potential für die Stilisierung von Maskulinität bieten, leuchtet uns unmittelbar ein: „Er zeugte sieben Kinder in einer Nacht, und über seine Feinde hat er nur gelacht...“52 Allerdings neigen wir dazu, diese Prämisse stillschweigend als wahr vorauszusetzen, ohne dass hinterfragt würde, warum oder in welcher Weise Polygynie zur Statushebung beitragen kann und von wessen Status die Rede ist. Der isländische Magnat Þorvald Snorrason, im Bett zwischen zwei Frauen, erwirbt ihn auf andere Art als Robert von Arbrissel oder die insularen Heiligen Aldhelm und Scothíne in derselben Situation.53 Daher gilt es, den Habitus bestimmter aristokratischer Milieus zu betrachten, um die Wirkungsweise dieses habitualen Aspekts begreifen zu können (Kap. 2). Damit verbunden ist der agonistische Aspekt (Kap. 3), der sich in beiden Genera 51 Vgl. oben, Anm. 7. 52 Ralph Siegel (Musik)/Bernd Meininger (Text): „Dschinghis Khan“; mit dem Schlager belegte die gleichnamige Gruppe für die Bundesrepublik Deutschland den vierten Platz beim Grand Prix Eurovision de la Chanson 1979. Heinrich III. von Geldern, Fürstbischof von Lüttich (s. 1247–1285), rühmte sich der Zeugung von vierzehn Kinder in zweiundzwanzig Monaten (Fabritius, Geschichte des Hochstifts Lüttich (1792), 115, nach der Chronik der Abtei Sint-Truiden von Servais Foullon aus dem 17. Jahrhundert) – so seine Gegner, die auf dem Konzil von Lyon seine Absetzung erreichten. 53 Zu Þorvald Snorrason: Kap. 2, Anm. 143. Zu Robert von Arbrissel vgl. Dalarun, Erotik und Enthaltsamkeit (1987); zu Aldhelm und Scothíne (und dem westlichen Syneisaktentum generell) vgl. Reynolds, Virgines subintroductae (1968); Herbert, Legend of St Scothíne (2000–01).
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äußern kann: in der Konkurrenz mehrerer Männer um eine zu gewinnende oder in der agonistisch angelegten Wahl, die der Mann aus einer Gruppe von Frauen trifft. Beide haben sie auf ihre Weise mit dem taciteischen ...ob nobilitatem zu tun. Meines Wissens bislang nicht diskutiert worden ist ein anderer Aspekt, der besonders stark von den spezifischen Gegebenheiten – der Zeit, dem Ort, den beteiligten Personen – abhängt und sich daher jeder Generalisierung entzieht: der expressive Aspekt (Kap. 4). Indem ein Mächtiger eine (in der Regel hypogyne) Beziehung zu einer oder mehreren Frauen in so sichtbarer Weise aufnimmt, dass es in bleibender Form registriert wird, können die Beteiligten – der Mann, die Frau(en), ihre Verwandtschafts- und Freundesgruppen – eine Reihe von Aussagen treffen. Was für die ,Vollehe‘ unbestritten ist („Heiratspolitik“), könnte entsprechend auch für andere Beziehungen gelten. Es geht um das Potential der Polygynie als sozialsemantisches Kommunikationssystem. Libido und nobilitas fallen zusammen im letzten, dem hier mit aller Vorsicht und vielen Vorbehalten so bezeichneten performativen Aspekt (Kap. 5). Denn die Aneignung von Land, Besitz, Herrschaft geht in der literarischen Imagination und (allem Anschein nach) der konkreten Praxis häufig einher mit der Aneignung von Frauen, die in einer bestimmten Beziehung zu dem fraglichen Land, dem Besitz, der Herrschaft stehen. Von Raubzügen in angelsächsischen Nonnenklöstern bis zu den beles sarrasines, von denen die Kreuzzugsepik berichtet, die siegreichen Milites Christi hätten sich bei ihnen lor delis genommen54, zieht sich dieses wieder und wieder praktizierte Motiv durch das europäische Hochmittelalter. In diesem Zusammenhang ist auch daran zu denken, welche Möglichkeiten die Praktiken der Versklavung für die Verkehrung einer hyper- in eine hypogyne Situation bieten können.55 Doch die symbolische Appropriation nimmt auch weniger unmittelbare Formen an, und in dieser Mediatisierung, der unter anderem Jacques LeGoff nachgegangen ist56, kann die Frau das (übrige) Angeeignete nicht nur bezeichnen, sondern in gewisser Weise sein. In diesem Bereich, in dem die Quellen meist nur sehr oblique Hinweise geben, gilt es sich mit Vorsicht zu bewegen und Analogieschlüsse nur behutsam zu ziehen. Erörtert wird dieser Aspekt an einem norwegischen Fall aus der Bekehrungszeit (um 1000).
54 Chanson d’Antioche, v. 6413; vgl. Kap. 5. 55 Zur mittelalterlichen Sklaverei allgemein vgl. Verlinden, L’esclavage (1977); zu den Regionen: ders., Slavenhandel en economische ontwikkeling (1979); Heers, Esclaves et domestiques (1981); Pelteret, Slave raiding and slave trading (1981); Karras, Concubinage and slavery (1990), 141–162; Wilde-Stockmeyer, Sklaverei auf Island (1978); Iversen, Trelldommen (1997). 56 Le Goff, Krieger und erobernde Bürger (1990); vgl. Gravdal, Ravishing Maidens (1991); dies., Chrétien de Troyes (1992).
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Nachsatz 2014
Nachsatz 2014 Dieses Buch ist im Wesentlichen die Habilitationsschrift, die ich unter dem Titel „Aristokratische Polygynie im Hochmittelalter im europäischen Vergleich“ im September 2006 an der Humboldt-Universität zu Berlin eingereicht habe. Zu einer umgehenden Überarbeitung hatte ich, in den Folgejahren als wissenschaftlicher Mitarbeiter in verschiedenen Forschungsprojekten beschäftigt, zunächst keine Gelegenheit. Auch als ich 2011 meine erste Professur übernahm, ging die Arbeit am Text bei mancherlei Ablenkung nur episodisch voran. In einem Wort: Es wurde nun auch Zeit, die Schrift endlich zum Druck zu befördern. „Überarbeitet“ ist der Text in erster Linie stilistisch: Eine Habilitationsschrift ist kein Buch, und manche Sachverhalte lassen sich aus gewissem zeitlichem Abstand leichter pointieren, manches auch streichen. Am Inhalt – Thesenbildung und Durchführung –habe ich nichts geändert. Darum sind auch Apparat und Literaturverzeichnis (mit Ausnahme von Hinweisen auf eigene neuere Publikationen zu hier angesprochenen Punkten) nicht ‚aktualisiert‘ oder ‚auf den neuesten Stand gebracht‘. In diesem Buch geht es um viele, mitunter recht disparate Themen. Zu allen dürfte es in den vergangenen acht Jahren wichtige Neuerscheinungen gegeben haben. Aber dies ist kein Forschungsbericht; die hier verzeichnete Literatur ist in die Arbeit an dem Buch eingegangen, das ich 2006 schrieb und von dem ich der Meinung bin – wenn ich mich irre, werde ich es im Wege der Rezension sicher erfahren –, dass es in seiner Thesenbildung tel quel auch 2014 noch nicht überholt ist. Wo nicht anders vermerkt, stammen alle Übersetzungen aus Quellen oder Sekundärliteratur vom Verfasser.
König Haralds Frauen : zur Eigenart der Quellen
„...und legte sie sich bei“ Folgende Geschichte erzählte man sich im Norwegen des dreizehnten Jahrhunderts über einen König des neunten: König Harald schickte seine Leute aus nach einem Mädchen, welches Gyða genannt wurde, der Tochter König Eiríks von Horðaland; sie wurde in Valdres bei einem mächtigen Bauern erzogen. Er wollte sie zu seiner frilla machen, weil sie ein überaus schönes Mädchen war und von stolzer Gesinnung. Und als die Boten dorthin kamen, brachten sie ihren Auftrag bei dem Mädchen vor. Sie antwortete in der Weise, dass sie ihre Jungfräulichkeit nicht damit vertun wolle, indem sie einen König zum Manne nahm, der über kein größeres Reich als einige Gaue zu gebieten habe. „Und das scheint mir merkwürdig“, sagt sie, „dass es keinen König gibt, der sich Norwegen als Alleinherrscher unterwerfen möchte, wie das König Gorm mit Dänemark und König Eirík mit Uppsala gemacht haben.“ Den Boten erschien ihre Antwort sehr hochfahrend, und sie fragten sie, was sie mit ihrer Antwort bezwecken wolle. Sie sagen, dass Harald ein so mächtiger König sei, dass er für sie eine ausreichende Partie sei. Aber obwohl sie anders auf ihr Anliegen geantwortet hatte, als sie das gewünscht hätten, sahen sie für diesmal keine Möglichkeit, sie gegen ihren Willen mitzunehmen, und rüsteten sich zur Abreise. Und als sie reisefertig waren, führten Männer sie hinaus. Da sprach Gyða zu den Boten und bat sie, dem König Harald auszurichten, dass sie nur unter einer Bedingung sein eigen werden wolle, wenn er um ihretwillen sich vorher ganz Norwegen unterwerfen würde und ebenso frei über das Land herrschen würde wie König Eirík über Uppsala und König Gorm über Dänemark – „denn dann, so scheint mir, kann er Volkskönig heißen.“ Die Boten kehrten nun zu König Harald zurück und richteten ihm die Botschaft des Mädchens aus. Sie sagten, dass sie überaus dreist und töricht sei, und meinten, es sei passend, wenn der König eine große Schar nach ihr sende, um ihr Unehre zu bringen. Darauf erwiderte König Harald, dieses Mädchen habe in keiner Weise schlecht gesprochen noch gehandelt, die gerächt werden müsse, sondern er wisse ihr großen Dank für ihre Worte – „denn sie hat mich an Dinge erinnert“, sagt er, „von denen es mir jetzt merkwürdig vorkommt, dass ich nicht schon eher daran gedacht habe.“ Und weiter sagte er: „Dieses Gelübde lege ich ab, und so schwöre ich bei dem Gott, der mich schuf und der über alles herrscht, dass ich mein Haar nicht scheren will noch kämmen, ehe ich mir ganz Norwegen zu eigen gemacht habe, mit allen Steuern, Abgaben und aller Macht 1 darüber; andernfalls aber will ich sterben.“ 1
HsH c. 3–4; Übersetzung: Ebel, Konkubinat (1993), 66f. Grundlegende Textkritik bleibt Bjarni Aðalbjarnarson, Formáli, in: Heimskringla, hrsg. von dems., Bd. 1 (1941), lviii-lxxxi; eine
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König Haralds Frauen : zur Eigenart der Quellen
Diese Erzählung steht am Beginn der Geschichte von Harald Schönhaar (Haralds saga ins hárfagra) in der Heimskringla, der Geschichte der norwegischen Könige, verfasst in den Jahren um 1230 von dem isländischen Magnaten Snorri Sturluson (1178/79 –1241). Sie macht darin das dritte und vierte von dreiundvierzig Kapiteln aus, nachdem die ersten beiden Kapitel berichtet haben, wie Harald kurz nach der Mitte des 9. Jahrhunderts als Zehnjähriger die Nachfolge seines Vaters, des südnorwegischen Kleinkönigs Hálfdan des Schwarzen antrat und mit Hilfe seines Onkels mütterlicherseits seinen Machtbereich auf Kosten benachbarter Kleinkönige allmählich erweiterte. All dies beschränkt sich noch auf die nähere Umgebung von Haralds lokaler Basis; von dem Ehrgeiz, „Volkskönig“ über „ganz Norwegen“ zu werden, ist zunächst nicht die Rede. Das macht Haralds gescheiterten Versuch, eine westländische Beischläferin zu erringen, zum zentralen Wendepunkt in der Geschichte Norwegens: Er markiert nichts Geringeres als den Beginn der „Reichssammlung“ (rikssamling), wie die skandinavische Historiographie den Prozess der herrschaftlichen Einigung des künftigen Königreiches benennt, das heißt den eigentlichen Anfang der Geschichte Norwegens. In den folgenden Kapiteln der Saga wird Haralds Haar immer länger und die Zahl der unterworfenen Kleinkönigreiche immer größer. Schließlich kommt es zur herkömmlicherweise auf das Jahr 872 datierten Entscheidungsschlacht im Hafsfjord nahe Stavanger in Südwestnorwegen. Anschließend lässt der König sich die Haare scheren und geht als Haraldr inn hárfagri, Harald der Schönhaarige in die Geschichte ein. Und auch eine andere Geschichte führt er noch zu Ende: König Harald war nun Alleinherrscher über ganz Norwegen geworden. Da erinnerte er sich daran, was dieses hochmütige Mädchen zu ihm gesagt hatte. Er schickte Männer nach ihm und ließ es zu sich holen und legte es sich bei. Dieses waren ihrer beider Kinder: Álof war die älteste, dann kam Hrörek, dann Sigtrygg, Fróði und Þorgils.2
Snorris treffliches Narrativ ist von dem jungen Nationalstaat, dessen „Wieder“-Entstehung nach der Loslösung von der dänischen Krone 1814 mit dem Aufkommen der modernen Geschichtswissenschaft so gut zusammenfiel, in einer europaweit wohl einzigartig innigen Weise zu seinem eigenen gemacht worden. Noch heute, beinahe hundert Jahre, nachdem die Kritik an dem unmittelbaren Quellenwert der Sagas im allgemeinen und der Heimskringla im Besonderen eingesetzt hat, ist Snorris Königsbuch der erste Rekurspunkt, wenn es gilt, norwegische Geschichtsmythen zu praktizieren.3 Sein zwingendes
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gute Einführung mit weiterführenden Hinweisen bietet Whaley, Heimskringla (1991); zur Kompilationsweise vgl. auch Louis-Jensen, Heimskringla – et værk (1997); zu Parallelquellen vgl. Kreutzer, Bild Harald Schönhaars (1994). HsH c. 20; Übersetzung: Ebel, Konkubinat (1993), 67. Angefangen mit den 1954 erstmals und seit 1961 alljährlich veranstalteten Festspielen von Stiklestad am Olavstag (29. Juli) hat sich in Norwegen eine landesweite Kultur sommerlicher Freilichtfestivals entwickelt, bei denen in der Regel eine in der jeweiligen Lokalität spielende Episode der Heimskringla, dramatisiert und/oder vertont, zur Aufführung gelangt. Die Bedeutung
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Narrativ hat seine wissenschaftliche Infragestellung beinahe unbeschadet überlebt, ohne dass dies heißen muss, dass die Infragestellung vergeblich gewesen sei; vielmehr ist es wohl so, dass das historische Wissen und Snorris Erzählung koexistieren und auf komplementäre, nicht konkurrierende Weise ,wahr‘ sind. Harald, der Einiger des Reiches, ruht unter einer ,wikingisch‘ angelegten Gedenkstätte aus Grabhügel und Bautasteinen nahe seinem Königshof bei Avaldsnes im Westland, just der Region, auf welche ihn sein Interesse an Gyða zuerst aufmerksam machte und deren Eroberung mit der Schlacht im Hafsfjord, der Peripetie seines Aufstiegs, seit Snorris Geschichte den Schlussstein der Reichssammlung ausmacht. Diese Erzählung ist lebendig genug, um dem lokalen Bewusstsein als offenkundig evident und der Geschichtswissenschaft als nach wie vor unbedingt kommentierungsbedürftig zu erscheinen4: Harald Schönhaar ist nach wie vor der erste König Norwegens. So betrachtet ist es erstaunlich, dass Gyða Eiríksdóttir, das Mädchen, das Harald Schönhaar den Gedanken eingab, Norwegen zu einen, von der Nationalgeschichte der Moderne nicht zur Heldin an seiner Seite erkoren worden ist. Eine Königin Chlothilde, eine Thyra Danebod oder Libuše ist sie nicht geworden, und dies liegt gewiss nicht daran, dass hier die Quellenbasis wackliger wäre. Es müssen Ursachen anderer Art sein, die dazu geführt haben, dass der jungen Gyða die Transformation in ein historisches Faktum verwehrt worden ist, wie sie König Harald, seinen Eltern und zahlreichen andere Personen der Haralds saga hárfagra zuteil geworden ist. Schon die patriotischen Nationalgeschichten des 19. Jahrhunderts, die den Verlauf des zehnten bis dreizehnten Jahrhunderts meist in moderner Paraphrase der Heimskringla und einiger anderer, fast ebenso unstreitig auktorialer Sagatexte darstellten, verwiesen die Gyða-Erzählung ins Reich der Fiktion. Peter Andreas Munch urteilte in seiner volksbuchartigen ,Geschichte des norwegischen Volkes‘, die Episode, die er im Übrigen ausführlich nacherzählt, habe „einen allzu romantischen Charakter, um Vertrauen verdienen zu können“. Ein einziges Element allerdings, nämlich Haralds Gelübde, sich nicht das Haar zu scheren, bevor er sein Ziel erreicht habe, ist für Munch „vollkommene historische Wahrheit“.5 Ähnliche Unterscheidungen zwischen ,vertrauenswürdigeren‘ und minder vertrauenswürdigen Teilen von Snorris Königsgeschichte, zu welch letzteren
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dieser Festspiele für die dezentrale Kulturlandschaft Norwegens ist erheblich größer als entsprechende Veranstaltungen in mitteleuropäischen Ländern und wird keineswegs in den Bereich Event/ Tourismus verwiesen, was zum Beispiel in der Beteiligung der regionalen Symphonieorchester und namhafter Bühnenschauspieler zum Ausdruck kommt. Vgl. Stene (Hrsg.), Slag i slag (1995). Unter den neueren Darstellungen zu nennen sind die einschlägigen Bände (2 und 3) von Aschehougs Norgeshistorie: Krag, Vikingtid og rikssamling (1995) und Helle, Under kirke og kongemakt (1995); aus Samlagets Norsk historie: Jón Viðar Sigurðsson, Norsk historie (1999); Krag, Norges historie (2000). In ihnen schlägt sich die quellenkundliche Problematisierung nieder, die im Folgenden diskutiert wird. Munch, Det norske folks historie Bd. 1,1, (1852), 464f. Letzteres Detail scheint Munch nämlich zu der anderswo literarisch belegten Praxis des agonalen Gelübdetuns (heitstrenging) zu passen.
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König Haralds Frauen : zur Eigenart der Quellen
stets die Gyða-Geschichte gehört, prägen auch die ‚Geschichte Norwegens, dargestellt für das norwegische Volk‘ des herausragenden Textkritikers Alexander Bugge (Gyða als legendenhafter Stoff) und ‚Leben und Geschichte des norwegischen Volkes durch die Zeiten‘ von Haakon Shetelig (Gyða „bedeutet nicht mehr als die Träume in Halfdan svartes Saga“6). Diese Dehistorisierung machte die Gyða-Figur, die angesichts der enormen, auch staatlicherseits durch schulische und finanzielle Maßnahmen geförderten Verbreitung von Snorris Königsbuch so gut wie jedem Norweger bekannt gewesen sein dürfte, in besonders hohem Maße zu einem geeigneten Gegenstand der Mythenbildung. Weit mehr als andere Personen der Heimskringla konnte die von den Fachhistorikern zur ,Legende‘ erklärte Prinzessin nach Belieben weitererzählt werden. Als Beispiel soll hier nur Bjørnstjerne Bjørnson stehen, der verehrteste Dichter des Landes, der sich des Motivs anlässlich eines „Festes zum Gedenken der Väter“ in der Studentengesellschaft der Universität Christiania 1870 in seiner „Gedenkrede auf Harald Schönhaar“ folgendermaßen annahm: Erfüllt von den Träumen des Vaters und der Mutter, erfüllt von der Mär des ganzen Geschlechtes, streckt er seine Hand aus nach der lichten Gyda des Nordlandgeistes, dessen Offenbarung; doch erhält er dessen hohe Antwort: erring mich! Der Gedanke der Zeit erstrahlte um ihr Haupt, der junge Kämpe sah sein Lebensziel, – und als es errungen war, da war auch ihre Liebe unendlich! Der Nordlandgeist ist streng, er stellt strenge Bedingungen; doch kann er gewonnen werden, liebt er unendlich, er hat Harald und sein Geschlecht unendlich geliebt.7
Es liegt ein beträchtlicher Abstand zwischen Bjørnsons entkörperlichter Gyða, der „Offenbarung des Nordlandgeistes“, und Snorris westländischer Königstochter, die Harald „sich beilegen“ wollte. Eine wörtliche und plastisch denkbare Lesart der Stelle war in den Jahrzehnten um 1900 eher unerwünscht, ja angesichts der kulturalen Bedeutung des Königsbuches geradezu impraktikabel. Das machte es schwierig, den altnordischen Originaltext der Heimskringla ins moderne Norwegische zu übertragen. Hier gingen die Übersetzer gegebenenfalls über den Rand des philologisch Legitimen hinaus. Didrik Arup Seip und Anne Holtsmark etwa, zwei Nordisten, deren Kenntnisse der Quellensprache über jeden Zweifel erhaben sind, gaben die anstößige Stelle ok lagði hana hjá sér, „und legte sie sich bei“, in ihrer 1959 erstmals erschienenen und bis heute immer wieder nachgedruckten Übersetzung mit den Worten „og giftet seg med henne“ (und heiratete sie) wieder.8 Zur glücklichen Vollendung der Reichssammlung kommt so noch die Läuterung des ungestümen jungen Harald, der anfangs den sprachlich nicht wegzudiskutierenden Wunsch geäußert hatte, Gyða zu seiner „Beischläferin“ zu machen, am 6 7 8
Diese verheißen Haralds Mutter die künftige Größe des Königsgeschlechts; vgl. Kap. 1. Bjørnson, Artikler og taler, Bd. 1 (1912), 336. Snorres kongesagaer (51998), 61; gleichlautend bei Hagen/Joys, Vårt folks historie, Bd. 1 (1962), 336. Ebenso die Übersetzungen von Schjøtt/Magerøy, Snorres kongesoger (1979), Bd. 1, 61: „gifta seg med henne“; Johansen, Snorre (2002), 17: „de giftet seg“. Vgl. Gregor von Tours, Historiae III, 22: suoque eam copulavit stratu.
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Ende dann aber eine ehrbare Bindung einging – im Gegensatz zum Quellentext, aber im Einklang mit dem, was im Rahmen der modernen Erzählung ,wahr‘ sein musste. Das Unbehagen mit der Gyða-Figur, die Bereitschaft, sie umstandslos als historisch ungesichert abzutun, ebenso wie die offensichtlichen philologischen Freiheiten, die man sich im Laufe der Zeit mit ihr genommen hat, sie alle sind auf das eine Wort zu fokussieren, das Gyða als nationale Ahnherrin ein für alle Mal disqualifiziert hat: sie war eine frilla. Das Wort ist ein mittelalterliches, in erzählenden wie in Rechtsquellen vielfach belegter Begriff (var. friðla); es hat ein seltenes maskulines Gegenstück friðill und gehört zum Wortfeld frið-, also in den Bereich „Friede, Freundschaft, Bündnis“. Seine mittelhochdeutsche Entsprechung, aus Walthers von der Vogelweide Lied Under der linden bekannt, ist friedel.9 Im Gegensatz zu jenem, dessen Wiederbelebung im 19. Jahrhundert im Großen und Ganzen gescheitert ist, wurde das Wort frille/-a in großen Teilen Skandinaviens wieder üblich und hatte somit eine allgemein bekannte Konnotation sittlicher Fragwürdigkeit, der die bürgerlichen Deuter des Mittelalters begegnen mussten. Bemerkenswerterweise war dabei der Umstand, dass Norwegens erster Reichseinheitskönig offenkundig Vielweiberei betrieb, für sich genommen ein Thema, dessen man sich durchaus offensiv annehmen konnte. Zum Thema „Einehe und Vielehe“ führte Bjørnstjerne Bjørnson (um bei diesem zu bleiben) aus: Noch zu Harald Schönhaars Zeiten konnten mächtige Männer mehrere gleichgestellte Ehefrauen haben. Nachdem dies ein Ende genommen hatte, finden wir den Sohn einer frille gleichberechtigt mit dem Sohn der Ehefrau im Wettstreit um den Thron. Dann wurde auch dies unmöglich; doch noch im sechzehnten, ja siebzehnten Jahrhundert begegnen wir Hausherren, sogar Pastoren, die nicht abgeneigt waren, einem reisenden König oder anderen Großen ihre Töchter zu leihen. Dann wurde auch dies unmöglich (...) doch die Sitten im vergangenen [dem 18.] und noch in den ersten Jahren unseres eigenen Jahrhunderts [des 19.] ließen noch einiges zu, das heute [1887] die Gesellschaft in Aufruhr brächte. Der Fortschritt ist offenkundig.10
In dieser Darstellung wird die Polygynie zum Indikator einer allgemeinen, der Fortschrittsperspektive unterliegenden Menschheitsgeschichte, die nicht nur den diachronen, sondern auch den synchronen Vergleich erlaubt. Hier vergleicht Bjørnson das christlich-bürgerliche Europa mit rückständigen Kulturen wie den USA, die aufgrund ihrer „unumgänglich“ die Vielweiberei mit sich bringende Sklaverei ins Blickfeld kommen, und namentlich der islamischen Welt („wir müssen nicht untersuchen, welche Gesellschaft weiter gekommen ist, ihre oder unsere“). Innerhalb dieses wohlbekannten liberalen Fortschrittsnarrativs wird das Mittelalter, namentlich Harald Schönhaars Zeit, zum notwendigen Anderen11; 9 Vgl. Ebel, Konkubinat (1993), 150ff. 10 Bjørnson, Engifte og mangegifte (Vortrag, erstmals gehalten 1887), 88; auf diesen Vortrag ist bereits in der Einleitung verwiesen worden. 11 Vgl. Oexle, Das entzweite Mittelalter (1992), und spezifisch zur aktuellen Lage in Skandinavien Münster-Swendsen, Moderniteten i middelalderen (2003).
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König Haralds Frauen : zur Eigenart der Quellen
indem es alterisiert wird, erhält es aber auch seine eigene, beinahe naturgesetzliche Dignität. Was einem vorchristlichen „edlen Heiden“ wie Harald Schönhaar erlaubt war, ging im christlichen Mittelalter nicht mehr an; da aber die größten Könige der norwegischen „Zeit der Größe“ (storhetstid), Sverrir (r. 1177–1202) und Hákon IV. (r. 1217–63), Frillensöhne waren, da selbst der Christianisierungskönig und Vollender der Reichseinheit, Olav der Heilige (r. 1015–28/30), dessen Kult im lutherischen Norwegen in einzigartiger Weise zu einem staatstragenden Geschichtsmythos ausgestaltet wurde,12 seinen Frillensohn Magnus als Thronerben hinterließ, war auch diese gewissermaßen halb-polygyne Etappe im nationalen Zivilisationsprozess nicht wegzudiskutieren. Die Promiskuität der Mächtigen, von Bjørnson mit Bedacht in der als nationale Demütigungsperiode gedeuteten „Dänenzeit“ (1537–1814) verortet, fügt sich dann in doppelt stimmiger Weise in eine Erzählung mit positiver Tendenz, an deren Ende Gegenwart und Zukunft stehen. 12
„Geliebte oder Ehefrau“? Vor diesem Hintergrund wird verständlicher, warum Harald Schönhaars Beziehung zu Gyða Eiríksdóttir in publikumsorientierten Veröffentlichungen zur Ehe umgedeutet wurde. Dass Gyða nicht Haralds einzige Frau war, verschweigen aber weder Snorri noch seine modernen Übersetzer. Direkt im Anschluss an die oben zitierte Stelle, in der der König sich Gyda „beilegte“ (übers. „heiratete“), werden zunächst ihre vier Kinder aufgezählt, bevor es weiter heißt: „König Harald hatte viele Frauen und viele Kinder“ (Haraldr konungr átti margar konur ok m™rg b™rn). Außer Gyða „,bekam‘ er die Frau, die Ragnhild hieß, die Tochter König Eiríks von Jütland“ (hann fekk þeirar konu, er Ragnhildr hét, dóttir Eiríks konungs af Jótlandi). Von zwei weiteren Frauen, Töchtern binnenländischer Kleinkönige, wird nun berichtet, dass Harald sie „außerdem hatte“ (enn átti hann...).13 Soweit spricht alles für eine simultan-polygame Deutung. Doch wie lässt sich diese mit der nun anschließenden Passage vereinbaren: 12 Die Öffnung der Staatskirche für neue Formen des Olavs,kults‘, dessen Reaktivierung zunächst eine Angelegenheit der bäuerlich-liberalen Opposition innerhalb der Union mit Schweden gewesen war, setzte zögerlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein und fand ihren Höhepunkt in der Jubiläumsfeier 1930. Vgl. Kolsrud (Hrsg.), Nidaros og Stiklestad (1937); Imsen (Hrsg.), Ecclesia Nidrosiensis (2003). 13 Das Verbum eiga „haben, besitzen“ (3. Sg. Prät. Ind. átti), steht häufig in Kontexten, die die moderne Forschung im Sinne des matrimonium legitimum deutet, nämlich in isogamem Verhältnis mit Güterübertragung (also wie „zur Frau haben“). Entsprechendes gilt für das Verbum fá „bekommen“ (3. Sg. Prät. Ind. fekk), beide mit Genitivkomplement: „er hatte/bekam jener Frau [Güter o. ä.]“. Zur Diskussion dieser Fügung vgl. Kap. 1, Anm. 106. – Das altnordische Wort kona ist ebenso wie sein modernes deutsches Pendant „Frau“ uneindeutig, was die Kategorisierung der Beziehung betrifft; die zitierte norwegische Übersetzung macht es sich zunutze, dass die moderne Bedeutung von kone auf „Ehefrau“ eingeengt ist, und übersetzt, scheinbar quellennah, wiederum in Richtung ‚Ehe‘. Vgl. die Diskussion des mittelalterlichen Vokabulars und seiner modernen Übersetzungen am Falle des Jón Loptsson, Kap. 2.
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„Geliebte oder Ehefrau“? Manche sagen, dass König Harald, als er Ragnhild die Mächtige bekam, von seinen neun Frauen (oder: neun seiner Frauen) ließ. Davon berichtet Hornklofi [Þórbjörn ,Hornklaue‘, ein zeitgenössischer Skald]: Hafnaði Holmrýgjum ok H™rða meyjum, hverri enni heinversku ok H™lga ættar konungr enn kynstóri, es tók konuna d™nsku.
Er gab die Rogaländer und Hordaländer Mädchen auf, jede Hedmarker Frau und die aus Hålogaländer Geschlecht der König aus mächtigem Hause, als er die dänische Frau nahm.14
Hier die vielen aus den Regionen Norwegens stammenden Frauen, dort die eine Dänin: Der Gegensatz ist in der Skaldenstrophe, die innerhalb der Saga als ,Quelle‘ für die Authentizität des Berichteten bürgen soll, noch klarer durchgeführt als in Snorris Prosa. Dass die Dänin Grund genug darstellt, die Norwegerinnen zu verstoßen, ist durch die Hervorhebung Ragnhilds mit dem Beinamen in ríka, die Mächtige, und ihren königlichen Vater bereits im Vorfeld motiviert.15 Haralds Versuch, sich der mächtigen dänischen Königsfamilie anzusippen und dafür seine innernorwegische Polygamie aufzugeben, hat Theodor Fontane in seinem „Harald Harfager“ aufgenommen, wo er die stolze Dänenprinzessin zu den Werbern sagen lässt: „König Harald ist Herr über Norweg, über Norwegs Frauen auch, / Aber euer Brauch in Drammen ist nicht in Roskilde Brauch“.16 Der Wechsel von der Viel- zur Einehe erscheint bei Fontane wie schon beim Skalden des 9. Jahrhunderts motiviert durch den Eintritt des erfolgreichen neuen Großkönigs in überregionale Bündnissysteme und womöglich symptomatisch für die ,Europäisierung‘ der entstehenden norwegischen Königsmacht. Jedenfalls ist der hier deutlich eingeführte Gegensatz zwischen einerseits Ragnhild, der jütischen Königstochter, und andererseits den „neun“ Frauen aus dem Gebiet des heutigen Norwegen auch ein hierarchisch gemeinter: Haralds neue eine Bindung ist als erfolgreicher Fortschritt gegenüber all seinen bisherigen Frauen zu verstehen. Vor diesem Hintergrund gilt es die Wertigkeit einzuschätzen, die die Bindung Harald Schönhaars und der Gyða Eiríksdóttir hat. Sie ist terminologisch scheinbar uneindeutig: Harald, so sagt der Erzähler ausdrücklich, will Gyða zu seiner frilla machen (vildi taka til frillu sér), während Gyða in ihrer Antwort an Haralds Boten davon spricht, unter welcher 14 HsH c. 21, Strophe 47. 15 Zwar ist nicht bekannt, dass es in Jütland einen König Eirík gegeben hätte, aber angesichts der Quellenarmut ist dies auch dann kein hinreichendes Argument, wenn man die Diskussion auf der faktualen Ebene führt; vgl. Bjarni Aðalbjarnason, Formáli, in: Heimskringla, Bd. 1 (1941), 118 Anm. 2. Textstrategisch ist ohnedies in diesem Zusammenhang allein relevant, dass Ragnhild als jütische Königstochter eingeführt wird. Vgl. Gregor von Tours, Historiae IV, 28 (Heirat Chilperichs mit der westgotischen Königstochter Galswintha): promittens... se alias relicturum, tantum condignam sibi regis quo prolem mereretur accipere. 16 Fontane, Gedichte 1898 (1998), 98.
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Bedingung sie einwilligen würde, seine „Eigenfrau“ zu werden (játa at gerask eiginkona hans); der Terminus eiginkona hängt mit der oben erwähnten Wendung eiga konu „zur Frau haben“ zusammen und wird zumeist im Sinne einer formgerechten Eheschließung („Muntehe“) interpretiert.17 Diese liegt nun aber im Falle von Harald und Gyða gerade nicht vor. Sagas wie Rechtstexte lassen keinen Zweifel daran, dass Harald seine Boten nicht mit Gyða, sondern mit ihrem Vater hätte sprechen lassen müssen, und erst recht hätte er sie später nicht abholen und „sich beilegen“ lassen dürfen; selbst wenn alle Fragen materieller Transaktionen ausgespart würden, hätten hier Brautleite und Hochzeitsfest stehen müssen.18 Dann also ein Frauenraub? Ganz abgesehen davon, dass die vielzitierte „Raubehe“ im frühmittelalterlichen Europa ein von der neueren Forschung zu Recht in Frage gestelltes Konzept ist19, war in der narrativen Welt des 13. Jahrhunderts, der die Heimskringla angehört, ein derartiges Vorgehen keinesfalls mit irgendwelchen solenneren Formen der Bindung von Mann und Frau vereinbar. Die textuellen und terminologischen Uneindeutigkeiten sind in der Tat nicht klärbar: Es ist ein aussichtsloses Unterfangen, aufgrund des vorliegenden Materials herausfinden zu wollen, ob Harald mit Gyða nun eine Ehe oder eine andere Bindungsform einging, ob er mit seinen „neun“ Frauen auf dieselbe Weise ,verheiratet‘ war wie anschließend mit Ragnhild der Mächtigen oder nicht. Ohnehin ist es müßig zu erwägen, ob Snorri etwa seine hochmittelalterlichen Begriffe dem auf frühmittelalterliche Weise polygynen König Harald zugeschrieben hat; Ausgangspunkt der Diskussion kann nur die Heimskringla in der vorliegenden Form und somit die textuelle und terminologische Uneindeutigkeit sein. Demnach ist die Beziehung des Königs zu gewissen Frauen zwar offenbar höherwertig als die zu anderen, die semantischen und syntaktischen Strategien, mittels derer von diesen Wertigkeiten gesprochen wird, sind aber keine juridisch-kategorialen. Diese Beobachtung soll dem Verlauf vorliegender Untersuchung als Ausgangshypothese zugrunde liegen: Es kann nicht darum gehen, den verschiedenen Frauen, mit denen ein König Paarverhältnisse eingeht, kategorial gemeinte Begriffe zuzuschreiben; kurz gesagt, die Frage „Geliebte oder Ehefrau?“ lässt sich sinnvoll nicht stellen.20 Die Analyse der Paarverhältnisse hat vielmehr davon auszugehen, dass in dem Moment, in dem ein Mann in sozial signifikanter Weise Beziehungen zu mehr als einer Frau eingegangen ist, diese zueinander in einem Verhältnis stehen, das sich zwar – wie hier am Beispiel Harald Schönhaars erläutert worden ist – nach seiner Wertigkeit bestimmen lässt, das aber zur 17 Ebel, Konkubinat (1993), 67. 18 Vgl. aus rechtshistorischer Sicht Carlsson, ,Jag giver dig min dotter‘ (1965–72); zur sozialgeschichtlichen Verankerung Jochens, Women in Old Norse society (1995), 17–64. 19 Vgl. den Forschungsüberblick in: Ebel, Konkubinat (1993), 72–77. 20 Diese Behauptung soll der gleichnamigen Studie von Andrea Esmyol (2002) nicht ihre Berechtigung absprechen, da sie die Formel prägt, um – zu Recht – die älteren Auffassungen von einer ,Friedelehe‘ als dritter Rechtsform zu widerlegen. Meine Zweifel liegen auf einer anderen Ebene, nämlich ob sich die kategoriale Zweiteilung aufrechterhalten lässt; keineswegs ist damit eine Wiederkehr zur dritten Kategorie gemeint.
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Bestimmung dieser Wertigkeit ein Kontinuum voraussetzt. Dieses Kontinuum ist eine methodische Grundannahme für die folgenden Erwägungen. Es kennt einen Maximalwert, jene Bindung nämlich, jenseits derer im jeweils vorliegenden Fall keine höherwertige gedacht wird. Allen anderen Bindungen kommt im jeweils vorliegenden Rahmen geringerer Wert zu, ohne dass es je ein Minimum gäbe (also eine Beziehung, jenseits derer eine geringerwertige nicht mehr möglich wäre), obgleich manche der zu besprechenden Beziehungen sehr geringwertig erscheinen mögen. Es ist nämlich zu bedenken, dass zahlreiche vorstellbare Beziehungen nicht überliefert sind, was umgekehrt heißt, dass alle überlieferten Beziehungen bereits durch diesen Umstand valorisiert worden sind; sie sind digna ferendi oder, wie es im Altnordischen heißt, sögulegir, „sagenhaft“, des Berichtens wert. Sie enthalten ein über sich selbst hinausweisendes Surplus, das ihnen narrative Dignität und somit „soziale Energie“ verliehen hat.21 Ein solches Kontinuum wird von jeder zu diskutierenden Erzählung – oder besser: von der dialogischen Beziehung zwischen Repräsentation und Praxis, die sich in einzelnen Texten ausprägt – selber konstituiert. Das bedeutet: Man kann nicht von einem extratextuellen Absolutum ausgehen, auf welches sich eine Wertmessung beziehen könnte; ein solches läge etwa in der Fragestellung: ,Ist Gyða (oder Ragnhild) eine vollwertige, echte Ehefrau?‘ Diese Frage würde postulieren, was es doch erst zu untersuchen gilt, nämlich ob es ein Konzept wie ‚Ehefrau‘ in dieser Gesellschaft gab oder wie Geschlechterbeziehungen sonst gedacht wurden. Ohne dieses methodische Caveat riskierte man, zum Beispiel die „,echte‘ Ehefrau“ Ragnhild in der Haralds saga hárfagra mit der Nowgoroder Fürstentochter Elisabeth, der Frau des Königs Haralds des Harten in dessen Saga, beide mit Gisela, der uxor des ersten Normannenherzogs Rollo bei Dudo von Saint-Quentin und alle zusammen mit der legalis coniunx der unterschiedlichen präskriptiven Texte ineinszusetzen und dabei ein gleichsam ,realistisches‘, unzweifelhaft gegebenes Absolutum vorauszusetzen. Auch in dieser Untersuchung sollen zwar Vergleiche wie der hier beispielhaft skizzierte vorgenommen werden, aber der Vergleich soll nicht der Einordnung der Fälle in ein übergeordnetes Muster dienen, sondern vielmehr die Frage nach der Vielfalt der Beziehungsformen, ihren zeitgenössischen Ordnungen und Denkweisen jeweils neu stellen.
Zum Charakter der Quellen Die zur Verfügung stehenden Texte – denn nur um solche handelt es sich, da weder archäologische Befunde noch Werke der bildenden Kunst oder der sonstigen Materialkultur eigenständig Auskunft über Polygynie zu geben vermögen22 – sind unterschiedlicher Art, 21 Zum Begriff vgl. Greenblatt, Shakespearean negotiations (1988), 1–20. 22 Immerhin stellt die Archäologie wertvolle Korrektive oder eventuell Belege für das von den Textquellen geprägte Bild zur Verfügung. Beispielhaft sei hier auf eine Studie zum Anteil von Frauen am wikingerzeitlichen Handel verwiesen, in der archäologische Befunde zur signifikant grö-
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die mit ihnen verbundenen Deutungsprobleme ebenso.23 Diplomatische Quellen sind für das nordeuropäische Hochmittelalter selten (die älteste bekannte skandinavische Urkunde stammt von 1082, das älteste fragmentarisch erhaltene Original von 1135), die Rechtsquellen hingegen vielfältig. Neben den wenigen frühen Stadtrechten, die hier aufgrund ihrer besonderen Problematik und ihrer geringen Aussagekraft für die Aristokratie weitgehend unberücksichtigt bleiben können24, sind dies die sogenannten Landschaftsrechte und – gegen Ende des 13. Jahrhunderts – das norwegische Landrecht von König Magnús lagabœtir, „dem Gesetzesbesserer“. In mehr oder weniger umfangreicher Überlieferung sind die drei dänischen Landschaftsrechte Jütlands, Seelands und Schonens, die vier Rechte der norwegischen Rechtsbezirke Gula (Westland), Frosta (Trøndelag und Nordland), Borg („Viken“, die Gegend um den Oslofjord) und des binnenländischen Eidsivathings sowie mehrere Landschaftsrechte aus dem Gebiet des späteren Schweden erhalten; für Island sind dies die zwei Gesetzbücher, die König Magnús der Gesetzesverbesserer kurz nach der Unterstellung der Insel unter das norwegische Königtum erließ (die Járnsíða und die diese kurz darauf ablösende Jónsbók), sowie die in zwei recht verschiedenen Redaktionen erhaltene Sammlung des isländischen Rechtes vor 1262/64, die seit dem 16. Jahrhundert unter dem schwer deutbaren Namen Grágás („Graugans“) bekannt ist. Keine bekannte Verschriftlichung eines Rechtes ist jedoch älter als ca. 1220 (das Ältere Recht des Westlichen Götalandes sowie eine lateinische Fassung des Schonischen Rechtes von Erzbischof Andreas Sunesson). Alle Vermutungen bezüglich des Alters einiger oder aller Teile dieser Rechte bleiben ebenso wie die Berichte über frühere, verlorene Verschriftlichungen letztlich zweifelhaft. So hat man, um nur ein Beispiel zu nennen, in der isländischen Sammlung Grágás sowohl die Überlieferung originär vorchristlicher Rechtszustände sehen wollen als auch ihren Inhalt aus den Zuständen in Island unmittelbar vor der Unterstellung unter den norwegischen König, also im 13. Jahrhundert, hergeleitet. In gewisser Hinsicht ist wahrscheinlich beides richtig, denn Überlieferung und aktualisierende Überformung schließen einander nicht aus; sicher ist, dass die Rechte in der vorliegenden Form zum einen nicht selbstverständlich als Korpus, sondern unter Berücksichtigung der beträchtlichen Varianz hinsichtlich Gestalt und Kontext betrachtet werden müssen und zum zweiten weder eine hypothetische vorzeitige (12. Jahrhundert oder älter) noch eine zeitgenössische rechtliche oder soziale Praxis zuverlässig abbilden. Vielmehr müssen auch sie als Beiträge zu gesellschaftlichen Verhandlungen aufgefasst werden, über die sie sicherlich Aufschluss geben können. Dazu gehört auch die Berücksichtigung ihres literarischen ßeren Anzahl von Schlüssel- und Schlossfunden als Bestätigung der weiblichen Verfügungsgewalt über Haus- und Hofwirtschaft ausgewertet werden; vgl. Stalsberg, Women as actors (1991), 75–83, unter Bezug auf Petersen, Vikingetidens redskaber (1951). Zur Methodenfrage vgl. Rüdiger, „Ein rechtes Kernweib“ (2005), 33ff. 23 Für einen konzisen Überblick über die Quellenlage zum skandinavischen Mittelalter vgl. Sawyer/ Saywer, Medieval Scandinavia (1993), 1–26; mit Blick auf die Frauengeschichte vgl. Jochens, Old Norse sources (1990). 24 Vgl. die überwiegend auf Stadtrechten basierende Untersuchung von Riis, Hochzeit (1998).
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Charakters, womit nicht allein die philologische Analyse rhetorischer, formulaischer und lexematischer Ausrichtung25 gemeint ist, sondern auch ihre Lesung als – um den bis zur Unbrauchbarkeit problematisierten Begriff „Diskurs“ hier zu vermeiden – ,Rede‘.26 Was dies beinhalten könnte, lässt sich besser zunächst unter Bezug auf die originär „erzählenden“ Quellen, die Sagas erläutern, die in dieser Abhandlung im Mittelpunkt stehen. Saga heißt zunächst nichts anderes als „Rede“. Das zugehörige Verbum ist segja „sagen“; hann segir s™gu heißt „er berichtet etwas“, hafa s™gur af einum „von jemandem Nachricht haben, über jemanden etwas erzählen gehört haben“.27 Mit demselben Wort bezeichnet sich die berühmte Narrativik des nordischen Mittelalters auch stets selber: „ – und hier endet diese Erzählung“ ist das typische Explicit; mit der Wendung hann er ór s™gunni „er ist aus der Erzählung“ wird regelmäßig das letzte Auftreten einer Figur gekennzeichnet, und Snorri Sturluson beginnt den Prolog der Heimskringla mit dem Satz: „In diesem Buch ließ ich alte Erzählungen (fornar frásagnir) über die Häuptlinge aufschreiben, die in den Nordlanden Reiche gehabt und in dänischer Zunge gesprochen haben, so wie ich gelehrte Männer sagen gehört habe...“ Snorri, der sichtlich danach strebt, selber eines Tages zu den Auctoritates seiner Kultur gerechnet zu werden, fährt mit der Nennung seiner übrigen Quellen fort: Genealogien sowie Schriften auf der Basis alter Gedichte und erzählender Lieder (s™guljóð), die die Leute zu ihrer Unterhaltung gehabt haben. Über dieses „Erzählungen-Vergnügen“ (sagnaskemtan), das außer in diesem selbstreflektierenden Prolog auch anderweitig lebensweltlich belegt ist, hat es manchen Kommentar gegeben28; man geht sicher nicht fehl, wenn man das Wort mit seiner leicht scherzhaften Nuance ähnlich versteht wie das horatianische delectare oder, zeitnäher, die nicht viel älteren Otia imperialia des Gervasius von Tilbury, ohne dass damit mehr suggeriert werden soll als eine ähnliche Disposition, die Didaktik im Impliziten zu belassen. Wesentlich ist, dass die Sagas sich auch dann, wenn sie geschrieben sind, als Ergebnis von Sprechakten verstehen und dass diese Sprechakte tradierend gedacht sind. Über „Früheres“ (Snorri gebraucht das Adjektiv forn „alt, ehemalig“) berichtet man in fornum kvæðum „Liedern von früher“29, und in s™guljóð „Erzähl-Liedern“ oder eben „Lieder 25 Vgl. Lönnroth, Ättesamhällets textvärld, ca. 800–1300, in: Ders./Delblanc (Hrsg.), Den svenska litteraturen, Bd. 1 (1987), 33–56, über den Einfluss poetischer Sprache auf die juridische Begriffsbildung. Zu Norwegen vgl. Rindal, Mellomalderlovene (1995), 7–20; Røsstad, Á tveim tungum (1997). Zum rechtshistorischen Inhalt argumentiert für einen stark ,europäischen‘, nicht autochthonen Charakter der Landschaftsrechte Sjöholm, Sveriges medeltidslagar (1988). 26 Zum Begriff und seiner Anwendung in einer Kulturanalyse vgl. Rüdiger, Aristokraten und Poeten (2001), 191–238. 27 Vgl. Meulengracht Sørensen, Fortælling og ære (1993), 33–36. 28 Vgl. Clover, Medieval saga (1982); Clover/Lindow, Old Norse-Icelandic Literature (1985); Jónas Kristjánsson, Eddas und Sagas (1994); Clunies Ross (Hrsg.), Old Icelandic literature (2000); McTurk, Companion (2005). 29 Das Wort kvæði, das einen längeren strophischen Text in gebundener Sprache mit erzählendem Inhalt bezeichnet, hängt mit dem germanischen *kweþan „sprechen“ zusammen; vgl. Nielsen, Dansk etymologisk ordbog (1966), s. v. III. kvæde.
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historischen Inhalts“. Historie ist es, von früher zu sprechen (sögufræði, eigentlich also „die Erzähl-Gelehrsamkeit“, ist der moderne isländische Terminus für die Geschichtswissenschaft). Es geht hierbei selbstverständlich nicht darum, die Proklamation traditionaler Authentizität in den schriftlichen Sagas für bare Münze zu nehmen, wohl aber darum, dass diese Schriftfassungen als Teil einer seit Jahrhunderten anhaltenden und auch zukünftig fortzusetzend gedachten ,Rede‘ verstanden werden wollten. In diesem Beharren auf einem sich oral gebenden und sich zu tatsächlicher oraler Performanz besonders gut eignenden Stil liegt der gewisse Unterschied zur lateineuropäischen Historie, die ansonsten ja auch gut isidorianisch eine rerum gestarum narratio, die Erzählung von Geschehenem, zu sein behauptet.
Zur Sagaforschung Soweit sie der Ordnung und dem Verständnis dient, hat die weithin von der modernen Wissenschaft geschaffene Klassifizierung der mittelalterlichen Sagaliteratur sicher ihre Berechtigung. Sie unterscheidet Königssagas (Geschichte Norwegens und – in geringem Umfang – Dänemarks sowie einiger nichtköniglicher Fürstenhäuser), Isländersagas (englisch oft ‘family sagas’; die ersten Generationen der Siedler auf den nordatlantischen Inseln von 870 bis etwa 1030), zeitgenössische Sagas (samtíðarsögur; Island im 12. und bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts), darunter die Bischofssagas (Viten isländischer Bischöfe aus derselben Zeit), Vorzeitsagas (fornaldarsögur; Helden wie Sigurð der Drachentöter oder Ragnar Lóðbrok), Rittersagas (Übernahme westeuropäischer Stoffe) und Märchensagas, die meist von Reisen in südeuropäisch-mediterran eingekleidete Wunderländer berichten. Aber auch Heiligenviten, und zwar Berichte über lokale ebenso wie über aus der gemeinsamen christlichen Tradition übernommene Heilige galten als sögur; manches spricht dafür, dass ihre nordischen Fassungen für die Verschriftlichung der übrigen Stoffe vorbildgebend waren. Ihre Rezipienten registrierten durchaus den unterschiedlichen Wahrheitsanspruch verschiedener Erzählweisen (der Norwegerkönig Sverrir fand „Lügensagas“ am unterhaltsamsten, ließ selber aber eine Vita über sich verfassen, die als lygisaga zu bezeichnen er sich sicher verbeten hätte30): „Und obgleich wir nicht sicher wissen, ob es wahr ist“, so formuliert es Snorri im Prolog der Heimskringla, „so wissen wir doch sicher, dass kundige Männer früher diese Dinge für wahr gehalten haben.“31 30 Vgl. Jürg Glauser, Art. Lygisaga, in: EMSc, 398; zur Sverris saga Bagge, From gang leader to the Lord’s anointed (1996); Krag, Sverre (2005). 31 Heimskringla – Prologus: En þótt vér vitim eigi sannendi á því, þá vitum vér dœmi til, at gamlir frœðimenn hafi slíkt fyrir satt haft. – Im Folgenden listet Snorri eine Traditionskette namentlich auf; von seiner ersten geschriebenen Vorlage geht es über nur einen Vermittler bis ins späte zehnte Jahrhundert zurück.
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Dieses staunen machende Zeugnis quellenkritischen Bewusstseins hat sicher dazu beigetragen, dass Snorri Sturlusons norwegische Königsgeschichte bis heute als Meisterwerk der nordischen Geschichtsschreibung gilt. Sein elegant-distanzierter Stil, sein auktorialer Überblick über seinen Stoff und nicht zuletzt seine lebensweltliche Placierung als Spitzenakteur im politischen Spiel der norwegisch-isländischen Welt machen die Heimskringla zu einem hervorragenden Ausgangstext auch für vorliegende Untersuchung. Die im Prolog vorgetragenen Überlegungen zu Quellen, Überresten und deren Vertrauenswürdigkeit haben Snorri auch zu einer Zeit als faktual eher verlässlich gelten lassen, da die international bekannteren ,Isländersagas‘ weniger auf ihre ereignisgeschichtlichen Aufschlüsse als vielmehr auf ihre Darstellung der Gesellschaft, ,des Menschen‘ der Wikingerzeit oder gar der gesamten germanischen Frühzeit hin gelesen wurden.32 Insbesondere gegen letztere Sicht wandte sich seit den dreißiger Jahren die sogenannte ,isländische Schule‘, deren wohl prominentester Vertreter Sigurður Nordal war, mit der Forderung nach einer strengen philologischen Methode. Ihre Auffassung, die Sagas (vor allem die Isländersagas) seien nicht als unverfälschte Verschriftlichung jahrhundertealter, mündlich tradierter Erzählungen, sondern vielmehr als meisterhafte Produkte hochmittelalterlicher Dichter zu verstehen, liegt der gängigen Bezeichnung der kontroversen Auffassung als ,Freiprosa-‘ beziehungsweise ,Buchprosa‘-Theorie zugrunde, obgleich wohl kein einziger Forscher entweder die textuelle Überformung der Saga-Niederschriften oder den traditionalen Motivgehalt der Kunstprosa des 13. Jahrhunderts insgesamt bestritt. Damit war die Möglichkeit, aus den Sagas Aufschlüsse über Religion, Gesellschaftsformen oder Weltsicht der vorchristlichen Zeit zu gewinnen, bereits prinzipiell in Frage gestellt; eine Reihe von prononciert ,christlichen‘ Interpretationen der Sagaliteratur oder einzelner Sagas erschien in den sechziger Jahren.33 Seit den siebziger Jahren begann sich eine von der Sozial- und Kulturanthropologie beeinflusste mentalitätshistorische Lesung der Sagas durchzusetzen34, die, von den Fortschritten der Oralitätsforschung profitierend, den in der ,Freiprosa-/Buchprosa‘-Debatte formulierten Gegensatz bis zu einem gewissen Grad aufheben und die Sagas als Quellen retablieren konnte.35 Inzwischen scheint es wieder möglich, die Sagaliteratur auf ihre Auskünfte über die Gesellschaft zur Zeit ihrer Niederschrift, das hohe Mittelalter, und auch – ein relativ geringes Maß an historischem Wandel voraussetzend – für die in ihnen referierten früheren Jahrhunderte hin zu unter-
32 Zu folgender Diskussion vgl. Mundal, Sagadebatt (1977); Meulengracht Sørensen, Fortælling og ære (1993), 291–327; Jochens, Women in Old Norse society (1995), 171–182; Helle, Historiske sagakritikken (2001); Bagge, Mellom kildekritikk (2002). 33 Lönnroth, Två kulturerna (1964); Andersson, Icelandic family saga (1967); Hermann Pálsson, Ethik der Hrafnkelssaga (1974); ders., Icelandic sagas (1974). 34 Wesentliche Anstöße gaben Turner, Anthropological approach (1971), und Steblin-Kamenskij, Мир саги (1971), engl.: The saga mind (1973). 35 Zu den international erfolgreichsten Werken dieser Richtung zählen Hastrup, Culture and history (1985); Byock, Medieval Iceland (1988); Miller, Bloodtaking (1990).
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suchen; selbst die Lebens- und Vorstellungswelt der „heidnischen“ Zeit erscheint wieder erreichbar.36 Diese Zuversicht stößt allerdings nach wie vor an ihre Grenzen, soweit es um die Ereignisgeschichte der Zeit vor etwa der Mitte des elften Jahrhunderts geht. Seit den richtungweisenden Publikationen der Brüder Curt und Lauritz Weibull im frühen 20. Jahrhundert ist die ,quellenkritische‘ Richtung in der Sagaforschung, die auch den Königssagas mit einem prinzipiellen Misstrauen gegenüber ihrer Zuverlässigkeit im politikgeschichtlichen Bereich begegnet, dominant geblieben und hat in Bezug auf Norwegen in Claus Krag einen herausragenden Advokaten gefunden. Gestützt vorwiegend auf die Analyse der Skaldenstrophen (deren extrem gebundene Sprache sie für Überlieferungsänderung relativ unanfällig macht und die deswegen bereits von den Sagaschreibern des Hochmittelalters geschätzt wurden) gelangte er seit den 1980er Jahren zu einer Reihe von Neudeutungen des zehnten und elften Jahrhunderts, zu deren wichtigsten der Befund gehört, die von den norwegischen Königen reklamierte Abstammung von Harald Schönhaar (und damit die Deutung von Norwegen als „Erbgut“ im Haraldschen Geschlecht37) sei faktisch vermutlich unbegründet. Weder Óláf Tryggvason (r. 995–1000) noch Óláf Haraldsson (der Heilige, r. 1015–1028/30) und dessen Halbbruder Harald harðráði („der Harte“, r. 1046 –1066), von dem die Könige des späteren elften und zwölften Jahrhunderts tatsächlich abstammten, sei ein Nachkomme des in der späteren lateinischen und nordischen Historiographie zum mythischen Stammvater des Reiches erhobenen Harald Schönhaar gewesen – über welch letzteren mit Ausnahme einiger anscheinend bedeutender Schlachten ohnedies so gut wie nichts Zuverlässiges gesagt werden könne.38 Krags anfangs umstrittene Thesen haben sich in der Forschung etabliert39; die derzeit an ihm und der ,quellenkritischen‘ Richtung geübte Kritik zielt außer auf methodische Fragen eigentlich vor allem darauf ab, die Verlässlichkeit der Saga-Narrative zumindest in Bezug auf das in ihnen gezeichnete „Gesamtbild“ der politischen Verhältnisse zu reklamieren.40 Insbesondere Snorris Heimskringla, das unbestrittene Meisterwerk unter den Königssagas, steht hier seit Sverre Bagges einflussreicher Studie über Snorris Politikverständnis41 im Mittelpunkt. Laut Bagge kennt die in der Heimskringla dargestellte Welt lediglich an Personen und Personengruppen (und nicht an „Klassen“, Institutionen oder 36 Vgl. für das frühe Mittelalter Bagge, Society and politics (1991); für Wikingerzeit und Frühmittelalter Jochens, Women in Old Norse society (1995); zur Methode zuletzt Vésteinn Ólason, Dialogues (1998); Bagge, Mellom kildekritikk (2002); Gisli Sigurðsson, Medieval Icelandic saga (2004); einen guten Überblick über die jüngere Forschung bietet McTurk, Companion (2005). 37 Vgl. die ausführliche legitimistische Programmrede des Óláf Haraldsson, OsH c. 35. 38 Krag, Norge som odel i Harald Hårfagres ætt (1989), 288–301. 39 Er ist mit der Abfassung der einschlägigen Bände/Kapitel sowohl in der neuen Aschehougs Norgeshistorie (1995) als auch in der Cambridge History of Scandinavia, Bd. 1 (hrsg. von Helle, 2003, 184–201) betraut worden. 40 Dørum, Det norske riket (2001); Bagge, Mellom kildekritikk (2002). 41 Ders., Society and politics (1991).
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unterschiedlichen politischen Vorstellungen) orientierte Konflikte, wobei erfolgreiches Taktieren ,gut‘ und Misserfolge ,schlecht‘ sind. Diese Sicht bedeutet gewiss einen Gewinn gegenüber der vor allem an der Herausstellung eines dauerhaften, quasi-konstitutionellen Gegensatzes von Königtum und Magnaten interessierten ‚staatlichkeitsorientierten‘ oder der nach frühen Klassengegensätzen suchenden marxistischen Forschung. Es ist allerdings bezweifelt worden, ob die Lesung der Welt der Heimskringla als im Grunde recht getreue Abbildung der tatsächlichen Welt und – damit verbunden – Bagges ausdrückliches Desinteresse an der Frage nach Snorri Sturlusons Motivation, sein Werk so zu schreiben, wie er es getan hat, in dieser Form sinnvoll ist.42 Diese Debatte ist auch für vorliegende Studie bedeutsam, denn wenngleich hier mit einem das Problem der Beziehung von Literatur und Wirklichkeit etwas anders stellenden Textbegriff operiert werden soll, so ist auch dann nicht minder wichtig, ob Snorri einen leidenschaftslos vorgetragenen Bericht über erfolgreiches oder gescheitertes politisches Handeln, sozusagen eine Exempelsammlung für künftige Politiker schrieb (wie Bagge meint) oder vielmehr eine durchweg auktorial gefärbte, die parteiliche Aussage aber ganz in die Darstellung verlegende Geschichte eines Reiches vorlegte, an dessen gegenwärtiger Herrschaft er unmittelbar beteiligt war und dessen bevorstehender Ausdehnung auf seine eigene Basis Island er anscheinend recht kritisch gegenüberstand.43 Angesichts der für die Sagas durchweg charakteristischen Mangel an explizitem auktorialem Engagement, der beinahe vollständigen Zurücknahme der Erzählerstimme, erscheint jedenfalls eine Auffassung, nach der eine auktoriale Stellungnahme im Narrativ implizit enthalten ist, als die bessere Hypothese. Dem Wunsch, die Königssagas als Abbildung der politischen Verfasstheit einer vorstaatlichen Gesellschaft zu lesen, deren Allianzen und Gruppierungen sich nach persönlichem Erfolg und Misserfolg, nach Glück und Ehre statt nach von ,Klassen‘ und ,Ideologien‘ bestimmten Interessenlagen orientierten, liegt in gewissem Sinne dieselbe Wahrnehmungsweise zugrunde, die seine Vertreter – zu Recht – ihren Vorgängern vorhielten. Selbst da, wo der Text nicht als bloßes Abbild der wirklichen Verhältnisse beziehungsweise als Instrument in der Hand gesellschaftlich Mächtiger aufgefasst wird, sondern als Produzent ebenso wie als Produkt gesellschaftlicher Zustände ernst genommen wird, bleibt nämlich eine begriffliche Unterscheidung von Text und Wirklichkeit zurück. Die ganze Debatte darum, inwieweit die Sagas als verlässliche Zeugnisse für die Geschichte ihrer Niederschriftszeit oder Berichtszeit gelten können – sei es für die Geschichte einzelner Ereignisse und Abläufe oder diejenige kollektiver Vorstellungen oder Strukturen –, setzt die Vorstellung voraus, die vergangene Gegenwart sei unabhängig von den Sagas nicht nur existent (was sinnvoll nicht bestritten werden kann), sondern auch in dem Sinne fassbar, dass der Zeugniswert der Sagas an dieser Invariablen gemessen und gewertet werden könne. 42 Vgl. Sawyer, Sverre Bagge om ’wie es eigentlich gewesen‘ (2003), 191–197; Bagge, Snorre og „wie es eigentlich gewesen“ (2003), 285–296. 43 So etwa von See, “Sonderkultur” (1999).
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Es ist nicht verwunderlich, dass dieses Problem vor allem unter Bezug auf die Isländersagas angesprochen worden ist, denn für die isländische Geschichte fehlt noch mehr als für Norwegen diplomatisches und archäologisches Material, das ,korrigierend‘ herangezogen werden könnte. Die grundsätzlichen Überlegungen über den Weg „von der Wirklichkeit zur Literatur und zurück“44 allerdings sind auch für die Lektüre der norwegischen Königssagas von Bedeutung. Vom anthropologischen Standpunkt aus ist vorgeschlagen worden, die Sagas im Lévi-Strauss’schen Sinn als „totemische Artefakte“ zu verstehen, mittels derer sämtliche Erfahrung als ein integriertes Ganzes habe organisiert werden können.45 Dieser aufschlussreiche, zum Verständnis der Eigenarten der Sagaliteratur sicher nützliche und zu selten mitgedachte Zugang führt allerdings auch da, wo er – etwa im Hinblick auf den historischen Wandel, der es zweifellos verbietet, das mittelalterliche Island umstandslos als ,kalte‘ Gesellschaft aufzufassen – angemessen historisiert wird, eine gewisse methodische Hermetik mit sich. Offener und damit vielversprechend sind die Vorschläge, die Preben Meulengracht Sørensen in mehreren Publikationen entwickelt hat.46 Meulengracht Sørensen geht von der Grundannahme aus, dass die Sagas ein „komplettes Bedeutungsuniversum“ enthalten und ihre Kultur daher umfassend analysiert werden, Gegenstand der Analyse aber nie die historische Wirklichkeit außerhalb ihrer selbst sein könne. Die Sagas lieferten bereits den Kontext zu ihrem eigenen Text, welchem kein späterer Betrachter mehr etwas hinzusetzen könne.47 Dies ist keineswegs resignierend gemeint; im Gegenteil ist der Forscher zwar darauf verwiesen, „die Bearbeitung und nicht das Bearbeitete“48 zu untersuchen, aber diese Untersuchung verspricht einzigartige Aufschlüsse – auch und durchaus ,historische‘, dem Feld der Geschichtswissenschaften angehörende, insofern als die Sagas historische Tatsache sind und aller Evidenz nach – ihrer Zahl, ihrer Verbreitung und der Menge der jahrhundertelang praktizierten Bezüge und Verweise auf sie zufolge – für viele Menschen im nordwestlichen Europa des hohen (und vermutlich frühen) Mittelalters von großer Bedeutung waren. 44 Meulengracht Sørensen, Fortælling og ære (1993), Kap. Fra virkelighed til litteratur og tilbage igen, 30ff. 45 Durrenberger, Icelandic family saga (1991); vgl. ders., Dynamics (1992). 46 Meulengracht Sørensen, Saga og samfund (1977); ders., Fortælling og ære (1993), sowie mehrere zusammenfassende Darstellungen seiner Sicht, zuletzt: ders./Else Roesdahl, Viking culture, in: Helle (Hrsg.), History of Scandinavia, Bd. 1 (2003), 121–146. 47 „The family sagas contain a complete universe of meaning, a culture that can be analyzed in great depth since it only exists in the form of texts. On the other hand, due to the lack of contextual materials [!], this project cannot be undertaken as a description of historical reality. One could say that the sagas are all-inclusive in that they supply both text and context. The culture or history that the scholar wishes to describe has already been written and rewritten to such an extent that there are no longer any roads to reality outside the actual sagas. It is simply not possible to add anything new to the description of the world contained in the family sagas themselves.“ Meulengracht Sørensen, Methodological considerations (1992), 27f., entsprechend ders., Fortælling og ære (1993), 17f., dort klarer. 48 Ebd., 18.
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Zu sagen, dass das Leben unwiderruflich Text geworden sei, ist hier also nicht als generalisierendes Axiom unter dem Eindruck des ‛linguistic turn’ gemeint, sondern bezieht sich auf eine spezifische, auffällige Eigenart der „Sagawelt“49, nämlich die Neigung, gerade die dramatischsten, an narrativ zentralen Stellen stehenden und für die soziale Existenz, die ,Ehre‘, wichtigsten Momente in Begriffen ihrer Erzählbarkeit diskutiert werden. Als Beispiel bringt Meulengracht Sørensen den Bericht vom Tod der Brüder Þórð und Snorri Þorvaldssynir im März 1232 aus der Sturlunga saga (also einer der sogenannten Gegenwartssagas, die noch zu Lebzeiten vieler ihrer Akteure abgefasst wurden). Die Brüder legen ihren Reiseweg absichtlich so nah am Wohnsitz eines erbitterten Feindes vorbei, dass dieser durch die provokante Reiseroute geradezu gezwungen ist, sie zum Kampf zu stellen und zu töten. Ihre Handlungsweise begründen die Brüder zu Beginn der Kampfszene mit dem Hinweis, „dass es andernfalls wenig zu erzählen gegeben hätte“.50 Tatsächlich ist die gesamte Episode unverkennbar im Stil der ,großen‘ Isländersagas gehalten, also nach dem Modell von Erzählungen, die „eine Kultur bekräftigen, indem sie sie reproduzieren, aber dieselbe Kultur zugleich als etwas Verlorenes auf Abstand bringen, indem sie sie als Vergangenheit berichten... sie schaffen ihre eigene Wirklichkeit; aber sie schaffen sie als Geschichtsdeutung und nicht als Fiktion“.51 Im Rahmen einer ,Gegenwartssaga‘, die Mitte des 13. Jahrhunderts Zeitgeschichte berichtet, agieren die beiden Brüder – und ihr Kontrahent – nach einem Handlungsmuster, das in ihrer Kultur so fest verankert war, dass der Ablauf allen – einschließlich der Leser/Hörer der Saga, die wiederum vom Kampf der beiden Brüder berichtet – vertraut war, und das zugleich so prestigiös war, dass der ,unnötige‘ Kampf und Tod als plausible, wenn nicht sogar notwendige Handlung erschien. Es ist zwar unmöglich herauszufinden, ob zwei Menschen mit diesen Namen, die Anfang des 13. Jahrhunderts in Island lebten, tatsächlich beschlossen, einen Tod nach literarischem Muster zu suchen. Andere, ähnlich gelagerte Fälle machen dies aber immerhin wahrscheinlich.52 Der Historiker hat es hier also mit einer Kultur zu tun, der der Wunsch, dass „Taten zu Text werden mögen“ (verk... at s™gum verða53) – historiographische Narrativik also – ein zentrales Anliegen war.54 Es ist vom historischen Standpunkt aus allerdings angebracht, bei der Auffassung von den Sagas als einer eigentümlichen Form gesellschaftlicher Selbstnarrativisierung die Gefahr der darin angelegten Tendenz zur Harmonisierung zu beachten. Es genügt nicht zu sagen, dass ,die Skandinavier‘ sich in ,den Sagas‘ eine Geschichte über sich 49 Ebd., 17, in Anlehnung an den gleichbedeutenden Originaltitel von Steblin-Kamenskij, Мир саги (1971). 50 StS I, 352: at þá væri lítit til frásagnir; vgl. Meulengracht Sørensen, Fortælling og ære (1993), 329. 51 Ebd., 27. 52 Vgl. ders., Saga og samfund (1977), 153–169. 53 Ynglingatal des Þjóðólf aus Kvinesdalen, in: Ys c. 27, Strophe 20, v. 9–12. 54 Von anderen Literaturgattungen, die vom Wunsch nach Nachruhm leben, etwa der westeuropäischen Epik, unterscheiden sich die Sagas durch ihren sozial inklusiven und auf weiträumige Verbreitung in alltäglichen Situationen abzielenden Gestus.
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selbst erzählten.55 Auch wenn sich das skandinavische Hochmittelalter vielleicht noch weniger als andere zeitgleiche europäische Regionen einer nach klassifizierbaren sozialen Gruppen, nach ,Schichten‘ und ,Ständen‘ suchenden Betrachtungsweise anbietet, muss durchaus stets mit der Möglichkeit, wenn nicht sogar Wahrscheinlichkeit gerechnet werden, dass bestimmte Narrativisierungen bestimmten Interessenlagen und Wahrnehmungsweisen gehorchen, die nicht notwendigerweise repräsentativ fürs Ganze sind.56 Nicht „die Skandinavier“ oder „die norwegischen Könige“ nahmen Frillen wie Gyða Eiríksdóttir, sondern ein Autor oder ein Erzählmilieu versah eine Königsfigur mit einem bestimmten Script.57 Von Peter Foote und David Wilson stammt die Formulierung, es sei nicht zulässig, eine Sozialgeschichte des frühen Skandinavien zu schreiben „simply by lifting chunks out of the sagas“.58 Voraussetzung für den Erfolg einer historischen Lesung der Sagas ist, dass die Integrität der Narrative respektiert wird. Auf das Projekt, polygyne Beziehungen von Männern und Frauen im hochmittelalterlichen Nordwesteuropa mit dem vorhandenen Material auch alltäglich-lebensweltlich zu beschreiben, muss daher weitgehend verzichtet werden. Das ist allerdings auch in anderen Teilen des Kontinents nicht anders. Dafür hat das skandinavische Material den Vorzug, dass die Dinge, die geschildert werden – unter anderem polygyne Beziehungen – sozusagen ipso facto mit beträchtlicher sozialer Relevanz ausgestattet sind und dass die in ihnen und durch sie transportierten, wohl auch erzeugten Semantisierungen sprachlich wie lebensweltlich recht nahe am Milieu der Beschriebenen stattfinden. Aus diesen Erwägungen wird deutlich, dass es in der Analyse der Repräsentation einer polygynen Situation wie der um Harald Schönhaar und Gyða nicht um den ,historischen‘ König Harald gehen kann. Es kann aber auch nicht die Frage sein, wie die Sagas im historischen Gewand Situationen ihrer hochmittelalterlichen Gegenwart wiedergeben – eben weil sie sie nicht einfach wiedergeben, sondern schaffen. Die Erzählung von Harald und Gyða ist eine hochmittelalterliche Geschichte, in der es um das Verhältnis der Zeitgenossen zu ihrer eigenen Vergangenheit und die Bedeutung geht, die sie dieser zubilligen und von deren Generierung sie für ihre eigene Lebenspraxis profitieren. 55 Geertz, Deep play: notes on the Balinese cockfight, in: Ders., The interpretation of cultures (1973), 412–453, 448. Tendenziell in dieser Weise vereinheitlichend ist Durrenberger, Dynamics (1992); gegen eine übermäßige Harmonisierung ‚der‘ Sagas: Einar Ólafur Sveinsson, Ritunartími Íslendingasagna (1965), 17. 56 In dieser Hinsicht sind die frühen ,historisch-anthropologischen‘ Positionen oft klarer als die seit den 90er Jahren vertretenden, bei denen die Überwältigung durch die sogenannte kulturalistische Wendung gelegentlich zu einer Verunklarung extratextueller Interessenlagen führt; vgl. etwa Meulengracht Sørensen, Saga og samfund (1977), im Gegensatz zu dems., Fortælling og ære (1993). Die derzeitige Baisse historisch-materialistischer Geschichtsauffassung sollte nicht dazu verleiten, die methodischen Probleme bei der Erkennbarkeit extratextueller Lebensweltlichkeit als Anlass für deren Missachtung zu betrachten. 57 Zum Begriff des ,Scripts‘ vgl. Algazi, Kulturkult (2000). 58 Foote/Wilson, The Viking achievement (1970), xxv.
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In dieser Hinsicht ist man bisher den Berichten von Frillen und anderen Frauen nicht mit der gebotenen Ernsthaftigkeit begegnet. Nicht nur hat man viele von ihnen allzu oft als „kleine romantische Geschichten“59 abgetan oder als Spolien in Sozial- und Sittengeschichten eingebaut; selbst dort, wo es in den Erzählungen offenkundig um große Dinge geht, scheut man oft geradezu davor zurück, die Deutung mit dem entsprechenden Gewicht auszustatten. Es ist nicht damit getan, Haralds Werbung um Gyða die ereignisgeschichtliche Faktizität abzusprechen – aber auch die jüngste Forschung versäumt es in der Regel, die Frage nach der narrativen Generierung von Bedeutung zu stellen, die einen vergleichenden Blick erfordert. Haraldur Bessason, der sich zuletzt mit der Gyða-Episode befasst hat, erarbeitet in überzeugender Weise die Parallelen zum Mythos der Werbung des Fruchtbarkeitsgottes Frey um die Riesin Gerð, einen (dem Zeugnis der Skaldik nach zu urteilen) weitverbreiteten und von Snorri selber nicht nur in seiner Dichtkunst, der sogenannten Snorra Edda, sondern auch kurz in der Heimskringla behandelten Stoff.60 Seine Motivstudien und vor allem die von ihm aufgeworfene Frage, ob Snorri hier eine auf den vorchristlichen Mythos zurückgehende märchenhafte Erzählung verwendet oder ob vielmehr der Mythos nach dem Vorbild des Volksmärchens konstruiert worden sei, sind zweifellos erhellend. Doch jenseits der Motivstudie müsste die genuin historische Frage lauten, was es bedeutet, dass Snorri hier die Parallelisierung seines Einheitskönigs mit einem andernorts von ihm beschriebenen heidnischen Gott vornimmt.61 Und über diese letztlich auf auktoriale Intention abzielende Frage hinaus muss die historische Interpretation in Rechnung stellen, dass nach den Oralitätsforschungen des 20. Jahrhunderts62 durchaus damit zu rechnen ist, dass die Geschichte von Harald und Gyða – die Snorri nicht als einziger berichtet und die also eine gewisse Couranz hatte63 – auch eine ,wahre‘ war, dass diese beiden Menschen also irgendwann im zehnten Jahrhundert tatsächlich eine Beziehung eingegangen sind, die ihre Zeitgenossen so beeindruckt hat, dass sie sie über acht Generationen hinweg weitererzählt haben. Neben den vorliegenden Verschriftlichungen ist – bei solchen allgemein bekannt gewordenen sexuellen Beziehungen vielleicht mehr als bei vielen anderen Gegenständen der Sagas – also stets mit der Vielfalt gleichzeitiger mündlich fort,geschriebener‘ Versionen zu rechnen, die vermutlich in Umlauf waren, über deren Form und spezifischen Gehalt wir so gut wie nichts aussagen können, die uns aber erlauben zu behaupten, dass die Untersuchung der nordeuropäischen Darstellungen von Polygynie keine historiographische ist, sondern dass diese Geschichten in Imagination und Praxis die 59 Bagge, Kvinner i politikken (1989), 23, über Hss c. 18. 60 Bessason, King Harald Finehair’s wooing (1997). 61 Vgl. die entsprechende Diskussion der Stilisierung von Königin Sigríð der Stolzen in der Óláfs saga Tryggvasonar als ,Guðrún‘ in: Meulengracht Sørensen, Fortælling og ære (1993), 19–22; eine ähnliche Stilisierung von Ása, der Großmutter Harald Schönhaars, in: Ys c. 48. 62 Statt eines Forschungsberichtes: Vgl. Ong, Orality and Literacy (1982); Schäfer, Mündlichkeit und Schriftlichkeit (2003), 148–187. 63 Die verschiedenen Versionen der Episode untersucht Ebel, Konkubinat (1993), 65–69.
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König Haralds Frauen : zur Eigenart der Quellen
Lebenswirklichkeit vieler Menschen mitgeprägt haben dürften. Vor diesem Hintergrund sollen Erzählungen wie die von Harald und Gyða befragt werden: Was bedeutet es für die Erscheinung von Norwegens erstem Einheitskönig, dass er viele Frauen hatte? Worauf zielt sein Epitheton kynstór „groß an Verwandtschaft“? Warum knüpft Gyða ihre mögliche schlussendliche Einwilligung erfolgreich an die Bedingung, Harald möge es den Herrschern in Jelling und Uppsala gleichtun, und warum geht Harald auf die Bedingung in so augenfälliger Weise ein? Welche Informationen liefert Snorri (und Harald) seinem Publikum mit der Erläuterung über Vater und Ziehvater des Mädchens? Und was schwingt alles in Gyðas Herausforderung mit, zunächst möge Harald „ganz Norwegen unter sich legen“?
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Der generative Aspekt
Accepit ergo concubinas, natique sunt David et alii filii et filiae (II Sm 5,13)
Dornen, Schweine und zwei Träume Kurz vor Harald Schönhaars Geburt hatte seine Mutter Ragnhild einen Traum: Sie meinte, sie stünde draußen in ihrem Garten und zöge einen Dorn aus ihrem Hemd. Und während sie stand und den Dorn hielt, wuchs er und wurde ein langer Spross, und das eine Ende reichte bis zum Boden und schlug dort Wurzeln, und das andere Ende war bald hoch oben in der Luft; da schien es ihr, als wäre der Baum so groß, dass sie kaum seine Spitze sehen konnte, und es war ein Wunder, wie dick er war; der unterste Teil des Baumes war rot wie Blut, und der Stamm weiter oben schön und grün, doch oben in den Ästen war er schneeweiß; es waren viele große Äste an dem Baum, manche weit oben und manche weit unten, und die Äste waren so groß, dass es ihr schien, sie breiteten sich über ganz Norwegen und noch weiter.1
Es bedarf kaum der expliziten Traumdeutung (die zu geben Snorri Sturluson geschickterweise auch vermeidet), um dieses Gesicht zu entschlüsseln: Norwegens Königsgeschichte als eine dem Leib der Mutter des Einigungskönigs entsprossene ,Wurzel Haralds‘, anfangs blutig, dann blühend und vierhundert Jahre später, zur Zeit der Abfassung der Heimskringla, ehrwürdig und weitverzweigt. Hingegen bedarf der Umstand, dass dieses Gesicht in der Heimskringla steht, des Kommentars. Denn gewiss steht die begriffliche Verbindung von Baum und Stammbaum, also die Vor- und Darstellung der Abfolge menschlicher Generationen in botanischer Bildlichkeit, in einem all-euromediterranen Zusammenhang: „Aus Isais Stumpf aber sprosst ein Reis, und ein Schössling bricht hervor aus seinem Wurzelstock. Auf ihm ruht der Geist Jahwes“ (Is 11,1–2). Mehr noch, der Stammbaum Christi wurde, sei es über die „Wurzel Jesse“ und ihre etymologisierende marianische Deutung (virga~virgo de radice Iesse), sei es nach den Evangelien in männlicher Linie2, gerade seit dem zwölften Jahrhundert zu einem rekurrenten 1 2
HsSv c. 7. Mt 1,1–17; Lk 3,23–38; vgl. U[rsula] Nilgen, Art. Genealogie Christi, in: LdM, Bd. 4, Sp. 1221f.; dies., Art. Wurzel Jesse, in: LdM, Bd. 9, Sp. 382.
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1 Der generative Aspekt
Gegenstand schriftlicher, bildlicher und gewiss auch mündlich-homiletischer Produktion mit durchaus nicht nur dogmatischem, sondern auch weltlich-politischem Legitimationspotential. Das Wesen Christi als wahrhaft Mensch, wahrhaft Gott und die Göttlichkeit menschlichen Königtums konnten gleichermaßen den Zweiflern durch den wiederholten, eindringlichen Verweis auf die entsprechenden Schriftstellen vor Augen gerückt werden. Die Könige David und Salomo als Typoi mittelalterlicher Monarchen waren dies auch kraft ihrer Position in einer generationalen Abfolge. In den nordeuropäischen Königtümern jedoch war diese Abfolge weniger geradlinig, als das zeitgenössische Bild der ,Wurzel Jesse‘ suggerierte. Das herkömmliche Prinzip lautete, Anspruch auf den Königsnamen (konungsnafn3) habe, wer von einem König abstamme. Welcher unter den im Laufe der Zeit tendenziell immer zahlreicheren potentiellen Trägern des Königstitels tatsächlich die entsprechende Position errang und verteidigte, hing von räumlich wie zeitlich recht unterschiedlichen Umständen ab. In den Königreichen Dänemark und Schweden verfestigte sich dieses Prinzip im Laufe des Mittelalters zu ,Wahlkönigtümern‘, in denen ein aus traditionalen Zeremonien (Huldigungen auf den Landesthingen, Antrittsreise durch die Landschaften) und scharfen Verhandlungen unter Magnaten gemischtes Verfahren praktiziert wurde, das bei unumstrittenen Nachfolgen mindestens für Interessenausgleich und Festlegung der vorgesehenen Grenzen königlicher Befugnisse sorgte, in Situationen mit mehreren qualifizierten Nachfolgekandidaten aber durchaus ergebnisoffen sein konnte. Nominell wurde allein Norwegen schließlich eine Erbmonarchie mit einer präzise bis an die dreizehnte Stelle beschriebenen Sukzessionsfolge. Dieses Prinzip wurde – nach ersten Anstrengungen in der Mitte des zwölften Jahrhunderts, die sich aufgrund der politischen Ereignisse nicht dauerhaft durchsetzten – um die Mitte des 13. Jahrhunderts von König Hákon IV. Hákonarson forciert und von seinem Nachfolger schließlich mit dauerhafter Wirkung institutionalisiert.4 Snorri Sturluson verfasste seine Beschreibung von Ragnhilds Traum also in einem Kontext, in dem der herrschende König – zu dem Snorri ein kompliziertes Verhältnis hatte – die Einführung der Erbmonarchie anstelle des herkömmlichen Sukzessionsprinzips durch ,königliches Blut‘ vertrat. Zu den topischen Vorbildern von Ragnhilds Traum gehört neben den biblischen Abstammungslinien auch die Tradition von Herrschermütterträumen. Sie geht im Grunde bis zum von Herodot mitgeteilten Traum des Vaters der Mutter des Kyros zurück; ihre bekannteste hochmittelalterliche Variante, Snorri und seinem Publikum zweifellos ebenfalls vertraut, ist der Traum der Mutter Wilhelms des Eroberers.5 Die Intention, hier eine 3 4
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Lateinisch: nomen regium, nomen regis, nuncupationes regum, aliquem regem appellare; (Schweden 14. Jh.) konungs nampn giwa; vgl. Hoffmann, Königserhebung (1976), 179ff. Landrecht des Magnús lagabœtir (NgL, Bd. 2, 26, zitiert nach Landrecht des Königs Magnus Hakonarson [1941]), Christenrecht §5: sa skal konungr vera ifir Noregs konungs riki, sem Noregs konungs son er skilgetin, hinn ællzti einn (der älteste legitime Sohn des Norwegerkönigs). Benoît de Sainte-Maure, Chronique, v. 33723–34; Wace, Roman de Rou, v. 2861–65: Ke un arbre de mun cors isseit, Que vers le ciel amunt creisseit; De l’umbre ki entur alout Tute Normendie
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Parallele zwischen Harald Schönhaar und jenem anderen großen Normannenfürsten, der ein Königreich gewann, zu konstruieren, ist offensichtlich. Doch Snorri fügt Ragnhilds Traum ein überraschendes Kapitel hinzu: König Hálfdan [Ragnhilds Mann, Haralds Vater] träumte nie. Ihm schien dies seltsam und er trug es dem Mann vor, der Þorleif der Kluge genannt wurde, und bat ihn um Rat, was man dagegen tun könnte. Þorleif sagte, was er tat, wenn er über etwas im Voraus Bescheid wissen wollte: dass er ins Schweinehaus zum Schlafen ginge, und dann mangelte es ihm nie an Träumen. Und der König tat das, und ihm erschien im Traum dies: Er sah sich prächtiger behaart als alle Männer, und sein Haar lag ganz in Locken, einige bis zum Boden, einige bis zur halben Höhe der Beine, einige bis zu den Knien, einige zur Hüfte oder zur Leibesmitte, einige nicht länger als zum Hals, und einige waren nicht mehr als gerade eben aus dem Kopf gesprossen wie kleine Hörner, und die Locken hatten alle Farbschattierungen, aber eine Locke besiegte alle an Schönheit und Helligkeit und Größe. Er erzählte Þorleif den Traum, und Þorleif deutete ihn so, dass eine große Nachkommenschaft von ihm kommen und über die Lande mit großer Ehre herrschen würde, wenn auch nicht alle mit gleich großer, doch einer würde aus seinem Geschlecht kommen, der größer und vortrefflicher als alle wäre, und die Leute sind sicher, dass diese Locke den heiligen König Óláf bezeichnete.6
Der Traum ist einwandfrei, besser noch als Ragnhilds, denn er individualisiert die Nachkommen des Königs, er erlaubt sogar das der nordischen Kultur so teure agonistische Prinzip, und zudem ist er, obgleich von einem Heiden geträumt, mit einem Vorzeichen Olavs des Heiligen († 1030), der tragenden Säule der hochmittelalterlichen norwegischen Königstheologie (für das Vorzeichen steht hier sogar das gewöhnlich für christliche Wunder gebrauchte Wort jarteigna) auch religiös ganz und gar unangreifbar. Was ihn dennoch so schillernd macht, sind die Umstände, unter denen Hálfdan der Schwarze ihn träumte. Denn der für die Zukunft blinde König, „dem nie träumte“, nimmt Zuflucht zuerst zu einem nicht ganz unbedenklichen weisen Mann (Þorleif erscheint später, wenn auch auf der ,guten‘ Seite, noch einmal in Verbindung mit Magie, und seine Sippe zeichnete sich durch eine gewisse Distanz zu Harald Schönhaars Geschlecht aus) und dann zu Schweinen. Zumal im Kontext heidnischer Zauberkunst dürfte die biblische Assoziation zu den Schweinen als unreinen Tieren unmittelbar gewirkt haben; namentlich sind dies die gadarenischen Schweine aus den Evangelienberichten, in welche Jesus die unreinen Geister verbannt, von denen er die Besessenen jenseits des Sees Genezareth befreit hat, worauf die Schweine, rasend geworden, sich ins Wasser stürzen und ertrinken.7 Es gibt keinen Anlass, eine so groteske Szene wie den auf der Suche nach Präszienz im
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aümbroit… („Ein Baum erspross aus meinem Körper und wuchs hoch gegen den Himmel, und der Schatten, den er warf, beschattete die ganze Normandie…“ Ähnlich über Ida von Boulogne, die Mutter Gottfrieds von Bouillon; vgl. Duby, Frauen im 12. Jahrhundert (1999), 298. HsSv c. 7. Mt 8,28ff.; Mc 5,1ff.; Lc 8,26ff.
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Schweinehaus nächtigenden König irgendwie lebensweltlich erklären zu wollen, und so muss man annehmen, dass Snorri hier die hehre Wirkung des königstreuen Traumgesichts subvertiert. Eine von solchen Kreaturen inspirierte Zukunftsschau ist jedenfalls keine, der man gern vertraut, und wenn diese Zukunftsschau berichtet, was laut der communis opinio des 13. Jahrhunderts tatsächlich eingetroffen ist, so wirft der Schweinestall einen Schatten auf die gesamte norwegische Königsgeschichte. Nun ist Snorri ein Meister des indirekten Kommentars; sehr selten werden in der Heimskringla überhaupt Urteile über die beschriebenen Personen gesprochen, meist als knappes epilogisches Resümee nach ihrem Tod (und diese häufig als Urteil anderer gebracht: „Viele Leute sagten, dass...“). Hier folgt ein solcher Epilogos ausnahmsweise auf den oben zitierten Traum. Hálfdan wird darin – scheinbar unverbunden mit den vorhergehenden und der folgenden Passage, in der es um die Geburt Haralds geht – als großer und gerechter Gesetzgeber (vizkumaðr mikill ok sannenda) gerühmt, der sich auch selber an seine Gesetze hielt und dafür sorgte, „dass Gewalt nicht die Rechte umstürzen konnte“ (at eigi mætti ofsi steypa lögunum). Ja, mit der Einführung fester Bußtarife wird er hier zum Urheber der norwegischen Landschaftsrechte, wie sie noch im 13. Jahrhundert als gültig angesehen wurden.8 Man geht wohl nicht fehl anzunehmen, Snorris zeitgenössisches Publikum habe mehr oder minder bewusst die gedankliche Verbindung zu dem legislatorisch sehr aktiven Königtum seiner eigenen Zeit hergestellt. Welcher Art diese Verbindung aber ist, welchen Kommentar Snorris Erzählung über das Königtum seiner Zeit abgibt, ist – wie immer bei Snorri – nicht eindeutig auszumachen. Deutlich geworden ist nur, dass er den herkömmlicherweise mit enkomiastischer Wirkungsabsicht erscheinenden genealogischen Träumen der Herrschereltern – und namentlich des Vaters – einen recht drastischen Beigeschmack gibt. Eine der solchermaßen in Snorris Bericht von den prämonitorischen Träumen um Harald Schönhaars Geburt angelegten Lesarten ist sicherlich, dass die Mutter einen wichtigen, vielleicht den wichtigeren Beitrag leistet. Ist es doch sie, die (wie die Mutter Wilhelms des Eroberers) das in einem alleuropäischen Idiom verbindliche und somit Legitimität reklamierende Traumgesicht mit dem Dorn hat, ganz ohne Schweine und heidnische Magie. Über Haralds Kindheit sagt Snorri außerdem ausdrücklich: „Seine Mutter liebte ihn sehr, sein Vater hingegen minder“ (móðir hans unni honum mikit, en faðir hans minna). Diese Aussage ist selbstverständlich nicht als Beleg für elterliche Affektdisposition zu lesen; vielmehr unterstützt sie die textstrategisch aufgebaute Tendenz, Haralds Muttererbe gegenüber dem Vatererbe einen mindestens gleichen Rang zuzumessen. Die Königsfrau Ragnhild ist nämlich, wie Snorri direkt vor ihrem Traum präzisiert, über ihre Mutter die Enkelin des mächtigen jütischen Herrschers Klakk-Harald – des aus der Vita Anskarii und Adam von Bremen bekannten Harald ‚Klak‘, den Ludwig der 8
Vgl. HsGr c. 11. – Hálfdan stirbt erst zwei Kapitel später bei dem Versuch, bei Tauwetter einen zugefrorenen Fjord zu queren.
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Fromme 826 in Ingelheim getauft hatte – und somit die Nichte der Königin Þyri Danmerkar bót (Thyra Danebod), Gattin Gorms des Alten und Mutter Harald Blauzahns, der seinem großen Runenstein in Jelling zufolge „sich ganz Dänemark und Norwegen unterwarf und die Dänen zu Christen machte“.9 Zu Snorris Zeit waren die Könige von Jelling, ihr Runenstein und ihre Position als Ahnherren der dänischen Königsmacht wohletabliert; die nur wenig älteren dänischen Geschichtsschreiber Saxo Grammaticus und Sven Aggesen brachten die Geschichte von Thyra, der Erbauerin des Dannewerks, und Harald, dem Reichseiniger Dänemarks, in die bis ins spätere 20. Jahrhundert verbindliche Fassung. Snorri schreibt die Geschichte der norwegischen Könige als einen kontinuierlichen Wettstreit mit den Königen in Dänemark (Harald Schönhaars Nachfolger bis hin zu den Königen des zwölften Jahrhunderts müssen sich in teilweise bewaffneter Weise mit den dänischen Ambitionen im Norden auseinandersetzen) und sorgt daher schon hier und noch mehrfach für die gebotene Ansippung seiner Könige an das dänische Königshaus – man denke an die einleitend erwähnte, ebenfalls Ragnhild genannte jütische Königstochter, um derentwillen Harald Schönhaar Gyða und die anderen verstieß. Aber das Thema des Muttererbes geht über die Figur der Ragnhild und den konkreten Ansippungszweck hinaus. Auch von Haralds Vater, Hálfdan dem Schwarzen, nämlich berichtet Snorri, dass er, im Kleinkindalter vaterlos geworden, zunächst dank seiner die Initiative übernehmenden Mutter Ása das in deren Linie vererbte Kleinkönigreich übernahm und somit zu seiner Ausgangsbasis machte, von der aus er später im Leben erfolgreich sein Vatererbe reklamieren konnte. Was Snorris Erzählung von Mutter und Großmutter des Harald Schönhaar vermittelt, ist also: Die Königsmutter vermittelt ,Liebe‘ und konkret die Wahrung und Verteidigung des Erbes, wenn der König noch minorenn und hilflos ist, und darüber hinaus eine hilfreiche Verwandtschaft sowie numinosen Segen. Das vielbeschriebene, in der Welt der Heimskringla eine gewichtige argumentative Rolle spielende ,Königsheil‘ wird zwar wesentlich in der männlichen Linie vermittelt; ja, wie die Geschichte der Deutungen nordeuropäischen Königtums im früheren Mittelalter wieder und wieder zeigen, liegt in der Erwartung der Vererbbarkeit dieses Heils geradezu das Rationale hinter dem Prinzip des Erbgangs des Königsnamens in männlicher Linie. Kann ein König für jene Verbindung von Prosperität und Sicherheit sorgen, die in der Heimskringla (und anderswo) mit der Wendung ár ok friðr „gute Ernte und Frieden“ bezeichnet wird, beweist er damit, dass er ársæll, „jahrselig“ ist: dass es zu seinem Wesen gehört, für gute Ernte und Frieden zu sorgen, und dass sein fortgesetztes Königtum den Fortbestand dieser günstigen Konjunktur garantiert.10 9 Zu den verschiedenen Berichten über Ragnhilds Abstammung vgl. Krag, Norges historie (2000), 215; zur Kritik an der traditionellen Sicht der Jelling-Dynastie vgl. zuletzt Sawyer/Sawyer, A Gormless history? (2003). In diesem Zusammenhang geht es aber um die rezipierte Version der mittelalterlichen Historiographie. 10 Vgl. Hoffmann, Die heiligen Könige (1975), 90; Røthe, Odinskriger (1999). Es ist nicht nötig, die Vorstellung allein auf alttestamentliche Vorgaben zurückzuführen, obgleich die Sicht auch die lateinischsprachige Chronistik und Hagiographie des Nordens prägt (vgl. Ælnoth, Vita Cnutonis, in:
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Auch Harald Schönhaars Vater, Hálfdan der Schwarze, ist bei Snorri selbstverständlich „der ,jahrseligste‘ (ársælstr) aller Könige“; ja, die Mächtigen in seinem Reich waren überzeugt, dass noch seine Leiche ihren jeweiligen Ländern „Jahrgunst“ bringen würde (þótti þat vera árvænt þeim), und einigten sich auf eine Vierteilung des toten Königs. Diese vorchristliche Präfiguration eines Reliquienkults lässt wie Snorris vorhergegangene Andeutungen dubioser Dämonik das vorderhand ehrerbietige Herrscherlob etwas zwielichtig erscheinen. Die Rolle Harald Schönhaars als Einigungskönig war um 1200 so zweifelsfrei etabliert, dass es ausgeschlossen war, seinem Vater das Königsheil streitig zu machen. Wie sich einzelne Schreiber, Schriften, Rezipienten, einzelne ,Diskurse‘ zum Königtum stellten, schlug sich dann in der jeweiligen Ausprägung der Darstellung Haralds und gegebenenfalls von dessen Vorfahren nieder.11 Der Reiz gerade von Snorris Königsgeschichte liegt zu einem guten Teil darin, dass er einer bereits in großen Zügen fixierten Überlieferung durch zahlreiche Wirkmittel seine charakteristische Uneindeutigkeit unterlegt. Haralds Eltern sind eines von vielen Beispielen dafür. Es entbehrt nicht einer sinistren Ironie, dass König Hákon Hákonarson (r. 1217–1263) – der König, der 1239 den Mordbefehl gegen Snorri Sturluson gab – sich ausweislich seiner von Snorris Neffen und politischem Hauptgegner Sturla Þórðarson verfassten Lebenssaga auf dem Totenbett, als es ihm zu anstrengend wurde, dem lateinischen Text der Heiligenviten zu folgen, aus den volkssprachlichen Königssagas vorlesen ließ, „angefangen bei Hálfdan dem Schwarzen“. Die Geradlinigkeit der königlichen Traditionslinie war ein Anliegen, das in Frage zu ziehen ein tödliches Risiko darstellte.
Königliches Blut Der von Ragnhild erträumte Baum über Norwegen hat einen Stamm: ihren Sohn Harald. Die einmütige Entschlossenheit des mittelalterlichen Norwegen, den schönhaarigen Reichseiniger als obligatorischen Spitzenahnen jeder späteren Königslinie anzusehen, ist im europäischen Vergleich wohl einzigartig. Alle anderen Königtümer haben einen gelegentlichen Linienwechsel ertragen und gegebenenfalls mit späteren Ansippungs- und/ oder bravourösen Entmachtungserzählungen gewissermaßen meritokratisch legitimiert, wenn nicht der Herrschaftswechsel von einem regnum oder einem Haus zum anderen überhaupt als unproblematisch oder sogar vorteilhaft betrachtet wurde. Selbst die anderen skandinavischen Königtümer – die ebenfalls von der Praxis bestimmt waren, dass ein neuer König aus der Schar der Nachkommen früherer Könige in männlicher Linie zu AASS Jul. 10, c. 32, und in Abhängigkeit davon Chronicon Roskildense, in: SM, Bd. 1, 1–33, c. 11) und sie in ganz Europa bis ins Spätmittelalter anzutreffen ist (vgl. Erkens, Heißer Sommer [2003], 29–46). Zur Frage des nordischen Sakralkönigtums vgl. Kap. 5. 11 Diese reservierte Haltung ist besonders ausgeprägt in den ‚Isländersagas‘. In diesem Falle ist zu bemerken, dass der Isländer Snorri der einzige ist, der Hálfdans rituelle Vierteilung berichtet (und demnach wohl erfunden hat); vgl. Heimskringla, Bd. 1 (1941), 93 Anm. 2.
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suchen sei („Geblütsrecht“) – haben sich mit weniger weit reichenden Rekursen begnügt. Während das schwedische Königtum überhaupt erst im 13. Jahrhundert aus einer Allianzaushandlung zweier rivalisierender Sippen entstand und auf die historiographisch fixierte Etablierung genealogischer Konsequenz, soweit wir wissen, ganz verzichtet hat, ist in Dänemark der Königsname seit dem späteren elften Jahrhundert ohnedies nur in einem – genealogisch betrachtet – sehr engen Kreis umstritten gewesen, dessen Mitglieder sich alle unproblematisch auf König Sven Estridsen (r. 1047–1074 od. 1076) zurückführen ließen. Dieser wiederum war, wie es in seinem Metronym „Astrid-Sohn“ zum Ausdruck kommt, mütterlicherseits der Enkel Knuts des Großen, während sein Vater ‚nur‘ ein Gefolgsmann und Günstling desselben Königs war. In den hochmittelalterlichen Chroniken und Annalen wird Svens Königswürdigkeit mit seinen Tugenden und/ oder seinen Siegen über die zeitweise auch in Dänemark herrschenden Norwegerkönige Magnus und Harald, Sohn und Bruder Olavs des Heiligen begründet, ohne dass irgendwo eine väterliche Abstammung etwa vom Bekehrerkönig Harald Blauzahn oder einem der zahlreichen heldisch-heidnischen früheren Dänenkönige konstruiert würde. In Norwegen war dies, wie gesagt, unweigerlich der Fall.12 Wo allein die putative Abstammung von einem einzigen Reis zählt, wo – um in Ragnhilds Traumbild zu bleiben – jeder Zweig des mächtigen Geästs, das auf Harald Schönhaars Stamm zurückgeht, mit den gleichen Ansprüchen begabt ist, da bleibt kein Platz für konkurrierende Wertigkeiten wie etwa die Frage, was für einer Verbindung ein solcher Sprössling entstamme und wie sie legitimiert sei. Die Norweger noch des 13. Jahrhunderts hätten über ihr Königtum die berühmten Worte des Gregor von Tours wiederholen können: „Wo immer die Frauen hergekommen sein mögen – wer von einem König gezeugt ist, heißt Königskind.“13 Infolgedessen ist Norwegen ein zur Beobachtung hochmittelalterlicher Polygynie sehr gut geeignetes Feld. Selbstverständlich ist damit noch keinesfalls gesagt, dass es im Norden Europas, lebensweltlich betrachtet, mehr Fälle von (aristokratischer) Polygynie gab als anderswo; wohl aber sind die Überlieferungschancen für solche Fälle erheblich größer, wo die Weiterungen polygyner Beziehungen eines Mächtigen von zentraler politischer Bedeutung sind. 12 Sven war der Sohn von Ulf Jarl/comes und Astrid/Estrid, der Tochter Knuts des Großen. Seine Bezeichnung schwankt, doch es dominiert das Metronym: Annales Ryenses: Suen Estraethson; Annales Lundenses: Swen filius Æstrith; Annales Ripenses: Suen Estrithson, filiu[s] Ulff comitis Anglie de sorore Gamælæknut; daneben auch oft in der Nachfolge der benediktinischen Vita Knuts des Heiligen des Ælnoth: Sweno Magnus. In der Knýtlinga saga, der altnordischen Geschichte der Dänenkönige aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, steht hingegen durchweg Sveinn Úlfsson, was auf das allgemeine Bestreben der Saga nach einem konsistent-konservativen Partikularstil zurückzuführen sein dürfte. – Der Gebrauch des Mutter- statt des üblichen Vaternamens ist selten, aber nicht ungewöhnlich; er wird anscheinend vorgezogen, wenn die mütterliche Abstammung eine besonders glänzende ist – was hier zweifellos der Fall ist. 13 Historiae V, 20: praetermissis nunc generibus feminarum, regis vocitantur liberi, qui de regibus fuerant procreati.
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Tatsächlich ist überraschend, in welchem Maße die Geschichte des norwegischen Königtums von der Polygynie geprägt ist. Nach einer von Jenny Jochens vorgenommenen Zählung14 haben in dem Zeitraum 1130–1240 – zu einer Zeit also, da ein ,illegitimer‘ Anwärter in den meisten lateineuropäischen Reichen nur äußerst geringe Aussichten auf Akzeptanz hatte – sechsundvierzig Männer unter Hinweis auf ihre königliche Herkunft den norwegischen „Königsnamen“ beansprucht. Häufig teilten sich (Halb-) Brüdergruppen in mehr oder minder gutem Einvernehmen für einige Zeit die Herrschaft, oder es kam auf den verschiedenen regionalen Rechtsversammlungen zu konkurrierenden Erhebungen, woraus sich Konflikte ergaben, die gewöhnlich mit Waffengewalt oder zumindest ihrer Androhung ausgetragen wurden. Unter diesen Umständen bedeutete die „Königsnahme“ (konungstekja) für einen Anwärter zumeist eher die Kampfansage an die Konkurrenten als die Besiegelung eines tatsächlichen Erfolgs. Nur knapp die Hälfte, vierundzwanzig an der Zahl, setzte ihren Anspruch zumindest lokal und/oder zeitweilig durch, und nur zwei (Sverrir, r. 1177–1202) und Hákon IV. Hákonarson (r. 1217–1263) etablierten sich dauerhaft reichsweit. Nach Jochens’ Zählung nun stammen von den 46 Prätendenten zwölf oder dreizehn aus „legitimen Ehen“, von den 24 erfolgreichen nur fünf (die beiden besonders erfolgreichen, Sverrir und Hákon IV., sind nicht unter ihnen). Von diesen fünfen nun benutzten vier ihre ,legitime‘ Geburt als zusätzliches Argument zur Stärkung ihrer ansonsten etwas schwächeren Ansprüche: drei stammten lediglich indirekt und in der weiblichen Linie von einem König ab, der vierte war der Halbbruder eines Königs. Von den 24 norwegischen Königen dieses Zeitraums war nur ein einziger, nämlich Ingi krókrygg („Krummrücken“, r. 1136 –61) ein Königssohn aus ,legitimer Ehe‘.15 Knapp drei Viertel aller Prätendenten und vier Fünftel derer, die sich durchsetzten, waren hingegen von ,illegitimer‘ Geburt, oder besser: sie stammten aus serieller oder simultaner Polygynie. Dies ist nicht der Ort, diese Beziehungen zu inventarisieren16; auf viele von ihnen wird an gegebenem Ort einzugehen sein. Es dürfte jedoch rein mengenmäßig deutlich geworden sein, dass ein wesentliches Movens der – im europäischen Vergleich betrachtet – so einzigartig ausführlichen Art, von Nebenfrauen zu schreiben, mit eben dieser politischen Relevanz zu tun hat. Es ist nicht allein so, dass die moraltheologisch ausgerichtete Pastorale im hochmittelalterlichen Skandinavien aus den ver14 Jochens, Politics of reproduction (1987), 340. 15 Man könnte mutmaßen, ob dieser Umstand dazu beitrug, dass sein Königtum trotz seiner ernsten Behinderung – als Zweijähriger war er in eine Schlacht mitgenommen und dabei so straff auf den Rücken eines Kriegers geschnürt worden, dass sein Knochenwuchs dadurch irreparabel geschädigt wurde – zu den erfolgreicheren der Zeit gehört. Doch dem Bild zufolge, das die Historien und Sagas von ihm zeichnen, bewies er ungewöhnliches politisches Geschick und – wichtiger – eine staunenswerte Fähigkeit, seine Getreuen an sich zu binden. Schieres Talent dürfte seine Behinderung wettgemacht haben; es gibt auch keinen Anhaltspunkt dafür, dass die ,Legitimität‘ seiner Geburt als Argument gebraucht worden wäre. 16 Vgl. dazu Ebel, Konkubinat (1993), 63–71.
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schiedensten (teilweise auch organisatorisch-medialen) Gründen relativ geringe Verbreitung fand. Schon gar nicht ist es möglich, dies im Sinne eines Entwicklungsmodells von Geschichte diffusionistisch als kulturelle ,Verspätung‘ der Rezeption von im Umkreis der italienischen und westmitteleuropäischen Reformer geprägten neuen Haltungen zu deuten, wie es implizit selbst Jochens tut.17 Natürlich konnte die Existenz der nordeuropäischen Königspolygynie von hochmittelalterlichen Zeitgenossen beobachtet und unter Rückgriff auf Einhard und Gregor von Tours in einen diachronen Vergleich gebracht werden, was den Beobachtern erlaubte, die Zustände im Norden im Rahmen des eusebisch-orosianischen dilatatio-Modells als barbarische Verspätung aufzufassen. Missbilligende Stimmen aus benachbarten, ,avancierteren‘ Teilen Europas lassen sich nämlich zwar durchaus vernehmen. So wusste Roger von Hoveden 1194 zum norwegischen Parteienkrieg zwischen König Sverrir und seinen zahlreichen Herausforderern zu berichten, man müsse wissen, dass es in Norwegen „bis zum heutigen Tag“ der Brauch sei, alle diejenigen, von denen eine königliche Vaterschaft allgemein bekannt sei, gleichermaßen das Königtum beanspruchen könnten, „der von einer Unfreien geborene Uneheliche ebenso wie der Königssohn aus der Ehe mit einer Freien“. Darum gebe es dort unablässig Krieg, bis jeweils einer siegreich und einer tot sei.18 Adam von Bremen macht hundertzwanzig Jahre zuvor eine ähnliche Beobachtung über die Konkubinensöhne Knuts den Großen, die „nach barbarischem Brauch“ ebenso viel vom väterlichen Dreikönigreich erbten wie ihr Halbbruder, dessen Schwester zudem die Gattin Kaiser Heinrichs III. werden sollte.19 Später räumt Adam ein, selbst König Sven Estridsen, den er als lernwilligem Neophyten zuweilen geradezu liebevoll zeichnet, habe zwar alle „Belehrungen“ des hamburgisch-bremischen Erzbischofs Adalbert bereitwillig angenommen – allein zu Völlerei und Frauen, „Laster, die in der Natur dieser Völker liegen“, habe er sich nichts sagen lassen.20 Der kulturdiffusionistische Grundton erklingt also unisono – man muss ihm also misstrauen. Allzu einleuchtend scheint es nämlich, die in dieser Frage ganz kongruenten Modelle eines Adam von Bremen und eines Snorri Sturluson, partibus pro toto, zu akzeptieren und eine ,polygyne Frühzeit‘ anzunehmen, die mehr oder minder mit paganer Kultur korreliert. Dieses Fortschrittsnarrativ gehört zu den zwingendsten Großerzählun17 Jochens, Politics of reproduction (1987), 332: „The peoples of Scandinavia... maintained the older reproductive pattern longer than did the rest of Europe.“ 18 Roger von Hoveden, Gesta regis Henrici secundi, Bd. 3, 270: Est etiam sciendum, quod consuetudo regni Norweiæ est usque ad hodiernum diem, quod omnis qui alicuius regis Norweiæ dinoscitur esse filius, licet sit spurius, et de ancilla genitus, tantum sibi ius vendicat in regnum Norweiæ, quantum filius regis coniugati, et de libera genitus. Et ideo fiunt inter eos prælia indesinenter, donec unus illorum vincatur et interficiatur. Vgl. Storm, Kong Sverres fædrene herkomst (1904). 19 Adam von Bremen II, 74: ut mos est barbaris. 20 Ebd. III, 21: omnia, quae de scripturis ab illo proferebantur, subtiliter notans retinensque memoriter, excepto quod de gula et mulieribus, quae vitia naturalia sunt illis gentibus, persuaderi non potuit. ,Barbarisierend‘ auch Ælnoth c. 1 und Dudo von Saint-Quentin I, 1.
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gen unserer Geschichte. Ob nun das bürgerliche Zeitalter den sittlichen Fortschritt des Menschengeschlechts im allgemeinen und Skandinaviens im besonderen feiert (so der in der Einleitung zitierte Nobelpreisträger Bjørnstjerne Bjørnson) oder heute umgekehrt im Zeichen des sexuellen Libertinismus eine unverklemmte und emanzipierte Wikingerzeit dem „alles Üppige, Farbenfrohe und Sexuelle verneinenden“ christlichen Mittelalter mit seiner „streng pietistischen selbstverneinenden Lebenshaltung“21 gegenübergestellt wird: Einigkeit herrscht, dass jenes durch Triebkontrolle und Monogamiegebot markiert sei, diese also durch deren Abwesenheit geprägt sein müsse. Zügellos sind nämlich immer die ‚Anderen‘ – und die hören das, jedenfalls heutzutage, gern. Aber auch wenn man die Vorzeichen ändert, bleibt die Gleichung bestehen. Und gerade weil hier offenkundig ein für heutige identitäre Debatten wichtiger Punkt verhandelt wird (Frauenrechte, sexuelle Freizügigkeit, bürgerliche Selbst- bzw. Fremdkontrolle, religiöse Verbindlichkeiten, Norden/Europa), gerät angesichts der scheinbaren Evidenz dieser kulturalen Antinomie leicht aus dem Blick, dass für Fragen der sexuellen Normen und Praktiken – wie für beinahe alle sozialen Verhältnisse des vorchristlichen Nordeuropa – die Quellenbelege äußerst dürftig sind. Das übereinstimmende Bild einer in der vorchristlichen Zeit tatsächlich häufigeren und vor allem wesentlich zentraleren Polygynie, das etwa die Sagas oder Saxo Grammaticus zeichnen, eignet sich zunächst nur als Beleg für die Wahrnehmung und Darstellung der paganen Vergangenheit im Hochmittelalter, keinesfalls aber als direkter Aufschluss über die Zeit vor dem elften Jahrhundert. Im Gegenzug betreffen die präzisen Auskünfte über die Königsfähigkeit ,illegitimer‘ Söhne zumeist das 12. und 13. Jahrhundert. Obgleich ich mir wiederum diese Ansicht nicht zu eigen machen würde, wäre es streng genommen möglich zu behaupten, die Königsfähigkeit von Frillensöhnen habe sich, vielleicht unter dem Eindruck der Rezeption biblischer oder historischer (merowingischer, karolingischer) Vorbilder, überhaupt erst in der christlichen Epoche herausgebildet. Die Behauptung wäre ebenso schwer zu belegen (oder zu widerlegen) wie ihr weit verbreitetes kulturdiffusionistisches Gegenteil. In jedem Fall darf nicht davon ausgegangen werden, dass es sich bei der offenen Herrscherpolygynie und der Befähigung der Nachkommen aus solchen Beziehungen in Nordeuropa um Residua handelt. Und: Selbst wenn es sie schon im neunten Jahrhundert gab, ist damit noch nicht erklärt, warum es die Polygynie (als Praxis und/oder Gegenstand narrativer Selbstverständigung) auch im 12. und beginnenden 13. Jahrhundert gab. Auch ein wandlungsre21 Ein Beispiel für diese öffentlichen Debatten: 1995 brachte der junge Choreograph Øyvind Jørgensen, dessen Äußerungen hier zitiert werden, das Tanztheaterstück „Brytningstid“ („Umbruchzeit“) auf die Bühne. Das von der für die Staatskirche das Christianisierungsjubiläum organisierenden Stiftung „Kyrkja i Noreg 1000 år“ in Auftrag gegebene Stück durfte nach seiner Vorpremiere auf dem Theaterfestival in Bergen und den heftigen Kontroversen im Anschluss nicht mehr im Rahmen des Jubiläumsprogramms aufgeführt werden. Anstoß erregte neben den S/M-Kostümen der Asengottheiten vor allem der einen halben Meter lange Plüschphallus des Fruchtbarkeitsgottes Frøy. Die Kontroverse dokumentiert Losnedahl, Brytningstid (2001), hier 66.
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sistentes Phänomen erklärt sich nicht von selber – umso mehr, als sich in anderen Teilen Lateineuropas in dieser Hinsicht ja ein deutlicher Wandel abzeichnet. In Postkarolingien und England waren Nachfolger in den weltlichen Eliten im zwölften Jahrhundert in aller Regel ‚legitim‘, galt eine bestimmte Form monogamer Geschlechtsbeziehung (matrimonium legitimum, „Ehe“) als wesentliches Konstituens ‚legitimer‘ Geburt, und Ausnahmen von der Regel waren selten und hatten es schwer, selbst wenn das Prinzip hohe politische Kosten verursachte: England hätte ruhigere Jahre gehabt, wenn 1135 der „Bastardsohn“22 Robert von Gloucester auf seinen Vater Heinrich I. hätte folgen können, statt dass sich ein anderthalb Jahrzehnte währender Thronstreit zwischen der Tochter und einem Neffen des toten Königs (‚Kaiserin‘ Mathilde und Stephan von Blois) entsponnen hätte. Auch diese kulturelle Wahl – der Wandel von der Zeit Gregors von Tours zum westmitteleuropäischen hohen Mittelalter – ist mit einem Fortschrittsmodell allenfalls beschreib-, nicht aber erklärbar. Es fällt uns nur weniger auf, dass es sich hier keineswegs um einen selbstverständlichen oder auch nur naheliegenden Wandel handelt. Allzu wenig lädt der Begriff der ‚legitimen Geburt‘, mit dem wir den Erfolg einer Herrschernachfolge erklären wollen, zur Hinterfragung ein: Wie und warum gilt eine bestimmte Geburt als ‚legitim‘?23 Mit Adam von Bremen, Roger von Hoveden und Snorri Sturluson sind schon einige hochmittelalterliche Beobachter zu Wort gekommen, die räumlich oder zeitlich unterschiedliche Antworten auf diese Frage reflektiert haben. Im Folgenden geht es bei der Untersuchung des ‚generativen‘ Aspekts von Polygynie – also dem Blick auf die Zeugung und Geburt von Nachkommen – auch hierum. Wie bei den übrigen, anschließend zu behandelnden Aspekten richtet sich der Blick primär auf die die Polygynie auch diskursiv pflegenden Teile Lateineuropas (hier also vor allem den Norden); damit sind aber, zunächst nur implizit, auch jene anderen Teile angesprochen, die über Polygynie nur mehr wenig (und regelmäßig als eine Sache ‚Anderer‘) reden und in deren Nachfolgeordnungen sie auch anscheinend ihren Platz verloren hat.
Dänischer Partikularismus : die Polygynie in den Chroniken Im Umkreis der Macht war man sich in Nordeuropa der Eigentümlichkeit der eigenen Sicht von Herrschaftsbefähigung im europäischen Vergleich offenbar durchaus bewusst. Wohl lassen die Sagas, zu deren genrehaften Charakteristika es gehört, von der Existenz anderer Lebensweisen möglichst gar keine Notiz zu nehmen – was den befremden22 So Jäschke, Anglonormannen (1981), 181. Seine Mutter ist nicht eindeutig zu benennen, plausibel scheint es, sie in der normannische Landaristokratie in Oxfordshire zu sehen; vgl. Crouch, Robert of Gloucester’s mother (1999), und unten, Kap. 6. 23 Vgl. die ausführlicheren Überlegungen in Rüdiger, Ægteskab (2010), und ders., Married couples (2012).
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den Effekt hat, dass man die Helden durch den außernordischen Teil Europas stets in einer Weise reisen sieht, die an die selbstsichere Ignoranz europäischer Weltreisender im Kolonialzeitalter erinnert –, wie so viele andere auch diesen soziokulturellen Unterschied unkommentiert. Selten sind die beiläufigen Zeugnisse dafür, dass man sich des Unterschieds durchaus bewusst war, etwa wenn die legendarische Genealogie Wilhelms des Eroberers, dessen Linie über Rollo/Hrólf auf einen Gefolgsmann von Harald Schönhaar zurückgeführt wird, präzisiert, dass Wilhelm den Beinamen „der Bastard“ hatte24 – nur die Franken konnten auf solch eine Merkwürdigkeit kommen. Anders sieht es in den lateinischen Texten aus. Für einen Vergleich eignet sich die norwegische Überlieferung hierbei allerdings kaum, da dort der reichen Produktion in nordischer Sprache lediglich zwei knappe Werke, die Historia de antiquitate regum Norwagiensium des Mönchs Theodoricus (um 1180) und die fragmentarische Historia Norwegiae (13. Jh.), gegenüberstehen.25 Wesentlich umfangreicher und vielfältiger ist die lateinische Historiographie für Dänemark, für das wiederum nur eine größere nordische Quelle, die um die Mitte des 13. Jahrhunderts entstandene Knýtlinga saga, vorliegt. Die dänischen Historiographen waren also bereits durch die von ihnen benutzte Sprache gezwungen, sich mit den tradierten und aktuellen kirchenrechtlichen Positionen zum Konzept der concubina auseinanderzusetzen. Der Vergleich der allgemeinen norwegisch-nordischen Nonchalance mit den diversen Strategien, zu denen sich dänische Autoren veranlasst fühlten, erweist dabei, dass die Unterschiede keineswegs ,evolutionär‘ verstanden werden können – etwa in dem Sinne, dass ein ,bereits‘ geschärftes Problembewusstsein unter den lateinisch gebildeten Klerikern in Dänemark einem ,noch‘ ungetrübt polygynen Norden gegenüberstünde. Eine solche Sicht verbietet sich schon deshalb, weil auch die norwegischen und isländischen Autoren hochgebildete, teilweise in den Zentren der westeuropäischen Intellektualität geschulte clerici waren. Doch auch inhaltlich zeigt die dänische Überlieferung, dass die dortige Bevorzugung des Lateinischen im Gegensatz zum in der nordatlantischen Region vorherrschenden nordischen Schriftsprache durchaus nicht bereits gleichbedeutend war mit einer größeren Akzeptanz konkomitanter inhaltlicher Positionen. Dies mag ein Durchgang durch die relevanten Chroniken, Annalen, Historien und Hagiographien zeigen. Die Mehrzahl – und, berücksichtigt man die textuellen Abhängigkeiten, der ‘mainstream’ – der bekannten Texte vertritt, was ich eine ,nonchalante‘ Haltung nennen möchte. Dies ist, wie bereits zu den Sagas angemerkt, keineswegs gleichbedeutend mit einer ignoranten Haltung; es ist davon auszugehen, dass das Konzept der Illegitimität qua Beziehungsform der Eltern als mögliches Problem durchaus bekannt war. Bereits in der Roskilde-Chronik, der frühesten erhalten dänischen historiographischen Quelle (um 1140), wird die Polygynie beinahe offensiv behandelt. Die Nachfolgeregelung Knuts des 24 HsH c. 24. 25 Beide Texte sind ediert in: Monumenta historica Norvegiæ (1880); letztere jetzt auch in: Historia Norwegie (2003).
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Großen (†1035) etwa, nach welcher sein ,ehelicher‘ Sohn Harthaknut aus der Verbindung mit Königin Emma das Königtum in Dänemark übernahm, während seine beiden ,unehelichen‘ Söhne aus der Verbindung mit der englischen Magnatentochter Ælfgifu von Northampton26, Harald und Sven, England respektive Norwegen erhielten, stellte eine Herausforderung dar. Adam von Bremen hatte indigniert kommentiert: „Nach [Knuts] Tod folgten ihm, entsprechend seiner eigenen Verfügung, seine Söhne in der Herrschaft, Harald in England, Sven in Norwegen und Hardeknut in Dänemark. Der hatte als Sohn der Königin Emma die spätere Gemahlin Kaiser Heinrichs zur Schwester. Sven und Harald dagegen waren Söhne einer concubina; nach barbarischem Brauch erbten sie jedoch unter den Kindern Knuts zu gleichen Teilen.“27 Die Roskilde-Chronik nun, die für das elfte Jahrhundert generell stark von Adams ,Hamburgischer Kirchengeschichte‘ abhängt, übernimmt diese Darstellung mit einer signifikanten Auslassung: „Nach dem Tode Knuts übernahmen seine drei Söhne die Herrschaft: Sven, den er von Alvia [Ælfgifu] hatte, regierte in Norwegen, Harald, ebenfalls ein Sohn der Alvia, in England, und Hardeknut, der Sohn der Emma, in Dänemark.“28 Eine schlichte Reihung also. Obgleich der Chronist in Dänemark schreibt, verzichtet er auf beide durch seine Vorlage gebotenen Möglichkeiten, den dänischen Erben gegenüber dessen Brüdern hervorzuheben: die Verschwägerung mit dem Kaiser und die ,legitime‘ Geburt. Die Nennung der Mütter erlaubte den Unterschied zu denken, aber er wird eben nicht explizit gemacht, obwohl sich das angeboten hätte. Diese Auslassung allein durch eventuellen dänischen Unwillen gegenüber Adams Bemerkung über den „barbarischen Brauch“ zu erklären, greift zu kurz, denn der Chronist hätte auch allein diesen Kommentar tilgen können. Kurz darauf wird die ,Illegitimität‘ gar ohne Not in den Vordergrund gerückt: Als der Sohn des heiligen Óláf Haraldsson, Magnús „der Gute“ (r. 1035–47) in Norwegen die Herrschaft übernahm und Knuts Sohn Sven und dessen Mutter, Knuts ,Nebenfrau‘ Ælfgifu das Land verlassen mussten, übernimmt die Roskilde-Chronik Adams Epitheton: „den Sohn des heiligen Olav von einer Konkubine“29 Man könnte meinen, dass der 26 Vgl. unten, Kap. 3 und 4. 27 Adam von Bremen II, 74: Post cuius mortem, ut ipse disposuit, succedunt in regnum filii eius, Haroldus in Angliam, Suein in Nortmanniam, Hardechnud in Daniam. Iste cum esset filius reginae, sororem habuit eam, quam cesar Heinricus in coniugium postea recepit. Ceterum Suein et Harold a concubina geniti erant; qui, ut mos est barbaris, aequam tunc inter liberos Chnud sortiti sunt partem hereditatis. Trillmich übersetzt concubina als „Nebenfrau“. 28 Chronicon Roskildense, in: SM, Bd. 1, 1–33, c. 9: Post mortem uero Kanuti tres filii eius regnare ceperunt; Sven, quem habuit de Aluia, regnauit in Normannia, Haroldus in Anglia, eciam filius Aluie, Hartha Knut in Dania, filius Ymme [Emma] – Wie bei Adam bezeichnet Nor(t)mannia hier Norwegen. Tatsächlich trug Sven im Gegensatz zu seinen Brüdern nicht den Königsnamen; seine Mutter übte in Norwegen eine Art stellvertretende Herrschaft für Knut aus, die nach dessen Tod umgehend zusammenbrach. 29 Ebd.: Interea Suen obiit in Norwegia, frater Harthe Knut; tunc Normanni elegerunt Magnum, filium sancti Olaui a concubina. – Adam von Bremen II, 77: tunc Nortmanni elegerunt Magnum, qui erat filius Olaph martyris a concubina.
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Hinweis auf Magnus’ Geburt de concubina hier mit pejorativer Wirkungsabsicht übernommen wurde, sollte sich doch später der Held der Roskilde-Chronik, Sven Estridsen, gegen eben diesen Magnus durchzusetzen haben.30 Doch so naheliegend diese Deutung als locus a persona scheint, ist sie doch schwer mit einer anderen Stelle in Übereinstimmung zu bringen, wo die Roskilde-Chronik zum „Martyrium“ des Olav Haraldsson in der Schlacht bei Stiklestad 1030 ausführt: „Ihm folgte in der Herrschaft sein Sohn Magnus, der von einer Konkubine geboren war; vom Alter noch ein Knabe, war er großherzig und von schönem Äußeren.“31 In dem Kontext der Würdigung Olavs des Heiligen als Bekehrer Norwegens und Wirker zahlreicher Wunder durch seine Reliquien ist offensichtlich keine Herabsetzung intendiert. Magnús’ Konkubinengeburt ist mindestens ein Adiaphoron. Dass sich mit der ausdrücklichen (und sprachlich-textlich unnötigen) Bezeichnung als Konkubinensohn womöglich vielmehr eine elative Wirkungsabsicht verbindet, entspräche zwar der rhetorischen Logik dieser Passage, kann aber allein anhand dieses einen Beleges nicht behauptet werden.32 Sven Estridsen schließlich, der nach dem Unfalltod seines Rivalen Magnús 1047 das dänische Königtum übernahm, ist der eigentliche ,gute‘ König der Roskilde-Chronik, gloriosus rex Danorum, Förderer des Bistums, Gönner des von dem Chronisten – er dürfte im Kanonikat der Domkirche zu suchen sein33 – verehrten Bischofs Sven ,Nordmann‘. Nun ist gerade Sven ein König, dessen Polygynie stets thematisiert werden muss, weil ihm fünf seiner Söhne von verschiedenen Müttern nacheinander in der Herrschaft folgten und weil deren Linien noch über hundert Jahre für Auseinandersetzungen zwischen Anwärterparteiungen sorgten. Einer dieser Söhne – in der Abfolge der zweite König – ist zudem Knut (IV., r. 1080–86), der, von seinen oppositionellen Verfolgern im Dom zu Odense erschlagen, wenige Jahre nach seinem Tod unter beträchtlichem Einsatz 30 Adam kann hier ein ähnliches Motiv zugeschrieben werden, denn der veracissimus rex Sven Estridsen, mit dem er lange Gespräche geführt zu haben angibt (I, 26; 28; 48, II, 61 u. a.), erfreut sich ja auch in den Gesta pontificum einer sympathetischen Darstellung. Das concubina-Motiv verwendet Adam auch anderswo zur Denigration (z. B. bei den Söhnen des Olav Schoßkönig in Schweden, II, 59); sein Interesse an und Respekt vor Olav dem Heiligen ist, vielleicht aufgrund des starken englischen und geringen bremischen Anteils an der frühen Phase von dessen Verehrung, nicht groß (II, 61). 31 Chronicon Roskildense c. 7: Qui dum regnum suum primus Christiane fidei subiugasset totum, a paucis in bello percussus gloriosam martyrii coronam est adeptus. Cuius corpus a fidelibus Throndemis [Nidaros, der heutigen Stadt Trondheim, in der Landschaft Þrándheim/Trøndelag] humatur, multis hodie miraculis illustratur. Cui filius in regnum successit, nomine Magnus, qui ex concubina erat genitus, etate puer, magnanimus, forma speciosus. 32 Die Möglichkeit einer Interpolation des Relativsatzes qui ex concubina erat genitus muss bedacht werden, ist m. E. aber als gering anzusehen. Die Stelle lautet in allen von Gertz kollationierten Handschriften, deren älteste er in das späte 13. Jahrhundert datiert, gleich; zudem wurde Olav als Heiliger mit der Zeit, insbesondere nach der kurz nach Abfassung der Roskilde-Chronik geschehenen Einrichtung des Erzbistums Nidaros (1152/53), immer unangreifbarer, während die politische Zweckmäßigkeit einer Schmähung seines Sohnes allmählich wegfiel. 33 Vgl. Gelting (Hrsg.), Roskildekrøniken (1979), 69ff.
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königlichen und episkopalen Engagements zum Heiligen gemacht wurde. Ohne dass der heilige Dänenkönig jemals die Popularität oder Wirkung seines offenkundigen Vorbilds Olav in Norwegen erreicht hätte, war doch die Nebenfrauengeburt des ersten dänischen Heiligen ein potentiell empfindliches Thema. Adam von Bremen, der sein Werk kurz vor der Zeit des dänischen Königsheiligen abschloss, kennt das Problem noch nicht; bei ihm wird Sven Estridsen – den er, wie gesagt, weitgehend positiv zeichnet – vor allem zum Träger derjenigen sexualmoralischen Haltungen, die aus der Perspektive der kirchenrechtlichen Entwicklung seit der Mitte des elften Jahrhunderts zu verurteilen waren: Inzest und Konkubinat. Erst unter dem Druck Roms, so Adam, gab Sven Estridsen der bis dahin vergeblichen Weisung des Erzbischofs Adalbert nach und löste die Ehe mit einer consanguinea aus Schweden, „aber trotzdem schenkte der König den Mahnungen der Priester kein Gehör; kaum hatte er seine Base entlassen, da nahm er sich andere und immer wieder andere Frauen und Nebenfrauen.“34 Nachträglich ergänzte Adam de mulieribus ein Exemplum zur Strafe für des Königs Verfehlung, das in mehreren späteren dänischen Geschichtswerken ein gewisses narratives Eigenleben entwickeln sollte35 und das, so topisch es scheint, als ereignisgeschichtlicher Beleg doch nicht gänzlich von der Hand zu weisen ist: Eine der Konkubinen namens Thore vergiftete die ,legitime Königin‘ Gude; Thores Sohn Magnus, vom Vater nach Rom gesandt, um dort die Königsweihe zu empfangen, starb auf dem Weg; Thore gebar zeitlebens keinen Sohn mehr.36 Kurz wie sie ist, enthält die Geschichte einige interessante Punkte. Zunächst wird einmal mehr die Vielzahl der Konkubinen betont. Das stellt Sven, den Organisator der dänischen Diözesen, im Guten wie im Bösen in die (an anderer Stelle explizite) Nachfolge Salomos; es schließt zugleich jeden kirchenrechtlich mildernden Umstand im Sinne des toledanischen, noch im zwölften Jahrhundert rezipierten Rechtssatzes der concubina pro uxore aus: Sven hat sich keineswegs „mit der Verbindung zu [nur] einer Frau, sei sie Gemahlin oder Konkubine, begnügt“.37 Der Name des „Konkubinen“sohnes, Mag34 Adam von Bremen II, 12: nec tamen rex sacerdotum admonitionibus aurem prebuit, sed mox ut consobrinam a se dimisit, alias itemque alias uxores et concubinas assumpsit. – Consobrina muss hier im Sinne eines Terminus technicus verstanden werden: „in als verboten deklariertem Grade verwandte Kognatin“. 35 Vgl. Annales Lundenses (redigiert im späten 13. Jh.), s. a. 1053; dänische Bearbeitung der Annalen von Rüdekloster (Anfang 14. Jh.), s. a. 1074, in: DMA, 54 und 193. 36 Adam von Bremen, Schol. 72: Nec tamen illi malo defuit ultio, quia una ex concubinis, legitimam Gude reginam veneno extinxit. Cumque rex Suein filium Thore, Magnum vocabulo, Romam transmitteret, ut ibi consecraretur ad regnum, infelix puer in via defunctus est, post quem mater impia non suscepit alium filium. 37 I. Toletanum c. 17: Si quis habens uxorem fidelis concubinam habeat, non communicet: ceterum is qui non habet uxorem et pro uxore concubinam habet, a communione non repellatur, tantum ut unius mulieris, aut uxoris aut concubinae, ut ei placuerit, sit coniunctione contentus. Mansi III 1001, zitiert nach Caselli, Concubina pro uxore (1964–65); vgl. fast gleichlautend Decretum Gratiani D 34,4.
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nus – er wurde seit dem elften Jahrhundert zunächst im norwegischen, dann auch im dänischen Königshaus in gelegentlich ausdrücklichem Anschluss an Karl „den Großen“ gebraucht, und Sven Estridsen selber wird gelegentlich (besonders bei Ælnoth) Swenomagnus genannt – deutet darauf hin, dass er durch Geburt als königsfähig betrachtet wurde. Adams Geschichte bestätigt auf ihre Weise genau dies – wenn auch eine Weihe in Rom für dänische Verhältnisse kaum in Frage kommt, ja die erste sakrale Krönungszeremonie dort erst 1170 stattfand).38 Auch die Namen der Frauen, Þóra und Gyða, sind sehr gängige zeitgenössische Namen.39 Da von einer ,legitimen‘ Königin Sven Estridsens (mit Ausnahme der von Adam erwähnten verstoßenen consobrina) nichts bekannt ist, dürfte Guthes von Adam behauptete Eminenz mehr auf ihrer Stellung am Königshof als auf einem kategorialen Unterschied beruht haben. Das macht den von Adam berichteten Handlungsverlauf nur umso plausibler. Denn gewiss konnte der Bremer Domherr die Geschichte von der Ermordung einer erfolgreicheren Rivalin aus Gregor von Tours oder einer anderen Quelle schöpfen; angesichts des Umstandes, dass Adam andernorts wiederholt auf den König als direkten Gewährsmann hinweist, ist der Grundgehalt der Scholie mit ihrem überzeugenden onomastischen Kolorit als ein seltener Einblick in die agonistische Atmosphäre unter den Frauen des Königs jedoch glaubhaft. Als dann einer der Söhne Sven Estridsens, Knut, nachträglich zum Heiligen wurde40, rückte die mulierum incontinentia (Adam) des Vaters auf ganz neue Art in den Mittelpunkt des Interesses – war dies doch die Zeit, da sich kirchenrechtlich die Auffassung durchsetzte, die Konkubinengeburt des neuen Königsheiligen debilitiere ihn für die meis38 Hoffmann, Königserhebung (1976), 29f., akzeptiert Adams Darstellung einschließlich des Zwecks der Romfahrt und sieht in ihr den Versuch Sven Estridsens, schon bei Lebzeiten zuungunsten aller anderen Söhne einen Nachfolger zu designieren. Der Plan sei an Magnus’ Tod gescheitert, worauf Sven stattdessen die Magnaten des Reiches verpflichtet habe, seine Söhne einen nach dem anderen zu wählen und damit das Geblütsrecht zumindest ein wenig einzuschränken. Meines Erachtens wird Magnus’ Fahrt bei Adam etwas zu beiläufig und zu sehr in Abhängigkeit von dem Thema der Strafe für die giftmörderische Mutter behandelt, um allein als Zeugnis für ein so weitreichendes politisches Vorhaben herangezogen werden zu können. Darüber hinaus wird nicht ganz klar, warum Sven ausgerechnet zu dem in anderen Reichen zwar bereits bekannten, im dänischen Kontext aber ganz fremden Mittel einer Romfahrt mit dortiger Salbung hätte greifen sollen, die auf die heimischen Adressaten wenig Eindruck machen konnte, statt den designierten Sohn in Anlehnung an den Brauch etwa auf einem Thing ,wählen‘ zu lassen, ggf. unter Mitwirkung eines lokalen Bischofs. Stimmiger lässt sich die Geschichte wohl als nicht-faktual, als Kommentar Adams zu Gottes Werk an dem königlichen Konkubinensohn, lesen. 39 Beide bezeichnen bedeutende frillur und Königsmütter: die im vorangegangenen Schwellenkapitel zitierte Gyða Eiríksdóttir; Harald Schönhaars Altersgeliebte Þóra Mostrarstöng; Magnús Barfuß’ Mutter Þóra Jónsdóttir (vgl. Kap. 2); Hákon Jarls letzte Getreue Þóra auf Rimul (vgl. Kap. 5) und andere. 40 „Martyrium“ 1086, Elevation 1095, etwa gleichzeitig erste passio, wohl 1099 Kanonisation, 1100 Translation und anschließender Domneubau in Odense; vgl. Kaarsted (Hrsg.), Odense bys historie, Bd. 1 (1982); Meulengracht Sørensen, Om Ælnoth og hans bog (1984), 115–139; Christensen, Middelalderbyen Odense (1988).
Dänischer Partikularismus: die Polygynie in den Chroniken
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ten Kirchenämter. Der aus Canterbury in das neue, von Evesham aus gegründete Benediktiner-Domkloster zu Odense41 gekommene Mönch Ælnoth machte in der um 1120 verfassten Vita des Heiligen aus der Not eine Tugend: „Sven Estridsen ist gleichzusetzen mit David, dem stärksten der Könige und beredtesten der Propheten.“ Nicht nur schlug er seine Feinde nieder, wo auch immer sie sich gegen Gott erhoben, und brachte seinem Reich Glück und Frieden, „er ergab sich auch dem lockenden Reiz der Ausschweifung und zeugte zahlreiche Nachkommen, die ihm rechtmäßig in der Herrschaft nachfolgen sollten; einige ließ er Theologie lernen, andere sandte er an verschiedene Orte, um sie von Edlen erziehen zu lassen.“42 Knuts Vater Sven Estridsen, Adams ,Salomo‘, ist bei Ælnoth (der Adam übrigens nicht benutzt) also ,David‘, und Ælnoths ,Salomo‘ ist Knut der Heilige selber – aber er ist ein anderer Salomo als der vielbeweibte Tempelbauer der Bibel: Der neue König „durchdachte bei sich seine früheren Taten und Irrtümer und die Missetaten seiner Jugend“ – die zu begehen es im Laufe einer Erziehung durch nobiles des elften Jahrhundert sicher Gelegenheit genug gab –, und „hatte gehört und verstanden, dass die, welche Christus angehören wollen, bereit sein müssen, das Fleisch mit seinen Sünden und Begierden zu kreuzigen“.43 Dies stellte er nicht nur durch unauffälliges Fasten – selbst bei Gelagen trank er heimlich nur Wasser statt Met und Wein und ließ die besten Speisen dezent vorbeigehen – und heimliche Geißelungen durch zwei Hofbischöfe unter Beweis. Auch „hielt er sich fern von der Unsittlichkeit, der viele Könige zum Opfer fallen, selbst König Salomo, der einst verschuldete, dass seine Söhne zehn Zwölftel des Reiches verloren“. Seine Ehe mit der flandrischen Grafentochter Adela „aus kaiserlichem Geschlecht, mit ausgesuchter Ehrerbietung von westlichen Küsten geholt“ (die Grafen von Flandern leiteten sich aufgrund einer Hypergamiebravade ihres Stammvaters Balduin I. von den Karolingern ab), die erste dynastische Bindung eines Dänenherrschers an Westeuropa mit Ausnahme des Englanderoberers Knuts des Großen, dürfte ihm einen neuartigen Ruf und Rückhalt gegeben haben, so dass er, wie Ælnoth impliziert, guten Grund hatte, „an der Ehe mit ihr genug zu haben und die unkeusche Umarmung der Kebsen zu meiden“.44 Ob die Karolingerin tatsächlich die ferneren Versuchungen der regum lascivia gegen41 Gegründet zu diesem Zweck 1098/99, zum Domkapitel erhoben um 1117; vgl. Johannsen/Johannsen, Sct. Knuds Kirke (2001), 8–35. 42 Ælnoth c. 3 (in: AASS Jul. 10, col. 0130ff.): Inter igitur praemissa pietatis studia, Sueno Magnus, veluti regum quondam fortissimus, ut et vatum facundissimus David (...) luxui illecebrosi appetitus admodum cedens, numerosae prolis sobolem in regni sibi iura successuram emisit; quosdamque divinae scientiae studiis apposuit, quosdam suis in locis singulis educando nobilibus delegavit. 43 Ebd. c. 9: actus et ignorantias pristinas ac delicta iuventutis suae solerti examinatione discutiens (...) audierat enim et audiens intellexerat,... ut qui Christi esse desiderant, carnem cum vitiis et concupiscentiis crucifigere non perhorrescunt (cf. Gal 5,24). 44 Ebd. c. 8: Regum quamplurium, sed et ipsius Salomonis devitans lasciviam, ob quam eius quondam posteri bis quinis regni partibus ablatis, vix duabus irato Domino principari merebantur; imperatorii generis, nobilissimam sibi coniugem, sapientium consilio, elegit; quam insigni honorificientia ex occidentalibus oris adductam, secundum nominis eius aestimationem, quae Ethela, id est nobilis,
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standslos machte? Jedenfalls fällt die Parallele zu Snorris Schilderung von König Harald Schönhaar, der nach der Verbindung mit der dänischen Königstochter seine zahlreichen norwegischen Frauen verstößt, ins Auge. Und wie jener hatte auch Knut, betrachtet man die Situation ‚politisch‘, guten Grund, die Frau aus dem Süden gut zu behandeln. Ælnoths Knut ist in seiner dynastisch lobenswerten monogamen Fürstenehe mit Ethela, id est nobilis, ein Heiliger – eine Josephsehe ist gar nicht erforderlich; unter den gegebenen Umständen ist die Monogynie schon der Keuschheit genug. Ælnoth scheint hier geradezu gegen einen gewissen Unwillen ob dieser Beschränkung des königlichen Samens anzuschreiben. Jedenfalls ging Knut, sollte er sich wirklich derart beschränkt haben, kein geringes Risiko ein: Über den ähnlich zurückhaltenden Wilhelm der Eroberer machte dem Zeugnis des Wilhelm von Malmesbury zufolge das Gerücht die Runde, „er könne nichts mit Frauen“.45 Wie der Eroberer, der sich ebenfalls auf seine privilegierte Verbindung mit einer flandrischen Grafentochter konzentrierte, war auch König Knut, der seinerseits 1085 eine Invasion Englands vorbereitete (der Angelsachse Ælnoth schildert noch vierzig Jahre später die „erwachende Hoffnung der schon lange unter dem Joch der Römer oder Franzosen lebenden Engländer, ihre alte Freiheit wiederzugewinnen“46), sicher gut beraten, der flandrischen Verbindung Priorität einzuräumen. Dynastischen Erfolg hatte er damit allerdings keinen. Nach seinem Tod auf der Flucht vor der Opposition, die nach dem aus unklaren Gründen abgebrochenen Englandzug übermächtig wurde, reiste Adela mit ihrem Sohn, der den vielsagenden Namen Karl trug, nach Flandern zurück. Karl wurde dort 1119 Graf und durch seinen durch Galbert von Brügge geschilderten ,Märtyrertod‘ 1127 seinerseits heiligmäßig. Die dänische Königswürde ging nach Knut an dessen Brüder, Sven Estridsens übrige Söhne aus den „unkeuschen Umarmungen der Kebsen“ über. Anders als Harald Schönhaar hatte König Knut als Stammbaumpflanzer versagt. Es ist bemerkenswert, wie knapp und abschätzig der heilige König in den dänischen Quellen behandelt wird. Die Roskilde-Chronik, die ihm weniger Platz einräumt als allen vier anderen Svenssöhnen, weiß von ihm nur zu berichten, dass er eine „neue und unerhörte“ Abgabe – offenbar eine Kopfsteuer – einführte und deswegen in Odense den Märtyrertod erlitt.47 Die Königslisten und die Annalen nennen höchstens seinen Tod, manchdicebatur, nobilem nobiliter excipiens, impudicis concubinarum despectis amplexibus, solius eius connubio, Iesu Christo teste angelisque eius, contentus est. 45 Wilhelm von Malmesbury, GRA III, 273: precipue in prima adolescentia castitatem suspexit, in tantum ut publice sereretur nichil illum in femina posse. Mit Mathilde von Flandern dann ita se egit ut pluribus annis nullius probri suspitione notaretur. Wilhelms und Ælnoths Werke sind etwa zeitgleich, die beschriebenen Könige auch, und Ælnoth war Engländer. Deswegen muss nicht einer vom anderen ‚abhängen‘, sondern beide erzählen aus dem gleichen politisch-kulturellen Milieu. 46 Ebd. c. 11: eorumdem... Romanorum seu Francigenarum dominatus iure diutius oppressa, eo tantummodo pristinae se restituendam libertati incipiebat praesumere. 47 Chronicon Roskildense c. 10: Quo [Harald, der erste der Svenssöhne] mortuo frater eius Kanutus in regnum levatus est. Hic cum populum quadam nova lege et inaudita ad tributum, quod nostrates
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mal nicht einmal diesen, nie seine Heiligkeit und ebenso wenig seine Frau oder seinen Sohn.48 Gewiss ist der Erfolg des S. Canutus rex durch den Umstand behindert worden, dass er zu einer Bischofskirche gehörte, die kurz nach seiner Kanonisierung ins politische Abseits geriet, und zudem selber nicht zum Ahnen einer Königsreihe wurde. Der andere ,politische‘ heilige Knut Dänemarks, S. Canutus dux, Knut Lavard (†1131), Vater des politisch und dynastisch so überaus erfolgreichen Königs Waldemar I. (r. 1157–1182) mit Kultmittelpunkt in Ringsted auf der politisch zentralen Insel Seeland, wurde zum Patron kirchlich-königlicher Krönungszeremonien und seine Kirche für knapp zwei Jahrhunderte die Grablege der Könige. Doch wenn die ,Erfolglosigkeit‘ des heiligen Königs Knut mit seiner fehlenden dynastischen Nachfolge zusammenhängt, so kann man sie durchaus im Zusammenhang mit der allgemeinen Haltung der dänischen Quellen zum Nachkommenreichtum sehen, die sich im Hinblick auf polygyne Praktiken als eine Art inszeniertes Desinteresse charakterisieren lässt.
Die Praxis der Waldemarenzeit Es ist oben die Rede gewesen von der offenbar bewussten Auslassung, die die RoskildeChronik gegenüber Adam von Bremen macht, wenn sie mit Blick auf die Nachfolgeregelung nach Knut dem Großen 1035 darauf verzichtet, die Nachfolger in Norwegen und in England als Konkubinensöhne zu bezeichnen. Die Königsregister des zwölften Jahrhunderts verfahren ähnlich. Eine Königsliste des späten 13. Jahrhunderts, deren Hauptanliegen die Glorifizierung des 1250 in Schleswig von seinem Bruder Abel ermordeten ,Märtyrer‘-Königs Erik Plogpenning ist, bemerkt zu den Söhnen Knuts des Großen, er habe sie, „wiewohl aus unterschiedlichen Verbindungen“ (licet diversis hymeneis), zu seinen „Zwillingserben“ (geminos heredes) gemacht: die intendierte Antithese ist deutlich.49 In einer anderen, wohl in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts abgefassten Königsliste ,nefgjald‘ [„Nasengeld“] vocant, coegit, a Iucia in Fiuniam fugatus Othinse in ecclesia sancti Albani martyrizatus est. Es folgt ein Minimalhinweis auf die „vielen Wunder“ an seinem Grab. 48 Vgl. die sechs Genealogien in SM, Bd. 1, 145–194 sowie die neun Knuts Zeit abdeckenden Annalen (gesammelt in DMA). Allein die vermutlich erst gegen 1500 in Östergötland kompilierten sogenannten Annales Dani-Suecani erwähnen Knuts Ehe mit Adela und drei Kinder: Karl, Cecilia und Ingeborg, welch letztere durch eine dubiose, zumindest zeitlich ganz unmögliche Genealogie mit dem schwedischen Reichsverweser Birger Jarl (†1266) und dessen Sohn, König Magnus Ladulås (r. 1275–90) verbunden wird. 49 SM, Bd. 1, 187; nur der dänische Erbe Hartheknut wird namentlich genannt, so dass man nicht weiß, welcher der drei Söhne ausgelassen wird. Dass das biblisch nicht bezeugte, bei DuCange fehlende hymeneus hier im engeren Sinn als „ehelich“ aufzufassen sei, ist auszuschließen, denn wenig später heißt es zu den Söhnen Waldemars II. in einer syntaktisch ähnlichen Wendung terminologisch ganz präzise: hic quatuor habuit filios legitimos, diversis tamen coniugibus (nämlich der böhmischen Königstochter Dagmar und der portugiesischen Königstochter Berengaria). Die kirchenrechtlichen Begriffe – hier: coniugium – waren also durchaus einsetzbar, ihre kontextbedingte Nichtbeachtung
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werden zwar (ähnlich wie bei Adam) der Erbe Dänemarks als Sohn der uxor und die Erben Englands und Norwegens als a concubina geniti markiert, die Verteilung der Reiche aber gleich im Anschluss kommentarlos mitgeteilt.50 Eine dem späteren 13., womöglich erst dem frühen 14. Jahrhundert entstammende Liste, die sich an erstere anlehnt, ergänzt: „Ihm folgten seine Söhne, wie es der Vater zu Lebzeiten bestimmt hatte“.51 Dies ist sicher im Zusammenhang mit den schriftlichen Fixierungen der dänischen Landschaftsrechte im frühen 13. Jahrhundert zu sehen, die Thyra Nors in ihrer Studie zu den ,illegitimen‘ Kindern sozial hochstehender Frauen treffend als Kompromiss zwischen der landesüblichen Gleichbehandlung der Nachkommen und der mit der Erbunfähigkeitserklärung illegitimer Kinder im Liber Extra (1234) noch verschärften kirchenrechtlichen Kategorialisierung darstellt. An die Stelle der unhinterfragt bleibenden Erbfähigkeit nicht(voll)ehelicher Kinder trat demnach in den verschiedenen Landschaftsrechten das Testatrecht des Vaters neben das unberührt bleibende Erbrecht aus der mütterlichen Seite.52 Zeitgleich vollzog sich der Ausschluss der Söhne von Nebenfrauen aus der Königsnachfolge: Seit Waldemar I. (1157) ist kein ,unehelicher‘ (also nicht aus einer von der Umwelt allgemein als Vollehe betrachteten Verbindung meist mindestens isogamer Art hervorgegangener) Sohn mehr König geworden. Dieser Ausschluss wurde – anders als in Norwegen ein Jahrhundert später – allerdings nie in rechtlicher Weise formuliert, sondern durch die Praxis erreicht. Dies wurde begünstigt dadurch, dass bei den sechs Königstoden der ,Waldemarenzeit‘ stets mindestens ein geeigneter ehelicher Nachfolger bereit stand; der dauerhafte Erfolg der neuen Praxis schien aber lange Zeit keineswegs gesichert. Zwar hat der älteste bekannte Sohn Waldemars I., Christoph († 1171), Sohn einer Beischläferin namens Tove53, anscheinend keinen
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ist als bewusste Wahl zu betrachten: die erste Stelle bedeutet demnach: „aus verschiedenartigen Beischläfen“. SM, Bd. 1, 160–66, hier 164: Kanutus victor existens ipsam Immam duxit uxorem genuitque ex ea filium Hartheknut. Suein et Haroldus a concubina geniti fuerant. Post mortem eius succedunt in regnum eius filii eius, Haroldus in Angliam, Suein in Normanniam, Harthecnut in Daniam. – Auch der nächste Dänenkönig, Magnus der Gute, ist hier wieder filiu[s] sancti Olaf a concubina. SM, Bd. 1, 167–174, hier 169f.: Cui successerunt filii eius, Harthecnut in Dacia, Harald in Anglia, Swen in Noruegia, sicut pater vivens disposuit. – Zuvor werden hier unter anderem die Verschwägerung des ,ehelichen‘ Sohnes mit Kaiser Heinrich III. und der Name der Konkubine, Alviva, präzisiert. Nors, Illegitimate children (1996); vgl. auch KLNM, s. v. Oäkta barn. Das dänische Reich bestand bis in die Neuzeit hinein aus drei Rechtsgebieten: Schonen, Seeland (mit kleineren Inseln) und Jütland, die zwischen ca. 1200 (Schonen) und 1241 (Königsgesetz für Jütland) in der Volkssprache verschriftlichte Rechte erhielten. So KnS c. 109. Nors, Illegitimate children (1996), 22, zieht diese Überlieferung in Zweifel und verweist auf die auffällige Nähe Christophs zu prominenten Mitgliedern des seeländischen Magnatenhauses der Hvide, unter ihnen Erzbischof Absalon. Dies scheint mir angesichts der Fülle von Belegen dafür, dass königliche Kebsensöhne bei alliierten Aristokraten erzogen wurden (vgl. oben zu den Kindern Sven Estridsens bei Ælnoth), kein hinreichender Grund, um auch die Mutter für eine Hvide zu halten. Ausgeschlossen ist dies allerdings nicht, denn wie Nors für Dänemark an mehreren
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Versuch gemacht, seinem zehn Jahre jüngeren Halbbruder Knut aus der Verbindung seines Vaters mit der Minsker Fürstentochter Sophia die Designation streitig zu machen, sondern ist als beständiger Gefolgsmann am Königshof, Anführer von mehreren Kriegszüge gegen die Ostseeslawen und schließlich Jarl/Herzog von Süderjütland sichtbar: „ein Magnat“.54 Der in Dänemark damals ungebräuchliche Name Kristófórus lässt die Vermutung zu, dass Waldemar, damals noch junger Anwärter auf den umkämpften Königsnamen, seine Position durch die Geburt eines Sohnes gestärkt sah und mit dem onomastischen Hinweis auf seine eigene russisch-griechische Versippung noch untermauern wollte.55 Waldemars sechs Jahre nach der Erlangung der Alleinherrschaft geborener Sohn aus der Ehe mit Sophia hieß dann Knut, worin das Bestreben erkennbar ist, den Namen der beiden Märtyrer-Verwandten Waldemars (der Vater Knut Lavard und der Großonkel Knut IV. „der Heilige“) zum Leitnamen der zu etablierenden Linie zu machen. Keineswegs fanden sich aber alle dänischen Königssöhne so leicht mit ihrem von der Siegerpartei programmierten Ausschluss vom Geblütsrecht ab. Der 1157 erschlagene zeitweilige König Knut Magnussen – ein Enkel von Niels (Nikolaus), dem letzten der fünf Söhne Sven Estridsens, der König wurde56 – hinterließ zwei Konkubinensöhne, deren einer, Niels, als Vogt über wichtige Königsgüter in Ostjütland eingesetzt, sich mit seiner Beispielen zeigt und in dieser Untersuchung auch für andere Teile Europas deutlich wird, waren königliche ,Konkubinate‘ mit Frauen aus der Aristokratie durchaus nicht selten. 54 KnS c. 122: Valdamarr konungr gaf Kristófóró syni sínum ríki á Jótlandi; hafði hann hertogadóm í Heiðabœ ok þat ríki, sem þar fylgir; hann var ríkr maðr. Zur Zeit der Abfassung der Knýtlinga saga Mitte des 13. Jahrhunderts war Süderjütland/Schleswig als ,Fürstenlehen‘ (die Saga gebraucht das Wort ríki „regnum, eigenständiger Machtbereich“) für den jeweils Ersten in der Königsnachfolge etabliert. Ríkr maðr „mächtiger Mann“ ist das Saga-Wort für die oberste Gruppe einflussreicher Männer, die auf Augenhöhe mit Königen stehen. – Christoph wird außerdem bei Saxo, der ausführlich auf seine Rolle bei den Rügenzügen eingeht, aber nichts über seine Mutter sagt, sowie einem Dutzend Annalen und Chroniken erwähnt. Ein einziges Mal, in einer Version der Sorøer Annalen (DMA, 19), wird kommentarlos seine Mutter genannt – allerdings als Helena, wahrscheinlich durch Verwechslung mit einer Nebenfrau Waldemars II. (s. aber Nors, Illegitimate children [1996], 22) –, ein weiteres Mal, in einer späten Kompilation auf der Grundlage der Annalen von Rüdekloster (frühestens um 1300; DMA, 308) steht der Zusatz Valdemari filius nothus. Christoph starb 1173, drei Jahre nach der feierlichen Krönung Knuts zum Mitkönig und Nachfolger im Rahmen der Kanonisationsfeiern Knut Lavards in Ringsted 1170. 55 Waldemar (~Vladimir) war der posthum geborene Sohn des 1131 ermordeten Knut Lavard und einer Tochter des Mstislav von Nowgorod/Kiew. 56 Er wurde 1146 zum König proklamiert und am 9. August 1157 auf einem Versöhnungsfest der drei nebeneinander herrschenden Könige (der berühmten ,Blutgilde von Roskilde‘, von der u. a. Saxo und Helmold von Bosau berichten) offensichtlich aufgrund eines Mordplans von König Sven Grathe erschlagen. Der dritte König, Waldemar, entkam schwerverletzt, sammelte sein Heer und zog gegen König Sven, der zwei Monate später in einer Schlacht in Jütland umkam, wodurch Waldemar zum Alleinherrscher wurde; vgl. Malmros, Blodgildet i Roskilde (1979), 43–66. Obgleich die wesentlichen Schilderungen der ,Blutgilde‘ Partei für Waldemar ergreifen, ist der durchaus verlockende Gedanke, diesen als den tatsächlich Hintermann des Komplotts zu sehen, quellenmäßig kaum zu stützen.
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Frömmigkeit einen Namen machte und nach seinem Tod 1180 lokal als Heiliger verehrt wurde, ein populärer Kult, der bis ins 19. Jahrhundert lebendig blieb.57 Wie viel Vorstellung von „Königsheil“ in diesem spontan entstandenen, nie sanktionierten Kult mitschwingt, kann nur gemutmaßt werden; eine Gefahr für die regierende Linie kann der außereheliche Heilige aber kaum ausgemacht haben. Anders war es mit König Knut Magnussens anderem Sohn, Waldemar58, der in Paris studierte und dem als Elekt von Schleswig scheinbar die typische kirchliche Laufbahn des vom Vatererbe ausgeschlossenen ,jüngeren Sohnes‘ bestimmt war. Doch nicht nur der Blick auf die beeindruckende Reihe studierter Magnaten im Dänemark dieser Epoche gemahnt zur Vorsicht gegenüber einer vorschnellen Gleichsetzung kirchlicher Bildung und Würden mit Ausschluss von weltlichen59, sondern auch der Umstand, dass König Waldemar nach dem Tod seines eigenen Frillensohns Christoph seinen Neffen Waldemar mit der Verweserschaft des Jarltums in Süderjütland betraute, für dessen Nachfolge der zweite eheliche Sohn des Königs, ebenfalls Waldemar genannt, vorgesehen war. Die Kombination aus Möglichkeit und Begrenzung muss für den Electus jedoch unerträglich geworden sein, und als die Übergabe des Jarltums an den herangewachsenen Waldemar (den späteren König Waldemar II., „den Sieger“, r. 1202–41) anstand, griff Bischof Waldemar nach dem Königtum und forderte Knut VI. (r. 1182–1202), den bereits 1170 auf der Kanonisationsfeier in Ringsted designierten ältesten ehelichen Sohn Waldemars I., heraus. Königserhebung und Angriff scheiterten, Bischof Waldemar wurde gefangengenommen und erst anderthalb Jahrzehnte später auf wiederholte (wenn auch stets auffällig diskrete) päpstliche Intervention hin wieder freigelassen. Eine Weile nach umstrittener Wahl Erzbischof von Bremen, war er noch in den 1220er Jahren an der holsteinischen Koalition beteiligt, die das Ende der dänischen 57 Vita und Miracula sind gesammelt in: VSD, 397–407; zu seinem Kult vgl. Paludan, Sejlivede græsrodshelgener (1987). Über seinem Grab wurde wenige Jahre später die neue, heutige Domkirche von Århus erbaut und dafür die alte Kathedrale aus dem elften Jahrhundert aufgegeben, ein Vorgang, der in Nordeuropa nur eine Parallele hat, nämlich im Zusammenhang mit der Grablege Knuts des Heiligen in Odense. 58 Lebensdaten: 1158–1236; sein Name verweist auf das zeitweilige Bündnis seines Vaters mit König Waldemar, zu welchem auch dessen Eheschließung mit Sophia gehört, die nicht nur abermals russische Verwandtschaft vermittelte, sondern auch als Halbschwester des Königs Knut Magnussen einen innenpolitischen Wert hatte; vgl. Saxo XIV, 14,1f. 59 So z. B. Hoffmann, Königserhebung (1976), 28f., der den oben zitierten Bericht über die theologische Bildung einiger Söhne Sven Estridsens mit dem frühen Ausschluss von der Thronfolge gleichsetzt. Damit überschätzt Hoffmann m. E. Sven Estridsens Gestaltungsmöglichkeiten gegenüber Brauch und ,Wahl‘-Recht der Magnatenversammlungen und zugleich die Faktizität der Episode, die im Kontext der hagiographischen Wirkungsabsicht gelesen werden sollte. Zudem lässt sich fragen, welche Art „theologischer“ Ausbildung selbst für künftige Priester um 1050–70 zur Verfügung stand. Es ist kaum an mehr zu denken als an einen Aufenthalt in Bremen, wie er für einige Bischöfe der nordischen Kirchenprovinz bezeugt ist, wo die Atmosphäre nach Adams Berichten aber durchaus große Ähnlichkeit mit einem weltfürstlichen Hof hatte. Zumindest letzteres war um 1170 in Paris sicher anders; dennoch kann eine entsprechende Intention bei skandinavischen Großen noch im 13. Jahrhundert nicht beobachtet werden.
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Königsherrschaft in Nordelbingen herbeiführte, und starb nach mehrfacher Relegation in verschiedene Zisterzienserklöster 1236.60 Bischof Waldemar war der letzte ,illegitime‘ Thronprätendent Dänemarks. Hingegen blieb es bis weit ins 13. Jahrhundert üblich, Söhne von Nebenfrauen mit königsnahen oder fürstengleichen Stellungen zu versehen. König Waldemar II. ernannte den Konkubinensohn domicellus Niels 1216 zum Grafen von Norderhalland (dem nördlichsten Gebiet des dänischen Reiches, auf dem skandinavischen Festland also gewissermaßen dem Gegenstück zu Süderjütland/Schleswig), in welchem Amt ihm nach seinem frühen Tod 1218 sein Sohn aus der Ehe mit einer Schweriner Grafentochter folgte. Der jüngere Sohn Knut aus einer Verbindung Waldemars mit der schwedischen Jarlstochter Helena61 erhielt, kaum mehr als fünfzehnjährig, nach dem dänischen Kreuzzug nach Estland (1219) den Titel eines dortigen Herzogs und große Güter in Harrien, die aber wie die dänische Position in Estland wenige Jahre später mit der Offensive des Schwertbrüderordens wieder verlorengingen. Anschließend erscheint er als Herzog von Blekinge (der äußersten südöstlichen dänischen Landschaft) und behielt es sogar, nachdem er sich 1246 gemeinsam mit seinen jüngeren ehelichen Brüdern Abel und Christoph erfolglos gegen deren ältesten Bruder, Waldemars II. Nachfolger Erik Plogpenning, empört hatte. Auch sein späterer Tausch Blekinges mit der Insel Lolland bedeutete keine Minderung. Waldemars II. Söhne aus der Verbindung mit Berengaria von Portugal, die nacheinander 1241, 1250 und 1252 Könige wurden, sahen sich sichtlich gehalten, die Stellung, die ihr Vater dem ,unehelichen‘ Bruder gegeben hatte, zu wahren. Er war zudem in Dänemark und in Schweden, also wohl durch Muttererbe und väterliche Ausstattung, reich begütert; verheiratet war er mit einer Tochter des Pommernherzogs Swantopolk. Er starb 1260; sein Grab befindet sich in der Abteikirche von Ringsted, Zentrum des Knut Lavard-Kultes und Grablege der ,Waldemaren‘, zusammen mit seinem Sohn, dem das Herzogtum in Süderhalland übertragen war, neben sechs Königen und ihren Königinnen. Kein Zweifel, der Konkubinensohn zählte zum Kern der stirps regia.62 60 Für eine detaillierte biographische Übersicht vgl. Hans Olrik, Art. „Valdemar (Knudsen)“, in: Dansk biografisk lexikon (1887–1905), Bd. 18, 193–197, mit einer aus der nationalen Perspektive der Zeit nach Düppel zu verstehenden bemerkenswert harschen Charakterisierung des Prätendenten als „die dämonischste Figur unserer Geschichte... der böse Abgefallene, ein Alptraum mitten in Dänemarks glücklichster Zeit“ (197). Korrekturen bringt Radtke in: Series episcoporum Ecclesiae catholicae occidentalis IV, Bd. 2 (1992), 114–116. 61 Zu dieser Verbindung vgl. ausführlicher unten, Kap. 4. Die Wahl des Namens Knut für den Sohn aus einer Verbindung mit einer Frille, die dem mächtigen seeländischen Hvide-‚Geschlecht‘ (versippte Magnatengruppierung) nahestand, deutet darauf hin, dass der bis dahin noch unverheiratete Waldemar die Nachfolge dieses Sohnes für möglich hielt. 62 Die sogenannte Tabula Ringstadiensis, ein Pergamentblatt mit der ausführlichen Beschreibung der Anordnung der Königsgräber, angefertigt in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts (ediert mit Facsimile in: SM, Bd. 2, 82–86), nennt ihn als Kanutus dux Lalandie, filius regis Waldemari II, dieselbe Angabe, die auch für seine beiden neben ihm bestatteten Halbbrüder aus Waldemars Ehen mit Dagmar und Berengaria gemacht werden.
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Dissente Stimmen : Sven Aggesen und Saxo Grammaticus Gewiss war diese Praxis im lateinischen Europa des 13. Jahrhunderts nicht einzigartig – man denke an die Söhne Friedrichs II. –, aber ebenso wenig war sie allgemein üblich. Insbesondere fällt auf, dass in der Repräsentation, soweit sie uns bekannt ist, die erwähnte Nonchalance das Bild dominiert. Das überwiegende Nicht-Kommentieren polygyner Vaterschaften ist nicht ,barbarische‘ Ignoranz, sondern muss als kulturelle Wahl verstanden werden. Denn es gibt auch wenige dissonante Stimmen; gerade sie aber kommen von den ,großen‘ Köpfen ihrer Zeit, die heute in der internationalen Geschichtswissenschaft eher wahrgenommen werden als die zahlreichen kleineren Chroniken, Annalen und Genealogien, die mit Blick auf Überlieferung, Übernahme durch andere Schreiber und geographische Streuung als der ‚Mainstream‘ ihrer Zeit gelten dürfen. Um den Vergleich möglichst rigoros zu halten, gehe ich hier nicht weiter auf Quellen wie die juristischen Schriften des Kirchenrechtlers und Erzbischofs von Lund, Andreas Sunesen (s. 1201–1222), ein, der in seiner lateinischen ,Paraphrase‘ oder vielmehr Annäherung des Schonischen Rechts an kanonische Prinzipien auch de filiis concubinarum handelte63, sondern bleibe bei der Historiographie. Sven Aggesen (~1140–90?) entstammte einer mächtigen jütischen Magnatengruppierung, aus der unter anderem die ersten beiden Erzbischöfe von Lund hervorgingen; seine nähere Verwandtschaft war allerdings etwas obskurer. Er lebte im Gefolge König Waldemars I., für den er unter anderem das „Gefolgschaftsrecht“ (Lex castrensis /Vederlov), das angeblich auf Knut den Großen zurückging, redigierte. Seine andere bedeutende Arbeit ist die Brevis historia regum Dacie (um 1190). Sie setzt wie alle Dänengeschichten des zwölften Jahrhunderts mit den Sagenkönigen der vorchristlichen aurea aetas ein und führt die Erzählung bis in die Gegenwart fort.64 Bei ihm liest man über Sven Estridsen, den gloriosus rex der anderen Chroniken, beinahe mokant: „Die bäuerliche Menge nannte ihn den ,Vater der Könige‘, weil er mit extremer Fruchtbarkeit eine zahlreiche Schar von Söhnen gezeugt hatte, von denen fünf nacheinander im Glanz des königlichen Diadems erstrahlten.“65 In dieser rustikalen Schar befand sich immerhin Knut der Heilige, den Sven gegen den (bei dieser Gelegenheit genüsslich ausgemalten) Vorwurf in Schutz nehmen zu müssen meint, er sei wegen seiner Strenge, Grausamkeit und des „unerträglichen Joches“ seiner Maßnahmen einem Aufstand zum Opfer gefallen. Die von Sven Aggesen stattdessen angebotene Erklärung (eine Serie von taktischen Fehleinschätzungen im Vorfeld der blamabel gescheiterten Englandfahrt), lässt Knut allerdings nicht viel besser dastehen. 63 Vgl. dazu Nors, Anders Sunesen (1998). 64 Vgl. Inge Skovgaard-Petersen, Art. Chronicles 1. Denmark, in: EMSc, 80f., mit weiteführenden Literaturangaben, und besonders Breengaard, Muren om Israels hus (1982). 65 Sven Aggesen, Brevis historia c. 10 (in: SM, Bd. 1, 94–143, Version X): Hunc ,Regum Patrem‘ turba nominavit agrestis, eo quod numerosa filiorum prole uberrimus extiterit. Inter quos successive quinque regio fulserunt diademate.
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Von der dem Hagiographen Ælnoth so wichtigen Selbstzucht Knuts, die sich in seiner strikten Monogamie äußerte (eine Vorlage, die Sven zweifelsohne zugänglich war), findet sich kein Wort. Eine ähnliche ,kriegerkönigliche‘ Attitude prägt auch das Werk des Saxo Grammaticus, auf dessen erheblich ausführlichere und stilisiertere Darstellung Sven Aggesen in einer vielzitierten Passage zur Entschuldigung seiner eigenen summarischen Behandlung des Themas verweist.66 Saxos hochkomplexe Komposition verweigert sich im Grunde jeder Behandlung nur einzelner Passagen, da sie in der Isolation bereits einen Teil ihrer Aussagekraft verlieren, so dass im Grunde ein Thema wie ,Frauen bei Saxo‘ stets monographisch abgehandelt werden müsste.67 Im Wege des Vergleichs die Königssöhne, deren Darstellung in den anderen Geschichtswerken hier untersucht worden ist, abschließend auch bei Saxo zu betrachten, ist aus diesem Grund schwierig. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Nachfolgeregelung Knuts des Großen († 1035) behandelt selbstverständlich auch Saxo, und er gibt auch an, wer die Mütter der drei Nachfolger waren. Doch die englische Magnatentochter Ælfgifu baut Saxo auf einzigartige Weise in seine Erzählung ein: er macht sie nämlich zur schönen Geliebten des jungen Olav Haraldsson (des späteren norwegischen Königsheiligen), der vor seinem Griff nach der norwegischen Herrschaft mit Knut in England kämpfte68 und der die Kränkung, die ihm Knut zufügte, indem er ihm seine Briseïs wegnahm, mit dem Aufsagen der Gefolgschaft quittierte. Saxo lässt die Episode noch in mehreren Verweissystemen (die außer nach Troja auch zu Olavs späterem Tod im Kampf gegen eine von Knut gelenkte Opposition führen) Bedeutung tragen. Gerade weil sein Werk aber so anspruchsvoll komponiert ist, eignet sich eine Stelle wie diese kaum als Beleg für die zeitgenössische Repräsentation von Polygynie; wohl aber zeigt sie, welche Argumentationszusammenhänge die Episodizität, die der Erwähnung von Nebenfrauen in erzählenden Quellen fast immer eigen ist, unter der Hand eines gewandten Rhetors des späten zwölften Jahrhunderts generieren konnte. Saxo schreibt nicht für seine Landsleute, oder jedenfalls nicht für viele von ihnen; sein Anliegen ist es, seinem Land die historiographische Nobilitierung zu schenken, die es seiner Ansicht nach verdient hat, und dies der Elite der lateinischen Christenheit kundzutun. Als eine tendentiöse Übersetzung lokaler Praxis in internationale Rezeptionsmuster muss man Saxo verstehen, wenn man sich seine Königsfrauen ansieht. Sven Estridsen, der ,Vater der Könige‘, erhält von Saxo ein Charakterzeugnis, das ich hier in seinem ersten Teil zitiere: 66 Ebd.: Quorum gesta superfluum duxi plene recolere, ne crebrius idem repetitum fastisium pareret legentibus, cum... contubernalis meus Saxo elegantiori stilo omnium gesta prolixius exponere decreverit. 67 Die grundlegende Studie zum Thema bleibt Strand, Kvinnor och män (1980). 68 Saxo X, 14,5: Alwivam ab Olavo adamatam Kanutus eximia matrone specie delectatus stupro petiit. Igitur Olavus, sive quia concubine facibus spoliatus... Vgl. unten, Kap. 4.
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1 Der generative Aspekt Das Schiff Dänemark fuhr nun wieder mit von Glück und Erfolg geschwellten Segeln. König Sven war berühmt für seine Großzügigkeit und gelobt für seine Wohltätigkeit, und man sagte, dass ihm an vollendeter Menschenbildung an nichts fehlte. Auch war er eifrig bestrebt, Kirchen zu gründen und auszustatten, und führte sein in Glaubensdingen noch rohes Land allmählich an entwickeltere Religionsformen heran. Den reinen Glanz seiner Sitten befleckte allein die Ungezügeltheit seiner Fleischeslust. Denn einer Anzahl hochstehender Mädchen nahm er die Keuschheit und hatte zwar keinen einzigen Sohn aus einer Ehe (ex matrimonio), doch viele von Beischläferinnen (ex pellicibus). Das waren Gorm und Harald, Sven und Omund. Hinzu kamen Ubbe und Olav, Niels, Björn und Benedikt, die alle sehr nach dem väterlichen, aber kaum nach dem mütterlichen Blut kamen. Einer ähnlich obskuren Verbindung entsprossen Knut [der Heilige] und Erik [,Ejegod’, r. 1095–1103, gestorben auf Kreuzzug in Zypern], die größten Zierden ihres Landes. Doch auch die Tochter Sigrid, die Gottschalk den Slawen heiraten sollte und von der später berichtet wird, war angeblich von einer Beischläferin (pellice) geboren. Schließlich wandte der König seinen Sinn von der lockenden Unzucht und dem unmäßigen Venusdienst ab und beschloss, sich mit der Keuschheit eines ehelichen Lagers binden. Er wollte also seine lange geübte Beischläferei durch das Eingehen einer Ehe mit einer einzigen Frau auslösen (ut...redimeret), und damit sich die Kraft seiner Majestät nicht länger in solchen Bettstätten verbrauche, erwählte er sich für seinen Wunsch nach ehelichen Nachkommen (legitima prole) Gyda, die Tochter des Schwedenkönigs.69
Saxos Passage, so offensichtlich auf den Bericht Adams von Bremen zielend, strotzt vor Ironie. Der Meister des obliquen Kommentars, dessen scheinbar geradliniges Loblied auf die Dänengeschichte und ihre Krönung in der Waldemarenzeit (Saxos eigener) Generationen national eingestellter Leser und Übersetzer genarrt und ihn selber lange Zeit in den Ruch eines königsnahen Ohrenbläsers gebracht hat, bietet hier auf den ersten Blick einen Fürsten, wie er im Buche steht: ein kühner König, der nach heftigen Kämpfen gegen die Norwegerkönige Magnus und Harald das Reich wieder auf Kurs bringt und dem man den jugendlichen Überschwang seiner Lenden, den der pflichtbewusste Kirchenmann Saxo zu tadeln allerdings nicht versäumt, beinahe verzeihen möchte, denn rechtzeitig genug besinnt er sich auf die Pflicht: eine christliche Einehe mit legitimen Kindern. Dies ist der 69 Saxo XI, 7,1f.: ...Danie gubernaculum plena prosperitatis vela solvebat. Hic quum liberalitate illustris, beneficentia celeber cunctisque humanitatis partibus perfectissimus haberetur, etiam sacrarum edium condendarum ornandarumque curam intentissime edidit rudemque adhuc sacrorum patriam ad cultiorem religionis usum perduxit. Verum hunc morem candorem sola libidinis intemperantia maculabat. Complurium namque illustrium puellarum castitate delibata ut nullum ex mantrmonio, ita complures ex pellicibus filios sustulit. E quibus fuere cum Gormone Haraldus, cum Suenone Omundus. His accessere Ubbo et Olavus, Nicolaus, Biorno atque Benedictus, paterno quam maxime, materno minimum sanguini respondentes. Consimilis copulo obscuritas Kanutum et Ericum, maxima patrie ornamenta, progenuit. Sed et filia Siritha, que postmodum Guthscalco Sclavico coniunx accessit, in sequentibus referenda pellice pariter orta proditur. [7,2] Tandem rex animum suum ab illecebris luxurie et immoderato veneris usu retractum genialis thori castitate cohibere constituit. Ut ergo multorum pellicatuum experientiam licenti nuptiarum usu uniusque matrimonii lege redimeret nec talibus ulterius cubiculis maiestatis sue vigorem absumeret, Gutham, Suetico rege genitam, (...) legitime prolis... collegit.
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Fürst, wie man ihn auch aus einflussreichen Werken der Gegenwart kennt; ein Fürst, wie ihn Georges Duby, wie ihn James Brundage malt. Fast würde man sich wünschen, dieser ideale ,jeune‘ hätte seinen Sinneswandel mit seiner Regierungsübernahme zusammenfallen lassen. Genau dies tat, wie bereits gesagt, tatsächlich ein anderer König: Waldemar I., ,der Große‘, jener König, dessen Triumphe Saxo ostentativ besingt. Auch er hatte aus frühen Verbindungen mindestens einen Frillensohn (Christoph, den späteren Jarl von Süderjütland), doch für die Nachfolge waren seine Kinder aus der Ehe ausersehen, die, laut Saxo als „Bündnisschluss“70 angelegt, Waldemar den Weg zur Herrschaft ebnete. Die Könige Knut VI. und Waldemar II., während deren Lebzeiten Saxo schrieb, verhielten sich, wie gezeigt, ebenso (oder vorsichtiger gesagt: die Quellen sagen nur, dass diese Könige ,offiziell‘ seriell – im Gegensatz zu simultan – polygyn waren, ohne dass die andere Möglichkeit auszuschließen wäre). Den Zeitgenossen war also sicher unmittelbar deutlich, dass Saxos Sven Estridsen eine Parallelvita ist. Sie hat aber einen ernsten Mangel: Die Kandidatin fürs unum matrimonium ist schließlich, wie bereits bei Adam beklagt und von Saxo mit rhetorischem Ornat unterstrichen, des Königs Blutsverwandte, und der Zweck der lebensabschnittlichen Tauschhandels – Saxo benutzt das Verbum redimere, das eher nach ,Loskauf‘ klingt als nach Reue und Einkehr – wird komplett verfehlt: „Er mochte sich entschlossen haben, eine geheiligte Ehe einzugehen, aber tatsächlich überschminkte er damit nur seine Niedertracht. Kaum hatte er sich dem einen Verbrechen entzogen, stürzte er sich in das andere.“71 Vom Regen in die Traufe also – denn (und dies ist nun wieder ein typischer Beleg für die Unsicherheit, in die die radikale Straffung des Konsanguinitätsprinzips im elften und zwölften Jahrhundert die Laienwelt gestürzt hatte) auch eine isogame Ehe unter Königshäusern half ja nicht: coitum pro matrimonio habuit, er wollte eine Ehe, aber es war doch wieder nur ein Beilager. Zudem handelte er sich ernsten Tadel von der Geistlichkeit ein: Bei Saxo sind es zunächst die lokalen Bischöfe von Lund und Roskilde, die dann in zweiter Instanz an Erzbischof Adalbert appellieren. Auf dessen Ermahnung erwidert Sven, eine solche Unverschämtheit werde er mit dem Schwert beantworten (seque ferro correptionis insolentiam repressurum edixit) – eine Drohung, die den Erzbischof veranlasst, seinen Sitz von Hamburg ins sicherere Bremen zu verlegen. Man bemerkt, wie Saxo Adams Vorlage Punkt für Punkt subtil zu seinen Zwecken umbaut. Bei Adam heiratet Sven erst die blutsverwandte Schwedin, muss sie auf kirchlichen Druck verstoßen (der Druck kommt letztinstanzlich vom Papst und nicht, wie bei Saxo, durch das gute Zureden von Svens bischöflichen Freunden in Dänemark) und nimmt sich dann „wie Salomo“ zahlreiche Nebenfrauen. Mit der für diesen Zweck zwei Jahrhunderte später 70 Saxo XIV, 14,1: concordiam connubii affinitate componendam (nämlich zwischen Waldemar und Knut Magnussen, dessen Halbschwester er heiratete). 71 Ebd.: Ita [ut] dum ad coniugalia sacra celebranda animum induxit, eorum nomine flagitium coloravit, dumque ab uno se crimine retrahit, in aliud repente provoluit.
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datierte Verlegung des Erzsitzes, die bei Adam (I 27) ins Jahr 858 fällt, fügt Saxo zudem en passant eine weitere Episode in seine Exemplumkette zum Thema ,dänischer Mut gegen sächsisch-„teutonische“ Feigheit‘. Schließlich aber – und dies ist Saxos eigentliche Pointe – kommen Sven und der Leser zu dem Schluss: „Dann ist es noch besser, wenn er die Vereinigung mit fremdem Blut als mit seiner Verwandten suchte, obgleich gewiss beide Arten der Liebe als Sünde der Unkeuschheit verurteilt werden müssen.“72 Farbloser kann ein Tadel kaum ausfallen. Wenn man nun zum Anfang der Passage zurückkehrt, hat man gesehen, wer effektiv mit der begrifflich scheinbar eindeutigen Opposition pellices (negativ) ↔ matrimonium (positiv) belegt worden ist: auf der einen Seite jungfräuliche Magnatentöchter, auf der anderen Seite eine inzestuöse Ausländerin. Wo das matrimonium die größere Sünde darstellt, muss man wohl fragen, welcher Aspekt an der intemperantia libidinis des Königs in Saxos Augen eigentlich ein Makel auf seinem Schild war. Denn entfaltete sich die königliche libido nur in einer sozial verträglichen Weise, etwa unter dem duldsamen Auge der Erstfrau und ohne Schmälerung der Rechte ihrer oder anderer Verwandter (wie es bei Svens indiskriminatem Vorgehen offenbar vorgekommen war), so konnte die „edle Königin“ eine zweite Livia, ihr Gatte ein Augustus oder Alexander sein.73 Selbst bei Saxo also ist die Ineinssetzung von Polygynie und Illegitimität, die in der Mehrzahl der dänischen Quellen auffällig abwesend ist, bestenfalls zweideutig. Es kommt durchaus vor, dass der Autor, der mit den entsprechenden kirchenrechtlichen Debatten und Tendenzen seiner Gegenwart wohl vertraut und ihren regionalen Protagonisten eng verbunden ist74, sich des darin angelegten argumentativen Potentials bedient, etwa wenn er zur Nachkommenschaft des eben erwähnten ,Augustus‘ Erik Ejegod († 1103) berichtet, er habe den ersten Sohn, so werde berichtet, von einer concubina, den zweiten aus seinem 72 Ebd.: Sed tolerabilius quod alieni sanguinis quam quod sue propinquitatis copulam usurpavit, quamquam uterque huiusce veneris usus impudicitie crimini sit obnoxius. 73 Bei Saxo (XII, 3,5) befleckt auch dieses Königs Glanz „die Gewalt seiner Begierde“. Seine zahlreichen Bettgefährtinnen, die er demnach aus dem engsten Umfeld wählte, wurden von der Königin Bothild besonders umsorgt und gelegentlich sogar geschmückt und frisiert. Saxo schließt ein längeres in Antithesen konstruiertes Lob von Bothilds singularis moderatio an. Als Vorlage ist außer Suetons Livia (Aug. 71) als etwas entlegenere Fundstelle die Gattin des Scipio Aemilianus bei Valerius Maximus (6,7,1) zu nennen; ein anderer von Saxos Lieblingsautoren ist Justinus, dessen Alexander (XII, 3) offensichtlich die Vorlage zu Eriks pellicum cubicula lieferte; vgl. Christiansen (Hrsg.), Danorum regum heroumque, Bd. 1, 268. Als Botilde regina de nobilissima Danorum prosapia orta bezeichnet sie Abt Wilhelm von Æbelholt in seiner Genealogie (SM I 180). Nors, Ægteskab (1998), bezweifelt wohl mit Recht, dass Bothild (die aus onomastischen Gründen und aufgrund der Angaben bei Saxo und in der Knýtlinga saga als Angehörige des sogenannten Thrugot-Geschlechts, einer besonders in Jütland und Schonen begüterten Gruppierung, anzusehen ist; vgl. Hermanson, Släkt, vänner och makt [2000], 162f.), in markanter Weise durch coniugalis copula von den übrigen puellae abgehoben war. 74 Zur Theologie des Erzbischofs Andreas Sunesen vgl. zuletzt Bysted, Anders Sunesens Hexaëmeron (1998), 53–74; zum Kulturkontakt im Hinblick auf die Formen sozialer Organisation vgl. Paludan, Familia og familie (1995); zur Kritik Gelting, Det komparative perspektiv (1999).
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matrimonium, und der dritte sei adulterio ortus, einer verbotenen Verbindung entsprossen.75 Die sorgfältige qualitative Graduierung verdient Beachtung, denn diese Trias wäre formal zwar mit der traditionellen kirchenrechtlichen Bestimmung vereinbar, wonach der (noch) unverheiratete, im Konkubinat lebende Mann nicht sündige.76 Aber Saxo hintertreibt diese den König bei wohlwollender Betrachtung eventuell reinwaschende (serielle) Deutung, indem er ja unmittelbar vorher einen unzweifelhaft simultan polygynen König und seine bis zur Komplizität geduldige Königin gezeichnet hat. Von einem eventuellen Vorrecht des ehelichen vor dem erstgeborenen Sohn ist an dieser Stelle, fünfzig Jahre vor der Nachfolgerevolution Waldemars I., noch keine Rede: Als König und Königin ins Heilige Land aufbrechen, wird der Konkubinensohn Harald (,Kesja‘, ca. 1082–1135) aufgrund seiner prestantior etas zum Stellvertreter, während der eheliche Knut zur Erziehung dem mächtigen Hvide-Geschlecht anvertraut wird und Erik „aus minder illustrer Abkunft“ weniger einflussreichen Leuten überlassen wird – seine Herkunft ist ebenso wie die ihm bestimmte Sozialisation eine Sache der im Komparativ ausdrückbaren graduellen, nicht kategorialen Unterscheidung, er ist gewissermaßen eine zweitrangige Ressource.77 Haralds Herrschaft – seine Eltern kamen vom Kreuzzug nie zurück – war kurz und unpopulär, doch bei Saxo ist der bald über seine harsche Amtsführung Gestürzte zwar ein rex iniquus, aber gewiss kein verächtlicher, und schon gar nicht ein von einem Makel der Geburt behafteter. Das hingegen ist Erik, der, als er von Harald seinen Anteil am Vatererbe einfordert, von dem Konkubinensohn zu hören bekommt, ein aus adulterium Geborener habe gar kein Erbrecht.78 Dies ist als Grundsatz insofern ,falsch‘, als, wie gesagt, noch im 13. Jahrhundert der Vater seinen ,illegitimen‘ Söhnen ein Erbteil geben konnte und von 75 Saxo XII, 3,6: Fuere Erico filii Haraldus, Kanutus et Ericus, sed primus concubina, secundus matrimonio, tertius adulterio ortus proditur... (hinzu kommen mehrere Töchter ex concubinatu). - Faktizität sollte man in diese Skala nicht hineinlesen oder sie gar als Beleg für eine ständische Dreiteilung der Königsfrauen werten; es wird sich im Folgenden erweisen, wozu Saxo diese Trias etabliert. In der zeitnäheren Roskilde-Chronik (c. 12) werden Harald, Erik und ein weiterer Sohn als filios tres ex concubinis aufgeführt. 76 Hermanson, Släkt, vänner och makt (2000), 129ff., geht im Gegenteil davon aus, dass Saxo den Konkubinensohn Harald durchweg als illegitim abwerten will, beachtet dabei aber die genannte Graduierung nicht. 77 Saxo XII, 6,5: Ericum autem, obscuriore loco natum, hebetiore quoque cura complexus minoris potentie tutoribus applicavit.– Hermanson, Släkt, vänner och makt (2000), 129, vermutet, dass es sich bei diesen „Erziehern von geringerer Macht“ tatsächlich um das südseeländische Bodilsgeschlecht handelte, das nicht weniger bedeutend war als die Hvides, sich aber zu Saxos eigener Zeit nicht durch dieselbe Königsnähe auszeichneten. Das würde den Befund über die Intentionen des historischen Königs Erik Ejegod nuancieren, ändert aber an der Darstellungsweise bei Saxo nichts. 78 Saxo XIII, 4,2: Qui quum debitam sibi paterne rei portionem expeteret, ab Haraldo fratre repellitur, negante adulterio ortum ad hereditatis communionem pertingere. – Peter Zeeberg übersetzt hier: „at uægte børn ikke kunne få del i arven“, obgleich deutlich ist, dass gerade nicht die „uneheliche“ Geburt, sondern die Geburt aus einer verbotenen Beziehung (adulterium) das Problem ist. Da Harald deutlich älter ist als der eheliche Sohn Knud, mag sich adulterium zwar auf den Bruch der Ehe
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einem prinzipiellen Ausschluss nicht einmal zu Saxos eigener Zeit, umso weniger also noch in der Handlungszeit – die ja bei Saxo mit seiner eigenen, der Waldemarenzeit geradezu kontrastierend berichtet wird – die Rede sein kann. Als Argument ist es daher aber umso interessanter: Saxo lässt gerade den Konkubinensohn jene zu seiner eigenen Zeit von den radikalsten Stimmen verfochtene Kategorisierung vertreten, die in den Gesta Danorum wieder und wieder hintertrieben wird, und verleiht ihr dadurch eine doppelte Ironie: Saxos Harald ist sich offenbar nicht bewusst, dass er sich selber um sein Erbteil reden könnte, oder vielmehr: In seiner Vorstellungswelt läuft die Grenze nicht zwischen matrimonium und dem ‚illegitimen‘ Rest, sondern trennt die Angesehenen von den anderen. Der ‚andere‘ sieht das nicht so, und den nun aufflammenden Bruderkrieg – Erik verwüstet und plündert Haralds Besitz – legt der dritte, der eheliche Bruder Knut bei, indem er die Streitenden in seine Residenz Schleswig beordert, sie zurechtweist und dann selber die Teilung des Vatererbes vornimmt. Leider ist nicht ganz klar, ob dies zu gleichen Teilen geschah, ob also Knut (das heißt Saxo), gegen Harald sozusagen, zum Ausdruck bringen wollte, dass Konkubinat und adulterium gleichrangig wären.79 Klar ist hingegen, dass beiden ein Erbteil zusteht. Ihre volle Wirkung entfaltet die Episode erst im historischen Kontext. Der eheliche Sohn und Schlichter ist nämlich Knut Lavard, ,Märtyrer‘ von 1131, späterhin Heiliger und Spitzenahn der Waldemare, jener Könige also, die die Beschränkung des Königtums auf eheliche Söhne gegen allen Widerstand erfolgreich praktizierten, die anderen Söhne aber mit wichtigen Funktionen und auch ,Fürstenlehen‘ versahen. Saxos Knut nimmt hier sozusagen diese offiziöse Haltung vorweg. Die Pointe ist nun aber, dass von den versammelten drei Brüdern gerade Knut Lavard, der eheliche Sohn, als einziger niemals König des Königs beziehen; in der Logik des Arguments läge aber doch eher, dass der König die Ehe eines anderen gebrochen hat. Vgl. Strand, Kvinnor och män (1980), 87. 79 Saxo XIII, 4,2: Presentes deinde fraterne coarguens, curiosa animi inspectione equissimam inter eos patrimonii partitionem peregit, Ericoque ac Haraldo in paterna bona eundum iudicavit. – Während equissimam partitionem als „völlig gerechte Teilung“ zu verstehen ist, würde die von M. Cl. Gertz stammende Konjektur auf Gleichheit der Anteile und damit des Standes verweisen. Sie beruht offensichtlich auf der Interpretation, die das Compendium Saxonis aus dem 14. Jahrhundert liefert: facta inter eos patrimonii equali particione (SM, Bd. 1, 396); dies ist auf jeden Fall ein Zeugnis dafür, dass die mittelalterliche Rezeption eine Gleichheit der Teile verstand. Meines Erachtens allerdings verbietet sowohl die generelle Tendenz, nach der für Saxo nicht die nichteheliche Beziehung als solche, sondern die eventuell damit verbundene Kränkung der Rechte eines anderen Mannes verurteilenswürdig ist (vgl. Strand, Kvinnor och män [1980]), als auch die Zeichnung der beiden Figuren Harald und Erik im besonderen diese Deutung. – Die ebenfalls häufig auf Saxo basierende Knýtlinga saga (c. 95) verzichtet auf die Episode und lässt den Streit der Brüder, dann um die Macht im Reich, erst zwei Jahre nach Knut Lavards Tod einsetzen, was den Konstruktcharakter von Saxos Episode noch unterstreicht. Auch die liturgischen Texte aus dem Umkreis des Knut-Lavard-Kults in Ringsted, die der Zeit um 1170 entstammen dürften (in: VSD, Bd. 1, 169–247), kennen die Episode nicht.
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wurde, während sein älterer Bruder, der Konkubinensohn Harald, nach seiner kurzen königsgleichen Regentschaft um 1102/03 noch einmal um 1134 vom regierenden König Niels zum Mitkönig erhoben wurde – hauptsächlich zu Entspannungszwecken, nachdem Niels’ Sohn und designierter Nachfolger Magnus die Ermordung von Knut Lavard veranlasst hatte –, während der dritte Bruder, der adulterin geborene und bei „unbedeutenden Leuten“ erzogene Erik, seine Gegner Niels und Magnus besiegte, seinen Halbbruder Harald – jenen, der ihn laut Saxo um sein Erbe hatte bringen wollen – und eine Reihe seiner Söhne ermorden ließ und sich mehrere Jahre lang (1134–1137) als Alleinherrscher hielt. Obgleich die ,waldemarentreue‘ Lesart, wonach die eheliche Verbindung zu einem Heiligen und einer Reihe triumphaler Königsgestalten führte, also im Vordergrund steht, bleibt daneben die ereignisgeschichtliche Lesart bestehen: Auf das Königtum bezogen erwies sich das Erbteil des adulterio ortus Erik schließlich als das größte, und die Graduierung der Herkunft wurde durch die politischen Wechselfälle am Ende genau umgekehrt. Die hier geschilderte Praxis erlaubte eines nicht: das a persona-Argument eines Zusammenhangs zwischen ,illegitimer‘ Geburt und Charakterfehlern. Soweit ich sehe, kommt es in den dänischen Quellen nur ein einziges Mal vor: in Saxos Beschreibung der norwegischen Thronkämpfe um 1150, wo Ingi – der oben erwähnte einzige eheliche Königssohn, der in über hundert Jahren überhaupt zur Königswürde aufstieg – seine Halbbrüder „sowohl durch Geburt als auch durch seine Art übertraf“.80 Im eigenen Land hingegen nutzten weder Saxo noch ein anderer diese Möglichkeit, selbst wenn sie politisch so naheliegend und offenbar auch faktisch möglich war wie im Falle von Sven ,Grathe‘ (r. 1146–1157), dem Sohn des oben besprochenen adulterio ortus Erik, Hauptgegner Waldemars I. im Kampf ums Königtum und Anstifter der ,Blutgilde von Roskilde‘ 1157, eines viel Aufsehen erregenden Gemetzels unter geladenen Gästen, dem unter anderem der dritte Prätendent zum Opfer fiel. Von dem Anstifter Sven, der schließlich gegen Waldemar I. verlor, berichtet Alberich von Trois-Fontaines, er sei filius ancillae81, und der biblische Subtext ergänzt diesen Bericht zu der Aufforderung, ihn „zu verstoßen, denn der Sohn der Sklavin soll nicht erben mit dem Sohn der Freien“.82 Was dem burgundischen Zisterzienser ein rundes Jahrhundert später bekannt war, hätte auch von einem dänischen Chronisten aufgegriffen werden können; Anlass genug hätte es gerade in diesem Fall gegeben, den Rivalen des in zweiter Generation ehelichen Heiligensohnes Waldemar als in zweiter Generation schmählicher Geburt entstammenden Königsmörder zu schildern. 80 Saxo XIV, 29,7. Dem iusto matrimonio ortus stehen die Söhne einer norwegischen und einer irischen pellex gegenüber – wodurch diskret nicht nur ,illegitime‘, sondern unfreie Geburt angedeutet ist – und zeichnen sich gegenüber dem sauberen Ingi durch avaritia beziehungsweise luxuria aus. Unglücklicherweise, so Saxo weiter, war Ingi ein Krüppel. 81 MGH SS 23, 831 (44–45), 841 (12); ähnlich Albert von Stade. Helmold nennt ihn den Sohn einer concubina namens Thunna. 82 Gal 21,30 (zu Gen 21,10): eice ancillam et filium eius, non enim heres erit filius ancillae cum filio liberae.
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Es nicht zu tun und diese – und andere – Gelegenheiten zu versäumen, ist eine kollektive, eine kulturelle Wahl. Sie gehört meines Erachtens zu dem Streben nach Partikularisierung, das die nordische Kultur im 12. und 13. Jahrhundert auszeichnet und die sich in der mythographischen Neuerfindung des Heidnisch-Vorzeitlichen ebenso ausdrückt wie in der eigentümlichen Sprach- und Schriftkultur, den kulturräumlichen Entwürfen und ,Europakarten‘, dem in seiner Aufmerksamkeit für die Abfolge von Bestattungssitten beinahe modern anmutenden Antiquarismus und natürlich der beibehaltenen, sogar konsolidierten politischen Verfasstheit als eigene Königreiche und später auch Kirchenprovinzen – eine Verfasstheit, die in der kulturellen Behauptung wiederum Stärkung fand, ohne dass damit die Herrscher zu Akteuren oder Initiatoren der kulturellen Bewegung erklärt werden könnten.83 Als Strategien des Umgangs mit, als Beiträge zu der laufenden ,Verhandlung‘ um die Polygynie84 zwischen Akteuren der engeren Region, aber auch im Rahmen des größeren lateinchristlichen Europa haben sich erwiesen: die fallweise, häufig sehr qualifizierte Übernahme kirchenrechtlicher Argumente, die ein Autor wie Saxo mit einiger Virtuosität handzuhaben weiß; ein trotziges Gegenhalten, eine ,Revindikation‘ der Eigenständigkeit – es ist diese Haltung, die häufig voreilig als Festhalten an ,traditionellen‘ Sexualpaktiken gedeutet wird –; schließlich als wohl verbreitetste Attitude das Schweigen, die inszenierte Nonchalance, die, im lateineuropäischen Vergleich betrachtet, in sich bereits eine prononcierte Äußerung des „nordischen Sonderbewußtseins“ (von See) darstellt.
Der ,generative Aspekt‘ der Polygynie In seiner sehr einflussreich gewordenen Interpretation der Entwicklung von Ehe und Familie im Euromediterraneum nach der Spätantike sieht der britische Ethnologe Jack Goody „die Kirche“ als den Akteur, dessen unaufhaltsames Eindringen in alle gesellschaftlichen Bereiche, vom Königtum bis zu den „grundlegenden Produktions- und Reproduktionseinheiten“ für das im interkulturellen Vergleich auffällige Ausscheren des Mittelmeerraums und (entsprechend später) des nördlicheren Europa aus einem allgemeinen Muster verantwortlich war, das noch die antike Mittelmeerwelt mit vielen außereuropäischen Kulturen geteilt hatte. Für zentral hält Goody dabei vier Änderungen, denen gemeinsam sei, dass sie die Chance, erbberechtigte Nachkommen zu haben, massiv reduzierten: das allmähliche Verbot der Endogamie (das mit den lateinkirchlichen Inzestbestimmungen des 11.–13. Jahrhunderte seine schärfste, auf längere Sicht impraktikable Form erreichte), das Verbot des in vielen antiken Mittelmeerkulturen noch obligatorischen oder üblichen Levi83 Die Könige und Erzbischöfe der Waldemarenzeit machen vielmehr den entgegengesetzten Eindruck. Zu den partikularistischen nordischen Kulturentwürfen um 1200 vgl. Pesch, Brunaöld (1996), von See, “Sonderkultur” (1999); meine Sicht in Rüdiger/Foerster, Aemulatio (2014). 84 Zum Begriff der ,Verhandlung‘ im kulturanthropologischen Sinne vgl. Greenblatt, Shakespearean negotiations (1988); Knudsen, Feltarbejde (1989), Hastrup, Kulturanalyse (1989).
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rats (also der Pflicht, die verwitwete Frau eines engen Verwandten zu ehelichen), das Ende der besonders für die römische Kultur der pietas fundamentalen Praxis der Adoption und schließlich die Beschränkung und Abwertung des Konkubinats – sowie, ließe sich hinzufügen, a fortiori anderer Spielarten der Polygynie.85 Diese Einschränkungen zusammengenommen verringern die Chance eines Mannes auf Leibeserben signifikant, wobei für die Praxis weniger die tatsächliche mittlere Dauer eines ,Geschlechts‘ in einer gegebenen Population – Philippe Contamine nennt 6 Generationen als Richtwert86 – als die eventuelle Wahrnehmung des Risikos entscheidend ist, sei es nun statistisch begründet oder ,nur‘ empfunden, eines Tages ohne Leibeserben dazustehen. Es ist auch nicht nötig, Goodys viel kritisierte Sicht auf das Interesse „der Kirche“ an einer verringerten Zahl von Erben (nämlich die dadurch steigende Bereitschaft, den Besitz der ,main morte‘ zu hinterlassen) zu akzeptieren. Selbst wenn Goody seine Akteure mit zu viel Zweckrationalität und den kollektiven Wandel mit zu viel Folgerichtigkeit ausstattet, ist das von ihm beschriebene Phänomen deshalb nicht minder wichtig. Ebenso unstrittig ist, dass durch die Praxis der Polygynie ein Mann im Prinzip mehr Nachkommen zeugen kann als ohne sie. Dieser erste, der ,generative Aspekt‘ polygyner Praxis und Repräsentation, wie ich ihn nennen möchte, versteht sich so sehr von selbst, dass man geradezu darauf insistieren muss, dass man es hier ebenso wenig wie bei allen anderen historischen Phänomenen mit einer anthropologischen Konstante zu tun hat.87 Die Frage nach dieser Historisierung muss lauten: Warum sollte in einer gegebenen Gesellschaft ein Mann möglichst viele Nachkommen zeugen wollen? Und welche Umstände ihrer Zeugung sind erstrebenswert? Die erste, von Goody nicht ausgesprochene, so doch nahegelegte Antwort – eine Art quasi-(anti)malthusianische Strategie zur Vermehrung von Leibeserben – führen bereits die wenigen bisher genannten Fälle aus dem hochmittelalterlichen Nordeuropa ad absurdum. Wie Roger von Hoveden ganz zutreffend bemerkte, war jedenfalls im Falle des norwegischen Königtums die große, prinzipiell unkontrollierbare Zahl geblütsrechtlich legitimierter potentieller Prätendenten für eine geregelte Erbfolge im Königreich dysfunktional. Im Falle Dänemarks ist zu beobachten, dass die Könige der Waldemarenzeit alles daran setzten, das Nachfolgerecht ganz in dem Sinn, den Goody „der Kirche“ zuschreibt, zu regulieren und damit jedenfalls die heftigen Parteienkämpfe, die in den Jahrzehnten vor der Machtübernahme Waldemars I. 1157 getobt hatten und die manchmal wahrlich krisenhafte Form angenommen hatten88, weitgehend zu erledigen. Das verbliebene ,Recht‘ außerehelicher Söhne, also die Ausstattung, die ihnen zu geben politisch angebracht schien, war noch umfassend genug, um die dänische Reichseinheit im 13. Jahrhundert statt wie früher durch konkurrierende Königserhebungen in den Landesteilen nunmehr 85 86 87 88
Goody, Development (1983), ibs., 45ff. Contamine (Hrsg.), Noblesse (1976), 33, bezogen auf das westeuropäische hohe bis späte Mittelalter. Vgl. die Diskussion soziobiologischer Deutungsansätze der Polygynie in Kap. 2. Allein während der Jahre 1132–35 fielen sechs der acht dänischen Bischöfe Mord oder Kampfhandlungen zum Opfer, von den weltlichen Magnaten gar nicht zu reden.
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durch die Entstehung der sogenannten ,Fürstenlehen‘ in Frage zu stellen; eine Weile hatte es den Anschein, als befänden sich Teile des Reichs auf dem Weg zur Territorialisierung, den dann nur das süderjütische Herzogtum (Schleswig) ganz durchlief.89 Doch obgleich die übrigen an jüngere eheliche oder an außereheliche Söhne vergebenen Landschaften, insbesondere Lolland, Falster und Halland, letzten Endes an die Krone zurückfielen, existierten diese ,Fürstenlehen‘ während des 13./14. Jahrhunderts teilweise generationenlang und bildeten ernstzunehmende, der Krone häufig gefährliche Machtzentren.90 Zweifellos konnte für Prätendenten, die ihren Anspruch gegen ihre Konkurrenz erst noch kriegerisch durchzusetzen hatten, eine beeindruckende Schar von Söhnen (Sven Estridsens ,vierzehn‘ oder ‚zwölf‘ Söhne, alle nichtehelich91) eine wichtige Ressource sein, und diese Wahrnehmung wurde von ihren Rivalen geteilt, was sich an der gnadenlosen Jagd von Haralds Halbbruder Erik auf alle seine Neffen 1135 zeigt. Doch der Umgang mit dieser Ressource war alles andere als unproblematisch, in Königskreisen ebenso wie – offenbar – in weiteren Kreisen, in denen es nicht um ein Reich, wohl aber um Reichtümer gehen mochte. Wieder und wieder erzählen die Sagas von Erbstreitigkeiten innerhalb von Brüder- oder anderen näheren Verwandtengruppen, solche Streits imoder explizit als Konsequenzen der Polygynie kommentierend, und bezeugen so, dass die Problematik den Menschen, die diese Kultur praktizierten, sehr bewusst war. Söhnereichtum konnte nützlich und wichtig sein: Diese Überzeugung teilten die Nordeuropäer mit allen anderen Europäern, weil sie wussten, dass Abraham, der von seiner uxor Sara kinderlos zu bleiben drohte, die ancilla Hagar geschwängert hatte, und Jakob hatte zu seinen beiden Frauen noch zwei Mägde hinzugenommen, obgleich er auch ohne sie bereits mit Söhnen gesegnet war (Gen 16,1ff.; 29,31ff.) – einer Schar, die Sven Estridsen allerdings noch übertraf. Aber sie wussten auch, dass Abrahams Magdsohn Ismael als Stammvater der ,Ismaeliten‘ am Anfang der großen Feindseligkeiten der Christenheit mit ihren sarazenischen Gegnern stand: „Seine Hand wird gegen alle sein, und die Hand aller gegen ihn!“92 Sie wussten auch, welche Geschichte Israels aus den zwölf Söhnen Jakobs gefolgt war – eine Geschichte, die nicht nur inhaltlich, sondern auch narrativ-stilistisch große Ähnlichkeit mit dem Skandinavien der Sagas hat – und dass auch und gerade die mächtigsten und frauenreichsten Könige darüber ins Elend stürzen konnten: „Absalom, Absalom!“ 89 Vgl. Hoffmann, Königserhebung (1976), 118ff.; Windmann, Schleswig als Territorium (1954); Albrectsen, Herredømmet over Sønderjylland (1981); Geschichte Schleswig-Holsteins, hrsg. von Klose, Bd. 4,2: Hoffmann, Spätmittelalter (1990). 90 Vgl. zuletzt: Sawyer, ,Civil Wars‘ (2003); Fagerland, Krigføring (2006). 91 Sven Estridsen: Wilhelm von Malmesbury, GRA III, 261; Knýtlinga saga c. 23: Sveinn konungr átti m™rg frillub™rn; Harald Kesja: Chronicon Roskildense c. 17. 92 Gen 16,12: manus eius contra omnes et manus omnium contra eum. Vgl. die typologische Deutung in Gal 4,21–31, wo Hagar und Ismael mit dem Alten Bund (Sina enim mons est in Arabia) und dem irdischen, versklavten Jerusalem, Sara und Isaak hingegen mit dem Neuen Bund gleichgesetzt werden: Hierusalem libera est quae est mater nostra. Vgl. Isidor von Sevilla, Etymologiae IX, 2,57.
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Harald, der Allvater Jakob, die Schreiber der alttestamentlichen Bücher, Snorri Sturluson und Jack Goody sind sich einig darin, dass es aus mehreren guten Gründen wichtig war, Söhne zu haben. Wie mag das soziale Wissen über diese ‚Bäume‘, ihre Stämme und Zweige im nordeuropäischen Mittelalter ausgesehen haben? Mit Listen der Vorfahren (áttvísi „Geschlecht-Wissen“, mannfrœði „Gelehrsamkeit um die Menschen“) beginnt die altnordische Literatur, wie wir sie kennen. Das erste historische Werk, der um 1120 entstandene Libellus Islandorum/Íslendingabók von Ari Þorgilsson (1068–1148), dem schon die unmittelbare Nachwelt den Beinamen hinn fróði „der Gelehrte“ beilegte, berichtet von der Besiedlung Islands im 9./10. Jahrhundert, der Einführung des Christentums und den ersten Bischöfen. Die Protagonisten werden genealogisch, meist unter Angabe von einem bis sechs Vorfahren oder gegebenenfalls anderen eminenten Verwandten situiert. Das Buch schließt mit der Genealogie (langfeðgatal „Aufzählung der Vater-Sohn-Reihe“ < feðgar m. pl. „Vater und Söhne“) des Verfassers, der sich als 37. Glied einer Linie präsentiert, die mit Yngvi tyrkjakonungr („Türkenkönig“, also Trojaner) und den Ynglingen einsetzt, dem vorzeitlich-legendären Herrscherhaus in Uppsala, in die in der euhemeristischen Interpretation die Asengötter integriert werden. Zur ersten Fassung des Werkes gehörten weitere Genealogien und eine Königsliste, die Ari, wie er in der Vorrede erklärt, später wegließ. Es ist aber genug von ihnen übrig, um den Leser darauf aufmerksam zu machen, dass Aris dreizehnter Vorfahr zugleich der Ur-Ur-Urgroßvater von König Harald Schönhaar war: Einen Anteil am königlichen Stamm dürfen auch die isländischen Landnehmer und ihre Erben beanspruchen. Die etwa gleichzeitige Landnámabók („Buch von der Landnahme“), die über 3500 Personennamen und knapp 1500 Höfe auf Island verzeichnet, treibt die räumlich-zeitliche Verortung der Freisassenaristokratie noch weiter, und die späteren Bischofs-, dann die Isländersagas und (mit Erzählfokus auf Norwegen) die Königssagas enthalten Hunderte weiterer Personen, die auf ähnliche Weise in ein Verhältnis zu König Harald Schönhaar gebracht und damit zu Zweigen am Baum werden, der einst im Traum der Königinmutter Ragnhild entspross. Haralds Kinderreichtum – und diesen bedingend seine Polygynie – ist daher die Voraussetzung für diese gesamte Kultur der historiographisch-narrativen Konstruktion von familial hergestellter Parität. Gerade seine Scharnierstellung zwischen dem fornöld, der ‚Vorzeit‘, in der die Menschen Götter werden und die Riesen Menschen, und der beginnenden Geschichte des vertrauten Bezugsrahmens Norwegen/Island macht Harald Schönhaar zu einem geeigneten Spitzenahnen für eine beinahe beliebig große Zahl von Geschlechtern. Mit seinen (allein in den uns bekannten Quellen) zwei Dutzend namentlich genannten Kindern93 übertrifft er auch die generativ potentesten Dänenkönige. Vor allem aber ist seine Zeugungskraft 93 Sie überschneiden sich teilweise, aber manche erscheinen nur in einer oder nicht allen Texten, was die Vermutung nahelegt, dass wir nur einen Ausschnitt aus der dem Mittelalter bekannten Gesamt-
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nicht allein für das Königsgeschlecht bestimmend. Zu allen Nachkommen im Mannesstamm, zu denen sich bis ins 13. Jahrhundert sämtliche Anwärter auf den Königsnamen – und viele andere – zählten, kamen die Kognaten. „König Harald gab die meisten seiner Töchter im eigenen Land an seine Jarle, und daraus sind bedeutende Geschlechterzweige gekommen“, sagt um 1230 Snorri Sturluson, weiterhin auf das ,Baum‘-Motiv rekurrierend.94 Mehr noch, Snorri bietet einen ausdrücklichen Kommentar über die familiale Organisation des Reiches: „König Harald berief eine allgemeinen Versammlung ein. Da gab er all seinen Söhnen den Königsnamen und bestimmte als Gesetz, dass seine Nachkommen, jeder nach seinem Vater, das Königtum haben sollten, und [entsprechend] diejenigen, die mütterlicherseits aus seinem Geschlecht stammten, das Jarltum.“95 Norwegens früheste Verfassungsregelung? Da Snorri als Meister der uneindeutigen auktorialen Positionierung Saxo womöglich noch übertrifft, muss man auch den Kontext dieser Regelung mitdenken: Harald ist fünfzig, seine Söhne werden unruhig und haben auch schon einige von Haralds Getreuen in den Regionen erschlagen. Die hier an die Titelregelung anschließende Verteilung regionaler Macht an die Söhne nimmt sich daher ein wenig hilflos aus, zumal sofort mehrere Konflikte zwischen den Söhnen ausbrechen. Diese implizit kritische Haltung zu jenem Nachfolgemodell, das Norwegen ja noch zu Snorris Zeit prägte und das Roger von Hoveden aus ähnlicher Perpektive explizit verwirft, macht die Konstruktion aber noch prägnanter: Snorri liefert die auf den Spitzenahnen projizierte Begründung für den Zustand der norwegischen politeia. Alle Macht im Lande geht künftig aus Haralds Stammbaum hervor – aber anders als bei den biblischen Antezedenten, anders auch als in den zeitgenössischen hochmittelalterlichen Vergleichskönigtümern, dem streng agnatisch funktionierenden kapetingischen etwa oder auch dem soeben auf dasselbe Modell hin neu ausgerichteten dänischen, ist der Stammbaum keine radix, keine generatio, sondern eine Baumkrone mit einer praktisch unbegrenzten Anzahl von kynkvíslir, von „Geschlechter-Zweigen“. Nimmt man hinzu, dass die Saga an mehreren Stellen betont, dass Harald seine Kinder stets von ihren jeweiligen mütterlichen Verwandten erziehen ließ96, so entwirft Snorri hier die gesetzlich geregelte Verfassung zahl kennen. Eine gründliche, wenn auch auf den faktualen Hintergrund abzielende Untersuchung bietet Heber, Harald hårfagre (1934). 94 HsH c. 42: Haraldr konungr gipti flestar dœtr sínar innan lands j™rlum sínum, ok eru þaðan komnar miklar kynkvíslir. Ähnlich in den anderen bekannten Königssagas. 95 HsH c. 33: Haraldr konungr stefndi þá þing fj™lmennt... Þá gaf hann sonum sínum ™llum konungan™fn ok setti þat í l™gum, at hans ættmanna skyldi hverr taka konungdóm eptir sinn fóður, en jarldóm sá, er kvensift [var. ór kvenkné] var af hans ætt kominn. – „Jarl“ war zu Snorris Zeit bereits die Bezeichnung des Zweiten im Reich und wurde kurz darauf durch das sächsische Lehnwort hertógr ersetzt, das Snorri für Personen in entsprechender Funktion – so Harald Schönhaars väterlichen Freund Guthorm – auch bereits verwendet. Daher sollte man das Wort jarl hier nicht als Amtsbezeichnung denken, etwa wie den dänischen jarl/dux von Süderjütland, sondern als regionalen Machthaber, der mit dem König in einem leicht asymmetrischen Bündnisverhältnis steht: einen „Magnaten“. 96 HsH cc. 21; 37.
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Norwegens als eines vermittels uxorilokaler Polygynie regierten Königreiches, in dem der Oberkönigstitel durch agonalen Entscheid zwischen den männlichen Nachkommen des Reichsgründers wechselte, während die regionalen Machthaber durch ihre kognatische Zugehörigkeit zur stirps regia in ihren Rechten gesichert waren. Es folgt daraus eine paritäre politische Kultur, in der die genauen Ausmaße der Ansprüche ihrer Mitglieder praktisch undefiniert bleiben – denn die Verteilung der Regionen an die einzelnen Haraldssöhne wird durch den umgehend ausbrechenden Bruderzwist noch im selben Kapitel ad absurdum geführt. Daraus folgt unweigerlich der dauernde Konflikt als regulierendes Element. Diese Beobachtung trifft sich genau mit den einflussreichsten neueren Interpretationen zum nordischen, insbesondere isländischen Mittelalter, in denen ,Fehde‘ und ,Rache‘, die regelgebundenen Abläufe von Provokation, Eskalation und – fallweise – Katastrophe oder Kompromiss, als konstitutives Element der Gesellschaft (und nicht mehr ausschließlich als Kommentar auf ihre Bedrohung) verstanden werden.97 Island ist tatsächlich ein nahezu idealtypischer Fall, wenn man – wie ich vertreten möchte – das Modell einer ,akephalen‘ Gesellschaft gebraucht, deren wesentliche Merkmale eine grundlegende Bevorzugung der Parität vor der Hierarchie und, daraus folgend, eine konstitutive Bedeutung des agonistischen Prinzips bei gleichzeitiger Selbstregulation des Agons durch die Gesamtheit der an ihm Beteiligten durch kulturelle Verfahren sind. Es sind Gesellschaften im Komparativ.98 Zu ihnen zählt, wenn auch weniger idealtypisch als das königslose Island, ebenfalls Norwegen. Der bereits in der Sagaliteratur immer wieder beschworene, von der Forschung oft mehr oder minder stillschweigend übernommene Gegensatz zwischen dem isländischen ,Freistaat‘ und dem angeblich zunehmend monarchisierten festländischen Norwegen droht manchmal die Wahrnehmung dafür zu trüben, dass Island ebenso wie die anderen nordatlantischen Inseln und zeitweise auch Teile Irlands nicht weniger zum Nóregsveldi zählten als das Festland – und sogar mehr als das heutige Südostnorwegen um Oslo, das bis ins elfte Jahrhundert zur dänischen Einflusssphäre gehörte – und, wie oben am Beispiel des Historikers Ari des Gelehrten gezeigt, auch seinen Anteil am Königsstamm reklamierte. Zudem übten die Norwegerkönige auch festländisch einen Primat aus, der (abgesehen von dem kurzen und letzten Endes gescheiterten Versuch der Sakralisierung um 1160) weit eher relationaler als kategorialer Art war. Die Sagas, die dieses Bild zeichnen, bilden es selbstverständlich nicht nur ab, sondern tragen zu seiner 97 Vor allem Byock, Medieval Iceland (1988), und Miller, Bloodtaking (1990); vgl. aus sozialanthropologischer Perspektive die Beiträge von Hastrup, Culture and history (1985), und Durrenberger, Dynamics (1992), der allerdings m. E. teilweise problematisch ist. Vgl. methodisch entsprechend für Westeuropa: Barthélemy, Les comtes (1995); ders., La mutation de l’an mil (1997); Althoff, Spielregeln der Politik (1997); White, Feuding and peace-making (2005). 98 Selbstverständlich bedeutet ,Parität‘ nicht Gleichheit und die Ablehnung von ,Hierarchie‘ nicht Egalitarismus. Es bedeutet aber die Weigerung, die sozialen Unterschiede ökonomischer, habitualer oder anderer Art in kategoriale statt nur gradueller Unterschiede umschlagen zu lassen. Vgl. Rüdiger, Mit Worten gestikulieren (2000); ders., Aristokraten und Poeten (2001), 223–334.
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Perpetuierung bei; aber dass sie es mit Erfolg bis in die Mitte des 13. Jahrhunderts taten, weist darauf hin, dass sie es in Übereinstimmung mit der maior vel sanior pars des Landes taten. Für dieses System grundlegender – wenn auch durch den Unterschied zwischen Agnaten und Kognaten nuancierter – Parität innerhalb der Baumkrone von Haralds Geschlecht ist die Polygynie, wie gezeigt, essentiell.99 Es ist nicht nur so, dass zusätzliche Söhne eines Königs das Bild beleben und komplizieren; das politische System beruht darauf, dass alle Teilhaber an der Macht die Möglichkeit haben, sich an Haralds Baum anzusippen. Dies geschieht durch eine regionale Streuung von praktisch unbegrenzt vielen Frauen, mit denen ‚Harald‘ die Ahnen der jeweiligen Linien zeugte. Harald Heber, der – noch in dem Bestreben, den historischen Harald Schönhaar aufgrund der Sagaquellen mit Faktizität auszustatten – die einprägsame Formulierung fand, wohl auf jedem Königshof habe „eine Frau gelebt, die ihm zur Verfügung stand“100, trifft vielleicht die Herrschaftspraxis des Königs Harald im neunten Jahrhundert (worüber zu spekulieren müßig ist), sicher aber das Bild des polygynen Gründerkönigs, wie es die Königssagas entwerfen und ihrer eigenen Zeit, dem 12. und 13. Jahrhundert, als Rollenmodell vorlegen. Anstatt die einzelnen Linien dieser familialen Konstruktion nachzuzeichnen, begnüge ich mich hier beispielhaft mit den Kindern jener westländischen Kleinkönigstochter Gyða, die Harald, sowie er der wohlfrisierte Einheitskönig geworden war, holte und „sich beilegte“. Es sind eine Tochter und vier Söhne, deren weiteres Schicksal Snorri durchaus uneinheitlich schildert. Zunächst die Söhne: Hrœrek lebt gemeinsam mit einigen Halbbrüdern im Gefolge (der hirð) seines Vaters, bezieht aber eigenes Einkommen aus Gütern im Westland. Sigtrygg, Fróði und Þorgils werden hingegen im Ostland begütert; die letzteren beiden stattet ihr Vater sogar mit einem Kriegsschiff aus, und nach einigen Heerfahrten an die britischen Küsten avancieren sie zu den ersten nordischen Herren von Dublin, bevor der eine einem Giftanschlag, der zweite irischem Verrat im Kampf zum Opfer fällt.101
99 Ähnlich wie im dänischen Fall sind die volkssprachlichen Texte gegenüber den lateinischen Parallelstellen noch offensiver in der Zeichnung der königlichen Polygynie. Ágrip c. 2: Harald átti sunu tvítján ok með m™rgum konum („hatte 20 Söhne, und zwar mit vielen Frauen“); die etwa zeitgleiche Historia Norwegiae c. 16, bestätigt die Zahl, lässt aber die Passage über die vielen Frauen aus. Snorri (HsH c. 21) lässt beide Zahlen nach oben offen: „Harald hatte viele Frauen und viele Kinder.“ 100 Heber, Harald hårfagre (1934), 86: „...har der residert en kvinne som har stått til hans disposisjon.“ 101 HsH c. 33. Auch andere Söhne ,entsorgt‘ Harald auf diese Weise; man sieht, dass Snorri sich hier bis zu einem gewissen Maß die durch Dudo von Saint-Quentin (I, 1) in die Tradition eingeführte und bis heute von der Forschung immer wieder aufgenommene Argumentation zu eigen macht, die Wikingerzüge hätten der Entfernung der unruhigsten Elemente aus ressourcenschwachen Herkunftsländern gedient.
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Am aufschlussreichsten ist der Lebensweg der Tochter Álof mit dem Beinamen árbót, „Jahressegen“.102 Sie spielt nämlich eine Rolle in den zwei wohl heikelsten Konfliktregelungen der Haraldssaga. Die erste betrifft die Jarle von Møre, der den Seeweg (den norðveg) kontrollierenden Küstenregion in Höhe des heutigen Ålesund. Sie hat König Harald seinem „meistgeliebten Freund“ Rögnvald – ihm kam die Ehre zu, nach Haralds Triumph dem König die Haare zu schneiden und ihm den neuen kenningarnafn „Schönhaar“ zu verleihen103 – anvertraut. Als Jarl hält er die wichtige Landschaft, bis zwei der unruhigen Haraldssöhne, „die meinten, dass die Jarle von geringerer Geburt waren als sie selber“104, einen der sagaüblichen kommandoüberfallartigen Expeditionen unternehmen, die erfolgreich beendet werden, indem der überraschte Gegner in seinem hölzernen Wohnsitz überrumpelt, blockiert und mit allen Anwesenden, in diesem Fall sechzig Gefolgsleuten, verbrannt wird. Einer der beiden Söhne eignet sich die drei Langschiffe des Opfers an und geht damit auf Heerfahrt, der andere übernimmt dessen Landbesitz. König Harald bleibt, will er sein Ansehen und das Einvernehmen mit den Großen seines Machtbereiches nicht ruinieren, nichts übrig, als sofort seinerseits eine Strafexpedition zu starten. Sein Sohn kapituliert vor der Übermacht, und Harald „sendet“ ihn in einen anderen Landesteil, eine Geste hilfloser Simulation von Autorität, die das Problem der mannbœt, der Buße oder Sühne für den Totschlag, offen lässt. Die Regelung nun, wie Snorri sie berichtet und also als plausibel verstanden haben möchte, setzt den Sohn des erschlagenen Jarls von Møre in dessen frühere Rechte ein und sieht außerdem die Übergabe der Königstochter Álof ,Jahressegen‘ an ihn vor.105 Es erstaunt, dass dieses Konnubium als hinreichende Ablösung für den schwersten denkbaren Übergriff gelten kann, und erweist, dass König Haralds Macht demnach als groß genug gezeichnet wird, um diese Regelung durchsetzen zu können. Álofs Tochter aus dieser Verbindung, Bergljót, wird später dem Sohn von Haralds mächtigsten Rivalen, Hákon 102 HsH c. 29 (so in der Übersetzung von Felix Niedner, Snorris Königsbuch, Bd. 1[1922]); das aus ár „Jahr(eslauf)“ und bót „Besserung, Heilung; auch: Buße“ bestehende Kompositum hat, vermittelt über die Wendung ár ok fríðr, die die Herrschaft eines ,guten‘ Königs resümiert, enge Anklänge an den agrarischen Aspekt des Königsheils, an welchem die Königstochter – oder die hypothetische Erzählfigur, die in den Sagaverschriftlichungen zu Haralds und Gyðas Tochter geworden ist – also Anteil hat. 103 HsH c. 24: inn mesti ástvinir. 104 HsH c. 29: ok þótti þeim jarlar vera smábornari en þeir váru. 105 HsH c. 29: ok gipti honum Álofu, dóttur sína, er k™lluð var árbót. – Das Verb gipta < gipt „Gabe“ (es entspricht nicht gefa „geben“) wird meist als „verheiraten“ glossiert, eine kulturale Übersetzung, die im Rahmen dieser Untersuchung nicht möglich ist, da es auf der Prämisse der Existenz einer Form von Matrimonium beruht, die hier gerade hinterfragt wird. Deutlich wird allein, dass es sich um eine vertragliche Überlassung mit Konsens der beteiligten Männer handelt. Vom Konsens des Mädchens ist, man ist weit von der Welt des römisch-hochmittelalterlichen consensus facit matrimonium entfernt, keine Rede; vgl. Jochens, Consent in marriage (1986), 142–176; dies., Með jákvæði hennar sjálfrar (1993); Schulman, Make me a match (1997), 296–321, und allgemein Sawyer, Kvinnor och familj (21998), mit weiterer Literatur.
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Grjótgarðsson Hlaðajarl, gegeben.106 Die auf Hlaðir (einem die Mündung der Nidelv und die Einfahrt in den Trondheimfjord kontrollierenden Vorgebirge, heute Lade im Stadtgebiet von Trondheim) sitzenden Jarle waren die mächtigsten Männer der reichen Region Trøndelag; erst das Arrangement mit ihnen ermöglichte dem vermutlich aus der Gegend westlich des Oslofjords stammenden Kleinkönig Harald seine aggressive Expansion ins Westland und ins Binnenland. Der Machtdualismus zwischen den Ladejarlen und den Nachfolgern Harald Schönhaars blieb bis zur Zuspitzung im frühen elften Jahrhundert das Hauptthema der Sagageschichte. Vermittelt durch Gyðas Tochter und Enkelin sind nun also die zwei wichtigsten Jarlsgeschlechter an das Königshaus angesippt und, Snorri zufolge, „mit Gesetzeskraft“ (í l™gum) in ihren Rechten etabliert.
Die ‚guten‘ Bastardkönige Diese Form der Integration praktisch aller Mächtigen des Landes ins Königshaus geht weit über das hinaus, was in anderen Teilen Lateineuropas die Historiographie für jene Fürstenhäuser leistete, die (wie etwa die Grafen von Flandern und Barcelona mit ihren beinahe gleichlautenden Karolingerlegenden) vermittels ihrer eigenen Rückführung auf einen königlichen Spitzenahn eine gewisse Reserve gegenüber der königlichen Linie ihrer eigenen Zeit bewahren wollten. Der Unterschied liegt darin, dass sich dort mit dieser Konstruktion von Ähnlichrangigkeit keine Prätention auf das Königtum verband. Anders ist es in Norwegen, wo ja eben keine stirps regia definiert und stattdessen ein Kreis von Anwärtern umschrieben wird, der aufgrund der tendenziell unendlichen Zahl von Haralds Frauen praktisch offen war. Die Königsfähigkeit jedes erdenklichen Prätendenten wird noch unterstrichen mit Herkunftserzählungen wie jener des Hákon Aðalsteinsfóstri („Æthelstan-Ziehsohn“, auch inn Góði „der Gute“, r. wohl etwa 934–961), der seine Sozialisation und auch seine religiösen Präferenzen in England erhielt und der die ersten zögerlichen Versuche zur Einführung des Christenkults machen sollte. Snorri erzählt: Als König Harald nahezu siebzig Jahre alt war, zeugte er einen Sohn mit einer Frau, die man Þóra Mostrst™ng „Moster-Stange“ nannte. Ihre Familie stammte aus Moster [einer Insel im Hardangerfjord, nördlich des heutigen Stavanger]. Sie hatte gute Sippenbeziehungen, sie war verwandt mit H™rða-Kári [dem herausragenden Magnaten im nördlich angrenzenden Hordaland]. Sie war eine sehr gutaussehende, schöne Frau. Sie wurde ,des Königs Magd‘ genannt. Es
106 HsH c. 37: Sigurðr jarl fekk Bergljótar... Das Verb fá „bekommen“ + Name der Frau im Genitiv bezeichnet das perspektivische Gegenstück zum oben erwähnten gipta, nämlich den Empfang einer Frau in einer allseits als Konsens auf hohem Niveau akzeptablen Verbindung, modern häufig als Voll- bzw. „Muntehe“ aufgefasst. Genitivobjekte kommen im Altnordischen normalerweise nicht vor; es ist denkbar, dass diese feststehende und in diesem Sinn häufige Fügung ein implizites Akkusativ-Objekt mit,denkt‘: „Jarl Sigurð bekam Bergljóts [scil. Besitz, Mitgift o.ä.]“.
Die ‚guten‘ Bastardkönige
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waren damals viele dem König Gehorsam schuldig, die aus guter Sippe geboren waren, sowohl Männer als auch Frauen.107
Es folgt die Erzählung der Frühgeburt des Kindes auf dem Schiff von Sigurð Hlaðajarl, auf dem Þóra versucht, rechtzeitig den König zu erreichen. Das gibt dem Jarl, Haralds großem Konkurrenten, die Gelegenheit, über den Königssohn Wasser zu gießen (ausa vatni, in den Sagas ein heidenzeitlicher Taufbrauch, der viel religionsgeschichtliche Spekulation verursacht hat, in dem man aber nur ein weitere Element der Reklamation der heidnischen Vorfahren als naturaliter Christiani zu sehen hat) und ihm, wie Snorri ausdrücklich betont, den Namen des eigenen Vaters, Hákon Hlaðajarl, zu geben. „König Harald ließ den Knaben bei seiner Mutter bleiben, und beide lebten sie auf dem Königshof [in Moster], solange er jung war.“108 Der von Snorri angehängte Hinweis auf das Untertanenverhältnis auch Wohlgeborener zum König ändert nichts an der Sache (und soll es vielleicht auch gar nicht): Der spätere König Hákon der Gute war das Kind einer Unfreien, einer Sirpa oder Bilha oder gar Hagar, ein filius ancillae. Hákon, der als Sammlungskönig im Einvernehmen mit den regionalen Mächtigen die kurze, unangenehme Herrschaft des gewalttätigen und brudermörderischen Eirík ,Blutaxt‘ beendet und als erster König das Christentum angenommen hat, ist nicht der einzige ,gute‘ König unfreier Abkunft. Die Geburt von König Magnús ,dem Guten‘ (r. 1035–47), dessen Vater, Olav der Heilige, als einzige Herrscherfigur den Ruhm Harald Schönhaars noch überstrahlt, schildert Snorri in beinahe gleichlautenden Wendungen: Álfhild hieß eine Frau, die man die Königsmagd nannte. Dabei stammte sie aus gutem Geschlecht. Sie war eine sehr schöne Frau. Sie lebte im Gefolge König Olavs. Und in jenem Frühjahr ging die Nachricht herum, dass Álfhild schwanger war, und die Vertrauten des Königs wussten, dass dieser der Vater des Kindes war.109
107 HsH c. 37: Þá er Haraldr konungr var nær sjaurœðum, gat hann son við konu þeiri, er Þóra er nefnd Morstrst™ng. Hon var æzkuð ór Morstr. Hon átti góða frændr, hon var í frændsemist™lu við H™rða-Kára. Hon var kvinna vænst ok in friðasta. Hon var k™lluð konungs ambátt. Váru þá margir þeir konungi lýðskyldir, er vel váru ættbornir, bæði karlar ok konur. 108 Ebd.: Haraldr konungr lét sveininn fylgja móður sinni, ok váru þau at konungsbúum, meðan sveininn var ungr. 109 OsH c. 122: Álfhildr hét kona, er k™lluð var konungs ambótt. Hon var þó af góðum ættum komin. Hon var kvinna fríðust. Hon var með hirð Óláfs konungs. En þat vár varð þat til tíðenda, at Álfhildr var með barni, en þat vissu trúnaðarmenn konungs, at hann myndi vera faðir barns þess. – Wilhelm von Malmesbury, Gesta pontificum Anglorum (PL 179, Sp. 1663ff.), beschreibt sie als edelgeborene Engländerin Elfidis, die von Norwegern erbeutet und verschleppt wird und durch die Hände mehrerer Besitzer geht, bevor sie die Mutter des künftigen Königs Magnus wird; am Ende der Episode steht ein Wunder des heiligen Aldhelm. Dieser ein Jahrhundert spätere Bericht hat den Vorteil onomastischer und lebensweltlicher Plausibilität und vereint zudem die beiden nur scheinbar widerstreitenden Behauptungen Snorris, das Mädchen hieße „Königsmagd“ und sei doch „von guter Herkunft“.
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Mit der kleinen Variante, dass diese „Magd“ nicht zu einem Königshof gehörte, sondern das königliche Gefolge auf seinen Reisen begleitete – später wird deutlich, dass Álfhild im Besitz der Königsfrau Ástríð (einer Frillentochter des Sveaherrschers Olav Schoßkönig) war –, wiederholt sich der ganze Ablauf der Episode. Dieses Mal ist es der Skald Sigvat, einer der engsten Vertrauten des Königs, der, als nach erfolgter mitternächtlicher Geburt niemand wagt, Olav zu wecken, die Patenschaft für eine Nottaufe übernimmt. Der Knabe überlebt, Sigvat muss sich der Vorwürfe des Königs erwehren, darunter die Wahl des Taufnamens: „Warum hast du den Knaben Magnus genannt? Dieser Name gehört nicht in unser Geschlecht.“ „Ich habe ihn nach König Karl dem Großen genannt. Ihn kenne ich als besten Mann der Welt.“ „Du bist ein großer Glücksmann, Sigvat. Es ist auch nicht verwunderlich, dass Glück der Klugheit folgt. Eher ist merkwürdig, was manchmal geschehen kann, dass das Glück auch unklugen Männern so folgt, dass unkluger Rat sich ins Glück wendet.“ Nun war der König ganz zufrieden.110
Deutlicher konnte Snorri es nicht zum Ausdruck bringen: Dem Magdsohn folgt von Geburt an das Glück der erfolgreichen quasi-patenschaftlichen Ansippung an den mächtigsten Herrscher der Welt, eine Verheißung, die der erwachsene Magnús erfüllt, indem er das Land, das sein heiliger Vater verlor, zurückgewinnt und zudem noch die Herrschaft über Dänemark erringt, jenes Reich, dessen Herrscher Knut der Große für den Fall seines Vaters verantwortlich gewesen war. Kein anderer Norwegerkönig konnte mit größerem Recht als imperator gelten als der erste Magnús, der Magdsohn. Dass diese politische Patenschaft nicht durch väterlichen Entschluss, sondern durch Sigvat den Skalden vermittelt ist, hebt sie aus dem Bereich familialer Ambition ins überpersönlich Gültige, waren doch die Skalden als Sachwalter der sprachlichen Fassbarmachung des Numinosen gewissermaßen beauftragt, irdische Kontingenz mit einer allgemeinen Interpretation auszustatten. In der Tat also bekannte sich das Norwegen der Sagas zu der ,merowingischen‘ Auffassung, nach dem das väterliche Blut genügte, um Königsfähigkeit zu vermitteln – entgegen biblischem Präzept, entgegen auch der zeitgenössischen Praxis selbst im benachbarten Dänemark. Hingegen entsprach sie den Bestimmungen, die der zur Zeit der Niederschrift 110 Ebd.: Konungr mælti: „Hví léztu sveininn Magnús heita? Ekki er þat várt ættnafn.“ Sigvatr svarar: „Ek hét hann eptir Karla-Magnúsi konungi. Þann vissa ek mann beztan í heimi.“ Þá mælti konungr: „Gæfumaðr ertu mikill, Sigvatr. Er þat eigi undarligt, at gæfa fylgi vizku. Hitt er kynligt, sem stundum kann verða, at sú gæfa fylgir óvizkum m™nnum, at óvitrlig ráð snúask til hamingju.“ Var þá konungr allglaðr. – Die Wörter gæfa und hamingja, die ich hier gleichlautend als „Glück“ übersetze, sind vieldiskutiert. Gegen die Deutung des Begriffs als Übernahme der römisch-lateineuropäischen fortuna stimme ich Foote, Concept (1973), zu, der einen originären, „säkularen“ Charakter der ,Begabung‘ mit Glück (das ist die etymologische Wurzel von gæfa) behauptet, der möglicherweise – aber nicht notwendig – auf vorchristlichen Vorstellungen beruht. Vgl. die ausführlichere Diskussion in Rüdiger, Aristokraten und Poeten (2001), 206ff.
Die ‚guten‘ Bastardkönige
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der Heimskringla herrschende Norwegerkönig Hákon Hákonarson – selber ein Frillensohn – 1260 zur Regelung der erblichen Thronfolge erließ, wonach zunächst der erstgeborene eheliche Sohn, dann entsprechend die ehelichen Enkel im Mannesstamm, dann aber nichteheliche Söhne erbberechtigt sein sollte.111 Genau diese Erbfolge traf auf Olav den Heiligen zu, der mit seiner Königin, der schwedischen Königstochter Ástríð, kinderlos war.112 Keine apriorische Setzung wie Erstgeburt oder Art der Beziehung zwischen Mutter und Vater sollten innerhalb der paritären Baumkrone von Haralds Stamm die Auswahl treffen, sondern der Agon. Auf diese Weise setzte sich Hákon der Gute gegen die zahlreichen anderen Söhne Harald Schönhaars durch, sogar gegen Eirík ,Blutaxt‘, der – bereits während der letzten Jahre des Vaters Mit-, also wohl faktisch Hauptherrscher – die besten Startchancen zu haben schien, dem aber sein allzu hartes Vorgehen gegen seine Brüder und deren Getreue schließlich zum Verhängnis wurde: „...und sie zählten die Ungerechtigkeiten auf, die sie von seinem Bruder Eirík hatten erdulden müssen, und Eiríks Unbeliebtheit wuchs in dem Maße, wie alle sich Hákon annäherten und wieder wagten zu sagen, was sie dachten.“113 Der Sieg des konsensorientierten Hákon, des ersten Christen und Gesetzesstifters, geradezu eines norwegischen Numa Pompilius, „der jedem Manne Gutes wollte und versprach, den Bauern ihre Erbgüter zurückzugeben, das König Harald ihnen genommen hatte“, über Eirík, „einen großen und schönen Mann, stark und äußerst mutig, einen sieggewohnten Krieger, von hitzigem Wesen, grausam, schroff und wortkarg“114, ist ein Paradebeispiel für Snorris Advokatur einer „bauernfreundlichen, landschaftsgebundenen Politik“.115 Einmal mehr ist außerdem der ,gute‘ König der Magdsohn; der von diesem ins nordhumbrische Exil vertriebene Eirík mit der Blutaxt hingegen ist – jedenfalls bei 111 Bagge u. a. (Hrsg.), Norske middelalderdokumenter (1973), n° 106; vgl. Krag, Norges historie (2000), 247f. Im von Hákons Sohn und Nachfolger Magnús dem Gesetzesverbesserer erlassenen Landrecht wird im Rahmen einer sehr ausführlichen Anwartschaftsregelung der nach den allgemeinen erbrechtlichen Regelungen des Gulathings berechtigte Sohn auf Platz 13 gesetzt, wobei die für die ersten zwölf Ränge explizit vorausgesetzte Qualifikation skilgetinn „rechtmäßig empfangen“ nicht genannt wird. Noch Ende des 13. Jahrhunderts wurde das Erbrecht von ,Bastarden‘ somit zwar impraktikabel gemacht, formal mit Hinweis auf Landesbrauch aber gewahrt. 112 OsH c. 92 gebraucht das Wort brullaup „Hochzeit“ und beschreibt die Verhandlungen um Mitgift und Morgengabe; diese Beziehung wird also als die höchstrangig denkbare dargestellt. Vgl. unten, Kap. 4. 113 HsG c. 2: ok margir aðrir, er upp t™lðu harma sína, þá er hlotit h™fðu af Eiríki, bróður hans. Eiríks óvinsæld óx æ því meirr sem allir menn gerðu sér kærra við Hákon konung ok heldr h™fðu sér traust at mæla sem þótti. 114 HsG c. 1: vildi hverjum manni gott ok bauð aptr at gefa bóndum óð™l sín, þau er Haraldr konungr hafði af þeim tekit; HsH c. 43: mikill maðr ok fríðr, sterkr ok hreystimaðr mikill, mermaðr mikill ok sigrsæll, ákafamaðr í skapi, grimmr, óþýðr ok fálátr. – Einsetzung von Gulathings- und Frostathingsrecht; Hákons Christentum: HsG cc. 11; 13. – Zu Hákon dem Guten vgl. jetzt Bagge, Hero (2004), 185–210, zur Bedeutung des óðal – Erbgut, unveräußerlicher Teil des Eigentums – für die Integrität des Freibauern vgl. Gurewitsch, Weltbild (1978); ders., Semantics (1992). 115 Von See, “Sonderkultur” (1999), 367.
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1 Der generative Aspekt
Snorri – der Sohn aus Haralds Verbindung mit der Jütenprinzessin Ragnhild, um derentwillen er seine zahlreichen Landestöchter fortschickte: Ein deutlicherer Kommentar auf den ,monarchischen‘ Herrschaftsstil, wie ihn die Waldemaren in Dänemark praktizierte und mit dem auch Snorris eigener König Hákon Hákonarson experimentierte, ist im Rahmen der Sagakonventionen kaum denkbar. Die zeitgenössischen Tendenzen werden dezent in ihr Gegenteil verkehrt, allgemeine Präzepte – bis hin zum alt- wie neutestamentlich verankerten Gegensatz Isaak/Ismael – durch Stillschweigen für irrelevant erklärt. Dasselbe gilt für Monogamie und Matrimonium: Im Gegenteil erscheint die ungehinderte Entfaltung der königlichen Polygynie als Voraussetzung ,guter‘ Herrschaft. Man kann die Reihe aus polygyner Beziehung entsprossener Könige fortführen. Olav, „den einige ,den Stillen‘ und viele ,den Bauern‘ nennen“ (r. 1066–1093) und dem unter anderem die Fixierung der norwegischen Bistumsorganisation, der Bau der großen Steinkirche über dem Grab Olavs des Heiligen in Nidaros und die Einführung neuartiger Tisch- und Kleidersitten zugeschrieben werden, heiratet eine Königstochter – Ingrid, eine der zahlreichen Töchter Sven Estridsens –, und zeugt im nächsten Satz einen Sohn mit einer Þóra Jónsdóttir, über die kein weiteres Wort verloren wird, ebenso wenig wie über ihre Herkunft, obgleich der frühe biblische Vatername überrascht.116 Auch dieser wird Magnús genannt und wächst im väterlichen Gefolge auf; als König Magnús ,Barfuß‘ (r. 1093–1103) wird er der letzte während des Großteils seiner Herrschaftszeit unangefochtene König für fast anderthalb Jahrhunderte und damit eine der ,großen‘ Herrschergestalten der Königssagas sein.
Die Geschichte der Mühlenmagd Die beiläufige Art der Zeugung von König Hákon ,Breitschulter‘ (r. 1157–1162) durch König Sigurð (einen der drei Brüder, die sich um diese Zeit die Herrschaft teilten) wird in der Heimskringla folgendermaßen erzählt:
116 OsK c. 5: Óláfr Nóregskonungr fekk Ingiríðar, dóttur Sveins Danakonungs (...) Óláfr Haraldsson, er sumir k™lluðu Óláf kyrra, en margir Óláf bónda, hann gat son við Þóru Jóansdóttur. Vor der Mitte des zwölften Jahrhunderts kommen biblische oder Heiligennamen nur ganz vereinzelt vor; Jó(a)n ist von ihnen noch der häufigste. Vgl. Lind, Norsk-isländska dopnamn (1905–31), 1931; Einar Olafur Sveinsson, Nafngiftir Oddaverja (1936); Gunnes, Utenlandsk navneskikk (1983); Villarsen Meldgaard, Navneskifte (2000). Þóras Vater heißt in der Morkinskinna Árni (ein gebräuchlicher nordischer Name), so dass es möglich ist zu hypothetisieren, der Name Jón sei retrospektiv unter dem Eindruck von Þóras berühmten Urenkel Jón Loptsson, isländischem Häuptling und Snorris Ziehvater (vgl. unten, Kap. 2) in die Heimskringla gekommen. Die beiden zeitlich als Þóras Vater in Frage kommenden Figuren namens Jón in der Heimskringla, unter ihnen ein Mitglied des mächtigen Arnmœðlingar-Familienverbandes in Inntrøndelag, werden mit so ausführlichen Angaben über ihre Kinder und Kindeskinder versehen, dass es nicht möglich ist, ihnen auch Þóra zuzuschreiben.
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König Sigurð ritt auf Gastung ostwärts nach Viken mit seinem Gefolge und ritt an einem Hof vorbei, der einem mächtigen Mann gehörte, der Símun hieß. Und als der König durch die Umhegung ritt, da hörte er im Haus einen so schönen Gesang, dass er sehr davon beeindruckt war, und ritt zum Haus und sah darin eine Frau an einem Mühlstein stehen und wunderbar singen, während sie mahlte. Der König stieg vom Pferd und ging hinein zu der Frau und legte sie sich bei.117
Selbst dieser Verbindung, die im Hinblick auf Solennität und Dauer denkbar weit von dem relationalen Maximum entfernt war, entstammte ein ,legitimer‘ Herrscher, dem es immerhin gelang, den bis dahin bemerkenswert erfolgreichen König Ingi (den einzigen ehelichen Königssohn in über hundert Jahren) auszuschalten. Doch die Geschichte der Zeugung von Hákon Sigurðsson hat noch eine weitere, spezielle Bedeutung. Sie ermöglicht es, eine Weiterung des polygyn begründeten Königtums in den Blick zu nehmen, die über die schiere Menge an möglichen Prätendenten – und damit Parteiungen, die sich einem von ihnen anschließen oder ihn lancieren können – hinausgeht. Was nämlich geschieht, nachdem König Sigurð befriedigt mit seinem Gefolge abgezogen ist? Als er weg war, erfuhr der Bauer Símun, welche Angelegenheit der König dort erledigt hatte. Und sie hieß Þóra und war Símuns Arbeiterin. Seitdem ließ Símun sie mit großer Aufmerksamkeit versorgen. Und danach gebar die Frau ein Kind, und der Knabe erhielt den Namen Hákon und wurde der Sohn von König Sigurð genannt. Hákon wuchs dort auf bei Símun Þorbergsson und seiner Frau Gunnhild. Auch Símuns Söhne wuchsen dort auf, Önund und Andréás, und sie und Hákon liebten einander sehr, so dass nichts außer Hel sie voneinander trennen konnte.118
Símun Þorbergsson, der südostnorwegische Freisasse, begreift also sofort, welches Glück ihm da ganz ohne sein Zutun in den Schoß – oder vielmehr einen Schoß, der ihm gehört – gefallen ist. Lebensweltlich kann man durchaus mutmaßen, dass der Halt auf diesem Hof nicht ganz so zufällig geschah: Der König befand sich auf einer „Reise mit Gastung“ (hann reið at veizlum), das heißt, er war dabei, seine Königsmacht in der Region durch Präsenz zu bekräftigen. Eine Sklavin, wie man sie „fürs Bett“ zu kaufen pflegte119, 117 Hss c. 18: Sigurðr konungr reið at veizlum í Vík austr með hirð sína ok reið um bý þann, er ríkr maðr átti, er Símun hét. En er konungr reið gögnum býinn, þá heyrði í hús n™kkut kveðandi svá fagra, at honum fannsk um mikit, ok reið til hússins ok sá þar inn, at þar stóð kona ein við kvern ok kvað við forkunnar fagrt, er hon mól. Konungr sté af hestinum ok gekk inn til konunnar ok lagðisk með henni. 118 Ebd.: En er hann fór í brot, þá vissi Símun bóndi, hvat ørendi konungr hafði þannug. En hon hét Þóra ok var verkakona Símunar bónda. Síðan lét Símun varðveita kost hennar. En eptir þat ól sú kona barn, ok var sá sveinn nefndr Hákon ok kallaðr sonr Sigurðar konungs. Fœddisk Hákon þar upp með Símuni Þorbergssyni ok Gunnhildi, konu hans. Fœddusk þar ok upp synir þeira Símunar, Qnundr ok Andréás, ok unnusk þeir Hákon mikit, svá at þá skilði ekki nema hel. 119 Die vielzitierte Belegstelle ist das isländische Landrecht, die Grágás, Ia §112: „Ein Mann ist berechtigt, sich eine Sklavin (ambátt) zu kaufen für das Bett (til karnaðar < k™r „Bettstatt“ + Abstraktumsuffix -nað-, also „was mit dem Bett zu tun hat, ,Bettung‘“) um 12 Unzen auch ohne Erlaubnis.“ Vgl. H[ermann] Reichert, Art. Nebenfrau, in: RGA, Bd. 9 (2002), 28; Karras, Slavery and society (1988), ibs. 214. In Vokabel und Drastik ist die Stelle ein Hapax, doch im- oder explizit wird der Zusammenhang in Rechten und Sagas immer wieder hergestellt.
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und zudem noch eine von der Art, die nach allgemeinem Konsens Übergriffen jeder Art bevorzugt ausgesetzt war120, mochte ohne weiteres einen Teil der Gastfreundschaft ihres Besitzers ausmachen. So reüssierte auch der fünische Magnat Pálnatóki in der Jómsvíkinga saga dadurch, dem zur Gastung eingeladenen König Harald Blauzahn „eine Frau zum Dienst bestellt“ zu haben; ihr so empfangener Sohn, der spätere König Sven Gabelbart, wächst beim Gastgeber auf und sorgt im Folgenden für dessen steile Karriere.121 Es ist nicht ausgeschlossen, dass „gutaussehende Mädchen“, wie es Wilhelm von Malmesbury über das englische neunte Jahrhundert andeutet, für solche Gelegenheiten extra vorgehalten wurden.122 Ob nun mit Vorsatz oder als Ergebnis eines Zufalls: Símun bemerkt, dass er sich unversehens mit etwas Glück und viel Geduld womöglich in künftiger Königsnähe befindet. Daher seine plötzliche Sorge um das leibliche Wohlergehen der Magd, daher auch die Gründlichkeit, mit der er den Namen für den Knaben wählt und vor allem auf die Solidität der lokalen Zeugenschaft dafür achtet, dass tatsächlich König Sigurð ihn gezeugt hat. Am wichtigsten ist die enge affektive Bindung an seinen Haushalt, beson120 Die Arbeiterin (so nennt sie Snorri: virkakona) ist, insbesondere wenn sie ihre Arbeit abseits vom Haushalt, etwa auf den Feldern oder wie hier in einem separaten Gebäude verrichtet, ipso facto ungeschützt. In den ritterlichen Abenteuern, in den Pastourelles und der gelehrten Hofliteratur eines Andreas Capellanus oder Radulf von Coggeshall, ist die Schäferin die leichte und (nicht immer allerdings) willige Beute des Aventuriers; in den Leges wird der sexuelle Übergriff auf sie anders taxiert als der auf eine im Hause tätige Unfreie, die die Lex Frisionum (XIII §1) bortmagad nennt und deren Kennzeichen ist, dass sie nec mulgere nec molere solet. Gerade letztere, die Mühlensklavin, wird in der Eddadichtung mehrfach als besonders erniedrigt und männlichem Zugriff besonders preisgegeben dargestellt; vgl. die Grottas™ng, in der König Fróði zwei Riesenmädchen zu Mühlensklavinnen macht, oder die Helgakvíða Hundingsbana I, wo das „Küssen von Mägden an der Mühle“ (á kvernum kystir þyjar, Strophe 35) als charakteristisch für den hochfahrenden Nichtstuer gilt. Vgl. Obermeier, ,Ancilla‘ (1996), 132ff.; von Olberg, Aspekte (1990), 233; Karras, Slavery and society (1988), ibs. 79ff. zu den Belegen für die Unterscheidung von Haus- und Arbeitsmägden in den skandinavischen Landschaftsrechten. Für den unerlaubten Verkehr mit letzteren bezahlt der Täter nur die halbe Buße (Gulathingsrecht §198; Frostathingsrecht II §21). 121 Jómsvíkinga saga c. 3. Die Geschichte nimmt hier einen anderen Verlauf, denn der König erkennt die Vaterschaft ausdrücklich nicht an, worauf es zum Kampf kommt – und diesen Krieg zwischen Vater und Sohn, der schon bei Adam von Bremen (II, 27f.) als entscheidende Phase der Christianisierung Dänemarks erscheint, musste die Saga schließlich erklären. Gleich hingegen ist beiden Erzählungen, dass der Ziehvater mit dem jungen König sein Glück macht. 122 Wilhelm von Malmesbury, GRA II, 139 (zu ~894): Nachdem eine Schäfertochter, eleganti spetie puella, den üblichen prämonitorischen Traum hatte (ihr Bauch leuchte wie der Mond und erhelle ganz England), nimmt die villica des Königsguts sie ins Haus auf. Der durchreisende Eduard, Sohn König Alfreds des Großen, wird „durch den Anblick der Jungfrau von ‚Liebe‘ ergriffen und verlangte eine Nacht mit ihr“ (uisae uirginis amore captus noctem petiit). Der Sohn ist Æthelstan (r. 924–939). Es geht hier nicht um den faktualen Gehalt mit Blick auf die Umstände der Zeugung des Königs, sondern um eine anglonormannische Königsgeschichte des zwölften Jahrhunderts, die übers 9./10. Jahrhundert berichtet, also eine Parallele zu den Sagas. Wie Harald Schönhaar und Wilhelm wird auch Æthelstan keineswegs ein ‚schwacher‘ König.
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ders die beiden wohl älteren Ziehbrüder, die – sollte es jemals so kommen, und so, wie die Lage in Norwegen Mitte des zwölften Jahrhunderts war, musste dies als sehr wahrscheinlich erscheinen – den Kern der Parteiung (flokk) um den künftigen Prätendenten ausmachen würden. So kam es auch. Man begegnet dem Knaben wieder nach dem Tod seines Vaters – Sigurð fiel im Kampf gegen die Anhänger seines Halbbruders Ingi – im Umkreis des dritten der zerstrittenen Königshalbbrüder, Eystein, welcher ihn aus Überzeugung, Berechnung oder beidem damit als seinen Neffen anerkannte. Nachdem auch Eystein gefallen und Ingi als letzter König übriggeblieben war, erhoben Eysteins Anhänger den zehnjährigen Knaben Hákon „zum Häuptling über ihre Partei, und die Truppe gab ihm den Königsnamen“.123 Von Anfang an waren seine beiden Ziehbrüder zentrale Figuren der Kampagne, die nach mehreren blamablen Niederlagen schließlich aufgrund von Kriegszufällen, wie sie diese Machtkämpfe so oft entschieden, überraschend erfolgreich verlief. Nun „unterwarf sich Hákon das ganze Land und setzte in alle Posten seine Männer ein, auch in den Städten.“124 Der eine Ziehbruder erlebte dies schon nicht mehr, der andere profitierte nur kurz: Erst sechzehnjährig fiel König Hákon im Kampf mit der Gegenpartei, die inzwischen nach einigen Problemen einen neuen Anwärter hatten lancieren können. Der überlebende Ziehbruder, mit seinen Parteigenossen wieder auf das Guerilladasein verwiesen, unternahm noch einige vergebliche Anläufe und verschwand dann im dänischen oder götaländischen Exil. Von Símun hören wir im Übrigen nichts mehr, ebenso wenig wie von der Sklavin und Königsmutter Þóra.125 Die kurze Karriere von König Hákon ,Breitschulter‘ lohnte hier erzählt zu werden, um einmal exemplarisch die Chancen und Interessen zu beleuchten, die mit der Nähe zu einem Spross von Harald Schönhaars Baum verbunden sein konnten. Voraussetzung für alles Weitere war offensichtlich – hier und in allen entsprechenden Fällen –, dass die Betreffenden wussten oder glauben konnten, man hätte es tatsächlich mit einem Königssprössling zu tun. Nicht jeder wurde sogleich und so offenkundig anerkannt, wie es König Óláf Haraldsson gleich am Tag nach der Geburt getan hatte, indem er den Skalden Sigvat – deren Auskünfte laut Snorri die zuverlässigsten historischen Quellen 123 HsHb c. 1: var tekinn til h™fðingja yfir flokk þann, er áðr hafði fylgt Eysteinni konungi, ok gáfu flokksmenn honum konungsnafn. 124 HsHb c. 19: Hákon konungr lagði þá land allt undir sik ok skipaði allar sýslur sínum m™nnum ok svá kaupstaði. – Sýsla (abgeleitet vom gleichlautenden Verbum, das „verrichten, ausführen“ bedeutet) meint sowohl einen königlichen Auftrag, ein Amt, als auch eine bestimmte Region; gemeint ist also, dass Hákon seinen Leuten die Aufsicht über die Königsgüter in den Landesteilen und damit die entsprechenden Einnahmen sowie die Marktabgaben übertrug. 125 Es ist also fraglich, ob Monika Obermeiers Optimismus hinsichtlich der Aufstiegschancen unfreier Frauen („Ancilla“ [1996], 135: „So waren sexuelle Kontakte zu den Herrn von den Mägden sicher auch immer wieder gewünscht“) gerechtfertigt ist. – Símuns Frau übrigens hatte ihren Ziehsohn im Kampf auf ihre Art unterstützt, indem sie eine Wahrsagerin über den günstigsten Schlachtzeitpunkt befragte; Snorri berichtet dies allerdings mit den für ihn bei übernatürlichen Vorgängen üblichen Zurückhaltung (HsHb c. 16).
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von allen sind – zu Namensgebung und Zukunft des Knaben „Magnus“ befragte. König Sigurð jedenfalls scheint sich nicht darum gekümmert zu haben, ob er bei Símun ein Kind hinterlassen hatte (offensichtlich hat dieser, als es an der Zeit war, seinerseits die Initiative ergriffen und seinen Zögling lanciert). Acht Jahre nachher, als der Knabe bei seinem angeblichen Onkel erschien, gab es nur die lebende Überlieferung und das Zeugnis seiner eigenen Umgebung – mit anderen Worten, nicht eben viel, das einer kritischen Prüfung standhalten konnte, selbst wenn es vorstellbar ist, dass es in diesem Fall unabhängiges Zeugnis von einstigen Gefolgsleuten König Sigurðs gab, die sich des Besuchs bei Símun erinnerten. Doch selbst diese hätten nur die Plausibilität, nicht die Substanz des Anspruchs beweisen können. Am Ende bleibt auch hier: ,Niemand kann wissen, wer sein Vater ist‘.
Idoneität Diese Sachlage hätte die Norweger schier zur Verzweiflung treiben und sie veranlassen müssen, immer neue Maßnahmen zu erdenken, um von der Plausibilität zur Sicherheit zu gelangen. Die „Furcht“ (Georges Duby) der westmitteleuropäischen Aristokraten vor dem Eindringen falschen Blutes in eine Geschlechtsreihe wird gemeinhin als Grund dafür betrachtet, dass die Laienwelt im Hinblick auf die „Überwachung“ der Ehefrauen und Töchter mit dem moraltheologisch begründeten Misstrauen misogyner Kirchenmänner übereinstimmte.126 Nun war die Vorstellung, die man sich von der Form einer Stammlinie machte, in Nordeuropa, wie gezeigt, zwar eine wesentlich andere; das Problem der Vaterschaft hingegen stellte sich in beiden Modellen gleichermaßen. Es ist daher überraschend, mit welcher Gelassenheit das Norwegen der Königssagas mit dem Problem umging. Im Fall des Hákon ,Breitschulter‘ äußert niemand, auch seine Gegner nicht, irgendeinen Zweifel an der Berechtigung seines Anspruchs; ebenso verhält es sich in den meisten solchen Fällen. Manchmal hingegen wurden Fragen gestellt. Folgendes etwa berichtet die Hákonar saga Hákonarsonar von der Geburt des großen Einheitskönigs Hákon IV. (wobei bedacht werden muss, dass die Saga unmittelbar nach seinem Tod 1263 auf Veranlassung seines Sohns und Nachfolgers von dem erstklassig informierten Sturla Þórðarson verfasst wurde, der dafür offensichtlich Zugang zum königlichen Diplomatarium hatte): Als König Hákon Sverrisson [r. 1202–04] aus dem Osten von der Götaelv her kam, weilte er während des Herbstes ziemlich lange in Borg [Sarpsborg in Østfold]. Damals war bei ihm ein Weib namens Inga, eine tüchtige und zuverlässige Frau (goð kona ok trulynd). Sie war guter Herkunft, versippt mit Auðun von Borg, und sie hatte manche treffliche Verwandte in jenem Bezirk, die Varteiginge oder Varteigsleute genannt wurden. Inga lebte in dem Hause 126 Duby, Guillaume le Maréchal (1986), 64; vgl. ders., Ritter, Frau und Priester (1985); ders., Frauen im 12. Jahrhunderts (1999); Casagrande, Die beaufsichtigte Frau (1993).
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des Königs, und sie teilte dessen Lager (ok samreckti Hakoni konungi), so dass Hákon der Tolle [ein Vetter des Königs] und noch mehrere andere von des Königs Getreuen darum wussten. In dem Sommer dann, nachdem Ingi Bárðsson [ein anderer Vetter] zum König gewählt war, lebte Inga an einem Ort des Borger Bezirks namens Falkensborg, wo ein Priester namens Þrónd Gottesdienst abhielt. Da kam Inga nieder und gebar einen Knaben. Der Priester Þrónd aber wusste, dass König Hákon Sverrisson dessen Vater war. Er taufte den Knaben und gab ihm den Namen Hákon, und er tat das ganz im geheimen, so dass er sich niemand mit ihm befassen ließ denn seine zwei Söhne und seine Frau. Der Priester Þrónd erzog den Knaben still für sich. Erlend hieß ein Mann in Huseby. Er war ein Gesippe König Sverrirs [r. 1177–1202] aus dem Geschlechte Guthorm Graubarts. Der Priester Þrónd ging zu Erlend, und sie berieten miteinander über die Zukunft des Knaben.127
Unter den herrschenden Umständen – die Auseinandersetzungen zwischen den um Königsnamen und Einfluss konkurrierenden Parteien nahmen gerade an Schärfe wieder zu – wurden also alle denkbaren Vorkehrungen getroffen. Es half, dass Inga keineswegs eine Magd, sondern von guter, das heißt lokal angesehener, wohlverankerter und sinnreich versippter Herkunft war. Ihre Beziehung zu dem überwinternden König musste dennoch so offen wie möglich sein, damit nicht nur Ingas eigene Familie, sondern auch einflussreiche Männer im Königsgefolge sie einstmals würden bezeugen können. Wäre König Hákon Sverrissohn nicht wenige Wochen nach seiner Zeit mit Inga einer Krankheit erlegen, so wäre der Sohn vermutlich in allen Ehren bei den „Varteigsleuten“ aufgewachsen. Das Unglück verlangte nun andere Maßnahmen, und ein Priester, der Integrität, Verschwiegenheit und Unauffälligkeit garantierte, nahm sich des Königssohnes an und hielt ihn zunächst einmal vor den eventuellen Nachstellungen von Freund und Feind verborgen. Es muss den Priester Þrónd lange beschäftigt haben zu entscheiden, an welchen Magnaten er sich wohl wenden konnte, um den ferneren Weg des Knaben zur Macht zu sichern. Wie die Saga im weiteren berichtet, ging es für Inga und den kleinen Hákon, begünstigt von unter anderem gesundem Misstrauen gegenüber dem Bischof von Hamar und frühem Tauwetter, gerade eben noch gut aus, und der derzeitige König und Parteiführer nahm sie nach längerem spannungsreichen Zögern gut auf. Doch auch, als Hákon längst die Macht im Lande besaß, war die Episode noch nicht ganz ausgestanden: Im Verlaufe der komplizierten Einigung seiner Partei mit den Anhängern des Jarls Skúli Bárðsson, der selber mit dem Gedanken einer Königsnahme liebäugelte, wurden Zweifel an der Geschichte von Hákon Sverrisson und Inga laut – und damit an der Rechtmäßigkeit der Herrschaft von Ingas Sohn. Der König bot ein Gottesurteil an. Er selber konnte sich ihm natürlich nicht unterwerfen, da er – wie alle Menschen – keine wahrheitsgemäße Aussage über seinen eigenen Vater machen konnte. Das konnte nur eine: Inga. Sie bot sich zur Wahrheitsprobe an,
127 HsHs c. 1, Norwegische Königsgeschichten, Bd. 2 (1928).
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unterzog sich ihr, bestand sie selbstverständlich glorios128, die Einigung kam zustande, und ihr Sohn blieb Alleinkönig. Unser staunendes Schaudern vor diesem Vorgang, der uns hier, bei der Frage nach Erleben und Empfinden körperlichen Schmerzes, wie bei kaum einem anderen Aspekt mittelalterlicher Lebenswelt die Grenzen der Empathie erkennen lässt129, findet kaum Erleichterung bei dem Gedanken, dass es nicht umsonst war.
Kooptative Verwandtschaft Die Wirkung eines solchen gelungenen Ordals war jedoch keineswegs berechenbar. Dem Königsanwärter Sigurð ,dem Schlimmen‘ (oder ,dem schlimmen Diakon‘, slembidjákn, r. 1135–1139) bestätigte ein solches Urteil (skírsla, eigentlich „Reinigung“) seine königliche Geburt in einer Form, die wir nicht kennen, die aber durch das Zeugnis von fünf dänischen Bischöfen und – für manche vielleicht relevanter – eine Skaldenstrophe gestärkt war. All das half ihm nichts: „Die Gegenpartei sagte, das sei alles Verrat und Trug der Dänen.“130 In einer anderen Situation gleicher Art wiederum wurde das mögliche Ordal gegenstandslos, als 1142 der in Begleitung seiner Mutter von den britischen Inseln kommende präsumtive Königssohn Eystein nach erfolgter Landung und einem Botenwechsel mit seinen beiden das Land regierenden, weit jüngeren Halbbrüdern Ingi und Sigurð mit ihnen eine drittelparitätischen Aufteilung des Reiches vereinbarte: „Denn es wurde geglaubt, was König Harald [Gillikrist, der Vater der drei] über die Vaterschaft gesagt hatte.“131 Es wäre naiv anzunehmen, das angebliche Wort des längst um Königtum und Leben gebrachten Harald hätte in den beiden vor Ort bereits vorhandenen Kindkönigen die sofortige Bereitschaft veranlasst, zugunsten des verlorenen und wiedergefundenen großen Bruders auf ein Drittel der Herrschaft zu verzichten. Vielmehr dürfte es nach eingehender Beratung, nach Austausch von Angeboten und Drohungen, nach Abwägung der jeweiligen Kräfte opportun erschienen sein, den Neuankömmling zu kooptieren. Jeder 128 In den Landschaftsrechten war die Eisenprobe als zusätzliches oder alternatives Beweismittel vorgesehen, wo der übliche Reinigungseid und seine Verstärkung durch Entlastungsschwüre nicht ausreichten. Vgl. z. B. Schonisches Kirchenrecht §§ 5; 7, und generell Bartlett, Trial (1986). Die Episode spielt sich 1219 ab, also in einer Zeit, da in Lateineuropa das Gottesurteil kirchenrechtlich abgelehnt wurde und allgemein im Rückgang war; Eingang in die offiziöse Lebenssaga Hákons IV. fand sie in den 1260er Jahren. 129 Vgl. Georges Duby, Réflections sur la douleur physique au Moyen Age, in: Ders., Mâle moyen âge (²1990), 203–209. 130 MsBHG c. 13 mit Zitat einer Strophe aus dem Sigurðarb™lk des Ívar Ingimundarson. – Sigurðs ungewöhnlicher Beiname bezieht sich darauf, dass er bereits die niederen Weihen empfangen hatte, als er von seiner Herkunft ,erfuhr‘ und seine Karriere als Königsanwärter begann. Der Präzedenzfall des aus Irland gekommenen Harald gillacrist, der zur Bestätigung seiner Anwartschaft selber die Eisenprobe durch glühende Pflugscharen meisterte, erzielte ebenfalls einen gemischten Erfolg, obgleich die Probe in Norwegen vor den Augen des Rivalen stattfand. Vgl. unten, Kap. 4. 131 Hss c. 13 (Version ms. F): Var því trúat af faðerni hans, er Haralds konungr hafði til sagt.
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weitere – sachlich zweifellos naheliegende – Zweifel an der biologischen Vaterschaft erschien damit allen Beteiligten gegenstandslos. Eysteins rascher Erfolg war kein Einzelfall in einer politischen Sonderlage. Das zeigt die Bedeutung des Themas der ættleiðing, der „Sippenleite“ (oder „Einführung in die Familiengruppe“), in den Sagas und den rund zwanzig skandinavischen Landrechten hin. Letztere sind als sozialgeschichtliche Quellen nicht weniger problematisch als die Sagas, da sowohl über ihre Entstehungszeit als auch über den Status der einzelnen Verschriftlichungen wenig Sicheres und viel Widerstreitendes gesagt werden kann. Schon die vier festlandnorwegischen Rechte132 variieren beträchtlich. Für die beiden südöstlichen ist die Überlieferung zudem lückenhaft. Das westländische Gulathings- und das drontheimische Frostathingsrecht sind vollständig, wenn auch in späten Redaktionen erhalten. Snorri schreibt diese Rechte, wie gesagt, König Hákon dem Guten zu und verlegt sie damit ins zehnte Jahrhundert; König Magnús der Gesetzesverbesserer, der unter anderem eine Neufassung des Frostathings-Gesetzes veranlasste, bezeichnete die älteren Schichten in einem Versuch, das königliche Legislativrecht in die Vergangenheit zurückzuverlegen, als „die Gesetze König Olavs des Heiligen“133 aus dem frühen elften Jahrhundert. Je nach Methode (oder vielleicht auch Wunsch) datieren die Forscher größere oder kleinere Teile innerhalb dieses Zeitraums früher oder später, wobei die sprachlich-stilistische Untersuchung im Hinblick auf die Frage nach der Stabilität der jeweils vorauszusetzenden mündlichen Überlieferung vermutlich die sinnvollste Herangehensweise ist; selbst sie aber bietet keine Gewähr gegen die Möglichkeit, dass die Legislatoren oder Redakteure des 13. Jahrhunderts sich gelegentlich altertümlicher Sprachformen bedienten, um Neuerungen zu nobilitieren – so, wie die zeitgleichen Sagaschreiber neue Skaldenstrophen in altertümelndem Nordisch verfassten und sie unter die ,echte‘ Überlieferung mengten.134 Meiner Ansicht nach empfiehlt es sich, die Rechte als ,sagazeitlich‘ aufzufassen, und zwar in dem doppelten Sinn, den das Wort auch im Hinblick auf die Sagas hat: Sie bieten das Bild von der Summe gegenwartsrelevanter Vergangenheit, das ihre Verfasser im späten 12. und im 13. Jahrhundert vermitteln wollten, wobei mit „Verfasser“ nicht die Autorenpersönlichkeit, sondern die konsensuale oder kontroverse ,Textgemeinschaft‘ von 132 Es sind: das Gulathing (für das Westland zwischen Jæren und Stadland) mit Thingstätte in Guli am Ausgang des Sognefjords; das Frostathing (für das Trøndelag/Þrándheim und die Küstenregionen Møre und Hålogaland) mit Thingstätte auf der kleinen Halbinsel Frosta im Trondheimsfjord; das Borgarthing (für Viken, die Landschaften um den Oslofjord) mit Thingstätte im heutigen Sarpsborg; das Eidsivathing (für das Binnenland) mit Thingstätte in Eid südlich des Mossjø, wo sich 1814 die liberale Opposition gegen die Angliederung Norwegens an Schweden versammelte und die liberale „Eidsvoll-Verfassung“ verkündete, die als Beginn der modernen norwegischen Staatlichkeit gilt. 133 Prolog zum Frostathings-Recht (in: NgL, Bd. 1, 119–258, hier 121): l™g ins helga Olafs konungs. 134 Vgl. von See, Altnordische Rechtswörter (1964); Robberstad, Rettssoga, Bd. 1 (1971); Sjöholm, Gesetze als Quellen (1977); dies., Sveriges medeltidslagar (1988); Venås, Kvinne og mann (1989); Rindal, Dei norske mellomalderlovene (1995); Røsstad, Á tveim tungum (1997); Helle, Lov og rett (1999).
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Schreiber/Erzähler und Lesern/Hörern gemeint ist.135 Unter diesem Gesichtspunkt zählen die Rechte – zweifellos mit Sorgfalt und unter Anteilnahme zahlreicher einflussreicher Menschen formulierte Texte – zu den wichtigsten ,Selbstzeugnissen‘ dieser Gesellschaft, und ihr Parallelzeugnis zu den Sagaberichten über die Integration von außen kommender ,Brüder‘ als Ergebnis der polygyner Praxis ist hochwillkommen. Das Frostathings-Recht enthält in seinem Fragen von Erbe und Vormundschaft gewidmeten neunten Teil gleich einleitend das (hier vollständig zitierte) Kapitel Um ættleiðing : Der ist ein zu vollem Recht in das Geschlecht Eingeführter, wenn der Vater seinen Sohn in das Geschlecht einführt (leiðir í ætt) und diejenigen zustimmen, die des Mannes nächste Erben sind, der seinen Sohn in das Geschlecht einführt. Bier von drei Sald [ein Hohlmaß] soll man bereiten und einen Ochsen von drei Wintern schlachten und die Haut des rechten Hinterbeines oberhalb des Gelenkes abziehen und daraus einen Schuh machen. Da soll der Vater den Einzuführenden hineinsteigen lassen, und er soll seine Söhne in den Armen haben, die noch unmündig sind, und es sollen seine Söhne in den Schuh steigen, die volljährig sind. Und wenn er keine erbberechtigten Söhne hat, da sollen diejenigen in den Schuh steigen, die seinem Erbe die nächsten sind. Und man soll den Mann aufnehmen in den Schoß der Männer und Frauen. In gleicher Weise sollen Frauen dem Manne für vollgültige Einführung in das Geschlecht Zeugnis ablegen wie ein Mann, und der Schuh, in den sie hineingestiegen waren, wenn er aufbewahrt wird [sic]. Den von einer Magd geborenen Sohn soll man in das Geschlecht einführen, wenn ihm die Freiheit gegeben ist, und die gibt ihm entweder der Vater oder der Bruder oder irgendeiner, der seinem Erbe am nächsten ist, er sei jung oder alt, wenn diejenigen zustimmen, die am nächsten dem Erbe derjenigen sind, die ihn in das Geschlecht einführen wollen. Und in gleicher Weise soll man den Sohn einer freien Frau (frjálsrar konu son) wie den einer Magd (sem þýjar) in das Geschlecht einführen. Ebenso sollen alle im Geschlecht geborenen Männer der Ringbußgemeinschaft jemanden in das Geschlecht einführen dürfen wie der Vater und der Bruder, wenn diese nicht vorhanden sind.136
135 Zum Begriff vgl. Stock, Implications (1983), ibs. 522; zum Gebrauch Rüdiger, Aristokraten und Poeten (2001), ibs. 188ff. 136 Frostathings-Recht (in: NgL, Bd. 1, 119–258), IX §1: Sá er ættleiðingr at fullu er faðer leiðir í ætt sun sinn oc þeir menn iáta et þá ero þess manns arfar næster er sun sinn leiðir í ætt. Þriggia sállda öl scal gera, oc höggva uxa þrevetran oc flá ax heming af eftra foti hinum hœgra fyrir ofan hœkilinn, oc gera scó or. Þar scal Faðer láta ættleiðing stíga í, oc hafa sunu sína þá í faðmi ser er í ómegð ero. En þeir sculo synir hans í þann scó stíga er fulltíða ero. En ef hann á sunu enga arfgenga, þá sculo þeir menn í þann scó stíga er þá ero arfi hans næstir, en þann mann scal leiða á reca scaut oc rygia. Jamt sculo conor bera vitni þeim manni sem carlmadr [!] til ættleiðingar at fullu, oc scór sá er þeir stigu í ef hann er hirðr. Þann þýborenn sun scal í ætt leiða er honum er frelsi gefit, oc gefr annartveggia faðir eða bróðir, eða hvegi maðr er arfi hans er næstr, hvárt sem sá er ungr eða gamall. Oc iáta þeir menn er arfi ero þá næstir þeirra manna er þá vilia mann í ætt leiða. En iamt scal friálsrar kono sun sem þýjar í ætt leiða. Svá sculo aller bauggilldismenn ættbornir leiða mann í ætt sem faðir eða bróðir ef þeir ero eigi til. Übersetzung: Meißner, Frostothings (1939). – Die „Ringbußgemeinschaft“ (bauggildismenn) ist die im Gesetz geregelte Ausdehnung der gegenseitigen Haftung im Falle einer durch Mannbußzahlung beizulegenden Untat, gewöhnlich Totschlag;
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Zwei Grundsätze durchziehen die leicht kasuistische Prosa der Bestimmung: der Konsens der Geschmälerten und die Freiheit der Entscheidungsbefugten. Wenn der Vater (oder Bruder usw.) es will und wenn die, „die dem Erbe am nächsten stehen“, deren voraussichtliches Erbteil also durch die Aufnahme eines weiteren Erbberechtigten verringert wird, zustimmen, dann gibt es keine Schranken für die ættleiðing eines ,Sohnes‘, wenn der, der ihn aufnehmen will, ihn so nennt. Ausdrücklich wird der Sohn einer Freien mit dem einer Sklavin gleichgesetzt; es ist zweifelhaft, ob die kategoriale Unterscheidung im 13. Jahrhundert noch lebensweltliche Relevanz hatte137, aber innerhalb des narrativen Systems des Gesetzes ist das Gegensatzpaar wichtig: Es werden keine Unterschiede zwischen den Kindern hochstehender Frillen und denen von Landarbeiterinnen gemacht. Das Gulathings-Recht (§52), das für die ættleiðing dasselbe Verfahren vorschreibt, ist noch umständlicher in der Zeremonie mit dem Schuh und schreibt sogar eine vom Vater zu sprechende Formel vor, die in ihren stabreimenden Parallelismen offensichtlich Anciennität suggerieren soll. Auch unter den in Frage kommenden Söhnen wird weiter differenziert: neben dem „Magdsohn“ gibt es den „Winkeljungen“ (hornungr) und den „Buschjungen“ (hrísungr). Ersterer ist definiert als „Sohn einer freien Frau, für die keine Munt gezahlt ist, wenn der Vater bei Licht in ihr Bett gegangen ist“; der Buschsohn ist „der Sohn einer freien Frau, aber heimlich erzeugt“.138 Der Unterschied zwischen offenem und heimlichem Tun kann zwar, wie später (Kap. 2) zu erörtern ist, für die Beteiligten beträchtlich sein; für den Nachkommen bleibt er im Rechtsbuch hingegen folgenlos: Buschsohn, Winkelsohn, Magdsohn, „sie kommen zu vollem Erbrecht“.139 Ja, der gesamte neunte Teil des Frostathings-Rechts wird mit der Maxime eröffnet: „Der Sohn sie entspricht in etwa der Verwandtschaft 3. Grades ,germanischer‘ Zählung des zeitgenössischen Kirchenrechts. – Meißner übersetzte ætt, das etymologisch entfernt mit ‚atzen‘ zusammenhängt, als „Geschlecht“. Mit Blick auf die traditionelle mediävistische Unterscheidung von ‚Sippe‘ und ‚Geschlecht’ (svw. ‘kin/lineage’) verwende ich lieber ‚Sippe‘, denn es geht um die Gruppe der lebenden lateralen Verwandten. Das passt auch zum Usus der skandinavischen Wissenschaftssprachen: Das im Mittelalter aus dem Sächsischen entlehnte ‚slægt/släkt/slekt‘ (dän./schwed./norw.) entspricht „Geschlecht“, das altnordische ,æt(t)/ätt‘ der ‚Sippe‘, auch in dem weitverbreiteten Begriff ‚ættesamfund/ättesamhälle‘ (‚[vorstaatliche] Sippengesellschaft‘). Zur umfangreichen Debatte vgl. aus rechtshistorischer Sicht zuletzt zusammenfassend Hansen, Concept of kinship (2005). 137 Iversen, Trelldommen (1997); Karras, Slavery and society (1988); Krag, Norges historie (2000), 212; Eljas Orrman, The Condition of the Rural Population, in: Helle, Cambridge History of Scandinavia, Bd. 1 (2003), 589–610, mit weiterführender Literatur. Zur Zeit der Redaktion dieses Textes gewann der Begriff frjálsi, hier als „frei“ glossiert, in Dänemark und Schweden bereits die enge Bedeutung ‚dem König nicht abgabenpflichtig‘, also ,adlig‘. 138 Gulathingsrecht (in: NgL, Bd. 1, 1–110), §104: Sa heiter hornongr er frialsar kono sunr er, oc eigi golldenn mundr við, oc genget i liose i hvilu hennar. En sa heitir risungr er frialsar kono sunr er oc getenn a laun. – Übersetzung: Meißner, Gulathings (1935). 139 Ebd. §104: þeir koma til allz rettar, nämlich an siebenter Stelle im gradualen Erbgang (erfðaskipan); auch bei der ættleiðing wird ausdrücklich kein Unterschied gemacht (§52).
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soll das Erbe nehmen nach seinem Vater, wenn es nach der Natur hergeht, sowohl der in das Geschlecht eingeführte wie der im Geschlecht geborene.“140 Dabei muss man bedenken, dass die komplizierte und kuriose Zeremonie mit dem Schuh, welche (die Zeremonie, nicht das Rechtsgeschäft als solches) ich für eine antiquarisierende Fabrikation der Rechtsredakteure halte, aus einer Zeit stammt, da das juridische ,encadrement‘141 die freie, durch Konsens der Befassten aushandelbare Disposition in die Defensive gebracht hatte. Die formale Regelung der Geschlechtsleite, die letzten Endes doch darauf hinausläuft, dass jedes Mitglied des Familienverbandes die Initiative ergreifen kann, wenn er sich des Konsenses der Betroffenen versichern oder seinen Willen durchsetzen kann, ist eine solche legalistische ,Einfassung‘. Faktisch ändert sich jedoch nichts an der Entscheidungsfreiheit des ætt, das somit als in familialen Begriffen verfasste Kooptations- und Interessengemeinschaft erscheint142, über die Aufnahme neuer ,Söhne‘ und ,Brüder‘. Die Sagas zeichnen dasselbe Bild wie die Rechte: In allen Genres, in den Vorzeit- und Isländersagas ebenso wie in den Königsgeschichten, erscheinen beeindruckende Frillenoder Magdsöhne, die sich zwar ihren Platz neben ihren Brüdern aus angeseheneren Verbindungen ertrotzen müssen, denen aber oft gerade dafür die besondere Aufmerksamkeit der Erzählstimme gilt. Unter vielen Beispielen sei hier nur die bemerkenswerte Figur des Þorkell krafli (,Krabbler‘143) in der um 1260/80 niedergeschriebenen isländischen Vatnsdœla saga angeführt. Der mächtige Þorgrím hat mit seiner frilla Néreið, offenbar einer in Orkney geraubten Beutefrau, einen Sohn. Er wird auf deren Veranlassung ausgesetzt, aber von Þorgríms Brüdern aufgenommen und erzogen. Þorgrím erkennt die Vaterschaft jedoch jahrelang schlicht nicht an. Die Erzählung springt nun zu einem Moment, da der Knabe etwa zwölf Jahre alt sein dürfte. Man ist gesellig, die Jungen spielen, und die Erwachsenen verhandeln gerade einen empfindlichen Punkt: den nächsten Inhaber des lokalen Godentums (goðorð), der mit traditionalem Prestige verbundenen Thingvorrangschaft.144 An dieser Stelle beginnt eine wortlose Verständigung zwischen Vater und Sohn. Der junge Þorkell nämlich starrt unablässig Þorgrím an, oder besser etwas, das er bei sich hat, nämlich eine Zieraxt, ein 140 Frostathingsrecht VIII §1: Sonr scal taca arf eptir föður sinn ef at scöpum ferr, oc svá ættleiðingr sem ættborenn. – Vgl. Sawyer, ‛Son ska taka arv etter far sin’ (1999), 56–79. „Wenn es nach der Natur (skapan ‚Schöpfung, Schöpferwerk‘) zugeht“ meint: wenn der Vater vor dem Sohn stirbt; andernfalls erbt der Vater vom (kinderlosen) Sohn. Auch hier wird jeder Unterschied hinsichtlich des ,Standes‘ der Mutter ausgeschlossen. 141 In Anlehnung an den Begriff des « encadrement (féodal, paroissial etc.) », der ,Einfassung‘ und Systematisierung der Gesellschaft durch engere Formen der Repräsentation sozialer Beziehungen. 142 Zur Kritik an der Auffassung von ætt/Sippe als strukturell grundlegender, biologisch-genealogisch fixierter Formation in Bezug auf Eigentum, Recht und Fehde, politisches Handeln vgl. Hansen, Ætten (1999), 23–55. 143 Von krafla „sich rühren, schwach bewegen“; der Beiname bezieht sich auf Þorkells charakteristisches Nasekratzen. 144 Vgl. Sigurðsson, Chieftains (1999).
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attraktives Stück aus Byzanz. Schweigen ist in allen Sagas eine der prägnantesten, auch dramatischsten Arten, sich zu äußern, und zieht unweigerlich früher oder später (manchmal erst nach Jahren) Peripetien nach sich. Þorgrím weiß dies wohl und entschließt sich, die Eskalation mitzumachen: „Was stierst du, Magdsohn?“ – wohl wissend, dass er beinahe der einzige Mann auf der Welt ist, der diese Worte ohne Todesgefahr sprechen kann. Der Knabe schweigt und starrt. Und Þorgrím legt die Karten auf den Tisch: „Was willst du dafür tun, Krabbler, dass ich dir die Axt schenke, denn ich sehe, dass sie dir sehr gefällt – und dafür, dass ich die Verwandtschaft mit dir anerkenne?“ Nun kann Þorkell sein Schweigen brechen; er bittet seinen Vater weiterzusprechen. Und der nennt den Preis: den Tod des Wettbewerbers um das Godentum; „denn dann, scheint mir, führst du dich selber ein ins Geschlecht der Vatnsdœlir.“ Eine Verhandlungsrunde wird noch abgewartet; dann rempelt der Knabe den gegnerischen Kandidaten an, provoziert und erhält eine Kränkung – „Magdsohn!“ – und erschlägt ihn mit der Zieraxt. Die Szene wird noch ein wenig unappetitlicher dadurch, dass sie nahezu straflos ausgeht: der Tote hinterlässt nur Kinder, das heißt, keiner wird die fällige Blutrache einleiten, und es kommt zum Vergleich durch Wergeldzahlung, was in den Sagas die schlechtmöglichste aller Lösungen ist. Und Þorgrím, nun Gode, erklärt öffentlich: „Er hat sich jetzt sozusagen selber in unsere Sippe aufgenommen – und nun werde ich dich auch als meinen Sohn anerkennen.“145 Ganz so brutal ist die Erpressung an einem ratlosen Kind nicht, wie es modernen Lesern spontan erscheint. Durch sein auffälliges Starren auf die Axt hat der Knabe Þorkell bereits im ersten Zug hinreichend angedeutet, dass er zur Verfügung steht. Doch gerade dies zeigt, dass ihm das Quidproquo jeden Preis wert ist, wert sein muss: Der „Magdsohn“ muss erst zeigen, dass es sich lohnt, ihn in die Familie aufzunehmen. Hat er es bewiesen, ist für seine Aufnahme keine Zeremonie mit Ochsenhautschuhen, ja kein weiteres Wort mehr nötig: „Nun hat er sich wohl selber aufgenommen.“
Zweierlei Legitimität : Sverrir von Norwegen Was in dieser Isländergeschichte über eine einzelne Familie erzählt wird, gilt genauso für die norwegische Königssippe, die den Neuling Eystein akzeptierte, bei Hákon Hákonarson Fragen stellte und Harald Gilli ablehnte. Eystein kam in Begleitung seiner gälischen Mutter aus Schottland, landete in Norwegen und machte den beiden herrschenden Brüdern die Folgen einer Weigerung, ihn zu kooptieren, nachdrücklich klar – er „führte sich selber ins Geschlecht ein“. Der berühmteste – und erfolgreichste – aller dieser Nor145 Vatnsdœla saga c. 42: Þorgrímr spurði, hví ambáttarsonr sjá stirði svá á hann. (...) „Hvat villtu til vinna, Krafla, at ek gefa þér øxina, því at ek sé, at þér lízk allvel á hana, ok hitt, at ek ganga við frændsemi þinni?“ (...) „...þykki mér þú þá sjálfr fœra þik í Vatnsdœla kyn.“ (...) „...hefir hann nú næsta sagt sik í Vatnsdœla kyn, ok mun ek ganga við faðerni þínu.“
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wegerkönige, die von den westlichen Inseln kamen und unter Berufung auf die Ubiquität des königlichen Samens ihr Nachfolgerecht reklamierten, ist Sverrir (geb. um 1150/55, r. 1177–1202), vielleicht die bedeutendste, sicherlich die interessanteste Herrschergestalt des norwegischen Mittelalters.146 In seinem Fall sind wir in der glücklichen Position, nicht auf die Sagas des 13. Jahrhunderts angewiesen zu sein, die über längst vergangene Könige berichten; sein Leben erzählt er, wie jener andere große „Außenseiter“, Caesar, als eine Mischung aus Kriegsgeschick und Glücksgunst selber, in der dritten Person.147 Das verleiht der Geschichte über seine Anfänge einen einzigartigen Grad von ,Offizialität‘ (tatsächlich wird in der Forschung häufig – und sicher zutreffend – von „Propaganda“ gesprochen); dass die Geschichte den in der Heimskringla und anderswo erzählten Herkunftsberichten königlicher „Außenseiter“ so ähnelt, attestiert jenen indirekt Repräsentativität. Wie begann also Sverrir? Er „galt“ als Sohn von Unás, einem Kammacher aus Westnorwegen, und dessen Frau Gunnhild. Mit fünf Jahren kam er zu seinem Vaterbruder, dem Bischof der Färöer, der ihn „an die Bücher setzte und ihn weihte, so dass er Priester wurde“. Diese Ausbildung war bereits ein erster Glücksfall: Sie ermöglichte es Sverrir später, stets im passenden Moment den richtigen prämonitorischen Traum zu haben, darunter jenen, der ihn in einer kritischen Lage als entmutigten Anführer einer Gruppe Desperados veranlasste, den Griff nach der Königsmacht zu wagen, da er das 1. Buch Samuel nicht nur nachlebte, sondern auch träumte und kommentierte. Vor den Karrierestart hatte Gott aber die Erkenntnis seiner Legitimität gesetzt. Sie kam – gut verständlich in der Selbstdarstellung eines Königs, dessen Herrschaft von der Auseinandersetzung mit zwei reformerischen Erzbischöfen geprägt war – direkt vom „Papst in Rom“, der Sverrirs pilgernde Mutter Gunnhild als Beichtvater verpflichtete, die „Wahrheit“ über die Geburt ihres Sohnes nicht weiter zu verschweigen. So kam heraus, dass Sverrirs Vater ,tatsächlich‘ König Sigurð war – derselbe, der auch die so reizend singende Mühlensklavin geschwängert hatte, was Sverrir passenderweise zum Bruder des Königs Hákon ,Breitschulter‘ machte, der 1162 gegen den derzeit regierenden Magnús Erlingsson verloren hatte und dessen flokk seitdem keinen recht geeigneten Prätendenten mehr hatte präsentieren können. Passend war auch, dass es Sverrir an priesterlicher Demut fehlte 146 Vgl. Koht, Kong Sverre (1942); ders., Korleis vart kong Sverre son til Sigurd Munn? (1961–62), 293–302; Gathorne-Hardy, King Sverre (1956); Torkelsen, Sverre som løgner (1983), 419–448; Magnús Stefánsson, Kong Sverre (1984), 287–307; Ármann Jakobsson, Í leit af konungi (1997); Krag, Sverre (2005). 147 Anders als der Römer schrieb der Norweger nicht selber – oder vielmehr: sein Hirtius bekam volle Anerkennung als Autor: „Dieses Buch schrieb zuerst Abt Karl Jónsson, und König Sverrir kontrollierte die Arbeit und entschied, was hinein sollte (en yfir sat sialfr Sverrir konungr oc reð fyrir hvat rita scylldi).“ (SvS, Prolog.) Dem Prolog zufolge beruhen die späteren Teile der Saga auf Zeugenberichten und nicht mehr auf direkter Autorschaft. Die Heimskringla und andere Kompendien norwegischer Königsgeschichte aus dem 13. Jahrhundert enden mit dem Jahr 1177, liefern also die Vorgeschichte zur Sverris saga. – Zum Außenseiterbegriff vgl. Meier, Caesar (1982).
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und er schon mehrmals in ernste Streitigkeiten geraten war; einige drängende Träume taten ihr Übriges, und „Sverrir reiste nach Norwegen, um zu sehen, was er tun könnte.“148 Sverrirs nun folgender mühevoller, durch kirchliche Kontakte, seine Verschwägerung mit dem mächtigen götaländischen Jarl Birger Brosa und eine Reihe ominöser Wechselfälle ermöglichter Aufstieg zur Alleinherrschaft soll hier nicht weiter das Thema sein. Immerhin ist bemerkenswert, dass seine ganze Karriere hindurch niemand in herausfordernder Weise Sverrirs königliche Abkunft in Frage stellte. Die führerlos im Grenzwaldödland vagabundierenden Oppositionellen – die später berühmten, nach ihrem Schuhwerk aus Baumrinde benannten Birkibeinar – waren mehr als bereit, sich überzeugen zu lassen; zu einem Zeitpunkt zwangen sie den sich zögerlich gebenden Sverrir unter Gewaltandrohung, ihre Führung zu übernehmen. Der regierende König, Magnús Erlingsson (r. 1161–84) und der tatsächliche Machthaber, sein Vater Erling ,der Schiefe‘ (skakki), hatten ihren Herrschaftsanspruch ohnehin auf andere, neuartige Weise begründet. Magnús, kein Königssohn und nur in mütterlicher Linie aus dem Königsgeschlecht abstammend (seine Mutter Kristín war Tochter des Königs Sigurð des Jerusalemfahrers, r. 1103–30), war nämlich infolge einer Übereinkunft zwischen der Partei seines Vaters und dem neuen Erzbischof Eystein von Nidaros mit Unterstützung des eigens entsandten päpstlichen Kardinallegaten Stefan von Orvieto (und damit von Alexander III.) 1162 oder 1163 in kirchlicher Zeremonie zum König gekrönt worden. Dies war die erste nordeuropäische Krönung (die dänische Zeremonie in Ringsted folgte 1170) und machte sichtlich aus der Not eine Tugend, indem Magnús’ nach dem Herkommen unmögliches Königtum eine Legitimität neuer Art begründen sollte.149 Das neue Thronrecht (nýmæli, eigentlich: Novelle), das die Sukzession fortan regeln sollte, beruhte auf den Prinzipien der Erst- und der legitimen Geburt (sá skal konungr vera at Nóregi, er skilgetinn er Nóregskonungs sunr150) und schloss somit Mehrfachherrschaften, Reichsteilungen oder Prätendenzen grundsätzlich aus. Es stutzte zudem Harald Schönhaars Baumkrone zu einem einzigen königlichen Reis hinunter. Sverrirs Anwartschaft war – wie die der drei erfolglosen Prätendenten vor ihm – nach diesem Recht in jedem Fall gegenstandslos, worin begründet sein könnte, dass König Magnús’ Seite nie eine Wahrheitsprobe für Sverrirs Vaterschaft forderte. Die Kämpfe um das Königtum lassen sich durchaus als eine Geschichte widerstreitender Ideen vom Königtum erzählen: „vom Bandenführer zum Gesalbten des Herrn“.151 Es besteht auch kein Zweifel, dass einige der Protagonisten – Erzbischof Eystein, der bemerkenswert geschickte Königsvater Erling und König Sverrir selber, dessen ,Rede gegen die 148 SvS c. 6: Sværir bio nu ferþ sina til Noregs at sia hvat i vill geraz. 149 Vgl. Tobiassen, Tronfølgelov og privilegiebrev (1964), 191–273; Gunnes, Erkebiskop Øystein (1996); Bagge, Borgerkrig og statsutvikling (1986), 145–197; ders., Den heroiske tid (2003). 150 In: NgL, Bd. 1, §1: „König in Norwegen soll sein, wer aus rechter Ehe geborener (eigentlich: ,ordentlich gezeugter‘) Sohn eines Norwegerkönig ist“. Für den Fall fehlender Söhne oder mangelnder Idoneität sieht das Recht eine komplizierte Wahlprozedur vor, das den Bischöfen und Repräsentanten der Regionen das größte Gewicht gibt. 151 Bagge, From gang leader to the Lord’s Anointed (1996).
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Bischöfe‘152 und biblisch abgerundete Träume von einem bemerkenswerten Interesse an politischer Theologie zeugen – durchaus imstande zur entsprechenden Reflexion waren. In dieser Perspektive bedeutet Sverrirs Sieg zugleich die Niederlage der kirchlich begründeten Monarchie, wie sie 1162/63 ausgeformt worden war, in diffusionistischer Perspektive also einen ,Rückschritt‘. Anders als im beinahe zeitgleichen Falle Dänemarks hat die neue Legitimität in Norwegen keinen Erfolg gehabt, und das Throngesetz von 1163 ist kein einziges Mal praktiziert worden. Sverrir und seine Nachfolger kamen wieder unter den traditionalen Umständen zum Königsnamen.153
Ehelich, gekrönt, erfolglos Man könnte auch sagen: unter den Umständen, die die Zeitgenossen für die traditionalen hielten. Denn die volkssprachliche historiographische Aktivität in den Jahrzehnten um 1200, die Norwegen (-Island) eine im europäischen Vergleich einzigartige Position verleiht und der wir unsere Kenntnisse über Harald Schönhaars Baum verdanken, muss auch vor dem Hintergrund dieser Infragestellungen gesehen werden. Unter diesem Aspekt ist es bemerkenswert, in welcher Weise die Heimskringla mit der neuen Legitimität von 1163 umgeht. Ihre Träger, König Magnús und sein Vater Erling, gehören zu den Figuren, die als ,positiv‘ gedeutet worden sind.154 Die gescheiterte monarchische Neuformierung hingegen liegt ganz und gar nicht auf der Linie der Heimskringla, in der die Königsnahme ausschließlich das Anliegen lokaler Kräfte ist, in der jeder König und Königsanwärter formale Gleichbehandlung genießt und Kirchenmänner sich in Habitus und Epilogos nicht von weltlichen Großen unterscheiden. Snorris Kommentar zum neuen Geburtsrecht ist daher eine Meisterleistung der Ambiguität. Dem Parteiführer und Hauptarrangeur, Erling dem Schiefen, legt er im Vorfeld der Krönungszeremonie folgende Rede an den Erzbischof in den Mund: „Wenn auch Magnús nicht so zum König genommen worden ist, wie es alter Brauch (forn siðr) hier im Land ist, so könnt Ihr ihm doch aus Eurer Machtfülle die Krone geben, wie es Gottes Gesetz ist, dass man Könige zur Herrschaft salben soll. Zwar bin ich selber kein König oder stamme aus königlichem Geschlecht, doch haben die meisten Könige, die in unserer Erinne152 Hrsg. von Holtsmark (1931); vgl. Gunnes, Kongens ære (1971). Selbst wenn der Eigenanteil des Königs an der uns in nur einem Manuskript überlieferten Schrift nicht benannt werden kann, ist eine gewisses Engagement und auch eine Vertrautheit des einst selber zum clericus erzogenen Königs mit dem Kirchenrecht vorauszusetzen. 153 Sverrir ließ sich zusätzlich 1194 krönen, doch die Umstände könnten von der Krönung des Magnús Erlingsson 1162/63 nicht verschiedener sein: Der Erzbischof weigerte sich, die Handlung vorzunehmen, der Bischof von Oslo konnte nur mit Todesdrohungen bewegt werden, es schließlich zu tun, und der eskalierende Kirchenstreit kulminierte in Kirchenbann und Interdiktandrohung durch Innozenz III. 154 Von See, “Sonderkultur” (1999), 367.
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rung sind, nicht soviel wie ich von Gesetz oder Landesrecht verstanden. Und die Mutter des Königs Magnús ist die legitime (skilfengin) Tochter eines Königs und einer Königin. Auch Magnús ist der Sohn einer Königin und Eigenfrau (eiginkonu sonr). Und wenn Ihr ihm die Königsweihe geben wollt, so kann ihm später keiner mehr zu Recht das Königtum nehmen. Wilhelm der Bastard war kein Königssohn, und doch wurde er zum König über England geweiht und gekrönt, und seitdem ist das Königtum in seinem Geschlecht in England geblieben, und alle sind gekrönt worden. Sven Ulfsson [=Estridsen] in Dänemark war kein Königssohn, und doch war er dort gekrönter König, und ebenso seine Söhne und jeder andere seiner Verwandten ist gekrönt worden. Nun gibt es hier im Land einen Erzstuhl. Das ist eine große Ehre und Ruhm für unser Land. Wir wollen ihn nun noch um ein Stück vermehren, wir wollen einen gekrönten König haben, nicht weniger als die Engländer und die Dänen.“155
Es ist bemerkenswert, mit welcher Gelassenheit Snorri hier zwei Grundsätze mittelalterlicher Königsherrschaft praktisch für unzureichend erklärt: das Recht der Kirche, eine Krönung vorzunehmen, und die biblische Begründung dieses Königtums. Denn der Kontext der Rede ist folgender: Erzbischof Eystein hat eigenmächtig die Abgaben erhöht, die die Bauern im Trøndelag (in den Sagas meist der Kernlandschaft für allgemeine Protestbewegungen gegen zu harte Herrschaft) der Kirche schulden. Erling erkundigt sich, ob dies durch das „Recht des heiligen Olav“ (dem das erste Kirchenrecht zugeschrieben wird) gedeckt sei. Der Erzbischof erwidert, was immer das Recht des heiligen Olav sage, so hätten die Bauern zugestimmt, und es sei bestimmt nicht verboten, Gottes Recht zu erweitern. Erling enthält sich nicht einiger beißender Pointen über das, was dem Sagapublikum als unglaubliche Beleidigung des Königsheiligen durch den neuen Erzbischof, dessen Kathedrale noch dazu Olavs Grabeskirche ist, erscheinen musste, gibt aber zu erkennen, dass er bereit ist, die kirchliche Einkommenserhöhung durchgehen zu lassen, falls der Erzbischof ihm in puncto Krönung entgegenkomme. Eystein entgegnet nun, wenn seine Abgabenerhöhung unrecht war, so sei es Erlings „Gesetzesbruch, einen König über das Land zu setzen, der kein Königssohn ist“, noch viel mehr: „Dafür gibt es in diesem Land weder Gesetz noch Präzedenz.“156
155 MsE c. 21: „Ef Magnús er eigi svá til konungs tekinn sem forn siðr er til hér í landi, þá meguð þér af yðru valdi gefa honum kórónu, sem Guðs l™g eru til at smyrja konung til veldis. En þótt ek sjá eigi konungr eða af konungaætt kominn, þá hafa þeir konungar nú verit flestir í váru minni, er eigi vissu jafnvel sem ek til laga eða landsréttar. En móðir Magnúss konungs er konungs dóttir ok dróttningar skilfengin. Magnús er ok dróttningar sonr ok eiginkonu sonr. En ef þér vilið gefa honum konungsvígslu, þá má engi hann taka síðan af konungdóminum at réttu. Eigi var Vilhjálmr bastarðr konungs sonr, ok var hann vígðr ok kórónaðr til konungs yfir Englandi, ok hefir síðan haldizk konungdómr í hans ætt á Englandi ok allir verit kórónaðir. Eigi var Sveinn Úlfsson í Danm™rk konungs sonr, ok var hann þó þar kórónaðr konungr ok síðan synir hans ok hverr eptir annan þeira frænda kórónaðr konungr. Nú er hér í landi erkistóll. Er þat mikill vegr ok tígn lands várs. Aukum vér nú enn með góðum hlutum, h™fum konung kórónaðan eigi síðr en enskir menn eða Danir.“ 156 Ebd.: hin lagabrotin, er sá er konungr yfir landi, er eigi er konungs sonr. Eru þar hvártki til þess l™g né dœmi hér í landi.
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Natürlich bewegen sich beide schon auf das Quidproquo zu, das dann vom Legaten und den anderen Bischöfen bestätigt wird. In der Textlogik entspricht das neue Königsgesetz aber damit der vorherigen ,freiwilligen‘ Abgabenerhöhung: beides ist unerhört, ohne Präzedenz und wischt das Herkommen ebenso vom Tisch wie König Olavs Recht. Ironischerweise ist es gerade der Erzbischof, der sich – scheinbar – zum Anwalt des herkömmlichen Königsrechtes macht; das Publikum erkennt, dass er die ,richtigen‘ Argumente nur zum Feilschen benutzt, und empfindet den Abgrund zwischen Recht und Unrecht, Alt und Neu, nur umso stärker.157 Erlings Rede funktioniert ähnlich. Snorris Erling lässt keine Gelegenheit aus, die – herkömmliche – Königsunwürdigkeit seines Sohnes Magnús zu betonen („Zwar bin ich nicht aus Königsgeschlecht...“), und gegen forn siðr, den „alten Brauch“, des Erzbischofs Willkür („...aus eigener Machtvollkommenheit...“) zu stellen, wäre zwar eine grandiose Fehlleistung des historischen Erling gewesen, ist aber eine Meisterleistung des Snorri-Erling. Die tatsächlich für die Krönung ins Feld zu führenden Argumente (David, die Salbung, die Königsweihe) sind so nämlich mit dem Makel des Rechtsbruchs behaftet; die eheliche Geburt des zu Krönenden und seiner Mutter springen in ihrer Irrelevanz ins Auge: seit wann sollte es wohl wichtig sein, wo die Mutter herkommt? Den Gipfel der Ironie erreicht Snorri mit seinen beiden Beispielen aus dem nachzuahmenden Ausland: Wilhelm „den Bastard“, der ja nun gerade kein Beispiel für einen „ehelichen Sohn einer Königin“ abgibt und dessen Erbanspruch auf England (das weniger auf seiner weitläufigen Verwandtschaft als auf König Eduards angeblicher Nachfolgebestimmung beruhte) so schwach war wie nur irgendeiner. Sven Estridsen war zwar ehelicher Sohn einer Königin (Estrids, der Tochter Knuts des Großen) und eines Jarls und ist insofern ein passendes Exempel, abgesehen davon, dass es in Dänemark keine Krönungen gab – nicht aber seine sämtlichen Söhne und andere Nachfolger, die ,Erling‘ ungeschickterweise auch noch nennt. In einem Wort: Sollte das Anliegen sein, die stärksten Herrscher Englands und Dänemarks zu imitieren, so müsste man den entgegengesetzten Weg gehen. Das kirchlich gesegnete, ehelich legitime Erbkönigtum ist demnach nicht nur illegal, sondern auch ineffektiv. Wenn Erling dann noch behauptet, solch ein Königtum könne Magnús keiner mehr at réttu, mit Recht bestreiten, so ist die Travestie vollständig. Das Publikum des 13. Jahrhunderts wusste schließlich, wer Magnús und Erling nach 1177 letzten Endes stürzen würde: König Sverrir, der Frillensohn von den Färöern. Damit ist das polygyne Königtum in den Rang der eigentlich legitimen Herrschaft erhoben. Die Hilflosigkeit von Erlings doppeltem Hinweis auf die ,eheliche Geburt‘ (skilfenginn „rechtmäßig, ordnungsgemäß gezeugt“ und eiginkonu sonr „Sohn einer
157 Dass sich der größte Rechtsverbieger, Erling, noch ausdrücklich und gerade im Vergleich mit den alten Königen als Rechtsexperte gibt, wirkt in ähnlicher Weise.
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Ehefrau“158) lässt im Gegenzug das alte System, per Analogie in den Rang des sakrosankten ,Rechts des heiligen Olav‘ erhoben, als unverzichtbaren Bestandteil der politischen Ordnung hervortreten. Dazu gehört die funktionale Gleichrangigkeit der Königstochter und Ehefrau Kristín, Magnús’ Mutter, mit Álfhild, der „Königsmagd aus guter Familie“ und Mutter von Olavs des Heiligen Sohn Magnús’ des Guten, und sogar mit der singenden Mühlensklavin, der Mutter des Hákon Breitschulter: Königssohn ist Königssohn.159
Niedrig geboren und erfolgreich Der Partikularismus dieses Legitimitätsdenkens geht noch weiter. Einige der glänzendsten Sagafiguren – ,Helden‘ würde man sie nennen wollen, wären dem stoisch-maßvollen Ideal der Sagas die Konsonanzen des deutschen Wortes ,Held‘ nicht so unangemessen; gentiluomo wäre passender – werden sorgfältig nicht nur als Frillen-, sondern als Sklavinnensöhne aufgebaut. Einer von ihnen ist der oben zitierte Þorkell ,Krabbler‘, der Magdsohn mit der Axt; später sticht er seine ehelichen Brüder in Besitz und Ansehen aussticht, wird selber Gode und steht aufgrund seiner ethisch begründeten Rechtschaffenheit bereits lange als naturaliter Christianus da, bevor er in hohem Alter tatsächlich das Christentum annimmt.160 Bekannter ist Óláf pái („Pfau“, aufgrund seiner Vorliebe für prächtige Kleidung), Sohn einer irischen Sklavin, die sein Vater Höskuld auf der Heimreise nach Island auf einem Handelsplatz erstanden hat – die Laxdœla saga schildert ausführlich den Markt, die Auswahl, das Feilschen und die spärliche Kleidung des Mädchens.161 In diesem Fall erweist sich die ,taubstumme‘, hochmütig schweigende Sklavin, die nach der Rückreise nach Island aufgrund der scharfen Missbilligung durch Höskulds Frau eine eigene kleine Landwirtschaft angewiesen bekommt, später als Tochter eines irischen Königs, und ihr Sohn Óláf wird ein so strahlender Häuptling, dass man mit gutem Grund gefragt hat, ob er und die Tragödien, die sich aus seiner Vollkommenheit ergeben, nicht die Problematik von Exzellenz in einer paritären Gesellschaft erweisen sollen: „Er ist auf Mutterseite von viel besserer Abkunft als aus Vatergeschlecht; 158 Skil-, vom Verbum skilja „scheiden, trennen“ abhängig, gehört in das Wortfeld „zumessen, zuteilen“, von daher in der Rechtssprache „jedem sein Teil geben“, also „korrekt regeln“. Eiginkona „Eigenfrau“ und der entsprechende Begriff kaupa konu „eine Frau kaufen“ meint die korrekte Übertragung von Besitz (Brautpreis, Morgengabe) im Zuge einer formvollendeten Bindung. 159 Else Ebels Versuch, in den Isländer- und den Königssagas eine frühere Epoche, in der die Nebenfrauen gewöhnlich Kriegsbeute waren, von einer späteren zu unterscheiden, in der sie „aus den Reihen der Bauerntöchter“ genommen wurden (Konkubinat [1993], 64; 72), scheitert m. E., soweit es den Inhalt der Sagas angeht, an der feststellbaren Gleichzeitigkeit der verschiedenartigen Bindungen und, soweit es ihre Entstehungszeit angeht, an der Unsicherheit, eine hinreichend genaue Chronologie für die Datierung ganzer Erzählungen (im Gegensatz zu einzelnen Manuskriptversionen) zu etablieren. 160 Vgl. Lönnroth, Noble heathen (1969). 161 Laxdœla saga c. 12.
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und das wäre schon genug für uns gewesen.“162 Immer wieder wird der Eindruck hintertrieben, Magdsohn zu sein bedeute einen Makel – wohl hauptsächlich deshalb, weil das Wort tatsächlich als Beleidigung gemeint und aufgefasst werden konnte, wie die Erzählung von Þorkell ,Krabbler‘ zeigt, als tunguníð („Ehrabschneidung mit Worten“). Das Bemerkenswerte ist nicht, dass es auch im hochmittelalterlichen Skandinavien als wenig erstrebenswert galt, von einer Unfreien (oder sagen wir vorsichtiger: Geringgeachteten) geboren zu sein, und kränkend, wenn dies über jemanden behauptet wurde. Bemerkenswert ist vielmehr, dass alle Schriftquellen die Tendenz zeigen, gegen diese Vorstellung anzugehen, indem sie wieder und wieder den legalen, politischen oder charakterlichen Gleichrang aller ,Geburten‘, von Sklavin oder Königstochter, proklamieren – dann aber noch weitergehen und den Magdsohn eher noch besser dastehen lassen als seine Brüder von höherer Geburt. An dieser Stelle findet sich meines Erachtens eine Originalität, die den ,generativen Aspekt‘ nordeuropäischer Polygynie über den allgemeinen, ebenso unumstrittenen wie unbestreitbaren sozialen Zweck der Vermehrung von Nachkommen ins Spezielle hebt. Es ist dies nicht etwa eine besondere Vorliebe für Sklavenkinder als bevorzugte Erben – ein Phänomen, das im mediterranen Mittelalter, bei den Mamlūken etwa, äußerst wirkmächtig war und dessen Vorzüge, etwa der Mangel an Kognaten und die soziale Abhängigkeit des Nachfolgers vom Vorgänger, auf der Hand liegen. In der von den Sagas berichteten und externen Zeugnissen bestätigten Praxis findet sich eine generelle Bevorzugung ,niedriger‘ Geburt ebenso wenig wie das Gegenteil. Die gehäuften Bilder von exzellenten Magdsöhnen haben, wie gesagt, vor allem den Zweck, das soziale Opprobrium, das ihnen sichtlich anhaftete, zu hintertreiben. Es gibt kaum ein besseres Beispiel dafür als die Ansichten von Rögnvald, Jarls von Møre und „liebsten Freundes“ von Harald Schönhaar, über seine verschiedenen Söhne. Es waren zwei aus seiner Verbindung mit einer Magnatentochter, und er „hatte auch Frillensöhne“, drei an der Zahl. Von diesen fünfen sollten zwei zu den Gründerfiguren nordischer Neusiedelländer werden, nämlich der wohlgeborene Hrólf/Rollo, der erste Normannenfürst und Vorfahre der englischen Könige, und der Frillensohn Einar. Als es keinem Sohn gelingen will, Rögnvalds Anspruch auf die in einem Zustand der ‘frontier’Gesetzlosigkeit befindlichen Orkneys durchzusetzen, entspinnt sich folgender Dialog: 162 Ebd. c. 23 (es spricht sein künftiger Schwiegervater Egil Skallagrímsson, selber ein erfahrener Saga,held‘): „Er hann miklu betr borinn í móðurkyn en fóðurætt, og væri oss þat þó fullbóðit.“ Vgl. Meulengracht Sørensen, Fortælling og ære (1993), 257f. – Es wäre ganz verfehlt, die zahlreichen zeitweise in Sklaverei geratenen Frauen und jungen Männer der Sagas als ,Motiv‘ abzutun. Die Möglichkeit, geraubt und versklavt zu werden, war im frühen und (in geringerem Ausmaß) auch noch im hohen Mittelalter real, der Lebensweg eines Þorkell Krabbler oder Óláf Pfau und ihrer Mütter also gut denkbar. Soweit Þorkell und Óláf (und Joseph, Apollonius, Charikleia, Nicolette und Aschenputtel) ein ‚Motiv‘ sind, ist zu fragen, wie und wozu sie in ihren Narrativen erscheinen. Die Sagas zeigen hier ein großes Maß lebensweltlichen Plausibilisierungsaufwandes.
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Jarl Rögnvald sagte, dass seine Söhne ihren Vorvätern ziemlich unähnlich zu sein schienen. Da erwiderte Einar [der Frillensohn]: „Du hast mich bisher nicht hoch geschätzt, und ich hinterlasse hier nicht viel Liebe. Ich sollte wohl nach Westen zu den Inseln fahren, wenn du mir ein wenig Verstärkung dafür gibst. Dafür verspreche ich dir etwas, das dir sicher sehr viel Freude machen wird, nämlich, nie wieder nach Norwegen zurückzukommen.“ Rögnvald sagt, es würde ihn in der Tat freuen, wenn Einar nie wiederkäme – „denn ich habe wenig Hoffnung, dass deine Verwandten Ehre von dir haben werden, da dein Muttergeschlecht ganz und gar sklavenbürtig ist.“163
Die Moral ist klar: Von allen Söhnen nimmt allein der Sklavensohn die Herausforderung, die in der pauschalen Beleidigung durch den Vater liegt, an. Selbstverständlich hat er Erfolg – mit einem einzigen Langschiff sichert er seinem Geschlecht den Besitz Orkneys für dreihundert Jahre –, und mehr noch als das, erwirbt er sich doch bei dieser Gelegenheit den auf den ersten Blick kuriosen Beinamen ,Torf-Einar‘: „Er war nämlich der erste, der Torf stechen und damit Herde befeuern ließ, denn es gab auf den Orkneys keinen Wald.“164 Der Frillensohn eroberte die Inseln also nicht nur, er machte sie auch erstmals dauerhaft besiedelbar und übertraf in dieser Hinsicht, wenn auch nur in kleinem nordatlantischem Maßstab, jeden Norwegerkönig. Wozu dieses Insistieren? Gewiss nicht, um die polygyne Wahlfreiheit großer Männer im Wege jener Petitio principii zu legitimieren, die sich auf Jakob und die zwölf Stämme des Gottesvolkes, auf Briseïs und Kassandra berufen kann: quod decuit reges, cur mihi turpe putem?165 Und doch wäre die nach dem Fall von Troja vergewaltigte, zur Sklavin und Konkubine gemachte Königstochter Kassandra für die lebensweltlich stets präsente Gefahr, als Kriegsbeute ein ähnliches Schicksal zu erleiden, relevant. Einer Frau, die hertekin, „beim Heeren erbeutet“, in die Gewalt eines Mannes geriet, stand Ähnliches bevor wie Melkorka, der irischen Königstochter, die als Fünfzehnjährige geraubt und verkauft wurde und mit der ihr Käufer Höskuld, wie die Laxdœla saga präzisiert, gleich am selben Abend schlief, noch bevor er ihr anständige Kleidung gab166 (sie ist die sich stumm stellende künftige Mutter des oben erwähnten Óláf ‚Pfau‘), oder Eðla, der Tochter eines ostseeslawischen Häuptlings, die der Sveaherrscher Olav Schoßkönig „im Krieg erbeutet hatte, und deswegen nannte man sie die Königsmagd“.167 163 HsH c. 27: R™gnvaldr jarl... sagði, at synir hans myndi verða ólíkir forellri sínu. Þá svaraði Einarr: „Ek hefi lítinn metnað af þér. Á ek við litla ást at skiljask. Mun ek fara vestr til eyja, ef þú vill fá mér styrk n™kkurn. Mun ek því heita þér, er þér mun allmikill fagnaðr á vera, at ek mun eigi aptr koma til Nóregs.“ R™gnvaldr segir, at þat líkaði honum vel, at hann kvæmi eigi aptr – „því at mér er lítils ván, at frændum þínum sé sœmð at þér, því at móðurætt þín ™ll er þrælborin.“ Sehr ähnlich steht die Szene auch in der Os c. 6. 164 Ebd.: Hann var fyrir því kallaðr Torf-Einarr, at hann lét skera torf ok hafði þat fyrir eldivið, því at engi var skógr í Orkneyjum. Ähnlich Os c. 7. – Als Baumaterial war Torf auf den nordatlantischen Inseln weitverbreitet; vgl. Guðmundur Óli Ólafsson, Torfbærinn (1982). 165 Ovid, Amores II 8, v. 16. 166 Laxdœla saga c. 12: Þat sama kveld rekkði H™skuldr hjá henni. 167 OsH c. 88: Óláfr Svíakonungr Eiríksson átti fyrst friðlu, er Eðla hét, dóttir jarls af Vinðlandi [„Wendland“, in den Sagas die übliche Bezeichnung für die südlichen Ostseeländer zwischen Kie-
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Diese stets gegebene Möglichkeit und Gefahr hat, zusammen mit der in allen Quellen deutlichen Weigerung, den servilen Status per ventrem sich perpetuieren zu lassen, zur Konsequenz, dass es weder praktisch noch repräsentativ zur Verfestigung eines unfreien ,Standes‘ im Gegensatz zu anderen Bevölkerungsteilen kommen konnte: Sklaverei war ein Lebensabschnittsrisiko, das vom späteren Bekehrungskönig Óláf Tryggvason an abwärts jeder einging. Dies wiederum hat zur Folge, dass die in den Quellen häufig spürbare Annäherung der Begriffe ,Sklavin‘ (ambátt usw.) und ,Nebenfrau‘ (frilla usw.) weder auf das generelle Hervorgehen der nordischen Polygynie aus dem sexuellen Verfügungsrecht des Mächtigen über seine Mägde168 noch umgekehrt auf die Geringschätzung auch ,freier‘ Frillen und die Annäherung ihrer sozialen Stellung an die von Unfreien169 hinweist. Wiederholt bezeichnen die Sagas Frauen, die zu Königsmüttern werden, „als ,Königsmagd‘, obwohl sie aus guter Familie stammte“.170 Das ist weder ein Versuch, die niedrige Geburt eines ,guten‘ Königs zu beschönigen, noch die Herabredung einer gutsituierten frilla zur Beinahe-Sklavin. Vielmehr ist beides der Fall: Eine Frau aus guter Verwandtschaft kann als Ergebnis eines Plünderzuges die Sklavin eines Mächtigen werden, als Nebenfrau von ihm Kinder haben und später durchaus wieder in Ehren zu den Ihren zählen.171 Es gibt keinen Gegensatz zwischen den beiden in der Forschung kontrovers diskutierten Aussagen ,Nebenfrauen waren angesehen und sozial nicht stigmatisiert‘ und ,Nebenfrauen waren Sklavinnen oder wurden ihnen angenähert‘: Beides ist zugleich der Fall. Der Schlusssatz hingegen – ‚Sklavinnen waren angesehen und sozial nicht stigmatisiert‘ – ist offensichtlich absurd und ein Widerspruch in sich: ,Sklaven‘ sind ja per Defini-
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ler Förde und Frischem Haff]. Hon hafði fyrir þat verit hertekin ok k™lluð konungs ambótt. – Sie ist bei Adam von Bremen (II, 59; III, 15) die concubina Olafs und Mutter des „schlimmen“ Königs Emund, der sich nach anderen Obödienzen als Hamburg-Bremen umsieht. Vgl. unten, Kap. 4. So etwa Byock, Viking Age Iceland (2001), 132f. Dies ist die These von Karras, Concubinage and slavery (1990). Die einzige mir bekannte Ausnahme in den skandinavischen Quellen ist Saxo, der – hierin möglicherweise der veränderten Königsfolge der Waldemarenzeit entsprechend – die Kongruenz von Sklavengeburt und -wesen verteidigt (III, 6,20: Amleth enthüllt die unfreie Herkunft der Königin, deren Mutter gefangen und versklavt worden war, ne potius servili more quam genere esse videretur – ein Wechselfall wie dieser prägt also den Charakter bereits der nächsten Generation). So etwa geschieht es in der Vatnsdœla saga der Nereið, Mutter des Þorkell ,Krabbler‘, und es ist deutlich, dass der Sohn durchaus auf die Herkunft seiner Mutter setzt, als er – erfolgreich – die Nähe ihrer orkneyischen Verwandten sucht, worauf der dortige Jarl ihren Freikaufpreis und kostbare Frauengewänder nach Island schickt, ohne dass irgendjemand Groll über vergangenes Unrecht zu hegen scheint (vgl. unten, Kap. 4). Ein ähnliches Schicksal durchlebt in der Heimskringla Astríð, die Mutter Óláf Tryggvasons, während Álfhild, „Königsmagd“ und gewesene Frille Olavs des Heiligen, wie manche Merowingerkebsen ein halbes Jahrtausend vor ihr als Königsmutter ihren Ehrenplatz im Gefolge ihres Sohnes findet und nur mit Mühe und nach Ermahnung durch den Skalden Sigvat dazu zu bringen ist, Olavs kinderlos gebliebener ,Erstfrau‘, einer Königstochter aus Svealand, den Vorrang in der Sitzordnung zu überlassen: „deine Umstände haben sich durch Gottes Willen ja allerdings sehr verbessert!“ (þér þótt þinn hagr stórum, / þat vildi Guð, batni, MsG cc. 7–9).
Polygynie als Garant der Parität
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tion diejenigen, die weniger angesehen sind als die anderen, weil ihre sæmð/helgi, „Ehre“ und Integrität, nicht in ihrer eigenen, sondern in der Gewalt eines anderen sind. Daraus folgt, dass alle allgemeinen Aussagen über ,die Nebenfrauen‘, ihren Stand und ihre Würde, scheitern müssen: Es geht, ohne Ansehen von Herkunft, Stand und Funktion, allein um die Person und ihre Eigenschaften. Dies zu garantieren, ist der eigentliche Zweck der Etablierung von Parität zwischen Königstöchtern, Beutefrauen und Mühlenmägden.
Polygynie als Garant der Parität Um sogleich jedes Missverständnis auszuschließen: Hier ist keine Rede von Gleichheit. Parität und Egalität sind grundverschiedene Dinge; mehr noch, Parität ist die Voraussetzung dafür, dass Ungleichheit sich entfalten kann. Eine gesellschaftliche Formation, die auf dem agonistischen Prinzip, auf Vergleich und Wettbewerb beruht, die also komparativ organisiert ist, bedarf der allen gemeinsamen Basis, des Maßstabs, an dem die Unterschiedlichkeit ihrer Mitglieder gemessen werden kann. Nur wenn es keine apriorische Rangordnung gibt, haben alle die gleiche Voraussetzung, unterschiedliche Grade von Exzellenz zu erreichen: Ohne Tafelrunde kein Artusreich; ohne das Kombattantenkollegium, in dem nicht einmal der König sich über die anderen erhebt, kann man nicht wissen, welcher Ritter sämtliche Questen besser besteht als alle anderen, so dass ihm der siege perilous zusteht. Nun liegt das Prinzip der gleichen Startchancen jedem Wettbewerb zugrunde; die Funktionalität der Erweiterung des miles-Konzepts im hohen Mittelalter in dieser Hinsicht bedarf keiner ausführlichen Darlegung mehr.172 Im sagazeitlichen Skandinavien allerdings ist die Situation insofern eine andere, als das Rittertum – um bei ihm zu bleiben – sich als paritäre Gruppen stark agonistischen Charakters in Abgrenzung zur großen Mehrheit der Männer (und aller Frauen) konstituiert, eine gemeinsame Basis im Innern durch die – wenigstens diskursiv – immer schroffere Abgrenzung nach außen erreicht. Die Tafelrunde hat nur eine begrenzte Anzahl von Sitzplätzen. Gerade dies gilt nicht für das Nordeuropa der Sagas – das im Hinblick auf seine Übereinstimmung mit dem lebensweltlich erfahrbaren Nordeuropa der Praxis als mindestens ebenso ,wirklich‘ gelten darf wie das Westmitteleuropa der ritterlichen Kultur. Hier gibt es keine Initiationen, keine adoubements, keine Disqualifikationen kategorialer Art, nicht einmal eine Vokabel wie miles oder chevalier, kein Drinnen und Draußen; jeder hat seinen Anteil an einem gradualen System, und sein tatsächlicher Platz, gemessen an dem, was wir mit einer gewissen kulturanthropologischen Hilflosigkeit ,Ehre‘ nennen, hängt buchstäblich von Tag zu Tag von den neuen Wechselfällen, seinen Aktionen und Reaktionen ab. In diesem System werden Magnatensöhne zu Spottfiguren und Sklaven172 Vgl. Bloch, La société féodale (1939–40); Duby, Guerriers et paysans (1973); Contamine, Noblesse (1976); Keen, Chivalry (1984); Aurell, Noblesse en Occident (1996); Fleckenstein, Rittertum (2002); Morsel, Aristocratie (2004).
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söhne zu Königen und Helden, während andere Magnatensöhne Helden werden und viele Sklaven auch Sklaven bleiben. Denn man darf das System natürlich nicht für so sozial durchlässig halten, wie es sich selber gern darstellte und damit der europäischen Moderne zweihundert Jahre lang die Grundlage für die Erwartung lieferte, dass das Licht demokratischer Freiheit in Europa aus dem Norden komme.173 Wohl aber wird eines unmöglich gemacht: die Vorstellung einer ursprünglich meritokratisch begründeten, dann aber geburtsrechtlich perpetuierten Aristokratie der continuada honor anciana, wie Ramon Llull es ausdrückt.174 „Alte“ und „fortwirkende“ Ehre gibt es im Norden nicht: In der agonistischen Gesellschaft des sagazeitlichen Skandinavien hat niemand einen Kredit zu verspielen und auch kein Debet auszugleichen.
Polygynie ohne Frauen? Bislang ist immer nur von Männern die Rede. Die nordeuropäische mediävistische Frauengeschichte hat zwar, begünstigt zweifellos durch das gesamtgesellschaftliche Klima und die entsprechenden akademischen Expansionsmöglichkeiten, in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten den Weg ins diskursive Zentrum gefunden, sich aber dabei – vielleicht infolge derselben Umstände – nicht wirklich aus der Defensive befreien können, die die Zielsetzung, den Frauen ihren Platz in der Geschichte (wieder) einzuräumen, mit sich bringt. Zahlreiche Studien und zunehmend auch Darstellungen befassen sich mit der rechtlichen ,Stellung‘, den Chancen und Möglichkeiten von Frauen, ihren Handlungsspielräumen, ihrer ökonomischen Bedeutung und politischem Einfluss, kurz, ihrem Anteil an einer Gesellschaft, die ja in der Tat landläufig als ,Männergesellschaft‘ par excellence erschien.175 Neben der nötigen Neuperspektivierung ist es auf diese Weise zu beträchtlichen Verschiebungen im Gesamtbild gekommen, etwa indem die überragende Bedeutung des – aus Frauenarbeit kommenden – Textilexports für die isländische Handelsbalance und das demgegenüber geringe Gewicht des – von Männern erzielten – Surplus aus der Plünderungs- und Redistributionsökonomie deutlich gemacht worden 173 Der Locus classicus sind Montesquieu, De l’esprit des lois, XVI, 11; XVII, 5. Die Evidenz der Denkfigur liegt darin, dass das tatsächliche historische Produkt des achthundertjährigen Wandels, das moderne Nordeuropa, in der Tat aussieht wie eine gute Annäherung an diese Träume. 174 Ramon Llull, Llibre de l’orde de cavalleria c. 2. – Dass eine paritär begründete Aristokratie auch in Westeuropa den Ritterbegriff ablehnen musste und so, großräumlich betrachtet, zum ,Sonderfall‘ wird, habe ich im Hinblick auf das tolosanische Okzitanien an anderer Stelle begründet: Rüdiger, Aristokraten und Poeten (2001), 354ff. 175 Ólafía Einarsdóttir, Staða kvenna (1984); Agnes Arnórsdóttir, Kvinner og „krigsmenn“ (1990); Jesch, Women in the Viking Age (1991); Lövkrona (Hrsg.), Kvinnospår i medeltiden (1992); Helga Kress, Máttugar meyjar (1993); Jochens, Women in Old Norse society (1995); dies., Old Norse images of women (1996); Sawyer, Kvinnor och familj (²1998); Øye, Kvinner (²2001); für eine kritische Würdigung vgl. Rüdiger, „Ein rechtes Kernweib“ (2005).
Polygynie ohne Frauen?
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ist.176 Insgesamt aber haben die Frauen zwar ihren Platz im nordeuropäischen Mittelalter zuerkannt bekommen, doch ist er immer noch eine – wenn auch geräumige und gut ausgeleuchtete – Nische. Wenn die Evidenz für Frauen, die sich auf die ihnen von der modernen Forschung zugewiesenen Orte nicht beschränkten, erdrückend wird, kommt es zu Aporien. Ich nenne hier zwei: die Schildjungfrau (skjaldmær) beziehungsweise den Mädchenkönig (meykóngr), junge Mädchen, die wie bzw. stellvertretend für ihre Brüder in den Kampf ziehen, Heerschiffe führen und (namentlich in den späteren Sagas) über ganze Länder herrschen177, sowie die vieldiskutierte ,Hetzerin‘. Ist die Sagafigur der Frau, die im kritischen Moment eines Konflikts durch scharfe Spott- und Mahnreden (eggjan, von egg „Schneide, Klinge“) eine immer noch mögliche gütliche Beilegung – zu der die beteiligten Männer sogar neigen mögen – hintertreibt und eine Eskalation provoziert, ein literarisches Konstrukt auf misogyner Basis oder die Literarisierung einer lebensweltlich gegebenen Rolle der Frauen in Fragen von Ehre und Fehde?178 Die Kontroverse, die – wiederum aufgrund des starken aktuellen sozio-politischen Bezugs – zum Grundbestandteil der akademischen Lehre in Norwegen geworden ist179, muss als auf Dauer ungelöst und wohl grundsätzlich unlösbar betrachtet werden. Der Grund dafür ist, dass die Frage falsch gestellt wird. Wenn diskutiert wird, ob ,die Frauen‘ eine bestimmte soziale oder doch nur literarische Funktion in der Gesellschaft ,der Männer‘ hatten, setzt dies bereits die Annahme voraus, die grundlegende Dichotomie in 176 Andersen, Kvindearbejde i vikingetid? (1983); Damsholt, Icelandic women (1984); Anna Sigurðardóttir, Vinna kvenna á Íslandi (1985); Stalsberg, Women as actors (1991); Helgi Þorláksson, Vaðmál og verðlag (1991); Jochens, Women in Old Norse society (1995), 141–160. 177 Das Wort ist u. a. in den Annalen von Rüdekloster (DMA, 156) bezeugt, wo Hethe, die sagenhafte Gründerin von Hethæby/Schleswig, eine Schar von dreihundert virgines quae skalmøær dicte sunt, anführt. Vgl. Wahlgren, Maiden king (1938); Strand, Kvinnor och män (1980); Præstgaard Andersen, Skjoldmøer (1982); Holmqvist-Larsen, Møer (1983); Clover, Maiden warriors (1986); Kalinke, Bridal-quest romance (1990); Sawyer, Sköldmön (1998). Die aus der deutschen Nationalmythogonie bekannte ,Walküre‘ (valkyrja), Begleiterin Odins, geht möglicherweise auf tradierte vorchristliche Numina weiblicher Gestalt zurück, ist in ihrer modernen Form jedoch dem gelehrten ‚eddischen‘ Antiquarismus des 13. Jahrhunderts entlehnt. 178 Die erstere Sicht, früher bereits vertreten durch Heller, Literarische Darstellung (1958), wird neuerdings vor allem von Jenny Jochens vertreten (erstmals prononciert in: Icelandic heroine [1986]; Résumé ihrer Argumente in: Images of women [1996], 170–204), die davon ausgeht, dass die Hetzerin in früherer, „germanischer“ Zeit real, im Mittelalter aber literarisch gewesen sei und als „excuse for male failure to provide peace“ (203) habe herhalten müssen. Die Gegenposition vertritt besonders Else Mundal (z. B.: Position of women [1994]; vgl. Mundals Rezension von Jochens, Women in Old Norse society [1995], in: Maal og Minne 2/1997, 207–121) und argumentiert, der Beitrag von Frauen in gewissen Positionen zur Konfliktführung sei nicht nur gut belegt, sondern in sozialanthropologisch-vergleichender Perspektive auch plausibel. Zur Debatte vgl. Rüdiger, „Ein rechtes Kernweib“ (2005), 37ff. 179 Vgl. den Abschnitt von Ingvild Øye, „Starke Frauen?“ in dem obligatorischen Handbuch: Blom/ Sogner (Hrsg.), Med kjønnsperspektiv (²2001), 77f.
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Anlehnung an die beiden biologischen Geschlechter, die unsere Gegenwart mit den Begriffen ,Männer‘ und ,Frauen‘ verbindet und wir sie auch für das europäische Mittelalter (und andere Epochen der euromediterranen Geschichte) konstatieren können, gelte selbstverständlich auch für das mittelalterliche Skandinavien. Bei aller Schärfung der Aufmerksamkeit für die soziale Konstruktion von ,Geschlecht‘ geht die moderne Geschlechterwissenschaft doch von der grundlegenden Übereinstimmung beider Dichotomien aus: Zur ,Frau‘ (gender) wird in aller Regel diejenige, die mit den biologischen Merkmalen einer Frau (sex) geboren ist, und entsprechend gilt dies für die Männer. Wenn die besondere Aufmerksamkeit der Forschungen gerade den Berührungen, Kreuzungen und Transgressionen gilt, so bestätigen diese doch stets die Regel, der gegenüber sie als deviant oder subversiv erscheinen. Eben dies motiviert auch die Debatte um die ,starken Frauen‘, die Schildmaiden und Hetzerinnen des sagazeitlichen Skandinavien: Hat man es mit einem ungewöhnlich großen Handlungsspielraum von Frauen auf gesellschaftlichen Feldern zu tun, die zumeist Männern vorbehalten sind, oder ist die Rede von Projektionen männlichen Unbehagens auf diskursiv konstituierte Frauenfiguren? In europahistorischer Weiterung formuliert: Machen die ,starken Frauen‘ Skandinavien zum Sonderfall, indem sie einen europaweit einzigartigen Handlungsspielraum für Frauen selbst in Männerdomänen wie Krieg und Herrschaft bezeugen, oder zum Normalfall, indem sie sich als Lilith-Figuren erweisen, geschaffen von Trägern der expansiven Ideologie klerikaler Provenienz? Den wohl weitestreichenden Vorschlag zur Auflösung dieses Scheingegensatzes vermittels Hinterfragung der ‚gender‘-Binomie hat die amerikanische Germanistin Carol Clover 1993 gemacht.180 Die frühe skandinavische Kultur habe demnach eine Geschlechterordnung gekannt, die sich von sowohl der heutigen als auch von derjenigen des „christlichen Mittelalters“ wesentlich unterscheide.181 Die Opposition, die unsere eigene, das skandinavische Mittelalter beobachtende Kultur in den Begriff ‚männlich/unmännlich‘ zu fassen versuche, sei tatsächlich in einer Weise, die wesentlich über die angloamerikanische Unterscheidung zwischen ‚sex‘ und ‚gender‘ hinausgehe, vom biologischen Körper gelöst und operiere prinzipiell auf der Ebene der Sozialbeziehungen.182 Das vor allen anderen Zuschreibungsweisen – unter ihnen dem biologischen Geschlecht – entscheidende Krite180 Clover, Regardless of sex (1993); ähnlich Auður Magnúsdóttir auf dem 2. Isländischen Historikertag in Reykjavík 2002 in ihrem Beitrag über „männliche Frauen und geschlechtslose Jungfrauen im Mittelalter“. – Für das Folgende vgl. ausführlicher Rüdiger, „Ein rechtes Kernweib“ (2005). 181 Clover, Regardless of sex (1993), 364, unter Variation des Laqueurschen ‘one-sex’-Modells. Auf Clovers Haltung zum Quellenwert der Sagas für die vorchristliche Zeit braucht hier nicht eingegangen zu werden, da ihre Beobachtungen auch dann pertinent sind, wenn man sie als allein für die Abfassungszeit der Texte, das hohe Mittelalter, möglich betrachtet. 182 Die Bedeutungslosigkeit des Männer- bzw. Frauenkörpers für die Zuschreibung der fundamentalen Kategorie könnte das überraschende Fehlen des Interesses an dessen Zurschaustellung erklären, wie es für so gut wie alle anderen Manifestationen der euromediterranen Kultur so charakteristisch ist; vgl. Jochens, Male gaze (1991); Helga Kress, Gægur er þér í augum (1991), wo die männliche Schaulust allerdings als nach sozialem Niveau der Frauen differenziert verstanden wird.
Polygynie ohne Frauen?
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rium bewege sich im Wortfeld um das Verb mega „vermögen, können“. Es frage vor allem nach der Möglichkeit, dem eigenen Willen gemäß zu handeln, und trenne eine Gruppe, zu der die meisten (gesunden) Männer sowie einige Frauen gehörten, von der anderen Gruppe, einer „Regenbogenkoalition“ aus den meisten Frauen, den Kindern, Unfreien und alten, behinderten oder in einer anderen Weise (eventuell nur situational) zurückgesetzten Männern. Gewiss seien die Charakteristika der einen und der anderen Gruppe typischerweise als männlich beziehungsweise weiblich konnotiert; entscheidend sei aber, dass keine biologische Grenze die Zugehörigkeit einer Frau zu den ,Könnenden‘ verhindern noch einen Mann vor dem stets möglichen Absturz ins Unvermögen bewahren könne, der die Eingruppierung zusammen mit den Alten, Kindischen und den Frauen bedeute. Dagegen galt es anzugehen, jeden Tag aufs Neue der Umwelt zu zeigen, dass man etwas zähle, wahrgenommen werden musste. Hervorragen war Ziel und Notwendigkeit: der Kernbegriff für ein Wesen, das zum Hervorragen neigte und taugte, ist das zum Verbum skara (fram) „(heraus-) ragen“ gehörende skörungr – sprachlich, nicht aber kultural eine Parallelbildung zu „eminent“. Männlichkeit – oder vielmehr das, was wir mit ihr gleichzusetzen neigten, also skörungskap und seine Varianten – habe den steten Druck bedeutet, vor aller Augen so zu handeln, dass kein Zweifel am Besitz ebendieser Qualität aufkommen konnte.183 Für den ,generativen Aspekt‘ der Polygynie ist diese Hypothese von außerordentlicher Bedeutung. Sollte das gnadenlose meritokratische Prinzip, das dem agonalen Charakter der Sagagesellschaft zugrunde liegt, außer für die Männer auch für die Frauen – oder besser: für einige von ihnen, jene, die sich auf der Seite der megnir, der „Mächtigen, Befähigten“ befinden – gelten, so wird verständlich, warum die Quellen so sehr auf der Parität der Bettgefährtinnen und potentiellen Königs- und anderer Mütter bestehen: Nur unter der Bedingung von Parität kann die Ungleichheit der Frauen zum Ausdruck kommen, kann der durch die Außenperspektive („die Leute meinten, sie sei...“) bestimmte Grad an charakterlicher Vollkommenheit zuverlässig eingeschätzt werden. Wenn nun die zentrale soziale Dichotomie ,schräg‘ zur biologischen Geschlechtergrenze verläuft, dann ist es durchaus möglich, ein Kind zu zeugen, dessen Eltern biologisch zwar selbstverständlich ein Mann und eine Frau sind, sozial aber zur selben Kategorie gehören. Es kann sich demnach um das Kind einer normalen, der schwachen Seite zugehörigen Frau und eines ungewöhnlich schwachen Mannes handeln – eines ,weibi183 Clover, Regardless of sex (1993), 381: „...it may be just that ever-present possibility that gives Norse maleness its desperate edge.“ Zu verweisen ist hier auf die zahlreichen Formen der Ehrabschneidung mittels mehr oder minder expliziter Anspielungen auf das angeblich ‛weiche’, feige, zögernde und/oder die Frauenrolle einnehmende Verhalten des Opponenten (einschließlich homosexueller und bestialischer Akte), deren bekannteste der auch in den Rechten gut belegte níð ist – eine Defamation, die unausweichlich die schärfstmögliche Konfrontation hervorruft. Vgl. Meulengracht Sørensen, Norrønt nid (1980), der von einer „militanten maskulinen Moral“ spricht (25), aber auch Carol Clovers Vorbehalte gegen Meulengracht Sørensens Sicht in der hier besprochenen Studie, passim. – Vgl. Isidor von Sevilla, Etymologiae XI 2, 22: Virago vocata, quia virum agit, hoc est opera virilia facit et masculini vigoris est.
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1 Der generative Aspekt
schen‘, sind wir in moderner Sprache versucht zu sagen, obgleich dies ja gerade nicht den Punkt trifft. Die schlimmsten, tödlichen Beleidigungen – diejenigen, die einen Mann ins Begriffsfeld ergi („Untüchtigkeit, Schwäche“, aber mehr als das: „Nicht-Herr-seinesGeschicks-sein-können“) rücken184 – zielen auf etwas Ähnliches wie passive Homosexualität ab. Die Implikation der Kränkung geht aber eben aufgrund der sozialen, vom biologischen Geschlecht weitgehend losgelösten Definition der zentralen Dichotomie weit über Homosexualitätsschmähungen in anderen Gesellschaften hinaus. Sie übertrifft das antike Griechenland, wo die als anständig geltenden Sexualpraktiken ja ebenfalls in sehr hohem Maße sozial, nicht biologisch bestimmt waren, denn die biologische Geschlechtergrenze ist dort eben nicht in beiden Richtungen durchlässig, sondern lässt lediglich, gewissermaßen als Ausnahme von der Regel, den (innerhalb einer sozialen Gruppe dann allerdings wieder regelmäßigen) Wechsel der heranwachsenden kalokagathoí von der passiven auf die aktive Seite zu.185 Sie übertrifft sogar die Obsession der römischen Kultur, durch bestimmte Sexualpraktiken (oder auch nur entsprechende Gerüchte) die Position des dominus einzubüßen.186 Denn selbst dort droht der Absturz ins Bodenlose nicht in der Weise beständig, wie dies in der überreizten Konkurrenz der sagazeitlichen sœmdarmenn („Ehrenmänner“) der Fall ist.187 Andererseits kann ein Kind in gewissen Fällen auch Eltern haben, die beide, Vater wie Mutter, der ,starken‘, der aktiven Seite, der Schar der megnir angehören. Seine Mutter kann zu den Frauen gehören, die die Bezeichnung skörungr mikill „ein Ganz-Herausragender“ verdienen, also in derselben Klasse rangieren wie König Harald Schönhaar oder Norwegens erster Erzbischof.188 Das ist nun deswegen so erstrebenswert, weil die aus den nordischen Quellen ablesbare Vorstellung von Vererbung und Veranlagung dahin gingen, dass 184 185 186 187
Vgl. Meulengracht Sørensen, Norrønt nid (1980), 18ff. Vgl. Winkler, Eros (1994); Davidson, Kurtisanen (1999). Vgl. Veyne, Homosexualität (1984). Vor diesem Hintergrund erst werden vielzitierte Stellen verständlich, die in der Literatur gelegentlich zur Perpetuierung des Barbarenbildes gebraucht werden, wie etwa die Geschichte von der Missionstätigkeit des Reisebischofs Fríðrek in der Kristni saga (c. 4), der in Begleitung seines Freundes und Frühkonvertiten Þórvald Island bereist und predigt, bis eines Tages der Spottvers in Umlauf kommt: „Neun Kinder hat der Bischof ausgetragen, und Þórvald ist ihrer aller Vater (Hefr b™rn borit / byskup níu / þeira’s allra / Þórvaldr faðir).“ Þórvald erschlägt sofort zwei Männer, die das Lied nur kolportiert haben, und es hilft nichts, dass der Bischof abwiegelt, man könne ja auch als Pate die Kinder zur Taufe „tragen“. Þórvalds Zorn ist nicht machistische Empörung über den Versuch, seine männliche Sexualität in Abrede zu stellen, sondern die pflichtgemäße Reaktion auf die implizite Behauptung, in der Assoziation mit dem in Erscheinungsbild und Habitus, waffenlos im langen Kleid wohl tatsächlich recht blauð/,passiv‘ anmutenden Kirchenmann durch dessen Eigenschaften kontaminiert zu werden. Anders gesagt: Hätte Þórvald nicht sofort durch mehrere Totschläge mit ernsten rechtlichen Konsequenzen bewiesen, dass er noch ,aktiv‘ ist, hätte die Beleidigung in aller Augen zu Recht bestanden. 188 Es ist diese Wendung, die in den älteren deutschen Sagaübersetzungen der ,Sammlung Thule‘ notorisch als „ein rechtes Kernweib“ übersetzt wird. Das Substantiv sk™rungr bezeichnet einen hervorragenden/eminenten Menschen (mikill „groß“ ist ein verstärkendes Adjektiv). Es existiert aber nur im Maskulinum, auch wenn es für (biologische) Frauen gebraucht wird, und ist mit seiner Semantik
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erstens der Charakter eines Menschen durch das elterliche Erbe bestimmt war und zweitens der väterliche und der mütterliche Anteil dabei gleich groß waren189 – in Übereinstimmung mit der (meist nicht einmal so weit gehenden) hippokratischen, doch im Gegensatz zur in anderen Teilen Lateineuropas zunehmend die gelehrte Spekulation bestimmende aristotelische Sicht von der relativen oder gar absoluten Dominanz der Vaterseite.190 Ist das der Fall, so mussten die Kriterien für die Wahl des künftigen Elternteiles wesentlich verschieden von denen sein, die eine Frau in anderen Teilen Europas begehrenswert machte. Zwei Bedingungen – die prinzipielle Erbfähigkeit eventueller Kinder und die Vorstellung über den Anteil der Mutter an deren Charakter – disqualifizierten die nordischen Gegenstücke der puellulae anderer Länder für eine so wichtige Aufgabe. Ja, es steht zu vermuten, dass in diesen Vorstellungen der Grund dafür zu suchen ist, dass das Bild der begehrenswerten Frau, von Anmut und Reiz, in den nordeuropäischen Texten so befremdlich von der antiken, westeuropäisch-mittelalterlichen und auch der modernen Norm abweicht, dass Frauenschönheit und -aussehen ganz summarisch abgehandelt wurden – das nüchterne Adjektiv frið (sýnum) „schön (anzusehen)“ genügt bei den Frauen schon191, während Männerschönheit oft in der Weise detailliert wird, wie es die frauengeschichtliche Forschung als typisch für den ,male gaze‘ auf die Frau theoretisiert hat – und dass insbesondere Nacktheit und Entblößung allem Anschein nach keine erotisch stimulierende Wirkung auszuüben vermochten.192
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der Exzellenz einer der sprachlichen Belege für die soziale ‘gender’-Distinktion. Vgl. die Diskussion und Belege in Rüdiger, „Ein rechtes Kernweib“ (2005), 41–45. Vgl. Mundal, Kvinnebiletet (1982); dies., Forholdet (1988). Nur vereinzelt und relativ spät (etwa in der in vieler Hinsicht eigenartigen Njáls saga aus dem späten 13. Jahrhundert) gibt es Anzeichen für die Auffassung, dass auch die Sozialisation, etwa das Aufwachsen bei unwürdigen Zieheltern, Einfluss auf das Wesen des späteren Erwachsenen haben mochte. Vgl. Claude Thomasset, Von der Natur der Frau, in: Klapisch-Zuber, Geschichte der Frauen, Bd. 2 (1993), 55–83; G[undolf] Keil, Art. Zeugung: II. Medizinisch, LdM, Bd. 9, Sp. 592ff., mit weiterführender Literatur. Gestützt wird diese ,Gefäß‘-Auffassung durch Sap 7,1f: „Im Mutterleib wurde ich zu Fleisch gebildet in zehnmonatiger Frist, im Blut geronnen aus Mannessamen, wozu die Lust des Beischlafs sich gesellte (ex semine hominis et delectamento somni conveniente).“ Im Hinblick auf Gn 29,17: Rahel decora facie et venusto aspectu (die letzten beiden Worte entsprechen genau der typischen Sagawendung frið sýnum) könnte man sie als das notwendige Minimalsignal für erfolgreiche Besamung auffassen. Der beinahe einzige Fall männlicher Skopophilie in den Sagas – der spätere Liebesdichter Kormák sieht bei einem Gastbesuch von der Tochter des Hauses, die hinter der Tür steht und das Gelage beobachtet, nur die Stirn und die Knöchel, die ihn zu einigen entflammten Versen über Steinv™r mjóbeina („Schlankknöchel“) motivieren. Da es sich bei der Kormáks saga um ein Exemplar der sogenannten Skaldensagas, also Poetenviten handelt, muss man nicht einmal an eine bewußte Travestie in Anlehnung an zeitgenössische Elemente westeuropäischer Courtoisie – in diesem Fall etwa Aucassin et Nicolete – denken, um die Repräsentativität dieses Erotismus für recht gering zu halten. Die einzige nackte Frau in der gesamten Sagaliteratur ist eine zur Leichenwaschung vorbereitete Tote, die als Wiedergängerin alle in Angst und Schrecken versetzt (Eyrbyggja saga c. 50). Vgl. Jochens, Male gaze (1991); zum Theorem vgl. Mulvey, Visual and other pleasures (1989).
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Das soll nicht heißen, dass der Anblick einer Frau die männliche Lust nicht auch ohne Berechnung und Auswahl zwecks Erzielung einer idealen Kreuzung entflammen konnte. Nur waren die erotischen Reize offenbar im europäischen Vergleich auffällig exzentrischer Art. Dass eine Sagafrau wie Sálbjörg Káradóttir, die Tochter eines Berserkers und selber ein „rechtes Kernweib“ (skörungr mikill), im Auftakt der Egils saga offenbar auf den ersten Blick als anziehende Sexualpartnerin einleuchtete, ist eine Beobachtung, die uns nicht unmittelbar nachvollziehbar scheint. Doch waren ihr Sohn Grím – der als Werwolf galt – und gar ihr Enkel Egil in beinahe übermenschlicher Weise exzellent, im Guten wie im Bösen weit über den Durchschnitt hinausragend; dass Egil schon im Alter von drei Jahren dichten und mit sieben Jahren seinen ersten Totschlag vollbringen konnte, ist zwar hyperbolisch, aber nicht absurd im Rahmen eines Menschenbildes, das davon ausging, dass das Wesen eines Menschen sich zwar zu Reife und, wenn er nicht vorher umkommt, Verfall entwickelt, sich aber nicht verändert.193 Egils Tochter Þórgerð, die Ur-Urenkelin des Berserkers also und selber wie ihre Urgroßmutter Salbjörg als skörungr mikill bezeichnet194, heiratet Óláf ,Pfau‘, den Sohn des Höskuld und seiner auf Reisen gekauften Sklavin, der Irenprinzessin Melkorka; ihrer beider Sohn Kjartan wird der perfekte Ehrenmann der Saga, endgültig zu gut für diese Welt. Seine Perfektion ist die errechenbare Addition aus Achtel-, Sechzehntel- und Zweiunddreißigstelkomponenten, die das in Genealogie – das nordische Wort dafür lautet nicht umsonst mannfrœði, „MenschenGelehrsamkeit“, also eigentlich „Anthropologie“ – gründlich bewanderte Publikum ohne weiteres nachvollziehen konnte. Ähnliche Erwägungen bestimmen immer wieder auch die Partnerwahl der Herrscher in den Königssagas, und es ist davon auszugehen, dass die soziale Praxis der Länder, in denen diese Geschichten produziert und konsumiert wurden, von ähnlichen Vorstellungen und daraus resultierenden Handlungen geprägt wurden. In diesem Licht gewinnt die rätselhafte Inkonsequenz, mit der in den Königssagas die Wahrheitsprobe auf die Vaterschaft eines neu auftretenden Prätendenten gehandhabt wird, ihren Sinn. Eystein Haraldsson hatte, als er 1142 ohne weitere Beweisführung als Königssohn anerkannt und in das nun aus drei Halbbrüdern bestehende Herrscherkollektiv aufgenommen wurde, durch seine kühn durchgeführte und erfolgreiche Landung mit anschließender Erpressung der Gegenseite bewiesen, dass er dem Agon gewachsen war. Seine gälische Mutter hatte er zwar mitgebracht, aber es kam nicht mehr darauf an. Anders Hákon Hákonarson 1217. Zu diesem Zeitpunkt war das Königtum nicht nur zwischen zwei Parteien umstritten, sondern selbst in seiner eigenen Partei gab es starke Tendenzen, einen anderen Prätendenten zum König zu machen. Die Eisenprobe seiner Mutter Inga auf die wahre Vaterschaft Hákons zu diesem Zeitpunkt – eine Probe zumal, 193 Vgl. Durrenberger, Icelandic family sagas (1991), 15: „It is significant to the unfolding of the structure of a saga that we know precisely who is in it and what their characteristics are. The openings and other formulaic phrases provide this information... What happens to a person or what he or she does is immanent in the person, an aspect of the person.“ 194 Laxdœla saga c. 24; in der Übersetzung von Magnusson/Pálsson (1969), 100: „an exceptional woman“; bei Beck (1997), 63: „daß sie außerordentlich tatkräftig war“.
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die Hákon zu einem kritischen Moment der Verhandlungen von sich aus anbot – kam ein wenig spät in seiner Laufbahn. Aber was, wenn die Probe gar nicht auf den Vater, sondern auf die Mutter gemacht wurde? Wenn zu einem Zeitpunkt, da sich die Birkibeina-Partei für einen von mehreren gleichermaßen möglichen Königen zu entscheiden hatte, einer der Kandidaten zu seinen Gunsten ins Feld führte, dass seine Anlagen auch von Mutterseite her ausgesprochen königstauglich waren? Inga (und ihre bedeutende Verwandtschaft vermutlich ebenfalls) war bereit, ihren Beitrag zu leisten; man könnte über sie sagen, was die Njáls saga über ihre nicht minder formidable Frauenfigur Hildigunn sagt: „Sie war eine sehr harte und unversöhnliche Frau und von äußerster Vollendung, wenn es darauf ankam.“195 Sie unterzog sich der Kesselprobe und bestand sie, und damit galt die Königsfähigkeit ihres Sohnes als bewiesen. An dem unablässigen Agon hatten die Frauen, die sich hervortun wollten oder mussten, ebenso viel Anteil wie die Männer. Und bei diesen wie bei jenen würde der Wettstreit verzerrt durch die Einführung ungleicher Startbedingungen wie das Konzept skilgetinn/ ‚legitim‘, die Idee eines defectus natalis. Manchem kamen solche Konzepte (und Startvorsprünge) zupass, anderen nicht; Auseinandersetzungen wie die in diesem Kapitel geschilderten waren die Folge. So sorgte die Polygynie für vergleichsweise große soziale Dynamik mit oft beträchtlichen sozialen Kosten: ein ‚offenes‘ Konkurrenzsystem um Ressourcenkontrolle, ‚Ehre‘ und Handlungsspielräume. War es unter den Frauen und Söhnen Karls des Großen oder im Umkreis der Liudolfingersöhne anders?
195 Brennu-Njáls saga c. 95: Hon var allra kvenna grimmust ok skaph™rðust ok drengr mikill, þar sem vel skyldi vera. Die modernen Sprachen versagen bei der Übersetzung, daher ist ein Kommentar erforderlich. Im Original steht ein superlativischer Elativ („die ...ste aller Frauen“), der mit zwei Adjektiven gebildet wird: grim „grimm; grausam, hart, wild“ und skapharð „von hartem Wesen (skap ,Beschaffenheit‘)“. Ein drittes Attribut folgt; alle sind sie durch die additive Kopula ok verbunden, obwohl das Nordische über eine kontrastive Kopula en verfügt, die ebenso möglich gewesen wäre. Das dritte Attribut ist substantivisch und grammatisch maskulin: drengr mikill. Dies ist der Adelsbegriff par excellence; ähnlich wie sk™rungr ist er grammatisches Maskulinum und sozial überwiegend, aber nicht grundsätzlich Männern vorbehalten, das heißt, auch er reflektiert die Bipolarität ,vermögend/machtlos‘, von der oben die Rede war. Man vergleiche Andreas Heuslers hilflos-harmlose Verdeutschung in Band 4 der Sammlung Thule (Jena 1914, 208): „Sie war von unversöhnlicher und trotziger Gesinnung wie wenige und ein guter Kerl, da wo Anlaß dazu war.“ Rolf Hellers Hildigunn ist weniger bieder: „Ihr Charakter war geprägt von Härte und Trotzigkeit, sie konnte sich aber auch hochherzig zeigen, wo es darauf ankam.“ (Isländersagas, Bd. 2 [1982]) Dafür kann er die additive Reihung nicht wiedergeben und führt ein „aber auch“ ein, wo das Original ok hat. Vielleicht kann die moderne Mentalität Hildigunns Charakteristika nicht als miteinander vereinbar denken, ohne mindestens eine von ihnen bis zur Unkenntlichkeit zu verharmlosen – jedenfalls nicht bei einer Frau.
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Der habituale Aspekt
Adulescentularum non est numerus (Ct 6,7)
Vorlagen David nahm sich noch weitere Nebenfrauen und Frauen in Jerusalem, nachdem er von Hebron dorthin gekommen war. So wurden dem David noch mehr Söhne und Töchter geboren.1 … An diesen hing Salomo mit Liebe. Er besaß siebenhundert fürstliche Frauen und dreihundert Nebenfrauen.2 … Rechabeam liebte Maacha, die Tochter Absaloms, mehr als alle seine Frauen und Nebenfrauen, denn er hatte achtzehn Frauen und sechzig Nebenfrauen genommen und zeugte achtundzwanzig Söhne und sechzig Töchter.3
Diese drei Könige Israels, Vorbilder irdischer Herrschaft im Guten wie im Bösen, mögen als Indiz genügen, dass die Idee, Polygynie könnte mit Status zu tun haben, dem europäischen Mittelalter nicht fremd war. Im Folgenden soll es um diesen ,habitualen Aspekt‘ der Polygynie gehen. Dabei verwende ich den Begriff des ,Habitus‘ in seinem schlichten umgangssprachlich-metaphorischen Sinn als „Erscheinung; Haltung; Gehaben“.4 Der ,habituale Aspekt‘ der Polygynie besteht also in ihrer Außendarstellung zwecks Erwerb 1
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II Sm 5,13: accepit ergo adhuc concubinas et uxores de Hierusalem postquam venerat de Hebron / natique sunt David et alii filii et filiae. Vgl. II Sam 3,2ff. (seine Frauen und Kinder in Hebron); 1 Chr 3,1ff. (Aufzählung von Davids Nachkommen). III Reg 11,2f.: His itaque copulatus est Salomon ardentissimo amore / fueruntque ei uxores quasi reginae septingentae et concubinae trecentae. II Chr 11,21: Amavit autem Roboam Maacha filiam Absalom super omnes uxores suas et concubinas / nam uxores decem et octo duxerat concubinasque sexaginta / et genuit viginti octo filios et sexaginta filias. Duden (51990), s. v. Habitus. Vgl. Pierre Bourdieu, Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis, in: ders., Zur Soziologie der symbolischen Formen (1974), 125–158, hier 143: „...ließe sich der Habitus als ein System verinnerlichter Muster definieren, die es erlauben, alle typischen Gedanken, Wahrnehmungen und Haltungen einer Kultur zu erzeugen – und nur diese.“ In diesem Sinne würde ich die Vokabel ‚Mentalität‘ gebrauchen; vgl. Rüdiger, Aristokraten und Poeten (2001), 17f.
Vorlagen
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von sozialem Mehrwert, ähnlich wie Zierschild und Prachtgewand, die Anzahl der Ruder auf dem Langschiff (einem in den Sagas sorgfältig beobachteten Gradmesser), Tischsitte, Sprachbeherrschung oder Geschick in der Demonstration von Königsheil. Am biblisch-christlichen Fundament des Königtums der Saga besteht, allen inzwischen in der Forschung weitgehend aufgegebenen Versuchen, vorchristlich-altgermanische ,Elemente‘ gewissermaßen unter der christlichen Überlagerung freilegen zu können, zum Trotze, kein Zweifel.5 Wenn irgend möglich, so wird die Bedeutung der alttestamentlichen Bücher für die Königssagas noch unterschätzt. Ja, man könnte fragen, ob der lakonische ,klassische Sagastil‘, der – ebenfalls im Gegensatz zur früheren Auffassung – keineswegs einen Reflex der ,ursprünglichen‘ mündlichen Erzählform, sondern das Ergebnis einer allmählichen stilistischen Straffung in den Jahrzehnten nach 1200 darstellt6, in seiner radikalen Abkehr von Ornat und Pathos nicht genau diese Parallele zu jenen anderen allbekannten Geschichtsbüchern einer Zeit vor dem Neuen Bund bis in die Sprachform hinein durchkomponiert. Was also erläutert werden muss, ist nicht, dass jeder polygyne König – auch – als David und Salomo zu denken ist, sondern welchen argumentativen Gebrauch die jeweiligen Redeweisen von dieser Voraussetzung machen. Aus diesem Grund werde ich hier von der Einbeziehung der Soziobiologie und biologischen Anthropologie absehen, obgleich dies in jüngster Zeit für die Mittelaltergeschichte versucht worden und gerade zum Thema der Polygynie auch explizit eingefordert worden ist.7 In diesem Sinn hat Jörg Wettlaufer die These formuliert: „Macht und Polygynie bzw. ihre Interaktion scheinen somit in der Tat eine anthropologische Konstante zu bilden.“8 Nun kann die „Interaktion“ zwischen Macht und Polygynie zwar ein Feld, gewiss aber in sich nicht schon eine „Konstante“ darstellen – dazu müsste eine bestimmte Korrelation, etwa eine Proportionalität, zwischen Macht und Polygynie behauptet werden. Nimmt man an, dass Wettlaufer eine solche Proportionalität meint, dass also der Grad an Polygynie (Anzahl der Verhältnisse o. ä.) direkt proportional zur – wie auch immer bestimmbaren – Menge an sozialer Macht anwachse und dass diese Relation als „anthropologische Konstante“ anzusprechen sei, so könnte man einerseits 5 6
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Vgl. zuletzt Ármann Jakobsson, Í leið að konungi (1997). Diese Sicht wurde erstmals vertreten durch Sigurður Nordal, Formáli, Borgfirðinga sögur, hrsg. von dems. (1938); vgl. Meulengracht Sørensen, Fortælling og ære (1993), 73–78; Jørgensen, Sagalitteratur (2002). Sie lässt sich bis in die syntaktische Analyse durchführen, vgl. Schach, Phrase (1989). Wettlaufer, Herrenrecht (1999); ders., Male power display (2000); einschränkend ders., Von der Gruppe zum Individuum (2002), 25–51. Vgl. Devereux, Ethnopsychoanalyse (1978); Betzig, Despotism (1982); dies., Roman polygyny (1992); dies., Roman monogamy (1992); dies., Medieval monogamy (1995); Thornhill, Evolutionsbiologie und historische Wissenschaften (1992); Herlihy, Biology and history (1995). Wettlaufer, Herrenrecht (1999), 324; vgl. resümierend: „...eine anthropologische Konstante, nämlich die Beziehung zwischen Macht und Polygynie (...), die sich nicht nur mit Hilfe kulturvergleichender Studien, sondern auch aufgrund physiologischer Anpassungen des Menschen aufzeigen läßt“ (ebd., 335).
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2 Der habituale Aspekt
die Diskussion eröffnen und unter Hinweis auf (um einige beliebige Fälle zu nennen) Cn. Pompeius im Vergleich zu Mithridates VI. von Pontus, Simeon Stylites, Innozenz III. und Ludwig IX. von Frankreich die Frage stellen, wie viele Qualifikationen sowohl die Hypothese als auch der Begriff der ,Macht‘ verträgt, um als solche noch erkenntnisfördernd zu sein. Schließt man hingegen diese Fragen aus und akzeptiert, dass von nur einigen Varianten von ,Macht‘ die Rede ist (wozu die von einem spätantiken Säulenheiligen ausgeübte nicht gehört), dann lässt sich die solchermaßen qualifizierte Hypothese einleuchtend belegen, verliert allerdings ihren historischen Erkenntniswert. Eine anthropologische Konstante muss, wenn es sich wirklich um eine solche (im Gegensatz zu einem oft oder beinahe immer beobachtbaren Phänomen) handelt, im epistemologischen Interesse zur Kenntnis genommen werden, kann aber als Invariante in der historischen Erklärung keine Aufschlüsse mehr liefern. In diesem Sinne ist zwar „eine die biologischen Grundlagen menschlichen Verhaltens berücksichtigende Kulturwissenschaft“, wie Wettlaufer sie fordert9, in der Tat ein Desiderat, soweit es ihr Ziel ist, die philosophisch-anthropologischen Grundlagen der Humaniora kritisch in Frage zu stellen. Diese biologischen Grundlagen zu berücksichtigen – einmal gesetzt, sie seien einleuchtend bewiesen –, verschiebt dann aber das spezifische Erklärungspotential der Geschichtswissenschaft, ohne es zu berühren. Ist die Art Macht, wie sie ein isländischer Großgrundbesitzer, ein norwegischer Bandenführer, ein fränkischer König und ein altisraelitischer ,Richter‘ ausübten, durch eine „anthropologischen Konstante“ mit polygynen Praktiken verbunden, so erfordert es Ockhams Rasiermesser, diese „biologische[.] Grundlage[.] menschlichen Verhaltens“ aus der Erklärung herauszutrennen und die historische, zumal die komparatistische Untersuchung auf das auszurichten, was nach Marc Bloch ihre eigentliche Leistungsfähigkeit ausmacht: die „Wahrnehmung der Unterschiede“, der „,Originalität‘ der verschiedenen Gesellschaften“.10 Nicht also festzustellen, dass auch ein Mächtiger im hochmittelalterlichen Nordeuropa ein Alpha-Männchen und ein König Salomo war, ist von Interesse, sondern in welcher spezifischen Weise er es sein wollte und wahrgenommen wurde. ‚Status‘ ist ein Wort, das viel sagt und nichts erklärt. Was genau an dem Umstand, viele Frauen zu haben, statusfördernd wirkt, kann stark variieren. Ganz abgesehen davon, dass es vielleicht am wichtigsten ist, wer die Frauen sind (darum wird es in den Kapiteln 3–5 gehen), ist polygynes Verhalten eines Mächtigen auch in sich nicht immer und für alle gleichermaßen statusrelevant. Mehr noch als beim ‚generativen Aspekt‘ ist eine ,dichte‘ Analyse erforderlich, um übers Schlagwort hinauszukommen. Anstelle einer kommentierten Reihung von Fällen soll im Folgenden daher von den Beziehungen eines einzigen Mannes die Rede sein, des isländischen Häuptlings Jón Loptsson (1124 –1197).
9 Wettlaufer, Herrenrecht (1999), 336. 10 Bloch, Histoire comparée (1928/1963), 27.
Polygynie und Historiographie: Die Oddaverjar
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Polygynie und Historiographie : Die Oddaverjar Der Hof Oddi liegt im isländischen Südland, der größten zusammenhängenden landwirtschaftlich nutzbaren Zone der Insel11, nahe der Küste, rund vierzig Kilometer Luftlinie südlich des Bischofssitzes Skálholt. Der hier ansässige Familienverband, die Oddaverjar („Leute von Oddi“) gehörten in dem Prozess der allmählichen Machtkonzentration durch Allianz und Akkumulation, der das anscheinend früher eher dezentrale Island mit seinen mehreren Dutzend lokaler Häuptlingschaften seit dem elften Jahrhundert prägte, zu den Gewinnern. Im Laufe des zwölften Jahrhunderts gelang es ihnen, den Rangá-Thingbezirk, das südöstliche Südland, so gut wie vollständig zu kontrollieren und sich durch Allianzen mit anderen mächtigen Verbänden gegenüber der regionalen Konkurrenz unangreifbar zu machen.12 Im Verlauf dieses Übergangs „von Godentümern zu Fürstentümern (frá goðorðum til ríkja)“, als welches Jón Viðar Sigurðsson das ,lange‘ zwölften Jahrhundert charakterisiert13, errangen die Oddaverjar die Sicherung ihres ríki, des nunmehr territorial umschriebenen und damit für die Bevölkerung von einer neuen Art von Verbindlichkeit geprägten Machtbereichs, als eines von sechs solcher Machtzonen auf Island. In der letzten Phase der ,Freistaatszeit‘ (þjóðveldisöld), dem frühen 13. Jahrhundert, verloren sie allerdings ihre Position und waren nicht mehr unter den führenden Akteuren, deren Auseinandersetzungen Islands Unterstellung unter die norwegische Krone 1262/64 in die Wege leitete.14 Der Besitz des Hofes Oddi dürfte für den Familienverband, der sich nach ihm nannte, tatsächlich ein Grundpfeiler ihrer Macht gewesen sein. Oddi gehörte, was den land-
11 Zu den ökologischen Gegebenheiten im frühen und hohen Mittelalter vgl. Byock, Viking Age Iceland (2001), 25–62. 12 Über die frühe politische Struktur Islands herrscht heute mehr Ungewissheit als früher, da die Auskünfte, die die späten Quellen über die politische Verfasstheit der Insel während der ersten zwei bis drei Jahrhunderte geben, nicht mehr mit derselben Unbefangenheit als glaubwürdig betrachtet werden können. Dies betrifft vor allem die vielbewunderte akephale Gliederung der Insel in ,Viertel‘ mit jeweils genau festgesetzter Anzahl von Regionalversammlungen (várþing) und Godentümern (goðorð), mit legalen Kompetenzen ausgestatteten Vorrangstellungen auf heidnisch-kultischer Grundlage, die veräußerbar waren. Während die juridische Präzision des Systems nunmehr eher als ex post-Konstrukt erscheint, sind seine funktionalen Kernelemente – die Übertragbarkeit der Godentümer und deren nicht-territorialer Charakter sowie die prinzipielle Möglichkeit der die Klientel eines Goden bildenden Thingmänner, ihre Gefolgschaft einem anderen Goden anzutragen – plausibel. Hingegen ist die politische Geschichte Islands etwa seit der Einführung der Kirchenorganisation im späten elften Jahrhundert in den großen Zügen bekannt und ab dem späten zwölften Jahrhundert im Detail belegt. Vgl. Jón Viðar Sigurðsson, Chieftains (1999). 13 Ders., Frá goðorðum til ríkja (1989). 14 Vgl. zur politischen Geschichte allgemein Líndal (Hrsg.), Saga Íslands, Bd. 1– 4 (1974–89); zu den Oddaverjar Jón Viðar Sigurðsson, Frá goðorðum til ríkja (1989), 56; ders., Chieftains (1999), 13ff. und passim; Helgi Þorláksson, Gamlar götur (1989), 18f.
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wirtschaftlichen Wert anging, zur Spitzengruppe der Insel.15 Es lag in der Nähe einer Frühjahrsthingstätte16 und kontrollierte die Route vom Westland und dem zentralen Versammlungsort Þingvellir durch das Südland an der Südküste entlang nach Osten, zu der es aufgrund der vergletscherten Höhenzüge und Lavawüsten im Binnenland keine Alternative gab.17 Zudem war Oddi ein stað, ein Hof mit Kirche und der Verfügung über die dieser Kirche zustehenden Anteile am Zehnten.18 Dieser letzte Punkt sollte gegen Ende des zwölften Jahrhunderts zum Stein des Anstoßes für einen Konflikt werden, in dem einmal ein nichtköniglicher Mächtiger und seine Polygynie ausführlich beschrieben werden. Königliche Prätentionen hatten die Oddaverjar durchaus. Sæmund Sigfússon ,der Gelehrte‘ (1056 –1133), der den Sagaschreibern des 13. Jahrhunderts als erster der Oddaverjar galt19, hatte anscheinend so gute Beziehungen zum Norwegerkönig Magnús ,Barfuß‘ (berfœtt, r. 1093 –1103), dass es ihm gelang, für seinen Sohn Lopt eine Frillentochter des Königs namens Þóra zur Frau zu erlangen. Unter Magnús’ zahlreicher Nachkommenschaft waren, wie oben ausgeführt (Kap. 1), fünf spätere Könige; auch diese Tochter kann, obgleich sie in den Königssagas nicht erwähnt wird, durchaus als historisch gelten, zumal sie den Namen der Mutter des Königs, Þóra Jónsdóttir trägt. Dem Oddaverja-Sohn Lopt begegnet man später in respektabler Position in Norwegen, und dessen Sohn mit der Königstochter Þóra wurde dem Zeugnis der Heimskringla zufolge ebenfalls dort in einem Priesterhaushalt erzogen.20 Es ist jener Jón Loptsson, mit dem die Oddaverjar den 15 Nur wenige andere Höfe, darunter der Bischofssitz Skálholt oder das berühmte westisländische Reykholt, der Lieblingssitz des Snorri Sturluson, erreichten wie Oddi den Wert von 120c (hundrað vaðmála, ein Großhundert [120] Ellen Lodentuchs, des wichtigsten Produkts Islands, das als Grundlage für allgemeine Wertberechnungen gebräuchlich war). Vgl. die Zahlen für verschiedene Höfe und ihre Interpretation als Machtgrundlage der konkurrierenden Familien in Jón Viðar Sigurðsson, Chieftains (1999), 111ff., auf Grundlage von Lárusson, Icelandic land registers (1967). 16 Várþing, die regionalen Versammlungen, die dem Allthing zu Mittsommer vorausgingen. Zur Bedeutung der Lage von Stammsitzen in der Nähe von Thingstätten im Konzentrationsprozess vgl. Jakob Benediktsson, Landnám og upphaf allsherjarríkis, in: Sigurður Líndal (Hrsg.), Saga Íslands, Bd. 1 (1974), 153–196. 17 Zur ,strategischen‘ Bedeutung der Kontrolle über die Reiseroute vgl. Helgi Þorláksson, Gamlar götur (1989). Reisen durchs Binnenland mit seinen Geröll- und Lavaebenen wurden unternommen, gehören aber in den an wagemutigen Expeditionen wahrlich nicht armen Sagas zu den wenigen Unternehmungen, die mit schauderndem Respekt erzählt werden. 18 Von den vier Teilen des in den 1080er Jahren eingeführten Zehnten – den Anteilen für den Bischof, den Priester, den Kirchenbau und die Armen – konnte der Kirchenherr faktisch über die letztgenannten drei Viertel verfügen. Vgl. Gunnar Karlsson, Völd og auður á 13. öld (1980); Jón Viðar Sigurðsson, Chieftains (1999), 105ff.; Byock, Viking Age Iceland (2001), 326ff. 19 Vgl. Úlfar Bragason, Um ættartölur (1993). 20 MsBHG cc. 9–11. Der Ziehvater des Sohnes, der Priester Andréas, spielt bei der wunderbaren Rettung einer byzantinischen Heilig-Kreuz-Reliquie während eines Wendenüberfalls auf die Stadt Konghelle an der Götaelv die herausragende Rolle.
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Höhepunkt ihrer Macht erreichten und der – in mehrfacher Hinsicht zu Recht – als „der ungekrönte König Islands“ bezeichnet worden ist.21 Sæmunds ,des Gelehrten‘, des Großvaters, Prätentionen mögen für die Entstehung der isländischen Historiographie den entscheidenden Impuls gegeben haben. Sein Beiname, hinn fróði, bezog sich nämlich keineswegs auf den Umstand, dass er – sicher als einer der ersten Isländer – seine klerikale Ausbildung im Frankenreich erhalten hatte.22 Vielmehr verweist das Epitheton fróði auf ein besonderes Interesse an der regionalen, der norwegisch-isländischen Vorzeit und Gegenwart. Sæmund war, soweit wir wissen, der erste Isländer – und wohl der erste Nordeuropäer überhaupt –, der eine Historie verfasste. Sie ist nur exzerpthaft in indirekter Überlieferung bekannt, und es steht nicht einmal fest, in welcher Sprache sie verfasst war (vermutlich Latein), doch Sæmunds Ruf als Gewährsmann bei seinen Nachfolgern ließ ihn, verstärkt durch sein politisches Prestige (er war unter anderem maßgeblich an der Einführung des Zehnten beteiligt), in späteren Generationen zu einer nahezu übernatürlichen Figur anwachsen, die mit ihrem Wissen sogar die bösen Mächte überlisten konnte. Schon der historische Sæmund muss seiner Umwelt beeindruckend genug erschienen sein. Seine Verschwägerung mit einer ganzen Reihe norwegischer Könige war sicher eine wesentliche Komponente seiner Eminenz, denn mit einem Norwegerkönig in Kontakt zu treten und heil und unbeschädigt, womöglich sogar geehrt zurückzukommen, gehört in vielen Isländersagas zu den Großtaten, vor denen manch zweitrangiger Mann zurückschreckt. Sæmund hatte Grund genug, seinen Erfolg bei König Magnús nach Kräften auszunutzen, und es ist vielleicht nicht übertrieben anzunehmen, dass seine Beschäftigung mit der norwegischen Königsgeschichte den ersten Zweck hatte, sich und seine Nachkommen in eben diese Geschichte hineinzuschreiben – seinen isländischen Konkur21 Einar Ólafur Sveinsson, Nafngiftir Oddaverja (1936), 190: „ókrýndur konungur Íslendinga“; ähnlich Halldór Hermansson, Sæmund Sigfússon (1932). 22 Das Wort Frakkland wird meist als „Frankreich“ übersetzt, und in diesem Fall ist es auch wahrscheinlich, dass tatsächlich eine westfränkische Bildungsstätte gemeint ist. Allerdings wird in Übersetzungen altnordischer Texte oft vorschnell eine Gleichsetzung der Ländernamen Frakkland „Frankenland“ und Saxland „Sachsenland“ mit dem west- bzw. ostfränkischen Reich oder gar ,Frankreich‘ und ,Deutschland‘ vorgenommen. Die beiden nordischen Gegenstücke zu Francia und Saxonia können zwar diese Nuance haben, zumal auch ein nachottonischer ostfränkischer Herrscher zuweilen als keisari í Saxland o. ä. bezeichnet wird, und die Motivierung der Extension des Begriffs von den jeweils nördlichsten ethnischen Gruppen auf die politische Formation ist einleuchtend. Da aber das west- und mitteleuropäische Binnenland in der nordischen Literatur praktisch keine Rolle spielt, ist die geographische Abgrenzung von Frakkland zu Saxland ganz unklar. Während Sachsen bis hinab nach Braunschweig zur Sagawelt gehört und die französischen Westküstenregionen (Poitou, Normandie usw.) stets Frakkland sind, wird nirgends deutlich, welchem Begriff etwa das Rheinland oder andere Zentralregionen der Franken zugeordnet wurde. – Die Oddaverja-Annalen, eine Kompilation des 16. Jahrhunderts, nennen s. a. 1077 Paris als Sæmunds Studienort; wenngleich die Überlieferung für den Eintrag erheblich älter sein kann, handelt es sich doch wohl nur um eine Vermutung. Vgl. Diana Edwards Whaley, Art. Sæmundr Sigfússon inn fróði, in: EMSc, 636f., mit weiterer Literatur.
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renten zum Schaden. Dabei mag bereits der Hinweis enthalten gewesen sein, der in den erhaltenen Königssagas nie fehlt: Harald Schönhaars angebliches Nachfolgegesetz, nach welchem „die Nachkommen der Söhne Könige, die Nachkommen der Töchter Jarle“ sein sollten (darunter also seine Enkel); es ist sogar die Vermutung geäußert worden, dass Sæmund die genealogische Kontinuität von Harald Schönhaars Stamm überhaupt erstmals konstruiert hat.23 Die norwegische Karte zu spielen, war auf Island, dessen Gründungsmythos ja der Exodus jener Freien war, die sich der Königsherrschaft nicht unterwerfen wollten, stets ein Risiko; wir wissen aber, dass in der zugespitzten letzten Phase des ,Freistaats‘ im 13. Jahrhundert mehrere der führenden Akteure (unter ihnen Snorri Sturluson, mit für ihn tödlichem Ausgang) eben dieses Spiel wagten. Zur Zeit Sæmunds war die realpolitische Gefahr, dass die Norwegerkönige ihre Ansprüche aus Island in die Praxis umsetzen könnten, zudem recht gering, auch verglichen mit der Situation am Anfang des elften Jahrhunderts, so dass Sæmund den Gewinn – zu Recht, wie der weitere Verlauf der Ereignisse erwies – höher schätzen mochte. Lopt, der Gatte der Königstochter, war gleichfalls „Priester“ (prest24), und seiner Erziehung nach war dem Enkel Jón dieselbe Ausbildung bestimmt. Der praktische Nutzen war im Hinblick auf die Bedeutung der Kirche auf Oddi für die materielle Basis der Oddaverja-Macht offensichtlich, und mit der Ausbildung zum clericus und sogar dem Empfang der niederen Weihen verband sich das gesamte zwölfte Jahrhundert hindurch keinesfalls jene Tendenz zur Exklusion, die die Lage der ,der Kirche bestimmten‘ Aristokratensöhne Westmitteleuropas kennzeichnet. Das intellektuelle Milieu in Oddi scheint in dieser Zeit die beiden Domschulen zu Hólar und Skálholt und auch die sechs kleinen Klöster noch übertroffen zu haben. Neben mehreren späteren Bischöfen lernte in der dortigen, spätestens unter Lopts Bruder Eyjólf (auch er ein „Priester“) eingerichteten Schule auch Snorri Sturluson; der Knabe war im Ergebnis einer komplizierten Konfliktbeilegung von Jón Loptsson als Ziehkind aufgenommen wurde, womit Oddi auch als prägend für die Weltsicht des Heimskringla-Verfassers vorausgesetzt werden darf. Zwar ist die frühere Zuschreibung der beiden großen ‚Edda‘-Dichtungen, der heute als Werk Snorris geltenden mythographisch-didaktischen Prosa-Edda und der zunächst als Sæmundar Edda bekannt gewordenen ,Älteren‘ oder ,Lieder-Edda‘ mit ihren Götter- und Heldenliedern an Sæmund im engen Sinn nicht haltbar. Doch es ist sehr wohl möglich, dass das Amalgam aus überliefertem lokalem Geschichtswissen und mythologischen Versatzstücken mit importierter Sprache, Schrift und Stil, das die Sagaliteratur und die Eddik ermöglichte, letzten Endes tatsächlich auf Sæmund zurückgeht.25 23 Krag, Norges historie (2000), 215. Haralds historische Nachkommen hätten demnach nicht länger als drei Generationen regiert, bevor es ab etwa 970 zum Abbruch des Königtums kam. Weder Óláf Tryggvason noch Olav der Heilige und dessen Halbbruder Harald der Harte, von dem alle späteren Könige abstammen (bzw. dies behaupten), seien demnach Harald Schönhaars Nachkommen. 24 MsBHG c. 9 – wobei man nicht zu viel kirchenrechtliche Präzision in diesem Terminus suchen sollte. 25 Vgl. Halldór Hermansson, Sæmundur Sigfússon (1932).
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Sæmunds noch zu seinen Lebzeiten geborener Enkel Jón, der Sohn der Königstochter, trug die familiale Prätention von Anfang an. Hieß seine Mutter, König Magnús’ Frillentochter, nach der Königsmutter Þóra Jónsdóttir (sie wiederum war eine Frau des Königs Óláfs des Stillen gewesen), so hieß der Sohn nach dem Großvater mütterlicherseits des Königs, also seinem Ur-Urgroßvater. Diesen Zusammenhang übersieht Einar Ólafur Sveinsson in seiner detailreichen Studie zu den Namensgebungsmustern der Oddaverjar26, der zwar die im Vergleich mit den konkurrierenden Gruppen auffällige Vorliebe dieses Geschlechts für „ausländische“ Namen konstatiert und Jón als den ersten solchen onomastischen Import festhält, auf die offensichtliche Motivation der Ansippung an die mütterlichen norwegischen Vorfahren aber nicht eingeht. Bemerkenswert ist, dass die Oddaverjar den letzten Schritt nicht machen mochten, dem Sohn der Königstochter einen Herrschernamen zu geben, von denen mehrere in Frage gekommen wären: Harald (wie Jón der Name eines Ur-Urgroßvaters), Óláf (Urgroßvater) oder Magnús (Großvater des Kindes). Spätere Generationen der Oddaverjar waren nicht so zurückhaltend: Unter den zahlreichen Kindern von Jóns Sohn Sæmund (benannt nach dem gelehrtem Vorfahren) gab es Königsnamen wie Harald und Hálfdan (Harald Schönhaars Vater), den Königinnennamen Ragnhild (Harald Schönhaars Mutter), daneben auch im engeren Sinn ,christliche‘ Namen (Pál/Paulus, Andréas, Margrét), aber auch eine Solveig – den Namen der norwegischen Ziehmutter ihres Großvaters Jón Loptsson, der Gattin des Priesters Andréas aus Konghelle, worin man ein Indiz dafür sehen könnte, dass auch wenig exponierte Vorfahren, vielleicht aufgrund ihrer persönlichen Eigenschaften, als Bezugsgrößen in Frage kamen. Daneben gibt es unter Sæmund Jónssons Söhnen und Enkeln auch Bezüge auf europäische Größen: Filippus (der Apostel oder Philipp-August?), der anglonormannische Vilhjálm (vielleicht vermittelt über einige Namensträger, die Bischöfe von Orkney waren, wohin Sæmund enge Beziehungen pflegte), Kristófórus und Rikiza (dänisches Königshaus), schließlich gar ein Karlamagnús († 1310). Um die Zeit war die einstige Größe der Oddaverjar allerdings dahin. Für Jón Loptsson also, durch Geburt und Namen an den (eventuell zu diesem Zweck historiographisch konzipierten) norwegischen Königsbaum angepfropft, hing viel davon ab, ob man in Norwegen bereit sein würde, ihn anzuerkennen. Offenbar sind die Oddaverjar in dieser Sache auf einige Schwierigkeiten gestoßen. Um 1124 geboren und als Elfjähriger, zur Erziehung bei dem Priesterpaar Andréas und Solveig in Konghelle, Augenzeuge der Verwüstung der Stadt durch die Wenden, dürfte er (obgleich weitere Auskünfte fehlen) Gelegenheit genug gehabt haben, die nötigen Kontakte zu knüpfen und zu pflegen, zumal sich sein Vater zur gleichen Zeit (und vermutlich nicht nur das eine Mal, das wegen des Wendenüberfalls in den Königssagas berichtet wird) ebenfalls in Norwegen aufhielt. Dennoch war Jón beinahe vierzig Jahre alt, bevor ihm endlich die formale Anerkennung durch einen König gelang. Acht seiner Verwandten hatten zwischenzeitlich die Königsnahme erreicht, die meisten von ihnen in Konkurrenz zueinander, so dass es über26 Einar Ólafur Sveinsson, Nafngiftir Oddaverja (1936).
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rascht – und vielleicht ein bezeichnendes Licht auf das relative Bedeutung isländischer Häuptlinge innerhalb des norwegisch-atlantischen Orbits wirft –, dass keiner von ihnen die Chance nutzen mochte, das Ansippungsangebot der Oddaverjar aufzugreifen. Als es ihnen schließlich gelang, geschah es unter ganz besonderen Umständen, nämlich 1163 im Vorfeld der Krönung Magnús Erlingssons durch den Erzbischof von Nidaros unter Mitwirkung des Legaten Stefan von Orvieto. Snorri berichtet: Als es Sommer wurde, begab sich Erling der Schiefe nach Bergen. Es waren dort sehr viele Menschen versammelt. Dort waren auch der Legat Stefan aus Rom und Erzbischof Eystein und andere inländische Bischöfe. Auch Brand war dort, der gerade zum Bischof für Island geweiht worden war. Auch Jón Loptsson war dort, der Tochtersohn von König Magnús Barfuß. Da hatten König Magnús [Erlingsson] und andere Verwandte gerade die Verwandtschaft mit Jón angenommen.27
Von einer Zeremonie mit Ochsenhautschuh oder ähnlichem ist zwar keine Rede, aber die offensichtlich nötige Präsenz anderer Verwandter zeigt, dass die Kooptation Jóns (taka við frændsemi hans „seine Verwandtschaft entgegennehmen“) ein formaler Akt war. Jarl Erling, der für seinen siebenjährigen Sohn Magnús die Herrschaft führte, befand sich dabei in einer besonders schwierigen Position. Zwei Jahre zuvor hatte er sich gegen Hákon Breitschulter (den Sohn der singenden Mühlensklavin) durchgesetzt und seine Herrschaft seitdem recht gut gesichert; das Problem war, dass sein Sohn nur in der weiblichen Linie aus königlichem Geschlecht stammte. Hier war etwas Zusatzlegitimität vonnöten. Wie oben diskutiert, brachte er im Sommer 1163 gerade die Verhandlungen mit Erzbischof Eystein zum Abschluss, die die kirchliche Billigung und Krönung von Magnús und unter anderem die Einführung des Nachfolgekriteriums der ehelichen Geburt vorsah. Die Konstruktion war nicht nur, wie Snorri mit textueller Raffinesse deutlich macht, revolutionär und illegal, sondern auch realpolitisch höchst riskant, setzte Erling doch ganz auf die Unterstützung des gerade zehn Jahre etablierten Erzbistums sowie eines von mehreren konkurrierenden Päpsten. Der Königsvater hatte somit Grund genug, sich jedes verfügbaren Rückhalts zu versichern, und die Oddaverjar ergriffen die Gelegenheit, ihren Königstochtersohn endlich ins Herrscherhaus einführen zu lassen. Es ist natürlich denkbar, dass es sich hierbei lediglich um die Bestätigung einer längst von einem oder mehreren anderen Vorgängern vorgenommenen ættleiðing durch das neue Regime handelte. Der Wortlaut spricht aber eher für eine erstmalige Aufnahme; zudem erscheint es gerade bei Jón Loptsson, als Snorris Ziehvater einem der ersten Gewährsmänner der Heimskringla, nicht wahrscheinlich, dass 27 MsE c. 21: En er sumraði, helt hann [Erling skakki] norðr til Bj™rgynjar. Var þar þá allmikit fj™lmenni. Þar var þá Stephánús légátús af Rúmaborg ok Eysteinn erkibyskup ok aðrir byskupar innlenzkir. Þar var ok Brandr byskup, er þá var vígðr til Íslands. Þar var ok Jón Loptsson, dóttursonr Magnúss konungs berfœtts. Þá hafði Magnús konungr ok aðrir frændr Jóns tekit við frændsemi hans.
Ein Preislied
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ein wichtiges Ereignis wie die Geschlechtsleite zuvor übergangen worden wäre, zumal sie auch hier unmotiviert steht, im folgenden Verlauf also keine weitere textstrategische Funktion mehr erfüllt. Bemerkenswert ist übrigens, dass Jón gerade durch die in diesem Moment ausgehandelte Neudefinierung des Königtums erstmals selber in die Nähe der Königsfähigkeit rückte, die zuvor wegen seiner nur weibliche Abstammung von Magnús Barfuß nicht zur Debatte gestanden hatte, und ihn nun nur noch die nichteheliche Geburt seiner Mutter von dem regierenden König Magnús Erlingsson unterschied. Genutzt haben die Oddaverjar diese legale Grauzone nicht; die Königlichkeit Jón Loptssons kam allein im isländischen Rahmen zum Einsatz.
Ein Preislied Einen Eindruck von der Atmosphäre hochfliegender Statusprätention in Oddi vermittelt die strophische „Norwegische Königsreihe“ (Nóregs konungatal), verfasst zwischen 1184 und 1197 auf Veranlassung von Jón Loptsson und zu dessen Lob.28 Inhaltlich an die frühen isländischen Prosagenealogien, wie sie in der Íslendingabók und später häufig in den Sagas begegnen, und formal an das skaldische Preislied für Mächtige anschließend, enthält dieses 83 Strophen zu acht Versen im Versmaß kviðuháttr lange Gedicht die eigentliche Proklamation der Königsbürtigkeit der Oddaverjar mit und ab Jón Loptsson. Das historische Grundlagenmaterial fand sich in Oddi bereits vorgeformt in dem genealogischen Werk von Jóns Großvater Sæmund dem Gelehrten.29 Der Einfluss dieses genealogisch-historischen Preislieds reichte sehr bald über Island und auch Norwegen hinaus: Die Sagas der Dänenkönige, nämlich die (nur in lateinischer Paraphrase bekannte) Skjöldunga saga, die gelegentlich ebenfalls als ein Produkt der Schule von Oddi betrachtet worden ist30, und die etwas spätere Knýtlinga saga samt Nebentexten (Jómsvíkinga saga u. a.), beruhen auf Aufbau und Informationen der Nóregs Konungatal; das gilt sogar für die in der Tendenz eher ,kontinentale‘ und den Neuerungen der Waldemaren gegenüber aufgeschlossene lateinische Historie des Sven Aggesen, die einen umfangreichen, größtenteils verlorenen genealogischen Anteil enthielt.31 Mindestens der Art und der Aussage, wenn nicht sogar dem Wortlaut nach ist Nóregs konungatal demnach beinahe 28 Überliefert ist Nóregs konungatal gemeinsam mit drei anderen Gedichten und 13 Sagas überwiegend zu norwegischen Königen in der Sammelhandschrift Flateyjarbók aus der Mitte des 14. Jahrhunderts; die maßgebliche Edition ist Finnur Jónsson, Skjaldedigtning (1912–15), Bd. 1 (diplomatisch) und Bd. 2 (normalisiert). 29 Nóregs konunga tal, Skj I, 575–590, Str. 40, v. 4–8: intak svá ævi þeira sem Sæmundr sagði enn fróði „Berichtet habe ich somit ihre Ären, so wie Sæmund der Gelehrte gesagt hat.“ 30 So Einar Ólafur Sveinsson, Sagnaritun Oddaverja (1937); vgl. Bjarni Guðnason, Um Skjöldungasögu (1963), ibs. 150–80. 31 Vgl. Eric Christiansen, The Lost Genealogies, in: Works of Sven Aggesen, hrsg. von dems. (1992), 26f.
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sofort, auf jeden Fall vor 1200, in großen Teilen Nordeuropas bekannt und genrebildend geworden. Es lohnt sich ein Nahblick auf das Lied, dessen typische ‚Gebrauchssituation‘ der öffentliche (Teil-) Vortrag in Situationen zugespitzter Geselligkeit – Thing, Winterfest, Gastung – gewesen sein dürfte. Es gehört zu dem Hintergrund, vor welchem sich Jón Loptssons Liebesgeschichte abspielte. Nach zwei Strophen Prooemium mit landestypischer Adaptation allgemeiner Präskripte der Poetiken („Erst soll man weit vom Wal wegrudern, sich dann aber auf ihn stürzen, ehe es vorbei ist; nach dieser Regel habe ich vor, meine Worte zu setzen“) setzt die Königsreihe mit Hálfdan dem Schwarzen ein, dem Vater Harald Schönhaars, der hier bereits als Stammvater des Königsbaumes dasteht: „Der gebefreudige Fürst hatte viele Kinder, die zu hohem Ansehen kamen; daher geht seitdem das Geschlecht jedes Königs auf Harald Schönhaar zurück“32 – und auch mit einer beinahe abrahamitischen Regierungszeit von 73 Jahren versehen wird. In den folgenden über sechzig Strophen wird, ergänzt um einige herausragende Ereignisse (meist Schlachten und andere Arten von Triumph und Niederlage), die Abfolge der Könige in einer Art berichtet, die in allen wesentlichen Zügen dem entspricht, was auch die Heimskringla und die anderen zeitgleichen oder etwas späteren Prosahistorien berichten. Bei Magnús Barfuß, Jóns Großvater, liegt besonderes Gewicht auf der großen Zahl seiner „Kinder, die Ehren gewannen“.33 Der Name der Tochter Þóra, Jóns Mutter, hat in dieser agnatischen Reihe noch keinen Platz, doch lässt das Lob der fünf Magnússöhne, die Könige wurden – „eine edlere Brüdergruppe ist wohl auf Erden noch nie gewesen“34 – an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Nach ihnen muss leider von Niedergang berichtet werden35, von Unehre und von Greueln, die dezent angedeutet werden (aber das genügt, handelte es sich doch um nur wenige Jahrzehnte zurückliegende Ereignisse); es schimmert ein wenig die Folgerung durch, dass der Stolz des Geschlechts nunmehr in einer anderen Linie – den Oddaverjar – aufgehoben ist. Ein einziger König erhält im Folgenden ein makelloses Zeugnis ausgestellt, und zwar ausgerechnet Magnús Erlingsson: derjenige, in dessen Namen Jarl Erling 1163 die Verwandtschaft mit den Oddaverjar anerkannte. Sein in der Mutterlinie begründeter Thronanspruch erscheint ganz unproblematisch: „Die Leute des Landes gaben dem Sohn der Kristín nach dem Tod [König] Ingis den 32 Str. 8: átti gramr, sás gjafar veitti, barna mart, þaus biðu þroska; því kømr hvers til Haralds síðan Skj™ldungs kyn ens Skarar-fagra. 33 Str. 48: Frák berfœttr b™rn at ætti Magnús m™rg, þaus metorð h™fðu; v™ru þess þengils synir fremðar fljóts fimm konungar „Von Magnús Barfuß ist zu berichten, dass er viele Kinder hatte, die Ehren gewannen; von den Söhnen dieses Fürsten, dem der Ruhmgewinn zuströmte, wurden fünf Könige“. Außer diesem Umstand werden von König Magnús nur die Dauer seiner Regierung und sein Tod auf Kriegszug in Irland berichtet, bezeichnenderweise unter Hinweis auf den Sohn Eystein, den er – angeblich – dort gezeugt hatte. 34 Str. 50, v. 5–8: ...hafi varla fremri brœðr á fold komit. 35 Str. 58, v. 1–4: Nú es, heldr svát halla tekr, ævilok j™fra at telja „Nun muss vom Ende dieser Fürsten berichtet werden, das eher Ehrverlust brachte.“
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Ein Preislied
Königsnamen.“36 Viermal wird König Magnús genannt; zweimal davon geschieht es in der Umschreibung „Sohn der Kristín“ – deutlich ist das Bestreben, die Legitimität dieses anderen Königsnachkommen in weiblicher Linie zu unterstreichen. Die sich daraus möglicherweise ergebende Schwierigkeit, dass der zur Abfassungszeit von Nóregs konungatal regierende König Sverrir diesem Magnús Land und Leben genommen hatte, wird durch das unbeirrte Festhalten am agonistischen Erfolgsprinzip vermieden: Magnús regierte dreiundzwanzig Jahre lang (war also gut), dann kam Sverrir und schlug ihn (er war also besser). „Nun ist es klar, dass Sverrir, der schreckliche Kämpe, allein über das Reich gebietet: über alles, das die Nachkommen von Harald Hálfdanssohn besessen haben.“37 Der Bogen ist damit geschlossen, und in seinen letzten elf Strophen schwenkt das Gedicht zu den Oddaverjar um. Dieser Teil sei im Zusammenhang zitiert, damit nicht nur einmal ein Eindruck von Sprache und Stilmitteln im metrischen, für oral-vokale Performanz in der Festhalle geeigneten Fürstenlob des nordischen Hochmittelalters entsteht, sondern auch die Konstruktion des genealogischen Arguments deutlich wird. Besonders möchte ich das Augenmerk bei dieser Gelegenheit auf den komparativen Charakters aller Epitheta richten, des steten Appells an Begriffe wie „herausragend“, „andere übertreffend“, „den Vergleich gewinnend“, der eine Vorstellung von dem unablässigen Agon vermittelt, den Aristokraten von Jón Loptssons Schlag ihr ganzes Leben hindurch zu bestehen hatten – und zwar „mehrmals täglich“, wie es in Strophe 81 heißt:38 Þó skalk enn þokkum fleira frá Berfœtts b™rnum segja,
™ðlings þess, es aldrigi eld né járn óttazk hafði.
[73] Doch will ich nun noch mehr über die Kinder von [König Magnús] Barfuß sagen, jenes Edlen, der niemals Feuer oder Schwert fürchtete. Hét d™glings dóttir Þóra ; sú vas gipt g™fgum manni,
allra helzt, sús Jóan fœddi, vas sonsæl systir j™fra.
[74] Die Tochter des Fürstens hieß Þóra; sie war einem vielgerühmten Mann gegeben. Unter allen war sie ,sohn-gesegnet‘, die Königsschwester, die Jón gebar.
36 Str. 68, v. 4–8: gaf landsfolk ept liðinn Inga konungs nafn Kristínar bur. 37 Str. 72: Nú ’s þat sýnt, at Sverrir ræðr ógnar ™rr einn fyr ríki, øllu því, es átt hefir Haralds kyn Hálfdans sonar. 38 Die Strophen zu je acht drei- bis viersilbigen Versen sind hier ‚zweispaltig‘ gesetzt, man lese also kolonnenweise: Þó skalk enn / þokkum fleira / frá Berfœtts / b™rnum segja, / ™ðlings þess, usw.
136 Kom ráðv™nd ræsis dóttir til næfrlands nykra borgar,
2 Der habituale Aspekt g™fuglynd góðrar tíðar allra helzt Íslendingum.
[75] Die rechtschaffene Königstochter fuhr zu den ,Wohnsitzen der Seetiere‘[=Wellen; See] des Landes der Tüchtigen [Island], von edlem Sinn in einer vor allen anderen glücklichen Stunde für die Isländer. Þvít hugrakkr henni fylgði einka sonr j™fra systur,
hjarta prúðr, sás hefir allra, ýta vinr, orðlof fira.
[75] Denn nach ihr kam ihr einziger Sohn, von aufrechtem Geist, von prächtigem Wesen [Herz], der Freund der Hervorragenden, dessen Lob das aller anderen übertrifft. Þat ’s ok víst at Jóans verða metorð mest Mistar runna,
einarðlynds, þars eigusk við merkismenn m™lum skipta.
[76] Sicher ist auch dies: dass Jóns Ruhm den der anderen ,Sträucher der Walküre‘ [=Männer] übersteigt, des Zuverlässigen in allen Sachen, die herausragende Männer miteinander auszutragen haben [wörtlich: „Worte wechseln“, im juridischen Sinn: Rechtssachen verhandeln]. Nú vill kapp við konungs frænda afreksmaðr engi deila ;
giptudrjúgr sem glíkligt es, verðr vinsæll vella deilir.
[77] Kein herausragender Mann will sich heutzutage mit dem Königsverwandten messen; glückbegabt ist, wie es auch richtig ist, der gastfreundliche [eigentlich: „freund-begabte“: der Freunde zu gewinnen weiß] Goldverteiler. Þótti ™rr ok ósvikall faðir hans flestum m™nnum ;
vissi Loptr und leið skýja óvin sinn engi fœddan.
[78] Den meisten Männern erschien sein Vater zupackend [wörtlich: schnell, geschwind] und ohne Hinterlist; Lopt kannte unter dem Himmel keinen Geborenen als seinen Feind.
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Ein Preislied En Sæmundr sína vissi Sigfús sonr snilli jafnan,
faðir Lopts, sás firum þótti h™fuðsmaðr við hluti alla.
[79] Und auch Sæmund, Sohn des Sigfús, bewies stets seine Vorzüge, der Vater des Lopt, der in allen Dingen als der Erste [wörtlich: „Haupt-Mann“] von allen galt. Þat hefr ætt Oddaverja j™fra kyn alla prýdda
dóttursonr sá d™gum optar fremsk margnýtr Magnús konungs.
[80] So hat das Königsgeschlecht die Sippe der Oddaverjar ganz geschmückt: der Tochtersohn des Königs Magnús erweist sich öfter als in allen Dingen beschlagen [wörtlich: „viel-fähig“], als Tage sind.
Nefnðak áðr nær þrjátøgu tígna menn, tíri gœdda,
þrætulaust en þeir eru Jóans ættar allir j™frar.
[81] Ich habe zuvor beinahe dreißig würdige Männer genannt, die Ruhm und Ehre beschenkten [d. h. deren Existenz ein Wachstum von Ruhm und Ehre bedeutete]; es steht außer Zweifel, dass diese Könige alle aus Jóns Geschlecht sind. Nú biðk Krist, at konungs spjalli hafi þat alt, es œskir sér,
giptudrjúgr, af goði sj™lfum allan aldr ok unaðs njóti.
[82] Nun bitte ich Christus, dass der Vertraute des Königs alles haben möge, was er sich wünscht; der Glückbegabte möge sein ganzes Leben die Gunst von Gott selbst genießen.39
In Stil und Diktion unterscheidet sich dieses Preislied nicht wesentlich von anderen Exemplaren seiner Art. Es ist ein Prestigeprodukt; eine solche drápa zu besitzen, stellte bereits einen wesentlichen Teil des Habitus eines Großen dar. Wenn der Skald Sighvat 39 Skj I, 575–590. Die (Teil-) Übersetzung – meines Wissens die erste deutsche – verzichtet auf jede stilistische Ambition, die glättend wirken könnte, zugunsten der Detailtreue einzelner Wendungen.
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2 Der habituale Aspekt
dem König Óláf Haraldsson unumwunden erklärte: mátt eiga eitt skáld, „man muss einen Skalden haben!“40 – dann spielte er genau auf dieses entscheidende Element der ja wesentlich auf Außenwirkung und Außenwahrnehmung beruhenden ‚Handlungsethik‘ an. Innere Vollkommenheit zu besitzen, die sich verbarg, ist in dieser Vorstellungswelt nicht nur absurd, sondern schlichtweg unmöglich, da sämtliche Begriffe der altnordischen Fürstenrede, die mit dem durch Jahrhunderte abendländischer Frömmigkeitsgeschichte beladenen Wort ‚Tugend‘ nur wörterbuchartig zusammengefasst werden können, von Außenwirkung und Außenwahrnehmung abhängen. „Er galt als...“, „ihm kam Lob zu für...“, „viele sagten, er sei...“ sind die üblichen Wendungen, in denen die Dichtung, insbesondere aber die Sagas von menschlicher Exzellenz sprechen. Abaelards berühmtes Diktum von der Sündlosigkeit von Christi Henkersknechten wäre in dieser Begriffswelt auf noch mehr Unverständnis gestoßen als anderswo im europäischen zwölften Jahrhundert. Der Charakter eines Menschen erweist sich nicht nur in seinen Taten, sondern er ist allein in seinen Taten – oder besser: in der Weise, wie seine Taten vom allgemeinen Urteil aufgenommen werden, denn manchem wird für eine Tat Ruhm zuteil, die einen anderen sämtliches Ansehen kostet; das hängt von Vorleben und Situation ab und verdeutlicht einmal mehr den äußerst variablen, täglich wechselnden ,Kurswert‘ der einzelnen Männer und Frauen, die an diesem unablässigen Agon teilhaben. Dadurch aber wird die Kommunikabilität von Taten und Worten zu einem zentralen Anliegen aller. Wie sichert man, dass nicht nur die unmittelbaren Zeugen einer großen Tat oder eines gelungenen Wortes ihre Einschätzung des Erfolgreichen positiv revidieren, sondern dass sich die Kunde verbreitet – womöglich von Grönland bis Nowgorod? Und wie behält man die Kontrolle über die Form der Kunde, wie sichert man, dass die Nachricht ihren Zweck erfüllt? Die eminente Rolle der Skaldendichtung, der hochformalisierten gebundenen Sprache, ihre im wesentlichen unveränderte Form und unverminderte Wertschätzung über vier Jahrhunderte hinweg (die ersten von der Nachwelt mit Sorgfalt und Respekt zitierten Skalden gehören dem neunten Jahrhundert an; gegen Mitte des 13. Jahrhunderts wird die Skaldik als aristokratisches Kulturphänomen unproduktiv41) haben vor allem hier ihren Grund. Der vielleicht wortmagische Wert, den die Skaldendichtung in vorchristlichem Milieu besessen haben mag und der vielleicht das Movens für ihre Entwicklung war, dürfte im hohen Mittelalter zwar nicht mehr unmittelbarer Glaubensinhalt gewesen sein. Doch es wäre verfehlt, die gelehrten hochmittelalterlichen Abhandlungen über den Zusammenhang zwischen den Asen und der gebundenen Sprache als ‘invention of tradition’ nicht nur – richtig – einzuordnen, sondern damit – falsch – abzutun. Die Intensität, 40 Skj I, 265; in OsH c. 43, Str. 34 (dort in der Variante máttu eiga eitt skáld „du brauchst einen Skalden“). 41 Vgl. Von See, Skop und Skald (1964); ders., Skaldendichtung (1980/1999); Frank, Old Norse court poetry (1978); Meulengracht Sørensen, Saga og samfund (1977); Kuhn, Dróttkvætt (1983); Clover/ Lindow, Old Norse-Icelandic Literature (1985); Gade, Dróttkvætt poetry (1995); Clunies Ross, Poetry and poetics (2005).
Ein Preislied
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mit der etwa in der Anfang des 13. Jahrhunderts abgefassten Egils saga der Titelheld, durch den Verlust zweier Söhne in eine fatale Depression gestürzt, das Komponieren eines Klageliedes und das stellenweise an Hiob gemahnende Dialogisieren mit Odin in direkten Zusammenhang mit der Möglichkeit eines würdigen Weiterlebens im Angesicht auch der schlimmsten Schicksalsschläge gesetzt wird, erlaubt es einfach nicht, die der Skaldik zugebilligte Numinosität für gelehrtes Ornament zu halten. Mit anderen Worten: Wir müssen davon ausgehen, dass auch um 1200 noch die Anfertigung eines Preisliedes mehr bedeutete als eine angesehene Methode, ein ,Medium‘ der Verbreitung positiver Nachrichten. Vielmehr verlieh die Tatsache, dass es ein Lied über eine Tat oder einen Menschen gab, diesen bereits einen Mehrwert. Er war buchstäblich mit Gold aufzuwiegen, und den für ein Lied reich beschenkten Skalden als Lohndichter zu sehen, hieße den Wert beider Dinge, des Liedes und des Goldes, verkennen. Am Gold hing – jenseits allen materiellen Wertes, den die Skalden ebenso zu schätzen wussten wie jeder andere Teilnehmer an der früh- und hochmittelalterlichen Redistributionsökonomie – ein wenig das Glück (gæfa, hamingja) des Schenkenden, das dieser somit weiterzugeben bereit war; das Lied wiederum war imstande, dieses Glück herbeizuholen oder doch zumindest zu festigen.42 Dies steckt eigentlich in der Maxime „Man muss einen Skalden haben“: Ohne Preislieder sind die Großen ebenso hilflos wie ohne Gold. Und natürlich geraten diese Lieder ebenso wie das Gold, die Menge und die Umstände seines Erwerbs wie seiner Verteilung („Goldverschwender“ ist eine geläufige, dem Publikum unmittelbar einleuchtende Kenning für ‚Herrscher‘), in den Mittelpunkt agonistischer Aufmerksamkeit. Die Empörung des Königs, der erfährt, ein Skald aus seinem Anhang habe ein Preislied auf einen Konkurrenten gemacht, ist nicht nur der Verdacht der Illoyalität, eine Angst, die einen Mächtigen innerhalb eines Systems offener Konkurrenz stets verfolgt. Es ist vielmehr so, als habe der Skald das Gold seines Herrn verschenkt: seinen Glücksvorrat angebrochen. Der Skald Sneglu-Halli, den im elften Jahrhundert dieser Vorwurf traf, musste dem König Harald dem Harten versichern, das Preislied um den Konkurrenten Harald Godwineson sei minderwertig und enthalte zwei Dutzend Formfehler.43 Damit ist nicht allein die zweitrangige Leistung (unterverstanden: zu zweitrangiger Ehre) gemeint; es bedeutet, dass der Skald behauptet, die numinose Potenz gebundener Sprache durch Sabotage zunichte gemacht zu haben. Dieser Mehrwert eines Gedichtes wie Nóregs konungatal muss mitbedacht werden. Form und Stil des Liedes geben dem abschließenden Gebet – „Jón Loptsson, der Glückbegabte, möge sein ganzes Leben die Gunst von Gott selbst genießen“ – auf einer gewissen Ebene eine erhöhte Chance auf Verwirklichung; sie waren bereits ein Teil seiner Verwirklichung. 42 Vgl. Rüdiger, Aristokraten und Poeten (2001), 204–209. 43 In dem in manche Varianten der Saga von Harald dem Harten eingebetteten Sneglu-Halla þáttr; vgl. Von See, Skop und Skald (1964), 8.
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2 Der habituale Aspekt
Botschaft, Quelle und Zeugnis waren sie – auf einer anderen Ebene – selbstverständlich auch. Ich verweise einmal mehr auf den Locus classicus, den Prolog der Heimskringla, wo Snorri mehrfach betont, die Dichtung sei eine erstrangige historische Quelle, „sofern sie richtig gesprochen und sorgfältig überliefert wird“.44 Die Gestalt der Königssagas mit ihren Hunderten von durch Wendungen wie „So sprach...“ geradezu beleghaft eingeführten Strophen (es sind 178 allein in der Saga Olavs des Heiligen in der Heimskringla) ist das beste Zeugnis für diese Praxis. Wenn Jón Loptsson also ein genealogisches Preislied wünschte, mochte einer von mehreren denkbaren Beweggründen der Wunsch nach Zeugnisfeststellung sein. In der vorletzten Strophe heißt es denn auch unumwunden, hier seien annähernd dreißig Könige genannt worden, einer ruhmreicher als der andere, und unbestreitbar seien sie alle aus Jóns Geschlecht. Das hier gebrauchte Adjektiv für „unbestreitbar“, þrætulaus (wörtlich „einspruchs-los“45) hat einen klaren juridischen Akzent: Das Substantiv þræta meint in den Sagas jene Art Streit, der aufgrund perzipierter Rechts- (und damit ,Ehr-‘)verletzung ausbricht und entweder durch Vermittlung, durch formale Litigation vor dem Thing oder (meistens) durch eine Eskalation von Gewalttaten mit unabsehbaren Weiterungen ausgetragen wird. Das zugehörige Verbum at þræta bedeutet zum einen in diesem Sinne „streiten“, vor allem aber „leugnen, bestreiten“.46 Das Gedicht möchte also jeden Zweifel ein für alle Mal aus der Welt schaffen: Niemand würde noch zu bestreiten wagen, dass Jón Loptsson tatsächlich aus demselben Geschlecht ist wie alle Könige seit Harald Schönhaars Vater. Man ahnt (und aus der Heimskringla weiß man es auch), wie groß dieser Zweifel tatsächlich war und wie wenig diejenigen, die faktisch darüber zu befinden hatten, lange Zeit bereit waren, das „Abstreiten“ einzustellen. Unüblich ist das Gedicht allerdings durch die Rolle, die eine Frau in ihm spielt. Nordische Preislieder sind gewöhnlich allein von Männern bevölkert; Frauen kommen als mythologischer Schmuck oder als kollektiv angerufener Chor (Zeuginnen oder Opfer) der geschilderten Großtaten vor. Hier jedoch ist Þóra, die Tochter des Königs Magnús und einer unbekannten Beischläferin, die erste Person überhaupt, die im dem isländischen Zweig des Königsgeschlechts (den Oddaverjar also) gewidmeten Schlussteil von Nóregs konungatal namentlich genannt und eulogisiert wird. Der „vielgerühmte Mann“, der sie ehelicht, wird erst fünf Strophen später benannt. Diese Reihenfolge der Nennung – erst Þóra, dann ihr Sohn Jón, dann (in männlicher Linie zurückgehend) ihr Mann Lopt und dessen Vater Sæmund – ist konsequent vom königlichen Stamm aus gedacht. Aber gerade dies ist das Bemerkenswerte: dass der proklamierte Ruhm der Oddaverjar darin liegt, „vom Königsgeschlecht ganz geschmückt“, im hortikulturalen Sinn veredelt worden zu sein, indem das Reis Jón aus ihnen entsprang. Es ist sicher kein Zufall, dass 44 Heimskringla, Prolog: ef þau eru rétt kveðin ok skynsamliga upp tekin. 45 Hier steht es in adverbialer Position mit dem Adverbsuffix -t. 46 Vgl. Baetke, Wörterbuch (51993), s. v. þræta: þrætt mun vera í móti ef eigi vitu vitni áðr „das wird wohl bestritten werden, wenn es keine weiteren Zeugen dafür gibt“.
„Für Liebe sehr empfänglich“: Jón Loptssons Frauen
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die Euloge auf Þóra – „unter allen war sie sohn-gesegnet (sonsæl), die Jón gebar“ – eine unverkennbare Resonanz des Englischen Grußes hat. Durch die Verflechtung des klassischen komparativen Herrscherlobs („sein Ruhm übersteigt den Ruhm aller anderen Ruhmreichen“ und so fort) mit dem Motiv der gesegneten Geburt zu einem unentwirrbaren Strang erzeugt dieses Finale der Konungatal Evidenz: Es ist also kein Zufall, dass die Oddaverjar – sie befinden sich um 1190 auf dem Höhepunkt ihrer Macht – sind, was sie sind. Wenn unter den herausragenden Männern Islands (sie heißen merkismenn „Männer, die auffallen“, mit einem Anklang von „Bannerträger“, oder afreksmenn „Männer, die hervorragende Taten vollbracht haben“) keiner mehr in den Wettstreit mit Jón eintreten will, dann liegt das eben daran, dass er konungs frændi, „Königsverwandter“ ist. Darin steckt sicher der dezente Hinweis auf den ganz konkreten Rückhalt, den die Oddaverjar in Norwegen gefunden zu haben hoffen – wird Jón Loptsson doch abschließend sogar als einer bezeichnet, der mit König Sverrir in laufendem Kontakt auf Augenhöhe steht.47 (Es war eine trügerische Hoffnung, wie sich in der unvorsichtigen Orkney-Politik erweisen sollte, die die Oddaverjar um die Gunst des Königs brachte.48) Vor allem aber erklärt es die politische Fortune der Familie als notwendige Konsequenz der Genealogie: Ein Häuptling aus Harald Schönhaars Stamm kann gar nicht anders, als in der paritären isländischen Republik, die gerade dabei war, sich in eine Reihe von Regionalfürstentümern aufzulösen, über die Besten noch ein Stück hinauszuragen. Jón Loptsson, so schreibt Sturla Þórðarson – Mitglied einer konkurrierenden Familiengruppe – ein halbes Jahrhundert nach dessen Tod, „war der größte Häuptling und derjenige mit dem stärksten Anhang, den es je auf Island gegeben hat.“49 Die Oddaverjar sind also mehr als ‚nur‘ ein Beispiel für die habituale Bedeutung der Polygynie. Ein in sich vermutlich nicht einzigartiges Ereignis – die Verbindung eines isländischen Magnatensohnes mit der Tochter einer königlichen Nebenfrau – hatte hier zur Folge, dass an einem Zentrum der entstehenden nordischen Geschichtsreflexion diesem Ereignis eine fundamentale Bedeutung zugemessen wurde, ja dass das Interesse dieser Magnaten an der Geschichte zu einem Gutteil in diesem Ereignis begründet ist.
„Für Liebe sehr empfänglich“ : Jón Loptssons Frauen Die Abstammung von der Tochter der Beischläferin war nicht die einzige Wirkungsweise polygyner Praxis für den Häuptlingshabitus der Oddaverjar. Ihr Bestreben, es den biblischen Vorbildern zumindest tendenziell gleichzutun, ist noch aus den Minimalzahlen 47 Eines der ihm beigelegten Epitheta ist konungs spjalli „Ratgeber, Vertrauter des Königs“, mit dem Akzent auf der Beredsamkeit; spjalli ist das Nomen agentis zum Verbum spjalla, einem poetischen Wort für „sprechen“, verwandt dem angelsächsischen spell „Erzählung“ (god-spell, nordisch guðspjall „Evangelium“). 48 Vgl. Helgi Þorláksson, Snorri Sturluson og Oddaverjar (1979), 63ff. 49 StS I, 51: er mestr höfðingi ok vinsælastr hefir verit á Íslandi.
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2 Der habituale Aspekt
ersichtlich, die uns bekannt sind – denn man darf davon ausgehen, dass manches Verhältnis, das kinderlos blieb oder für die Sagaerzähler und Kompilatoren von Genealogien belanglos war, zu den überlieferten hinzuzudenken ist. Jón Loptsson hatte demnach mindestens acht Kinder von mindestens fünf Frauen. Dass er simultane Polygynie praktizierte, steht außer Zweifel. Seine Beziehung zu einer der Frauen, Ragnheið Þórhallsdóttir (zu ihr im Folgenden mehr), dauerte von seiner Jugend bis ins hohe Alter, und ihr erster Sohn Pál wurde 1155, ein knappes Jahr nach Jóns erstem und einzigem Sohn aus der Verbindung mit einer Halldóra Brandsdóttir (er erhielt den großväterlichen Geschlechtsnamen Sæmund) geboren. Dieser Sæmund Jónsson (1154 –1222), der nach seinem Vater die Führung der Oddaverjar übernahm, hatte mindestens vier Frauen und elf Kinder, sein Halbbruder Orm – ein weiterer Sohn Jóns mit seiner langjährigen frilla Ragnheið, der als Hofbesitzer und goði von tragender Bedeutung für die familiale Macht war – drei Frauen und sechs Kinder. Unter den Frauen dieser beiden Jónssöhne war keine ,Ehe‘frau. Bei Jón selber ist das – scheinbar – anders: Bei ihm wird eine Frau, die Mutter des erfolgreichen Sohnes Sæmund nämlich, herausgehoben. „Jón hatte eine Frau, die Halldóra hieß und die Tochter von Brand war“, heißt es in der Vita des Bischofs Þorlák, die ihn ausführlich beschreibt, „ihr Sohn war Sæmund.“50 Warum gerade diese Frau mit Namen und Patronym bezeichnet wird, ist aus dem Vokabular nicht unmittelbar ersichtlich – kona ist das gewöhnliche Wort für „Frau“ im Gegensatz zu maðr „Mann“, hat also keine Spezialbedeutung wie etwa uxor –; der Anschlusssatz über den berühmten Sohn ist mit Blick auf das allgemeine Interesse für Genealogisches aber schon Motivs genug. Der häufig unternommene Versuch hingegen, die Wendung „eine Frau haben“ (eiga konu) mit Blick auf die aus den Rechtsbüchern bekannte Vokabel eiginkona „Eigenfrau“ als eine Art Terminus technicus zu betrachten, Halldóra so als Jóns ‚Ehefrau‘ und Sæmund folglich als seinen ‚legitimen‘ Sohn zu sehen, überzeugt wenig. Die beiden klassischen Erklärungsmuster für den Unterschied ‚Ehe/Konkubinat‘, lebenszeitliche Abfolge und sozialer Rang, treffen hier nämlich offensichtlich nicht zu. Jón unterhielt, wie gesagt, auch während seiner ‚Ehe‘ mit Halldóra mehrere Beziehungen zu anderen Frauen, und obgleich die Auskünfte wenig detailliert sind, stammen alle diese Frauen, Halldóra eingeschlossen (die Herkunftsfamilie ihres Vaters Brand ist unbekannt), aus demselben Freibauernmilieu: Jóns Bindungen waren sämtlich hypogyner Art. Besser unterrichtet sind wir über den Hintergrund der Frauen der nächsten Generation. In allen nachvollziehbaren Fällen handelt es sich um Töchter von Bauern aus dem Rangá-Thingbezirk, der Zone also, die die Oddaverjar unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Auður Magnúsdóttir, die bisher einzige Forscherin, die das isländische Frillenwesen auf seine politische Bedeutung hin untersucht hat51, nimmt den grundsätzlichen Unter50 ÞsH c. 22: Konu átti hann sér er Halldóra hét ok var Brandsdóttir. Sonr þeirs var Sæmundr. Die Passage wird weiter unten in extenso zitiert und kommentiert. 51 Auður G. Magnúsdóttir, Frillor och fruar (2001), zu den Oddaverjar ibs. 47–59, liefert eine detaillierte Untersuchung der einzelnen Frauen; vgl. auch die Übersicht in Ebel, Konkubinat (1993), 90–93. Die wichtigste Quelle sind die Familienverzeichnisse (ættskrár) in der Sturlunga saga, der Kompilation mehrerer Einzelsagas über die innerisländischen Konflikte zwischen etwa 1180 und
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schied zwischen Ehe- und anderen Frauen („fruar“ und „frillor“, Titel ihres Werks) als gegeben, sieht Halldóra als Jóns (einzige) „Gemahlin“ und Sæmund und Solveig, beider Sohn und Tochter, als „eheliche“ Kinder. Als möglichen Grund dafür, dass Jón eine Frau ,ehelichte‘, während seine Söhne nur frillur hatten, nennt sie die gegen Ende des zwölften Jahrhunderts forcierte Rezeption der kirchlichen Ehe- und Geschlechtsmoral an: Polygyne Verhältnisse ohne Ehe seien weiterhin tolerabel gewesen, eine Ehe neben weiteren Beziehungen, wie noch Jón Loptsson sie habe leben können, hingegen nicht mehr. (Allerdings zielten die kirchenrechtlichen Einschärfungen keineswegs auf die Förderung der Ehe zu Lasten anderer Beziehungsformen, sondern auf das Monogamiegebot: „entweder uxor oder concubina, nur nicht zwei – und erst recht nicht mehr!“52) Allgemein beobachtet Auður Magnúsdóttir bei den ‚Ehen‘ isländischer Häuptlinge eine Tendenz zur Isogamie und betont dabei den Allianzcharakter solcher Beziehungen. Der Umstand, dass Frillenbeziehungen so häufig und so allgemein akzeptiert waren, habe es den Magnaten zudem erlaubt, „vertikale Allianzen“ mit den Freibauern ihrer zunehmend regional organisierten Machtbereiche einzugehen. Auch diese Beziehungen seien konsensual und öffentlich gewesen. Diese bereits in die Handbuchliteratur eingegangenen Beobachtungen53 halte ich – einmal abgesehen von der begrifflich-juridischen Unterscheidung zwischen Ehe und Nicht-Ehe – für stichhaltig, vor allem weil Auður Magnúsdóttir den politischen Wert von Frillen-Beziehungen an zahlreichen konkreten Fällen ausführt. Vielleicht brachte die Praxis gewöhnlicher Hypo- und allenfalls Isogynie54 übrigens einen meisterhaften Coup der Oddaverjar zum Scheitern: Um 1200 befand sich Jón Loptssons Sohn Sæmund in intensiven Verhandlungen um eine Verbindung mit Langlíf, der vermutlich zu diesem Zeitpunkt noch unmündigen Tochter des Jarls Harald Maddaðarson von Orkney.55 Die Sache kam am Ende nicht zustande, nach Auskunft der Stur-
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1260 (hrsg. von Jón Jóhannesson u. a. [1946]; übers. von Kålund, Sturlunga saga [1904] [dänisch] und jetzt Boyer, La saga des Sturlungar [2005]; die deutsche Fassung von Baetke, Geschichten vom Sturlungengeschlecht [21967] bietet nur Auszüge), von denen ausgehend jeweils prosopographisch weitergeforscht werden muss. Zur Methodik vgl. Auður G. Magnúsdóttir, Kvennamál Oddaverja (2001). Dies., Frillor och fruar (2001), 54 und 56; Decretum Gratiani, D 34.5, hier zitiert nach Caselli, Concubina pro uxore (1964–65), 178f.: Christiano, non dicam plurimas, sed nec duas simul habere licitum est, nisi unam tantum, aut uxorem aut certe loco uxoris, si coniux deest, concubinam. Vgl. Brundage, Law, sex and Christian society (1987), 245ff.; 297ff. Vgl. Byock, Viking Age Iceland (2001), Kap. The Social Effects of Concubinage, 132–134. „Hypogyn“ ist eine Verbindung, bei der die Frau einen (wie auch immer bestimmten) niedrigeren Status hat als der Mann; „Isogynie“ bezeichnet Gleichrangigkeit. Als typisch in lateineuropäischen Eliten im Hochmittelalter gilt die „Hypergynie“, bei der die Frau von sozial höherer Abkunft ist als der Mann, der sie von einem ranghöheren Gebenden empfängt und sich damit gegebenenfalls Verpflichtungen einhandelt, womöglich „eine nie rückzahlbahre Schuld“, wie sich der strukturalistische Mediävist Josep Enric Ruiz Domènec (L’estructura feudal [1985], ) ausdrückt. Auður G. Magnúsdóttir, Frillor och fruar (2001), 57; Helgi Þorláksson, Snorri Sturluson og Oddaverjar (1979), 65. Die Verbindung nach Orkney existierte jahrzehntelang; Sæmunds Halbbruder Pál Jónsson, der spätere Bischof, war am Jarlshof erzogen worden.
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lunga saga deshalb, weil sich die Oddaverjar mit den Orkadenjarlen nicht über den Ort der Hochzeit einigen konnten – eine Erklärung, in der man den Anlass oder Vorwand für den Abbruch von ins Stocken gekommenen oder unter geänderten Umständen für mindestens eine der beteiligten Parteien uninteressant gewordenen Verhandlungen sehen kann, obgleich sicher auch die Streitfrage selber mit ihren Implikationen für die Aushandlung des neuen Verhältnisses zwischen zwei mächtigen Parteiungen von einigem Gewicht war. Mit Blick auf ‚Harald Schönhaars Nachfolgegesetz‘ – seine Söhne zeugten Königsanwärter, von seinen Töchtern kamen Jarlsgeschlechter – und die sich in der genau um diese Zeit verschriftlichten Orkneyinga saga56 niederschlagende Familientradition, wonach das Jarltum der Orkneys über den bereits erwähnten Sklavinnensohn Torf-Einar auf Harald Schönhaars treuesten Freund Rögnvald, Jarl von Møre zurückgeht, ist aber eine zusätzliche Deutung möglich: Für die Oddaverjar, die sich über die Frillentochter Þóra ja ebenfalls als Nachkommen Harald Schönhaars in weiblicher Linie (und damit in gewissem Sinn jarlswürdig) verstanden, mag es ein Problem gewesen sein, mit den tatsächlich die Jarlswürde nicht nur beanspruchenden, sondern auch fürstlich herrschenden Orkadenjarlen eine Beziehung einzugehen, die im Selbstverständnis der Oddaverjar als eines königlich versippten Häuptlingsgeschlechts zwar isogyn gemeint war, sich im Lichte der ‚auswärts‘ üblichen Muster aber als Hypergynie verstehen ließ. Auf Island selber gab es offensichtlich keine ,ebenbürtige‘ Frau, die zudem noch idealerweise die von erzbischöflicher Seite jüngst mit Nachdruck proklamierten Bedingungen hinsichtlich der verbotenen Verwandtschaftsgrade erfüllen sollte. So betrachtet, hätte die erfolgreiche Ansippung der Oddaverjar ans Königsgeschlecht den Folgeeffekt gehabt, die Polygynie mit Frauen aus dem eigenen Machtbereich alternativlos zu machen. Die habituale Bedeutung der Frillen für die Oddaverjar – neben ihrer puren ,salomonischen‘ Vielzahl – lag demnach zusätzlich darin, dass sich unter den gegebenen Umständen der Siegeswille im innerisländischen Agon am besten durch den demonstrativen Verzicht auf eine isogyne Allianz kundgeben ließ: Hätte Sæmund nach Orkney ,geheiratet‘, hätte er damit seinen Anspruch auf die Spitzenposition preisgegeben. So viel konnte den Oddaverjar der politische Gewinn der Orkney-Allianz nicht wert sein – der ihnen doch auf einer ,pragmatischen‘ Ebene womöglich das nötige Plus verschafft hätte, um sich im innerisländischen Wettbewerb zu behaupten. Es ist kurios, wie sehr diese Deutung den Urteilen aus der Forschung des 20. Jahrhunderts entgegenläuft. Der sehr einflussreiche isländische Historiker Einar Ólafur Sveinsson etwa nannte in den dreißiger Jahren die Oddaverjar als besonders eindringliches Beispiel dafür, wie das Frillenwesen und seine Konsequenzen bestimmte Häuptlingsgeschlechter habe „herabziehen“ können.57 Die Vermischung mit Frauen unbekannter (lies: nie56 Es ist sogar möglich, diese Verschriftlichung in Oddi anzusiedeln; vgl. Einar Ólafur Sveinsson, Sagnaritun Oddaverja (1937); Simek/Pálsson, Lexikon der altnordischen Literatur (1987), s. v. Oddi. 57 Einar Ólafur Sveinsson, Sturlungaöld (1940), 68: „Ekki er ólíklegt að frillulífi með þeim afleiðingum, sem það gat haft hafi orðið til að draga sumar ættkvíslir niður (t. d. Oddaverja).“
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derer) Herkunft habe „die Kraft aus dem Geschlecht gesogen“, woraufhin die nächsten beiden Generationen die Vorrangstellung des Hauses in Island ja auch verloren.58 Halldór Hermannsson sah um dieselbe Zeit einen markanten Gegensatz zwischen Jón Loptssons Exzellenz als Politiker und seinen „Fehlern“ als Privatmann, während das „Privatleben“ seines Sohnes Sæmund „dieselbe Unentschlossenheit“ verrate wie seine Politik.59 Noch 1967 verwies Egill Jónasson Stardal in seiner Monographie über Jón Loptsson und seine Nachfahren auf die „unterschiedlich wohlgeratenen Frillensöhne“ von Sæmund Jónsson, die es nicht mehr aus eigener Kraft vermochten, die Fahne des Geschlechts in der Weise hochzuhalten, wie es ihre Väter getan hatten, und bedauerte namentlich das Scheitern der Eheverhandlungen zwischen Sæmund und Jarl Harald Maddaðarson: „Die Verschwägerung mit einem so großen Geschlecht wie den Orkneyjarlen hätte den Oddaverjar neuen Glanz verliehen und Sæmund vielleicht sogar tatkräftige Nachkommen eingebracht. Seine zahlreiche illegitime Nachkommenschaft hingegen hat offensichtlich die Kraft und Einmütigkeit aus der Familie gesogen.“60 Und noch 1988 sah sich Jón Thor Haraldsson in seiner Neueinschätzung der Oddaverjar veranlasst, dem Thema „Entartung, Frillenwesen“ ein ganzes Kapitel zu widmen, in dem er den älteren Positionen zwar widerspricht – „Diese Behauptungen haben meiner Ansicht nach nicht die geringste Quellengrundlage“61 –, dies aber nicht theoretisch-methodisch begründet, sondern defensiv-faktizistisch versucht, anhand prosopographischer Skizzen der einzelnen Frillensöhne nachzuweisen, dass diese trotz ihrer Geburt an Geschick und Durchsetzungsvermögen den ehelichen Oddaverjar in nichts nachstanden. Es ist heute leicht, die Zeitgebundenheit dieser Urteile zu konstatieren und sich über ihre Langlebigkeit zu mokieren. Wichtiger aber ist festzuhalten, dass die hier vertretene Sicht, wonach das „Frillenwesen“ der Oddaverjar im Gegenteil von fundamentaler Bedeutung für ihr Ansehen und ihre Herrschaftsstilisierung war, zwar ihrerseits aus einer Zeit des obligaten Hedonismus stammen mag, in einer entscheidenden Hinsicht aber doch dem hohen Mittelalter gerechter wird: Wie oben erläutert (Kap. 1), spielt im Denken der Zeit die soziale Herkunft der Frau für die Chancen auf würdige Nachkommen eine nachrangige Rolle gegenüber ihren als vererbbar betrachteten persönlichen Qualitäten. 58 Ders., Sagnaritun Oddaverja (1937), 10: „Sæmundur... átti börn með ýmsum konum og flestum ókunnrar ættar, og er ekki annað líklegra en sú blöndun hafi dregið afl úr ættstofni þeirra.“ 59 Halldór Hermannsson, Sæmund Sigfússon (1932), 15; 21: „If Jón thus towered above his contemporaries as chieftain and citizen of the commonwealth, in his private life he shared the failings of his family and his times (...) His [Sæmund Jónsson] private life reflects the same irresolution.“ 60 Egill Jónasson Stardal, Jón Loftsson (1967), 83; 92: „...af frillum, sem ólu honum misjafnlega velheppnaða syni, er ekki gætu í krafti ætternis valdið ættarmerkinu með sömu reisn og feður þeirra og skorti þrótt til þess að gera það af eigin metnaði. (...) Mágsemdir við svo stóra ætt, sem Orkneyjajarla var, hefði varpað nýjum ljóma á Oddaverja og ef til vill fært Sæmundi tápmikla afkomendur. En hin mörgu óskilgetnu afkvæmi Sæmundar hafa að líkindum dregið úr þrótti og einingu ættarinnar.“ 61 Jón Thor Haraldsson, Ósigur Oddaverja (1988), Kap. Úrkynjun, frillulífi, 35–39.
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Für Sæmund Jónsson war die Jarltochter keineswegs allein ihres Ranges wegen eine größere Garantie für „tatkräftige Nachkommen“ als eine Bauerntochter, seine Bevorzugung letzterer also keine Pflichtvergessenheit gegenüber der Zukunft des Hauses. Da wir über fast keine Frau der Oddaverjar etwas wissen, sind wir nicht imstande abzuschätzen, welche Rolle bei der Partnerwahl jenseits politisch-taktischer Erwägungen der ‚generative Aspekt‘ spielte. Und dasselbe gilt für jenes Thema, mit dem alle Geschichten mittelalterlicher Paarbeziehungen heute vorsichtiger umgehen als die Königsmutter Inga mit dem heißen Eisen: die Liebe.
Die Saga eines Liebespaares? Eine einzige frilla der Oddaverjar, Jón Loptssons langjährige Gefährtin Ragnheið Þórhallsdóttir (um 1130–nach 1180) ist uns ihrer Geschichte nach bekannt. Es handelt sich dafür um eine der bekanntesten Geschichten des isländischen Mittelalters überhaupt. Sie steht in der sogenannten jüngeren Vita des heiligen Bischofs Þorlák Þórhallsson von Skálholt (Þorláks saga biskups hins helga B), die einen längeren Exkurs über dessen Auseinandersetzung mit Jón Loptsson enthält, die „Erzählung von den Oddaverjar“ (Oddaverja þáttr).62 Ein Teil ihrer Attraktivität liegt sicher darin, dass sie die Sensibilität der Moderne unmittelbar anspricht; ja, der Wissenschaftler ist versucht, sich dieser Wirkung zu entziehen, indem er zu Begriffen wie ‚romanhaft‘ Zuflucht nimmt. Es wäre auch ein guter Roman: Hier stehen eine Frau, ein Mann und ihre bis ins Alter dauernde Jugendliebe (höfðu þau elskazt frá barnœsku) im Schnittpunkt von Kirchenreform, aristokratischer Ambition, Männerfreundschaft und Gewalt, Opferbereitschaft und Beharrlichkeit, samt einiger dramatischer und einiger burlesker Szenen. Bei allem Reichtum nordischer Erzählquellen an Auskünften über polygyne Verhältnisse ist doch sowohl die Individualisierung als auch die Kontextualisierung der Beziehung von Jón Loptsson und Ragnheið Þórhallsdóttir im Oddaverja þáttr einzigartig. In anderen Gegenwartssagas erscheinen die recht zahlreich auftretenden Frillen nur inzidentiell, etwa wenn Sturla Þórðarson in der Íslendinga saga berichtet, wie die Freunde Maga-Björn und 62 Als þáttr werden kürzere sagaartige Erzählungen bezeichnet, die eine, höchstens einige wenige Episoden ohne die meist Jahrzehnte überspannende narrative Verflechtung einer Saga berichten. Die Edition der Bischofssagas von Jón Helgason, Byskupa sögur, Bd. 2 (1976), ist nun ersetzt durch diejenige von Ásdís Egilsdóttir, Biskupa sögur, Bd. 2 (2002). Insgesamt umfasst die Episode die Kapitel 21–28 der Þorláks saga B (= Biskupa sögur Bd. 2, hrsg. von Ásdís Egilsdóttir [2002], 164– 181), enthält aber zwei längere Unterepisoden, die zwar zum selben Erzählzusammenhang gehören, doch nicht von Jón und Ragnheið handeln. Deren Geschichte umfasst achteinhalb Druckseiten der genannten Edition. – Vgl. u. a. Egill Jónasson Stardal, Jón Loftsson (1967), 50–59; Sigurður Sigurðarson, Þorlákur helgi (1993), 96–104; Auður G. Magnúsdóttir, Frillor och fruar (2001), 48–52; sie findet sich sogar in einem europahistorischen Handbuch: Borgolte, Europa entdeckt seine Vielfalt (2002), 216.
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Þorkell Eyvindsson, im Mai 1235 zu Gast auf einem Hof, im skáli, dem hallenähnlichen Langhaus, „zusammen in derselben Bettstatt lagen; zwischen ihnen lag Björns Frille Jóreið Konálsdóttir.“63 Es geht an der Stelle nicht um erotische Großzügigkeit unter Freunden auf Reisen, es geht überhaupt nicht um Jóreið; die Szene wird nur geschildert, weil in diesem Moment die Feinde der beiden ins Haus eindringen, sie ergreifen, vors Haus bringen und mit wenig Umschweife umbringen. Die unheimliche Gefasstheit der Verlierer wird mit der üblichen anerkennenden Lakonik berichtet („Þórarin erschlug Björn, und der verhielt sich gut und sagte wenig“64), aber wie das Mädchen das Ereignis erlebte und was mit ihm geschah, wird nicht einmal angedeutet. Man mag die Episode als lebensweltlich leider plausibel registrieren; eine ‚Geschichte‘ wird nicht aus ihr. Das hingegen ist der Fall bei Jón und Ragnheið. Ihre Geschichte ist wie gesagt als Einschub in die jüngeren Redaktionen der Vita des heiligen Bischofs Þorlák Þórhallsson (Bischof von Skálholt 1176 –1193, heiliggesprochen durch Allthingbeschluss 1199) eingebettet. Sein Terminus ante quem ist daher die Mitte des 13. Jahrhunderts, womit sein Wert als Ereignisbericht zumindest aus dieser Richtung recht unproblematisch ist, denn einige ‚Zeitzeugen‘, darunter nicht zuletzt Snorri Sturluson († 1241), standen zur Abfassungszeit durchaus noch zur Verfügung. Die Frage nach dem inneren Quellenwert des Oddaverja þáttr ist in jüngster Zeit insbesondere von Ármann Jakobsson und Ásdís Egilsdóttir, seine jüngste Editorin, aufgeworfen worden, die von einem maßgeblichen Einfluss des Bischofs Pál Jónsson – des Sohnes von Jón und Ragnheið und Nachfolgers des heiligen Þorlák auf dem Stuhl von Skálholt 1195– 1211 – ausgehen.65 Für die Frage nach dem habitualen Aspekt der Polygynie ist dies aber keine Einschränkung, eher eine Erleichterung, bedenkt man, dass, wie die Tübinger Nordistin Stefanie Würth beobachtet hat, die Anwendung der Methoden und Erkenntnisse des ‛New Historicism’ auf die Sagas oft deswegen so schwierig ist (und daher mit großer Zurückhaltung unternommen wird), weil ihre Zuordnung zu einem Verfasser, einer Zeit, einem Ort angesichts des ,varianten‘ Charakters dieser Texte oft prinzipiell nicht möglich ist.66 Die Frage des defectus natalis eines amtierenden Bischofs der römischen Kirche um 1200 als Causa scribendi zu benennen, erleichtert zweifellos die Einordnung der den Text regierenden ,Diskurse‘, wenn, wie Würth anmahnt, die Aufgabe nicht ist zu konstatieren, „daß Diskurse in der Literatur vorhanden sind, sondern [zu] analysieren, wie diese Diskurse in die Literatur eingehen.“67
63 StS I, 383: en þeir Björn lágu í innanverðum skála báðir í einni hvílu, en Jóreiðr Konálsdóttir, frilla Bjarnar, lá í milli þeira. 64 Ebd., 384: Þórarinn vá at Birni, ok varð hann vel við ok mælti fátt. 65 Ármann Jakobsson/Ásdís Egilsdóttir, Er Oddaverjaþætti treystandi? (1999); Ásdís Egilsdóttir, Formáli, in: Biskupa sögur, Bd. 2 (2002), ibs. xxxi-lii. 66 Würth, New Historicism (1999), unter Bezug auf Cerquiglini, Éloge de la variante (1989). 67 Ebd., 197; Hervorhebungen im Original.
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Die Geschichte ist schnell erzählt. Der Häuptlingssohn Jón und die wohl einige Jahre jüngere68 Ragnheið, die als Tochter eines in ökonomische Not geratenen Klienten der Oddaverjar gemeinsam mit ihrem Bruder in Oddi aufwuchs, „liebten einander seit Kindertagen“. Nach einer vermutlich jahrzehntelangen Beziehung entstand ein Problem, als Ragnheiðs Bruder Þorlák, nach Studien in Paris und Lincoln zurückgekehrt und wohl von den Oddaverjar auf den Bischofsstuhl des Südlandes gebracht, sich im Verbund mit den Erzbischöfen von Nidaros, Eystein (amtiert 1161–1188) und Eirík (1189–1205) die Kampagne gegen das isländische Eigenkirchenwesen zu eigen machte, die von erzbischöflicher Seite mit anderen Verstößen gegen das Kirchenrecht, unter anderem Bigamie und adulterium, verquickt wurde. Im Zuge einer langen, erbitterten Auseinandersetzung mit dem Bischof musste Jón gegen 1180 einwilligen, sich von Ragnheið zu trennen. Nach Þorláks Tod 1193 gelangte dann einer ihrer gemeinsamen Söhne auf den Skálholter Bischofsstuhl und betrieb die Heiligerklärung seines Onkels und Vorgängers. Wie nun erzählt der Oddaverja þáttr, also eine Version der volkssprachlichen Vita des heiligen Bischof Þorlák, diese Geschichte? Jón Loptsson wird erst im zweiten Kapitel der Erzählung eingeführt, und das ist bereits eine wesentliche Voraussetzung für das Folgende. Im ersten Kapitel nämlich geht es um den Beginn von Bischof Þorláks Kampagne gegen das Eigenkirchenwesen im isländischen Ostland. Ein Bauer namens Sigurð Ormsson, der über einen stað (Hof mit Pfarrkirche) verfügt, hat angelegentlich der Visitationsreise mit Þorlák die Weihe seines Kirchenneubaus vereinbart, und der Bischof nutzt die Gelegenheit, um, die erzbischöflichen Sendschreiben im Rücken, die Übertragung der Verfügungsgewalt über Kirche und Zehnten an den Skálholter Bischofsstuhl zu fordern. Der sich nun entspannende Dialog enthält wie in einem Prolog bereits das Thema der späteren Hauptkonfrontation mit Jón Loptsson: Der Bischof sagte, dass die Bestimmungen der Apostel selber ihm die Gewalt über allen Gottesbesitz ohne Ausnahme gäben. „Die heiligen christlichen Väter und die Päpste, Nachfolger der Apostel, haben dasselbe bestimmt und festgesetzt im Kirchenrecht für alle Christen. Nun hat der Papst auch den Erzbischof Eystein angewiesen, dasselbe in Norwegen einzuführen, und das hat dort schon große Fortschritte gemacht. Und es ist auch nicht rechtens und kann nicht geduldet werden, dass dieses arme Land hier nicht unter demselben Recht steht, wie es überall anders gilt.“ Sigurð erwiderte: „Norweger oder Ausländer können uns unsere Rechte nicht wegnehmen.“ Da antwortete der Bischof: „Der Vorbehalt, den ungelehrte Männer hier beansprucht haben, sich nämlich das Verfügungsrecht über das Gut zu reservieren, das sie zuvor Gott gegeben 68 Jón ist nach dem Zeugnis des Snorri Sturluson (Heimskringla, MsBHG c. 9) 1124 geboren, Þorlák 1133; Jóns und Ragnheiðs erster bekannter Sohn wurde 1155 geboren. Die für Ragnheiðs Geburt in Frage kommende Marge ist also relativ groß; 1125–35 ein plausibler, wenn auch ungesicherter Zeitraum.
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haben, ist von vornherein ungesetzlich und darf nicht gehalten werden. Und wenn die Bischöfe diese Sache in gesetzlicher Weise durchsetzen, werden jene Leute kaum in der Schar jener sein, die auf Gottes Beistand hoffen dürfen, solange sie in ihrer Widersetzlichkeit beharren. Und alle, die den Zehnten oder das Eigentum eines Heiligen trotzig in ihrem Besitz behalten, werden nach gesetzlicher Warnung in den Bann getan, wenn sie nicht zu einer Einigung bereit sind und 69 von ihrem Unrecht ablassen wollen.“
Um das Vokabular des New Historicism zu appropriieren: Was hier stattfindet, ist die ,Verhandlung‘ zwischen der Rede des Bischofs, die offensichtlich wörtlich auf kirchenrechtlichen Vorlagen beruht, und der des Bauern, die, kurz wie sie ist, alle Kennzeichen des Sagastils trägt. Die Sprache selber wird zum Verhandlungsgegenstand, wenn der Bischof, als er zum Schlag ausholt, ein im Altnordischen sehr ungewöhnliches Gerundiv konstruiert: þeir eru bannsetjandi als Echo von excommunicandi sunt.70 Der Stil der Bischofsrede erinnert durchweg an die syntaktischen Eigenarten der erhaltenen nordischsprachigen Briefe der Erzbischöfe von Nidaros an isländische Empfänger (einer davon ist an u. a. Bischof Þorlák und Jón Loptsson adressiert71); wenn derartige Perioden auch in der frühen nordischen Prosa nicht völlig unerhört sind, so sind sie doch im Munde einer Sagaperson sehr auffällig. Zu einer solchen aber wird der Bischof, dem hier die Sendschreiben aus der Kanzlei in Nidaros buchstäblich in den Mund gelegt werden, indem er sie im Disput mit dem Bauern ,spricht‘. Mit Ausnahme von Diktion und Gehalt der Bischofsworte wird der Konflikt wie der typische Beginn eines längeren Rechtsstreits zwischen Sagafiguren berichtet. Gerade deshalb kommt nun recht überraschend, was aus der Logik der kanonistischen Drohung (und, textuell betrachtet, des hagiographischen Topos der eindringlichen Ermahnung 69 ÞsH B c. 21: Byskup sagði at skipan sjálfra postolanna gaf honum vald yfir ™llum Guðs eignum fyrir útan alla grein. „Heilagir feðr kristninnar ok páfarnir, postolanna eptirkomendr, hafa þetta sama boðit ok skipat í kirkjunnar lögum um alla kristnina. Svá ok hefir nú páfinn boðit Eysteini erkibyskupi at flytja þessa sama ørendi í Nóregi, ok þat hefir þar fram gengit. Er þat ok eigi rétt eða þolanligt at þetta it fátœka land standi eigi undir einum lögum ok þar.“ Sigurðr svaraði at – „norrœnir menn eða útlendir megu eigi játta undan oss vátum réttendum.“ Þá svaraði byskup: „Sá skildagi sem ófróðir men hafa hér g™rvan at skilja sér vald yfir þeim hlutum sem þeir hafa áðr Guði gefit er af sjálfum l™gunum ómáttuligr ok á eigi at haldask, ok þar sem þetta mál verðr l™gliga kært af byskupum eru þeir menn eigi í þeira manna t™lu sem hjálpar eigu ván af Guði, síðan þeir haldask í þeiri þrjózku, ok hverir sem tíundir eða heilagra manna eignir halda með þrái, þeir eru bannsetjandi eptir l™gligar áminningar ef þeir vilja eige sættask ok af láta sínum rangendum.“ Zur Eigenkirchenfrage vgl. zuletzt Magnús Stefánsson, Staðir og staðamál (2000). 70 Die Adaptationen lateinischer Vorlagen, namentlich die Viten/,Sagas von heiligen Männern‘, zeigen eine solche stilistische und grammatikalische Eigenständigkeit, dass die hier vorliegende, in der nordischen Prosasprache sonst fast unbekannte Konstruktion nicht einfach als übersetzerische Vorlagentreue zu erklären ist; vielmehr muss wohl bewusste Stilisierung des Redeteils des Bischofs (der sich ja auf Patres und Kirchenrechtler beruft) als grammatische wie inhaltliche Anlehnung an „ausländische“ Vorbilder angenommen werden. 71 DI I, Nr. 54; vgl. ähnlich Nr. 38.
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eines verstockten Sünders) heraus ganz folgerichtig ist: der Meinungsumschwung des Bauern Sigurð. Sagaperson, die er ist, fällt er nicht weinend vor Reue zu Boden und erbleicht auch nicht angesichts der Schrecken des Höllenfeuers, wie sie die Briefe des Erzbischofs – zweifellos als pastorale Vorlage gemeint und auch eingesetzt – in einiger Ausführlichkeit ausmalen. Nein: „Der Tag war schon weit fortgeschritten, und der Bauer sah, dass aus der Kirchweihe nichts werden würde, wenn er von seiner Position nicht abließe.“72 Mit anderen Worten: In der Erzähllogik der Saga beugt sich Sigurð der erpresserischen Drohung des Bischofs, die Weihe schlicht nicht vorzunehmen und damit dem Ansehen dieses „Mannes von einiger Bedeutung und großem weltlichem Ruhm, reich und mit hervorragenden Familienbeziehungen“73, vor einer wahrscheinlich für den Anlass versammelten Menge von Bewohnern der Umgebung ernsten Schaden zuzufügen. Das kann er sich nicht leisten, und darum ist er nun doch bereit zu zahlen: Sigurð überträgt dem Bischof das Verfügungsrecht an der Kirche (máldagi) und nimmt es „zu Lehen“ (í lén) zurück, die Zeremonie kann stattfinden, der Bischof reist ab und wiederholt seinen Erfolg bei einer Reihe weiterer ostländischer Kirchhöfe. Innerhalb der Sagalogik verpufft darüber der Effekt der kanonistischen Drohkulisse, die Þorlák aufgebaut hat. Ein ,richtiger‘ Sagakonflikt beginnt klein: mit Scheltoder Spottworten, gern in etwas gewundene Konjunktivsätze gekleidet und häufig von Stellvertretern der eigentlichen Protagonisten, ihren Söhnen beim Spiel etwa oder ihren Knechten über eine Feldscheide hinweg gesprochen. Die Eskalation bis hin zur Drohung, eine Sache dem Thing vorzulegen (was bereits als Ultima ratio gilt und die Gegenseite zum vollen Einsatz ihrer Kräfte nötigt: entweder erscheint man bei der Gerichtsversammlung unter Aufbietung Dutzender, vielleicht Hunderter Gefolgsleute, oder man bewaffnet sich, führt einen tödlichen Gewaltakt durch und nimmt den Gegenschlag in Kauf), kann manchmal Jahre dauern. Bischof Þorlák hingegen bietet sofort die Apostel, die Kirchenväter, den Papst, den Erzbischof und den Kirchenbann auf – dabei genügen einige Stunden Nervenkrieg, um Sigurð umzustimmen.74 Der von der Sphäre des Kirchenrechtes (wie es den Isländern durch die Hirtenbriefe aus Nidaros und Þorláks Visitationsreisen dem Inhalt und der Form nach durchaus bekannt war) in die Sphäre der Saga übertragene Text des Bischofs erscheint deplaciert, ,falsch‘, er widerspricht den narrativen Erwartungen, die durch den Sagastil des Oddaverja þáttr erzeugt worden sind. So wirkt auch auf der inhaltlichen Ebene nach dem gleichsam europahistorischen ‚Kirchenreform‘-Grundsatzdissens die umgehende Konfliktbeilegung fast enttäuschend. 72 ÞsH B c. 21: Leið þá á daginn svá at bóndi sá at kirkjuvígslan myndi engi verða nema hann léti af sínu máli. 73 Ebd.: Sigurðr Ormsson, mikilsháttar maðr af veraldar metnaði, auðigr ok ættstórr. 74 Das soll selbstverständlich nicht bedeuten, dass ein historischer Sigurð Ormsson – also die Eigentümer der staðir – tatsächlich so leicht zu besiegen war oder dass die Furcht vor der Kirchenstrafe tatsächlich eine so geringe Rolle in seinen Überlegungen spielte. Die Rede ist hier von der narrativen Logik des Oddaverja þáttr.
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Dabei hat der Dissens es in sich. Auf der einen Seite erklärt der Bischof so viel wie: ,Island kann nicht erwarten, von einer Regel ausgenommen zu werden, die für alle anderen christlichen Länder gilt: erstens ist das Christentum universal, und zweitens ist Island arm‘ – auf der anderen Seite beharrt Sigurð Ormsson: ,Kein Ausländer bricht unser Recht.‘ Zu beachten ist die Hervorhebung der Norweger: Erzbischof Eystein Erlendsson, der kirchenrechtlich betrachtet als Oberhirte der Kirchenprovinz Nidaros keineswegs mehr ‚norwegisch‘ als ‚isländisch‘ ist, wird hier in eine Reihe mit allen Königen seit Óláf Tryggvason gesetzt, die in der Sagahistoriographie versucht haben, sich Island zu unterstellen, das die Selbstbehauptung seiner ersten Siedler gegen König Harald Schönhaar zum konstitutiven Gründungsmythos seiner Politeia erhoben hatte. Als aktuell-politischer Subtext des Verfassungszeitpunkts im 13. Jahrhundert sind die ab etwa 1230 forcierten Bestrebungen des Königs Hákon Hákonarson mitzudenken, mit Hilfe isländischer Parteigänger die Unterwerfung der Insel zu erreichen (eine Strategie, die bekanntlich 1262/64 Erfolg hatte). Im Ergebnis steht Bischof Þorlák in seiner eigenen Vita als „ausländischer“ Agent da, der es auf das Recht und das Vermögen75 der isländischen Ehrenmänner abgesehen hat und der es nicht einmal mehr versteht, einen Konflikt auf kontrollierte Weise eskalieren zu lassen. Aber vielleicht hatte er nur noch nicht den richtigen Gegner gefunden.
Portrait eines Wettkämpfers Immerhin, Þorlák hatte Erfolg. Nach der ersten gewonnenen Auseinandersetzung und einer zweiten ähnlichen, nur noch summarisch berichteten („es geschah auch ziemlich dasselbe“76) Übernahme der Kirchenaufsicht setzte sich der Bischof auf seiner gesamten Visitationsreise im südlichen Ostland durch, mit nur zwei Ausnahmen, die zur Zeit der Abfassung des Berichts noch immer bestanden. Nun machte sich Þorlák auf den Rückweg – und dabei musste er, das wusste jeder Isländer, der der Geschichte bis dahin gefolgt war, auf dem Weg vom Ostland an der Südküste entlang in Richtung auf seinen Bischofssitz Skálholt den Rangá-Thingbezirk durchqueren und Oddi passieren. Zu jener Zeit verfügte Jón Loptsson über Oddi, damals der mächtigste Häuptling in Island. Er hatte ein Godentum inne. In klerikalen Künsten war er äußerst bewandert; das hatte er von seinen Vorfahren gelernt. Er hatte die Weihen eines Diakons empfangen, ein großer Prediger der
75 Die Ansichten über den Anteil der Kirchenabgaben an der materiellen Basis der Häuptlingsmacht in Island gehen auseinander, sicher aber ist, dass sie einen aufgrund ihrer Stetigkeit zumindest relevanten Anteil an den Einkünften bedeuteten – und dies erst recht, wenn wie im Falle der Oddaverjar sämtliche staðir einer ganzen Region im Besitz einer Familie waren. Vgl. Jón Viðar Sigurðsson, Chieftains (1999), 193; zur ökonomischen Basis vgl. zusammenfassend ebd., 101–119; Byock, Viking Age Iceland (2001), 252–291. 76 ÞsH B c. 21: fór ok mj™k á einn hátt.
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heiligen Kirche. Auch legte er großen Wert darauf, dass die Kirchen, über die er den Patronat ausübte, in allen Dingen bestens ausgestattet waren. Die meisten Fertigkeiten (íþróttir), die bei den Männern jener Zeit üblich waren, beherrschte er zur Vollendung. Ein ehrgeiziger und auf Überlegenheit bedachter Mann war er, wie es kaum einen anderen gegeben hat, denn er wollte vor niemandem zurückweichen oder von einer Sache ablassen, die er aufgenommen hatte.77
Ein Aristokrat, der beide Schwerter gleichermaßen zu führen gewohnt war „nach Landesbrauch und altem Herkommen“, sollte nun also dem Bischof entgegentreten. Im Rahmen von dessen reformerischer Démarche nimmt Jón Loptsson, der über so gut wie alle Patronate seines Machtbereichs verfügte, sozusagen die Position des größten ,Simoniten‘ von allen ein, und die bevorstehende Auseinandersetzung ist von daher klimaktisch angelegt. So betrachtet, ist es erstaunlich, welchen Aspekt an der Figur dieses Widersachers die Erzählung vor allen anderen hervorhebt. Jón ist geweiht; er ist studiert; er ist ein auffällig guter Prediger („großer Redner der heiligen Kirche“) – kurz, er ist nicht nur ein vorbildlicher Laie, ähnlich Adams von Bremen Obodritenfürsten Gottschalk, der sich beim Gottesdienst umdrehte, um seinen Landsleuten flammende Predigten zu halten78, sondern noch ein wenig mehr. Seine Sorgfaltspflicht für die von ihm kontrollierten Kirchen nimmt er sehr ernst (es dürfte um gewissenhafte Einsetzung der erforderlichen Priester und die Instandhaltung der fabrica gehen). Von der Person und von der Amtsausübung her liegt also nichts gegen ihn vor. Es ist bemerkenswert, welchen eulogischen Aufwand die Vita betreibt, um den größten weltlichen Widersacher des heiligen Bischofs schon im Vorwege so heiligmäßig wie möglich aussehen zu lassen. Jón der Kirchenmann ist eine spiegelbildliche Doublette zu Jón dem Häuptling. Herkunft, Begabung und Ehrgeiz sind das Motiv seiner kirchlichen wie seiner weltlichen Exzellenz. Auch letztere wird unter drei Aspekten beleuchtet. Der Meisterschaft in der formal-klerikalen Ausbildung entspricht dabei die Bemerkung, er habe die unter den Menschen seiner Zeit üblichen Fertigkeiten fast vollständig beherrscht. Diese „Fertigkeiten“ (íþróttir, sg. íþrótt) sind gewissermaßen der Katalog der für die Anerkennung aristokratischer Eminenz unabdingbaren Qualifikationen. In der weitverbreiteten, mit geringen Varianten an unterschiedlicher Stelle überlieferten Fassung wird der Katalog in die Form einer ,losen Strophe‘ (lausavísa) im skaldischen Prestigeversmaß des dróttkvætt („Hofton“, regiert durch sehr strenge Vorgaben hinsichtlich Stab- und Binnenreim, Silben- und Verszahl) gefasst. Hier möge die Fassung der vielleicht in Oddi redigierten Orkneyinga saga stehen:
77 ÞsH B c. 22: Í þann tíma réð Jón Loptsson fyrir Odda, sá er þá var mestr h™fðingi á Íslandi. Hann var goðorðsmaðr. Hann var inn vísasti maðr á klerkligar listir, þær sem hann hafði numit af sínum forellrum. Hann var djákn at vígslu, raddmaðr mikill í heilagri kirkju. Lagði hann ok mikinn hug á at þær kirkjur væri sem bezt setnar er hann hafði forræði yfir at ™llum hlutum. Fullr var hann af flestum íþróttum þeim er m™nnum váru tíðar í þann tíma. Metnaðarmaðr var hann svá mikill ok kappsamr at varla varð meiri, því at hann vildi fyrir øngum vægja eða af því láta sem hann tók upp. 78 Adam von Bremen III, 20.
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Portrait eines Wettkämpfers Tafl emk ™rr at efla, íþróttir kannk níu, týnik trauðla rúnum, tíð er mér bók ok smíðir, skríða kannk á skíðum, skýtk ok rœ’k, svát nýtir, hvárt tveggja kannk hyggja, harpsl™tt ok bragþ™ttu.
Allen biet’ ich’s im Brettspiel, bin der Runen kundig, Bücher versteh’ und Schmiedwerk, Skilauf kann wie niemand. Schieß’ und rud’re rüstig, recht auch meistr’ ich, däch’ ich, Saitenspiel und Skaldsang: 79 so neun Künst’ erfreu’n mich.
Man sollte sich nicht von der verdächtig nach Kulturkontakt aussehenden Neunzahl dieser ,schönen Künste‘ von dem recht partikularen Gehalt dieses Bildungsideals ablenken lassen, das zwar gewiss in eine Reihe vom kalokagathós zum gentiluomo und Gentleman gehört, in seiner Ausprägung aber doch recht eigenständig ist. Vor allem fällt uns das Gewicht der praktisch-kriegerischen Fähigkeiten auf: Schießen und Rudern sind keine residualen Praktiken einer ‘leisured class’, sondern Alltag für den Nordmann í víking. Das Skifahren spielt zwar auf den atlantischen Inseln keine Rolle, wohl aber in Norwegen, das hier einmal mehr als der primäre Bezugspunkt der (west)nordischen Kultur erscheint. Der desperate Winterzug der Birkibeinar-Guerilla um König Sverrir von Värmland nach dem Trøndelag, die in dessen Saga außergewöhnlich intensiv geschildert wird, ist nur ein Beispiel für politische Unternehmungen, die tatsächlich von der Beherrschung der Skier abhingen. In diesen Bereich gehört auch das Schmieden, denn ungeachtet der zweifellos hier ebenfalls angelegten kulturellen Subtexte – Sigurð/„Siegfried“ und Völund/„Wieland“, die Vorzeithelden, sowie in der Juxtaposition zu den Büchern der Verweis auf das Verse,schmieden‘, eine Tätigkeit, die sich das nordische Mittelalter erheblich materieller vorstellte als wir – kann auch auf der Wortebene die Fähigkeit, eine Waffe oder ein Schiff auszubessern, lebenswichtig sein. Hinzu kommen die geselligen Künste. Jede von ihnen ist, worüber die zahlreichen Sagaschilderungen von der Soziabilität des winterlichen Lebens in der und um die Halle eines Mächtigen belehren, von hohem agonistischem Potential. Beim Brettspiel (neben den lokalen Varianten wie dem vermutlich dem Damespiel ähnlichen hnefatafl war im zwölften Jahrhundert nach archäologischen Befunden bereits das Schachspiel gebräuchlich) wird die Analogie zu
79 Os c. 58; Übersetzung von Baetke, Geschichte von den Orkaden (21966), 88. Ich zitiere der Eindrücklichkeit halber Baetkes metrische Übersetzung, die dem Inhalt nur ungefähr gerecht werden kann (man beachte, dass er den 2. Vers als 8. übersetzt). Eine wörtliche Übersetzung, die die intrikaten syntaktischen Verschlingungen auflöste – und damit einer der genannten „Künste“ bereits einen Tort antäte –, könnte folgendermaßen lauten: „Ich bin stark, auf dem Spielbrett zu kämpfen; neun Fertigkeiten kann ich; kaum verderbe ich Runen; Bücher und Schmiedwerk bin ich gewohnt; laufen kann ich auf Skiern; ich schieße und rudere, so dass es taugt; mir scheint, ich kann sowohl Saitenspiel als auch Dichtkunst [letztere in Form einer kenning: das Wissen des (legendären ersten Skalden) Bragi].“
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Kampf und Sieg ausdrücklich gezogen, bei Instrumentalmusik und Dichtung ist der Wettbewerbscharakter implizit.80 Die aktive und passive Beherrschung der beiden Schriftsysteme und der damit verbundenen Schriftkulturen, der runischen und der lateinischen, rundet das Bild ab. Im hohen und späten Mittelalter, lokal bis ins 18. Jahrhundert hinein, war sie eine gängige und sogar populäre Schrift (darüber belehren die Tausende von hölzernen Runeninschriften ganz unterschiedlichen Inhalts, von der Schreibübung und der nordischen, lateinischen oder sogar hebräischen Beschwörung bis zum Geschäftsbrief oder dem Rendezvous81), die der lateinischen Schrift auch auf dem Pergament Konkurrenz machte – der Lundenser Erzbischof Andreas Sunesen veranlasste um 1220 eine volkssprachliche Niederschrift des schonischen Landesrechts in runischer Schrift. Es ist aber auch an einen kultural spezifizierten Gebrauch zu denken. In den Sagas des 13. Jahrhunderts setzen die Helden gelegentlich weiße Magie (seið) mit Unterstützung durch runische Beschwörungen ein, und auch geringe Irrtümer können fatale Folgen haben.82 Hier handelt es sich zwar um einen Teil der ,Erfindung‘ der eigenen autochthonen Vorzeit und wird auch stets Sagapersonen der vorchristlichen Zeit zugewiesen; immerhin ist vorstellbar, dass ein Aristokrat derselben Zeit die Fähigkeit, das ,eigene‘ alte Alphabet benutzen zu können, in ähnlicher Weise kultivierte wie ein claudischer Kaiser das Etruskische. Das Interesse an Runeninschriften war groß; Saxo wusste in seiner geographischen Einleitung der Gesta Danorum über die östlichste dänische Landschaft, Blekinge, nicht viel mehr zu berichten, als dass ein Berg dort von eigenartigen Schriftzeichen übersät sei, die zu entziffern noch niemandem gelungen sei, obgleich Waldemar I. eigens Schriftkundige entsandte, die Abschriften anfertigen sollten.83 Indem runische Lese- und Schreibkompetenz zu den Schlüsselqualifikationen eines großen Mannes gerechnet wurden, bekam dieser weniger magische Verantwortlichkeit als vielmehr die Verpflichtung auf das regionale kulturelle ,Erbe‘, das heißt die Orientierung an regionale Gewohnheiten und Konventionen zugewiesen. Und unter diesen Konventionen war auch diejenige, die den Kirchenpatronat regelte: „jene Konvention, die ungelehrte 80 Zahlreiche Sagas und þættir enthalten Szenen, in denen Anwesende vor großem und/oder erlauchtem Publikum in die Situation kommen, skaldische Verse zu improvisieren, zuweilen sogar um die Wette. Harfenspiel hingegen kommt sehr selten vor (man weiß nicht einmal, ob skaldische Dichtung zu instrumentaler Begleitung vorgetragen wurde) und mag hier inselkeltischem oder kontinentalem Einfluss geschuldet sein. 81 Vgl. allgemein Düwel, Runenkunde (32001), 153ff.; zum norwegischen Schriftgebrauch: Hagland, Skrift i mellomalderen (1998); ders., Literacy (2005). Die Runenfunde auf Holz aus dem Hafen von Bergen sind ediert in: Norges innskrifter, hrsg. von Kjeldeskriftfondet (1980 – 90). 82 Etwa in Egils saga c. 72, wo der runenkundige Titelheld ein krankes Mädchen, dem ein schlecht geschriebener Zauber ins Bett gelegt worden war, durch Anfertigung eines fehlerfreien Runenstabes heilt. 83 Saxo praef. 2,5: rupes mirandis literarum notis interstincta; zum ,Nachleben‘ und Nacherleben des antiquarischen Interesses an den Blekinger Felsen im 19. Jahrhundert vgl. Kjær, Risse und Runen (1994).
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Leute hierzulande gemacht haben, dass sie sich selber die Verfügungsgewalt über das Eigentum zubilligen, das sie Gott gegeben haben“, wie Bischof Þorlák seinem ersten Widersacher entgegengehalten hatte.84 Es ist zu beachten, dass all diese Fähigkeiten erlernt sind. Anders als die bona oder die bons aips cortés85 anderer Zeiten und Klimata, die eine Verbindung von natürlicher Anlage und günstigen Umständen zu ihrer Entfaltung voraussetzen, sind die íþróttir ausschließlich kulturtechnische Fertigkeiten. Sie allein machen aber noch nicht den „mächtigsten Häuptling“ (mestr h™fðingi) aus, der Jón Loptsson ausweislich dieser Geschichte war. Vor allem brauchte er die Disposition, seine Fähigkeiten zu nutzen: jene, die er von Vater- wie Mutterseite erbte (und in der Hinsicht hatte Jón, der von den Oddaverjar und aus dem norwegischen Königshaus stammte, nun gewiss die besten Anlagen) und unablässig – „mehrmals am Tag“ laut dem Preisgedicht Nóregs Konungatal – beweisen musste. Diese Disposition wird hier mit zwei Begriffen umrissen: „Er war ein so großer metnaðarmaðr und so kappsamr, dass es kaum einen größeren gegeben haben dürfte.“ Das erste Epitheton ist ein Kompositum aus den Nomina -maðr „Mann“ und metnað „Bewertung, Einschätzung; Ansehen, Ehre; Hochmut, Ehrgeiz; Großartigkeit, Gepränge“. Das zweite ist ein zusammengesetztes Adjektiv zu kapp- „Eifer, Tatkraft; Heftigkeit, Streitlust, Übermut; Streit, Wettstreit“.86 Übersetzen wir vorläufig: „Bewertungs-Mann“ und „wettstreit-sam“. Die lexikalische Glossierung bemüht sich, den Nuancen gerecht zu werden, die eine Übersetzung in eine moderne europäische Sprache notwendig macht, und deckt daher die äußere Form („Gepränge“) ebenso ab wie die relativ neutrale („Einschätzung“ und die geladene („Ehre“) Variante der sozialen Interaktion und sogar die auf das Feld der superbia verweisende moralisch-ethische negative Komponente („Hochmut“). Ähnliches geschieht für kapp zwischen „Tatkraft“ und „Streitlust“. Das Nordische kennt diese Nuancen nicht. Metnað ist ein Abstraktum, das mit dem Suffix -nað (es entspricht etwa dem deutschen „-ung“ oder „-nis“) zu dem Primärlexem met- gebildet ist, zu dem das mit „messen“ verwandte Verbum meta „(einen Preis) festsetzen; (nach dem Wert) einschätzen, abschätzen, bewerten, abwägen“ und das Substantiv met „Gewicht (für die Waage)“ gehören.87 Kapp entspricht etymologisch „Kampf“; ein kappi ist ein 84 C. 21: sá skildagi sem ófróðir menn hafa hér g™rvan at skilja sér vald yfir þeim hlutum sem þeir hafa áðr Guði gefit. 85 Die bei den Trobadors häufige Fügung lautet zum Beispiel bei Raimbaut de Vaqueiràs (fl. 1180– 1205), zeitlich und vom Habitus her Jón Loptsson recht nahe: Et ai de totz bos aips cor e saber, E qand ren faill, fatz o per non poder „Und für alle guten Eigenschaften habe ich die Veranlagung (Herz) und die Kenntnis (Wissen), und wenn ich doch fehle, liegt das an Machtlosigkeit“ (Savis e fols, humils et orgoillos, PC 392,28, The poems of the troubadour Raimbaut de Vaqueiras, hrsg. von Linskill [1964], v. 7–8). Jón Loptsson hätte erwidert, dass es per Definition unmöglich ist, durch non poder an aristokratischem Auftreten gehindert zu werden: wer úmagi (ohn-mächtig) geworden ist, ist kein Aristokrat mehr. 86 Baetke, Wörterbuch (51993), s. v. metnaðr; kapp. 87 Ebd., s. v. meta; met.
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Kämpe (auch im gerichtlichen Zweikampf). Unter den Bedingungen der nordischen Kultur – oder jedenfalls ihrer Prosaprache – hat es sich aber aus dem Feld des „Kampfes“ im Sinne von Krieg, Überfall oder Schlacht entfernt und auf den Bereich des Wettstreits spezialisiert: kappdrykkja ist das Wetttrinken beim Gelage, kappróð das Wettrudern, kappmæli der Wortstreit, der Zank; mehrere eindrucksvolle Sagaszenen beschreiben, wie eine offene Statusfrage zwischen zwei einander sich vorsichtig nähernden Parteien ausgehandelt und am Ende – so oder so – gelöst wird, indem es zum kappsund, dem Wettschwimmen zwischen den Protagonisten kommt.88 Beiden Begriffen ist also die Vorstellung des Messbaren, des Sich-Messens und (wenn andere zugegen sind, darunter per extensionem das Publikum einer Saga) das Zumessen von dem, was in den modernen und den meisten mittelalterlichen Sprachen „Ehre“ oder honor heißt und was im Nordischen praktisch ausschließlich relational existiert.89 „Sozialer Status ist in der Sagagesellschaft etwas, über das ein Mensch als Anteil einer gemeinsamen Summe verfügt“, kommentiert Preben Meulengracht Sørensen, „bekommt einer mehr, so bedeutet das einen Verlust für andere.“90 Man könnte sagen, dass ,Ehre‘ keinerlei positiven Gehalt wie Rechtschaffenheit, Tapferkeit oder Zuverlässigkeit hat, die es auch unter widrigen Umständen, gegebenenfalls gegen Konkurrenten und Widersacher zu behaupten gälte – sondern dass umgekehrt die Behauptung und Überbietung anderer die ,Ehre‘ ausmache und die genannten ,Tugenden‘, wie sie den Oddaverjar in dem Preisgedicht Nóregs Konungatal ja tatsächlich zugeschrieben werden, nur eine Art sind, diese Konkurrenz auszutragen. Hier steht man vielleicht vor dem Movens jener politischen Kultur, die Sverre Bagge in seiner einflussreichen Studie über die Königssagas beschreibt und deren „macchiavellistische“ Züge, die unbedingte Konzentration auf den Erfolg mit allen Mitteln er als im hochmittelalterlichen Vergleich einzigartig beschreibt.91 Den modernen, auch (und 88 So verlief etwa die erste Begegnung des Helden der Laxdœla saga (c. 40), Kjartan Óláfsson – Sohns des oben erwähnten Óláf Pfau und Enkels der versklavten Irenprinzessin Melkorka – mit König Óláf Tryggvason im Trondheimsfjord. 89 Das andere Lexem, das den Bereich „Ehre“ abdeckt, nämlich sœmd, hat einen starken konkreten Anteil und meint Ehrungen, Auszeichnungen, gelegentlich die entsprechenden Geschenke; das verwandte sómi bezeichnet vor allem etwas, was jemandem zur ,Ehre‘ gereicht: þat er sómi hans „das ist ehrenvoll für ihn“; sómaf™r „eine Ehre einbringende Fahrt“. – Vgl. zum Komplex zuletzt Helgi Þorláksson (Hrsg.), Sæmdarmenn (2002). 90 Meulengracht Sørensen, Fortælling og ære (1993), 251, als Kommentar zu einem Streit um die Anteile an einem gestrandeten Wal in der Laxdœla saga (c. 29), wo die Formulierung eigi láta sinn hlut „nicht auf seinen Anteil verzichten“ nicht nur auf das zur Winterverproviantierung wichtige Walfleisch, sondern im übertragenen Sinn auch auf den konkomitanten Ehrverlust verweist. 91 Bagge, Society and politics (1991), ibs. 85ff., sieht den Nexus zwischen ,Ehre‘ und dem „politischen Spiel“ umgekehrt: zwar gäbe es eine gewisse, von der ,Ehre‘ diktierte Reaktionspflicht in bestimmten Situationen; die Bandbreite der möglichen Reaktionen sei jedoch so groß, dass auch hier wieder ein taktisch-ergebnisorientiertes Handeln möglich und üblich sei. Ich würde umgekehrt annehmen, dass die ausschließliche Verpflichtung auf das komparative, kompetitive Ethos die Männer – und
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gerade) den mediävistisch gebildeten Leser befremdet oft die Gelassenheit, mit der die Sagas über Taten hinweggehen, die aussehen wie der Gipfel an Ehrlosigkeit, dem aber Täter nichts einbringen als einen Punktsieg und keinen weiteren Kommentar. Die nächtliche Umzingelung und Niederbrennung des gegnerischen Gehöfts mit allen Schlafenden (brenna) ist ein häufiges Ereignis, und wenn fünf Männer zwei Gegner zum Kampf stellen und diese auf das Missverhältnis hinweisen, erwidert der prospektive Sieger, er denke nicht daran, auf seinen Vorteil zu verzichten. Sie lassen vermuten, dass ,Ehre‘ tatsächlich nicht in bestimmten guten oder der Vermeidung von üblen Taten besteht, sondern eine Sache von Triumph oder Niederlage ist – dass ein metnaðarmaðr mikill wie Jón Loptsson, wörtlich ein „großer Messungsmann“, gar nicht anders kann, als Tag für Tag zu siegen. Ja, sogar die Eigenschaft, die wir „Ehrgeiz“ nennen würden, eignet sich ihrerseits wieder für einen Agon: „er war ein so ehrgeiziger Mann und so sehr aufs Sich-Messen aus wie kaum ein anderer.“
Gab es Ehefrauen? Die erste Facette dieses Wesens, die der Oddaverja þáttr als Illustration für dieses Charakterbild anführt, sind Jóns Frauen. Kein anderer Wirkungsbereich dieses „größten aller Häuptlinge“ gilt offenbar als so aufschlussreich. Und wenn man mit Blick auf Carol Clovers These über die durch das ,Vermögen‘ (mega) regierte Gender-Binomie der altnordischen Kultur annimmt, dass es die stets präsente Möglichkeit war, durch Anzeichen von ,Unvermögen‘ (úmagi) in die „weiche“, überwiegend weibliche Kategorie der (meisten) Frauen, der Kinder, Armen und Alten zu fallen, die der nordischen Männlichkeit ihren desparaten Akzent gab, dann wird die anschließende Stelle eine zwingende Folgerung aus der vorherigen: Jón hatte eine Frau, die Halldóra hieß, die Tochter des Brand. Ihr Sohn war Sæmund. Jón war sehr empfänglich für Frauenliebe, denn er hatte viele andere Söhne mit verschiedenen Frauen: Þorstein und Halldór, Sigurð und Einar. Pál, der spätere Bischof, und Orm, der später in Breiðabólstað siedelte, waren seine Söhne mit Ragnheið Þórhallsdóttir, der Schwester des Bischofs Þorlák. Jón und sie hatten einander seit ihrer Kindheit geliebt; sie hatte aber auch Kinder mit mehreren anderen Männern. Als Þorlák mit der Bischofswürde nach Island kam [1177], waren Pál und Orm, die Söhne von Jón und Ragnheið, schon erwachsen. Pál wohnte in Ytri-Skarð und Orm in Breiðabólstað [zwei strategisch wichtige Höfe im Rangá-Thingbezirk]. Lange hatte Jón Ragnheið bei sich zu Hause in Oddi.“92 wenige Frauen – zwingt, taktisch-ergebnisorientiert zu handeln, um in jeder kontingenten Konfliktsituation der Überlegene zu sein. Bagges politischer Erfolg ist nicht das Ziel, sondern das Mittel politischen Agierens, das tatsächlich ,ziellos‘ in dem Sinne ist, dass die Vermeidung von Verlusten der eigentliche Antrieb ist. 92 C. 22: Konu átti hann sér er Halldóra hét ok var Brandsdóttir. Sonr þeirs var Sæmundr. Jón var mj™k fenginn fyrir kvenna ást, því at hann átti marga sonu aðra með ýmsum konum, Þorstein ok Halldór,
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Nicht ganz „...die Mädchen sind ohne Zahl“ wie beim Salomo des Hoheliedes also, aber doch eine beeindruckende Bilanz: Zwei namentlich genannte Frauen, dazwischen eine Reihe „verschiedener“ und, so steht zu vermuten, noch mehr, die mangels nennenswerter männlicher Nachfahren nicht erwähnt werden. Drei weitere von Jóns Frauen sind bekannt93; es handelt sich bei ihnen – ebenso wie bei den frillur der nächsten OddaverjaGenerationen, über die mehr bekannt ist – durchweg um die Töchter von Hofbesitzern der Region, mit denen die Magnaten auf diese Weise „vertikale Allianzen“ schlossen, wie sie Auður Magnúsdóttir in ihrer Studie über die politische Bedeutung der unehelichen Beziehungen in Island beobachtet hat. Wie unterscheiden sich diese Allianzen nun in ihrer Form oder ihrem Status von einer ‚Ehe‘? Tun sie es überhaupt? Es ist ja nicht gesagt, dass eine eher „horizontale“ (isogyne) Beziehung sich auch kategorial von einer „vertikalen“ (hypogynen) unterscheiden muss. Zweifellos wurde ein Bündnis zwischen mehr oder minder gleich bedeutenden Gruppierungen sorgfältiger ausgehandelt als die Verbindung eines Häuptlings mit einer Bauerntochter. Nicht richtig ist jedoch die Vorstellung, dass es sich im einen Fall um eine rechtlich normativierte, durch bedeutende Besitzübertragung und andere Gaben sowie entsprechende Kautelen begleitete Transaktion, im anderen Fall um eine eher formlose und von den Umständen abhängige Verbindung handelte, die lediglich den Mann, die Frau und ein sexuelles Interesse anging. Quellenbegriffe wie lausabryllaup „lose Hochzeit“ für die Aufnahme einer solchen mindergewichtigen Verbindung94 haben zunächst zu der – mittlerweile allseits als irrig anerkannten – Vorstellung von der „Friedelehe“ als einer ,freien‘ Konsensehe zwischen Muntehe und Konkubinat geführt95, befördern aber nach Aufgabe dieses dritten Modells nunmehr binär-institutionalistische Vorstellungen von Vollehe auf der einen, ,losen‘ Formen aller Art auf der anderen Seite.96 Solche Vorstellungen setzen voraus, dass allen Gesellschaften und Milieus die ‚augustinische Unterscheidung‘ („Geliebte oder Ehefrau?“) geläufig war. Das aber ist – abgesehen von allen Erwägungen über die Möglichkeiten (semi-) oraler Gesellschaften, kategoriale Denkweisen überhaupt zu entwickeln – in jedem Fall deshalb schwierig, weil eine dauerhafte Zuschreibung von Kategorien an einzelne Personen oder Paarbeziehungen unter den Bedingungen solcher Gesellschaften kaum
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Sigurð ok Einar. En Páll er síðan varð byskup ok Ormr er síðan bjó á Breiðabólstað váru synir þeira Ragnheiðar Þórhallsdóttur, systur Þorláks byskups. H™fðu þau Jón elskazk frá barnœsku; þó átti hon við fleirum m™nnum b™rn. Váru þeir þá frumvaxti Páll ok Ormr, synir þeira Jóns ok Ragnheiðar, er Þorlákr byskup kom til Íslands með byskupstign. Bjó Páll í Ytra-Skarði en Ormr á Breiðabólstað. L™ngum helt Jón Ragnheiði heima í Odda. Sie werden in der Sturlunga saga genannt; vgl. Auður G. Magnúsdóttir, Frillor och fruar (2001), 48ff. Vgl. Ebel, Konkubinat (1993), 168ff. Der Hauptvertreter dieser Sicht war Meyer, Friedelehe und Mutterrecht (1927), 198–286; ders., Ehe und Eheauffassung bei den Germanen, Bd. 1 (1940), 1–51. Für Norwegen steht für diese Sicht zuletzt die Monographie von Holtan, Ekteskap (1996).
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gelingen kann und oft auch nicht im Interesse der Beteiligten liegt. Viel eher als um ein Entweder-Oder wird es bei den Mann-Frau-Beziehungen wie bei vielen anderen Zuschreibungen (fides, honor, nobilitas) um ein Mehr-Als gegangen sein. Sehen wir uns an, wie das die Oddaverjar handhabten. Ein Mann wie Snorri Sturluson konnte mit Isogamie sein politisches Glück machen97 und hat den Überträgerinnen der an ihn fallenden goði-Würden und einträglichen Höfe gewiss ein anderes Gewicht beigemessen als manchen seiner übrigen Frauen. Allerdings ist entgegen der üblichen Vorstellung die begleitende Übertragung bedeutender Güter kein Kriterium, um eine ‚(Voll-, Munt-) Ehe‘ von einer frilla-Verbindung/Konkubinat zu unterscheiden. Jóns und Ragnheiðs Sohn Orm etwa hatte als frilla eine Frau namens Þóra, Schwester eines Mannes namens Kolskegg, dessen Beiname „der Reiche“ (auðgi; es geht um materiellen Wohlstand) schon andeutet, dass es sich keineswegs um eine besonders markante Vertikalität handelte. In der Tat war Kolskegg Inhaber eines Godentums, das – und dies mag, wie reizvoll Þóra auch sein mochte, für den Häuptlingssohn und Bischofsneffen zusätzlich attraktiv gewesen sein – im Erbgang seiner Schwester und Alleinerbin und damit den zu erwartenden Oddaverja-Kindern aus deren Verbindung mit Orm Jónsson zufallen würde. (Frauen konnten durchaus Inhaberin eines Godentums sein, die dazugehörigen Kompetenzen, insbesondere die Auftritte vor Rechtsversammlungen, allerdings nicht in persona ausüben.) In der Praxis sah das so aus, dass Orm schon zu Kolskeggs Lebzeiten über dessen Godentum und Besitz verfügen konnte98, die er den Oddaverjar durch die Frillenverbindung so zuverlässig gesichert hatte, wie es durch eine ,Muntehe‘ nicht solider möglich gewesen wäre. Zweifellos darf man annehmen, dass der Druck auf den erbenlosen, begüterten Kolskegg massiv war, bis er sich bereitfand, zum Klienten der übermächtigen Oddaverjar zu werden – Snorri Sturluson behandelte die Familien seiner Frauen erheblich ehrerbietiger.99 Aber dies ist wiederum eine relationale Abstufung, keine kategoriale Unterscheidung. Von Jón Loptssons kona Halldóra, die in der zitierten Passage samt ihrem Sohn als erste genannt wird, ist nichts weiter bekannt als der Vatersname, nichts aber über ihre Herkunft und Verbindungen. Es gibt kein Anzeichen dafür, dass es sich bei Jóns ‚Ehe97 Der von Haus aus nicht sehr vermögende Snorri Sturluson verdankte seine spätere Position als Islands mächtigster Häuptling zwei ‚Heiraten‘: Mit der ersten erwarb er den Hof Borg und die Vormacht im westlichen Bezirk Borgarfjörður, mit der zweiten Breiðabólstaður (den Hof, den im Oddaverja þáttr Jóns und Ragnheiðs Sohn Orm besitzt) und damit eine vergleichbare Position im alten Oddaverja-Machtbereich im Südland. Zu den Allianzen Snorris und der Sturlungen vgl. Jóhannesson, Old Icelandic Commonwealth (1974), 226–256; zu Snorris Frillen vgl. Ebel, Konkubinat (1993), 87ff. 98 StS I, 243; vgl. Auður G. Magnúsdóttir, Frillor och fruar (2001), 55. 99 Sollte die auf linguistischen Analysen beruhende Vermutung zutreffen, dass Snorri der Abfasser der Egilssaga ist (so vor allem Hallberg, Egils saga Skallagrímssonar [1962]), so müsste darin der Versuch zu sehen sein, sich in seine Schwiegerschaft mit den Nachfahren Egils auf Borg auf würdige Weise ,einzuschreiben‘.
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schließung‘ um eine „horizontale Allianz“ handelte. Im Gegenteil ist der Umstand, dass wir über Halldóras Familie nichts wissen, eher ein Indiz dafür, dass es – in den Augen der Isländer, die auch bei Saga-Nebenpersonen regelmäßig Pedigrees über mehrere Generationen hinweg goûtieren – hier nichts zu wissen gab. Streng genommen gibt es ja auch keinen textuellen Beleg darüber, dass Halldóra Jóns ,Ehefrau‘ war, wie es die Forschung einmütig annimmt.
‚Ehe im Rückblick‘ Es gibt nur eines, was Halldóra von den anderen Frauen abhebt: ihren Sohn Sæmund. Er wurde nach Jóns Tod 1197 zum Haupt der Oddaverjar und blieb es ein Vierteljahrhundert lang. Dies wird meist folgendermaßen gedeutet: Sæmund als Jóns einziger ,ehelicher Sohn‘ folgte seinem Vater in Amt und Würden nach, während die übrigen Söhne mit Besitzungen und (im Falle von Pál Jónsson) dem Bistum Skálholt gut bedacht wurden. Sæmund seinerseits habe nicht geheiratet und folglich nur ,uneheliche‘ Söhne hinterlassen. Unter ihnen schälte sich kein klarer Nachfolger heraus, und die Stellung der Oddaverjar zerfiel. Diese Argumentation beruht aber auf zwei Vorannahmen, die beide fragwürdig sind: dass nämlich zwischen Ehe und Nicht-Ehe kategorial unterschieden wurde und dass die Söhne aus der einen Form prinzipiell erbberechtigter waren als andere. Dass letzteres nicht zutrifft, hat die Untersuchung von rechtlichen und erzählenden Quellen im vorigen Kapitel gezeigt; auch für ersteres gibt es, wie gesagt, kein Indiz – mit Ausnahme der allerdings wiederum relationalen Unterschiedlichkeit wichtigerer und weniger wichtiger Verbindungen, und im Falle Jón Loptssons greift dieses Kriterium ja wie gesagt gerade nicht. Wie wäre es, wenn man den Argumentationsgang umkehrte? Unter Sæmund Jónssons Söhnen fand sich nach dessen Tod 1222 kein eindeutiger Nachfolger. Dabei berichtet die Sturlunga saga, dass die Bauern im Rangá-Thingbezirk sich Sæmunds Sohn Hálfdan als Häuptling wünschten, „doch dieser war kein ehrgeiziger Mann und hielt sich aus den Angelegenheiten anderer lieber heraus.“100 Ein solcher persönlich oder vielmehr charakterlich motivierter Verzicht war kein Einzelfall, wie Jón Viðar Sigurðsson gezeigt hat101: Es gab auch Aussteiger. Jóns Enkel galt oder empfand sich anscheinend als nicht hinreichend mit der kompetitiven Leidenschaft ausgestattet, die seinen Großvater zum „größten Sich-Messen-Woller“ gemacht hatten. Jóns Sohn hingegen, Sæmund, war eine Generation zuvor offenbar durchaus im Besitz dieser Eigenschaften – und dies sogar in einem Maße, die politisch kontraproduktiv wirken konnte, sollte die oben erwähnte Nachricht zutreffen, wonach die Eheschließung mit der Tochter des Orkney-Jarls Harald Maddaðarson (eine „horizontale Allianz“ in den Augen der Oddaverjar, wenn auch nicht 100 StS I, 345. 101 Jón Viðar Sigurðsson, Chieftains (1999), 99f.
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Eine Vokabel fürs Unsag¬bare: elja
unbedingt aus orkadischer Perspektive) an der Frage nach der Brautwerbungsreise scheiterte, also daran, dass Sæmund sich mit dem Versuch, sich mit dem Jarl auf gleicher Höhe zu „messen“, überhoben hatte. Innerisländisch hingegen besteht kein Zweifel, dass Sæmunds Vorrang unter den Oddaverjar und seine beherrschende Stellung in deren Machtbereich (ríki) allgemein hingenommen wurde. Ich nehme an, dass dieser Umstand das einzige ist, was seine Mutter ex post zu entsprechender Eminenz unter Jóns Frauen verhalf und dazu führte, dass sie im Oddaverja þáttr (der laut Finnur Jónsson kurz nach Sæmund Jónssons Tod, nach anderer Meinung eine oder zwei Generationen später redigiert wurde102) mit Namen und Vatersnamen vor den anderen herausgehoben wird. Dann aber liegt nicht Sæmunds später führende Rolle darin begründet, dass er Jóns einziger ‚legitimer‘ Sohn war, sich also seine Mutter Halldóra von Jóns übrigen Frauen unterschied (seine ,Ehefrau‘ war); soweit wir sehen, tat sie das ja gerade nicht. Es ist umgekehrt: Halldóra befand sich in einer ähnlichen Situation wie die osmanische sultan valide, die umayyadische oder abbasidische umm walad oder Batscheba, die nach Davids Tod um jeden Preis ihren Sohn Salomo auf den Thron heben musste, damit sie neben ihm auf dem Thron der Königsmutter Platz nehmen konnte.103 Unter Sæmunds Söhnen tat sich keiner in dieser Weise vor den anderen hervor, und so avancierte keine ihrer Mütter im Rückblick zu Sæmunds ,Ehefrau‘.104
Eine Vokabel fürs Unsagbare : elja Wenn das mittelalterliche Nordeuropa Polygynie mit untereinander statusmäßig graduell (aber nicht kategorial) ungleichen Frauen praktizierte: ließ sich das verbalisieren in einer Sprachwelt, die vom paulinischen Monogamiegebot und der augustinischen Unterscheidung uxor/concubina bestimmt war? Möglicherweise findet sich hier die Lösung eines lexikalischen Problems, das sich bislang einer befriedigenden Klärung entzogen hat. In mehreren Sagas, vor allem aber im zweiten Teil von Snorri Sturlusons Poetik (der sogenannten Snorra Edda oder Prosa-Edda), der Skáldskaparmál („Rede über die Dichtkunst“), erscheint das Substantiv elja. Snorris Definition lautet: 105
Eljur nennt man die Frauen, die denselben Mann haben.
102 Die Datierungsdebatte wird dargestellt von Ásdís Egilsdóttir, Formáli, in: Biskupa sögur, Bd. 2 (2002), xviiif. 103 III Reg 2,19: positus quoque est thronus matri regis quae sedit ad dexteram eius. Vgl. Häusl, Abischag und Batscheba (1993). 104 Zu diesem Modell der ‘retrospect marriage’ vgl. ausführlich Rüdiger, Married couples (2012). 105 Edda Snorra Sturlusonar, hrsg. von Guðni Jónsson (1959) c. 84: Þær konur heita eljur, er einn mann eigu. (-ur ist die Endung im Nominativ Plural Femininum zum Singular -a.) Zu vermuten ist eine etymologische Beziehung zu u. a. lat. alia.
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In seiner Sammlung von kenningar (poetischen Umschreibungen) mythologischer Figuren gebraucht Snorri das Wort mehrfach in genau dieser Weise, nämlich symmetrisch: Jörð, die Erde, mit der sich Odin in der mythologischen Dichtung des hohen Mittelalters vermählt (vgl. Kap. 5), kann unter anderem als brúð (Braut) Óðins oder als elja Friggjar ok Rindar ok Gunnlaðar umschrieben werden (Frigg ist gewissermaßen die Juno zu Odin-Jupiter, Rind und Gunnlöð sind zwei besonders charakteristische Riesinnen, mit denen er Affären hatte). In dieser Schar ist die personifizierte Erde nur eine von vielen. Aber Frigg kann entsprechend umgekehrt als elja Jarðar bezeichnet werden. Das Verhältnis der Gefährtinnen des Ersten Gottes ist, lexikalisch betrachtet, symmetrisch, obgleich mythologisch gesehen beträchtliche Unterschiede bestehen zwischen einer Asengottheit wie Frigg, den Riesenmädchen, die zu Opfern von Odins Gewitztheit werden, und der fertilisierten Erde. In der geistlichen Literatur wird elja im Zusammenhang mit der Stammväterpolygamie gebraucht, allerdings auch auf neutestamentliche Verhältnisse angewandt; eine interessante Amplifikation von Lv 18,18 (dem Verbot, zwei Schwestern beizuwohnen) schließt in der norwegischen Kompilation Stjórn (kurz vor 1300) die in der Vulgata nicht genannte elja der Schwester ein.106 Else Ebels Glossierungsvorschlag „Mitfrau“ trifft die Sache gut.107 Eine problematische Stelle ist allerdings die um 1280 redigierte Njáls saga. Hier eilt in einer Notfallsituation, die nach Rache schreit, die ,Nebenfrau‘ Hróðný (ihr Sohn wird als laungetinn „heimlich gezeugt“ gekennzeichnet, der Terminus, mit dem die Rechtstexte die Kinder bezeichnen, die per ættleiðing ins Geschlecht aufgenommen werden müssen) zum Schlafplatz des Hausherrn Njál, der dort mit seiner Frau Bergþóra schläft. Bergþóra ist die ganze umfangreiche Saga hindurch der nahezu idealtypische Fall einer Hausherrin, sie ist Njals ,Gattin und Gefährtin‘, die perfekte univira; sie hat Eigenbesitz in die Ehe eingebracht, und sie bleibt bei Njál bis zum bitteren Ende in den Flammen ihres Hofes. Und doch ruft Hróðný, die Njál zur Rache für den gemeinsamen Sohn aufstacheln will: „Steh auf, aus dem Bett, von meiner elja !“108 Im Grunde ist die Stelle ganz klar: Hróðný meint, Njáls Verpflichtung ihr gegenüber habe in dieser Notsituation Vorrang vor den Ansprüchen aller anderer Mitfrauen. Problematisch ist die Bezeichnung nur dann, wenn man Bergþóra, die ,Ehefrau‘, wesentlich anders sieht als Hróðný, die ,Konkubine‘. Dann wird das Wort elja, das die Konkubine für die Ehefrau benutzt und damit gewissermaßen 106 Lv 18,18: sororem uxoris tuae in pelicatum illius non accipies; Stjórn, 320: systur konu þinnar skaltu eigi taka eða elju hennar „die Schwester deiner Frau sollst du nicht nehmen oder ihre elja“. Vielleicht liegt eine Kontamination oder Fehlübersetzung vor, die durch den Gebrauch von pelicatus (zu pellex) induziert wurde, doch das ist angesichts der syntaktischen Klarheit beider Sätze eine unnötig komplizierte Deutung. 107 Vgl. die Erörterung des Terminus und der Stellen in Ebel, Konkubinat (1993), 148ff.; „Mitfrau“ schon in Die Saga vom weisen Njál übetr. von Heusler (1914), 125. Ebel macht auch auf das etymologisch verwandte althochdeutsche ella, mittelniederdeutsch elle aufmerksam. 108 Brennu-Njáls saga, hrsg. von Einar Ólafur Sveinsson (1954), c. 153: „Statt þú upp ór binginum frá elju minni...“
Die Konfrontation der Schwäger
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pervertiert, eine Beleidigung – obgleich der Text diese Nuance (jenseits des allerdings ohnehin schon äußerst drastischen Vorgehens der Hróðný: eine Frau, die einen Mann zur Tat auffordern muss, ist ultima ratio) nicht trägt.109 Man muss also annehmen, dass sich in der Vokabel elja das oben am Fall von Jón Loptssons Frauen dargestellte Kontinuum niedergeschlagen hat: Auch dort, wo es beträchtliche Unterschiede zwischen den Frauen eines Mannes gibt – wie bei Njál –, sind sie doch alle eine der anderen elja. Dazu passt, dass der Sohn Jón Loptssons mit der Bischofsschwester Ragnheið selber Bischof wird (Pál Jónsson, 1195–1211), ohne dass im Oddaverja þáttr oder seiner eigenen Vita110 der defectus natalis irgendwie thematisiert würde. Damit soll keine Entwicklungsperspektive eingenommen und die Geschichten um die Oddaverjar als Produkt eines residualen Bewusstseins verstanden werden. Jón Loptsson, der Jahrzehnte um seine formelle Anerkennung durch die königliche Verwandtschaft in Norwegen kämpfen musste, wusste durchaus um den Unterschied. Nur verlief er nicht zwischen ,Ehe‘ und ,Nicht-Ehe‘, sondern zwischen ,heimlich‘ und ,nichtheimlich‘.111 Ragnheið lebte offen mit Jón auf seinem Hof in Oddi, und das tat seine kona Halldóra ebenfalls – neben all den anderen eljur.
Die Konfrontation der Schwäger Der erste Zusammenstoß zwischen dem Häuptling und seinem Bischof fand an der Grenze statt. In Höfðabrekka, dem östlichsten Vorposten der Oddaverja-Einflusszone kurz vor der unwegsamen Sand-Lavawüste des Mýrdalssands112, hatte ein Sturm zwei Kirchen 109 Es wäre für Hróðný kaum zweckmäßig, den Not- und Hilferuf mit der Beleidigung der ,Ehefrau‘ zunichte zu machen. Dennoch akzeptieren die wichtigsten älteren Wörterbücher des Altnordischen lieber grobe Ungereimtheiten, als auf das Monogamieideal zu verzichten. Die Definition von Fritzner, s. v. elja: „Kvinde der gaar en Ægtehustru for nær ved at leve i Kjærlighedsforstaaelse med hendes Ægtemand eller være hans frille“, ist unsinnig, da, wie gezeigt, elja in allen Fällen nicht nur für „Frauen, die einer Ehefrau zu nahe treten, indem sie in einem Liebesverhältnis zu ihrem Ehemann stehen oder seine Frille sind“, gebraucht wird, sondern auch für die ‚Ehefrau‘ (die wohl kaum den Frillen „zu nahe treten“ kann). Cleasby/Vigfússon, Icelandic-English dictionary (1874), s. v. elja, halten an der ,kanonistischen‘ Binomie fest („a concubine, as opp[osed] to a wedded wife“), und müssen dafür den besten Textzeugen aufgeben: in der Njáls saga „it is wrongly used“. Das neue Ordbog over det norrøne prosasprog (1995–2004), s. v. elja, definiert: „rivalinde, kvinde der deles om mand med anden kvinde, medhustru“. Der Akzent auf der „Rivalin“ wird verstärkt durch die Annäherung an die aemula der Vulgata (u. a. I Sm 1,6). 110 Páls saga byskups, in: Byskupa sögur, Bd. 2 (2002), 295–332, wo in c. 1 seine Eltern genannt und charakterisiert werden. 111 Der Begriff laungetinn bildet nicht illegitimus nach, sondern heißt wörtlich „heimlich gezeugt“. 112 Der Ort liegt am Osteingang des schmalen Streifen Küstenlandes zwischen See und Mýrdals-Gletscher und hat damit, bezogen auf die isländische Topographie, gewisse Ähnlichkeit mit einem Gebirgspass oder einer Landenge. Zu den Grenzen des Oddaverja-ríki vgl. Helgi Þorláksson, Gamlar götur (1989), 129–138; Jón Viðar Sigurðsson, Chieftains (1999), 65f.
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verwüstet. Jón hatte eine neue bauen lassen und wollte sie sich von dem durchreisenden Bischof Þorlák nun weihen lassen. Die Situation wiederholt also dessen erste Konfrontation mit dem Bauern Sigurð. Gut möglich, dass Jón in Þorlák nach wie vor eine Art Klienten sah: einen Mann, dessen in Not geratene Eltern in Oddi Unterkunft gefunden hatten, der mit seinen Schwestern dort aufgewachsen, der mit der weltlichen und geistlichen Gelehrsamkeit in Berührung gekommen war und der sich als so vielversprechend erwiesen hatte, dass die Oddaverjar für seine Studien in Paris und später Lincoln aufgekommen waren. Mehr noch, sie hatten ihn als Nachfolger des sehr angesehenen Bischofs Klœng lancieren können und damit einen doppelten Coup gelandet: Nicht nur war ihr Zögling als Nachfolger des Bischofs durchsetzbar, der soeben die große neue hölzerne Domkirche von Skálholt errichtet hatte – in Anbetracht der dafür nötigen Ressourcen und Expertise eine Leistung, die anderen europäischen Kirchengroßbauten des zwölften Jahrhunderts mutatis mutandis nicht nachstand –, sondern es war überhaupt das erste Mal, dass nicht ein Mitglied der rivalisierenden Gruppe der Haukdœlir Bischof in Skálholt wurde. Islands erster Bischofssitz war 1056 eine reine Eigengründung des ersten, in Sachsen studierter und von Erzbischof Adalbert geweihten Bischofs Ísleif Gizurarson aus der Haukdœlir-Sippe gewesen, der für die Festigung der hamburgischen Kirchenhoheit in Island entscheidend gewesen war. Ihm waren vier Bischöfe aus demselben Haus gefolgt (in das das Bistum nach Þorlák und seinem Neffen Pál Jónsson auch zurückkehrte). Þorlák muss eine beeindruckende Figur gewesen sein, wenn die Oddaverjar auf ihn – und nicht einen ihrer eigenen Söhne –setzten. Dass er bereits zuvor gemeinsam mit Bischof Klœng im Machtbereich der Oddaverjar, in Þykkvibœr, Islands erstes Augustinerkloster gegründet und dessen Abt geworden war, half natürlich, ebenso seine beinahe unausweichliche Designation durch seinen Freund und Vorgänger im Bischofsamt. Beides zeigt aber nur, mit wie langer Hand seine Nachfolge vorbereitet worden war. Auch die Weihe durch den Erzbischof in Nidaros erlangte er anscheinend ohne Probleme. Wir wissen nicht, ob Jón darauf vorbereitet war, nicht dem gelungenen Oddi-Zögling Þorlák, dem Bruder seiner langjährigen Geliebten zu begegnen, sondern Thomas Becket. Wir wissen auch nicht, wie bewusst die Stilisierung des Bischofs war, dessen Aufenthalt in Lincoln etwa mit Thomas Beckets Aufstieg zum Kanzler zusammenfiel, dessen Erhebung zum Erzbischof von Canterbury er von Island aus beobachten konnte und dessen Martyrium er als Abt und Designatus erlebte. Die Ähnlichkeit in Herkunft und Lebenslauf mag Þorlák beeindruckt haben, und es besteht kein Grund zu der Annahme, dass das Agieren des neuen Bischofs nicht tatsächlich von den in Westeuropa aufgenommenen libertas ecclesiae-Ideen bestimmt war, die sich der hochengagierte Isländer mit vielleicht noch größerer Unbedingtheit zu eigen machte als zeitgleich sein Metropolit, Eystein in Nidaros. Dessen Rückendeckung, wenn nicht sogar Beauftragung dürfte allerdings die Selbstsicherheit in Þorláks Auftreten, die ihm die ersten Überraschungserfolge in puncto Kirchenhoheit eingetragen hatten, um einiges gestärkt haben. Hat Jón Loptsson tatsächlich nicht damit gerechnet, dass Þorlák auch ihm gegenüber – der sich gewiss als Patron nicht nur der Kirchen, sondern auch des Bischofs selber sah –
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denselben Kurs verfolgen würde? Die Kollision jedenfalls fand in aller Öffentlichkeit und unvermittelt statt: Am Morgen bereitete sich der Bischof zur Kirchweihe vor; Jón und die Männer, die in seinem Rat waren, gingen zum Bischof, und es wurde darüber gesprochen, bei wem der Kirchenpatronat liegen sollte. Der Herr Bischof fragte gemäß dem Recht, ob Jón die Botschaft des Erzbischofs über das Kircheneigentum gehört habe. Jón antwortete: „Hören kann ich die Botschaft des Erzbischofs, aber ich habe nicht vor, mich danach zu richten. Ich glaube auch nicht, dass seine Absichten besser oder verständiger sind als die meiner Vorfahren, Sæmunds des Gelehrten und seiner Söhne. Und ich will auch nicht unsere früheren Bischöfe hier im Land verurteilen, für die die Landessitte gut genug war, dass Laien über die Kirchen bestimmen, die ihre Vorfahren Gott gaben und sich und ihren Nachkommen die Verfügung vorbehielten.“113
Der Bischof erwiderte „dasselbe wie zuvor und noch einiges mehr“114: Kirchenrecht bricht Landessitte. Seine Vorgänger seien entschuldigt, weil ihnen von ihren Vorgesetzten nicht geboten worden sei, das Recht durchzusetzen; nun aber erwarte jeden der Kirchenbann, der trotz Aufforderung weiter den Zehnten beanspruche. Jón erwiderte: „Ihr könnt bannen, wen Ihr wollt, aber nie will ich freiwillig mein Eigen mir selber wegnehmen und in Eure Gewalt geben, meine Kirche oder mehr – die Dinge, über die ich die Verfügung habe.“115
Hier scheint eine groß inszenierte Kommunikation gründlich gescheitert zu sein. Verabredet war ein Kirchweihfest mit großer Gastung (veglig veizla) – man weiß, welches sozialsemantische Surplus in dieser Gesellschaft alle Worte und Handlungen gewinnen, wenn sie in der Festhalle stattfinden. Mehr noch, Jón war auf dem entlegenen Hof mit einem ungewöhnlich umfangreichen Gefolge eingetroffen (ok margir mikilsháttar menn, „mit vielen Männern von großer Art, großer Bedeutung“), um den Bischof und seine „Fahrtgenossen“ (f™runeytir) zu erwarten. Für ein Colloquium familiare, in dem man sich über Ablauf und Ergebnis der folgenden öffentlichen Zeremonie verständigen konnte116, 113 C. 22: Um morgininn bjósk byskup til kirkjuvígslu, en Jón ok þeir menn sem í ráði váru með honum gengu til byskups, ok var talat um hverr kirkjumáldagi skyldi vera. Herra byskup spurði svá sem fylgjandi réttendum hvárt Jón hefði heyrðan erkibyskups boðskap um kirknaeignir. Jón svaraði: „Heyra má ek erkibyskups boðskap, en ráðinn em ek í at halda hann at øngu, ok eigi hygg ek at hann vili betr né viti en mínir forellrar, Sæmundr inn fróði ok synir hans. Mun ek ok eigi fyrirdœma framferðir byskupa várra hér í landi er sœmðu þann landssið at leikmenn réðu þeim kirkjum er þeira forellrar gáfu Guði ok skilðu sér vald yfir ok sínu afkvæmi.“ 114 Ebd.: Byskup svaraði slíkum skynsemdum sem fyrr váru lesnar ok m™rgum ™ðrum… 115 Ebd.: Jón svaraði: „Þér megið kalla þann bannsettan sem þér vilið, en aldregi mun ek í yðvart vald já minni eign undan mér, minni kirkju eða meiri, þeiri sem ek hefi vald yfir.“ 116 Vgl. zur Annahme einer vorherigen Klärung des Ablaufs von ,Ritualen‘ im kleinen Kreis Gerd Althoff, Colloquium familiare – colloquium secretum – colloquium publicum. Beratung im politischen Leben des früheren Mittelalters, in: Ders., Spielregeln der Politik (1997), 157–184. Die These hat
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war es reichlich spät, erst am Morgen beim Bischof zu erscheinen, während dieser sich sozusagen schon das Messgewand anlegte. Und dass Jón dort nicht allein erschien (was angesichts der langen Vertrautheit ebenso wie der sonst in den Sagas für auch die wichtigsten Unterredungen üblichen Informalität zu erwarten wäre), sondern „die Männer, die mit ihm im Rate waren“, also seine ständigen Getreuen mitbrachte, dürfte ebenfalls nicht gerade deeskalierend gewirkt haben. Der Zusammenstoß geschah dann auch schnell und massiv. Ähnlich wie zuvor bei Sigurð Ormsson ignorierte der Bischof sofort den üblichen Lauf kontrollierter Eskalation und drohte gleich in der ersten Runde nicht nur mit dem Scheitern der vorgesehenen Kirchweihe, sondern gleich mit der Exkommunikation (bannsetning). Damit war die Unterredung in die Sackgasse geraten. In einer anderen Angelegenheit, nämlich der von Jón gewünschten Verringerung der Priester- und Diakonsstellen in der durch einen Lavaabgang teilweise verwüsteten Gegend, konnte man sich bei dieser Gelegenheit einigen. „Doch in der wichtigeren Sache hielt jeder an seinem Standpunkt fest, und der Tag schritt schon sehr fort.“ Genauso hatte sich Bischof Þorlák schon öfter verhalten und durch pure Unterlassung seine weltlichen Gegenspieler so unter Prestigedruck gesetzt, dass sie einlenkten. Diesmal lief es anders: „Diejenigen, die als Freunde beider auftraten, baten den Bischof, von seiner Position abzurücken, und alle Anwesenden traten ebenfalls für den alten Missbrauch ein.“117 In diesem Moment schien Jóns Aufgebot sich also auszuzahlen. Der Bischof sah sich isoliert und außerstande, dem Druck standzuhalten – einem Druck, der so einmütig erscheint, dass man sich fragen muss, ob nicht der gesamte Ablauf bisher durch Jón kontrolliert worden ist. Sollte der Häuptling die Begegnung mit dem Ziel orchestriert haben, der libertas-Kampagne seines Bischofs ein für alle Mal die Spitze zu brechen, bevor sie sein eigenes ríki erreichte, so muss man ihm eine exzellente Regieführung bescheinigen. Mit kleinem, aber beeindruckendem Gefolge erst im allerletzten Moment beim Bischof vorstellig zu werden, dann das Thema anschneiden, von dem er weiß, dass Þorlák gar nicht anders kann, als sem fylgjandi réttendum, dem (Kirchen-) Recht gemäß – und nicht etwa taktierend-hinhaltend – zu reagieren, und es dann auf die Konfrontation mit dem isländischen Thomas Becket ankommen zu lassen, wohl wissend, dass er selber in der Rolle als König Heinrich aufgrund der Isolation seines Gegners weder eine Niederlage noch ein Martyrium zu fürchten hatte – dieser Ablauf des Tags von Höfðabrekka hätte eigentlich den gewünschten Triumph bringen müssen. In der Sache ging Jóns Rechnung auf: „An diesem Tag weihte der Bischof die Kirche und sang die Messe, obgleich es keineswegs nach seinem Willen gegangen war.“118 Jóns m. E. durch die Kritik an dem Althoff’schen Ritualmodell als für Dynamik zu wenig offen nichts von ihrer Gültigkeit verloren. 117 C. 22: En um ina fyrri grein helt hvárr á sínu máli, ok leið mj™k á daginn. En þeir sem létusk vera beggja vinir báðu byskup leggja af sínu máli, ok ™ll alþýða dró þat sama sakir forns óvana. 118 Ebd.: Þenna dag vígði byskup kirkju ok s™ng messu, þótt þar yrði eigi hans vili framgengr.
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Sieg hatte weitreichende Konsequenzen, denn wie vorauszusehen war, mochte anschließend auch kein anderer Laie sein Kirchenpatronat an den Bischof abtreten, „und somit war diese Sache für den Rest von Bischof Þorláks Tagen erledigt“119, um endgültig erst ein Jahrhundert später wieder aufgenommen zu werden. Doch Þorlák hatte dem Sieger einen Partherpfeil nachgesandt, der ihn vielleicht schlimmer traf, als es ein Nachgeben in der Patronatsfrage getan hätte. Als Bischof Þorlák sah, dass er seinen Standpunkt nicht würde durchsetzen können, da spritzten (spruttu) ihm diese Worte aus dem Mund: „Es mag ja schon unerträglich sein, wenn man es nach Recht und Billigkeit betrachtet, dass du dich auf die Landessitte berufst und den Kirchenbesitz den Bischöfen wegnimmst und dir selber zulegst. Aber noch viel unerträglicher ist, dass es die Bischöfe nicht einmal schaffen, dir deine Hurenweiber wegzunehmen, die du dir gegen alle Landessitte hältst. Es kann sein, daß du mit der größeren Sache auch durchkommst, wenn es dir in der kleinen gelingt, obwohl du Böses willst!“120
Warum dieser plötzliche Themenwechsel, warum redet – oder vielmehr „spritzt“ – der Bischof plötzlich von der Polygynie? Dem an libelli de lite gewöhnten mediävistischen Leser mag die Verbindung von Simonie und Nikolaitismus unmittelbar einleuchten, obgleich hier von letzterem eigentlich gar nicht die Rede ist (Jón Loptsson war kein Priester, und die Priesterehen in Island setzten sich bis weit ins 13. Jahrhundert hinein fort, ohne dass es Anzeichen für eine Kampagne dagegen gegeben hätte; der abstinente Þorlák war in dieser Hinsicht die einzige Ausnahme unter den Skálholter Bischöfen) Allerdings fand Þorlák die gedanklich-rhetorische Verbindung von Kirchenfreiheit und Hurerei bereits fertig vorformuliert in jener „Botschaft des Erzbischofs“, einem Sendschreiben des Erzbischofs Eystein von 1173 (also vor Þorláks Episkopat) an die beiden isländischen Bistümer, von der Jón mit großer Geste verkündete, er höre sie wohl, wolle aber nicht hinhören. Dieser Hirtenbrief geißelte unter reichlicher Verwendung von Höllenfeuer-Bildern die auf der Insel verbreiteten Sünden: Neben Mord und Totschlag „ist mir zu Ohren gekommen, dass hier manche Männer sitzen, die... ihre Frauen verlassen haben und statt ihrer Hurenweiber genommen haben. Manche haben gleichzeitig zwei im selben Haus bei sich und leben ein so loses Leben, dass alle Christenmenschen der Sünde verfallen.“121
119 Ebd.: ...ok því fell niðr sú kæra um hans daga. 120 Ebd.: Ok er Þorlákr byskup sá þat at hann myndi eigi at sinni fram koma sínu máli þá spruttu þessi orð af munni honum: „Þó at óþolanligt sé, ef fyrir rétta dómendr kemr, at þú dragir kirkjunnar forráð undir þik eptir landssið ok undan byskupum, þá er miklu óþolanligra þat er byskupar fá eigi frá þér tekit hórkonur þínar, þær sem þú heldr móti ™llum landssið. Kann vera at þú ráðir inu meira ef þú ráðir inu minna, þó at þú vilir verr.“ 121 DI I, Nr. 38 (um 1173): Mier er þat til eyrna komit. at hier sitia sumer þeir menn er... hafa konur sinar latit. ok horkonur under þær tekit. sumer hafa hvarartveggiu. jnan hus [med] sier og lifa so ogæzsku life. er alla kristna menn dregur til synda.
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Sieben Jahre später – ungefähr zu der Zeit, als sich Bischof Þorláks Konfrontation mit Jón Loptsson zutrug – richtete der Erzbischof ein ähnliches Schreiben in noch ein wenig schärferem Ton nach Island. Was es besonders aggressiv machte, war der Umstand, dass es nicht mehr wie der Brief von 1173 an die beiden Bischöfe und „alle andere hervorragende Männer und das ganze Volk“122 gerichtet war, sondern nur an Bischof Þorlák und fünf namentlich aufgeführte Häuptlinge, unter ihnen Jón Loptsson und Orm, dessen Sohn mit Ragnheið.123 Die Zielscheiben der erzbischöflichen Angriffe sind, im Brief mehrmals ausdrücklich genannt, Jón Loptsson und sein Gegenstück im benachbarten Árnes-Thingbezirk, Gizur Hallsson.124 Der Brief ist in sieben Abschriften allein in Island erhalten125, was von einer recht großen und nachhaltigen Verbreitung zeugt. Seine Themen sind zum einen Totschlag und Kirchenfrieden, zum anderen Unzucht und Hurerei – und, was die Ermahnungen gegen Frauenraub angeht, auch der Zusammenfall beider Themen. Die Attacke gegen Jón Loptsson und den anderen Häuptling fällt ausgesprochen scharf aus: Es ist euch bekannt, Jón und Gizur, dass Wir mit euch eine unumgängliche Sache abzumachen haben, sowohl um euret- als um unseretwillen. (...) Von allen Dingen scheint ihr Uns am mangelhaftesten in Bezug auf unreines Leben der Männer und ihren Verkehr mit Frauen (kvennafar). Ich muss euch wohl kaum auslegen, welche Gültigkeit die Gebote haben, die durch Gottes Mund selbst verfügt worden sind. Und euch vor allen anderen trifft die Schande, die edelsten Männern, die ihr lebt wie das Vieh, die ihr nicht die Ehe anerkennt, die heilige Verbindung, die niemand zerreißen darf. (...) Wenn aber die Häuptlinge eine solche Lebensführung auf dem Gewissen haben, dann kommt es ihnen nicht zu, Worte der Zurechtweisung ans Volk zu richten, und so kommt es dahin, dass aller Sitte am Orte niedergeht, der einen mehr, der anderen weniger.126
Das erzbischöfliche Nidaros war um diese Zeit längst ein Zentrum intensiver liturgischer, kanonistischer und hagiographischer Textproduktion und auch von Übersetzung 122 Ebd.: Ey[steinn] erkibiskup. sender kvediu. biskupum aa Jslande og so ollum odrum agætis monnum. og allri alþydu. 123 DI I, Nr. 54 (um 1180). Jón und Orm werden an erster und dritter Stelle der weltlichen Adressaten genannt. Die übrigen sind ein Sturlung und zwei Haukdœlir, also ebenfalls Spitzenaristokraten. 124 Vgl. Jón Viðar Sigurðsson, Chieftains (1999), 177. Der Bischofssitz Skálholt liegt im Árnes-Thing. 125 Ásdís Egilsdóttir, Formáli, in: Byskupa sögur, Bd. 2 (2002), xxxiv. 126 DI I, Nr. 54, hier 262f.: Kvnnigt er yckur. Jon. og gizsurr. at naudsynia mal rædum vier vit ydur. bæde ydvart og vortt. (...) En of engan hlut synest oss meira aa fatt. helldur en vm ohreinlife manna hier. og kvenna far. er eigi þarf fyri yckur at skyra vm. hversv stadfest bodord. er. af gvdz sialfs mynne bodit. En þier hafit þat med suivirding firrzt ener agætustu menn. lifit bufiar life. rekit eigi hiuskap. ne þat helga samband er eigi ma slitna. (...) En med þvi at hofdinngiar hafa slika ohæfv j sinne samviskv. og af þvi treystazt þeir eigi hirtingar ord at hafa fyri alþydv. þa er þar komit at allra rad hallast j einn stad. ens meira. og hins minna.
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und Adaptation der lateineuropäischen Kirchenkultur an die Bedingungen einer Kirchenprovinz, die sich vom Oslofjord bis Grönland erstreckte.127 Hier stand nun der Schreiber, der damit befasst war, die Elemente der lateinischen Pastoralvorlage in die Volkssprache zu übertragen, vor dem Problem, ein Wort für matrimonium/coniugium zu finden. Seine Wahl: hjúskap. Es hat mit seinen etymologischen Verwandten (hjónaband u. a.) die größte Verbreitung gefunden; es ist allerdings aus der Sicht der Reformer insofern problematisch, als es von hjú/hjón „Haus, Hausvolk, Gesinde“ (+ Kollektivsuffix -skap „-schaft“) abgeleitet ist und den im Wortsinne ökonomischen Aspekt der Paarbeziehung, die gemeinsame Wirtschaft, betont. Dieser war aber gerade nicht, worauf der Erzbischof abzielte, und so ist die Erläuterung nötig, es handle sich um eine heilige und unauflösliche Vereinigung – selten wird im zwölften Jahrhundert so sehr bis in den Wortlaut hinein deutlich, wie revolutionär die aktuelle kirchliche Ehelehre war. Und es ist schwer, ein Konzept in eine Gesellschaft zu tragen, die es nicht einmal verbalisieren kann: hjúskap kann ja gerade nicht ‚nur‘ als die Sache zweier Menschen, als ein Paar gedacht werden. An der neutestamentlich begründeten, aber auch Isländern mühelos einleuchtenden Drastik der viehischen Parallele ändert dies jedoch nichts: Jón und Gizur mussten sich, nahmen sie den Brief zur Kenntnis – und der Oddaverja þáttr lässt Jón dies ja ausdrücklich bestätigen –, als tödlich beleidigt betrachten. Der Brief des Erzbischofs berührt den Bereich der sexuellen Defamation (ragmæli), deren Konsequenzen tödlich sein konnten. In der um die Mitte des 13. Jahrhunderts redigierten Örvar-Odds saga kulminiert ein extrem aggressiver Agon mit Wettrinken und wechselseitigem Dichten von Schmähstrophen in der Beleidigung: „Du aber lagst zu Hause und schwanktest, mit nichts als Gier im Kopf, unentschieden zwischen dem Kalb und der Sklavin!“128 (Die Schmähung zielt weniger auf Bestialismus, sondern darauf, dass Kalb und Magd dem Mann so sehr den Kopf blockieren, dass er nicht mehr Herr seiner Entschlüsse ist.) Man mag einwenden, dass der Brief des Erzbischofs, dessen Rhetorik ja in einer Hinsicht recht konventionell ist, eine solche Intention nicht ausweist. Andererseits ist durchaus damit zu rechnen, dass die Adressaten aus ihrem eigenen kulturellen System heraus die (zweifellos herausfordernde) Intention des Schreibens in einer (vielleicht nicht beabsichtigten) extremen Weise auffassten. Aber wie auch immer: Indem sich Þorlák in – spontanem oder studiertem – Überschwang in aller Öffentlichkeit auf dem Kirchweihfest die schärfsten Angriffe des Erzbischofs gegen Jón Loptsson zu eigen machte und sie teilweise wortwörtlich wiederholte129, steigerte er den ohnehin schon scharfen Konflikt ins Unerhörte. 127 Vgl. Mortensen/Mundal, Erkebispesetet i Nidaros (2003). 128 Örvar-Odds saga c. 27: en þú hallaðist / heima á milli / kynmálasamr / kálfs ok þýjar. 129 Seine Rede endet ebenso wie der Brief von 1180 mit der Opposition meiri/minni „mehr/minder“; das in der Sagasprache praktisch unbekannte Wort hórkona „Hurenweib“ (~meretrix?) findet sich im Brief von 1173.
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Was auf dem Spiel steht I : Bischof Þorlák Bevor der weitere Gang des Konflikts nachgezeichnet wird, ist ein Wort zur Position und Motivation der Gegner angebracht. Warum forderte Þorlák Jón in dieser Weise zusätzlich heraus? Und warum musste Jón diese Herausforderung so schwer treffen? Es kann nicht darum gehen, auf psychologisierendem Wege Hypothesen über die individuellen Beweggründe der beiden beteiligten Menschen aufzustellen (etwa Þorláks ,unbedingte Überzeugung‘ oder Jóns ,besondere Zuneigung‘ zu Ragnheið); zu erklären sind die sozialen Rollen, in denen die beiden agieren, und die Zwänge, denen sie unterliegen. Þorláks Position scheint einfach. Er ist Bischof der römischen Kirche, dem Erzbischof von Nidaros unterstellt, und das Eintreten gegen das Eigenkirchenwesen und insbesondere die Appropriation des Zehnten durch Laien fällt gewissermaßen qua Amt in seine Zuständigkeit. Vor allem fährt der Erzbischof kirchenpolitisch in Norwegen ebenfalls einen sehr scharfen Kurs: Sein Konflikt mit dem neuen König Sverrir ist so scharf, dass er kurz nach Þorláks Zusammenprall mit Jón Loptsson ins Exil gezwungen wird, woraufhin, so der Oddaverja þáttr, „auch hierzulande [in Island] alle meinten nachmachen zu können, was die Leute in Norwegen zuvor getan hatten.“130 Neu im Amt, mochte Þorlák sich an die Vorgaben aus Nidaros mit besonderem Eifer halten wollen, doch nicht einmal das war nötig, um die Zumutung, die man anlässlich neuer Kirchweihen an ihn stellte, von seinem Amtsverständnis her als unerträglich erscheinen zu lassen. Dies alles mag zutreffen; es ist aber zu institutionell gedacht. Þorlák Þórhallsson entstammte schließlich demselben Milieu wie sein Kontrahent – in diesem Fall sogar buchstäblich, waren sie doch, ungefähr gleichaltrig (Jón war sechs Jahre älter), im selben Hause aufgewachsen. Für Þorlák, den Sohn verarmter Eltern „aus guter Verwandtschaft“ (man kennt keine Details), die ihre wirtschaftliche Eigenständigkeit und damit Selbstbestimmung (sjálfræði) nicht hatten halten können, bedeutete dies, an einem Hof sozialisiert zu werden, an dem das kompetitive Ethos in höchstem Maße unablässig – „mehrmals am Tage“ – gelebt wurde, selber aber als abhängiger Klient der Oddaverjar niemals zu den ,Könnenden/Vermögenden‘ gehören zu können, die an diesem prinzipiell paritären Agon beteiligt waren. Um es im Hinblick auf Carol Clovers Geschlechterbinarität zu überspitzen: Þorlák musste sich als nicht ganz ,männlich‘ erleben. Zu den eindringlichsten Erlebnissen dieser Art gehörte vielleicht seine Rückkehr aus England und Frankreich nach Oddi, wo er beide Schwestern in (aus einer kirchenrechtlich geprägten Sicht) tadelnswerten Frillenverhältnissen fand. Bis hier ist seine Vita ganz explizit; was sie nicht sagt, ist, dass Þorlák auch als isländischer Mann Grund zur Empörung hatte: er war vor vollendete Tatsachen gestellt worden, keiner hatte ihn gefragt, und er konnte nichts tun, war doch Ragnheiðs Mann der Häuptling in Person. „Sie ist zur frilla genommen worden, und das ohne Zustimmung ihrer Verwandten!“ sagt in der Egils saga ein Kontrahent in einem Rechtsstreit um ein beträchtliches Erbe, um mit diesem 130 ...þóttusk allir hér á landi mega þar eptir gera sem menn gerðu fyrir í Nóregi.
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Argument die Unehre der Verbindung und damit des Kindes, das den Erbanspruch erhebt, zu beweisen.131 Þorlák konnte seine Pflicht als Bruder nicht wahrnehmen; es war fast ein Frauenraub, und wenn in Oddi nur ein Bruchteil der Erzählungen bekannt war, die wenig später die geschriebene Sagaliteratur ausmachen sollte, so müssen ihm Dutzende von erbärmlichen Figuren in den Sinn gekommen sein, die sich ihre Frauen, Schwestern und Töchter von irgendwelchen Abenteurern abgaunern oder Riesen abpressen ließen. Etwa um dieselbe Zeit gelang ihm dann der Schritt hinaus aus der Hilflosigkeit seines Klientenverhältnisses zu den Oddaverjar. Als neuausgebildeter clericus, wie es viele in der Diözese nicht gab, gelangte er unvermeidlich in Kontakt mit dem Bischof Klœng Þorsteinsson (1152–1175). Unter Kirchenmännern konnte eine Nähe entstehen, die zwischen dem Ziehkind der Oddaverjar und dem Haukdœling sonst kaum möglich gewesen wäre. Als erster Abt des neuen Augustinerklosters von Þykkvibœr fand sich Þorlák 1168, obgleich nach wie vor im Machtbereich der Oddaverjar, in einer ganz neuen Position der Eigenständigkeit. Zugleich blieb sein Verhältnis zu Oddi so gut, dass er dort den Rückhalt fand, der nötig war, um Klœngs Nachfolger zu werden. Als Bischof von Skálholt rangierte er nun hoch genug, um auf den großen Börsen, auf denen Rang und Ansehen verhandelt wurden – vor allem auf den Thingversammlungen – Aufmerksamkeit finden zu können, wenn er sie sich zu verschaffen wusste. Als Bischof von Skálholt trat er aber in eine noch andere Konkurrenz, die er um jeden Preis gewinnen musste: die mit seinem Vorgänger. Ebenso wie die Söhne der Sagas stets an ihren Vätern und Vorfahren gemessen werden und einem umso stärkeren Erfolgsdruck unterliegen, je bedeutender jene gewesen waren – diese generationale Eskalation ist im Preislied Nóregs Konungatal deutlich genug zu sehen, und es nimmt vielleicht nicht wunder, wenn Sæmunds des Gelehrten Ur-Urenkel Hálfdan ,ausstieg‘ und zur Indignation der Umwelt das Interesse an den Angelegenheiten anderer einstellte. Entsprechendes musste für Kirchenführer gelten, und das umso mehr, als mit Þorlák erstmals kein generationaler Nachfahre des Gründerbischofs Isleif in Skálholt amtierte. Þorláks Position war in mancher Hinsicht der eines durch Geschlechtsleite in die Familie Aufgenommenen nicht unähnlich. Der Erfolgsdruck wurde, da er von keinem Vertrauensvorschuss zehren konnte, nur noch stärker. Und am schwersten wog, dass sein Vorgänger tatsächlich eine ,sagenhafte‘ Leistung vollbracht hatte: den 1153 begonnenen Neubau der Domkirche. Ihre Ausmaße sind archäologisch gesichert, ihre Gestalt per Analogie zu erschließen132; demnach ist Klœngs Kathedralbau der vielleicht größte hölzerne Kirchenbau überhaupt gewesen. Mit einer Länge von 50 Metern war er um ein Vielfaches größer als alle bekannten Stabkirchen, übertraf eine Reihe dänischer Dome (Odense, Århus) und erreichte die Dimensionen der sehr ambitionierten Domkirchen von Schleswig und Roskilde. In ganz 131 Egils saga c. 32: ...en síðan tekin frillutaki, ok ekki at frændaráði... 132 Kristján Eldjárn u. a., Skálholt (1988); Guðmundur Óli Ólafsson, Skálholt (1989); Hörður Ágústsson, Skálholt. Kirkjur (1990). Die Grabungskampagne 2002–2007 betrifft die Fläche des früher südlich der Domkirche gelegenen Kirchhofs mit dem Bischofssitz, nicht den Kirchenbau selber.
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Nordeuropa wurde er vermutlich nur von den beiden Erzbischofskirchen von Bremen und Lund übertroffen, die jeweils etwa 85 Meter Länge aufwiesen.133 Und der entscheidende Punkt war, dass Skálholt die Maße von Nidaros erreichte, der Erzbischofskathedrale der neuen Kirchenprovinz, die in dem Jahr etabliert wurde, als Klœng seinen Neubau einleitete. Was das bedeutete, muss allen klar gewesen sein – nimmt man das Zeugnis der Laxdœla saga ernst, wonach ein isländischer Häuptling, der vom Norwegerkönig die Ausfuhrerlaubnis für große Mengen Bauholz erhalten hatte, eines Morgens vor Arbeitsbeginn hoch oben im Gebälk der gerade in Nidaros im Bau befindlichen großen neuen Kirche beobachtet wurde, wie er Längs- und Querbalken vermaß. Der König stellte ihn zur Rede, und er gab zu, seinen geplanten Kirchenbau auf Island in gleichen Maßstab anlegen zu wollen. Der König legte ihm dringend nahe, je eine Elle abzuziehen, worauf der Isländer erwiderte, der König möge gern sein Holz zurücknehmen, er sei Manns genug, sich anderswo neues zu besorgen, aber in seine Baupläne lasse er sich nicht hineinreden.134 Was die Isländer den Häuptling und den König in der Saga tun ließen, tat Bischof Klœng gegenüber Erzbischof Eystein – der das nicht zuletzt deshalb hinnehmen konnte, weil sein eigener Domumbau, der in Maß und Form (vermutlich sogar im Personal der Dombauhütte) seinerseits Lincoln und Canterbury herausforderte, noch in einer ganz anderen Klasse angesiedelt war.135 Wie sollte Þorlák solche kappsemd – Wetteifer, wie ihn die Magnaten an den Tag zu legen sich schuldig waren – beweisen, wie Klœng überbieten? Gut möglich, dass sich ihm die Antwort folgendermaßen darstellte: Klœng hatte eine Kirche aus (teurem importiertem) Holz gebaut, wie es sie prächtiger nicht geben konnte – er, Þorlák, würde die Kirche Gottes aus lebendigen Steinen (II Petr 2,5) zu ihrer richtigen Größe restaurieren. In Norwegen war Erzbischof Eystein mit freundlicher Kooperation des Königs Magnús und des wahren Herrschers, des Jarls Erling, bereits ein gutes Stück bei der Durchsetzung der libertas ecclesiae vorangekommen (dass dies Episode bleiben und ein Aufständler namens Sverrir kurz darauf dem Erzbischof vernichtende Schläge zufügen würde, war um 1175 noch nicht abzusehen); hier bot sich eine Gelegenheit, für die gesamte Kirche zu tun, was Klœng für die eine konkrete getan hatte: für Island neue Maßstäbe zu setzen 133 Johannsen/Johannsen, Danmarks kirker. Odense amt (1995 – 96); dies., Sct. Knuds kirke (2001); Michelsen/Fine Licht, Danmarks kirker. Århus amt (1968 –72); Moltke/Møller, Danmarks kirker. Københavns amt (1951); Ellger, Kunstdenkmäler der Stadt Schleswig, Bd. 2 (1966); Nawrocki, Der Schleswiger Dom in romanischer Zeit (1987); Dietsch, St. Petri zu Bremen (1978); Cinthio, Lunds domkyrka (1957). 134 Laxdœla saga c. 74. Die Geschichte nimmt zwar ein schlimmes Ende, weil das Schiff mit Besatzung und Ladung vor Island sinkt, doch der Zorn des Königs bleibt ohnmächtig. Und wie auch immer die Episode im Sagakontext zu interpretieren sei, belegt sie, dass das agonistische Potential von Kirchenmaßen im hochmittelalterlichen Island präsent war. 135 Vgl. Fischer, Domkirken i Trondheim (1965); Ekroll (Hrsg.), Nidaros domkirke og Erkebispegården (1995).
Was auf dem Spiel steht II: Jón Loptsson
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und es Norwegen gleich zu tun. Über allem lag zweifellos das übermächtige Vorbild des Heiligen aus Canterbury, der bewiesen hatte, dass ein aus abhängiger Stellung gekommener Kirchenmann mit seinem weltlichen Herrn nicht nur von gleich zu gleich, sondern mit Gott im Rücken von oben nach unten sprechen konnte. Þorláks gesamte Lebensgeschichte ist in solchem Maße eine Reprise von Thomas Becket, dass man versucht sein könnte, die isländische Vita als derivativ abzutun. Ich glaube, es ist etwas viel Interessanteres der Fall: Nicht die Vita, sondern das Leben Þorláks ist ,derivativ‘, eng an das Vorbild aus dem Land angelehnt, dem Þorlák seine Bildung und Eystein in Nidaros seine architektonischen Ideen verdankte. Englands Bedeutung als erster, möglicherweise einziger außernordischer kultureller Rekurspunkt der Skandinavier (abgesehen von dem nur aus der Ferne bestaunten Byzanz) war auch zur angevinischen Zeit noch ungebrochen. Und so konnte Þorlák feststellen, dass die getreue Ausführung der obrigkeitlichen Kirchenpolitik und genaue Befolgung des englischen Vorbilds ihm zugleich eine Chance auf die Neuinszenierung des Agons eröffnete, den zehn Jahre zuvor die ganze Christenheit atemlos verfolgt hatte.
Was auf dem Spiel steht II : Jón Loptsson Für Jón stellte sich die Sache weniger kompliziert dar. Seine Rolle stand von Geburt an fest: Er musste schlicht immer und überall der Beste sein. Dies immer wieder unter Beweis zu stellen, dafür gab es, wie wir gesehen haben, zahlreiche Möglichkeiten: beim Rudern und Schwimmen, am Spielbrett, beim Dichten und beim Verstehen von Gedichtetem, im Kampf selbstverständlich, sodann im Gütereinnehmen (hier war die bischöfliche Forderung hinsichtlich des Kirchenzehnten in mehrfacher Weise sehr ärgerlich) und beim Güterverteilen („Goldverschwender“ nennt ihn die Nóregs konungatal – sowie einen ,richtigen‘ König), beim Bewirten und Versorgen („die Oddaverjar und die Haukdœlir sind seit langem dafür bekannt, dass sie stets die besten Gastmähler veranstalten“136), bei der Produktion von Erinnerung an denkwürdige Worte und Taten (hier gilt Oddi ja nach achthundert Jahren noch als unübertroffen) – und unter vielem anderen auch bei den Frauen. Dabei ist es keineswegs so, dass die pure Menge der Frauen, die Jón sich „beilegte“ (um das Wort seines Ziehkinds Snorri über seinen Vorfahren Harald Schönhaar zu gebrauchen), bereits die Wettbewerbsleistung ausmachte, wie Freunde soziobiologischer Interpretamente und anthropologischer Konstanten (‚Paarungserfolg‘) anzunehmen geneigt sein könnten. In einer Gesellschaft, die selbst die Enthaltsamkeit als höchst anerkennenswerte Leistung im Kampf der Häuptlinge wertete – Kjartan Óláfsson beeindruckte ganz Island, weil er als erster rigoros fastete, „so dass es nun noch etwas gab, worin Kjartan alle
136 StS I, 483: Hefir þat lengi kynríkt verit með Haukdœlum og Oddaverjum, at þeir hafa inar beztu veizlur haldit.
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anderen Männer übertraf“137 –, hätte Jón auch als kompromissloser Monogamist punkten können. Sexuelle Potenz und die Bereitschaft, sie zu paradieren, war in sich durchaus kein Positivum, eher im Gegenteil, brachte sie doch die Gefahr der Unbeherrschbarkeit mit sich. Figuren, die sich ohne nachzudenken ihrer Lust ergeben, kommen im besten Fall unkommentiert davon, wenn das Objekt ihrer Begierde folgenlos unterworfen werden kann – wie König Sigurð und die Mühlenmagd oder Höskuld, der sich auf der Heimreise „eine Sklavin fürs Bett“ kauft. Schlimmstenfalls ergibt sich aus der ungezügelten Sexualität dasselbe wie aus jeder Art ungezügelter Aktion, nämlich eine Kette von Konsequenzen, die ihren Urheber, selbst wenn er am Leben bleibt, im Hinblick auf das allgemeine Ansehen, die ,Ehre‘, erheblich gerupft zurücklassen – wie Björgólf in der Egils saga, dem auf einem Gastmahl eine reizende Bauerntochter als Partnerin beim Paartrinken (drekka tvímenning) zugeteilt wird, was zuerst ihn und dann – weil er seine Lusterfüllung mit unüblichem Druck durchsetzt – die ganze Sagawelt durcheinanderbringt.138 Da sich Jón allerdings einmal entschieden hatte, als „sehr der Frauenliebe zugetan“ (mj™k fenginn fyrir kvenna ást) zu gelten, musste er das auch bis zur Vollendung durchhalten – wie König Sven Estridsen, der „Dänemark viele Jahre lang kraftvoll (strenue) beherrschte und Kinder mit vielen Frauen hatte“139 oder wie sein, Jóns, Verwandter Magnús Erlingsson, der regierende Norwegerkönig: „heiter und zu Scherzen aufgelegt, ein sehr freundlicher Mann und ein großer Frauenmann (kvinnamaðr mikill)“.140 Oder wie die schwedischen Magnaten, die Adam von Bremen durchaus mit Blick für die sozialen Implikationen beobachtet: „Wenn es sich aber um Frauen handelt, sind sie maßlos. Jeder besitzt, seiner Vermögenslage entsprechend, gleichzeitig zwei, drei oder noch mehr Frauen, Reiche und Fürsten haben zahllose.“141 In der Tat ist die schiere Demonstration ökonomischer (und nicht sexueller) Potenz ein wichtiger Teil der habitualen Funktion von Polygynie: Wer kann es sich leisten, zusätzliche Münder zu stopfen allein, um in großem Stil der Frauenliebe genießen zu können? Im Falle Islands, einer extrem prekären Subsistenzwirtschaft mit einem konstant defizitären Gesamtaußenhandelsvolumen und einer allmählich immer bedrohlicheren Ressourcenverknappung auch aufgrund ökologischer Schäden durch Überbewirtschaftung, musste dies noch mehr ins Gewicht fallen als bei Adams Schweden. Besondere Grandeur bewies dann ein Sagamann wie Höskuld, der sich auf der Heimreise von großer Fahrt 137 138 139 140 141
Laxdœla saga c. 45. Vgl. Bredsdorff, Kaos og kærlighed (²1995). Chronicon Roskildense, in: SM, Bd. 1, 22; vgl. oben, Kap. 1. MsE c. 37: Magnús konungr var léttlátr ok leikinn, gleðimaðr mikill ok kvinnamaðr mikill. Adam von Bremen IV, 21: In sola mulierum copula modum nesciunt; quisque secundum facultatem suarum virium duas aut tres et amplius simul habet; divites et principes absque numero. Den Bezug auf durch die gelehrte Tradition etablierte Ethnostereotypen stellt Adam selber her, indem er in Schol. 132 ergänzt, an demselben Laster litten nicht nur die Slawen – die anderen Sorgenkinder der hamburgischen Kirche –, sondern nach Lucan und Sallust auch die Parther und Mauren. Mulieres... absque numero ist biblisch (Ct 6,7).
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noch schnell eine Sklavin kaufte, die bei der Ankunft in Island bereits geschwängert war, zu Hause aber auf weiteren Verkehr mit ihr verzichtete – und ihr ein eigenes Haus zur Wirtschaft überließ! Seine facultates mussten in der Tat beeindrucken. In der Praxis dürfte es weniger potent zugegangen sein. Doch auch die zahlreichen, beiläufig erwähnten frillur der isländischen Magnaten der Sturlungenzeit lebten zum Teil ,uxorilokal‘ (oder besser: mulierilokal) auf den diversen abhängigen Höfen, um dort gegebenenfalls im Laufe einer Gastung zeitweise ,ihrem‘ Mann zu begegnen.142 Andere vergrößerten das Gefolge der Häuptlinge und lebten, den wenigen überlieferten Mitteilungen aus dem Alltag zufolge, mitten unter den Waffenträgern, dem einen oder anderen Skalden und der Schar der Verwandten, zu denen sie – wie Valgerð Jónsdóttir, eine der Frauen von Jón Loptssons Sohn Sæmund und zugleich seine Kusine zweiten Grades – zuweilen selber gehörten. Die gelebte Polygynie scheint alltäglich gewesen zu sein, wie eine beiläufige Bemerkung in der Sturlunga saga ahnen lässt: „Þorvald war zu Hause und sieben seiner Männer mit ihm. Er lag im Bettverschlag mit zweien seiner Frillen, Halldóra und Lofnheið, als plötzlich...“143 Auf einen weiteren Punkt weist Auður Magnúsdóttir in ihrer Untersuchung über die isländischen frillur hin: Man muss sie nehmen und behalten können.144 Zwar spielt der förmliche raptus im inländischen Regelfall keine Rolle beim Erwerb von Nebenfrauen, der gewöhnlich konsensual geregelt wird. Andererseits war Þorlák, auf dessen (zähneknirschend nachträglich durch Assens gewährte) Billigung es beim Zustandekommen der Beziehung seiner Schwester mit Jón Loptsson wahrlich nicht groß ankam, sicher kein Einzelfall. Hier eine weitere beiläufig erzählte Episode aus der zeitgenössischen Aktualität: Gizur [Þorvaldsson, um 1250 vom Norwegerkönig begünstigt der mächtigste Häuptling auf Island] ritt mit einigen seiner Leute nach Westen über das Ödland nach Langadal in Geitaskarð zu Gunnar Klœngsson und nahm sich dessen Tochter Ingibjörg als Frille und liebte sie bald sehr. Sie war eine hervorragende Frau, und in vielen Dingen war es gut, sie zur Seite zu haben. Sie reiste mit ihm heim nach Ás.145
Es ist gar nicht ausgeschlossen, dass das Ereignis für Ingibjörg, deren Verstand und Tatkraft ihr das Adjektiv skörulig („herausragend“ im Vergleich mit den anderen) einträgt, 142 Vgl. die Übersicht in Ebel, Konkubinat (1993), 83–107, wo die bekannten Frillen und ihre Männer auch nach ihren Wohnsitzen ausgewiesen sind. 143 StS I, 295: Þorvaldr var heima ok sjau karlar. Hann lá í lokhvílu ok tvær frillur hans, Halldóra... ok Lofnheiðr... Die Szene wird nur geschildert, weil in diesem Moment Feinde ins Haus eindringen und Þorvald in einem Frauenumhang, den er sich sofort greift, entkommen kann – ein erfolgreicher, wenn auch wenig eleganter Abgang. 144 Frillor och fruar (2001), 90ff. 145 StS I, 500f.: ...reið Gizurr vestr yfir heiði með n™kkura menn til Langadals í Geitarskarð til Gunnars Klængssonar ok tók til sín Ingibjörgu Gunnarsdóttur til frillu ok unni henni brátt mikit. Hon var sk™rulig kona ok góð viðfangs fyrir marga hluta sakir. Fór hon heim í Ás með honum.
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eine echte Chance bedeutete, denn einige – nicht alle – Frillen der Gegenwartssagas wie auch der Isländersagas stehen in allen Dingen ihren „Mann“, das heißt, sie gehören zu der kleinen Schar Frauen, die unter den Männern ihresgleichen finden. Und auch Gunnar, der Vater, mochte die Vorteile dieser Beziehung durchaus zu schätzen wissen. Der Punkt ist, dass beide keine große Wahl hatten. Für Gizur Þorvaldsson war die Neuerwerbung sowohl ein Gewinn als auch ein Risiko. An ihm und all den anderen Magnaten, die schon einmal oder mehrmals in ähnlicher Weise Frauen erworben hatten, war es nicht nur, für einen glatten, konfliktfreien Ablauf zu sorgen, sondern die Frauen dann auch zu verteidigen. Die ,mulierilokale‘ Verteilung der Frillen auf verschiedenen Wohnsitzen konnte eine noch größere Schwierigkeit (und Herausforderung) darstellen. Einige Fälle, die Jón Viðar Siugurðsson in seiner Studie über Frauenraub auf Island im 12. und 13. Jahrhundert anführt146, mögen das verdeutlichen. Um 1160 – Jón Loptsson war etwas über dreißig Jahre alt, und Þorlák studierte im Ausland – hielten sich der schon etwas ältere Priester Þorgrim und seine „schöne“ Frau Álof auf dem Häuptlingshof Staðarhol auf. Einer der Gefolgsleute (heimamaðr „Haushalts-Mann“) des dortigen Häuptlings war von der Schönheit der Priesterfrau so entzückt, dass er sie ihrem Mann fortnahm und erklärte, es könnte ja nicht so bleiben, dass ein alter Mann eine so schöne Frau besudelte.147 Damit nicht genug, raubte der Gefolgsmann dem Priester auch noch sein Pferd – und dieses war „das beste aller Pferde“ (allra hesta beztr), worauf der Priester genug hatte und sich um Hilfe an Hvamm-Sturla wandte, den Gründervater der Macht der Sturlungenfamilie. Die Reaktion des Magnaten ist interessant: Er übernahm den Fall und erklärte, er sähe hier nämlich keine Großtat vorliegen.148 Nicht der Doppelraub selber war also tadelnswert, sondern der wenig ruhmreichen Umstand, dass ein alternder Kirchenmann das Opfer gewesen war. Noch interessanter ist, dass Sturla nicht etwa den Täter, sondern den Häuptling tadelt, zu dessen Haushalt der Täter gehörte.149 Außerdem schickte er umgehend einen seiner eigenen Leute, um den Frauen- und Pferderäuber zu erschlagen. Der Überfall missglückte allerdings, und anscheinend war es den Großen auf beiden Seiten ganz recht, dass ihnen auf diese Weise die unvermeidliche Eskalation erspart blieb. Kurze Zeit später erschien Álof, die Priestergattin, auf Sturlas Hof in Hvamm, und ihr Mann nahm sie wieder zu sich. Offensichtlich hatte der Hausherr des Frauenräubers, auf Deeskalation bedacht, entsprechenden Druck ausgeübt. Blieb die Sache mit dem Pferd, denn Rechnungen mussten trotz allem aufgehen, und da sich in der Sache nichts tat, „erinnerte“ Sturla seinen Protégé, den Priester, daran, dass dieser zwar seine Frau, nicht aber sein Spitzenross zurückbekommen hatte. Diesem war klar, dass er ohne Pferd nicht wieder nach Hvamm zurückzukommen brauchte, er 146 147 148 149
Jón Viðar Sigurðsson, Konur og kvennarán (1997). StS I, 78: kvað þat aldri skyldu lengr, at gamall maðr flekkaði svá væna konu. Ebd.: kvað eigi sýnast mikilmennsku [wörtlich etwa „Großmanntum“] í sliku. Ebd.: en kvað Einar þat illa gera at veita vandræðism™nnum á leið fram ok leggja þar við virðing sína „und meinte, Einar [Þorgilsson, der Gode] täte schlecht daran, Leuten, die auf Ärger aus seien, Schutz zu gewähren und seine Ehre damit zu verknüpfen“.
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machte sich auf die Reise – und wartete so lange, bis es ihm gelang, das Pferd in starkem Schneetreiben unbemerkt mitzunehmen. (Im Licht von Clifford Geertz’ marokkanischen Schafdieben oder Werner Schiffauers pontischen Bauern betrachtet150, ist die Episode ein Musterfall für sozialanthropologische Konfliktforschung: das Schneetreiben kam gerade richtig, damit kein Anwesender verpflichtet war zu ,sehen‘, dass der Priester kam, um sein eigenes Pferd zu stehlen, und damit war die Angelegenheit zur Zufriedenheit aller geregelt.) In einem anderen Fall ist zwar nicht von Polygynie die Rede, wohl aber vom Abstecken von Herrschafts-‘Claims’ durch die Arrogation von Verfügungsmacht über Frauen: Im Jahr 1225 schlug die Witwe Jóreið Hallsdóttir die Bitte des Ingimund Jónsson um ihre Hand und ihr Vermögen aus, welch letzteres sie, wie sie erklärte, ihrer Tochter ungeschmälert hinterlassen wollte. Der verschmähte Werber beklagte sich bei seinem Patron Sturla Sighvatsson (einem Enkel des Hvamm-Sturla aus der vorigen Episode), der sich veranlasst sah, umgehend mit seinem Klienten aufzubrechen, die Witwe Jóreið zu rauben, sie auf seinem eigenen Hof unterzubringen und ihr dort nachdrücklich nahezulegen, ihren Widerstand aufzugeben. Nun befand sich Jóreiðs Bruder Pál in der günstigen Situation, als „sehr guter Freund“ (mesti vinr) des Onkels des gegnerischen Häuptlings, Þórð, gewissermaßen über eine Rechtsschutzversicherung zu verfügen, und so war die Sache Teil einer größeren Fehde der Sturlungen geworden: der nun durch die Frauensache auf die Spitze getriebene Streit zwischen Sturla und Þórð drehte sich ,eigentlich‘ um Godenwürde und Landbesitz. Als Schlichter schaltete sich Snorri Sturluson, Bruder des einen und Onkel des anderen Kontrahenten ein, und die ganze Sache wurde mittels beträchtlicher Ausgleichszahlungen geregelt. Der eigentliche Frauenraub scheint darüber zum bloßen Detail geworden zu sein – wüsste man nicht, dass die Sturlunga saga die gesamte Sache als Jóreiðarmál, „die Streitsache Jóreið“, bezeichnet und den Eindruck erweckt, es handle sich um ein landesweit bekanntes Ereignis. Das Schicksal der entführten Jóreið wurde übrigens von ihr selber entschieden: Sie trat in den Hungerstreik und hielt durch, bis der mächtige Häuptling sie gehen ließ.151 Auch hier ist zu überlegen, ob der ,Hungerstreik‘ dem mittlerweile an einer Schlichtung interessierten Häuptling nicht sehr gelegen kam, doch sollte dies nicht davon ablenken, dass die öffentliche Meinung der Witwe dieses Maß an Selbstbestimmung als plausiblen Ereignisverlauf zubilligte und der Häuptling nichts dagegen hatte, von ihr in dieser Sache ,besiegt‘ zu werden. Gewiss konnte er sich das gerade darum erlauben, weil sie als Gegnerin gar nicht ernst zu nehmen war. Für Jóreiðs Interessen war dies aber nur von Vorteil. 150 Vgl. Geertz, Thick Description (1973), 3–30; Schiffauer, Bauern von Subay (1987), ibs. 61: Da ,politische‘ (auf Öffentlichkeitswirkung und das „Referenzsystem der Ehre“ abzielende) Rationalität im Extremfall völlige soziale und ökonomische Irrationalität mit sich bringt – nämlich mehrfachen Tod, Strafverfolgung und wirtschaftlichen Ruin –, gehen alle Beteiligten äußerst bewusst und behutsam mit ihr um; soziale und ökonomische Belange „können sich demgegenüber nur hinterrücks und uneingestanden, gleichsam listig durchsetzen.“ 151 StS I, 309–311.
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Ressourcenpolygynie Indem sie mit den Landbesitzern ihrer Machtzonen Bündnisse eingingen, deren sichtbarer Ausdruck die Aufnahme einer Nebenfrauenbeziehung mit einer Frau (gewöhnlich Tochter) des Hauses war, und indem diese Beziehungen dann als bleibendes Zeichen fortgesetzter Herrschaft aufrechterhalten werden mussten, beruhte die Stellung der Oddaverjar und der anderen Häuptlingssippen in ihren ríkir im späteren 12. und im 13. Jahrhunderts in beträchtlichem Maße auf Frauenbeziehungen. So gesehen, war ein Mann wie Jón Loptsson zur simultanen Polygynie nachgerade gezwungen. Aber der habituale Aspekt der Verfügungsmacht über Frauen erschöpft sich nicht im Etablieren und Bezeichnen imparitärer sozialer Bindungen zwischen Menschengruppen, beschränkt sich also nicht auf zielgerichtetes Handeln auf Akteursebene. Carol Clover hat in einer Studie mit dem demographischen Geschlechterverhältnis im frühen Skandinavien argumentiert, dass die literarischen Quellen – das in Gesetzen, Sagas und sogar den Christianisierungsberichten häufig erwähnte Aussetzen von Neugeborenen (barna útburð) – und archäologische Befunde, etwa das Verhältnis von Männer- und Frauenbeisetzungen, auf ein durch präferentiellen weiblichen Infantizid verursachtes Ungleichgewicht schließen lassen.152 Da gesamtgesellschaftliche Dysfunktionalität durchaus nicht zu Änderung individueller Entscheidungen führen muss, konnte sich trotz sich verschärfender Frauenknappheit das kulturelle Muster, demzufolge das Aussetzen bei Mädchen anscheinend näher lag als bei Jungen, wo es nur in Sonderfällen (Missbildungen o. ä.) in Frage kam, über lange Zeit halten. Der verschärfte Wettbewerb um Frauen führte dann zu ihrer Konzentration bei der Oberschicht und damit zu deren relativ größerer Reproduktivität, was den Wettbewerb um Ressourcen und dessen kulturale Ausformung in der extrem kompetitiven Gesellschaft des Hochmittelalters noch verstärkte. Unter diesen Umständen ist der eigentlich naheliegende Einwand, eine Gesellschaft mit Frauenknappheit werde doch nicht gerade eine ausgeprägte Neigung zur Polygynie entwickeln, nicht stichhaltig: Im Gegenteil ist die ‚Akkumulation‘ von Frauen ein umso mächtigeres Statussymbol, je knapper sie insgesamt sind.153 Für Island kommt die Situation einer ‘frontier’-Gesellschaft hinzu. In den ersten Generationen dürfte der Anteil der Männer an den Siedlern stark überdurchschnittlich gewesen sein.154 Zahlreiche Charakteristika von Gesellschaften mit einem unausgeglichenen Geschlechterverhältnis lassen 152 Clover, Politics of scarcity (1988). Vgl. allgemein Guttentag/Secord, Too many women? (1983); zum Mittelalter Herlihy, Life expectancies for women (1975), 1–22. 153 Clover, Politics of scarcity (1988), 171. 154 Die Landnámabók, die mit ihren mehreren tausend Namen einen beträchtlichen Teil der Gesamtimmigration verzeichnet, gibt zwar, da primär an Besitzrecht interessiert, aller Wahrscheinlichkeit nach ein schiefes Bild, aber die Analogie mit den USA, wo in einigen Staaten des Westens noch um 1900 ein Männer-Frauen-Verhältnis von 1,5:1 herrschte und unionsweit erst gegen 1940 ein Ausgleich erreicht war, lässt annehmen, dass zumindest tendenziell in den ersten isländischen Jahrhunderten eine ähnliche Situation vorlag.
Beutefrauen
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sich hier wiederfinden: der verschärfte männliche Wettbewerb um Frauen und deren große Bedeutung für männlichen Status; männliche Homosexualität – die im mittelalterlichen Skandinavien als solche kaum nachgewiesen und schon gar nicht quantifiziert werden kann, wohl aber ihre große Wirkung als Beleidigung –; relativ leichte Beziehungsauflösung (und damit serielle Polyandrie für Frauen); vor allem aber der hohe Frauenimport, dessen voller Umfang für Island erst durch die am Ende des 20. Jahrhunderts möglich gewordenen genetischen Serienuntersuchungen deutlich geworden ist: Der skandinavische Anteil an der frühen isländischen Bevölkerung lag demnach bei den Männern bei rund 75%, bei den Frauen nur halb so hoch; diese kamen hingegen mehrheitlich aus dem keltischen Raum155: Melkorka, die versklavte Irin, steht in den Sagas stellvertretend für sehr viele. Nimmt man die hohe Wertschöpfung durch Frauenarbeit (Nahrungsmittelund Wollverarbeitung) hinzu, so lässt sich ein strapazierter Begriff rechtfertigen: In materieller wie immaterieller Hinsicht waren Frauen eine zentrale Ressource.
Beutefrauen Zu den Aufgaben eines Häuptlings (und Chancen auf ‚Status‘gewinn) kam zweifellos die Versorgung nicht nur seiner selbst, sondern auch seiner Gefolgsleute, seiner ,Klienten‘ mit Frauen. Poul Holm hat dies für die irischen Könige des zehnten und elften Jahrhunderts eindrücklich gezeigt und auch auf den Zusammenhang von gesteigerter Konkurrenz und gesteigertem Interesse an der Versklavung von Frauen zu Gewinn- oder Redistributionszwecken (im Gegensatz zu der traditionellen ,Geiselnahme‘ männlicher Gegner) hingewiesen.156 Überfälle auf gegnerischen Besitz wie die bekannten irischen Viehraube (crech) waren zwar, wie die über Jahrhunderte funktionierenden Sklavenhandelsplätze an den westeuropäischen Küsten zeigen, nicht die einzige Weise, die zu verteilenden Frauen zu erwerben, wohl aber mit zusätzlichem habitualen Prestige versehen. „Die sclavin war dem herrn ihren leib schuldig, wenn er es forderte“, erläutert bereits das Grimm’sche Wörterbuch den etymologischen Zusammenhang des Wortes ,Kebse‘ mit der Unfreiheit157, und das Zeugnis der bekannten fränkischen Quellen über Verschleppung von Frauen, Schändung von Mädchen und einer besonderen Aufmerksamkeit für feminas quae formosae videbantur158 passt jenseits der sowohl klassischen als auch biblischen Topik so gut zu dem Bild der nordischen und irischen Berichte, dass an kriege-
155 Vgl. Helgason, Estimating Scandinavian and Gaelic ancestry (2000), 697–717; ders., mtDNA (2001), 723–737. 156 Holm, Slave trade (1986), ibs. 339 unter Berücksichtigung der fiktiven, aber aufschlussreichen Listen über Versorgungen (tuarastal) der Klienten im Lebor na Cert (um 1100). 157 Deutsches Wörterbuch, Bd. 5 (1984), s. v. Kebse; vgl. Ebel, Konkubinat (1993), 158ff. Zur sexuellen Ausbeutung Unfreier vgl. oben, Kap. 1. 158 Adrevald von Fleury und Richer, zitiert nach Zettel, Bild der Normannen (1977), 134f.
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rischem Frauenraub und seiner ,habitualen‘ Funktion zur Versorgung einer Kriegerschar kein Zweifel bestehen kann. Wie dieser Aspekt von Magnatenexzellenz im nordischen Kontext gefeiert wurde, wie also der Magnat selber für die Nachhaltigkeit seiner vorbildlichen Leistung sorgte, zeigen eindrücklich einige der zwei Dutzend Skaldenstrophen, die der Hofdichter Þjóðólf Arnórsson über den Kampf des Norwegerkönigs Magnús des Guten gegen seinen Konkurrenten Sven Estridsen um die Macht in Dänemark gegen 1040 abfasste (und die der OddiZögling Snorri Sturluson zwei Jahrhunderte später seiner Königssaga zugrunde legte und ausgiebig zitierte). Angemerkt sei, dass Magnús seinerseits filius a concubina Olavs des Heiligen war und seine Mutter Álfhild, die „Königsmagd“, nach Wilhelm von Malmesbury eine verschleppte edle Engländerin war (vgl. Kap. 1). Derselbe Chronist behauptet übrigens, die Schwester Knuts des Großen habe ihren Profit beim Luxussklavenhandel über die Nordsee gemacht, „vor allem mit Mädchen, die wegen ihres Alters und ihrer Schönheit besonders viel einbrachten“159, was die Ubiquität dieser Verfahren illustriert. Vor diesem Muster nimmt es nicht wunder, wenn Magnús’ Überfälle auf die dänischen Inseln in ihrer dichterischen Form, zur Primärkonsumption während des abschließenden Gastmahls und dann zur Verbreitung über ganz Nordeuropa bestimmt, mit Genuss aus der Sicht der fliehenden Frauen erzählt wird: Die Mädchen Seelands fragten alle mit einer Stimme, wer es war, der das Kriegszeichen trug. Wahr ist, dass schon viele blutgerötete Schildränder hatten. An den ,Schmuck-Stangen‘ war es nun, durch die Wälder zu springen. Eine große Menge Volks eilte, wie sie nur konnte, nach Ringsted.160
Die in der Skaldik nicht unübliche kenning der Mädchen als ,Schmuck-Stangen‘, also ,Trägerinnen des Schmuckes‘ macht hier die zu jagende Beute doppelt attraktiv. Zudem ist sie durch die Apposition der Kriegszeichen und rotleuchtenden Waffen einerseits, der schlanken Mädchen andererseits eine überzeugende Metapher. Die Jagd endet in Ringsted, und damit ist der Sieg komplett, denn der zentrale seeländische Thingort liegt in der Inselmitte, ist also der letzte Rückzugsort, wenn von See her angegriffen wird. Vielleicht empfand Snorri besondere Suffisance, als er die alte Strophe über den Ort verwendete, der inzwischen (ab 1170) zum liturgischen Zentrum des dänischen Königshauses geworden war – schilderte er doch gerade den Angriff des Sohns von Norwegens Königsheiligem auf Sven Estridsen, den Vorfahren der Waldemare. Von Seeland setzte Magnús mit Flotte und Beute nach Fünen über: 159 Wilhelm von Malmesbury, GRA II, 200: quod dicebatur agmina mancipiorum in Anglia coempta Danemarchiam solere mittere, puellas presertim quas decus et aetas pretiosiores facerent. 160 MsG c. 31, Str. 54: Spurði einu orði, / ™ld blóðroðna skj™ldu, / satt es, at svá m™rg átti / Selunds mær, hverr vé bæri. / Auðtróðu varð auðit / yfir of skóg at spróga. / Títt bar týmargr flótti / til Hringstaða iljar.
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Die Männer müssen daran denken, dass sie noch mit den ,Webstuhl-Gefn‘s von Svens Männern Bekanntschaft schließen müssen, Krieger! Drei Begegnungen haben wir nun schon gehabt. In Fünen sind schöne Frauen zu erwarten, und wir müssen auch noch das Schwert röten. Mit unseren Leuten stehen wir im Waffenlärm ganz vorne.161
Verfügungsgewalt über Frauen verquickt mit anderen Ausprägungen des unablässigen Agons – Kampf und Sieg, Beuteanhäufen und -verteilen und damit das Ansehen des Hauptes einer Schar, die durch kein anderes Band als das Eigeninteresse der Beteiligten zusammengehalten wurde und sich bei einsetzendem Misserfolg schnell verlaufen konnte – und all das verdichtet zu Skaldenstrophen, wie sie in den ‚dichten‘ Momenten unterm Dach der Fürstenhalle kollektiv konsumiert wurden. Zu Jón Loptssons Zeit kam es auf Island zu keinen flächendeckenden Verheerungen wie in den eben geschilderten Kampagnen162, doch die oben zitierten isländischen Fälle haben deutlich gemacht, dass auch unter ,alltäglichen‘ Bedingungen die Rangkämpfe unter Benutzung von Frauen ausgetragen wurden. Wenn Bischof Þorlák sich also vorgenommen hatte, Islands mächtigsten Häuptling (und seinen eigenen Patron) in der Frauenfrage zum Einknicken zu bringen, dann hatte er sich wahrlich ein Ziel gesetzt, dass dem Kirchenbau seines Vorgängers an agonalem Potential mindestens gleichkam.
Von Canterbury nach Camelot Den großen Zusammenstoß hatte Þorlák verloren. Seine Vita macht nun einen zeitlichen und räumlichen Schwenk ins Westviertel (denjenigen der drei zum Bistum Skálholt gehörenden Landesteile, den Þorlák in seiner libertas-Kampagne bislang nicht besucht hatte) und berichtet einen scheinbar unverbundenen Fall, die auch unabhängig belegte „Streitsache Högni auf Bœr“ (H™gna-Bœjarmál163), die aber, wie schnell deutlich wird, tatsächlich Þorláks zwei große Themen – Kirchenfreiheit und Geschlechtsmoral – auf anderem Kampfplatz fortsetzt. Die ursprünglichen isländischen Destinatäre der Vita müssen den korrekten Schluss gezogen haben: Nach seiner Niederlage gegen den Größten versuchte sich der Bischof nunmehr an Geringeren. Sein neuer Kontrahent Högni war „ziemlich wohlhabend, wenn auch ohne große Verwandtschaft“, und zudem geweih-
161 MsG c. 32, Str. 59: Menn eigu þess minnask / manna Sveins at kanna, / – víga Freyr! –, síz v™ru, / Vef-Gefn, þríar stefnur. / V™n es fagrs á Fjóni / fljóðs; dugir v™pn at rjóða. / Verum með fylkðu folki / Framm í vápna glammi. – Gefn ist eine der Frauen Odins, „Gefn des Webstuhls“ eine Frauenkenning nach dem konventionellen Muster ‚mythologischer Name + konkrete Bestimmung‘. 162 Immerhin erließ zur Zeit des Streits zwischen Jón und Þorlák der Erzbischof Eystein eine Bestimmung gegen „Männer, die Frauen beim Kriegszug nehmen“ (men[n] þeir er konur taka med herfangi, DI I, Nr. 41, um 1176). 163 StS I, 131ff.
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ter Priester.164 Zwei Probleme lagen an: Högni weigerte sich, seine mit norwegischem Importholz gebaute Kirche von seinem Bischof weihen zu lassen, solange dieser an seiner Haltung bezüglich des Verfügungsrechts festhielt, „und sagte, sie sollte dann eben der prächtigste Pferdestall auf Island sein, wenn er sich nicht durchsetzte“165 – krönte also eine aufsehenerregende Leistung in ‘conspicuous consumption’ mit einem noch bemerkenswerteren Bonmot. Die andere Sache war delikat. Högnis Tochter Snælaug „lebte unverheiratet zu Hause. Sie gebar ein Kind, das allgemein einem Arbeiter ihres Vaters namens Gunnar mit dem Beinamen ,Kuhhündin‘ zugeschrieben wurde. Högni nahm ihr das nicht übel, und er schätzte seine Tochter ebenso hoch wie vor diesem Ereignis.“166 Als Einzelbeleg ist diese Bemerkung immerhin aufschlussreich für die Allgegenwart kurzer, tendenziell als Polygynie (und in dem Fall wohl auch Polyandrie) anzusprechender Beziehungen, deren wichtigste Voraussetzung – oder Konsequenz – das Desinteresse des mittelalterlichen Nordens an der körperlichen Jungfräulichkeit der Frauen war. Vielleicht kam derlei nicht häufiger vor als in anderen Teilen Europas, hatte gewiss aber eine andere soziale Semantik und war damit für die betroffenen Frauen weit weniger folgenreich: Der Akt selber spielte praktisch keine Rolle; ob eine Schädigung und Kränkung vorlag, hing ganz davon ab, ob die Tat als Übergriff aufgefasst wurde. Das war hier offensichtlich nicht der Fall, wohl weil der Kindsvater als Kuhhirt des Hausherrn in keinem zeichenhaften Verhältnis zu einem Konkurrenten stand und damit bedeutungslos war. Ein Problem entstand erst, als die Tochter – mittlerweile mit einem Priester ‚verheiratet‘ (keypt, konsensual „gekauft“) – auf die Nachricht vom Tode eines gewissen Hrein, der ein Tal weiter in Gilsbakki gelebt hatte und nun von einer Norwegenreise nicht zurückgekommen war, hin angab, in Wahrheit sei dieser – und nicht der Hirte – der Vater ihrer Tochter gewesen. Aus Angst vor seiner Familie habe sie dies zu seinen Lebzeiten nicht bekannt machen mögen. Nun waren der Kindvater und der jetzige Gatte der Snælaug im vierten Grade miteinander verwandt, und prompt forderte Bischof Þorlák das Paar auf, sich zu trennen. Das taten sie nicht, Interdikt und Exkommunikation folgten, und Þorlák erschien persönlich auf dem Allthing und erklärte die Verbindung (abermals hjúskap „gemeinsamer Haushalt“ anstelle von coniugium) dort öffentlich für ungültig. Snælaug und Þórð, „die einander sehr liebten“ (unnusk þau mikit), willigten in eine Trennung ein (bekamen aber später noch drei Kinder miteinander), und noch einige andere brenzlige Situationen entschied der Bischof in der Folge durch Standfestigkeit für sich. 164 C. 23: prestr at vígslu ok mj™k auðigr en ættsmár. 165 Ebd.: ok sagði at þat skyldi skrautligast hrossahús á Íslandi ef hann réði þessu eigi. 166 Ebd.: Hon fœddi barn þat er kennt var verkmanni fóður hennar er Gunnarr hét ok var kallaðr nautatík. Ekki hataði H™gni hana fyrir þat, ok ekki helt hann nú dóttur sinni minnr á lopt en áðr þetta gerðisk. – Alle drei Personen, auch der Viehhirte mit dem kuriosen Beinamen, sind unabhängig in der Sturlunga saga belegt.
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Daraufhin steigerte er das Format seiner Gegner. Unter anderem ging er gegen einen Sohn des mächtigen Hvamm-Sturla vor, der sich eine enge Verwandte seiner Ehefrau „ins Bett geholt“ hatte167, und entging mit göttlichem Beistand dessen bewaffneten Gegenschlägen. Mit diesen Erfolgen hatte der Bischof verlorenen Grund wieder gut gemacht, und die Erzählung konnte zu seinem Hauptwidersacher zurückkehren. Der Herr Bischof Þorlák erhob viele Vorwürfe gegen Jón Loptsson in Oddi, wegen Hurerei und auch wegen unrechtmäßiger Besitzaneignung, besonders aber, dass er seine [Þorláks] Schwester Ragnheið mit offenem Trotz und Ungehorsam in seinem Haushalt hielt, während seine Frau noch lebte. Und obgleich Jón dem Bischof in anderen Dingen entgegenzukommen bereit war, wollte er doch auf keinen Fall über eine Trennung von Ragnheið mit sich verhandeln lassen. Am Ende kam es so weit, daß der Bischof ihn exkommunizierte. Jón litt sehr daran, die Angriffe des 168 Bischofs erdulden zu müssen wegen seines Stolzes (metnað).
Der Bischof ging also aufs Ganze – und Jón war es seinem Empfinden für Messlatten schuldig zurückzuschlagen. Die ersten Hiebe ließ er noch stellvertretend führen; in der Vita liest es sich so, dass sein ungestümer Sohn einige Anschläge gegen den Bischof vorbereitet, die wunderbarerweise scheitern (einmal verbirgt dichter Nebel den Bischof und sein Gefolge; einmal ist das Haus schon umstellt, der Bischof tritt vor die Tür, und dem Jónssohn bleibt die erhobene Axt in der Luft stehen). „Jón Loptsson legt darauf das Unternehmen aber nicht unerledigt nieder“169 und organisiert selber einen Anschlag, der wiederum am Nebel scheitert; man fragt sich, ob es sich nicht wie beim Schneesturm während des Pferdediebstahls um einen ,deeskalierenden‘ Nebel handelt. Schließlich kommt es aber doch zum Showdown. Jón organisiert ihn auf dem Kirchhof von Ytri Skarð – pikanterweise dem Hof, der von seinem und Ragnheiðs erwachsenen Sohn Pál bewirtschaftet wird. Dieses Mal ist keine Rede von Auflauern an Furten. Jón stellt seine Bewaffneten in Doppelreihe auf, und am Ende der Spießrutenformation wartet er selber an der Kirchentür: es ist die provozierende Umkehrung der Inszenierung einer öffentlichen Bußzeremonie. Alles ist bereit für Canossa oder Canterbury. Der Bischof eilte vorwärts und sagte zu seinen Gefährten, sie sollten sich nicht fürchten, „denn dieses Spiel ist für mich, nicht für euch vorbereitet worden.“ Er reitet als erster in die enge Gasse hinein und nach ihm der Priester Orm, sein Kaplan, und danach einer nach dem anderen, bis der Bischof am Eingang zum Kirchhof ankam, vor dem Jón stand, und abstieg. Durch den Eingang
167 C. 25: Þessi maðr lagði í rekkju hjá sér náfrændkonu húsfrú sinnar. Die ,Ehefrau‘ wird hier mit dem festlandseuropäischen Fremdwort húsfrú „Hausherrin“ bezeichnet. 168 C. 26: Herra Þorlákr byskup kærði marga hluti á Jón Loptsson í Odda, bæði um hórdóma ok rangan fjárafla ok einkanliga þat at hann helt Ragnheiði, systur hans, heima hjá sér með fullu þrái ok óhlýðni at lifandi húsfrú sinni. En þó at Jón svaraði at n™kkuru hófi um aðrar ákærslur byskups þá vildi hann þó til øngrar sættar ganga at skilja við Ragnheiði. Kom svá um síðir at byskup forboðaði . Jón angraði mj™k at þola stríðu af byskupi sakir metnaðar... 169 C. 27: Jón Loptsson leggr þá eigi niðr upptekinn óþokka.
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zu kommen war nicht möglich, weil er voller Männer war, und man konnte auch nicht mehr ausweichen, da die Menge von überall her herandrängte. Keiner sprach ein Grußwort. Der Bischof sagte: „Was fällt dir ein, Jón, mir die Kirche zu verwehren?“ Jón antwortet: „Das liegt jetzt ganz an Euch.“ Der Bischof sagte: „Dann scheint es mir, als wärst du entschlossen, in dieser Sache zu entscheiden. Aber ich möchte doch wissen, warum du dies tust.“ Jón antwortet: „Ihr habt mir die Kirche schon eine lange Zeit verwehrt (bannat mér kirkju) und verkündet, Ihr wolltet mich in den Bann tun (heitit at bannfœra mik). Deshalb wollte ich, dass unser Treffen so verläuft, dass ich mehr in der Hand habe als Ihr.“ Der Bischof sagte: „Es ist wahr, dass ich das Verbot [Interdikt] über dich verhängt habe (lýst forboðum yfir þér), und das mit Recht. Mit dem Bann habe ich aber immer gewartet, weil ich meinte, du wärst vernünftig genug, dich von deinen Verirrungen abzuwenden. Wenn du das aber nicht tust, kannst du sicher sein, daß ich nicht zögern werde, dich in den Bann zu tun, und es wäre vielleicht besser, wenn das schon eher geschehen wäre.“
Und nun eine uns verblüffende Wendung: „Ich weiß“, sagte Jón, „dass dein Bann rechtmäßig und hinreichend begründet ist (at bann þitt er rétt ok skin nóg). Ich werde deine Entscheidung hinnehmen, und zwar in der Weise, dass ich in die Þórsmark [eine unwegsame Gegend 70 km östlich von Oddi] ziehe oder an irgendeinen anderen Ort, wo die Leute nicht durch den Umgang mit mir straffällig werden, und dort mit der Frau zusammen sein, um die es Euch so sehr zu tun ist (ok vera þar hjá konu þeiri sem þér vandlætið um), und zwar so lange, wie ich es für richtig halte (sem mér líkar). Euer Bann soll mich nicht aus meiner schwierigen Lage herausholen (skilja mik frá vandræðum mínum), und ebenso wenig der Druck von irgendeinem anderen Mann, bis Gott es mir in die Brust haucht, mich aus eigenem Willen aus ihr zu befreien (til þess at Guð andar því í brjóst mér at skiljask viljandi við þau). Ihr aber lasst Euch gesagt sein, dass ich dafür Sorge tragen werde, daß Ihr keinen anderen Leuten mehr denselben Dienst erweisen könnt wie jetzt mir.“ Auf diese Worte schwieg der Bischof eine Weile; schließlich aber sagte er: „Ich bin entschlossen, in dieser Sache alles zu ertragen, was mir bevorstehen mag. Tu, was immer du willst, denn ich bin entschlossen, den Bann jetzt nicht mehr aufzuschieben aus Rücksicht auf deine Drohungen.“ Jón antwortet: „Wenn du vorhast, so zu tun, wie du sprichst, dann wird es zu keiner weiteren Begegnung zwischen uns kommen.“
Die Äxte könnten jetzt aufblitzen. Sie tun es aber nicht; dies ist ein Canossa oder Canterbury im Rahmen der isländischen Konfliktgesellschaft. Schlägt ein durch die agonistischen Automatismen ausweglos gewordener Konflikt ins Unproduktive um, dann kommen die Schlichter. Hier übernimmt das der Priester Orm, der neben Jón steht und nun vor den Bischof tritt. In einer längeren Rede appelliert er an diesen, er dürfe jetzt nicht zulassen, dass Jón der kleineren Sünde eine größere (den drohenden Totschlag) hinzufüge; die Kirche würde durch bischöfliche Langmut jedenfalls weniger geschädigt, als wenn sie nun „Euch beide“ verlöre. Der Bischof, in Sieg und Martyrium ausgebremst, „sah ihn zuerst missvergnügt an“. Als ihm dann allmählich klar wurde, dass er in den Augen des Publikums den moralischen Vorteil zu verspielen drohte, lenkte er trotzig ein: „Wieder ist es wie letztes Mal, Jón, dass du deinen Willen durchsetzt, und das
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nicht zum Guten.“ Nicht einmal eine Fristsetzung zur Einlösung seines Versprechens, sich von Ragnheið zu trennen, kann Þorlák erlangen: „Den Zeitpunkt muss der Bischof schon mir überlassen, wenn hier heute nichts mehr passieren soll. Über die Durchführung bestimme ich.“170 Der Bischof insistiert nicht weiter, Jón und seine Männer machen Platz und reiten davon. Im Grunde wiederholt sich hier als Antiklimax die Szene von der Kirchweihe in Höfðabrekka, mit der der Konflikt begann: der Bischof ist unterlegen, der Bischof wird zum Einlenken gedrängt, und er verzichtet mit einigen geziemenden, aber mit Blick auf Canterbury doch etwas farblosen Worten auf das Martyrium. Nordeuropa ist vielleicht kein Land für geistliche Märtyrer. Ein Märtyrer der weltlichen Liebe ist vielmehr Jón Loptsson, der zwar in der offenen Konfrontation das Gesicht wahrt und sich nicht einmal eine Frist setzen lässt – selbst bestimmen (ráða) zu können ist der unverhandelbare Kern eines ,Mannes‘ –, faktisch aber kapituliert. Nach einigen Monaten Anstandsfrist hat er sich und den anderen hinlänglichen bewiesen, dass er es ist, der bestimmt, wann der richtige Zeitpunkt ist. Dann beendet er seine „seit Kindertagen währende“ Liebesbeziehung mit Ragnheið; Þorlák hat noch das bittersüße Vergnügen, beiden die Absolution zu erteilen. Ein wenig später wird sie, wie es bei bisherigen Nebenfrauen üblich ist, mit Mann und Hausstand versorgt, „und sie hatten viele Nachkommen.“171 So weit, so unromantisch. Eine Passage verstört in dieser Verhandlung. Es ist Jóns abruptes Angebot, in die Wüste zu gehen. Die Þórsmark ist das letzte Ende bewohnbaren Gebietes, ein kleines heute bewaldetes Gebiet, das vom Südland und Oddi aus durch ein von Überflutungen bedrohtes Schwemmsandtal erreicht wird und von den drei anderen Seiten von Gletschern eingeschlossen ist. Hier wollte er fern der Welt als Eremit der Liebe mit Ragnheið leben, bis der Heilige Geist selber ihm das Ende seiner weltlichen Liebe eingäbe – um in seinem nächsten Satz, nachdem der Bischof darauf nicht eingeht, ihm kaum verblümt den Totschlag in Aussicht zu stellen. Der ,Einfluss‘ der zeitgenössischen Meinungen über laienaristokratische Paarbeziehungen, die wir die höfische Liebe nennen, ist unübersehbar: der erste Blick spricht für Tristan und Isolde (Tristrams saga ok Isöndar, eine recht getreue Adaptation der anglonormannischen Vorlagen, ist in Norwegen im Jahr 1226 als Teil der kulturellen Europäisierungskampagne Hákon Hákonarsons fertiggestellt worden), der zweite für Chrétien de Troyes: Qui a le cuer, si ait le cors, „Wer das Herz besitzt, der besitze auch den Körper“ lautet das berühmte Prinzip im Cligès, mit der der champenesische Dichter das Konsensprinzip in die Laienkultur einspeiste. Vor allem ist die große Parallele die zu Lancelot und Guinevra: Kurz vor dem Ende des Artusreichs kommt es in den großen Lancelot-Prosa170 „Heita hlýtr byskup biðstundinni ef atgørðalaust skal vera, en ek mun ráða verða framkvæmðinni“. 171 …ok kom frá þeim mart manna. Der Mann hieß Arnþór; man erfährt nichts über ihn, als dass er aus dem Osten war (austmaðr), worunter wahrscheinlich Festlandsskandinavien, allenfalls das isländische Ostland zu verstehen ist. So oder so wird Ragnheið aus der Region entfernt – dies wiederum war bei gewesenen Magnatenfrauen meist anders. Hier hat sich am Ende der Bruder und Seelsorger durchgesetzt, der auf dauernder Trennung bestand.
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Zyklen der Zeit nach 1220 (wenn auch ohne kirchenpolitischen Beiklang) zu einer ganz ähnlichen Zuspitzung. in deren Verlauf Lancelot anbietet, mit seiner Königin ins Exil zu gehen, damit der drohende Krieg zwischen den Rittern der Tafelrunde abgewendet werden und Artus ohne Läsur weiterherrschen kann. Der Vorschlag wird dort ebenso abgeschmettert wie hier, und es kommt zum Untergang von Camelot. Wie auch immer es sich mit den westeuropäischen ,Einflüssen‘, Entlehnungen, Adaptationen verhalten mag, die im einzelnen unbelegbar bleiben müssen: Der Jón des Oddaverja þáttr ist einen kurzen Moment ein höfischer Liebender aus demselben anglofranzösischen Kulturkreis, dem auch sein Gegenüber als Thomas Becket-Double entstammt. Allerdings ist Jóns Rolle so inkongruent, dass er sie noch viel weniger lange durchhalten kann als Þorlák, der dem Martyrium wenigstens einige Male recht nahe kommt. Die Inkongruenz ist einer der Gründe, warum der ,Quellenwert‘ des isländischen Liebesromans von Jón und Ragnheið manchmal bestritten und oft mit Fragezeichen versehen wird. Die Herausgeberin der neuen Standardedition in der Íslenzk Fornrit-Serie, Ásdís Egilsdóttir, nimmt dafür ganz traditionelle Argumentationen zu Hilfe: Wenn Ragnheið um 1155 mit Jón zwei Söhne gehabt habe, so könnte sie kaum dreißig Jahre später einem Norweger verheiratet werden, dem sie auch noch Kinder gebar.172 Das Argument ist schon in sich nicht ganz richtig, denn nimmt man im Extremfall eine Erstgeburt mit fünfzehn Jahren an, ist eine weitere Geburt mit knapp fünfundvierzig Jahren durchaus möglich, und man muss nicht Sara dafür sein. Vor allem aber beruht das Argument auf einem Allesoder-Nichts, denn selbst eine biographische Unmöglichkeit bringt vielleicht den chronologischen Ablauf, nicht aber zugleich die Wahrhaftigkeit der einzelnen Episoden zu Fall. Vor allem muss bedacht werden, dass es sich durchweg um Prominente handelt, die an Ereignissen beteiligt waren, die sich bei optimistischer Schätzung knapp fünfzig, bei pessimistischer ungefähr hundert Jahre vor der Niederschrift des Oddaverja þáttr in seiner bekannten Form zutrugen. Über mögliche schriftliche Vorstufen ist nichts bekannt, wohl aber, dass eine lateinische, nur bruchstückhaft überlieferte Þorlák-Vita schon anlässlich von dessen Translation 1198 vorlag. Der Translation präsidierte als Bischof der Sohn von Jón und Ragnheið, auf dessen Hof sich die abschließende Begegnung ereignet hatte. Man sollte soweit wie möglich davon ausgehen, dass die erzählten Ereignisse sich im Großen und Ganzen so zugetragen haben, wie sie berichtet werden. Die Beobachtung, dass Þorláks Handeln wie eine Folie für die – schließlich erfolgreiche – kirchenpolitische Offensive seines Amtsnachfolgers Árni Þorláksson (1269 –1298) fungiert, unter dem nach Mehrheitsmeinung die jüngere Fassung der Þorláks saga (einschließlich der OddaverjaGeschichte) redigiert wurde, ändert nichts an der Gültigkeit der Position, denn die Causa scribendi setzt keineswegs die ,Erfindung‘ des zu Beschreibenden voraus. Vielmehr ist vor allem angesichts der kirchenpolitischen Lage des Erzbistums Nidaros festzustellen, dass Þorlák allen Grund hatte, genau die Themen anzuschneiden, die der Oddaverja þáttr ihm zuschreibt. 172 Ásdís Egilsdóttir, Formáli, in: Biskupa sögur, Bd. 2 (2002), xl.
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Der Historiker muss, will er nicht den Primat des Texts zu dessen Tyrannis werden lassen, sich der Frage stellen: Haben Jón und Ragnheið einander also wirklich geliebt? Seit ihrer Kindheit und bis ins hohe Alter, als der unerbittliche Bruder und Kirchenmann sie auseinanderbrachte? Die Frage muss genau in diesen Worten gestellt werden, denn die Worte sind da: elska („lieben“173), unna („lieben“, verwandt mit ,gönnen‘), ást („Liebe“, Substantivierung zu unna). Das Dossier: Sie haben zwei Söhne miteinander. Dies ist das einzige nichtverbale Zeugnis ihrer Beziehung, wir wissen also, dass sie Mitte der 1150er Jahre (Jón war siebenundzwanzig; wie alt Ragnheið war, können wir nur vermuten) über mehrere Jahre in Beziehung standen. Über deren Beginn, ihre Dauer, ihre Kontinuität haben wir nur das Zeugnis des Oddaverja þáttr. Es ist ohne weiteres möglich zu behaupten, dass Jóns und Ragnheiðs Beziehung nur die paar Jahre um 1155 dauerte (immerhin sagt der Text ausdrücklich, dass Ragnheið auch mit anderen Männern Kinder hatte, und selbst wenn der Norden in diesen Dingen eine im Vergleich recht entspannte Haltung hatte, ist nicht allzu wahrscheinlich, dass ein Agonist wie Jón es sich hätte leisten können, sie mit anderen Männer zu teilen). Des Bischofs verbales Ausspritzen wäre dann nur alter Groll, mit dem er (oder seine Zuhörer) seine aktuell gegen Jóns Polygynie gerichtete Anklagen zusätzlich zuspitzte. Dies halte ich für möglich, aber implausibel – Ragnheið spielt in dem Konflikt in seiner literarisierten Form eine zu große Rolle, sie wäre auch als Argument kaum tauglich, wäre sie nur eine von vermutlich mehreren Verflossenen und zudem ein Fleck auf Þorláks – nicht Jóns – Schild. Auf der anderen Seite ist eine tatsächlich lebenslange Liebe, die Jón sogar sein Angebot der Eremitage machen lässt, bevor sie dann so unspektakulär ausläuft, ähnlich implausibel – und zwar weil sie so ausläuft. Viel eher steht zu vermuten, dass Jón sich von der Mutter zweier seiner erfolgversprechendsten Söhne über die Jahrzehnte nie endgültig getrennt, sie nie ‚weggeschickt‘ hatte, dass sie als Teil des Haushalts von Oddi etabliert war und niemand (außer Þorlák) etwas daran fand. Es gibt weniger stimmige lebenslange Partnerschaften. Warum dann die Inkongruenz, warum Tristan und Cligès und Lancelot? Die kurze, scheinbar unmotivierte Einführung eines von den Sagakonventionen gänzlich verschiedenen Referenzrahmens, der sofort folgenlos wieder verschwindet, bedeutet eine zusätzliche Nobilitierung des Aristokraten. Der lebensweltliche Jón muss, einmal von Þorlák herausgefordert, um jeden Preis an Ragnheið festhalten, weil er nicht verlieren darf. (Am Ende verzichtet er doch auf sie, das aber als Teil eines Quidproquo, das eben ostentativ keine Niederlage ist, weil wenigstens der Zeitpunkt als freier Willensentschluss maskiert werden kann: þann tíma sem mér líkar.) Der literarische Jón aber gäbe eine blasse Figur ab, würde er nur immerzu auf seinem Recht beharren, die Frauen zu nehmen und zu behalten, die er wolle. Sein Gegenpart, der Bischof Þorlák, mag lebensweltlich bereits 173 Wohl im Zusammenhang mit dem indoeuropäischen *al- „wachsen; nähren“ (lat. alere) mit Suffix -isk-, also „(jemanden) nähren, pflegen, umsorgen“; vgl. Collitz, Old Norse elska (1924).
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Thomas Becket als Rollenmodell gewählt und ,gelebt‘ haben – der literarische Þorlák ist auf jeden Fall ein isländischer Becket; die Vita legt sogar das Datum seiner Bischofsweihe auf den 29. Dezember, den Tag des Martyriums von Canterbury. Nur ein isländisches Martyrium kann es nicht geben. Bei Jón ist es ähnlich. Die modische Gewandung der höfischen Laienkultur kontinentaler Provenienz verleiht seiner aus dem landesüblichen agonistischen Ethos heraus begründeten Polygynie eine zeitgemäße, ,europäische‘ Rechtfertigung. Seine frilla hält er nicht mehr in Ehren, weil er sie angesichts der Herausforderung nicht preisgeben darf, sondern weil er sie ,liebt‘. Aber Lancelot scheitert wie Thomas Becket an der Realität der isländischen Konflikt- und Konsenskultur. In seiner Tristan-Rede, in der er das Selbstexil in der Wüste der dauerhaften Liebe anbietet, erklärt Jón ja gar nicht – wie man bei rascher Lektüre zuerst meinen mag –, weder der Bischof noch irgendein anderer Mensch könnten ihn von Ragnheið trennen. Was er sagt, ist: Niemand „kann mich von meiner schwierigen Lage scheiden (skilja mik frá vandræðum mínum)“. Schwierigkeiten wie die, als welche Jón seine ,Liebe‘ hier bezeichnet, sind in den Sagas sonst ein Kampf gegen eine Übermacht, ein waghalsiger Angriff ohne Rückzugsmöglichkeit, der freiwillige Besuch bei einem zürnenden Fürsten und dergleichen.174 Von ihnen (við þau), nicht etwa von der Frau175, wird er sich erst „scheiden“ lassen, wenn der Heilige Geist es ihm eingibt. Am Ende sind es die Pronomina, die verraten, worum sich der ganze Streit um Jón und Ragnheið tatsächlich gedreht hat. In der Saga, die die Stelle einer Vita und eines Romans einnimmt und deswegen den Bischof nicht glorifizieren und den Widersacher nicht diabolisieren kann, der aber seinerseits nur ein Tapferer und kein Liebender sein darf, hat kultureller Partikularismus einmal mehr seine Spuren hinterlassen. Das macht die Geschichte des Häuptlings, des Bischofs und seiner Schwester aber nicht zu einem isländischen Sonderfall. Manches an ihr ist kontextabhängig, allem voran der Umstand, dass und wie sie niedergeschrieben wurde. Doch auch in Aquitanien und Francien, in Sachsen und Schwaben ließen sich Mächtige gern mit den Frauen der anderen sehen und ungern von führenden Kirchenmännern dafür 174 Vgl. Baetke, Wörterbuch (51993), s. v. vand-: vandræði „Schwierigkeit, Unannehmlichkeit“, im Plural (wie hier) auch „Feindseligkeiten, Zwistigkeiten“; als vandráðit (wörtlich: „schwierig zu raten“) kann eine ausweglose Lage bezeichnet werden; ein vandræðafélag ist eine Partnerschaft in Nöten, vandræðakost eine „schwierige Wahl“. Hallfreð Óttarson, der um 1000 erst beim heidnischen Jarl Hákon und dann bei dessen erfolgreichen Gegner, dem Bekehrerkönig Óláf Tryggvason, Hofdichter war und der seine Herren mehrmals bis an die Grenze der Lebensgefahr und darüber hinaus provozierte, trug den respektvollen Beinamen vandræðaskáld „SchwierigkeitenDichter“. 175 ...at skiljask viljandi við þau „mich freiwillig von ihnen zu trennen“: skiljask ist die Reziprokform zu skilja „scheiden, trennen“; þau das Pronomen acc. pl. neutr., das sich auf das im Plural stehende Wort vandræðir „Schwierigkeiten“ bezieht. Das Pronomen acc. sg. fem., das sich auf die ebenfalls erwähnte kona „Frau“ (also Ragnheið) bezöge, würde hana lauten.
Von Canterbury nach Camelot
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tadeln.176 Und vielleicht handelten auch sie oft keineswegs aus Lust und Liebe – non libidine sed ob nobilitatem. Der Vergleich mit der Geschichte von Jón und Ragnheið erlaubt zumindest die Vermutung, dass die Quellen anderswo in Europa zwar wortkarger, die Interessen- und Konfliktlagen aber vielleicht nicht weniger komplex waren als in Island.
176 Zum Beispiel König Heinrich IV. in Brunos Buch vom Sachsenkrieg c. 6: Binas vel ternas simul concubinas habebat; nec his contentus, cuiuscumque filiam vel uxorem iuvenem et formosam audierat, si seduci non poterat, sibi violenter adduci praecipiebat. Zur Interpretation vgl. Althoff/ Coué, Pragmatische Geschichtsschreibung (1992). Unbeschadet der Debatten über Brunos Causae scribendi ermöglicht es der vergleichende Blick auf Jón Loptsson vielleicht, dem als Vorwurf gemeinten Notat eine gewisse Faktizität zuzubilligen, ohne damit eine Verurteilung Heinrichs IV. als hemmungslos libidinös zu verbinden.
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Der agonistische Aspekt
Tollam uxores tuas in oculis tuis et dabo proximo tuo (II Sm 12,11)
Snorri im Bad Eines Abends, als Snorri im Bad saß, kam die Rede auf Häuptlinge. Einige sagten, dass es keinen solchen Häuptling wie Snorri gab und dass keiner sich mit Snorri im Hinblick auf die Verwandtschaft messen könnte. Snorri stimmte zu, dass seine Verwandten keine geringen Leute waren.1
Das Reden vom Wettstreiten verfolgte die Großen bis in die heißen Quellen, ausweislich der Sagas bevorzugte Orte für manchmal folgenschwere Unterredungen. Vielleicht hat man so auch über Jón, Ragnheið und Bischof Þorlák geplaudert. Das Reizende an dieser Vignette aus der Sturlunga saga ist, dass der hier sich in Bewunderung badende Häuptling eben jener Snorri Sturluson ist, dessen Autorität als Verfasser der großen Königschroniken und der eddischen Dichtkunst zuweilen vergessen lässt, dass er selber einer jener Magnaten war, über die – oder genauer: deren Vorgänger – er schrieb. Das unablässige Sich-Messen war ihm nicht studiertes Kulturphänomen, sondern alltäglicher Habitus. Seine Schilderungen kommunikativer Abläufe sind auch meist am stärksten in solchen Situationen. Zu den berühmtesten zählt der „Männervergleich“ der beiden Könige und Brüder Sigurð (r. 1103–1130) und Eystein (r. 1103–1123), Söhne des Magnús Barfuß und somit Onkel mütterlicherseits von Jón Loptsson. Er eignet sich gut zur Beleuchtung eines weiteren Aspekts mittelalterlicher Magnatenpolygynie, den ich den ,agonistischen‘ nennen möchte. Im vorausgegangenen Abschnitt war die Rede von ihrem ,habitualen‘ Aspekt unter den Bedingungen einer äußerst kompetitiven Gesellschaft. Wenn ich den eigentlich ,agonistischen‘ Aspekt der Polygynie von den Praktiken, die oben anhand von Jón Loptsson erläutert worden sind, absetzen möchte, so geschieht das aufgrund folgenden modellhaften Unterschieds: Der ,habituale‘ Aspekt meint die Bedeutung, die die Tatsache polygynen Verhaltens für Selbstdarstellung und Wahrnehmung von Männern in 1 StS I, 319: Þat var eitt kveld, er Snorri sat í laugu, at talat var um h™fðingja. S™gðu menn, at þá var engi h™fðingi slíkr sem Snorri ok þá mátti engi h™fðingi keppa við hann fyrir sakir mægða þeira, er hann átti. Snorri sannaði þat, at mágar hans væri eigi smámenni.
Männervergleiche
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auffälliger Position hat. Dieses Verhalten kann, wie gezeigt worden ist, unter den Bedingungen einer extrem kompetitiven Kultur charakteristische Züge annehmen. Doch ist es bei einem Fall wie dem des Jón Loptsson stets nur darum gegangen, seinen Ruf als „Frauenmann“ unter allen Umständen zu verteidigen; die Frauen selber spielten keine Rolle (Jón und Þorlák wetteiferten ja nicht um Ragnheið). Unter dem ,agonistischen‘ Aspekt sind es hingegen einzelne Frauen, die zum Gegenstand eines Wettstreits unter Männern werden. Dafür bietet der Männervergleich der Könige Sigurð und Eystein ein anschauliches Beispiel.
Männervergleiche Ein altnordischer ,Männervergleich‘ (mannjafnað) ist eine literarisch-rhetorische und vermutlich auch sozialpraktische Konvention.2 Er begegnet in Sagas aller Arten sowie in der eddischen Dichtung, im weiteren Sinn als Wortstreit auch bei Saxo3, prominent in der altenglischen Dichtung4 und allgemein vom archaischen Griechenland bis in die ethnographischen Darstellungen heutiger Gesellschaften. Daher muss betont werden, dass die Bedeutung des mittelalterlichen nordeuropäischen Männervergleichs weniger in dem Phänomen als solchem liegt, sondern darin, dass er regelmäßig zum zentralen politischen Ereignis stilisiert wird. So nimmt etwa die erste Begegnung der Könige von Dänemark, Norwegen und Schweden in Konghelle (Kungälv) 1101, mit der gewissermaßen im nordeuropäischen Mittelalter die ,Außenpolitik‘ einsetzt, in der chronistischen Darstellung die Form eines solchen Männervergleichs an.5 Aufgrund seines recht variablen Kontextes, Verlaufs und Ausgangs kann der Männervergleich kaum als ein ,Ritual‘ angesprochen werden, gehört aber auf jeden Fall zu den gängigen Mitteln der Austragung agonistischer Spannungen. So formuliert Eystein zum Auftakt seines Männervergleichs 2
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Von See, Altnordische Rechtswörter (1964), 242–248, versteht jafnaðr als „de[n] typische[n] a[lt] nord[ischen] Gerechtigkeitsbegriff“. Seine etymologischen Gegenstücke sind mndt. eveninge, lat. aequitas; got. ibnassus. Sein typischer Gebrauch ist die ,Ausebnung‘ der Erbteile und, per extensionem, der außergerichtliche „Vergleich“. Vgl. Marcel M. H. Bax/Tineke Padmos, Art. Senna– Mannjafnaðr, in: EMSc 571ff., mit weiteren Literaturhinweisen; dies., Verbal dueling (1983), 149–174; Swenson, Performing definitions (1991), 49ff. – Ich stimme mit Vorbehalten der von Bax/ Padmos vertretenen generischen Unterscheidung von senna (,Wortstreit‘) und dem eigentlichen ,Männervergleich‘ zu, als dessen Hauptmerkmale eine wesentliche Gleichheit der Opponenten sowie die Regel gelten, dass die einzelnen Äußerungen der Sprecher sich auf diese selbst beziehen, direkte Nur-Beleidigungen des Gegners also ausgeschlossen sind. Der Quellenbegriff mannjafnað (jafn adj. „gleicher, derselbe; ebenbürtiger“; jafna v. „eben machen; vergleichen, gleichsetzen“) impliziert bereits das paritäre Element. Saxo V, 3,17; die eingehendste Analyse bleibt Svennung, Eriks und Götvaras Wortstreit (1942). Vgl. Ong, Fighting for life (1981) (methodisch grundlegend anhand von Gegenwartsbefunden); Clover, Unferþ episode (1980), (zu Beowulf); Parks, Verbal dueling in heroic narrative (1990). MsB c. 15f.
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3 Der agonistische Aspekt
mit seinem Bruder Sigurð: „Es ist oft Sitte beim Trinken gewesen, dass Männer sich Vergleichsmänner nehmen, und so will ich es auch hier sein lassen.“6 Zu diesem Zeitpunkt ist die gemeinsame Herrschaft der Brüder (ein dritter Bruder und Mitkönig, Óláf, ist kurz zuvor gestorben) bereits anderthalb Jahrzehnte lang ein einziger Männervergleich gewesen. So erscheint er in Snorris Magnússona saga, und so muss er den Zeitgenossen auch erschienen sein, betrachtet man die divergierenden, aber komplementären Herrschaftsweisen der beiden. Über zwanzig Kapitel hinweg wird Sigurð als kräftig gebauter, dunkelhaariger, schweigsamer, auf Form und Sitte bedachter strenger Rechtswahrer aufgebaut, dem Eystein als mittelgroßer hellhaariger, blauäugiger redebegabter Gelehrter von allseitiger Popularität gegenübersteht. Man erwartet jederzeit den Ausbruch eines Bruderkriegs, wie er zuvor schon einige Male in Norwegen drohte und in den folgenden hundert Jahren zur Regel werden sollte, doch genau dies geschieht nicht: die ungleichen Brüder, die in der Sagaschilderung zuweilen nahe daran sind, in eine Allegorie der Herrschaftstugenden umzuschlagen, halten ihre Spannung ein Vierteljahrhundert lang durch. Selbstverständlich beginnt der Männervergleich bereits mit der Geburt. Der gemeinsame Vater, König Magnús Barfuß (r. 1093–1103), so berichtet Snorri anlässlich von dessen Verbindung mit Margrét, der Tochter des Sveakönigs Ingi, hatte aber vorher einige Kinder, von denen berichtet wird. Eystein hieß ein Sohn, der mütterlicherseits von geringer Abkunft war. Ein anderer hieß Sigurð, und der war ein Jahr jünger. Seine Mutter hieß Þóra. Der dritte hieß Óláf, und er war bei weitem der jüngste. Seine Mutter war Sigríð, die Tochter des Saxi in Vík, eines mächtigen Mannes im Trøndelag. Sie war die Frille des Königs.7
Wiederum werden die (mindestens) vier Königsfrauen in ein soziales Kontinuum gestellt. Am einen Ende rangiert die namenlose „Geringe“, am anderen Ende wird die bisher den ersten Platz behauptende Magnatentochter aus der wichtigsten Provinz nunmehr durch die schwedische Königstochter ersetzt – ohne dass dieser abgesehen von ihrer Prominenz eine andersartige Stellung eingeräumt würde. Hierin unterscheidet sich die Polygynie des Königs Magnús übrigens von jener seiner isländischen Enkel: Bei Jón Loptsson, dessen Mutter Þóra ein weiteres Magnúskind war, und seinen Erben verdankten die Frauen anscheinend ihre Eminenz ihren Söhnen, während hier die Schwedenprinzessin Margrét kraft ihrer Herkunft und politischen Bedeutung die führende Stellung einnahm, obgleich 6 7
Mss c. 21: „Sá ™lsiðr hefir opt verit, at menn taka sér jafnaðarmenn. Vill ek hér svá láta vera.“ MsB c. 16: En Magnús konungr átti áðr n™kkur b™rn, þau er nefnd eru. Eysteinn hét sonr hans, ok var hans móðerni lítit. Annarr hét Sigurðr, ok var hann vetri yngri. Þóra hét móðir hans. Óláfr hét inn þriði, ok var hann miklu yngstr. Móðir hans var Sigríð, dóttir Saxa í Vík, g™fugs manns í Þrándheimi. Hon var friðla konungs. – Die Verbindung mit Margrét wird durch das Verbum fá „bekommen“ + Genitiv bezeichnet (also möglicherweise metonymisch für den herkömmlich als ‚Vollehe‘ aufgefassten Gütertransfer) und dazu auf ihre Anreise aus Schweden mit einem „ehrenhaften Gefolge“ (vegligt f™runeyti) hingewiesen: Es ist also maximaler Aufwand getrieben worden, was Margrét im relationalen Gefüge der Königsfrauen an die erste Stelle bringt.
Männervergleiche
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sie keinen Sohn mit König Magnús bekam (sie ehelichte nach dessen Tod den Dänenkönig Niels und stand dann am Anfang einer wenig erfolgreichen Linie des dortigen Königshauses), während alle drei genannten Söhne von ,Nebenfrauen‘ gemeinsam die Nachfolge ihres Vaters in Norwegen antraten. Dies lässt vermuten dass die Saga hier einen Minimalkatalog bietet: Wie Þóra, die den Oddaverjar verheiratete Tochter, beweist, hatte König Magnús eine nach oben offene Zahl weiterer (bei Snorri nicht „genannter“) Kinder und Frauen.8 Wie die Dinge liegen, sollte man eigentlich annehmen, von den drei regierenden Königssöhnen habe Óláf, der Sohn der Magnatentochter, seine beiden Brüder von weniger prominenten Frauen überstrahlt. Das Gegenteil ist der Fall. Obgleich er als Siebzehnjähriger stirbt und damit bereits erwachsen genug für die üblichen Eulogen wäre, fällt seine Charakterisierung so blass aus wie die keines zweiten Königs in der Heimskringla. Einige knappe Worte zeichnen ihn als leutseligen Volksfreund, dessen Tod einigermaßen bedauert wurde; von den Taten seiner zwölf Regierungsjahre wird nicht das geringste berichtet. Ganz anders verhält es sich mit den beiden ,niedriger‘ geborenen Brüdern. Dieser weitere Beleg für die prononcierte Weigerung der Sagas, die Herkunft der Mutter in Verbindung zu Wert und Würde der Kinder zu setzen, macht es auch unmöglich, auf dieser Basis eine Einschätzung darüber abzugeben, ob der Herrschaftsstil des dann noch etwas höher geborenen Sigurð gegenüber dem „niedrig“ geborenen Eystein als vorzuziehen geschildert werde. Die gesamte Erzählung von den Magnússöhnen verweigert sich einer eindeutigen Wertung: die Herkunft der Brüder taugt dafür ebenso wenig wie die Darstellung ihrer Politik. Diese lässt Snorri in dem großen, kurz nach Óláfs Tod angesetzten verbalen Agon noch einmal Revue passieren. Er ereignet sich, als sich die Wege der beiden Reisekönige einmal kurz berühren: Beide sind auf Gastung in nahe beieinander gelegenen Höfen, und ein gemeinsames Festmahl ist unvermeidlich. Die Atmosphäre ist gespannt (Snorri führt schlechtes Bier als Ursache an), was Eystein, dem Redegewandten, den Vorwand liefert, die Situation zu forcieren und den als schweigsam berühmten Bruder auffordert, zwecks Hebung der Stimmung eine „gutgelaunte Unterhaltung“ (skemmtanarrœða) einzuleiten. Sigurð antwortet ablehnend („rede, soviel du willst, und lass mich für uns beide schweigen!“) und versucht sich Eysteins immer forscheren Worten durch Aussitzen zu entziehen. Doch als Eystein direkt offensiv wird – „Nun also benenne ich dich, Bruder, als meinen Vergleichsmann (jafnaðarmann)!“ –, hat Sigurð keine Wahl mehr. Das Redemuster des Männervergleichs verlangt, dass jede aufgestellte Behauptung akzeptiert und dann verschärft zurückgespielt wird. Eystein eröffnet: Die Brüder seien nicht nur nach Rang und Reichtum gleich, sondern auch hinsichtlich Herkunft und Erziehung (man beachte die subjektive Einkleidung dieser Behauptung, der die oben diskutierten auktorialen Angaben widersprechen). Sigurð kann nun nicht schlicht das Gegenteil 8
Die genealogische Übersicht II/3, in: Heimskringla, hrsg. von Bjarni Aðalbjarnarson, Bd. 3, Appendix, führt acht Frauen auf.
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behaupten, sondern muss überbieten: Obwohl ein Jahr jünger, habe er den Älteren beim Balgen regelmäßig umgeworfen. Der Dialog über Kinderkraftspiele geht noch einige Wechsel lang fort, doch nichts wäre verfehlter, als ihn als ,kindisch‘ abzutun. Abgesehen davon, dass die Sagaöffentlichkeit des 13. Jahrhunderts mit den fatalen Folgen von Niederlagen im Kinderspiel wohl vertraut war9, klingt hier bereits die von Carol Clover betonte geschlechterartige Binomie ,mächtig/ohnmächtig‘ durch, versehen mit sexuell durchaus prägnanter Gestik: einmal liegt Eystein vor Sigurð auf dem Rücken. Der Unterton sexualisierter Aggression bleibt präsent. Zunächst werden einige Gemeinplätze herrscherlicher Qualitäten abgehandelt; als die íþróttir des nordischen Fürstenlobs sind sie uns bereits bei Jón Loptsson begegnet: Rudern, Skilaufen, aber auch Körpergröße und -schönheit. Inhaltlich origineller wird es, als Eystein seine Rechtskenntnis und Sprachgewandtheit anführt, worauf Sigurð erwidert, auf Gesetzestricks (l™gprettir, mit der Nuance „Trug, Hinterlist“) verschwende er nicht seine Zeit, und schöne Worte seien nur etwas wert, wenn sie später Bestand hätten; Eystein rede bloß jedem nach dem Munde. Eystein, der nicht widersprechen darf, findet eine elegante Konterattacke: Königsart sei es, Bittsteller zufrieden stellen zu wollen, und wenn er es allen recht machen könnte, so sei ihm das am liebsten – Sigurð stoße lieber alle vor den Kopf und ließe sie mit dem Schlimmsten rechnen; darin allerdings sei er zuverlässig. Von nun an wird mit scharfen Worten gestritten. Sigurð sagt, seine Jerusalemfahrt – einst in Abstimmung mit Eystein unternommen, der solange die provisorische Alleinherrschaft ausübte – habe ihm Ruhm eingebracht, „während du zu Hause saßest wie deines Vaters Tochter“. Eine Defamation als unmännlich (argr) ist ausgesprochen, und alle sind gespannt, wie Eystein kontern wird, umso mehr, als der Ruhm von Sigurð dem Jerusalemfahrer (Jórsalfari) tatsächlich zu einem guten Teil darauf beruht, dass er als einer der ersten nordeuropäische Herrscher das enorme habituale Potential einer solchen Reise ausschöpfte.10 Im 13. Jahrhundert waren die notwendigen Episoden längst standardisiert: Kämpfe mit Muslims (in der ethnotypischen Wahrnehmung nordischer Weltbeschreibung heißen sie blámenn „Blaumänner“) im Mittelmeer, Besuch der Heiligen Stätten, Durchschwimmen des Jordans (von dessen Mächtigkeit sich die Nordeuropäer offensichtlich ein an heimischen Strömen orientiertes Bild machten), Reliquienerwerb und als krönenden Abschluss ein Aufenthalt in Konstantinopel, der Großen Stadt, mit phantastischen Ehrenbezeugungen durch den „Griechenkönig“. Eystein gibt eine, wie er zugibt, von langer Hand geplante Antwort: In Wahrheit habe doch er Sigurð für seine Fahrt ausgestattet wie eine Schwester (damit ist die argr-Defamation zurückgespielt), und im Übrigen habe 9 Vgl. den berühmten ersten Totschlag des isländischen Sagahelden Egil im Alter von sieben Jahren beim Ballspiel (Egils saga c. 40), wo gewiss das Kinderalter die Eminenz des Helden belegen soll, wofür aber vorausgesetzt werden muss, dass ähnliche Ereignisse als bei älteren Kindern üblich galten, wie es sich entsprechend auch mit Egils erster Komposition einer Skaldenstrophe im Alter von drei Jahren verhält. 10 Vgl. zuletzt Krüger, Rezeption von Pilgerreisen nordischer Herrscher (2002); Etting, Crusades, pilgrimages (2004).
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er fünf neue Kirchen und einen Königshof gebaut, einen Hafen angelegt und Fahrwasser durch Leuchtfeuer gesichert, „während du unten in Arabien Blaumänner zum Teufel geschickt hast, und das halte ich für wenig nützlich für unser Reich!“11 Mit dieser nüchternen Abwägung, die man durchaus auf das Konto des zuweilen als ideologielos bezeichneten Snorri setzen möchte, ist alles über die Herrschaftszeit der beiden Könige gesagt, und die Eskalation muss in die nächste Runde gehen. Sigurð erklärt nun, er habe damals, als er den Jordan durchschwamm, ein Tuch in einen Busch geknotet und einen Spruch (formáli) darüber gesagt, der Eystein treffen möge, wenn er nicht hinführe, um den Knoten eigenhändig zu lösen. Die Assoziationen von Alltagsmagie und (ebenfalls sexuell konnotierter) Machtdemonstration sind so eng12, dass Eystein sich nun schon ein drittes Mal getroffen sehen musste; dieses Mal antwortet er allerdings realpolitisch: Hätte er nur gewollt, hätte er seinem unbegleitet und machtlos aus dem Osten wiederkehrenden Bruder damals einen „Knoten“ um den Hals legen können, den dieser nicht wieder hätte lösen können. Das nun einsetzende Schweigen scheint ominös. Doch Snorri wartet mit einer Antiklimax auf: Die Brüder trennen sich grollend, „doch hielt sich der Frieden zwischen ihnen, solange beide lebten“.
Soziale Rhetorik : Der Wettkampf um Borghild í Dali Ich habe dem Männervergleich der Könige einigen Platz eingeräumt, um zu illustrieren, wie sehr die agonistische politische Rede selbst dort, wo es um Dinge wie Kreuzzug und Infrastrukturmaßnahmen geht, sexuell gefärbt ist. Man darf vermuten, dass sich diese Färbung auch auf die politische Praxis niederschlägt. Und tatsächlich enthalten Snorri und andere Königssagas in den Kapiteln, die auf den Männervergleich zusteuern, die Geschichte von Borghild, der Tochter des begüterten Óláf í Dali aus Østfold, einer „außerordentlich schönen Frau, klug und sehr kenntnisreich“.13 Während eines Winteraufenthaltes von König Eystein in Viken (der Region um den Oslofjord) zog jener Óláf mit seiner Familie in den Königssitz Borg (Sarpsborg), möglicherweise in der Hoffnung auf größere Königsnähe in mehrfacher Weise; jedenfalls war seine Tochter so oft mit dem König zusammen, dass die Leute zu reden anfingen. 11 Mss c. 21: „...meðan þú brytjaðir blámenn fyrir fjándann á Serklandi. Ætla ek þat lítit gagn ríki váru.“ 12 Zur Magie (seið), wie sie in den mythologischen Geschichten vor allem für Odin charakteristisch ist, in den Sagas aber auch von vielen Menschen (meist Frauen) ausgeübt wird, und ihrer Berührung mit der ,offenen‘ Geschlechtergrenze vgl. Grambo, Problemer knyttet til studiet av seid (1991); Jochens, Images of women (1996), 74 ; Strömbäck, Sejd och andra studier i nordisk själsuppfattning (2000) [enthält Strömbäcks Dissertation von 1935 und kommentierende Studien]; Solli, Seid (2002). 13 Mss c. 19: hon var kvinna fríðust ok vitr kona ok fróð mj™k.
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Sollte Óláf í Dali sich Hoffnung auf einen königlichen Enkel gemacht haben, so wurde er enttäuscht; als Eystein im nächsten Jahr nach Norden zog, hatten seine „Unterhaltungen“ (der übliche Euphemismus der Sagaprosa) mit Borghild keine Folgen gezeitigt. Den Winter darauf schlug nun König Sigurð sein Winterquartier in der Region auf, allerdings zweihundert Kilometer weiter südlich in seiner Lieblingsstadt Konghelle. Inzwischen „hörte Borghild Óláfsdóttir, dass Leute übel über sie und König Eystein redeten, über ihre Unterhaltungen und ihre Freundschaft“. Das heißt: Da der konkurrierende König die Kontrolle in der Landschaft übernahm, schien es nun opportun, nie mit dem folgenlos abgereisten liiert gewesen zu sein. Offenbar galt die Situation als sehr ernst, denn Borghild zog nach dem Zentralort Borg „und fastete für die Eisenprobe und trug das Eisen in dieser Sache und wurde ganz rein.“14 Nun aber ist die Aufmerksamkeit in einer Weise auf die möglicherweise gewesene Königsfrille gelenkt, die es unmöglich macht, sie weiter zu ignorieren. Für den Bruder Sigurð verbindet sich dieser Umstand mit der nunmehr erwiesenen Tapferkeit der schon im Vorwege als Königsfrau bestens ausgewiesenen Borghild zu einer unwiderstehlichen Herausforderung. „Als König Sigurð die Nachricht erhielt, ritt er an einem Tag, was normalerweise zwei Tagesreisen sind, und kam in der Nacht am Hof des Óláf í Dali an. Dort nahm er Borghild zur Frille und führte sie mit sich fort.“15 Sigurðs Vorgehen in dieser Sache ist ebenso verschieden von der seines konsensualen, gesetzestreuen Bruders Eystein wie sein gesamter Regierungsstil. Er ist hier auch im Üblen so geradlinig, wie Eystein es ihm in dem oben zitierten, an die Borghild-Episode anschließenden Männervergleich vorhält. Er lässt sein Vorgehen wie einen regulären Frauenraub aussehen: frillutak (zu taka ‚nehmen‘) ist zwar formal nur der Terminus technicus für die Aufnahme einer Beziehung zu einer frilla, hat aber die semantische Nuance von ,Raub‘ im Sinne von ,ohne Einwilligung der Verwandtschaft‘16, eine Nuance, die durch das nächtliche Eindringen noch betont wird. Sigurð belässt es auch nicht wie sein Bruder bei einer Beziehung, die so oder so gedeutet werden kann, sondern nimmt das Mädchen mit sich. Ihren gemeinsamen Sohn, der den durch mehrere Träger geadelten Königsnamen Magnús bekommt, sendet Sigurð zur Erziehung nicht Borghilds Fami14 Ebd.: Borghildr Óláfsdóttir heyrði þann kvitt, at menn illmæltu þau Eystein konung um tal sitt ok vináttu. Þá fór hon til Borgar ok fastaði þar til járns ok bar járn fyrir mál þetta ok varð vel skír. – Das letzte Adjektiv, „rein“, verbindet den wörtlichen Sinn (ihre Wunden waren sauber) mit dem übertragenen (sie war ,vom Verdacht gereinigt‘); der Unterschied zwischen wörtlicher und bildlicher Redeweise ist gänzlich aufgehoben. 15 Ebd.: En er þetta spurði Sigurðr konungr, þá reið hann þat á einum degi, er miklar váru tvær dagleiðir, ok kom fram í Dali at Óláfs, var þar um nótt. Þá tók hann Borghildi frillutaki ok hafði hana brot með sér. 16 Vgl. Egils saga c. 56, wo ein Litigant in dem zentralen Rechtsstreit die Zweifelhaftigkeit gegnerischer Erbansprüche mit der Wendung behauptet, die Mutter sei „geraubt und später zur Frille genommen worden ohne Zustimmung der Verwandten“ (hernumin en tekin síðan frillutaki, ok ekki at frændaráði). Nicht die Form der Beziehung, sondern ihr – was die Verwandten angeht – unfreiwilliges Zustandekommen macht sie geringerrangig. Vgl. oben, Kap. 2.
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lie, sondern der nordnorwegischen Magnatenfamilie auf Bjarkey unweit dem heutigen Tromsø, so weit entfernt wie irgend möglich also von der mütterlichen Verwandtschaft: Kurz, er tut alles, um seinem Ruf als Hardliner im Königsamt zu genügen. Und doch überdeckt diese Stilisierung nicht vollständig, dass der Ablauf tatsächlich durchaus konsensual gewesen sein dürfte. Ich sage „tatsächlich“, weil in diesem Fall der übliche Vorbehalt gegenüber der ereignisgeschichtlichen Zuverlässigkeit der Sagas unangebracht ist, handelt es sich bei den agierenden Königsbrüdern doch um die Onkel des Jón Loptsson, bei dem Snorri Sturluson aufwuchs und der ihn mit mehreren Augenzeugenberichten aus der Regierungszeit der beiden Königsbrüder versorgte. Zu der allgemeinen Plausibilitätserwägung hinsichtlich von zur Abfassungszeit der ersten Königssagas erst ein knappes Menschenalter zurückliegenden Ereignissen gesellt sich hier also eine außergewöhnlich gute Informationsübermittlung. Damit ist zwar möglich, dass die Stilisierung und Rhetorisierung des Ablaufs erst Snorris – und nicht, wie ich annehme, bereits König Sigurðs – Werk sind. Die Figuren und wesentlichen Ereignisse des Ablaufs wie Borghilds Eisenprobe und Sigurðs Ritt (wenn auch vielleicht nicht seine Geschwindigkeit) dürfen jedoch als gesichert gelten. Man kann also fragen: Wie verhält es sich mit der Stilisierung als ,Raub‘? Borghilds Reaktion und die ihrer Familie werden nicht erwähnt. Dies allein ist kein Indiz, weder in die eine noch in die andere Richtung, und es ist auch nicht ungewöhnlich, pflegen doch die Sagas auf auktoriale Kommentare weitgehend zu verzichten und die Reaktionen lieber in die Handlung zu verlegen. Weitere Handlungen aber gibt es nicht: Borghild und ihr Vater erscheinen in der Saga nicht wieder. Der Sohn Magnús wird in ihrem restlichen Verlauf als designierter Nachfolger des nach Eysteins Tod allein herrschenden Sigurð aufgebaut und gerät in eine gespannte Konkurrenzsituation mit dem aus Irland einreisenden Harald gilli (irisch gille Críst „Christusdiener“ zu christicola), der sich als von Magnús Barfuß auf dessen letztem britischen Kriegszug gezeugter Sohn ausgibt. Nach Sigurðs Tod bricht der Kampf zwischen Borghilds Sohn Magnús und dem irischen Prätendenten aus, den letzterer gewinnt. Dem gefangengenommenen Magnús steht da als einer der letzten beiden Getreuen Hákon Fauk zur Seite, Borghilds Bruder; die Folgen sind für beide schrecklich. Der Familie ist Borghild also entgegen der Inszenierung von Sigurðs Gewaltritt keineswegs entrissen worden; man kann sogar spekulieren, ob Sigurðs Ankunft nicht hochwillkommen war. Den wertvollen Sohn aus der Verbindung im nordländischen Bjarkey in einem der mächtigsten norwegischen Häuptlingshäuser aufziehen zu lassen, von einem Mann, der sich als getreuer Begleiter des Königs Magnús Barfuß erwiesen hatte, bedeutete Sicherheit und Ehre. Und wenn man Borghilds Bruder rund zwanzig Jahre später als letzten Begleiter des den Machtkampf verlierenden Magnús findet, wird deutlich, dass der Frillensohn in der Familie seiner Mutter seinen festesten Rückhalt hatte – anders gesagt, die Familiengruppe musste unbedingt und bis zuletzt auf Borghilds Königssohn setzen, um ihre Stellung zu behaupten, die sie der über die Tochter hergestellten, sorgfältig und nicht ohne Rückschläge eingefädelten Königsnähe verdankte.
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Die Strategie von Borghilds Vater Óláf í Dali konnte aber nur Erfolg haben, wenn außer den Voraussetzungen – die periodische geographische Nähe zu den konkurrierenden königlichen Winterhaushaltungen und selbstverständlich die zur Königsfrau geeignete Tochter – mit dem agonistischen Mechanismus gerechnet werden konnte. Überspitzt gesagt, war in dem Moment, da auch nur einer der beiden Könige Borghild bemerkte, gesichert, dass sie dem einen oder dem anderen angehören würde.
Frauen im Männervergleich Groß ist die Versuchung, eine Episode wie diese im Rahmen einer mindestens seit Troja auf die Verbindung von Konkurrenzethos und einer Frau als Siegespreis eingestimmten Kultur zu lesen – eine Verbindung, die sich womöglich im interkulturalen Vergleich nicht einmal als spezifisch euromediterran erweisen würde, die jedoch von Platons ,Staat‘ über das antike und byzantinische Erzählstreugut bis zu Montesquieu und letztlich in die eugenischen Debatten der Moderne hineinreicht.17 Auf jeden Fall gehört zum Erbe, das das mittelalterliche Europa von den Erfindern des Agons übernahm, das Bild vom Christenleben als Kampfspiel: „Mit Ausdauer wollen wir den Wettstreit laufen, der uns aufgetragen ist.“18 Diesseits der allgegenwärtigen Rivalitäten von Männern um Frauen, die es so trügerisch leicht machen, sie zu einer anthropologischen Konstante zu erklären, wartet das Hochmittelalter bekanntlich mit kultural hochstilisierten Formen solcher Rivalitäten auf: Die Frau als „Beute“ im Wettstreit der landlosen ritterlichen ,Jungen‘, sei es im Spiel der höfischen Liebe oder in der rauen Wirklichkeit der frustrierenden Hoffnung auf eine begüterte Erbin als Gattin, gehört zu den etabliertesten Figuren der neueren Rittertumsforschung.19 Auch wenn die Frau nicht in eigener Person der begehrte Preis ist – oder in so kurioser Weise in ein System von Substitutionen eingeht wie bei dem Turnier am Hofe der Grafen von Champagne, bei der die Damenwelt dem Sieger einen Hecht zu überreichen hatte20–, ist sie als Resonanzkörper männlicher Großtaten unverzichtbar. Derlei gibt es auch im lateineuropäischen Norden, hier bei Saxo in einer Episode aus einem dänischen Kriegszug gegen Schweden um 1150: 17 Platon, Politeia V, 460b, über die Notwendigkeit, den besten Jünglingen (den „Wächtern“) die besten Mädchen zu geben. Die als Nachfahren der Lakedaimonier verstandenen Samniten bei Nikolaus v. Damaskus (1. Jh. v. Chr.) und in der Sammlung des Konstantin Porphyrogennetos (10. Jh.) haben die bei Montesquieu, De l’Esprit des lois VIII, 16, als „Belle coûtume des Samnites“ wieder aufgenommene Sitte, jahrgangsweise den besten Jüngling zu wählen, der sich als erster ein Mädchen nehmen darf, und so fort. 18 Hebr 12,1: per patientiam curramus propositum nobis certamen. 19 Vgl. maßgeblich Georges Duby, De l’amour que l’on dit courtois, in: ders., Mâle moyen âge (21990), 74–82. 20 Duby, Guillaume le Maréchal (1986), 59.
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Zwei unter den Großen wurden durch Berichte über eine schwedische Jungfrau so vom Wetteifer der Begierde ergriffen, dass es zu heftigen Wortgefechten zwischen ihnen kam. Der König meinte, die ,Hochzeit‘ mit ihr zu vergeben obliege ihm, und versprach, sie dem zu geben, der nach der Eroberung Schwedens als der Stärkere gelten würde. Auf diese Zusage hin entstand ein mächtiger Wettstreit (certamen) um die größere Tapferkeit zwischen den beiden Rivalen um die Lust.21
Der Locus classicus für das ,Eindringen‘ der Frauen in die Sphäre von Kampfesruhm und Wettstreitehre ist der Bericht in der Historia regum Britannie des Galfried von Monmouth (um 1135) von den heiteren (facetae) Frauen, die von der Mauer aus den Waffenspielen der Ritter zusehen, „die um ihrer Liebe willen immer edler werden“.22 Die amerikanische Nordistin Roberta Frank hat in einer Studie über die Apostropha an Frauen in der skaldischen Dichtung darauf hingewiesen, dass diese Episode aus dem Gründungstext der hochmittelalterlichen Artusliteratur zwar im westeuropäischen Zusammenhang bemerkenswert früh ist, dass die literarische Figuration weiblichen Zuschauens oder sogar Schiedsrichterns bei männlichen Großtaten in der Skaldendichtung aber mindestens ein Jahrhundert früher einsetzt.23 Wir begegnen hier also frühen Zeugnissen für eine zentrale Rolle von Frauen bei der Austragung politisch relevanter Agones. Diese Taten müssen keineswegs im engeren Sinne kriegerisch sein. Unter den 65 Strophen im prestigiösesten aller skaldischen Versmaße, dem dróttkvætt („Hofton“), die eine direkte Anrede an eine oder mehrere Frauen enthalten, wird den formalen Adressatinnen unter anderem von einem lukrativen Heringsfischzug oder einem erfolgreich gemeisterten Schiffbruch berichtet. Dies wirkt nur auf den ersten Blick kurios, denkt man an die hier bereits mehrfach erwähnten Kataloge erstrebenswerter aristokratischer Fertigkeiten, zu denen unter den Bedingungen der nordeuropäischen Ökologie ganz handgreifliche Arten des Überlebens und Überwindens ernster Notsituationen, etwa einer akuten Hungersnot, gehörten. Entscheidend war, dass auch solche Taten (und ihre Verwandlung in dauerhafte Wortgeschmeide) in den Wettbewerb eingingen, als dessen Schiedsrichterinnen sich die beobachtenden Frauen wohl deshalb so gut eigneten, weil sie selber an ihm nicht beteiligt waren. Anders als etwa bei den envois der höfischen Lyrik handelt es sich hier nicht um die Anrede namentlich genannter Frauen. Die Anrede geschieht in aller Regel mittels 21 Saxo XIV, 11,3: Duo quoque ex proceribus eius ad opinionem unius Suetice uirginis libidinis emulatione correpti magnis inter se iurgiis dissidere coeperunt. Cuius nuptias rex in beneficio suo reponere par estimans capta Suetia fortiori connubium pollicetur. Quo promisso libidinis emulis magnum uirtutis certamen ingessit. 22 Geoffroi de Monmouth, Historia regum Britannie c. 157 (in: Faral [Hrsg.], La légende arthurienne, Bd. 3 [1929], 63–303): milites pro amore illarum nobiliores. 23 Frank, Why skalds adress women (1990); vgl. dies., Old Norse court poetry (1978). Fidjestøl, Ut no glytter (1976), betrachtet dieses Phänomen als zur Konvention verblasstes Residuum einstiger Anrufungen der Schutzgottheiten im Kampf (Walküren u. a.) und rechnet mit keiner sozialen Relevanz.
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einer der geläufigen Frauen-Metaphern (kenningar) wie „Göttin des Biers“ oder „Baum der Goldringe“, selten lediglich als „Frau“, „Mädchen“ und gelegentlich kollektiv: „Die stolzen Frauen sollen schnell aus den Häusern blicken, sie werden nur noch unsere Staubwolke sehen“. Es verbietet sich hier also, die literarisierten Huldigungen an hohe Frauen als codierte Mitteilungen an die durch diese bezeichneten mächtigen Männer zu verstehen, wie es für die westeuropäische Courtoisie geschehen ist. Die als Zuschauerinnen angesprochenen und zur Bewunderung herausragenden Muts oder Geschicklichkeit aufgerufenen Frauen sind nur das: Frauen. Es ist – um ein bekanntes Theorem der Geschlechterforschung abzuwandeln –, als ob die männlichen Taten auf dem Umweg über ‘the female gaze’ berichtet würden, um im immerwährenden Agon der nahezu männerbündnerischen Gemeinschaft, die durch kollektive kulturelle Praktiken wie die Produktion und Konsumtion von dróttkvætt-Strophen konstituiert wird24, auf dem Konto des jeweiligen Helden anrechenbar zu sein. Denn natürlich sind die extratextuellen Adressaten vor allem die den Vers rezipierenden Männer – aber nicht nur sie. Die Frauen können nur darum plausibel als „Kontrollinstanz für die Wahrung männlicher Leistungsstandards“25 literarisiert werden, weil sie in der Praxis allem Anschein nach eine ganz ähnliche Funktion ausüben konnten – das ist die von Rolf Heller als „Hetzerin“ international bekannt gemachte Figur insbesondere der Isländersagas, die Frauengestalt, die unerledigte Vergeltungspflichten mit teilweise exquisit erdachten verbalen oder gestischen Mitteln in Erinnerung rufen und gelegentlich selbst dann unversöhnlich zur gewaltsamen Austragung eines Konflikts mahnt, wenn alle beteiligten Männer zum Vergleich bereit sind.26 Für ihre lebensweltliche Plausibilität haben in letzter Zeit vor allem Carol Clover und Else Mundal überzeugend argumentiert.27 Kam den Frauen gegebenenfalls also die Funktion zu, stellvertretend die allgemeine Meinung über die Taten einzelner Männer – oder deren Ausbleiben – zu formulieren, so konnte der Appell an sie in einer sozialsemantisch so hochgewichtigen Form des Berichts von solchen Taten, wie es skaldische ,Hofton‘-Verse waren, als Signal gelten, dass der von sich Berichtende überzeugt war, auch dem strengsten Maßstab zu entsprechen.28 24 25 26 27
Vgl. Lindow, Riddles, kennings (1975); Ballif Straubhaar, Ambiguously gendered (2002). Frank, Why skalds adress women (1990), 75. Heller, Die literarische Darstellung der Frau (1958). Mundal, Kvinnebiletet (1982); dies., Position of women (1994); Clover, Hildigunnr’s lament (1986). Jenny Jochens’ im Anschluss an Heller vorgetragenen Vorbehalte (vgl. Jochens, Medieval Icelandic heroine [1986]; dies., Women [1995]) vermögen nicht zu überzeugen; vgl. Rüdiger, „Ein rechtes Kernweib“ (2005). 28 Selbst wenn man mit Heller und gegen Mundal und Clover bei der lebensweltlichen Realität weiblicher Urteile zurückhaltend sein wollte, behielte das Argument seine Gültigkeit: denn Taten in noble Verse zu fassen und sich damit an ein möglichst weites Publikum von Mitbewerbern zu wenden, bedeutet ja, sie zu literarisieren – und an der sozialen Wirkmächtigkeit einer so umfangreichen und vielfältigen Literatur mit praktisch immer demselben Thema kann wohl kein Zweifel bestehen.
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Dies sind nun keine eigentlich polygynen Situationen – auch dann nicht, wenn sich der Mann wie Sighvat Þórðarson, der Vertraute Olavs des Heiligen, in seinen ,Ostlandfahrt-Versen‘ (Austrfararvísur) über eine waghalsige diplomatische Mission zum Sveakönig Olav Schoßkönig gleich die Frauen der ganzen Bischofsstadt Skara anruft. Die Einbeziehung von Frauen an zentraler Stelle in die Formalisierung agonistischer Abläufe gibt aber den Situationen, in denen der Agon einmal direkt einer Frau gilt, ihre zusätzliche Prägnanz. König Sigurð musste in der einleitend kommentierten Episode nicht nur vor den Augen seines Bruders und aller beider Gefolgsleute unbedingt auf Erfolg beim Erwerb von Borghild bedacht sein, sondern auch vor Borghild selber und der Gruppe, für die sie stand.29 Mangelnder Erfolg konnte ernste Folgen haben und erforderte gegebenenfalls aufwendige Ausgleichsanstrengungen. Zwar wurde Eystein seine Unentschlossenheit gegenüber Borghild – oder besser: die mangelnde Eindeutigkeit seines Vorgehens – nicht ausdrücklich zur Last gelegt. Doch bei aller Balance in der Diskussion um ,gutes‘ Königtum in dem anschließenden Männervergleich, in dem Eysteins Infrastrukturmaßnahmen neben Sigurðs Jerusalemfahrt ja durchaus respektiert werden, ist doch die Bilanz des konsensund redefreudigen Bruders nach seinem Tod auf dem Krankenbett dürftig. Seine letzten Anstrengungen, Exzellenz zu demonstrieren, blieben fruchtlos: Er ließ ein Kriegsschiff nach den Maßen des unübertroffenen „Langdrachen“, mit dem hundertzwanzig Jahre zuvor Óláf Tryggvason in seine legendäre letzte Schlacht gesegelt war, bauen und prächtig ausschmücken, und in Nidaros legte er Schiffsschuppen in großem Maßstab an. Doch sollte er den neuen Hafen mit dem neuen Schiff nie verlassen – was eine elegante Zusammenfassung seiner Herrschaft darstellt. Ebenso fruchtlos war Eysteins Königtum in generationaler Hinsicht. Nicht zuletzt aufgrund seines Vorgehens bei Borghild hinterließ er als einer der ganz wenigen Norwegerkönige keine Nachkommen: ein toter Ast am Stamme Harald Schönhaars. Mit gekonnter Dezenz sagt Snorri, sein Tod sei ebenso beklagt worden wie der von Magnús dem Guten 104730: Auch jener Sohn einer Nebenfrau (und Olavs des Heiligen) hatte sich durch Güte hervorgetan, war relativ früh gestorben und hatte keinen Erben hinterlassen – wohl aber einen Halbbruder und Mitkönig, nämlich Harald den Harten, den früheren Anführer der byzantinischen Warägergarde, der Eysteins überlebendem Halbbruder Sigurð dem Jerusalemfahrer merklich ähnelt, wenn auch sowohl im Hinblick auf Härte als auch auf mediterranen Glanz noch übertraf. Und beide zeugten eine reiche königliche Nachkommenschaft.
29 Für isländische Konflikte um Frillen mit für einen der Männer tödlichem Ausgang vgl. Agnes Arnórsdóttir, Kvinner og „krigsmenn“ (1990), 154. 30 Mss c. 23.
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Nachverhandlungen um Statusverlust I: die Geliebte Olavs des Heiligen Nicht einmal der künftige Königsheilige Óláf Haraldsson war ausgenommen, den Preis des Misserfolgs im Wettstreit um eine Frau zu zahlen. Dabei war es offenbar etwas heikel, mit der üblichen Unbefangenheit von der Polygynie zu berichten, wenn es sich um Norwegens rex perpetuus handelte. Snorri Sturluson, der die folgenreichsten Sagas über Olav den Heiligen verfasst hat31, ist radikal: Olav der Heilige, dessen Saga im Umfang allein etwa ein Drittel der insgesamt sechzehn Einzelsagas der Heimskringla ausmacht, ist nämlich als einziger König fast gar nicht polygyn. Snorri ist zwar gezwungen, Olav zwei Frauen zuzubilligen, nämlich die svealändische Königstochter Ástríð als Prestigeträgerin und die als Mutter seines einzigen Sohnes unverzichtbare „Königsmagd“ Álfhild. Darüber hinaus sind die Frauen in der Óláfs saga helga aber so auffällig abwesend, dass der Vergleich zu den Vorgängern und Nachfolgern des Königsheiligen sich aufdrängt: Dieser eine Herrscher ist vom üblichen Agon ausgenommen; seine Exzellenz misst man mit anderen Maßstäben. Ob Snorris auffällige Zurückhaltung im Verband mit anderen Eigentümlichkeiten, vor allem der allein bereits Sagalänge erreichenden romanzenhaften Geschichte von Olavs Brautwerbung, allerdings von einem mittelalterlichen Publikum als Signal aufgefasst wurde, die hagiologisch motivierte Leerstelle gedanklich nach Belieben auszufüllen, muss Vermutung bleiben. Mehrere andere Olavssagas hingegen enthalten Frauen. Bezeichnend ist die Figur der Steinvör, einer Frau, mit der der junge Óláf Haraldsson vor seiner Zeit in England während der Eroberung durch Knut den Großen und seiner eigenen anschließend Machtübernahme in Norwegen (um 1013–15) ein Verhältnis hatte. Sie hat den Vorzug, dass sie in mehreren Óláf zugeschriebenen Skaldenstrophen erscheint und damit offenbar zur ältesten Überlieferung gehört.32 Mehrere Fassungen des Prosakommentars erzählen, wie Steinvör nach Óláfs Abreise zur Frau des in Süd-Møre an der norwegischen Nordwestküste begüterten Þórvarð geworden ist und wie Óláf, zurückgekehrt und Norwegerkönig geworden, den Vorschlag seiner Schiffsgenossen ablehnt, seiner früheren Geliebten einen Besuch abzustatten. Steinvör war, in Óláfs langem Preislied auf seinen eigenen Anteil an der Eroberung von London 1013 – das übrigens auch in oben diskutierter Weise an eine „Frau“ gerichtet wird33 – namentlich genannt, zum untrennbaren Bestandteil der Heldenfahrt geworden, die Óláf zur Königsmacht verhelfen sollte. Als Faktum war dadurch aller31 Snorris sogenannte ,große‘ oder ,selbständige‘ Olavssaga (Saga Olafs konungs hins helga) ist die Grundlage für die gekürzte Fassung, die den Mittelteil der Heimskringla einnimmt. 32 Mundal, Heilagmann (1984), argumentiert mit textstrategischen Gründen überzeugend für die Authentizität der Steinvör-Strophen, die gelegentlich als späte, von der ,höfischen Liebe‘ inspirierte Zutat bezeichnet worden sind. 33 Legendarische Saga, hrsg. von Anne Heinrichs u. a. (1982), 48–53; die Apostropha lauten unter anderem ilm „Frau“, mær vitr „kluges Mädchen“, Hl™kk horna „Walküre der Trinkhörner“. Die Adressatinnen sind nicht identisch mit der mit einem durchsichtigen Pseudonym (Grjótv™r < grjót „Geröll“ statt stein „Stein“) gekennzeichneten Geliebten.
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dings auch etabliert, dass Óláf die Steinvör nicht hatte halten können, als er Norwegen verließ, und nicht zurückgewann, als er wiederkehrte: Er hatte einen Wettkampf verloren. Óláfs Strophen und deren Kommentar in den späteren Sagas lassen erahnen, wie schwer die Niederlage in der Wahrnehmung des Umfeldes gewogen haben muss. Sie stellen nämlich Maßnahmen der Schadenbegrenzung dar: Óláf muss sich glaubhaft als trotz allem dem erfolgreichen Konkurrenten überlegen zeigen. Das tut er zum einen bereits in seinem Loblied auf seine Londoner Waffentaten, indem er – ganz nach Art einer Attacke im Rahmen eines Strophenwettstreits (senna) – seine eigenen Taten der Inaktivität von Steinvörs Mann Þórvarð gegenüberstellt: „Jener Krieger rötet in der Frühe nämlich kein Schwert!“34 Hinter der Attacke auf den unkriegerischen, untätigen Mann – dies allein eine Schmähung, die dem Tatbestand des níð, der Ehrabschneidung durch Worte, recht nahe kommt – verbirgt sich ein Innuendo, die der Infragestellung der Männlichkeit des Nebenbuhlers erst ihre ganze Schärfe gibt. Mehrfach ist an anderen Stellen im Lied von Kriegern, Frauen und frühem Morgen die Rede: mal eilt der „gesprächige“ Mann, der sich um ein Mädchen „gekümmert“ hat, bei Tagesanbruch in die Schlacht, mal sehen (oder erleben) die Frauen morgens am Themseufer schon gerötete Schwerter: Die Bildsprache vermittelt die Ineinssetzung von Kampf und Sexualität. Drastisch bringt Óláf sie in einem Vers zum Ausdruck, der den hochmittelalterlichen Kommentatoren so viel Kopfzerbrechen machte, dass die bedeutendsten modernen Forscher im frühen 20. Jahrhunderts ratlos den Sinn verfehlten.35 Diese lausavísa („lose Strophe“) ist im Sagatext an folgender Stelle placiert: Óláf, nun König in Norwegen, reist mit dem Schiff die Küste entlang nach Norden. Kap Stad, selbst bei gutem Wetter ein schwieriges Fahrwasser, wird gerade umschifft; wenig nördlich lebt Steinvör auf dem Hof ihres Mannes. Ob der König sie nicht aufsuchen wolle, fragen seine Fahrtgenossen (með gamni, „aus Scherz“ heißt es in einer Fassung). Unter den gegebenen Umständen ist dies eine recht herbe Provokation: Es war schon schlimm genug, dass Óláf in England über Kaufleute die Nachricht von Steinvörs Erwerb durch einen anderen bekam; dass man ihn nun, wo er mit einem Schiff voller Bewaffneter unterwegs ist und somit die Mittel zum Zugriff in der Hand hat, vor allen Leuten daran erinnert, ist jene Art zur Tat aufreizender Rede (eggjan), der nicht zu entsprechen einige Findigkeit erfordert. König Óláf hat sie. Er erwidert mit einer Strophe: „Es ist jetzt schwieriger als früher, um Stad herumzusegeln zu meiner goldgeschmückten Frau – ich sehne mich nach ihr –, denn nun, 34 Ebd., Str. 10: Ryðr æigi sa svæigir / sara lauk i are / hinn er Griotvarrar (i) giæter / Gunnborz firir Stað norðan. Wörtlich: „Der Schild-Rüttler (=Krieger), der ,Grjótvör‘ nördlich von Stad [dem norwegischen Nordwestkap] behütet, rötet in der Frühe nicht den Wunden-Lauch (=Schwert).“ Der zitierte Halbvers steht wie eine Parenthese in der Beschreibung eines Angriffs auf die Themsebrücke im Morgengrauen. – Zur speziellen Bedeutung des in seiner metaphorischen Assoziativität bereits recht durchsichtigen Lauchs („ein Kernstück der Regeneration Odins als Geheimnis der polytheistischen Religion“) in der runischen Formulaik und den Schöpfungs- und Fruchtbarkeitsmythen des 13. Jahrhunderts vgl. Lamm u. a., „Der Brakteat des Jahrhunderts“ (2000), 28ff. 35 Vgl. zum folgenden Mundal, Heilagmann (1984).
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3 Der agonistische Aspekt
Krieger, ist eine Sperre vor die Einfahrt in den Hafen geschüttet worden, in den ich früher stets einsegeln konnte.“36 Nicht von einem Erdrutsch ist hier die Rede, die einen früher sicheren Ankerplatz unbrauchbar gemacht hat, wie einige moderne Kommentatoren angenommen haben. Anders als dem zwanzigsten war dem dreizehnten Jahrhundert die sexuelle Lesart der Metapher noch ganz klar, und sie brachte die Sagaverfasser, die die níð-Dichtung des heiligen Königs über seine frühere Geliebte37 zu kommentieren hatten, in einige Verlegenheit. Styrmir Kárason lässt in seiner Olavssaga (um 1220/30) den König fromm ergänzen: „Ich werde jetzt hier nicht an Land gehen, denn es ziemt mir mehr, Gottes Willen zu tun als nach meinen üblen Gelüsten zu leben.“38 Doch schlichte Enthaltsamkeit, so erbaulich sie auch vorgetragen wird, genügte dem nordischen Hochmittelalter nicht; Heilag Olav war kein Saint Louis. Daher muss der Kommentator unter willkommenem Schriftbezug hinzufügen, wie „männlich“ der König hier gegen die „Aufreizung“ durch den „Feind“ ankämpft und ihn bezwingt39; ja, für die teuflische Versuchung gebraucht die Fassung der Bergsbók dieselbe Vokabel – eggjan –, die in der Sagakonvention für jene Provokation steht, die Óláfs Fahrtgenossen durch ihre scherzhafte Frage, ob der König nicht bei seiner früheren Frau „ankern“ wolle, ja tatsächlich ausgesprochen haben. Es ist der Teufel, der Óláf durch den Mund seiner scherzenden Genossen zur Tat anstachelt, und ihm nachzugeben, ist bekanntlich leicht. Ein wahrer Held ist also diesmal, wer „männlich“ (karlmannlega) die Herausforderung nicht annimmt. Was den historischen spätwikingerzeitlichen Häuptling Óláf Haraldsson veranlasste zurückzustecken, kann man nur vermuten. Soweit überhaupt Näheres über die Machtverhältnisse um 1015/1017 bekannt ist, sieht es allerdings so aus, als habe er wichtige Bündnispartner sowohl in Rogaland (Südwestnorwegen) als auch im Trøndelag und in Hålogaland (nördliches Norwegen) gewonnen, nicht aber in den dazwischenliegenden Küstenregionen. Demnach hätte er sich nahe Kap Stad in einer Gegend ohne Rückhalt befunden, was den Verzicht auf eine gewagte Operation erklärlich machen würde. Auch eine Frage der ,Ehre‘, des Ansehens und Renommees zwingt einen Akteur in einer agonistischen Gesellschaft ja nicht in einen Ablaufautomatismus; ihm stehen Optionen zur Verfügung, die ihre jeweils begrenzt voraussehbaren Weiterungen haben, und welche Option 36 Skj I, 221; die Übersetzung mit aufgelösten kenningar folgt hier außer Finnur Jónsson auch Ernst Albin Kock, dem zweiten – von Jónsson oft abweichenden – Übersetzer des skaldischen Korpus. Nach Mundal, Heilagmann (1984), 54. 37 Styrmis Olavssaga: vinkona (~ amica); Bergsbók: er hann lagdi elsku a. 38 Eigi skal ek nu her vndir land leggia sagdi konungr. af þui at mer somir meirr at gera vilia guds hellr enn lifua eftir minni fyst rangri. – Die Bergsbók, eine vor 1400 entstandenen Sammelhandschrift, amplifiziert: „anstatt mich in allen Dingen nach den üblen Begierden meines Leibes und der Fleischeslust zu richten“ (en ganga fram j ollum hlvtvm epter ravngvm girndum mins likama ok holldzins fvstvm). 39 ...hversu karlmannlega hann mundi strida sinum uvinvm; vgl. I Kor 16,13: vigilate, state in fide, viriliter agite et confortamini.
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gewählt wird, hängt auch von kontingenten Faktoren wie hier der momentanen Kräfteverteilung ab. Nach Abwägung mag sich Óláf Haraldsson um 1015 entschieden haben, dass das Risiko zu hoch war. Da seine Reiseroute aber nun einmal an Steinvörs Hafen vorbeiführt, kann er nicht einfach weiterfahren; irgendeine Form von Replik ist erforderlich. Sie nimmt die Form einer níð-Strophe an, einer sexuellen Beleidigung.40 Man darf ihre Wirkung nicht unterschätzen und als etwas hilflos-trotzige Geste abtun, denn Kränkungen dieser Art wurden – Fragen nach dem individuell empfundenen Glauben an die Wirkmächtigkeit der in ihr angelegten Anrufung numinoser Kräfte einmal hintangestellt – als so ziemlich die schwersten Angriffe empfunden, die Recht und Praxis zu ahnden hatten.41 Ob sie genügt hat, um Óláfs Gefolge – und die weitere Öffentlichkeit, der Episode und Strophe bekannt wurden – zu beeindrucken, wissen wir nicht. Immerhin herrschte der König anschließend mehr als zehn Jahre lang mit einigem Erfolg. Aber noch zwei Jahrhunderte später hielten es die Sagaverfasser für nötig, ihren Helden vor dem Verdacht der Schwäche freizusprechen. Das Argument ,der Versuchung widerstehen heißt wahre Stärke zeigen‘ wird mit auffälligem Aufwand vorgetragen und vor allem an die Begrifflichkeit der landesüblichen Wettkämpfe angepasst: „König Óláf ist hier auf Erden oft in leibliche Schlachten gekommen, doch noch öfter hat er die Feinde geistlich bekämpft; und wie er seine Feinde leiblich besiegt hat, so hat er den unreinen Geist noch öfter im geistlichen Holmgang besiegt“ – dem regelrechten Zweikampf mit vorher abgegrenztem Kampfplatz. Der König wird zu „Gottes Wettstreiter“ (Guðs kappi) in dem Sinn eines gerichtlichen Zweikämpfers und damit in das semantische Feld kapp- hineingezogen, dem wir schon bei Jón Loptsson begegnet sind und das die Mentalität charakterisiert, aus jedem erdenklichen Vornehmen einen Agon zu machen. So hoffen die Sagaredakteure des frühen 13. Jahrhunderts selbst Olavs Zurückstecken als Sieg umdeuten zu können. Snorri Sturluson war, wie gesagt, nicht überzeugt. Er riskierte lieber, die Episode komplett zu verschweigen und musste deshalb auch jeden Hinweis auf Steinvör aus seiner Schilderung von Óláfs Englandzug streichen, sogar die Verse über die Einnahme von London, die ihm als skaldischer (und daher hochwertiger) Quellenbeleg eigentlich hätten hochwillkommen sein müssen. Aus diesem Grund scheint es mir verfehlt, mit Sverre 40 Worauf genau die Beleidigung abzielt, Steinvör sei zum „Ankern“ jetzt ja ohnedies unbrauchbar geworden, ist nicht ganz deutlich – abgesehen davon, dass drastische sexuelle Rede im mittelalterlichen Nordeuropa stets einen bewusst das Maß übertretenden Ton hat. Im Zusammenhang mit den bereits in England gedichteten Schmähungen gesehen, ist sie offenbar von der in der nordischen Literatur weitverbreiteten Art: ,Während wirkliche Männer kämpfen, liegst du nur zu Hause im Bett und ergibst dich jeder erdenklichen Fleischeslust; folglich bist du als Konkurrent disqualifiziert, und ich brauche dich nicht mehr zu berücksichtigen und kann weiterfahren.‘ Der sexuelle Verkehr mit einer Frau, in den meisten Gesellschaften kaum als Argument in einer Unmännlichkeits-Schmähung geeignet, kann in diesem Sinnsystem den Mann durchaus als ,machtlos‘, nämlich wahllos und untätig kennzeichnen – das erinnert von fern an Erecs ,Verliegen‘ mit Enite, hat aber nichts mit der konkreten Pflichtvergessenheit zu tun, die dem Artusritter zur Last gelegt wird. 41 Vgl. zusammenfassend Meulengracht Sørensen, Norrønt nid (1980); zu Strophen über Frauen (mans™ngvar): Jochens, From libel to lament (1992).
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3 Der agonistische Aspekt
Bagge anzunehmen, Snorri habe auf die Steinvör-Figur verzichtet, weil sie „ohne politische Relevanz“ gewesen sei42: Ihre Beziehung zu dem jungen Óláf mochte folgenlos geblieben sein, die Wettbewerbssituation, in die Óláf ihretwegen geriet, war es sichtlich nicht. Hatte aber diese alles in allem doch recht geringfügige Episode das Potential, noch fast zwei Jahrhunderte später für Unruhe unter denen zu sorgen, deren weltliches und geistliches Selbstverständnis sich auf den im Schrein im Dom zu Nidaros ruhenden rex perpetuus bezog, so lässt das erahnen, welche Bedeutung der Wettbewerb um Borghild – und viele andere – für die unmittelbar an ihm Beteiligten haben musste. Für persönliche Präferenzen blieb da wenig Raum: Auch die Nebenfrau eines Winterquartiers war eine ,politische‘ Angelegenheit.
Der Agon der Frauen Und die Frauen? Von Borghild ist die Rede gewesen und ihrer Bereitschaft, sich zur Reinigung ihres Rufes (also zur weiteren Verfügbarkeit in einer politischen Stilisierung) einer großen Mut erfordernden Wahrheitsprobe zu unterziehen. Nachdem sie anschließend König Sigurð folgte, sehen wir sie nicht wieder, erfahren aber, dass sie ihm einen Sohn gebar, der König wurde: Magnús ,der Blinde‘ (r. 1130–1139). Vielleicht erlebte sie noch, dass ihr Sohn von dessen Rivalen um das Königtum, den aus Irland gekommenen vorgeblichen Königssohn Harald gilli, gefangengenommen, geblendet, verstümmelt und kastriert wurde, nachdem ihr Bruder bereits auf der Stelle erschlagen worden war. Auf jeden Fall darf man annehmen, dass sie wie ihre Familie zeitlebens in Königsnähe geblieben war. Gegen wie viele ,Nebenfrauen‘ Sigurðs sie sich dabei hatte behaupten müssen, wissen wir nicht – und damit auch nicht, wie viele sich durch die Geburt von Borghilds Sohn abgedrängt fanden. Von einer einzigen anderen Frau Sigurðs des Jerusalemfahrers wird berichtet: Malmfrið, die er ,heiratete‘.43 Sie gebar ihm ,nur‘ eine Tochter: jene, die später den fragwürdigen Thronanspruch des Magnús Erlingsson begründete, dem durch Weihe und Krönung nachgeholfen werden sollte (vgl. Kap. 1). Ihre Bedeutung wird durch die Nennung ihrer Verwandten deutlich, die direkt auf die Borghild-Episode folgt: Enkelin des letzten Angelsachsenkönigs Harald Godwineson und des Sveakönigs Ingi, Tochter des Nowgoroder Fürsten Mstislaw (r. 1125–1132), über ihre Schwester verschwägert mit Knut Lavard in Dänemark und damit der Königslinie der Waldemare. Nach Sigurðs Tod scheint 42 Bagge, Society and politics (1991), 292. Ich nehme vielmehr an, dass Snorri Óláfs vielleicht kluges, aber doch wenig renommables Zurückstecken als so unvereinbar mit ,seiner‘ Darstellung des Königs empfand, dass ihm keine andere Wahl blieb. Im Gegensatz zu den ,hagiographischer‘ orientierten anderen Olavssagas der Zeit um 1200 tritt bei Snorri der prospektive Heilige ganz hinter dem forschen, zuweilen übermäßig harten Wikingkönig zurück, so dass er nicht einmal wie jene ersatzweise auf Olavs Triumph über den Versucher verweisen konnte. 43 Mss c. 20: fekk „bekam“ + Genitiv.
Der Agon der Frauen
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Malmfrið in Norwegen geblieben zu sein. Auf das Verhältnis zwischen ihr und Borghild, Königinwitwe und Königsmutter, lässt sich vielleicht aufgrund der Spannungen schließen, die aus derselben Konstellation nach dem Tod Olavs des Heiligen berichtet werden. Der Rangstreit der beiden Frauen am Hofe des neu etablierten Olavssohns Magnús, der sich in Fragen der Sitzordnung und des Redetons äußerte, ist durch Skaldenverse als Gegenstand allgemeinen Interesses um 1035/40 ausgewiesen44. Noch heftiger wurde der Wettstreit, wenn mehrere Frauen nachfolgefähige Söhne hatten. Es sei in nordeuropäischem Zusammenhang aus derselben Zeit nur an die Frauen Knuts des Großen erinnert: Emma, die Witwe von dessen glücklosem angelsächsischem Vorgänger Æthelred, die er nach beendeter Eroberung Englands wohl vor allem aus Rücksicht auf ihre Herkunft aus der normannischen Herrscherfamilie zur Frau nahm und die sich nach Auskunft des Encomium Emmae reginae zuvor das alleinige Nachfolgerecht ihrer gemeinsamen Kinder zusichern ließ45, und neben ihr Ælfgifu, die Tochter eines im Danelagh begüterten Magnaten mit Verschwägerung nach Dänemark.46 Von einer Zurücksetzung der concubina, wie das Encomium Ælfgifu nennt, kann keine Rede sein; als Regentin für ihre als Vizekönige in Knuts ostseeslawischem und im norwegischen Einflussgebiet eingesetzten jungen Söhne machte sie erheblich selbständiger Politik als die regina Emma, und nach Knuts Tod 1035 lancierte sie mit großem Erfolg eben doch ihren Sohn Harald als Nachfolger, während Emma nur noch regional Unterstützung fand. Die erfolglose Königin, die bereits zuvor vergeblich zugunsten ihrer Söhne konspiriert hatte (während ihre Söhne aus der Verbindung mit Æthelred, darunter der spätere Eduard der Bekenner, völlig aus dem Spiel zu sein schienen), sah sich in der Folge von Ælfgifus Sohn Harald des Kronschatzes beraubt und ins flandrische Exil vertrieben; nur dessen früher Tod brachte Emmas Sohn auf den englischen Thron und die Königsmutter nach England zurück. Ælfgifus Spur verliert sich um diese Zeit. Es gibt kein direktes Zeugnis über das Nebeneinander der beiden Frauen zu Lebzeiten Knuts oder danach. Doch angesichts der systematischen Diffamierung der Konkurrentin in dem wohl kurz nach 1040 zu datierenden Encomium Emmae reginae, in dem Harald unter anderem als ein der kränkelnden Konkubine untergeschobener Sohn einer Haussklavin bezeichnet wird47, besteht kein Zweifel an der Schärfe der Rivalität der beiden 44 MsG c. 8; 10; vgl. oben, Kap. 1. 45 Gesta Cnutonis regis/Encomium Emmae reginae (in: SM, Bd. 2, 375–426) II 17f. 46 Ihre Mutter trug den nordischen Namen Wulfrun; für Einzelheiten und weitere Verweise vgl. Campbell, Queen Emma and Ælfgifu (1971); Stafford, Queens, concubines and dowagers (1983); dies., Queen Emma and Queen Edith (1997); dies., The powers of the Queen (1997), 3–26. 47 Encomium III 1: eligentes sibi in regem quendam Haroldum, quem esse filium falsa aestimatione asseritur cuiusdam eiusdem regis Cnutonis concubinae; plurimorum vero assertio eundum Haroldum perhibet furtim fuisse subreptum paturienti ancillae, inpositum autem camerae languentis concubinae. Quod veratius credi potest. – In einigen Redaktionen der Angelsächsischen Chronik sowie später bei Florence of Worcester werden mit ähnlicher Absicht als Väter von Ælfgifus Söhnen ein Handwerker und ein Priester genannt; vgl. unten, Kap. 4.
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3 Der agonistische Aspekt
Frauen erst um Einfluss auf den gemeinsamen Mann und dann um die Durchsetzung ihrer jeweiligen Söhne als Nachfolger. Mehr noch, es waren in diesem Agon offenbar außer Emma und Ælfgifu keine anderen Frauen konkurrenzfähig; es ist aber wohl davon auszugehen, dass es sie um Knut den Großen gab. Ob allein die Mutterschaft zweien unter ihnen einen unausgleichbaren Vorteil verschaffte, ob es ihr politisches Gewicht im Hinblick auf Herkunft und Verbindungen war oder wie sonst die Frauen Knuts des Großen um ihre und ihrer Kinder Stellung stritten, bleibt im Dunklen. Für die Frage nach der Alltäglichkeit dieses Agons, nach den Lebensbedingungen der Frauen eines Mächtigen unterhalb der großen Momente von Nachfolge, Sturz und Aufstieg – nach jener Alltäglichkeit, die in den Quellen meist nur streiflichtartig beleuchtet wird –, ist eine Episode aufschlussreich, die Snorri vom Winterlager des Harald gilli (des erfolgreichen Prätendenten aus Irland, der Borghilds Sohn Magnús zum Verhängnis geworden war) in Bergen 1136 berichtet: Am Abend des Luciatages unterhielten sich zwei Männer, die an der Tafel des Königs saßen, und einer sagte zum König: „Herr, nun müssen wir Eurem Urteil eine Wette überlassen, die wir um zwei Fässer Honig geschlossen haben. Ich sage, dass Ihr heute Nacht bei Königin Ingiríð, deiner Frau, liegen werdet, und er sagt, dass Ihr bei Þóra Guthormsdóttir liegen werdet.“ Der König antwortete lachend: „Da wirst du deinen Einsatz wohl verlieren.“48
Der kleine Wortwechsel wäre wohl nicht berichtenswert gewesen, hätte sich aus ihm nicht Bedeutendes ergeben: Zwar standen in der Nacht wie immer die Wachen an der Kammer der Königin, doch den beiden Wettgenossen war ja bekannt, dass der König woanders schlief. Die mit diesem Trick erlangte Information war entscheidend für das Gelingen des Mordanschlags auf Harald gilli. „Du fasst mich nun aber ziemlich hart an, Þóra!“, murmelte der unter anderem vom vielen Trinken benommene König im Schlaf, als die ersten Schläge ihn trafen. „Die dich hier hart anfassen, wollen dir übler als ich!“, rief sie, doch es war zu spät.49 Der Mordplan beruhte also darauf, dass des Königs Sexualverhalten unter seinem Gefolge ein geläufiges Gesprächsthema war und 48 MsBHG c. 15: Lúcíumessu at kveldi t™luðusk við tveir menn, er þar sátu. Mælti annar til konungs: „Herra, nú h™fum vit skotit órskurð þrætu okkarrar til yðarra órslita, ok h™fum vit veðjat ask hunangs hvárr okkarr. Ek segi þat, at þér munuð liggja í nótt hjá Ingiríði dróttningu, konu þinni, en hann segir, at þér munuð liggja hjá Þóru Guthormsdóttur.“ Þá svaraði konungr hlæjandi (...): „Eigi muntu hljóta veðféit.“ – Wechsel in der Anredeform zwischen 2. Person Plural (Dual) und Singular im Original. 49 MsBHG c. 16: en konungr hafði drukkinn niðr lagzk ok svaf fast ok vaknaði við þat, er menn vágu at honum, ok mælti í óvitinu: „Sárt býr þú nú við mik, Þóra!“ Hon hljóp upp við ok mælti: „Þeir búa sárt við þik, er verr vilja þér en ek.“ Lét Haraldr konungr þar líf sitt. – Der Putsch gelang interessanterweise nur halb. Haralds angeblicher Halbbruder Sigurð slembi (,der Schlimme‘), ein Sohn von einer anderen der zahlreichen Frauen des Magnús Barfuß, hatte zwar bereits einen Teil des königlichen Gefolges hinter sich, doch seine Proklamation am nächsten Morgen scheiterte: Die Bergener waren nicht bereit, einem Brudermörder zu akklamieren, „und war er nicht dein Bruder, so gibt dir deine Herkunft nicht das Recht auf den Königsnamen!“.
Der Agon der Frauen
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die aktuellen Bevorzugungen und Zurücksetzungen zum Gegenstand von Scherzworten wurden.50 Ein wenig angestrengt mag man die Antwort des Königs auf die Wette der Tischgenossen finden, und in dieser Hinsicht wirft die Episode auch ein Licht auf den Druck, dem der Mann im Zentrum ausgesetzt war, der den Agon seiner Frauen zu moderieren hatte. Aber vor allem ist deutlich, dass man dem König diese Frage stellen konnte und dass er sie beantworten musste: Die Konkurrenz der Königsfrauen war ebenso offen wie die der Könige um eine einmal zum Gegenstand agonistischer Anstrengungen gewordene Frau. Für zweckfreie libido bleibt in einem solchen Umfeld nicht viel Raum.
50 Wie bereits ausgeführt, nehme ich für die Auskünfte der Königssagas über das 12. Jahrhundert weitgehend auch in wichtigen Einzelheiten, wie der Tod eines Königs eine ist, Faktizität an. Die wesentlichen Züge der Episode müssen allgemein bekannt gewesen sein; vgl. Saxos Schilderung um 1200 (XIV, 29,2: Haraldum amandi gratia noctu castra latenter egressum in amplexu pellicis per insidias interfecit.) Wollte man sie in Frage stellen, bliebe aber der Umstand, dass der Mordplan im Rahmen der Sagaerzählung des frühen 13. Jahrhunderts plausibel war, was das Argument nur ein wenig in der Zeit verschiebt. Ein etwa intendierter moralischer Tadel des Verlierers ist aus der Episode nicht herauszulesen.
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Der expressive Aspekt
Ingressus est ad concubinas… coram universo Israel (II Sm 16,22)
Politische Beziehungen? Die Annahme, die Verbindung des Angelsachsenkönigs Æthelred des Unberatenen (r. 978–1016) mit Emma, der Schwester Richards II., im Jahre 1002 habe der Herstellung oder Festigung langfristig guter Beziehungen zwischen der Wessex-Dynastie und den Fürsten von Rouen gedient, leuchtet einem heutigen geschichtswissenschaftlichen Fachpublikum unmittelbar ein. So etabliert ist das Wissen um den Zeichencharakter einer Eheschließung in alteuropäischen Gesellschaften, so solide flankiert auch durch die Parallelwissenschaft Ethnographie mit ihren Theoremen um den ,Frauentausch‘, dass es in der Regel keiner aufwendigen Begründung für diese Interpretation einer solchen Eheschließung bedarf. Wer hingegen heute behaupten wollte, Æthelred habe Emma zur Frau genommen, weil er ihrer körperlichen Attraktivität nicht mehr widerstehen konnte oder wollte, sähe sich – vorsichtig ausgedrückt – in eine beträchtliche Beweispflicht genommen. Dieser Beweis wäre auch schwer zu führen. Über Æthelreds Empfindungen für Emma gibt es keine Indizien, während sich die Allianz zwischen Wessex und Rouen als dauerhaft und folgenreich erwies: Nach Æthelreds Tod fanden seine Söhne mit Emma, Alfred und Eduard, in der Normandie Zuflucht und wurden dort in den ,Hof‘, das Umfeld der Herzöge, mit einiger Nachhaltigkeit integriert; die so entstandenen Bindungen ermöglichten es zwei Generationen später Wilhelm dem Eroberer, als designierter Nachfolger Eduards des Bekenners Anspruch auf das englische Königtum zu erheben und gegen mehrere Konkurrenten durchzusetzen. Auch Emmas zweite Verbindung mit Knut dem Großen (r. 1014/16 –1035), dem siegreichen Nachfolger ihres ersten Mannes in England, lässt sich entsprechend im Lichte von dessen Bemühungen um ein gutes Einvernehmen mit der Normandie verstehen. Emmas Nebenbuhlerin um Macht, Einfluss und Nachfolge im dänischen England, die concubina Ælfgifu ,von Northampton‘, könnte in ähnlichem Licht betrachtet werden. Der Hinweis auf die bedeutende Stellung ihres Vaters, des Earls Ælfhelm, in Nordhumbrien und in den östlichen Midlands sowie ihre Herkunft aus der dano-englischen Oberschicht
Politische Beziehungen?
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des Danelag1 genügt, um das Interesse des Eroberers an einem Rückhalt in dieser Region plausibel zu machen. Der Bericht der Angelsächsischen Chronik, dass nach Knuts Tod „fast alle Thegns nördlich der Themse“ sich für Ælfgifus Sohn Harald als Nachfolger aussprachen und Emmas Sohn nur der Rückhalt im westsächsischen Stammland des alten Herrscherhauses blieb2, spricht für den Erfolg dieser Strategie. Knuts zwei Verbindungen, die ,richtige‘ mit der Normannin und die von ihren Gegnern als Konkubinat diffamierte mit der Angelsächsin, erlauben also beide eine ‚politische‘ Deutung, sie drücken etwas aus – wie zuvor Æthelreds mit Emma. Wie deuten wir Beobachter sie nun? Das hängt oft stark davon ab, welcher Sorte die jeweilige Verbindung ist. Æthelred mit Emma und später Knut mit Emma erscheinen eindeutig politisch, Knut mit Ælfgifu vermutlich auch, obgleich hier schon Zweifel gesät werden, teilt uns doch schon ein Autor wie Saxo mit, dass es Knut, „von der außerordentlichen Schönheit der Frau entzückt, nach Geschlechtsverkehr mit ihr verlangte“.3 Obgleich Saxo den politischen Charakter der Verbindung im selben Satz erläutert4, sind es doch Frauenschönheit und Männergenuss, die als Movens einer Beziehung erscheinen, aus der immerhin ein Reichsverweser Norwegens und des Wendenlandes sowie ein König von Dänemark und England hervorgehen sollten. Ganz ähnlich ist es in den einflussreichsten modernen Darstellungen: Die im Gegensatz zur Ehefrau gedachten „Konkubinen“ dienten – je nach allgemein-methodischer Haltung zum Thema ,Liebe‘ – der Lustbefriedigung oder der Erfüllung emotionaler Bedürfnisse, allenfalls der Selbststilisierung im Sinne dessen, was hier als der ,habituale Aspekt‘ der Polygynie bezeichnet worden ist. Die „attraktiven jungen Frauen“ treten als eine Art Kollektiv mit tendenziell unbegrenzt vielen Mitgliedern auf, sind seriell oder simultan einem Mann zugeordnet und erscheinen allgemein als ununterscheidbar und austauschbar: sie sind „der Schwarm, aus dem der Fürst die Partnerinnen fischte, mit denen er sich seine Zeit vertrieb.“5 Selbst 1
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Für Ælfgiue Ælfelmes dohtor ealdormannes vgl. ASC E, s. a. 1036, für Ælfhelms und seiner Söhne Erschlagung bzw. Verstümmelung durch König Æthelred ebd., s. a. 1006. Vgl. Campbell, Queen Emma and Ælfgifu (1971), 69. ASC E (F), s. a. 1035: mæst ealle þa þegenas be norðan Temes 7 þa liðsmen on Lunden. Wilhelm von Malmesbury sieht sich im radikal geeinten England der Normannenzeit ein Jahrhundert später in Erklärungsnot: für Harald hätten die Dänen und die durch häufigen Handelskontakt bereits durch barbarorum mores auffallenden Londoner gestimmt, während alle „Engländer“ einen Sohn Emmas aus erster oder zweiter Ehe gewünscht hätten. Saxo X, 14,5: eximia matrone specie delectatus stupro petiit. Hier ist es die ansonsten unbelegte vorherige Beziehung von Ælfgifu/Alwiva zu Óláf Haraldsson, die letzteren, auch in anderen Belangen von Knut enttäuscht, aus England abreisen lässt; vgl. oben, Kap. 1. Duby, Frauen im 12. Jahrhundert (1999), 277. Ähnlich ebd.: „...als er [Richard I., Herzog der Normandie], Witwer der Fränkin Emma, hier und dort sein Vergnügen suchte“; ebd., 271: „[die] schönen ,Freundinnen‘, an denen jeder der Fürsten sich ergötzte“; ähnlich ders., Die Ehe in der Gesellschaft des hohen Mittelalters, in: ders., Frau ohne Stimme (1989), 7–31; ders., Was weiß man über die Liebe im Frankreich des 12. Jahrhunderts? in: ebd., 33–51.
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4 Der expressive Aspekt
in ausdrücklich dem Thema ‚Frauen und Politik im Mittelalter‘ gewidmeten Studien wird der Konkubinat als bloß „sexuelle Beziehung“ im Gegensatz zur „sozialen Angelegenheit“ Ehe verstanden (Pauline Stafford) oder rundheraus erklärt: „Es besteht natürlich kein Grund, für Liebesabenteuer dieser Art politische Motive zu suchen, weder für die festen noch die weniger dauerhaften“ (Sverre Bagge).6 Selten sind die Stimmen, die wenigstens eine gewisse Differenzierung der Wirkungsweise, des Sinns und Zwecks der Polygynie vornehmen. Régine Le Jan nennt en passant „sexuelle Gier, die Zurschaustellung von Reichtum und Macht, das Bemühen um die Vermehrung von Verbindungen und die Nachfolgesicherung“7 – den ,generativen‘ und den ,habitualen‘ Aspekt also. Auch diese Differenzierung verharrt allerdings im Kollektiven, lassen sich diese Ziele doch im Prinzip mit beliebigen Frauen erreichen. In einem Wort: Entscheidend sei, dass ein Fürst mit vielen Frauen wahrnehmbar ist, nicht, um welche Frauen es sich handelt. Wäre dies die ganze Geschichte, so könnten sich die Quellen auf Bemerkungen beschränken, die mehr oder minder dem salomonischen Vorbild folgen. Sie könnten diesem oder jenem großen Mann eine multitudo feminarum (m™rg konur, moutes femes) zuschreiben, ihn deswegen explizit tadeln oder implizit bewundern und seine polygynen Praktiken vielleicht als von lebenszeitlich bedingten Konjunkturen regiert darstellen. In der Tat sind solche Erwähnungen häufig; in den meisten Regionen Europas sind sie die Regel oder sogar die einzige Weise, in der Magnatenpolygynie überhaupt überliefert wird. Doch es gibt auch andere, detaillierte Überlieferungen; sie nennen die Beteiligten, vielleicht ihren sozialen Hintergrund, Entstehung und Ablauf der Beziehung, Meinungen und Reaktionen der Beteiligten und Beobachtenden. Im skandinavischen Material sind solche Präzisionen, wie gezeigt, häufig; in anderen Teilen Europas sind sie seltener oder gar nicht vorhanden. Die vergleichende Untersuchung darf sich aber nicht damit begnügen, diese Ungleichgewichtung zu konstatieren und aus ihr Schlüsse zu ziehen. Sie muss auch mit der Möglichkeit rechnen, ja sie zur Arbeitshypothese machen, dass die Ausführlichkeit der einen Region auch etwas über die andere, schweigsamere zu sagen hat. Vielleicht schweigen die Quellen in dieser Sache, weil es nichts zu berichten gibt; vielleicht verzichten sie aber auch darauf zu berichten, was sehr wohl zu beobachten war und hätte mitgeteilt werden können. Schon zu den bisher behandelten ,Aspekten‘, den Fragen von Nachkommenschaft, von Stilisierung, Wettbewerb, von Sieg und Niederlage erfährt man über die norwegi6
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Stafford, Queens, concubines and dowagers (1983), 67; nuancierter dies., Queen Emma and Queen Edith (1997), 73ff; Bagge, Kvinner i politikken (1989), 23: „...weder die festen noch die eher dauerhaften (hverken de faste eller de mer permanente)“ (sic – ich halte diesen Widersinn für einen Redaktionsfehler und habe ihn in obiger Übersetzung korrigiert; Bagge spricht von dem Unterschied zwischen „festen“, anerkannten Konkubinaten und Zufallsbegegnungen wie der König Sigurðs mit der Mühlenmagd). – Ich zitiere hier nur diese beiden, weil sie international führende Experten zur englischen bzw. norwegischen Geschichte der hier untersuchten Zeit sind und sich mit demselben Material beschäftigen, um so gegenteilige Sichtweisen zu der von mir vertretenen zu akzentuieren. Le Jan, Famille et pouvoir (1995), 272.
Politische Beziehungen?
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schen Könige und isländischen Häuptlinge wesentlich mehr als über die englischen, die west- oder ostfränkischen Herrscher und die Edlen Burgunds, des Rheinlandes oder Flanderns. Ganz markant wird der Unterschied, wenn es um die Individuation der Beteiligten geht: wenn nicht mehr der Umstand, dass ein Großer sich polygyn verhielt, sondern die Frauen, um die es dabei ging, im Mittelpunkt der Erzählung stehen. Hier sind die nordeuropäischen Quellen in ihrer prosopographischen Präzision europaweit einzigartig. Von Gregor von Tours bis Jan Długosz berichten die europäischen Geschichtsschreiber von einer Fürstenkonkubine bestenfalls den Namen, sie situieren ungefähr die Herkunft und nennen vielleicht den Vater – eine Nennung, die zumeist ins Leere geht, da dieser nirgendwo anders genannt wird. Der Ablauf der Beziehung wird, wenn überhaupt, eher anekdotisch als systematisch berichtet, und die ausgewählten Anekdoten sind in ihrer Wirkungsweise zumeist von der rhetorischen Gesamtanlage bestimmt. Es gibt zwei Wege, diese Eigenart zu verstehen. Entweder erklärt man sie für genrebedingt – woraus folgt, dass es die in ihnen beschriebenen sozialen Phänomene auch anderswo gegeben haben dürfte, sie aber in Ermangelung einer den Sagas entsprechenden narrativen Tradition nicht überliefert worden sind. Oder man erklärt sie für extratextuell eigentümlich – woraus folgt, dass in Regionen, in denen im Hochmittelalter andere Bedingungen herrschten als in Skandinavien, auch die Formen der Polygynie andere waren oder dass sie dort lebensweltlich genauso abwesend war, wie sie es in den Quellen ist. Wie stets, wenn zwei methodische Pole konstruiert werden, liegt der vernünftige Weg irgendwo golden in der Mitte: es ist vermutlich gleichermaßen irrig anzunehmen, dass Jón Loptssons Streit mit Bischof Þorlák sich in den Diözesen Worms oder Orléans ebenso hätte zutragen können wie in Skálholt, wie zu behaupten, dass der Kapetinger Ludwig VII. oder der Staufer Friedrich I. nicht auch die Gelegenheit gehabt hätten, eine andere Kammer aufzusuchen als die ihrer jeweiligen Königinnen, obgleich keine Quelle etwas von den Wetten berichtet, die ihre Gefolgsleute darüber abschlossen. Mit der Originarität der skandinavischen Gesellschaft des hohen Mittelalters ist also ebenso zu rechnen wie mit derjenigen ihrer Literatur, wenn man daran geht, ihre Aufschlüsse über die Frauen ihrer großen Männer mit komparatistischem Interesse zu lesen. Für meinen Teil würde ich eher von grundsätzlichen Ähnlichkeiten in der sozioökonomischen Grundierung der politischen Kulturen zwischen Polarkreis und Mittelmeer ausgehen8 und die Partikularismen vor allem im Detail, in den Ausprägungen (darunter nicht zuletzt den Formen der Verschriftlichung) sehen. Darum halte ich die hier an nordeuropäischen Fällen erarbeiteten Befunde für nuanciert übertragbar. Beim ‚expressiven‘ Aspekt geht es nun um die Frage, ob es wirklich „keinen Grund gibt, für Liebesabenteuer dieser Art politische Motive zu suchen“, und zu fragen, ob und wie weit es bei der multitudo feminarum darauf ankam, wer die Frauen waren und wie die Bindungen eingegangen wurden.
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Mit Reuter, Plunder and tribute (1985/2006), ibs. 247.
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4 Der expressive Aspekt
Was Ælfgifu bedeutet Ælfgifu von Northampton ist ein gutes Exempel. Es leuchtet uns ein, warum von ihr erheblich mehr bekannt ist als von allen anderen concubinae Knuts des Großen.9 Ihre politische Rolle und Bedeutung ist so offenkundig, dass Pauline Stafford die Beziehungen Knuts des Großen zu Emma und Ælfgifu als einen der wenigen tatsächlichen Fälle königlicher Bigamie im Hochmittelalter anspricht.10 Damit widersteht sie der Suggestion der Quellen, die letztere zur Konkubine machen wollen, provoziert aber die Nachfrage, warum Knut der Große bei der Bigamie stehenblieb. Die Antwort kann nur auf die kontingenten Umstände seiner Herrschaft verweisen: Soweit wir wissen, hatte er nur zwei derart wichtige Frauen an seiner Seite, aber nichts schließt von vornherein aus, dass es auch eine dritte und vierte hätte geben können (wie es in kleinerem Maßstab Sæmund Jónsson auf Island hielt). In den englischen Quellen des zehnten und elften Jahrhunderts findet die Binomie uxor/concubina, auf die Emma aus taktischen Motiven solchen Wert legte, fast keine Stütze. Die Terminologie des ,Konkubinats‘ ist zwar bekannt, wird aber in einer scheinbar ganz willkürlichen Weise verwendet. Willkürlich erscheint sie aber nur, sucht man nach einer kategorialen Klassifizierung. So ist es zunächst auffällig, in der Zeugenliste einer Schenkung des Königs Edmund (r. 939 – 946) an die Kathedralkirche von Rochester unter dreißig Namen zu finden: Ego Ælfgifu concubina regis affui.11 Die Präsenz der Beischläferin des Königs unter jenen, deren Namen dieser Schenkung in nomine Dei summi an den heiligen Andreas, Patron der Kirche von Rochester, besonderes Gewicht zu verleihen vermögen, wird durch ihre Placierung noch unterstrichen: Sie steht nach dem König, dessen seine Zustimmung ausdrückendem Bruder und seiner Mutter, den beiden Erzbischöfen und sechs Bischöfen, aber vor fünf duces und dreizehn ministri, dem weltlichen Gefolge des Königs. Die Zeugenliste ist mit großer Sorgfalt erstellt12, und man wird die Positionierung der concubina in einiger Distanz hinter Königsbruder und Königsmutter, aber vor allen weltlichen Großen ernst zu nehmen haben. Diese Distanz verbietet es aber auch, in dem Begriff concubina lediglich die wörtlich genommene Bezeichnung für 9 Als concubina bezeichnet Adam von Bremen, ohne sie namentlich zu nennen, die Mutter der Knutssöhne Sven und Harald (II, 74). Die Sagas bezeichnen sie mit Namen und geben ihr kein anderes Epitheton als „Mutter Svens bzw. Haralds“. Vgl. OsH cc. 239, 243 zu ihrer Politik als Regentin in Vinðland, der ostseeslawischen Küstenzone, und in Norwegen, insbesondere ihrem Anteil an der Translation Óláfs des Heiligen. 10 Stafford, Queens, concubines and dowagers (1983), 73. 11 S 514, in: Charters of Rochester, hrsg. von Campbell (1973), Nr. 28. – Diese Ælfgifu steht in keinem Zusammenhang mit den beiden Ælfgifus um König Knut drei Generationen später; der Wunschname ist wie viele Komposita aus ælf- „glückbringende Macht“ weitverbreitet. 12 Dafür sprechen die den verschiedenen Zeugen zugeordneten Verben: der zuständige Erzbischof von Canterbury „unterschreibt“, der Erzbischof von York und die übrigen Bischöfe „stimmen zu“ und die beiden Frauen – und nur sie – „sind anwesend“ (affui).
Was Ælfgifu bedeutet
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,diejenige, die des Königs Lager teilt‘, seine Gattin also, zu sehen, denn diese hätte neben Bruder und Mutter des Königs, also vor dem Klerus gestanden. Nun handelt es sich bei Edmunds hier als concubina zeugender Frau nicht um irgendeine Unbekannte, sondern um eine Königin, die ihre Grablege in der westsächsischen Königsabtei Shaftesbury fand und an deren Grab sich bald „unzählige Wunder“ ereigneten.13 Der Königsverwandte, Ealdorman und Diplomat Æthelweard nennt sie dreißig Jahre später in seiner Chronik coniux regis und regina.14 Das gebietet der Kontext ebenso wie die Umstände der Entstehung des Berichts, redigiert Æthelweard doch hier das genealogische Gedächtnis der Essener Äbtissin Mathilde. Ebenso spricht eine spätere Urkunde König Æthelreds von Ælfgifu als der verstorbenen coniux König Edmunds.15 Umgekehrt bezeichnen die Königsurkunden häufig wohletablierte Königinnen des elften Jahrhunderts wie die eingangs genannte Emma von der Normandie – erst Æthelreds, dann Knuts Frau – und Eadgyth, die Frau Eduards des Bekenners (der sich als in monastisch inspirierter Agynie lebend stilisierte16) statt als coniux oder uxor als mea collaterana und statten sie so mit einer gewissen Impräzision aus, die sogar den Garten Eden umfassen kann.17 An anderer Stelle wiederum kann es politisch geboten sein, Emma nicht nur nobilissima coniunx zu nennen, sondern auch eine komplett fiktionale regelrechte Brautwerbung beizugeben.18 Die Begriffsgeschichte stößt hier an ihre Grenzen19: Anscheinend bewegen sich Edmunds heiligmäßige concubina und coniux, 13 Fell, Women in Anglo-Saxon England (1984), 65, konstatiert lediglich, es habe in einem Fall eine concubina regis eine Urkunde bezeugt, und geht über ihre Identität hinweg. – Ich danke Peter Sawyer, jetzt Uppsala, sehr herzlich für Hilfe und Hinweise bei dieser Stelle. 14 Æthelweard, Chronicon, IV, 6. 15 S 850 (Bestätigung von Schenkungen an die Abtei Shaftesbury): coniugi sue Algife. 16 Wilhelm von Malmesbury, GRA II, 198: Illud celeberrime fertur, numquam illum cuiusquam mulieris contubernio pudicitiam lesisse. 17 So S 923 und S 943 (Æthelred 1011 und 1006/11); S 957 (Schenkung von Knut und Emma an die Abtei Evesham, 1020): collaterana und regina; S 1011 (Eduard 1045): Emma als mater regis, Eadgyth als collaterana regis; anders S 950 (Schenkung Knuts an die Kathedrale von Canterbury 1018): petitione coniugis ac reginae Ælfgyfe [=Emma, die diesen Königinnennamen in England trug]. In mehreren beinahe gleichlautenden Arengae wird Eva als Adams collaterana während des paradiesischen Zustands bezeichnet: S 788 (972); S 812 (um 970); S 948 (um 1015). DuCange, s. v. lateranus, nennt lediglich die hier nicht einschlägige Bedeutung „agnatische Verwandte“. Gewiss ist Eva seit Tertullian der zentrale Antezedent für die christliche Einehe; eine gewisse Zwiespältigkeit ist der Figur dennoch nicht abzusprechen, ebenso wie concubina und collaterana strukturell nicht weit voneinander entfernt sind. 18 So das Encomium Emmae reginae (II, 16), wo Knut nach vollendeter Eroberung Englands Boten in alle Länder ausschickt, um eine Braut zu finden; allein die sich zunächst zurückhaltend gebende virgo Emma ist gut genug für ihn – wobei textuell wie terminologisch ihre anderthalb Jahrzehnte währende Ehe mit König Æthelred unerwähnt bleibt. 19 Übrigens auch im angelsächsischen Vokabular. Clunies Ross, Concubinage (1985), 19ff., weist darauf hin, dass in den älteren angelsächsischen Rechten das Wortfeld hæman „Geschlechtsverkehr haben“ und das zugehörige Substantiv hæmed gleichermaßen für alle Bindungsformen verwendet
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4 Der expressive Aspekt
Æthelreds und Knuts collaterana und regina und Ælfgifu von Northampton, concubina, Königsmutter und Regentin Norwegens, in einem nicht von Begriffen abgesteckten Feld offener relationaler Positionsbestimmungen, innerhalb dessen es ihnen und ihren Verwandten, Freunden und Getreuen obliegt, sich das jeweils erreichbare Maximum zu sichern. Der Dänenkönig Knut trat 1014 die Nachfolge seines in England kriegerisch so ungemein erfolgreich gewesenen Vaters Sven Gabelbart an. Kaum treffender konnte er den maßgeblichen Kräften in den Teilen der Insel, in denen vor allem er auf Rückhalt hoffen durfte, seine Bereitschaft zur Kooperation signalisieren als durch die Aufnahme einer Beziehung zur Tochter des in Nordhumberland und in den östlichen Midlands begüterten Ealdorman Ælfhelm und seiner dänischen Frau Úlfrún. Der Magnat seinerseits (und mit ihm die Gruppe, für die er stand) zeigte sich, indem er seine Tochter dem Eroberer überließ oder übergab, als Anhänger des neuen Königs – und nichts berechtigt uns zu der Annahme, Ælfgifu selber habe diese Intention nicht ebenso mitgetragen wie die anderen zentralen Figuren dieser Parteiung. Damit ist über das in der heutigen Forschung so zentrale sexuelle Element oder andere die beiden Menschen Ælfgifu und Knut angehende affektive Reaktionen noch gar nichts gesagt. Wenigstens von Letzterem können wir uns ein (wenn auch reichlich spät überliefertes) Bild machen: ungewöhnlich großer Wuchs, Hakennase, helle Haut, volles Haar (er war zwanzig) und „nicht besonders klug“, wie die Knýtlinga saga mit ihrem für Nordeuropa so typischen Mangel an Dekor in der Herrscherekphrasis notiert.20 Vielleicht fanden die beiden aneinander, was die Quellen ihrer Zeit dilectio oder ástir nennen; ihre beiden Söhne sind mit etwa zehn Jahren Abstand geboren. Aber nicht darum berichten die Angelsächsische Chronik, die Skalden und die späteren Historien und Sagas von ihr und nennen ihre Herkunft (während das Encomium Emmae reginae im Dienste ihrer Nebenbuhlerin dies sorgfältig vermeidet), sondern weil sie von politischer Bedeutung war: nicht nur ex post als Mutter erfolgreicher Söhne, sondern in eigener Person. So wie späteren Chronisten, ihrem Publikum und der modernen Forschung die politische Bedeutung ihrer Beziehung zu Knut ,dem Mächtigen‘ einleuchtet, so dürfte es bereits den Zeitgenossen gegangen sein. Man verstand, was Knut sagen wollte, indem er Ælfgifu nahm, und was Ælfgifu und die Ihren meinten, als sie Knut sie nehmen ließen.
werden. Dies ändert sich gegen Ende der angelsächsischen Periode, insbesondere in geistlichen Texten (Blickling-Homilien, Martyrologien), wo unrihthæmed „unrechter Geschlechtsverkehr“ der (riht)æw „(rechten) Ehe“ (zu legitimum connubium) gegenübergestellt wird und hæmed schließlich – als Teil des Oppositionspaars mit (riht)æw – alle Formen von kirchenrechtlich oder moraltheologisch unrechten Beziehungen bezeichnete. Diese Veränderungen im juridischen Vokabular fanden allerdings weder in der Praxis noch im diplomatischen und historiographischen Material ihren umgehenden Niederschlag. 20 KnS c. 20.
Polygynie als semantisches System
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Polygynie als semantisches System Dieser ,expressive‘ Aspekt der Polygynie ist unter den hier zu behandelnden gewiss der vielschichtigste. Denn die Vielförmigkeit der mittelalterlichen Polygynie erlaubte es ihren Akteuren, sie als ein Zeichensystem zu benutzen, das die unterschiedlichsten Aussagen ermöglichte. Gerade bei diesem Aspekt nämlich kommt – wie bei allen sozialen Zeichensystemen – die Polysemie, die kontextabhängige Vieldeutigkeit der einzelnen Elemente zum Tragen, tritt der besondere Einzelfall gegenüber dem Allgemeinen, der Reihe (der salomonischen multitudo) in den Vordergrund. Im Hinblick auf die bisher untersuchten Aspekte der Polygynie: den ,generativen‘, den ,habitualen‘, den ,agonistischen‘ ist es immerhin noch möglich, jenseits der Vielgestalt ihrer Erscheinungsformen grundlegende Anliegen auszumachen: Nachfolge, Stilisierung, Konkurrenz. Dies ist nun gerade nicht der Fall, betrachtet man die mittelalterliche Polygynie unter ihrem ,expressiven‘ Aspekt als sozialsemantisches System, mittels dessen die Akteure Aussagen machen können. Zahlreiche Empfänger der Mitteilungen sind denkbar: Als Knut die Verbindung mit Ælfgifu aufnahm, signalisierte er zunächst ihr selber etwas, zugleich auch ihrer Gruppe (ihrem Haus, ihrem ,Netzwerk‘) und – soweit sich die Nachricht verbreitete – anderen englischen Magnaten, den Geistlichen des Landes, seinem eigenen Gefolge, vielleicht seinen Verwandten, Verbündeten und Gegnern in Dänemark. Die Nachricht galt aber sicherlich ebenfalls der Witwe Æthelreds und Mutter von Knuts Rivalen um die Herrschaft in England, eben jener Emma, die er einige Zeit später ,ehelichen‘ sollte, und damit ihrem Bruder, dem Normannenherzog. Weitere Empfänger sind denkbar – und es ist klar, dass die Bedeutung der Aussage sich änderte, je nachdem, wen sie erreichte. Für Emma dürfte die aggressive Nuance im Vordergrund gestanden haben: Knut zeigte seine Bereitschaft, eine im Nordosten des Landes verankerte Herrscherlinie zu etablieren, die es auf einen grundsätzlichen Konflikt mit der Wessex-Dynastie ankommen ließ. (Seine Verbindung mit Emma 1017 bedeutete hingegen den Versuch einer gütlichen Einigung mit den Anhängern der militärisch besiegten alten Linie sowie selbstverständlich ihren mächtigen normannischen und flandrischen Alliierten.) Die nordhumbrischen und mercischen Großen, deren Distanz zur Wessex-Dynastie sich mehrfach erwiesen hatte und noch erweisen sollte, dürften vor allem die Verschiebung der regionalen Machtbalance und das Versprechen künftiger Königsnähe registriert haben; in Dänemark mag eine Verlagerung des Machtgewichts nach England als wichtigster Bestandteil der Aussage aufgefasst worden sein. In diesem Sinn ist die Verbindung Knuts mit Ælfgifu zwar kein reines ,Semem‘, kein bedeutungstragendes Element eines semantischen Systems, denn sie selber war ja der Akt, mit welchem die durch ihn signalisierten Konsequenzen eingeleitet wurden: aus der Beziehung würden die potentiellen Nachfolger geboren werden, und mit ihr gewannen ihre Verwandten das Ohr des Königs. Doch ist die Beziehung Knuts zu Ælfgifu andererseits auch nicht auf solche konkreten Konsequenzen reduzierbar. Ihre Bedeutung geht über die unmittelbare Faktizität hinaus; sie kann auch als Ankündigung, Versprechen
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oder Drohung an Menschen aufgefasst werden, die persönlich überhaupt nicht berührt waren. Andere Ealdormen des Nordostens dürften, auch wenn sie zu Ælfgifus Gruppe in keinem nennenswerten Verhältnis standen, die Nachricht als ebenfalls an sie gerichtet verstanden haben, und auch Königin Emma war ja zunächst gar nicht direkt betroffen. Doch besteht kaum ein Zweifel, dass sie alle die Nachricht mit großer Aufmerksamkeit zur Kenntnis nahmen. Hätte Knut lediglich eine reizende neue Beischläferin gesucht, so wäre ihr Name kaum in die Chroniken Englands, Dänemarks und Norwegens eingegangen – es wäre allenfalls eine Notiz geblieben wie die, die Emmas Partei über die Gegnerin zu lancieren versucht: quaedam concubina regis.21 Ælfgifu ist aufgrund ihrer herausragenden Bedeutung gewiss ein Sonderfall; kaum eine andere concubina eines Königs hat ihren eigenen Artikel im Lexikon des Mittelalters.22 Einzigartig aber ist sie nicht. Bleiben wir im England des elften Jahrhunderts und betrachten die Frauen von Harald Godwineson, dem mächtigsten Magnaten des Landes unter Eduard dem Bekenner und 1066 für kurze Zeit dessen Nachfolger. Eadgifu ,die Schöne‘ (pulchra, faira, bella), mit der er vermutlich rund zwanzig Jahre lang verbunden war, erreichte an Rang nicht ganz Eadgyth, die Witwe des von Harald besiegten und getöteten Waliserfürsten Gruffydd ap Llewelyn, die der Sieger 1063 in einer an Knut und Emma erinnernden Situation zur Frau nahm. Doch obgleich wir über den familiären Hintergrund von Eadgifu pulchra nichts wissen, weist ihr beträchtlicher Grundbesitz – sie war neben den Frauen des Königs Eduard und des Earls Godwine die größte Landbesitzerin Englands – darauf hin, dass die Verbindung mit ihr für den aufsteigenden Godwineson Harald von großer Bedeutung gewesen sein dürfte. Noch auffälliger wird die Parallele zu Knuts Aufstieg um 1015, untersucht man die regionale Streuung von Eadgifus Gütern. Ihr eigener (wohl familiärer) Schwerpunkt lag im südöstlichen Nordhumberland und im östlichen Mercien (spätere Teilgrafschaften Yorkshire East Riding und Lindsey), der Westsachse Harald schuf sich ähnlich wie der auswärtige Prätendent Knut mit Ælfgifu mit dieser Verbindungen einen Rückhalt im Danelag. (Oder umgekehrt: Eadgifu und ihre Gruppe setzte auf den aufstrebenden Westsachsen.) Eadgifus Besitzungen in Südengland hingegen weisen auf Übertragung durch Harald hin23; wenn leider auch keine Quellen direkten Aufschluss darüber geben und die Frage nach der Situativität solcher Transfers des Mannes an seine „Schöne“ unbeantwortet bleiben muss, so ist doch anzunehmen, dass die Machtgeographie bei der Ausstattung dieser Königsfrau zumindest eine Rolle spielte.
21 Encomium Emmae reginae III, 1. – Um Emma in ähnlicher Weise von einer erfolgreichen Konkurrentin aus der Zeit Æthelreds abzuheben, bemüht Wilhelm von Malmesbury (GRA II, 179) sogar die Klassiker: Erat iste [König Edmund Eisenseite] non ex Emma natus sed ex quadam alia, quam fama obscura recondit (vgl. Vergil, Aeneis V, 302). In diesem Fall war die Manipulation der Fama erfolgreich: wir kennen Edmunds mater ignobilis nicht. 22 N[icholas] P. Brooks, Art. Ælfgifu v. Northampton, LdM, Bd. 1, Sp. 179f. 23 Ich folge hier der Darstellung in Meyer, Women’s estates (1991), ibs. 116–125.
Innen- und Außenpolitik: die Frauen Haralds des Harten
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Innen- und Außenpolitik : die Frauen Haralds des Harten Oder nehmen wir Harald Godwinesons glücklosen Gegner in der Schlacht bei Stamford Bridge im September 1066, König Harald ,den Harten‘ (harðráði) von Norwegen (r. 1046 – 1066), der immerhin beinahe ebenfalls englischer König geworden wäre. Das wäre für den um die Zeit ungefähr Sechzigjährigen die Krönung einer steilen Laufbahn gewesen. In seiner Jugend hatte er, als Halbbruder Óláfs des (späteren) Heiligen, zu den Verlierern der Machtkämpfe um 1030 gehört und lange Jahre in Byzanz unter den ‚Warägern‘ verbracht. Hier lernte er mutmaßlich avancierte Politik und mediterrane Militärtechniken, hier erwarb er auch das materielle und symbolische Kapital, das ihn an die Macht brachte. Als er 1046 den Griff nach dem norwegischen Königtum wagte, führte er aus Nowgorod/Hólmgarð die Tochter des Fürsten Jaroslaw, Elisabeth/Ellisif mit sich. „Er verschwägerte sich genau so, wie er es gewollt hatte“, kommentierte sein Hofskald, Stúf der Blinde: „viel Gold und eine Königstochter.“24 Beides brachte ihm, zusammen mit einer bemerkenswerten Rücksichtslosigkeit beim Seitenwechsel (Harald unterstützte zunächst den Dänenkönig Sven Estridsen in dessen Kampf gegen seinen, Haralds eigenen Neffen, Magnús, und bewegte diesen dadurch dazu, auf eine Herrschaftsteilung einzugehen) und viel Glück (im folgenden Jahr starb Magnús bei einem Unfall), die Alleinherrschaft in Norwegen ein. Zu deren Absicherung schien ihm ein weiterer Schritt angemessen: König Harald „bekam“ Þóra, die Tochter des Þorberg Árnason, im Winter nach dem Tod Magnús‘ des Guten. Sie hatten zwei Söhne. Der ältere hieß Magnús, der andere Óláf. König Harald und Königin Ellisif hatten zwei Töchter. Die eine hieß Maria, die andere Ingigerð.25
Der politische Wert dieser Verbindung lag auf der Hand: Þóras Vater war einer der sieben Árnisöhne aus dem Geschlecht der Arnmœðlingar, die im Trøndelag und in Møre die führende Rolle spielten. Þorberg selber saß auf Giske nahe dem heutigen Ålesund und kontrollierte damit den Schifffahrtsweg zwischen dem Trondheimsfjord und Südnorwegen; mächtiger noch waren seine im reichen Trøndelag begüterten Brüder. Sie hatten am Ende der Herrschaftszeit Óláfs des Heiligen unterschiedlich gewählt und einander bei der Schlacht von Stiklestad gegenübergestanden – Þorberg war einer von denen, die dort an der Seite von König Óláfs noch jungem Halbbruder Harald gekämpft hatten. Der Bruder, der damals zu den Siegern gehört hatte, befand sich inzwischen als Ergebnis der Restauration von 1035 in Landflüchtigkeit, ohne dass dies den übrigen Árnisöhnen geschadet 24 HsS c. 17, Str. 89: Mægð gat allvaldr Egða / ógnar mildr, þás vildi: / gulls tók gumna spjalli / gnótt ok bragnings dóttur. 25 HsS c. 33: Haraldr konungr fekk Þóru, dóttur Þorbergs Árnasonar, inn næsta vetr eptir en Magnús konungr inn góði andaðisk. Þau áttu tvá sonu. Hét inn ellri Magnús, en annarr Óláfr. Haraldr konungr ok Ellisif dróttning áttu dœtr tvær. Hét ™nnur Máría, en ™nnur Ingigerðr.
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4 Der expressive Aspekt
hätte, die sich der Gunst von Óláfs Sohn Magnús erfreuten. Und Þorbergs Frau – die Mutter von Þóra – war eine Tochter des südwestnorwegischen Häuptlings Erling Skjálgsson, der zeit seines Lebens mit mehreren aufeinanderfolgenden Herrschern in seiner Region von gleich zu gleich verkehrt hatte und dessen ehrloser Totschlag nach seiner Gefangennahme durch Óláf Haraldsson dessen Sturz eingeleitet hatte. Ähnlich wie König Knut mit Ælfgifu und (vermutlich) Earl Harald mit Eadgifu in England bewirkte Harald ,der Harte‘, der neue Mann im Sattel, mit seiner Verbindung zu der Magnatentochter sowohl Konkretes als auch Zeichenhaftes, ,Expressives‘. Konkret war, dass er den mächtigen Finn Árnason, den Vaterbruder seiner neuen Frau, nun als „Schwager“ ansprechen und entsprechende Solidarität erwarten durfte.26 ,Expressiv‘ war das Signal an die rogaländische Anhängerschaft des immer noch ungebüßten Erling Skjálgsson, mit dessen Nachkommen sich der neue König nun auch verschwägerte. Die im Laufe der Jahre geborenen Söhne aus dieser Verbindung waren ihren Namen nach zu Königen bestimmt und wurden auch Könige – wie zu ihrer Zeit auch Ælfgifus Söhne.27 In einer Hinsicht unterscheidet sich der ,Fall‘ Harald Sigurðarson von den ,Fällen‘ Knut der Große und Harald Godwineson. Deren exogam erheiratete Fürstentöchter folgten zeitlich auf die Verbindungen mit den Magnatentöchtern von regionaler Bedeutung und stellten sozusagen die Krönung und Absicherung der gewonnenen Herrschaft dar. Insofern passen sie in das klassische Lebenszeit-Ablaufmodell konkubinärer Beziehungen, die in die Zeit der iuventus, des Aufstiegs fallen sollen, während die auf sie folgende Vollehe diesen abschließt. Bei Harald von Norwegen ist es umgekehrt: Seine Verbindung mit Elisabeth und das, für das sie stand – neben dem „vielen Gold“ war dies vor allem das Bündnis mit der Rus’, ohne das schon Haralds zwei Vorgänger nicht hatten regieren können –, gehörte zu seinem Aufstieg; die sozial eine Nuance geringere Häuptlingstochter besiegelte seinen Sieg. Das Vokabular zeigt einmal mehr keinen Unterschied: Fürst Jaroslaw „gab“ beziehungsweise „verheiratete“ (gipti) dem Harald seine Tochter; Harald „bekam“ (fekk) Þóra, die auch als seine „Frau“ (kona) bezeichnet wird.28 Alle Worte bezeichnen dieselbe formal hochstehende Bindungsform. Der einzige Unterschied liegt in dem Epitheton dróttning „Herrin“, das Elisabeth in ähnlicher Weise beigelegt wird wie Emma das Wort regina: Ihr Vorrang war derjenige ihres Vaters vor Þóras Vater. 26 Vgl. HsS c. 45, wo König Harald seiner Vermittlung die Rettung aus einer beinahe verzweifelten politischen Sackgasse verdankt: „Mágr, ek vil nú senda þik...“ Umgekehrt profitierte auch Finn Árnason von der Verschwägerung, als er nach einem erfolglosen Seitenwechsel von Harald gefangengenommen und ins Exil entlassen wurde; ebd. c. 66. Entsprechendes ist selbstverständlich bei den meisten mittelalterlichen Fürstenehen der Fall; dort aber konnte nur ein bedeutendes Signal dieser Art auf einmal gesetzt werden, während die Polygynie eine weit größere Flexibilität erlaubt. 27 Elisabeths Töchter Maria und Ingigerð drücken mit ihren Namen den symbolischen Kapitalgewinn ihres Vaters durch ihre Geburt aus, nämlich die Verbindung zu Byzanz und zu den schwedischen Königen, von denen Elisabeths Mutter abstammte. 28 HsH cc. 17; 33; 45.
Innen- und Außenpolitik: die Frauen Haralds des Harten
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Harald behielt beide Frauen seine gesamte zwanzigjährige Herrschaft hindurch. Als er im Herbst 1066 zur Invasion Englands aufbrach, blieben Þóra und der ältere Sohn Magnús in Norwegen, während Elisabeth und die Töchter mitreisten und auf den mit Harald verbündeten Orkneys Aufenthalt nahmen. Harald zögerte auch nicht, die enge Kohabitation der beiden Frauen noch enger zu gestalten, indem er eine zumindest kirchenrechtlich recht gewagte Verbindung anbahnte (die Snorri um 1230 ungerührt und unkommentiert berichtet): Þóras Bruder Eystein – einer seiner getreuesten Gefolgsleute und in der Schlacht von Stamford Bridge sein Bannerträger – sollte Maria, eine von Haralds Töchtern mit Elisabeth, heiraten.29 Þóras Schwester Jórunn hatte der König seinem Gefährten aus den byzantinischen Abenteuern, Úlf Óspáksson, „zur Frau gegeben“, als er ihn zu seinem Marschall machte. „Er und König Harald liebten einander sehr“30, und die Einheirat in die bigam strukturierte Königsfamilie war neben der Rangverleihung ein geeignetes Zeichen dieser Liebe. Ähnlich wie König Haralds anderer Schwager (und Bräutigam seiner Tochter), Þóras Bruder Eystein, war Úlf der Marschall bis zu seinem Tod kurz vor der Invasion 1066 „der Zuverlässigste und Königstreueste“.31 Die Fälle der hier betrachteten (mindestens) bigamen Herrscher des elften Jahrhunderts zeigen, dass nach dem formalrechtlichen auch das soziale Kriterium für die Unterscheidung zwischen Ehe und Konkubinat nicht haltbar ist. Nach allgemeiner Auffassung32 ist eine Konkubine im Gegensatz zu der sozial mindestens gleich-, häufig auch höherrangigen Ehefrau in der Regel von geringerem Stand als der Mann, der sie zu sich nimmt. Diese These ist zum einen zirkulär, zum anderen nutzlos: Wenn von Fürstenpolygynie die Rede ist, so sind per Definition fast alle denkbaren Verhältnisse, die der Mann eingehen kann, hypogyner Art; außer Emma und Elisabeth konnten Knut und Harald kaum gleichrangige Frauen finden.33 Ælfgifu von Northampton oder Þóra Þorbergsdóttir standen hinter jenen kaum zurück. Angesichts der mangelnden forma29 HsS c. 87: Þá hafði Haraldr konungr heitit honum Máríu, dóttur sinni. Unsere moderne Sprache, die Bigamie nicht kennt, hat keine Vokabel für diesen Verwandtschaftsgrad; Maria ist eine Art Stiefnichte von Eystein. – Der Tod beider Männer in der Schlacht verhinderte, dass der Plan ausgeführt werden oder scheitern konnte. 30 HsS c. 37: Úlfr Óspaksson var með Haraldi konungi í miklum kærleikum. (...) Haraldr... gipti honum Jórunni Þorbergsdóttur, systur Þóru, er Haraldr konungr átti. 31 HsS c. 79 (König Haralds Grabrede auf Úlf): „dyggvastr ok dróttinhollastr“. Das zweite Glied in letzterem Kompositum zu dróttin „Herrscher“ entspricht etymologisch dem deutschen huld. 32 Vgl. Auður G. Magnúsdóttir, Frillor och fruar (2001); Ebel, Konkubinat (1993); Esmyol, Geliebte oder Ehefrau (2002); H[ermann] Reichert, Art. Nebenfrau, in: RGA, Bd. 12 (2002), 18–31, und viele andere. 33 Streng genommen ist Emma, Tochter des Normannenfürsten Richard I., mit dem Königssohn Knut nicht einmal gleichrangig, doch es besteht kaum ein Zweifel daran, dass ihre Zeitgenossen sie so betrachteten – wenn auch die Sagas Wert auf die formale Nachrangigkeit der Rúðujarlar, der „Jarle von Rouen“ aus norwegischem Magnatengeschlecht, gegenüber den Norwegerkönigen legen.
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lisierten ,ständischen‘ Gliederung der hochmittelalterlichen Aristokratien und insbesondere des Umstandes, dass die Könige ihre Stellung oft eher ihrem persönlichen Glück und Geschick als ihrem familiären Hintergrund verdankten34, wäre es ohnedies verfehlt, die Rangunterschiede zwischen den Beteiligten skalaartig vorstellbar (und fixiert) zu denken. Vielmehr dürfte der politisch-repräsentationelle Wert der verschiedenen Frauen eines Herrschers situationsbedingt geschwankt haben. Es gibt keine Indizien dafür, dass es zwischen Þóra und Elisabeth zu ähnlichen Rangstreitigkeiten kam, wie sie über die Sitzplätze der beiden Frauen Óláfs des Heiligen berichtet werden (vgl. Kap. 1), und wahrscheinlicher ist, dass sie einander im Großen und Ganzen die Balance gehalten haben. Sind die sozialen Nuancen so gering wie bei Ælfgifu und Emma oder bei Þóra und Elisabeth, kann man – unbeschadet der Tatsache, dass Knut der Große und Harald der Harte vermutlich weitere Beziehungen zu unterschiedlichen Frauen hatten – von Bigamie sprechen, wenn das Wort als ein deskriptiver Terminus (im Gegensatz zu einem Straftatbestand des zeitgenössischen Kirchenrechts) gemeint ist. Alternativ bietet sich das ethnologische Konzept der ,Mitfrauen (co-wives)‘ an35, einer polygamen Situation, in der es innerhalb der Gruppe der Frauen durchaus Rangunterschiede gibt. Auf der anderen Seite ist der Unterschied zwischen diesen Magnatentöchtern und den Hausmägden oder Bäuerinnen, mit denen sich ihre Männer ebenfalls für kürzere oder längere Zeit verbanden, so groß, dass es sich schon von daher verbietet, sie alle (im Gegensatz zu den ,Ehe‘frauen von Königsrang) unter eine sozial begründete Kategorie wie ,Konkubine‘ zu subsumieren. Hat diese wenigstens kirchenrechtlich und moraltheologisch ihren unbestreitbaren, wenn auch begrenzten Sinn, so muss eine sozial begründete Unterscheidung zwischen Ehe und Nicht-Ehe scheitern. Definiert man den Konkubinat als eine gegenüber der Ehe minder angesehene Beziehungsform und bestimmt als sein Charakteristikum die Minderrangigkeit der Frauen, mit denen ein Mann den Konkubinat einging, so wird das Tertium logisch überflüssig: Es bleibt die (zutreffende) Beobachtung, dass ein Mann Beziehungen zu höher und zu geringer gestellten Frauen aufnehmen konnte und dass verschiedene soziale Situationen zu unterschiedlichen Modalitäten führten.36 34 Harald ,der Harte‘ etwa war der Sohn begüterter Freibauern (denen post festum eine reichlich unglaubwürdige Abstammung von Harald Schönhaar angeschrieben werden musste) und baute seinen Thronanspruch allein auf die Tatsache, dass er ein Halbbruder mütterlicherseits des heiligen Óláf war. Auf die lange Reihe begabter Aufsteiger, die aufgrund einer mehr oder minder glaubwürdigen Vaterschaftsbehauptung den norwegischen Königstitel beanspruchten und gelegentlich erfolgreich verteidigten, ist in dieser Untersuchung mehrfach hingewiesen worden. 35 Vgl. Bretschneider, Polygyny (1995), passim; White, Re-thinking polygyny (1988), 529–588. 36 Zwei wesentliche soziale Kriterien, nämlich die Zustimmung der Verwandten und – damit verbunden – eventuelle Besitztransfers, sind in den Quellen nur gelegentlich fassbar. In den hier behandelten Fällen ist aber deutlich, dass sie bei den ,Konkubinen‘ ebenso wie bei den ,Ehefrauen‘ vorgelegen haben.
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Mittels Frauenübergabe Bündnisse einzugehen, ist vielleicht die offensichtlichste Funktionsweise polygyner Praxis unter ihrem ,expressiven‘ Aspekt. Sie hat, am isländischen Material erarbeitet, in den letzten Jahren in die skandinavische Geschichtswissenschaft Eingang gefunden; Auður Magnúsdóttirs Studie über Politik und Frillenverhältnisse auf Island ist so reich dokumentiert und zeigt das Funktionieren der Häuptlingspolygynie unter dem Gesichtspunkt lokaler Allianzen so überzeugend, dass es nicht nötig ist, hier weiter auf dieses dort bereits umfassend behandelten Thema einzugehen.37 Sie ist zudem meines Wissens die bislang einzige monographische Untersuchung des ‚politischen‘ Aspekts mittelalterlicher Polygynie überhaupt und als solche, wiewohl thematisch auf Island begrenzt, überregional richtungweisend. Ich möchte hier allerdings mit allem Respekt einen Einwand formulieren. Er gilt nicht der Studie und den Befunden von Auður Magnúsdóttir, sondern einer Tendenz, die sich bei ihren skandinavischen Rezipienten vielleicht stärker findet als bei ihr selber38: Die These ,Frillenverhältnisse schaffen Allianzen zwischen Familien/Parteiungen‘ wird zwar überzeugend belegt, aber mit der grundsätzlichen Gleichsetzung des Zeichens (eines Frillenverhältnisses) mit dem Bezeichneten (einem Bündnis zwischen Gruppen) wird die Möglichkeit ausgeschlossen, dass polygyne Verhältnisse – je nach einer Reihe von Umständen wie etwa den beteiligten Personen, der Art des Zustandekommens, der Dauer und der Auflösung der Beziehung, der Rolle Verwandter und eventueller Nachkommen und so weiter – unterschiedliche, womöglich weit divergierende Aussagen generieren konnten und dass die Akteure in diesem Sinne durchaus ‚Zeichen zu setzen‘ wussten. Um dies zu erläutern, soll im Folgenden ein rundes Dutzend Fälle von Polygynie auf ihr expressives Potential und die verschiedenen Gebrauchsweisen, die die Beteiligten davon machten, untersucht werden. Das ist eine recht umfangreiche Reihe, die die Geduld des gründlichen Lesers vielleicht strapaziert. Sie ist aber notwendig, soll die Behauptung ‚Polygynie war unter anderem ein Zeichensystem‘ nicht Behauptung bleiben. Wenn der linguistischen Spruchweisheit zufolge ein Zeichen keine Bedeutung, sondern nur Verwendungen hat, dann müssen möglichst viele Verwendungen untersucht werden. Die hier gebotenen sind in jedem Fall nur eine Auswahl.
37 Auður G. Magnúsdóttir, Makt och kärlek (1997); dies., Frillor och fruar (2001), ibs. 72ff. („vertikale“ Beziehungen zwischen den Territorialhäuptlingen und den zu ihnen in einer Art Klientenverhältnis stehenden Bauern im isländischen 13. Jahrhundert); Hermanson, Släkt, vänner och makt (2000), ibs. 173ff. („horizontale“ Beziehungen zwischen verschiedenen Magnatengruppen im dänischen zwölften Jahrhundert); summarisch Byock, Viking Age Iceland (2001), 132ff. 38 Hermanson, Släkt, vänner och makt (2000), 174; Auður G. Magnúsdóttir, Frillor och fruar (2001), 81.
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Eine gelungene Machtübernahme: Harald der Harte und Þóra Þorbergsdóttir (1047) Als König Harald im Sommer nach seiner Königserhebung 1046 Þóra Þorbergsdóttir zur Frau nahm, signalisierten er, sie, ihr Vater und ihre Vaterbrüder (die Árnisöhne) die Bereitschaft zur Kooperation. Der Kontext, in dem diese Aussage bedeutsam wurde, war folgender: 1035 war – nach fünf Jahren unter Knuts des Großen Sohn Sven und dessen Mutter Ælfgifu von Northampton als Reichsverweser – Magnús, der Sohn Óláfs des Heiligen, aus dem Exil in der Rus’ zurückgekehrt und allgemein als König akzeptiert worden. Zunächst steuerte er allerdings wider Erwarten einen Konfrontationskurs, der unter anderem den Árnisohn Kálf (der in Stiklestad gegen König Óláf gekämpft hatte, dann aber einer der Drahtzieher von Magnús’ Rückkehr gewesen war) ins englische Exil zwang und von dem er erst auf massiven Druck von allen Seiten abging. Die Allianz mit den übrigen Árnisöhnen war vor diesem Hintergrund nur umso wichtiger. Als sein Halbbruder Harald nun seinerseits aus der Rus’ kam und nach der Macht griff, war das Verhältnis zu Magnús trotz ihres noch rechtzeitig vereinbarten gemeinsamen Königtums ungeklärt. Es ist nicht klar, ob Haralds Verbindung mit Þóra noch zu Lebzeiten von Magnús (der im selben Jahr tödlich verunglückte) angebahnt wurde. Wenn ja, mag dies den im Lande anwesenden Árnisöhnen als Garantie für die Fortdauer ihres einvernehmlichen Königsnähe gegolten und dem exilierten Bruder Kálf vielleicht Hoffnung auf eine mögliche Rückkehr gemacht haben39; vor allem mussten aber König Magnús und seine Anhänger die Verbindung als den geglückten Versuch Haralds ansehen, das Allianzsystem seines Neffen aufzubrechen und selber zu übernehmen. Sollte die Verbindung aber zeitlich nach Magnús’ Tod liegen, so ist die aggressive Aussage nicht gegeben, und es handelt sich vor allem um das Signal, dass der neue Alleinherrscher das Allianzsystem seines Vorgängers komplett übernehmen wollte. Hinzu kommt in beiden Fällen ein gleichlautendes Signal an die südwestnorwegische Landschaft Rogaland, wo die Partei des 1028 von Óláfs Anhängern umgebrachten Erling Skjálgsson in erheblicher Distanz zu Óláfs Nachfolgern verharrte. Da Þóra über ihre Mutter eine Enkelin Erlings (und Nichte von dessen überlebenden Söhnen) war, konnte Harald keine bessere Wahl treffen, um gleich zwei potentielle Oppositionsgruppen zu „Königsverwandten“ zu machen und, wichtiger noch, es einer gesamtnorwegischen Öffentlichkeit in einer Weise mitzuteilen, die für eine solche Verbreitung der Nachricht sorgen musste, dass diese Notorietät (und nicht etwa die – bei passender Gelegenheit oft genug missachteten – Solidaritätspflichten unter „Verwandten“ selber) dem künftigen Handeln der beiden Oppositionsgruppen Beschränkungen auferlegte.
39 Harald ermöglichte ihm tatsächlich die Rückkehr; sein Tod auf einem von Haralds Feldzügen kurz darauf schien jedoch so verdächtig, dass er zum Bruch auch mit dem Árnisohn Finn führte; vgl. HsS cc. 51ff.
Eine beinahe misslungene Parteibildung: Eindriði Einarsson und Sigríð Erlingsdóttir (um 1023)
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Eine beinahe misslungene Parteibildung: Eindriði Einarsson und Sigríð Erlingsdóttir (um 1023) Welch nuancierte Äußerungen Form und Gestalt von Paarbeziehungen ermöglichte, mag ein Blick auf eine thematisch verwandte Quelle verdeutlichen. Die sogenannte ,Geschichte von Eindriði und Erling‘ ist als Bestandteil einer Fassung der Saga von Óláf dem Heiligen überliefert.40 Ihre Protagonisten sind Erling Skjálgsson, der soeben erwähnte Großvater der Þóra Þorbergsdóttir, Schwager und respektierter Gegner schon des Königs Óláf Tryggvason (r. 995–1000) und einziger verbliebener ,autonomer‘ Rivale von Óláf Haraldsson (dem späteren Heiligen, r. 1015–1028/30), sowie Eindriði, der Sohn des Häuptlings Einar ,Bogenschüttler‘41, der neben den in dieser Geschichte nicht erwähnten Árnisöhnen der mächtigste Mann im Trøndelag war. Der Inhalt der Geschichte ist folgender: Sigríð, Tochter des Erling, ist zur Erziehung einem Gefolgsmann ihres Vaters anvertraut worden, dem König Óláf eine neue Vogtei in Nordnorwegen gegeben hat. Sigríð, die in die Heimat zurückkehren will, sieht ihre Chance gekommen, als eines Tages ein Schiff vor Anker geht. Sie bittet den jungen Schiffsführer – es ist Eindriði, der Sohn des Einar Bogenschüttler – sie mitzunehmen, und dieser willigt ein. Obgleich die jungen Leute auf der Fahrt sorgfältig auf Distanz und Öffentlichkeit achten, ist Eindriðis Vater Einar empört über den Affront gegen Sigríðs Familie, und tatsächlich wird Eindriði, der das Mädchen wie versprochen zum Hof Erling Skjálgssons bringt, mit harten Worten empfangen und auf seine Behauptung hin, das Mädchen nicht genommen zu haben, zur Eisenprobe genötigt. Dies wiederum fassen sowohl Eindriði als auch (als er es erfährt) dessen Vater als Affront auf. Der Vermittlung von Sigríðs Bruder ist es zu verdanken, dass der Waffengang im letzten Moment abgewendet wird und stattdessen Sigríð dem Eindriði in aller Form zur Frau gegeben wird. Auf den faktualen Detailwert der Erzählung, deren Ähnlichkeit mit anderen spätmittelalterlichen Liebes- und Abenteuergeschichten aus vielen Teilen Europas ins Auge fällt, als Zeugnis für den Ablauf des Konflikts gegen 1023 kommt es hier zunächst nicht an. Dass er zumindest fragwürdig ist, lässt sich daran ermessen, dass in der Heimskringla Eindriði zwar eine Sigríð zur Frau hat, diese aber keineswegs mit Sigríð der Erlingstochter identisch, sondern die Tochter eines eher zweitrangigen und königstreuen Häuptlings ist. Allerdings ist Sigríð die Erlingstochter dort mit dem Bruder eines anderen nordnorwegischen Magnaten, Þórir Hund, verheiratet, der ähnlich wie Erling in Oppo40 Eindriða þáttr ok Erlings, überliefert in der Sammelhandschrift Flateyjarbók aus dem 14. Jahrhundert, hrsg. von Sigurður Nordal, Bd. 2 (1944), 284–291. Mit geringen Kürzungen liegt sie deutsch vor in: Norwegische Königsgeschichten, übertr. von Niedner, Bd. 1 (1925), 157–163, wo allerdings mehrmals die Namen der Protagonisten verwechselt werden, was das Verständnis einigermaßen beeinträchtigt. Zum Wert als Quelle für die politische Situation – nicht notwendigerweise die Einzelheiten – um 1023 äußert sich zuversichtlich Titlestad, Karmøy-konflikten (1996). 41 Þambarskelfir (Saxo X, 12,4: sagittarius Enarus); zu alternativen Erklärungen seines etwas dunklen Beinamens vgl. Saltnessand, Hva betyr tilnavnet Tambarskjelve? (1968).
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sition zu König Óláf Haraldsson stand. Demnach konnten in dem Erzählstoff, wie er zwei bis drei Jahrhunderte nach den Ereignissen kursierte, die Belegung der einzelnen Rollen zwar schwanken, doch jenseits der antiquarischen Akkuratesse war die Geschichte dennoch ,wahr‘: in allen Fällen geht es um die bekanntesten Magnaten, die in Distanz oder Gegnerschaft zu König Óláf Haraldsson standen. Was diese Geschichte nun darstellt, ist die zögerliche und nicht problemfreie Entstehung der landesweiten Koalition gegen König Óláf, die diesem erst den Sturz und dann bei seinem Rückkehrversuch 1030 den Tod (und anschließende Heiligkeit) einbringen sollte. Die Verhandlungen werden im Idiom der Polygynie geführt. Wie das geschieht, soll nun erläutert werden. Den Eröffnungszug macht Eindriði, der Häuptlingssohn aus dem Trøndelag. Der romanzenhaften Einkleidung beraubt42, liest sich die Episode so: Er reist mit einem Schiff an den recht ungeschützten Ort, an dem er die Tochter des Erling Skjálgsson aus Rogaland weiß, und ,raubt‘ sie. Ob dies mit ihrem Einverständnis geschieht oder nicht, spielt bei der Beurteilung durch das Umfeld keine Rolle43, und die Reaktion von Eindriðis Vater Einar Bogenschüttler, zu dessen Hauptsitz Gimsan im äußeren Trøndelag Eindriði mit dem Mädchen zuerst fährt, lässt an dem Ausmaß der Bravade keinen Zweifel: „Hoch willst du mit deinen Frillen hinaus, mein Sohn, wo jetzt Erlings Tochter deine Frille ist!“44 Das Problem ist ein relationales: Das bisher einigermaßen paritäre (und nicht auf die Probe gestellte) Verhältnis zwischen beiden Häuptlingen ist durch die von Eindriði nunmehr vorgenommene Umdefinition so ungleich geworden, dass Erling gar nicht umhin können wird, die Herausforderung anzunehmen und zurückzuschlagen. Es ist müßig zu spekulieren, ob der politisch unter fünf Regimes jahrzehntelang erfolgreiche Einar Bogenschüttler45 tatsächlich nicht im Voraus von dem Vorhaben seines Sohnes unterrichtet war, ob er im allerletzten Moment ein Revirement vornehmen wollte oder lediglich Wert darauf legte, dass sein Sohn scheinselbständig handelte, denn die Fiktion der Erzählung in der Flateyjarbók (dort wird Eindriði durch Gegenwind genötigt, in den Trondheimsfjord einzulaufen und bei seinem Vater das Schiff auszubessern) lässt Einar 42 Als Eindriði die ,Anhalterin‘ Sigríð zuerst nach ihrem Namen fragt, hört er ihrer Antwort nicht recht zu, da er gerade mit dem Beladen seines Schiffes beschäftigt ist, und fragt erst auf hoher See ein zweites Mal; erst dann dämmert ihm die Brisanz der Situation. 43 Vgl. die Diskussion oben, Kap. 2 und 3; als zeitgenössische Erörterung der parallele Fall in der Egils saga (cc. 32ff.), wo der Konsens des Mädchens sogar explizit ist. 44 Flateyjarbók c. 144: „Ekki hafi þér nú, frændi, lítit við um frillurnar, þar sem nú er dóttir Erlings frilla þín.“ 45 Er begann seinen Aufstieg in Allianz mit den Jarlen von Hlaðir, mit denen er sich verschwägerte, hielt dann eine respektvolle Distanz zu Óláf Haraldsson, schaffte es, während der kritischen Monate um dessen Sturz auf Seereise zu bleiben, hielt es mit den Vertretern Knuts des Großen ebenso wie mit Magnús dem Guten und fiel erst spät gemeinsam mit seinem Sohn einem Anschlag Haralds des Harten zum Opfer.
Eine beinahe misslungene Parteibildung: Eindriði Einarsson und Sigríð Erlingsdóttir (um 1023)
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einigermaßen im Schatten. Deutlich ist nur, dass Eindriði wieder aufbricht, um Sigríð nunmehr ihrem Vater zurückzubringen: ein gescheiterter Frauenraub. Auf Sola, Erling Skjálgssons Hauptsitz in Südwestnorwegen nahe dem späteren Stavanger, entscheidet man sich für eine wohlorchestrierte Konfrontation. Sigríð wird in Empfang genommen, Eindriði wortlos zwischen bewaffneten Männern bewirtet und in seine Kammer geführt, wo im Bett bereits eine Frau liegt: die verängstigte Sigríð. Die eindrückliche Inszenierung vor großem Publikum (denn gleich darauf betritt mit seinem Gefolge Erling Skjálgsson, der bisher nicht in Erscheinung getreten ist, die Kammer) macht Eindriði zum Angeklagten. Er beteuert zwar feierlich in Form einer Skaldenstrophe, dass ihm „alle Glieder des Mädchens fern waren außer dem Munde“46, aber Erling nimmt ihm nicht einmal dieses Wort ab, sondern nötigt ihn zur Eisenprobe, der er sich dann auch in aller Form (und erfolgreich) unterzieht. Dass nunmehr der vom Verdacht gereinigte Eindriði das für einen tödlich Beleidigten charakteristische Verhalten an den Tag legt, scheint dem modernen Leser unmotiviert; man muss aber bedenken, dass die Situation, in die er gezwungen worden ist, der juridischen Konstruktion entspricht, die „Selbsturteil“ (sjálfdœmi) genannt wird: Einer der Kontrahenten ist so schwach, dass er es der Gegenseite überlässt, das Urteil zu sprechen. Wenn diese die Situation ausnutzt, um eine Maximalforderung durchzusetzen, statt nun ihrerseits Konzilianz zu demonstrieren, so bedeutet dies, dass sie sich im Vollbesitz der Macht sieht. Männer, die sich so verhalten, wie es Sigríðs Vater Erling hier also getan hat, nennen die Sagas ójafnaðarmenn, wörtlich „Un-Vergleichs-Männer“: sie lassen blanke Macht durchscheinen, statt auch nur den Anschein von Parität zu wahren, und zwingen die andere Seite damit zum Offenbarungseid: es bleibt ihr nur noch der maximale Einsatz und dann Sieg oder endgültige Niederlage. In Sola weiß man, was es beide Seiten kosten wird, wenn Eindriði (und unweigerlich sein Vater) den maximalen Einsatz machen – und auch, wer der lachende Dritte sein würde, König Óláf nämlich. Erlings Sohn Skjálg, der gegenüber Eindriði von allen am ehesten in einer paritären Position ist, unternimmt einen Vermittlungsversuch. Beide Seiten sind, wie sogleich deutlich wird, zum Einlenken bereit und sehen ein, dass Eindriði als Ausgleich für „Erpressung und Herabwürdigung“47 nun Sigríð behalten muss. Doch die präzisen Modalitäten auszuhandeln, ist sehr schwierig: Bittet Eindriði ihren Vater um sie, bietet dieser sie ihm an, oder – worauf man sich am Ende einigt – übernimmt ihr Bruder das Anbieten? So kommt die Einigung zustande, und Eindriði fährt wieder nordwärts. 46 Skj I B 285: Mér kom, mundar fúra, / meyjar hold í eyju, / fátt segir hit réttra, / fjarra allt nema varrar. 47 Þr™ngving zu þr™ng „eng“, also der Umstand, dass Erling Eindriði in eine ausweglose Situation gedrängt (selbes Etymon), ihm die Möglichkeit zur Initiative genommen (und ihn damit, Clovers Theorie über die Geschlechterordnung zufolge, entmännlicht) hat; mœða, eigentlich „Entkräftung, Ermattung“ (hier unüblicherweise in einer transitiven Konstruktion gebraucht), die man Eindriði angetan hat; svívirðing „Schand-Würdigung“, die – so sagt Skjálg nun – durch eine gleichwertige virðing „Würdigung“ ausgeglichen werden muss.
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Noch auf dem Weg aber begegnet er einer beeindruckenden Flotte, in der er seinen Vater findet, der bereits unterrichtet ist und sich aufgemacht hat, „heißes Eisen mit kaltem zu vergelten“.48 Eindriði beschreibt in deeskalierender Absicht Punkt für Punkt die einzelnen Bestandteile der Einigung, doch weder die anfängliche Geldzahlung noch die Überlassung Sigríðs können seinen Vater zunächst von der Fortsetzung des Kriegszugs abhalten; erst als er erfährt, dass die Gegenseite sie ihm schließlich von sich aus angeboten hat, ändert das die Sache. Die Flotte fährt zwar weiter, um zu demonstrieren, dass Erling eine kluge Entscheidung getroffen hat, aber nun kommt es statt zum Konflikt zur Allianz – jener Allianz, die Óláf Haraldssons Sturz einleiten wird. Der Blick auf diese Episode erweist zweierlei. Zum einen wird deutlich, welch differenzierte Aussagen die soziale ,Rede‘ vermittels polygyner Praxis49 ermöglichte. Derselbe Handlungsverlauf generierte abhängig von Akteuren und Kontext nacheinander unterschiedliche, ja gegensätzliche ,Aussagen‘; was als Herausforderung begann und als gescheiterter Konfrontationsversuch weiterging, verwandelte sich in ein Bündnis, das aber zur selben Zeit an anderem Ort (durch den noch nicht auf den letzten Stand der Dinge gebrachten Einar Bogenschüttler) immer noch als Konflikt verstanden wurde. Welche Deutung sich durchsetzte, konnte von feinen Details abhängen. Außerdem zeigt die Episode, dass die ,Rede‘ vermittels polygyner Praxis eine sehr zweckmäßige Kommunikationsweise war. Ist das Mittelalter eine „Kultur der Gesten“50, so sind gestische Abläufe, die auf die Frauen einer Gruppe zentriert sind, wie wenige andere geeignet, das Gewicht der mit ihnen gemachten Mitteilungen zu unterstreichen. Dies gilt vielleicht in besonderem Maße für eine Kultur wie die nordische, die die Meisterschaft in der epigrammatischen Replik schätzte und zugleich eine Kunst der differenzierten Wortlosigkeit perfektionierte, die den komportamentalen Stoizismus auf die Spitze trieb51 und in der die schärfste Form gestischen Ausdrucks es war, gar nichts zu tun (was unweigerlich dazu führte, dass die Beobachtung von Gesichtsfarbe oder Schwellung der Nackenmuskeln eines Mitmenschen überlebenswichtig wurde). In einer solchen 48 „Þótt þú hafir heitt járn borit ok brennt hold þitt, þá munda ek vilja, at sumir bæri kalt járn í holdi sér.“ 49 Es ist in dieser Episode zwar nur von einer Frau die Rede, aber durchweg ist die Möglichkeit mitzudenken (die einmal von Einar Bogenschüttler, der von „deinen Frillen“ spricht, auch expliziert wird), dass es neben Sigríð noch andere geben könnte. Nicht einmal die formal hochstehende „Hochzeit“ (brúðhlaup) am Ende schließt, wie König Haralds Beispiel zeigt, konkurrierende Beziehungen für die Zukunft aus. 50 Le Goff, La civilisation de l’Occident médiéval (1964), 440. 51 So etwa in der eindrücklichen Schilderung von Halldór Snorrason, einem Weggefährten Haralds des Harten in Byzanz (HsS c. 36): „Von allen von Haralds Männern konnte man es ihm am wenigsten ansehen, wenn etwas Schreckliches passierte; ob es Lebensgefahr war oder gute Nachrichten kamen oder was in gefährlichen Situationen auch geschah, war er darüber weder mehr noch weniger heiter. Nie schlief er mehr oder weniger oder aß und trank anders, als er es gewohnt war.“ Der Einschärfung dieses Ideals dienen auch die zahlreichen berühmt-berüchtigten Scherzworte bei Verstümmelung oder Totschlag am eigenen oder gegnerischen Leib; vgl. Miller, Emotions (1992).
Eine ,unproduktive‘ Mitteilung: Waldemar der Sieger und Helena Guttormsdatter (um 1200)
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Kultur ist die Weiterentwicklung nicht nur verbaler und gestischer, sondern sogar praktischer Zeichensysteme vielleicht notwendiger als anderswo; die Möglichkeit, Polygynie zu semantisieren, ergibt sich aber auch ohne diese regionaltypische Verschärfung aus der zentralen Bedeutung der Frauen für die Gruppe: Alle Beteiligten und das landesweite Publikum wussten, dass die Dinge ernst wurden, wenn sie ins Spiel kamen. Noch Jahrhunderte später, als die Episode um Eindriði und Sigríð längst Geschichte war, war sie als Repräsentation der Gegenwart eine produktive Verständigungsweise. Die Königssagas entstanden (und waren aktuell) in einer Zeit, da König Hákon Hákonarson, nach Beseitigung fast aller konkurrierender Prätendenten um die Festigung seiner Alleinherrschaft bemüht, mit dem einzigen verbliebenen Rivalen, dem Jarl oder ,Herzog‘ Skúli Bárðsson, ein Arrangement finden musste. Für eine Weile hielt die durch Verschwägerung bekräftigte Allianz, bis es nach mehreren brisanten, im letzten Moment entschärften Situationen doch zum Konflikt kam (dem unter vielen anderen Snorri Sturluson, der Verfasser der Heimskringla, zum Opfer fiel). Auch diese Konflikte wurden ausweislich der ,Gegenwartssagas‘ gelegentlich vermittels polygyner Praktiken ausgetragen.52 Sind die Sagas nicht nur Lehrbücher für werdende ,Politiker‘, sondern in einem umfassenderen Sinne Formalisierungen von Welterklärung53, so statteten die Erzählungen über das elfte Jahrhundert die nicht unähnlich gelagerten Parteienkämpfe des 13. Jahrhunderts mit einem überzeitlichen, aber nicht geschichtslosen Sinn aus. Eindriðis Fahrt mit Sigríð, Haralds des Harten Allianz mit Þóra und seine auswärtige Ehe mit Elisabeth standen bereit, um von den Rezipienten und Akteuren späteren Epochen in neuen Zusammenhängen gebraucht zu werden.
Eine ,unproduktive‘ Mitteilung: Waldemar der Sieger und Helena Guttormsdatter (um 1200) Keineswegs lässt sich in jeder überlieferten Frauengeschichte der ,expressive‘ Aspekt sehen. Als König Sigurð seine so kurzlebige wie folgenreiche Beziehung mit der singenden Mühlenmagd einging, hatte er offensichtlich nicht im Sinn, jemandem irgendetwas anderes zu signalisieren als seine königliche Präsenz. Auf der anderen Seite kann der ,expressive‘ Aspekt auch ganz in den Vordergrund treten und alle anderen Schattierungen zurückdrängen, ja, eine intendierte Aussage kann so dominierend werden, dass sie die Dynamik des semantischen Systems gewissermaßen erstickt. Im Jahre 1204 starb der dänische Magnat Esbern ,der Schnelle‘ (Snare), wie sein bekannterer Bruder, Erzbischof 52 Etwa HsH cc. 192f.: Ein Vogt Skúlis nahm die Frau eines Vertrauten des Königs „mit Gewalt“ (tók konu nauðga). König und Herzog gaben sich gleichermaßen verärgert, aber gleich im Anschluss sandte der König einen Getreuen, und mehrere Totschläge folgten. 53 Vgl. für die erste Sicht Bagge, Society and politics (1991), für die zweite Meulengracht Sørensen, Fortælling og ære (1993).
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Absalon von Lund, Angehöriger des Hvide-,Geschlechts‘ (oder besser mit Lars Hermanson: Hvide-Kollektivs), das die wichtigste Basis für den Aufstieg Waldemars I. zur Alleinherrschaft gewesen war. Die Allianz des Hvide-Kollektivs mit Knut Lavards Königslinie war beinahe familial: Waldemar war der Ziehbruder von Esbern und Absalon. Esbern nun hinterließ in dritter Ehe eine Witwe namens Helena, Tochter des schwedischen Jarls Guttorm, des Paten Knuts (VI.), des ersten Sohnes und Mitkönigs Waldemars I. Unmittelbar nach Esberns Tod nahm der regierende König, Waldemar II., die verwitwete Helena zur Frille, bevor er im folgenden Jahr eine ,dynastische‘ Ehe mit Dragomira/Dagmar, der Tochter Ottokars I. von Böhmen, einging.54 Formal ähnelt der Fall also denen der anderen hier untersuchten bigamen Könige mit dem einen Unterschied, dass die Waldemare in Dänemark das Prinzip der ,legitimen Geburt‘ als Voraussetzung für die Thronfolge eingeführt und rigoros durchgesetzt hatten. So hatte Knut, der Sohn aus der Verbindung Helenas mit König Waldemar II., keine Anwartschance. Wohl aber wurde er ähnlich wie die nachgeborenen ,legitimen‘ Söhne vom Vater mit Gütern, Titeln und wichtigen politischen Aufgaben unter anderem im neu eroberten Estland betraut.55 Der Kontext jedoch ist ein wesentlich anderer. Die Verbindung mit der Witwe seines Ziehonkels brachte Waldemar II. keine dringend benötigte Allianz ein; vielmehr dürfte sie eine Konsequenz aus der bereits seit Jahrzehnten bestehenden Allianz sein. Indem er eine Art Levirats-Konkubinat einging, signalisierte Waldemar II. zwei Jahre nach seiner Thronbesteigung, dass er an dem Allianzsystem seiner Dynastie festhielt. Sein verwandtschaftliches Verhältnis zu Helena – sie war zum einen die Tochter des Paten seines Bruders, zum anderen die Witwe des Ziehbruders seines Vaters – war kirchenrechtlich betrachtet ähnlich gewagt, wie es die Leviratsehe des Alten Bundes (Dt 25,5 –10) ja ebenfalls gewesen wäre, hätte sie der Neue Bund nicht untersagt. Es gibt allerdings keine Anzeichen dafür, dass dies Probleme mit der Kirche von Lund geschaffen hätte, deren Erzbischof Andreas Sunesen sich um dieselbe Zeit um die intellektuelle Durcharbeitung der aktuellen kirchenrechtlichen Strömungen auch in der Sexualtheologie verdient machte.56 Unklar ist, ob Helena noch in der Umgebung des Königs verblieb, nachdem dieser die Přemyslidenprinzessin geehelicht hatte57, doch die gesamte Situation sowie die herausragende Rolle ihres Sohnes machen es unwahrscheinlich, dass es zu einer Form von Verstoßung kam. In diesem Fall ist also die Aufnahme der 54 Vgl. Hans Olrik, Art. Helene, in: Dansk biografisk Leksikon (1887–1905), VII 288f.; vgl. Kræmmer, Den Hvide klan (21999). 55 Zur Laufbahn des Knut Valdemarsen vgl. Kap. 1. 56 Vgl. zuletzt Nors, Anders Sunesen (1998). 57 Helena ist als Stifterin einer Pfründe am Dom zu Linköping in Östergötland, ihrer Herkunftsregion, bekannt und dürfte gegen Ende ihres Lebens dorthin zurückgekehrt sein. Wann dies war, ist ebenso unklar wie der Zeitpunkt der Geburt ihres Sohnes Knut. Er war 1219 mit höchstens 15 Jahren alt genug, um von seinem Vater mit dem Herzogtum in Estland betraut zu werden; somit ist nicht ausgeschlossen, dass er während Waldemars Ehe mit Dagmar gezeugt wurde.
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Beziehung Waldemars II. zu Helena deutlich durch das königliche Allianzsystem bedingt und semantisch insofern ,unproduktiv‘, als es kaum einen Zweifel an diesem Umstand geben konnte. Diese Rigidität steht in einem gewissen Zusammenhang mit der relativ starken Systematisierung des Herrschaftsaufbaus der Waldemarenzeit: Es gab nicht mehr in jenem Maße ,offene‘ Situationen, die steter Verhandlung zwischen zahlreichen Akteuren – und ihrer Kommunikation durch ein semantisiertes System von Praktiken – bedurften, wie in Dänemark noch zwei Generationen zuvor und in Norwegen auch noch um 1200.
Nachverhandlungen um Statusverlust II: die Brautfahrt Óláf Haraldssons (um 1017) Eine Darstellung der Funktionsweise des ,expressiven Aspekts‘ der nordeuropäischen Polygynie kann nur exemplarisch sein: zu vielfältig sind die Ausdrucksmöglichkeiten, um eine auf Vollständigkeit abzielende ,Grammatik‘ dieses Idioms zu unternehmen. Der Blick auf die drei bigamen Könige des elften Jahrhunderts hat bereits gezeigt, wie nuanciert dieselben Handlungen unterschiedlichen Destinataren Bündnis, Herausforderung und Drohung vermitteln konnten. Die Geschichte von Eindriði Einarsson und Erling Skjálgsson hat einen Verhandlungsverlauf in seinen Etappen gezeigt und zudem die Neudeutung der Erzählung in ihren verschiedenen historiographischen Wiederverwertungen angedeutet. Einige weitere Fälle sollen die Produktivität des ,expressiven‘ Aspekts weiter erläutern und zu einer Systematisierung beitragen. Was sich zwischen Eindriði und Erling auf innernorwegischer Magnatenebene zutrug, lässt sich entsprechend bei ‚auswärtigen‘ Beziehungen zwischen Königen und Königreichen beobachten. Die längste derartige Episode in den Sagas – sie nimmt 25 Kapitel der Geschichte Óláfs des Heiligen in der Heimskringla ein und ist länger als die meisten einzelnen Königssagas – schildert die Werbung des Königs um Ingigerð, die Tochter des Schwedenkönigs Olav ,Schoßkönig‘ (r. um 980–1022), um 1017/19. Nach dem nicht ganz übereinstimmenden Zeugnis Adams von Bremen und der Königssagas58 hatte der als erster Christianisierungskönig in Svealand und Götaland gerühmte Olav mit einer Abodritin, die den nordischen Namen Ástríð erhielt und als seine „Ehefrau“ (Adam: uxor; legitima) respektive „die Herrin“ (Snorri: dróttningin) bezeichnet wird, eine Tochter und einen Sohn: Ingigerð und Anund mit dem Taufnamen Jakob, seinen Nachfolger. Mit einer concubina (Adam) respektive friðla (Snorri) hatte er eine Reihe weiterer Kinder, darunter den späteren König Emund und die Tochter Ástríð. 58 OsH cc. 69–93; Adam von Bremen II, 39; 59; III, 15; vgl. Alf Åberg, De första sveakonungarna, in: Carlsson/Rosén, Den svenska historien, Bd. 1 (1966), 191ff. – Zur besseren Unterscheidung schreibe ich hier den norwegischen Óláf in altnordischer, den schwedischen Olav in moderner Namensform; ‚Schoßkönig (Skötkonung)‘ < skattr ‚Abgabe, Steuer, Tribut; Schatz, Reichtum‘.
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Adam, zu einer wenigstens im Prinzip monogamen Darstellung des ,guten‘ Königs Olav genötigt, hatte gute Gründe, sich für die Mutter des ebenfalls ,guten‘ Nachfolgers Anund Jakob als uxor zu entscheiden, was die Mutter des ,schlechten‘ Emund (der bei Adam zwar nicht ins Heidentum fällt, aber durch seine kirchenpolitischen Neigungen nach Gnesen eine ähnlich sinistre Statur gewinnt) passenderweise zur concubina machte. Snorri erklärt in der Nachfolge Adams die slawische Fürstentochter zu einer Beutefrau, um einen ähnlichen Abstand zu der bei ihm als Schwedin bezeichneten Königin zu kreieren, den er aus rhetorischen Gründen braucht.59 Er liefert auch einen Hintergrund: Die Nebenfrau hieß Eðla („Eidechse, Natter“), war die Tochter eines „wendischen Jarls“ (also eines Ostseeslawenfürsten), war im Verlauf einer Heerfahrt geraubt (hertekin) worden und wurde „Königsmagd“ (konungs ambótt) genannt wie mehrere andere Beischläferinnen, die Königsmütter wurden (vgl. Kap. 1). Rang und Herkunft beider Frauen waren demnach gleich; der Unterschied liegt in der Weise ihres Erwerbs als Ergebnis einer Vereinbarung beziehungsweise des Einsatzes kriegerischer Überlegenheit. Auf die Kinder schlug der Unterschied nicht durch: Beide Söhne wurden nacheinander Könige in der Nachfolge ihres Vaters, und beide Töchter wurden benachbarten Herrschern gegeben: Ingigerð (Tochter der uxor) dem Jaroslaw von Nowgorod, Ástríð (Tochter der concubina) dem Norwegerkönig Óláf. Alle Herrscher und ihre jeweiligen Nachfolger betrachteten sich in der Folge als verschwägert, was beträchtliche politische Konsequenzen haben sollte. Laut Snorri war sogar die Herkunftsgruppe der „geraubten“ Slawin Eðla in dieses Bündnis einbezogen: „Der König sandte seinen Sohn Emund ins Wendland, wo er bei seinen Verwandten mütterlicherseits aufwuchs, und er blieb nicht lange beim Christentum. Die Königstochter Ástríð wuchs in Västergötland bei einem angesehenen Mann auf, der Egil hieß.“60 Hier begegnet man einer weiteren Verwendungsweise der Polygynie zu expressiven Zwecken: Jemandem ein Kind zur Erziehung zu geben, brachte diesem Königsnähe (und die vielfach belegte enge, offensichtlich affektive Bindung zu einem künftig bedeutenden Mann oder einer Frau), funktioniert aber – jedenfalls in den Sagas – zugleich als klares Zeichen der Etablierung einer hierarchischen Beziehung: „Das sagen alle, dass der, der das Kind eines anderen aufzieht, im Rang unter jenem steht.“61 Einen Widerspruch sieht Snorri anscheinend nicht darin, dass die Verwandten der „geraubten“ Königsmagd deren Sohn aufziehen. Snorris eigentliches Interesse gilt jedoch Eðlas Tochter Ástríð und deren Verbindung mit König Óláf Haraldsson von Norwegen. Auf Grundlage der „Ostlandreise-Strophen“ 59 OsH c. 94 (über die Nachfolgeregelung in Schweden): „Der eine ist von hoher Geburt und Schwede auf beiden Seiten, der andere ist ein Magdsohn und von der Abstammung her ein halber Slawe“ (annar er øðliborinn ok sœnskr at allri ætt, en annarr er ambáttar sonr ok vinðverskr at hálfri ætt). 60 OsH c. 88: Konungr sendi Emund, son sinn, til Vinðlands, ok fœddisk hann þar upp með móðurfrændum sínum, ok helt hann ekki kristni langa hríð. Ástríðr konungsdóttir fœddisk upp í Vestra-Gautlandi at g™fugs manns, er Egill hét. 61 HsH c. 39: Þat er mál manna, at sá væri ótígnari, er ™ðrum fóstraði barn. Vgl. Ármann Jakobsson, Í leit að konungi (1997), 135ff.
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(Austrfararvísur), des langen Skaldengedichtes, in dem Óláfs damaliger Sendbote Sighvat Þórðarson seine Mission beschrieben hatte, verfasst Snorri einen veritablen Abenteuer- und Liebesroman. Die Frau, um die Óláf darin wirbt, ist aber überraschenderweise nicht Ástríð – die Óláf am Ende bekam –, sondern ihre Halbschwester Ingigerð, die Jaroslaw von Nowgorod heiraten sollte und an deren Hof Óláf nach seinem Sturz im Exil lebte, bevor er 1030 seinen erfolglosen Rückkehrversuch unternahm. Wie so häufig bei Snorri stehen am Ende alle Beteiligten nicht allzu gut da. Zwar haben die Befürworter der Allianz, allen voran Ingigerð selber, den so starrsinnigen wie ungeschickten Schwedenkönig am Ende so weit gebracht, dass er – dem Druck der versammelten Freibauernschaft auf dem Uppsalathing nachgebend – seine Zustimmung zu ihrer Heirat mit Óláf von Norwegen gibt. Doch am vereinbarten Treffpunkt wartet dieser vergebens auf den Brautzug und muss erfahren, dass Ingigerð inzwischen dem Fürsten von Nowgorod verlobt worden ist. Angesichts des unweigerlich drohenden norwegischen Vergeltungszuges arrangieren die Magnaten in der westgötischen Grenzregion umgehend eine Ersatzlösung: Sie bieten Óláf die bei ihnen lebende Königstochter Ástríð an, „die nach Meinung aller Männer in keiner Hinsicht hinter ihrer Schwester Ingigerð zurückstand“.62 Der Unterschied im Rang – der auch hier wieder an Herkunft und Art der Mutter, nicht der ,Legitimität‘ der Bindungsform gemessen wird63 – soll auf zweierlei Weise kompensiert werden: Erstens legen die regionalen Häuptlinge zusammen, so dass die ursprünglich vereinbarte Mitgift (heimanfylgja) dennoch gezahlt werden kann; zweitens, so schlagen sie Óláf süffisant vor, „brauchen wir den Schwedenkönig ja nicht um Zustimmung zu fragen!“64 Mit dieser Gegenbeleidigung des Brautvaters gibt sich Óláf zufrieden, denn damit macht er einen so überraschenden wie attraktiven Punktgewinn im Agon der Könige: „Ich glaube nicht, dass sich der Schwedenkönig vorstellen kann, dass ich es wage, seine Tochter gegen seinen Willen zu nehmen!“65 Die Feierlichkeiten können beginnen. Der götländische Jarl Ragnvald übergibt (fastna) die Königstochter in aller Form, Mitgift (heimanfylgja ‚was ihr von ihrem Heim folgt‘) und Morgengabe (tilgj™f ‚Zugabe‘) wer-
62 OsH c. 91: at þat mæltu allir menn þar, at hon væri at engum hlut verr um sik en Ingigerðr, systir hennar. 63 OsH c. 94: Ingigerð ist auf beiden Seiten aus uppländischem Königsgeschlecht, „dem ranghöchsten in den Nordländern, da es von den Göttern selbst herstammt“ (af Uppsvía ætt, er tignust er á Norðrl™ndum, því at sú ætt er komin frá goðunum sjálfum – ein Bezug auf den auch von Snorri vertretenen Abstammungsmythos der Ynglinge), Ástríðs Mutter ist „eine Magd, und dazu noch eine slawische“ (er ambótt móðir hennar ok þó vinðversk). Wie die Parallelstelle über die Brüder (Anm. 59) muss die Passage vor dem Hintergrund der verschärft den nordisch-slawischen Gegensatz propagierenden Historiographie aus der Zeit der dänischen Kreuzzüge im Ostseeraum ab etwa 1160 gesehen werden; laut Adam von Bremen war ja (auch?) Ingigerðs Mutter eine filia Sclavorum. 64 OsH c. 91: „Þá vætti ek þess, at um þetta ráð spyrim vér ekki Svíakonung eptir.“ 65 Ebd.: „Eigi mun Svíakonungr þat hyggja, at ek myna þora at fá dóttur has fyrir útan hans vilja.“
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den getauscht, und „es wurde die Hochzeit (brullaup ‚Brautlauf‘) von König Óláf und Königin Ástríð mit allen Ehren getrunken“.66 Das Entscheidende, die Hochzeit mit einer Königstochter, hat Óláf erreicht; die Beleidigung, die ihm der Schwedenkönig durch den Bruch der ursprünglichen Vereinbarung zugefügt hat, ist durch die Prellung des Brautvaters getilgt. Dieser empfindet den Schlag genau so, wie Óláf von Norwegen es gehofft hat, und will Jarl Ragnvald, der „mit meiner Tochter nach Norwegen gefahren ist und sie ihm dort als Kebse überlassen hat (seldi hana til frillu, wörtlich: sie als Kebse verkauft hat)“, wegen Felonie aufhängen lassen. Doch nicht einmal dies ist ihm vergönnt; ausgerechnet die andere Tochter, Ingigerð, nun „Königin“ in der Rus’, macht Ragnvald stattdessen zum Jarl in Staraja Ladoga/Aldeigjuborg, ihrer Morgengabe von Fürst Jaroslaw. Und doch bleibt angesichts der von Snorri ohne Not betonten sozialer Nachrangigkeit (bei charakterlich-persönlicher Gleichrangigkeit) der ,Ersatzfrau‘ Ástríð zweifelhaft, ob am Ende der Norwegerkönig als Sieger dasteht. So betrachtet, erweist sich Snorris Verwendung der expressiven Möglichkeiten von Fürstenpolygynie als der agonistischen Häuptlingskultur mit ihren ,offenen‘, immer nur vorläufig lösbaren Konfliktabfolgen kongenial.67 Indem Snorri als Grundmotiv eine Episode aus den Geschichtsbüchern des Alten Testaments wählt – Sauls Versprechen, dem aufstrebenden David seine älteste Tochter Merab zur Frau zu geben, die jedoch dann einem anderem überlassen wird, worauf David die nachrangige Tochter Michal erhält (1 Sm 18,17ff.) –, verleiht er seiner eigenen diesem Zweck angepassten Geschichte nicht nur ein gewisses Maß an welthistorischer Transzendenz, sondern verstärkt durch die Gleichsetzung seiner Akteure mit Saul und David (einschließlich der unvermeidlichen Assoziationen) den politischen Kommentar.
Eine Frau in der Hinterhand: das Beuteweib und die Vatnsdal-Orkney-Allianz (um 980) Die relativ große Flexibilität des polygynen Systems, die es erlaubte, einzelne Beziehungen je nach aktuellen Bedürfnissen der unterschiedlichsten Art ruhen zu lassen, wieder aufzunehmen oder gegebenenfalls durch einen (wiederum semantisch zweckreichen) Akt wie Heimsendung oder Weitervergabe zu beenden, machte die Polygynie als Zeichensystem erheblich aussagekräftiger, als es ein monogam strukturiertes System mit prinzipiell dauerhaften Einzelbindungen sein konnte. Die Slawin, die Olav Schoßkönig erbeutete und zur Konkubine nahm und bei deren Sippe später der gemeinsamen Sohn aufwuchs, 66 OsH c. 92: var þá drukkit brullaup Óláfs konungs ok Ástríðar dróttningar með mikilli vegsemð. 67 Es ist müßig, im 13. Jahrhundert nach biographischen Parallelfällen zu der Geschichte von Óláf, Ingigerð und Ástríð zu suchen. Der ,Sinn‘ der Sagaerzählungen liegt weniger in ihrer unmittelbaren Übertragbarkeit auf lebensweltliche Erlebnisse als vielmehr umgekehrt darin, lebensweltliche Kontingenzen in ein zusammenhängendes Erklärungsmodell menschlicher Geschichte einfügen zu können.
Eine Frau in der Hinterhand: das Beuteweib und die Vatnsdal-Orkney-Allianz (um 980)
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brachte allen Beteiligten eine dauerhafte Verbindung ein, die zunächst durch Antagonismus, später offensichtlich durch Kooperation bestimmt war, ohne dass die politische Spannung sich ganz gelöst hätte.68 Mit einer aktuellen Vokabel der mediävistischen Politikforschung ausgedrückt, erweiterten alle Seiten ihre jeweiligen ,Netzwerke‘. Als König Waldemar II. die Witwe des Esbern Snare zu seiner Bettgenossin machte, bestätigte er ein existierendes Netzwerk. Der unterschiedliche Akzent beider Fälle ist deutlich: hier eine durch Waldemars Königsnamen nur oberflächlich kaschierte Quasi-Parität, dort ein relativ großes Machtgefälle. Als die Familie der Vatnsdœlingar auf Island gegen Ende des zehnten Jahrhunderts transmarine Ambitionen entwickelte und sich um Kontakte nach Orkney bemühte, wurde das ursprüngliche Handicap des kürzlich nach erwiesener Bravour mit der Zieraxt im Wege der Geschlechtsleite kooptierten Magdsohns Þorkel ,Krabbler‘69 zum Pluspunkt. Durch Fürsprache eines Mittelsmanns ins Gefolge des Orkneyjarls Sigurð eingeführt, erwirbt er sich dessen Aufmerksamkeit, als endlich einmal die Rede auf seine Familie kommt („denn von nun an stieg Þorkel in der Wertschätzung des Jarls“), und dann seinen Respekt, als er im Verlauf einer Heerfahrt nach Schottland eine so mutige wie einträgliche Eigeninitiative durchführt: „Ich vermute, dass deine Verwandten noch viel Ehre durch dich haben werden.“70 Die Ansippung ist gelungen. Ihre Voraussetzung war die Bereitschaft des Jarls, in der ihm genannten Mutter des Neuankömmlings – die in der Saga zuvor nur als eine frilla namens Nereið in Erscheinung getreten ist – eine Verwandte wiederzuerkennen.71 Die so eingegangene Versippung verpflichtet den Jarl darauf, Þorkel bei seiner Heimreise unter anderen Geschenken einen Goldring von ½ Mark Gewicht als beeindruckenden Freikaufspreis für dessen Mutter sowie eine vollständige hochwertige Frauenkleidung und -ausstattung mitzugeben „um ihrer Verwandtschaft willen“.72 Die Investition macht sich bezahlt: Von einer umgehenden Rückkehr Nereiðs in die Heimat ist nicht die Rede, und so dürfte sie nach dem baldigen Tod ihres Mannes und früheren Besitzers als eine Art 68 Es dürfte nicht mehr zu klären sein, auf welche lebensweltlich existenten Frauen des frühen elften Jahrhunderts die einander widersprechenden Angaben bei Adam und Snorri sich beziehen: bei Adam gibt es eine uxor, die filia Sclavorum de Obodritis ist, und eine unspezifizierte Konkubine; bei Snorri sind es eine unspezifizierte „Herrin“ und eine vornehme Slawin als frilla. Der Verdacht drängt sich auf, dass Adams „Ehefrau“ und Snorris „Nebenfrau“ dieselbe Person sind. Doch für die hier vorgenommene Interpretation ist die Frage so unlösbar wie unbedeutend; Gegenstand der Diskussion können nur die von den jeweiligen Berichten konstruierten Figuren und ihre Kontextualisierung sein. In diesem Sinne ist „Eðla“ eine durch Raub an den Schwedenkönig gekommene Slawin mit vornehmer Familie. 69 Vatnsdœla saga cc. 37 und 42; vgl. oben, Kap. 1. 70 Ebd. c. 43: Jarl jók þá virðing hans (...) „Þess væntir mek, at frændum þínum verði sœmð at þér.“ Zu den „Verwandten“ zählt der Jarl, der Þorkel schon zuvor als frændi angesprochen hat, sich selber. 71 In der Njáls saga (c. 89) erscheint Nereið als die Schwester des Jarls Sigurð. 72 Ebd.: Gullhring sendi hann Þorgrími [ihrem Besitzer, Þorkels Vater] til frelsis Nereiði, er vá hálfa m™rk. Nereiði sendi hann allan kvenbúnað góðan fyrir frændsemi.
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dauerndes Zeichen für die überseeische Macht im Rücken ihres Sohnes dessen nun folgenden unaufhaltsamen Aufstieg zum größten Häuptling im isländischen Nordland mitgetragen haben. Ihr Glück war es, dass der Orkneyjarl sich im entscheidenden Moment veranlasst sah, die ihm gebotene Gelegenheit zu einer Bündnisbildung nach Island zu ergreifen.73
Eine Aufsteigerfamilie: die Nebenfrau des Sigurð Haraldsson (um 1150) Netzwerkbildungen wie diese wurden von der Umgebung genau beobachtet und gegebenenfalls mit Missgunst quittiert. In dieser Hinsicht teilen die Sagas das Ressentiment, das sich ab dem zwölften Jahrhundert auch anderswo in Lateineuropa gegen jene verbreitete, die plötzlich in königliche Gunst aufstiegen – gegen „aus dem Staub erhobene Männer“ unterschiedlichster Qualifikation.74 Eine geeignete Frau anzubieten zu haben, konnte in Nordeuropa zu diesen Qualifikationen gehören; wir haben gesehen, dass der Bauer Símun, der Besitzer der reizenden Mühlenmagd, aus purem Zufall in Königsnähe aufrückte. Diese Art peculiaris amicitia konnte gerade in Kriegszeiten einen effektiven Schutz bedeuten, der hinter Instrumenten des Gottesfriedens nicht zurückstand.75 Unter normalen Umständen signalisierte sie Freund wie Feind den Schutz des Mächtigen, der eine Beziehung zu der Schwester oder Tochter des betreffenden Hauses eingegangen war.76 Man wird diesen ,Schutz‘ als keinen ungeteilten Segen für das Haus ansehen dürfen, dem er zuteilwurde. Die topographische Streuung der Häuser, in oder von denen die einzelnen isländischen Häuptlinge ihre Frauen hatten, legt die Vermutung nahe, dass auch hier die Paarbeziehung nicht Ursache, sondern eher Konsequenz – oder besser: eine Art Formalisierung – eines imparitären Verhältnisses auf politisch-ökonomischer Basis war: die Bündnis,partner‘ hatten gewissermaßen Lieferpflicht. Ähnlich verhält es sich mit den ,aus dem Staub emporgehobenen‘ Vertrauten, mit denen sich die Norwegerkönige umgaben und bei denen unmöglich zu klären ist, ob sie zu Königsfreunden wurden, weil der 73 Für lebensweltliche Korrespondenzen im 13. Jahrhundert verweise ich auf die Erörterung der Orkney-Heiratspolitik der Oddaverjar in Kap. 2. Das Thema der Verständigung der nordatlantischen Inseln untereinander – stets mit Blick auf die Möglichkeit oder Wirklichkeit einer direkten Machtübernahme durch die Norwegerkönige – war bis ins spätere 13. Jahrhundert aktuell. Ob die zeitgenössische Öffentlichkeit die hier diskutierte Episode aus der Vatnsdœla saga tatsächlich im Hinblick auf Sæmund Jónssons mühevolle Eheanbahnung mit der Tochter des Orkneyjarls Harald rezipierte, lässt sich selbstverständlich nicht einmal ansatzweise nachprüfen. 74 Zu diesem Phänomen des zwölften Jahrhunderts vgl. richtungweisend Turner, ,Men raised from the dust‘ (1988). 75 Saxo XIV, 16,7: in den dänischen Thronstreitigkeiten um 1157 wird vorausgesetzt, dass der Erzieher eines concubinarii filii von König Waldemar als einziger Landbesitzer einer Region nichts von dessen drohender Invasion zu befürchten haben wird, obgleich er auch als Berater des Gegenkönigs Sven fungiert. 76 Zu Island vgl. Auður G. Magnúsdóttir, Frillor och fruar (2001), 47–98.
Eine Aufsteigerfamilie: die Nebenfrau des Sigurð Haraldsson (um 1150)
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König eine der Ihren zur Beischläferin genommen hatte, oder ob er sie nahm, weil er mit den Ihren bereits ein enges Vertrauensverhältnis hatte. Von König Sigurð (dem König mit der Mühlenmagd) berichtet der ,Abriss der Geschichte der Norwegerkönige‘ (Ágrip af Nóregs konunga s™gum), eine der frühesten Königssagas (um 1180), folgende gegen 1150 anzusetzende Episode: Ein Mann hieß Geirstein. Er hatte zwei Söhne, Hjarrandi und Hísing, und seine Tochter war die Frille des Königs Sigurð, und sie standen in einem herzlichen Verhältnis zu ihm. Geirstein war ein sehr streitbarer und ungerechter Mann. Er war des Königs Vertrauter.77
Die moderne Übersetzung ist schwach gegenüber dem Original, in dem als die logische Konsequenz der Tatsache, dass die Tochter des Königs Frille ist, beinahe ein Liebesverhältnis zwischen Vater und Brüdern und dem König entsteht: ok þeir í kærleikum við hann.78 Geirstein muss sich der Tragfähigkeit der königlichen Liebe sicher gefühlt haben, als er folgende Initiative ergriff: Nicht weit von ihm lebte eine vornehme Witwe namens Gyða, die Schwester der Ragnhild, die Dag Eilífsson aus der Osloer Gegend geheiratet hatte. Sie war ,ein rechtes Kernweib‘ [sk™rungr mikill – eine der Frauen, die zum ‚machtvollen Geschlecht‘ gehören]. Geirstein suchte sie oft auf und wollte gern ihre Liebe (ást) gewinnen, was ihr jedoch zuwider war; da wurde er zornig ihr gegenüber und sagte, das würde sich als Fehleinschätzung erweisen.79
Nun beginnt die Schikane nach allen Regeln der Kunst: Geirstein treibt sein Vieh auf die Weiden der Witwe; er treibt ihr Vieh auf seine Weiden und verlangt von ihr Buße; Gyða sucht vergeblich Beistand; nur ein ,guter Mann aus guter Familie‘ aus der Nachbarschaft namens Gyrð ist bereit, ihr zu helfen. Sie gibt ihm einen Speer, er sucht die Begegnung mit Geirstein, der ihn noch verhöhnt – „zu hoch hat man die Knechte erhoben, wenn solche wie du sich mit mir messen wollen!“80 – und dann fällt. Die Ironie dieser Worte 77 Ágrip c. 60: maðr hét Geirsteinn ok átti .ii. sonu, Hjarranda ok Hísing, ok hans dóttir var frilla Sigurðar konungs ok þeir í kærleikum við hann. Geirsteinn var óeirðarmaðr mikill ok ranglátr, sat í trausti konungsins. 78 Þeir „sie“ ist das maskuline Pronomen 3. Pl. Nom. Das Altnordische verwendet für gemischtgeschlechtliche Gruppen das Neutrumpronomen (3. Pl. Nom. þau), die Tochter wird hier also ausdrücklich nicht mit in das ,Liebes‘-Verhältnis einbezogen. Kærleik, das z. B. in religiösen Texten caritas übersetzt, hat eine gegenüber ást (dem für Mann-Frau-Beziehungen häufigeren Wort, das auch in dieser Quelle weiter unten vorkommt) einen etwas zurückhaltenderen Charakter. Vor allem seine pluralische Verwendung (wie hier) steht oft für innige Königsnähe. Vgl. Cleasby/Vigfússon, Icelandic – English dictionary (1874), s. v. kærleik. – Weitere Bezeichnungen für diese Männer im Ágrip sind ofstopamaðr „anmaßender Mensch“ und óeiramaðr „Gewalttäter“ (wörtlich „gnadenloser Mann“, einer, der Konflikte vom Zaun bricht und durchführt). 79 Ebd.: Skammt í frá hónum bjó g™fug ekkja er Gyða hét, systir Ragnhildar, er átti Dagr Eilífssunr austan ór Vík. Hón var sk™rungr mikill. Geirsteinn ferr opt á hennar fund ok vill gjarna fá hennar ™st, en þat var ™n hennar vilja, ok þá ylmðisk hann í móti ok segr því munu vera misráðit. 80 ...at þeir hafa of dregit fram þræla, er slíkir skulu hónum jafnask.
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aus dem Munde dessen, der seinen Aufstieg an die Seite des Königs seiner Tochter verdankt, wird an das Publikum nicht verschwendet gewesen und sein Tod mit umso größerer Genugtuung aufgenommen worden sein. Gyða hält schon zwei Pferde bereit: eines für die Flucht ihres Helfers und das andere ebenfalls für ihn, „als Lohn“ (við fé); sie selber bleibt auf ihrem Hof. Aber wichtiger noch, sie hat ihm auch ein Fluchtziel gegeben: Gregóríús Dagsson. Er ist – das muss die Saga nicht sagen, da alle es wissen – Gyðas Neffe, der Sohn ihrer Schwester mit dem genannten Magnaten Dag Eilífsson. Der Neffe zögert der absehbaren Konsequenzen wegen anfangs, den hilfreichen Nachbarn (in einer anderen Version ist er Gyðas Ziehsohn81) aufzunehmen, schützt ihn dann aber vor dem Zugriff des Königs und den Repressalien der Söhne des Erschlagenen; als es hart auf hart kommt, tötet er sie sogar. König Sigurð ist nun direkt berührt – und die Symmetrie der Eskalation treibt Gregóríús Dagsson unvermeidlich an die Seite des Mitkönigs Ingi, Sigurðs Bruder (von 1139 bis 1155 regierten die drei Söhne des Harald gilli in einer gespannten Gemeinsamkeit). Dass beider Rivalität zum Ausbruch kommt, war zwar nur noch eine Frage der Zeit, nämlich ihres Erwachsenwerdens; Gregóríús Dagsson, der sozusagen gerade im rechten Moment auftaucht, wird aufgrund seines schnell offenbar werdenden politischen Geschicks zu Ingis engstem Vertrauten und Drahtzieher seines Aufstiegs zur Alleinherrschaft, der seine beiden Brüder und Mitkönige das Leben kostet. Es ist aber bemerkenswert, dass das nur eine Generation später niedergeschriebene Ágrip für den Ausbruch des zu erwartenden Bruderzwists eine polygyne Einkleidung wählt, und zwar nicht in Form einer ‚cherchez la femme‘-Episode, da die Königsfrille selber ja nicht aktiv in Erscheinung tritt, sondern in Form einer der Öffentlichkeit sichtlich plausibel vorkommenden Beobachtung der Folgen, die es für Vater und Brüder eines geeigneten Mädchens hat, plötzlich in Königsnähe zu geraten – und für jene, die sich diese Aufsteiger zu Feinden machen.
Eine neue Partei: die Töchter des Saxi í Vík (ab etwa 1095) Sehr gut sichtbar werden die unterschiedlichen Semantisierungsstrategien der Beteiligten am Fall der beiden Töchter des Saxi in Vík gegen Ende des elften Jahrhunderts. Saxi, „ein ehrwürdiger Mann im Trøndelag“82, kontrollierte mit seinem Hauptsitz Vík (heute Saksvik, 10 km östlich von Trondheim) auf einem Vorgebirge am Südufer des Trondheimsfjords den Wasser- und Küstenweg vom offenen Meer zu den agrarisch reichen Zonen im inneren Trøndelag. Als 1093 nach langer, außergewöhnlich ereignisloser Regierungszeit König Óláf ,der Stille‘ (kyrri, der Sohn Haralds des Harten von Þóra, der Häuptlings81 Mks c. 98. Der Rest der Episode ist nur aus der Morkinskinna bekannt, da die einzige Handschrift des Ágrip hier abbricht. 82 MsB c. 16: g™fugs manns í Þrándheimi. Das Verbum zum Adjektiv g™fugr „vornehm, angesehen“ ist g™fga „(im religiösen Sinn) verehren, anbeten“.
Eine neue Partei: die Töchter des Saxi í Vík (ab etwa 1095)
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schwester aus eben dieser Region) starb, verlief seine Nachfolge nicht ganz glatt. Sein einziger Sohn Magnús ,Barfuß‘ (r. 1093–1103) wurde zwar umgehend zum Alleinherrscher proklamiert, doch im Oppland entschied man sich für Hákon Magnússon, den Brudersohn des verstorbenen Königs, der bei einem dort begüterten Häuptling namens Steigar-Þórir erzogen worden war. Die Nachfolge wurde also zu einem Parteienwettkampf. Wie so oft kam dabei der Kontrolle über das Trøndelag die Schlüsselfunktion zu. Hákon, der den kürzeren Weg hatte, gelangte als erster nach Nidaros und ließ sich auf dem dortigen Eyrathing zum König proklamieren. Den nötigen Rückhalt verschaffte er sich durch beträchtliche steuerliche Zugeständnisse.83 Magnús, der mit einer Flotte umgehend ebenfalls nach Nidaros reiste, war über diesen Präzedenzfall ebenso verärgert wie über die Gesamtsituation, musste aber vor der lokalen Übermacht zurückweichen und sich ins Westland zurückziehen. Der bevorstehende Krieg wurde durch Hákons Unfalltod verhindert, worauf dessen Anhänger im Trøndelag von dem nun allein übriggebliebenen König Magnús bis ins Nordland gejagt und dort aufgerieben wurden. Dieses Vorgehen war auch für norwegische Verhältnisse ungewöhnlich hart, insbesondere als Magnús den bereits gehbehinderten alten Anführer Steigar-Þórir – er hatte fünfzig Jahre zuvor als erster Harald den Harten zum König proklamiert und muss den Zeitgenossen als eine Art lebendes Vorzeitdenkmal erschienen sein – nach dessen Gefangennahme hängen ließ. Angesichts der im Trøndelag ohnehin feindseligen Stimmung hatte der König nunmehr allen Grund, sich in der reichen Region um Verbündete zu kümmern. Saxi í Vík bot sich aus strategischen (und vielleicht weiteren, uns im einzelnen unbekannten) Gründen dafür an, und Magnús nahm seine Tochter Sigríð zur Frille.84 Die ,expressiven‘ Interessen beider Seiten sind offensichtlich: Saxi í Vík signalisierte seinen Landsleuten im Trøndelag, dass er – und mit ihm möglicherweise ein ganzer Landstrich oder jedenfalls eine größere Gruppe – die Opposition aufgab und sich mit dem Sieger verbündete. König Magnús signalisierte der Region (und darüber hinaus dem ganzen Land), dass er nach dem erfolgreichen Abschluss einer aggressiven Kampagne nunmehr Freundschaft suchte und Königsnähe bot. Praktisch erhielt das Trøndelag damit zum ersten Mal in der Geschichte des norwegischen Königtums die Möglichkeit, einen ,eigenen‘ Prätendenten aufzubauen.85 Der Sohn aus dieser Verbindung erhielt denn auch den Königsnamen Óláf. 83 MsB c. 1: Er schaffte die Landsteuer (landauragjald) sowie die zu Mittwinter fälligen Naturalleistungen (jólagjafir) ab und verzichtete auf die königlichen Anteile an vielen gesetzlichen Bußzahlungen (réttarbœtr). Nach seinem Erfolg im Trøndelag setzte er diese Politik in anderen Landesteilen fort. 84 MsB c. 16: hon var friðla konungs. 85 Óláfs Zeugung lässt sich anhand der Angaben in Mss c. 1 auf 1097/98 datieren, die Zerschlagung der Opposition auf 1095. Wann innerhalb des verbleibenden Zeitraums die Beziehung von Magnús und Sigríð begann, lässt sich nicht einmal in relativer Chronologie angeben, da die Kinder des Königs und ihre Mütter an einer Stelle (c. 16) gemeinsam abgehandelt werden. Ich halte aus den dargelegten Gründen einen frühen Zeitpunkt für plausibel; angesichts der selektiven Berichte der Sagas ist es übrigens möglich, dass der spätere (Mit-) König Óláf nicht das erste Kind aus der Verbindung war.
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Daneben werden sekundäre, aber keineswegs unwichtige Signale deutlich. Eines betrifft die Herrschaftsstilisierung des siegreichen Königs Magnús. Er war selber ein Frillensohn; die Herkunft seiner Mutter wird unterschiedlich angegeben, was bedeutet, dass die Sagas ihr einen freibäuerlichen Hintergrund zubilligen wollen, die Details sich aber verloren hatten.86 Magnús wuchs im Gefolge (hirð) seines Vaters auf und zeugte bereits knapp zwanzigjährig mehrere Kinder, nach Auskunft der späteren Historiographen mit Beutefrauen – die offenbar dem Gefolge am Königshof mehr oder minder unterschiedslos zur Verfügung standen, wenn der Fürst sie nicht als „Königsmagd“ ausdrücklich monopolisierte – und Mädchen geringer Abkunft.87 Die Magnatentochter Sigríð war die erste neue Frau an Magnús’ Seite nach dessen Machtübernahme und in einem allgemeineren, über den konkret-taktischen Anlass hinausgehend, ein Teil von dieser. Seinen polygynen cursus krönte der König dann einige Jahre später mit der durch eine massive Kriegsdrohung dem Schwedenkönig Ingi Steinkelsson abgerungenen Königstochter Margrét, deren vorwiegend semantische Funktion durch den ihr beigelegten Zunamen friðkolla „Friedensfrau“ geradezu überdeterminiert ist.88 Die Beziehung von König Magnús und Sigríð Saxadóttir hatte beträchtliche Weiterungen. Der Hauptbegünstigte war Sigríðs Sohn aus einer ansonsten unbekannten Verbindung, der nun als Kári ,Königsbruder‘ in die Sagas eingehen sollte. Er kontrollierte mit dem Hof Austrått die Einsegelung in den Trondheimfjord (eine Stellung, die später von den dänischen Königen und noch im Zweiten Weltkrieg von der Wehrmacht auf den jeweils neuesten Stand der Wehrtechnik gebracht wurde), wobei allerdings unklar ist, ob sie zum Familienbesitz gehörte oder ob der siegreiche König dem neuerworbenen Gefolgsmann ein wichtiges Königsgut anvertraute.89 Über Káris Frau Borghild war auch 86 Snorri nennt sie Jóansdóttir, Morkinskinna und Fagrskinna nennen als ihren Vater einen Árni lagi, über den aber ebenso wenig berichtet wird wie über Snorris Jón (vgl. Kap. 2). Theodricus, Historia de antiquitate regum Norwagiensium (in: Monumenta historica Norvegiae [1880], 1–68, c. 30): ex concubina natus. – König Óláfs kinderlose Hauptfrau war Ingiríð, die Tochter des Dänenkönigs Sven Estridsen. 87 Vgl. oben, Kap. 1. Ordericus Vitalis bezeichnet die Mutter des späteren Königs Sigurð des Jerusalemfahrers als Anglica captiua sed nobilis. Angesichts anderer insularer Berichte von vornehmen englischen Beutefrauen, die zu Müttern ,guter‘ Norwegerkönige werden, gerät dieses Zeugnis unter Topikverdacht, ist aber deswegen nicht gänzlich unrealistisch: Es kann ja auch sein, dass die Topik auch in der sozialen Praxis vorlag, Söhne ‚hochpreisiger‘ Engländerinnen also einen gewissen Ansehensvorteil genossen. Interessanterweise nennt Ordericus die Verbindung des Königs zur friðla Sigríð ein legal[e] conubi[um]. 88 MsB c. 15; zum Beinamen vgl. Heinskringla, Bd. 3 (1951), 228 Anm. 2. Sie hatte von Magnús keine Kinder. 89 Für letztere Möglichkeit spricht, dass Magnús’ Gegner in der Region begütert waren und der König Austrått vielleicht durch Beschlagnahme erwarb. Da eine Generation zuvor der landflüchtig gewordene Finn Arnason auf Austrått gesessen hatte, könnte schon Harald der Harte das Gut eingezogen haben. Schließlich ist es auch möglich, dass das Gut über die Verschwägerung von Finn Árnason mit Jarl Orm Eilífsson, Dags Bruder (s. u.), und über Dags Tochter Borghild an Kári kam; diese Hypothese teilt Løberg, Austråtts eiere gjennom 1000 år (1963). In jedem Fall musste es mit Billigung, vielleicht sogar auf Initiative des Königs geschehen.
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deren Vater Dag Eilífsson Teil der neuen Versippung; es handelte sich wohl um einen nachträglichen, wiederum durch Frauenübergabe bezeichneten Anschluss jenes Mannes an das neue Bündnis, der am 23. August 1103 als allerletzter das Schlachtfeld in Ulster verlassen sollte, wo König Magnús fiel. Die Verwandtengruppe überdauerte die Regierungszeit des Königs, um den sie sich gebildet hatte, und hielt noch mehrere Generationen. Auf die Bedeutung des Gregóríús Dagsson, Urenkels des hier genannten Dag Eilífsson und Enkels von Kári Königsbruder, für den Aufstieg von König Ingi um 1150 ist oben verwiesen worden; dessen Enkel Jón, der ebenfalls Austrått kontrollierte, war in die Thronstreite des 13. Jahrhunderts verwickelt und mit Herzog Skúli, dem Protektor des Snorri Sturluson, verschwägert – was, nebenbei bemerkt, ein Argument für die Glaubwürdigkeit auch der Detailangaben für diese Familie in der Heimskringla sein dürfte. Zu der Gruppe gehörte am Rande – er war im vierten Glied mit Gregóríús Dagsson verwandt – auch Erling skakki, der Machthaber in Norwegen 1162–1179.90 Von den Aktivitäten dieser Partei soll hier nur eine bemerkenswerte Initiative angeführt werden. Mit dem frühen Tod ,ihres‘ Königs Óláf, Sigríðs Sohnes, 1115 hatte die Saxi-Gruppe ihr wichtigstes Aktivum verloren, doch angesichts des fortgesetzt guten Einvernehmens der Magnússöhne, die von 1103 bis 1130 an der Macht waren, dürfte die Königsnähe fortbestanden haben. Der wirkliche Schlag kam erst im später sprichwörtlich gewordenen „Scharenwinter“ (múgavetr) 1134/35, als Harald gilli, der als Mitkönig akzeptierte vorgebliche Sohn des Magnús Barfuß von einer seiner irischen Heerfahrten, seinen Neffen Magnús stürzte.91 Nun war der Zeitpunkt gekommen, an dem die SaxiPartei einen bereits länger vorbereiteten Plan zur Ausführung brachte. Die Königsfrille Sigríð hatte eine Schwester namens Þóra und diese mit (so hieß es) einem Priester namens Aðalbrikt, dem Namen nach (~Adalbert/Æthelbriht) einem (Angel-) Sachsen, einen Sohn namens Sigurð. Der Priestersohn „wurde an die Bücher gesetzt“ und erhielt die niederen Weihen, erwies sich jedoch als auffällig stark und konfliktfreudig und erwarb sich den Beinamen „der streitbare Diakon“ (slembi djákn). Nun hörte Sigurð, dass seine Mutter sagte, sein Vater sei König Magnús Barfuß gewesen. Und sobald er über seine Angelegenheiten selbst bestimmte, verließ er den geistlichen Stand und fuhr außer Landes. Zunächst war er einige Zeit auf Fahrt. Dann reiste er nach Palästina, erreichte den Jordan und besuchte all die heiligen Stätten, die bei Pilgern üblich sind. Nach seiner Rückkehr unternahm er einige Handelsfahrten. Einen Winter beteiligte er sich in Orkney am Kampf des Jarls Harald gegen Þorkel Sumarliðason. Er war auch in Schottland bei König David [I.] und gewann dort großes Ansehen. Anschließend fuhr er nach Dänemark, und er und 90 Obgleich die Verwandtschaft allein kein Garant für praktische Solidarität war, ist doch die Wahrscheinlichkeit, dass es unter frændir zu gemeinsamem Handeln kommt, relativ groß. 91 Magnús war der Sohn von Sigurð dem Jerusalemfahrer mit Borghild (die sich der Eisenprobe unterzogen hatte, vgl. Kap. 3; sie ist nicht identisch mit der in Anm. 83 erwähnten Borghild Dagsdóttir). Er wurde von den Siegern verstümmelt und geblendet in ein Kloster eingesperrt und trägt daher den Beinamen ,der Blinde‘.
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seine Leute behaupteten stets, er habe dort im Beisein von fünf Bischöfen die Wahrheitsprobe darauf abgelegt, dass König Magnús sein Vater war.92
Man darf die Stilisierung von Sigurðs Karriere als Eigeninitiative eines ungestümen Problemkindes – die im Übrigen beinahe spiegelbildlich derjenigen entspricht, die König Sverrir in seiner Saga von seinem eigenen Aufstieg entwirft93 – sicher nicht wörtlich nehmen. Was man hier sieht, ist vielmehr das sorgfältige Training eines künftigen Prätendenten durch seine Herkunftsgruppe. Zwar kann die genaue Beachtung des Mindestalters von 25 Jahren für die Diakonatsweihe94 kaum vorausgesetzt werden, doch sie gibt einen ungefähren Anhaltspunkt, um Sigurðs ,Lancierung‘ innerhalb des Zeitraums 1120/30 anzusetzen.95 Seine Gruppe hatte ihn also bemerkenswert lange in der Hinterhand behalten, ganz offensichtlich deshalb, weil er als Königssohn nicht gebraucht wurde, solange sein ,Bruder‘ Óláf lebte und regierte. Im Gegenteil wäre es der Stabilität des Regimes ja sogar abträglich gewesen, wenn die Existenz eines weiteren Magnússohns mit Anspruch auf Beteiligung an der Herrschaft bekannt geworden wäre. Darum „nannte man ihn“ den Sohn eines englischen oder sächsischen Priesters,96 bis der rechte Moment gekommen war. Von da an erwarb er nach und nach alle Schlüsselqualifikationen. Die wohlabgewogene Mischung von Handels- und Kriegsfahrten machte ihn mit den relevanten Formen von Akkumulation und Redistribution bekannt; in den wichtigsten Nordseeländern knüpfte er nützliche Verbindungen und besorgte sich den nötigen Ausweis per Ordalium unter für ihn günstigen Bedingungen (allzu günstigen, fanden manche, die von „Lug und Trug der Dänen“ sprachen). Am wichtigsten war die Pilgerfahrt in den Orient, schließlich hatte Sigurð der Jerusalemfahrer im Anschluss an den Ersten Kreuzzug die Jordanreise – denn der Strom, nicht die ihm vorgelagerte Heilige Stadt ist in den Sagas stets das Endziel – zu einer die Königswürde befördernden Leistung gemacht.97 Besser ausgebildet war in Norwegen kaum je ein Frillensohn ins Rennen um den Königsnamen gegangen. 92 MsBHG c. 13: var settr til bókar (...) Þá kom þat upp fyrir Sigurð, at móðir hans segir, at Magnús konungr berfœttr væri faðir hans. Ok þegar er hann réð sjálfr háttum sínum, þá afrœkðisk hann klerkasiðu, fór þá af landi brot. Í þeim ferðum dvalðisk hann langa hríð. Þá byrjaði hann ferð sína út til Jórsala ok kom til Jórðánar ok sótti helga dóma, svá sem pálmarum er títt. Ok er hann kom aptr, þá dvalðisk hann í kaupferðum. Einn vetr var hann staddr n™kkura hríð í Orkneyjum. Hann var með Haraldi jarli at falli Þorkels fóstra Sumarliðasonar. Sigurðr var ok uppi á Skotlandi með Dávíð Skotakonungi. Var hann þar virðr mikils. Síðan fór Sigurðr til Danmerkr, ok var þat hans s™gn ok hans manna, at þar hefði hann flutt skírslur til faðernis sér ok bar svá, at hann væri sonr Magnúss konungs, ok væri þar við fimm byskupar. 93 SvS cc. 1–6, entstanden drei bis vier Jahrzehnte vor Heimskringla und Morkinskinna. 94 B[ernd]-U[lrich] Hergemöller, Art. Diakon, Diakonat, II: Lateinischer Westen, in: LdM, Bd, 3, Sp. 941f. 95 Magnús Barfuß starb 1103, sein Sohn mit Sigríð wurde 1098/99 geboren. Etwa in diesen Zeitpunkt müsste der Glaubwürdigkeit halber auch Sigurðs Geburt fallen. 96 Ebd.: Hann var kallaðr sonr Aðalbrikts prests. 97 Vgl. oben, Kap. 3. Snorris Schilderung von Sigurðs Reise könnte der unenthusiastischste Jerusalemfahrtbericht des gesamten Mittelalters sein.
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Es ist selbstverständlich müßig zu fragen, ob nun der König oder der Priester Sigurðs biologischer Vater war. Entscheidend ist zweierlei: Die Wahl eines ausländischen Klerikers für die alternative Vaterschaft ist insofern sehr geschickt, als sie eine Art Nullniveau der Vernetzung bezeichnet; „Adalbert“ hatte keine Verwandten und war wahrscheinlich längst wieder außer Landes. Auf der anderen Seite muss die Behauptung, König Magnús sei der Vater, ein Mindestmaß an Plausibilität gehabt, eine gleichzeitige sexuelle Beziehung des Königs zu beiden Schwestern also als allgemein glaubhaft gegolten haben. Das Haus des Saxi í Vík stand, seit Sigríð eine Königsfrau war, im Mittelpunkt des regionalen Interesses; man registrierte, was dort vorging; wir dürfen mit dieser Möglichkeit also auch ,tatsächlich‘ rechnen.98 Vielleicht lag Saxi í Vík an einer Absicherung seiner neuen Königsnähe durch gleich zwei Töchter. Das Verbot der sororalen Polygynie gehört zum Kernbestand der kirchenrechtlichen Inzestregelungen und ist auch in Nordeuropa spätestens im 12./13. Jahrhundert rezipiert worden.99 Eine Praxis, die unter der Feder des Gregor von Tours bereits bei den Merowingern als Verstoß gegen eine gleichermaßen jüdisch-christlich wie klassisch-römisch geprägte, im Laufe des Mittelalters zum Tabu stabilisierte Widerwärtigkeit gegolten hatte100, stellte um 1100 in Norwegen offenbar kein Problem dar. Jedenfalls wird auf den Umstand, dass König Magnús zu zwei Schwestern (vermutlich zu gleicher Zeit) sexuelle Beziehungen unterhielt, nicht insistiert, aber er wird auch nicht verschleiert. Sigurðs Griff nach dem Königtum, momentan erfolgreich, scheiterte gründlich, und seine Marterung durch die Sieger ist die ausgedehnteste Grausamkeit der gesamten Sagaliteratur, doch es gibt nicht einen Hinweis darauf, dass seine Gegner irgendwelchen propagandistischen Gebrauch von seiner ,sündhaften‘ Geburt gemacht hätten.101 Auch 98 Das heißt nicht, dass Sigurð wohl ,tatsächlich‘ der Sohn des Königs war. Vielleicht konnte nicht einmal Þóra selber mit Bestimmtheit sagen, wer Sigurðs Vater war. 99 Z. B. Älteres Gulathingsrecht §24; Älteres Frostathingsrecht III §3: Mit Friedlosigkeit steht die Höchststrafe auf den Beischlaf mit der systir konu manns. Das Alter der einzelnen Bestimmungen der Landschaftsrechte ist umstritten, um 1200 lagen sie jedoch vor. Wesentlich für den hier diskutierten Zusammenhang ist, dass in der Heimskringla König Hákon der Gute (934–961) als ihr Rechtssetzer gilt, Magnús Barfuß in der Erzähllogik also an das weltliche wie das kirchliche Verbot gebunden war. 100 Gregor von Tours, Historiae IV, 3; Verbot der sororalen Polygynie: Lv 18,18; auf das Faszinosum ,Blutschande‘ für die griechisch-römische Kultur verweisen zahlreiche Mythen einschließlich des heftig abgelehnten Versuchs eines Caligula, es den Göttern (und Pharaonen) in dieser Hinsicht gleichzutun (wobei Suetons Caligula zugegebenermaßen drastischer ist als Gregors Chlothachar und Snorris Magnús). Die wesentlichen Unterschiede in Kontext und Darstellungsweise schließen es meiner Ansicht nach aus, bei Snorri ein direktes Echo von Gregor zu vermuten. – Meines Wissens hat das Thema für das europäische Mittelalter keine eigenständige Behandlung erfahren; hierzu anregend und weiterhin sehr lesenswert ist der Essay des Durkheim-Schülers Granet, La polygynie sororale (1920). 101 Streng genommen beruhte die Position der Gegner zwar auf der Behauptung, Sigurð sei überhaupt kein Sohn von König Magnús; allerdings müssen Propaganda und Nachrede weder konsequent noch stringent sein.
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den Königssagas des 13. Jahrhunderts ist der Umstand keinen Kommentar wert; Snorri berichtet über Sigurðs Zeugung mit derselben Unaufgeregtheit, die er für alle genealogischen Exkurse verwendet. Wäre Sigurð Hilfspriester geblieben – so darf man annehmen –, wäre seine Mutter gar nicht genannt worden; in der Saga von Magnús Barfuß kommt sie nicht vor, sondern nur in der ihres Sohnes. Doch selbst wenn diese Nonchalance keine kalkulierte Stellungnahme sein sollte, wäre dieses tatsächliche Desinteresse am sororalen Inzest im europäischen Vergleich bemerkenswert: Unterschied im Urteil der Gesellschaften oder ‚nur‘ der Verfasser der Schriftzeugnisse?
Der Zugriff des Königs auf die Töchter: Magnús der Gute und Margrét Þrándsdóttir (um 1040) In der hier dargelegten Deutung fungieren die beiden Töchter des Saxi í Vík (unter anderem) als Zeichen des Rapprochements von König und regionalen Magnaten des Trøndelag nach vorherigen gewaltsamen Konflikten. Eigentlich wissen wir aber nichts über die Modalitäten dieser Allianzbildung. Die Annahme, es habe sich um einen konsensualen Vorgang gehandelt, beruht allein auf dem weiteren Gang der Ereignisse, dem offensichtlich fortgesetzt gutem Einvernehmen der Saxi-Gruppe mit König Magnús und seiner Linie und ihre Feindschaft zu den Prätendenten, die – wie Harald gilli – die Magnús-Nachkommen herausforderten. Der Wortlaut der Quelle ist hingegen unbestimmt: „Óláfs Mutter war Sigríð, die Tochter des Saxi í Vík, eines angesehenen Mannes im Trøndelag. Sie war die Frille des Königs.“102 Ebenso verhält es sich mit den von Auður Magnúsdóttir untersuchten isländischen Allianzen vermittels Frillenbeziehungen, von denen wir ebenfalls die Beteiligten und den Umstand erfahren, dass es die Beziehung gab, und durch den weiteren Quellenkontext erfahren, welche übrigen (topographischen, juridischen, militärischen) Bande die Beteiligten verbanden, aber über die Modalitäten des Zustandekommens der Beziehung wird fast nie etwas ausgesagt. Ob König Magnús, von seinem Vernichtungszug gegen die Opposition zurückgekehrt, vorsichtig die Unterredung mit Saxi í Vík suchte oder ob er bewaffnet mit fünf Langschiffen im Rücken auf seinem Hof erschien, um sich die Töchter des Hauses „beizulegen“ wie sein schönhaariger Urahn, wird nicht mitgeteilt. Wir wissen nur, dass er im Ergebnis eine (vielleicht zwei) der Häuptlingstöchter erhielt, und haben Grund zu der Vermutung, dass Saxi und seine Gruppe im Nachhinein keinen Groll hegten. Dies bedeutet, dass man die Bedeutung ,Allianz/Konsens‘ nicht streng von anderen Aussageinhalten polygyner Beziehungen trennen kann. Indem er die Tochter (Töchter?) des Saxi í Vík nahm, machte König Magnús vor allen Nuancen – also (wahrscheinlich) der Bereitschaft zum Rapprochement – die eine Kernaussage: Er war der Herrscher. Dieser gemeinsame Nenner verbindet den konsensualen Fall des Saxi í Vík mit einem 102 MsB c. 16, im Zusammenhang mit anderen Frauen des Königs.
Der Zugriff des Königs auf die Töchter: Magnús der Gute und Margrét Þrándsdóttir (um 1040)
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Kontinuum von mehr oder weniger konsensualen und paritären Situationen, das bis zum anderen Extrem reicht, dem unverhüllten oder sogar inszenierten Frauenraub. Prinzipiell konnte der Fürst so viele Frauen haben, wie er und die zu Beherrschenden (männlichen und weiblichen Geschlechts) benötigten, um ihre jeweiligen Relationen auszuhandeln und auszudrücken. Hinter all diesen Kontingenzen steht immer jenes Kernelement der Herrschaft, das das Alte Testament (I Sm 8,11–18) als ,Zugriff des Königs auf die Töchter‘ den anderen wesentlichen Merkmalen hierarchisch-monarchischer Herrschaft an die Seite stellt.103 Es verbindet die Geschichte von Saxi í Vík und zahlreiche vordergründig ganz unterschiedliche polygyne Episoden (ich erinnere an den in Kapitel 3 diskutierten ‚Raub‘ der Borghild í Dali) zu einem System, in dem die einzelnen Ereignisse auf die jeweils anderen verweisen und durch sie mit zusätzlicher Bedeutung ausgestattet werden. Auf den konkreten Fall bezogen heißt das: Erst das Wissen um prinzipiell gleich gelagerte Fälle, in denen die Variablen anders gesetzt sind, verleiht der Frillenverbindung von Magnús und Sigríð ihren spezifischen Aussagewert. Die Rezipienten – einschließlich der modernen Geschichtswissenschaftler – können diesen Fall nur als konsensual deuten, weil sie ihn auf prinzipiell gleiche Fälle (gleiche ,Praxeme‘, könnte man sagen: isolierbare Handlungsverläufe, die in sich geschlossen Bedeutung tragen) beziehen, mit diesen vergleichen können. In der Morkinskinna, einer mit der Heimskringla etwa gleichzeitigen und inhaltlich oft sehr ähnlichen Königssagahandschrift, steht eine von Snorri nicht berichtete Episode aus den frühen Jahren von König Magnús ,dem Guten‘ (r. 1035–1047), dem filius a concubina (Adam) Óláfs des Heiligen. Ein südostnorwegischer „angesehener Bezirkshäuptling“ namens Þránd hat zu einem mehrtägigen, von Grundbesitzern der ganzen Region besuchten Herbstfest geladen. Eines Nachmittags erscheint ein prächtig ausgestattetes Drachenschiff in der Bucht unterhalb des Hofs. Die Vermutung, der König komme uneingeladen zu Besuch, bestätigt sich schnell. In der Festhalle zeigt Magnús sich „guter Stimmung“, und die potentiell brisante Situation entwickelte sich zum Guten – abgesehen von dem Detail, dass Þránds Tochter Margrét, „eine sehr verständige Frau und sehr schön“, die schon bei der ersten Sichtung des Königsschiffs ihr Misstrauen nicht verhohlen hatte, sich im Hintergrund hält. Dies veranlasst den König zu einer Reaktion: Der König fragte, wer die schöne Frau sei, die den anderen vorangeschritten war. Þránd erwiderte, sie sei seine Tochter. Der König sagte: „Und dennoch will sie Uns nicht grüßen. Sie muss von guter Erziehung sein, und außerdem ist sie eine sehr schöne Frau. Ich will die Nacht mit ihr verbringen.“
103 Filias quoque vestras faciet sibi unguentarias et focarias et panificas: es geht um häusliche Dienste, es schwingt die „Mühlenmagd“ mit. Zur Annäherung von Konkubinat und Unfreiheit vgl. die Diskussion in Kap. 1; zum biblischen Kontext Schottroff, Zugriff des Königs auf die Töchter (1989), 268–285; Friedl, Polygynie (2000).
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4 Der expressive Aspekt „Das ist Eurer Ehre abträglich, Herr“, sagte Þránd. „Dennoch wird es so gehen müssen“, sagte der König.104
Þránd unterrichtet seine Tochter, die ihre ungünstigen Erwartungen voll bestätigt findet und nur hofft „ihn nicht lieben und dann sofort verlieren“ zu müssen. Das heißt: Wenn sie schon der Zahl von König Magnús’ Frauen hinzugefügt werden müsse, so solle es ihr nicht wie der Mühlenmagd gehen, sondern sie wolle wenigstens als Königsfrille für eine gewisse Zeit Stellung, Ruf und Einfluss erhalten. Der König gibt sich verhandlungsbereit: „Man nennt mich im allgemeinen nicht einen Schurken, und dies kann so durchgeführt werden, dass sie den Vorteil davon hat. Aber es gibt keine andere Möglichkeit, als dass ich in dieser Sache entscheide.“ Eine Bettkammer wird vorbereitet und Margrét bereitgelegt. Nun wird die Episode zur Mirakelerzählung: Ein Unbekannter betritt den Raum, verspricht ihr Sicherheit vor König Magnús’ Zugriff, „berührte ihre Brust, und ihr wurde ein wenig kalt, und er markierte sie für sich“. Der Mann trägt ihr auf, dem König zu sagen, dessen Verwandter Sigurð (er ist Vogt auf einem nahen Königsgut) habe ihr beigewohnt, und geht. König Magnús kommt. Margrét tut, wie ihr geraten ist. Der König springt empört auf und lässt sofort nach Sigurð senden. Kaum hat man diesen vor den König gebracht, muss er sich vor Magnús’ Zorn verantworten, ist aber bereit zu schwören, dass er nie mit Margrét geschlafen hat. Daraufhin lässt der König das Mädchen kommen, das nun das sonderbare Ereignis berichtet. Margrét muss ihre Brust entblößen; das darauf sichtbare Zeichen hat die Form eines Silberpfennigs. „Es zeigt sich“, sagt der König, „dass mein Vater nicht will, dass ich mit dieser Frau schlafe. Der Besucher war mein Vater.“ Dem heiligen Óláf, dessen in kürzester Zeit zum Grundkonsens norwegischer Politik gewordene Heiligkeit seinen Sohn mit dem nötigen Legitimationsvorsprung gegenüber seinen dänischen Kontrahenten versieht, darf nicht widersprochen werden. Der König gibt Margrét seinem ,Verwandten‘ Sigurð zur Frau und setzt seine Reise fort.105 Eine Mirakelgeschichte auf ihren politischen Gehalt hin lesen zu wollen, bedarf der Vorsicht. Das Lebensnähe signalisierende Dekor dieses und der meisten anderen in Saga104 Mks c. 25: En konungr spurði Þránd hver sú væri in fríða kona er fyrir gekk. Þrándr svarar at sú var dóttir hans. Konungr mælti: „Ok ekki vill hon oss kveðja. Víst lætr hon vel, enda er hon fríð kona ok hjá henni vil ek rekkja í kveld.“ „Eigi samir yðr þat, herra,“ svarar Þrándr. „Þat mun fram fara,“ segir konungr. 105 Ebd.: „...ok þykki mér þat tungt at leggja fyrst ást við hann ok týna honum brátt.“ (...) „Ekki em ek kenndr við ódrengskap af flestum m™nnum, en búask má svá um at henni verði gæfa at þessu, ok engi hœfendi munu á ™ðru verða en ek ráða fyrir.“ (...) Hann tøkr síðan á brjósti hennar, ok varð henni við kalt n™kkut, ok merkti hana sér (...) „Er svá farit,“ segir hann, „at faðir minn vill eigi at ek tœka þessa konu til lags við mik. Faðir minn hefir sá maðr verit.“ – Zu den „Ehebruchsmalen auf ihren Brüsten“ vgl. Oz 2,2 [Gottes Rede]: iudicate quoniam ipsa non uxor mea et ego non vir eius, auferat fornicationes suas a facie sua et adulteria sua de medio uberum suorum. Ein Silberpfennig wäre das einzige sicht- und fassbare Zeichen einer vergangenen Königsherrschaft gewesen.
Der Zugriff des Königs auf die Töchter: Magnús der Gute und Margrét Þrándsdóttir (um 1040)
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narrative eingebetteten Óláfswunder darf aber durchaus als Ermunterung an die Destinatare verstanden werden, das Eingreifen des Königsheiligen in seiner ureigenen Domäne – der Königspolitik – zu erwarten und auffällige Ereignisse des politischen Tagesgeschäfts im Lichte der Heiligkeit des rex perpetuus Norvegiae aufzufassen. Dies berechtigt uns, den Auftritt des geheimnisvollen Mannes erst einmal aus dem Narrativ zu eliminieren und die verbleibende Erzählung als einen voraussagbaren Ablauf zu lesen, die eine unerwartete – also potentiell ,wunderbare‘ – Wendung nimmt. König Magnús ist anscheinend ohne Gelegenheit zu längerer Vorbereitung (die naturräumlichen Bedingungen von Königsherrschaft in Norwegen bringen es immer wieder mit sich, dass der König auf seinem Itinerar schneller ist als die Nachrichten über sein bevorstehendes Kommen) auf eine Situation gestoßen, in der er seine Autorität demonstrieren muss. Der Südosten um den Oslofjord, traditionell eine Zone vorwiegend dänischer Oberherrschaft, deren Zugehörigkeit zum norwegischen Königtum bis ins späte elfte Jahrhundert umstritten blieb, ist dabei besonders heikel, da sich Magnús im Streit mit Sven Estridsen um das Nachfolgerecht in Dänemark befindet. Magnús kann nicht wissen, zu welchen Zwecken Þránd sein aufwendiges Herbstfest veranstaltet. Daher tritt er ihm mit Huld entgegen und setzt dennoch ein unübersehbares Zeichen seiner Macht: er fordert die Tochter. Þránd und Margrét handeln dem König gerade eben noch die Form eines Bündnisses statt einer Kraftprobe ab (es sei an Saxi í Vík erinnert, wo eben diese Modalitäten ungeklärt bleiben), und der König geht an den Vollzug seiner zeichenhaften Herrschaftsinszenierung im Bett. Man kann sich nun vorstellen, dass Magnús es sich schlicht anders überlegt und im letzten Moment für eine Deeskalation entscheidet. Man kann sich ebenfalls vorstellen, dass der Anblick eines charakteristischen Muttermals auf Margréts Brust dem König ,wunderbarerweise‘ im letzten Moment signalisiert, dass er dabei ist, Inzest zu begehen.106 So oder so muss er eine Ersatzgeste der Domination machen: Er – und nicht ihr anwesender Vater – gibt das Mädchen dem Königsvogt Sigurð zur Frau, der sie (so ist die Episode vielleicht zu verstehen) schon einmal ,gekannt‘ und am Königshof wohl mit allen Details davon berichtet hat, und setzt seine königliche Umfahrt fort. 106 Der Beischlaf mit der Frau, die zuvor mit einem Blutsverwandten Geschlechtsverkehr hatte, ist zwar ein ähnlicher Fall wie die sororale Polygynie und wird in den Landschaftsrechten auch entsprechend behandelt, es ist aber – abgesehen von der kirchenrechtlichen Ähnlichkeit – durchaus plausibel, dass es vom Standpunkt der beteiligten Männer aus betrachtet doch eine ernstere Sache war, einander die Frauen abzunehmen, als demselben Mann aus der anderen Gruppe zwei abzunehmen. Ich verweise auf den Agon der Brüder Sigurð und Eystein unter anderem um die Königsfrille Borghild (Kap. 2). Magnús springt jedenfalls auf und ruft: „Dann darf ich keinesfalls in diesem Bett liegen“: er will Margréts ,Vorbesitzer‘ nicht herausfordern. Hinzu kommt gegebenenfalls der Quellenunterschied zwischen der Sammelhandschrift Morkinskinna, in der sich eine ältere Sammlung von Königsgeschichten mit im Laufe des 13. Jahrhunderts in spätere Redaktionen eingeflossenen Episoden amalgamiert, und der streng durchkomponierten auktorialen Leistung von Snorris Heimskringla.
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Die fürstliche Polygynie – es handelt sich um eine polygyne Episode in dem Sinne, dass sich tendenziell auf Magnús’ Weiterreise auf jedem weiteren Hof Ähnliches zutragen könnte – ist also als Zeichenvorrat zu verstehen, mittels dessen sowohl die Tatsache einer existierenden Königsherrschaft als auch ihr aktueller Charakter (konsensual bis konfrontal) zum Ausdruck gebracht werden kann. Dabei besteht schon ein Unterschied zwischen dem ,Zeichencharakter‘ der königlichen Einforderung der Töchter gegenüber all jenen, die – als Augen-, Ohrenzeugen oder spätere Leser – von der Episode erfahren, und dem keineswegs zeichenhaften, sondern aktualen Charakter der Episode für Þránd, Margrét und ihren Hausstand. Schließlich ,bezeichnet‘ der Beischlaf nicht Magnús’ Erfolg bei der Durchsetzung seines Herrschaftsanspruchs, sondern er macht diesen Erfolg aus. Legt man der Interpretation aber nicht zeichentheoretische Präzision, sondern sozialgeschichtliche Absicht zugrunde, so ist es meiner Ansicht nach gerechtfertigt, auch den (intendierten und beinahe durchgesetzten) Beischlaf mit Margrét als ein Zeichen mit Aussageabsicht zu verstehen. Dazu ist es nötig anzunehmen, dass Magnús die Nacht mit Margrét nicht einfordert, weil er während der Bewirtung von ihrer Schönheit zu dem hingerissen wird, was die lateinischen Texte amor nennen und was in den nordischen Texten (die nur Handlungen, nicht Motive explizieren) fast immer unbenannt bleibt.107 Verstünde man seine Forderung als von sexueller Begierde motiviert – wie es allerdings sowohl die die laikale luxuria tadelnden Historiographen als auch viele moderne Historiker tun –, so wäre der eingeforderte Liebesdienst kein Zeichen, sondern ein Teil der Leistungen, die der Untergebene dem Fürsten schuldig ist wie andere Naturalabgaben und gegebenenfalls Heerfolge.108 Nun ist die praktische Einforderung der Gastung nie allein praktisch motiviert (materielle Versorgung des itineranten Königsgefolges), sondern hat immer auch ,Zeichencharakter‘. Im Falle von Margrét ist aber meines Erachtens davon auszugehen, dass die praktische Motivation (der Wunsch des Königs nach einer – genau dieser – Sexualpartnerin) gänzlich hinter dem Zeichen ,die Häuptlingstochter fordern und bekommen‘ zurücktritt, dass also die Forderung auch gegenüber ihrem Vater, ihrem Haushalt und ihr selber rein expressive Funktion hat. Der König handelt nicht aus sexueller Begierde; sie ist nicht auszuschließen, aber ebenso wenig vorauszusetzen. Mehr noch, zur erfolgreichen Zeichensetzung muss er – ob er will oder nicht – den Beischlaf durchführen, der in dem Sinne öffentlich geschieht, dass Margrét in jedem Falle als Zeugin und Multiplikatorin dabei ist. Verzicht oder Durchführung müssen in ihren jeweiligen Konsequenzen kalkuliert werden und dürfen keinesfalls dem Impuls des Moments überlassen bleiben. Es bleibt nicht viel 107 In der Knýtlinga saga (c. 31) steht an vergleichbarer Stelle: konungr leit ástaraugum til hennar „der König wandte sich ihr mit Liebesaugen zu“. 108 Der summarische Begriff für diese Leistungen, veitsla (eigentlich „Gastmahl“), verweist auf ihren vorherrschend landwirtschaftlichen Versorgungscharakter. Kriegsdienst schulden in der Regel nur die Männer, die sich in ein spezielles Gefolgschaftsverhältnis zum König begeben haben, während landesweite, mit Druck durchgesetzte Aufgebote eine oft erfolglos bleibende Neuerung des zwölften Jahrhunderts waren.
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übrig von den angeblich gedankenlos-triebhaft junge Frauen jagenden Männern, wenn sie tatsächlich vielmehr diszipliniert ihr Sexualverhalten ebenso der Herrschaftsratio unterstellten wie ihre Kampfestaten, Trinkgewohnheiten und Redefertigkeit. Es dürfte deutlich geworden sein, in welcher Hinsicht sich die hier vorgeschlagene Deutung der polygynen Seite von Herrschaft von anderen, anthropologisch beziehungsweise soziobiologisch motivierten Interpretationen unterscheidet. Nicht der ob seiner Ubiquität und Evidenz praktisch vernachlässigbare Zusammenhang von Macht und Sexualität, sondern seine Operationalisierung unter kontingenten Bedingungen sind der Gegenstand historischer Analyse. Wie die Merowinger109 und zweifellos viele andere, die keine schreibkundigen Beobachter hatten, nutzten die Norwegerkönige des elften Jahrhunderts die Möglichkeiten, die ihnen ihre Sexualität bot, in einer bestimmten Weise zu bestimmten Zwecken, und unter den gegebenen Umständen entwickelte sich daraus ein expressives System, das – wie die vorstehenden Fallanalysen gezeigt haben – zu differenzierten Aussagen gebraucht werden konnte.
Die Mädchen des Landes Spuren dieses Systems finden sich punktuell in vielen Quellen unterschiedlicher Sorten wieder und erlauben es, diese – sonst allzu leicht als Versatzstücke topischen Charakters abgetanen – Elemente in einen Zusammenhang zu bringen. Wenn in einem hagiographischen Text des 13. Jahrhunderts der dänische Königsheilige Knut, gerade wie Magnús auf Umritt durchs Reich, in ähnlicher Weise den Versuch abbricht, eine Nacht mit der Frau seines Gastgebers einzufordern110, so ist die Episode zwar zunächst vor dem Hintergrund der seit seiner ersten Vita etablierten Motiv seiner monogamen Enthaltsamkeit zu lesen.111 Sie gewinnt aber durch denselben Kontext die zusätzliche Nuance des Verweises auf das in der Geschichtsschreibung ebenso etablierte Motiv von Knuts nimia crudelitatis sevitia (Sven Aggesen), die selbst in der Hagiographie als Ursache für seinen Sturz gilt und die es dem Publikum nahelegt, Knuts geplanten Beischlaf auf Gastung 109 Chronik des sogenannten Fredegar IV, 59 zum Jahr 630/31: Anno 8. regni sui, cum Auster regio cultu circuerit, quadam puella nomen Ragnetrudae aestrati sui adscivit... [sic] („Als [Dagobert I.] im achten Jahre seiner Herrschaft Austrasien nach königlicher Art durchzog, gesellte er ein gewisses Mädchen namens Ragnetrude seinem Bett bei“). Aus der Verbindung wird König Sigibert III. geboren, was offensichtlich das Motiv für die chronikale Erwähnung Ragnetrudes – und nur ihrer – ist. 110 KnS c. 31. Der Mittelteil der dänischen Königssaga wird nach dem Vorbild der auf die Saga Óláfs des Heiligen zentrierten Heimskringla von einer Vita Knuts des Heiligen eingenommen, die viel deutlicher als jene von den Konventionen des hagiographischen Genres bestimmt ist. – In dieser Episode ist (anders als bei der vorzitierten Episode von Magnús und Margrét in der Morkinskinna) keine wunderbare Intervention am Platz, da der König selber der Heilige ist; daher lässt er nach einem pastoral klingenden Appell der Frau selber von ihr ab. 111 Ælnoth c. 8; vgl. oben, Kap. 1.
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in eine Reihe mit seinen unerhörten Steuerforderungen und seiner strengen Behandlung der Opposition zu setzen. Ähnlich verhält es sich mit der wunderbaren Zeugung des (lokal verehrten, nie kanonisierten) ,heiligen‘ Nikolaus von Århus um 1150. Der auf Umritt durch Jütland befindliche König Knut Magnussen – einer von drei in Dänemark in brüchiger Gemeinsamkeit herrschenden Mitkönigen – hatte soeben bei Hadersleben süderjütisches Gebiet erreicht, als ein „Astronom“ die in dieser Nacht bevorstehende Zeugung eines vor Gott und den Menschen großen Mannes weissagte. „Der Vater dieses Kindes will ich sein!“ rief der König, ließ sich eine vornehme Jungfrau kommen und zeugte den nachmaligen Heiligen.112 Auch hier ist das wohlbekannte Motiv der ,illegitimen‘ wunderbaren Zeugung, als dessen maßgebliche Vertreter Pippin, Bertha und Karl der Große gelten dürfen, angereichert mit einer realpolitischen Nuance: Knut will seine prekäre Herrschaft in Süderjütland – dem früheren Jarltum des Knut Lavard, Vaters von Knuts Mitkönig und Rivalen Waldemar – auf möglichst eindrückliche Weise sichtbar machen. Der norwegische Königsspiegel (Konungs skuggsjá, um 1260) ist die erste Herrscherparänese im Norden und damit in sich bereits ein Zeugnis für die ,europäisierende‘ Adaptationsphase des Königtums von Hákon IV. Inhaltlich ist der dialogisch angelegte Traktat eine eigentümliche Verbindung von Chorographie und speculum regale. In der Abhandlung über Perioden unklarer Thronfolge wird es als eines ihrer Merkmale bezeichnet, dass „einige Frauen geraubt und vergewaltigt und andere mit List und Beischlaf gewonnen werden.“113 Eine ähnliche Erörterung steht im Gefolgschaftsrecht (Hirðskrá) aus der Zeit Magnús’ des Gesetzesverbesserers (1263–80), c. 44: Die ‚Gäste‘ (gestir, der zweite Rang des Gefolges) sollen, wenn sie in königlicher Mission unterwegs sind, stets ihres Auftrags besinnen und folgendes möglichst unterlassen: Plünderung, Diebstahl, voreiliger Totschlag und „vor allem Bruch des Frauenfriedens.“114 Die Lektüre der Saga über Hákons Regierungszeit lässt erkennen, dass derlei Praktiken gängig waren. Diese ,Politisierung‘ und Semantisierung betrifft selbst ein scheinbar so ubiquitäres Motiv wie die narrative Fügung ,Brutalisierer verlangt unter Gewaltandrohung Übergabe von Mädchen zu sexuellem Missbrauch‘115, das Motiv der pucelle esforciee, das unter 112 VSD 404: Dicitur de Kanuto rege transeunte a plaga boreali Jutie uersus australem, quod iuxta oppidum Hathersleuense de nocte dixit ei astronomus, quod illa nocte generaretur puer magnus coram deo et hominibus. Dixit rex: „Vellem ego esse pater illius pueri“; et fecit ad se uocari puellam nobilem, de qua genuit sanctum Nicolaum. – Zum politisch-dynastischen Kontext vgl. oben, Kap. 1. 113 KSs 53: þa værda konor sumarr hærnæmðar oc nauðgar tæcnar en sumar velltar mæð brogðum oc lægorðum. 114 Hirðskrá c. 44: þeir eigu ok sjálfer vandlega at at hyggja, til hverju luta þeir ero sender... ok minna á aðra, þá sem þeir sjá, at misgera, varazt við rán ok stuld ok allra helzt um kvenna frið ok þeira fé, laupa eigi bráðlega til manndrápa... Vgl. Lunden, Sagakvinner (1980/1991), 56. 115 Vgl. die Übersicht über die Belegstellen in Boberg, Motif-index (1966), nis R0–99 ,Captivity‘ (ibs. R10ff.) und R100–199 ,Rescue‘ (ibs. R111ff.).
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anderem eine Schlüsselszene im Yvain des Chrétien de Troyes liefert116, das Saxo für die Illustration nordischer Heldentaten in der Rus’ zum Einsatz bringt117 und das aufgrund seiner Verwandtschaft zum narrativen Muster der Legenden von jungfräulichen Märtyrerinnen mächtige zusätzliche Verweise generierte.118 In den Sagas treten an die Stelle der Riesen und Präfekten allerdings die gewohnten Akteure und reduzieren deren diabolisch inspirierte Untaten auf das Maß nordischer Magnatenkonflikte. Die im Kern auf das frühe elfte Jahrhundert zurückgehende, in der überlieferten Fassung jedoch erst um 1300 redigierte Saga von Hávarð aus dem Ísafjord (Nordwestisland) schildert einen regionalen Machthaber so: Er war aus vornehmem Geschlecht, ein großer Häuptling und neigte sehr dazu, seine Macht auszuspielen (wörtlich: „er war der größte Un-Ausgleichs-Mann“), so dass niemand im Ísafjord es sich zutraute, ihm in irgendeiner Forderung zu widersprechen. Er nahm die Töchter der Leute oder andere Frauen aus ihrer Verwandtschaft und hatte sie eine Weile an seiner Seite und schickte sie dann wieder heim; manchen nahm er auch den Wohnplatz weg oder verjagte sie von ihrem Land.119
Dieses negative Musterbeispiel eines ójafnaðarmann, eines Mannes, der darauf verzichtet, wenigstens der Form halber den paritären Konsens (jafnað/aequitas) zu wahren, bekommt im Laufe der Erzählung, was er verdient, und ebenso geht es anderen Brutalisierern inmitten der Gesellschaft, die sich „rücksichtslos bei der Frauenjagd und beim Wortemachen“120 geben. Gelegentlich fällt diese Rolle an eher randständige Figuren wie die standardisierten „Berserker“, in den Isländersagas keineswegs mythisch-göttlich angehauchte Heroen, sondern profitorientierte Berufszweikämpfer, die die Bauern vor 116 V. 3768–4305: Yvain rettet Verwandte von Gauvain vor einem Riesen, der ihre Burg belagert und Gauvains Nichte verlangt, um sie seinen Leuten zur Verfügung zu stellen; für eine Interpretation unter dem Gesichtspunkt der textuell konstruierten Vergewaltigung vgl. Gravdal, Ravishing Maidens (1991), 45ff. 117 Saxo VI, 5,14: ein Kämpe, der sich seiner Macht so sicher ist, dass er illustrium uirorum coniuges maritis spectantibus raptas ad stuprum pertraheret, und vom Byzanzreisenden Starkad besiegt wird. 118 Etwa in der nordischen Margrétar saga (Heilagra manna søgur, hrsg. von Unger, Bd. 1 [1877], 475), wo der jarl Olibrius Margaretha zur frilla (~concubina) machen will. Für die nordischen Fassungen der Jungfrauenlegenden vgl. zuletzt Wolf, Heilagra meyja s™gur (2003), sowie Gad, Helgener (1971); Carlé, Jomfru-fortællingen (1985); Carlquist, De fornsvenska helgonlegenderna (1996), und als wichtigen Beitrag zur Rezeptionsforschung Lewis, Model girls (1999). 119 Hávarðar saga Ísfirðings c. 1: Hann var stórættaðar maðr ok h™fðingi mikill ok inn mesti ójafnaðarmaðr, svá at engir menn þar um Ísafj™rð báru styrk til neitt í móti honum at mæla. Hann tók dœtr manna eða frændkonur ok hafði við h™nd sér n™kkura stund ok sendi síðan heim; fyrir sumum tók hann bú upp eða rak brott af eignum sinum. 120 Ljósvetninga saga c. 1: óeirðarmenn miklir um kvennafar ok málaferli; letzteres Wort kann aufgrund der erweiterten Bedeutung von mál „Rede; Rechtsstreit“ auch bedeuten, dass sie keiner Fehde aus dem Weg gingen.
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die Alternative ,Tochter oder Tod‘ stellen, bevor der Held sie zur Strecke bringt.121 In solchen Fällen wird – ähnlich wie im Yvain – die sexuelle von sozialer Schande begleitet, worin man durchaus eine in der Transgression letztlich doch affirmative Erzählung sehen könnte: Die Empörung über niedere Brutalisierer, die ehrenwerten Leuten die Töchter nehmen, suggeriert den Umkehrschluss, dass der Zugriff von ,oben‘ nach ,unten‘ weniger problematisch ist. Dies gilt aber gerade nicht für die vorerwähnten Isländersagas, wo das Skandalon gerade darin besteht, dass ein Mitglied der paritären, auf Wahrung oder Wiederherstellung von jafnað (Ausgleich) verpflichteten Gesellschaft sich aus diesem Grundkonsens ausschaltet: Die narrativen Parallelen machen den Magnaten zum asozialen ,Berserker‘, dessen Tod niemand betrauert. Die affirmative Wirkung der Transgression lässt sich abschließend an den Vorzeithelden beobachten, denen stets ein wenig mehr zusteht als den Männern und Frauen der ,historischen‘ Zeit, die in der nordischen Geschichtskultur etwa mit dem zehnten Jahrhundert einsetzt. Es sind nicht irgendwelche Helden, sondern aus Sicht der hochmittelalterlichen Rezipienten die vom Nebel heidnischer Frühzeit nur wenig verschleierten Gründerfiguren des eigenen politischen Universums. Der vorzeitliche Seekönig Helgi etwa aus dem Geschlecht des Dan, „von dem man nicht genau sagen konnte, ob die Herrschsucht oder die Wollust stärker in ihm brannte“122, beging die berühmteste Vergewaltigung der nordischen Heroik im Verlauf eines Plünderzugs im süddänischen Inselmeer, wo er seine Leute auf die Suche nach „einem geeigneten Mädchen“ für seine Lust aussandte und sie mit einem „Baron“ und seiner Tochter zurückkamen.123 Helgi lässt sie schwanger zurück – und weiß nicht, dass das Mädchen, das er viele Jahre später bei seiner nächsten Landung auf der Insel fordert, die Tochter aus jener Nacht ist. Der nun im Vater-Tochter-Inzest gezeugte Knabe ist der Sagenkönig Rolf Krake (Hrólf kraki, Rolpho). Dies ist eine im europäischen Vergleich nicht unübliche Geburtslegende für einen leicht übermenschlichen Helden. In der Sagawelt allerdings (so bei Snorri, der die Vertrautheit seines Publikums mit dem Stoff voraussetzen konnte) wird sie ganz der Darstellung der Vorgeschichte innernordischer Politik untergeordnet. Yrsa (die Tochter aus der ersten Begegnung) tritt hier nämlich zuerst als Teil der Beute in Erscheinung, die der Uppsalakönig Aðils von einem Wikingzug nach Sachsen mitbringt und die sich durch Schönheit, Geschick und Beredsamkeit von den anderen Gefangenen abhebt, so dass der König sie für sich beansprucht. Nun erst tritt der Dänenkönig Helgi auf, überfällt Schweden, erbeutet Yrsa in ihrer Rolle als dortige „Königin“ und macht sie zu seiner 121 Vgl. z. B. Egils saga c. 64; Gísla saga c. 1; Ähnliches berichtet Saxo (VII, 11,7ff.) von zwei Brüdern, die excellentis forme uirgines parentibus ereptas concubitu uiolarent. 122 Saxo II, 5,2: ut ambigue existimationis esset, tyrannide magis an libidine arsit. 123 So die älteste überlieferte Fasung der Legende im Chronicon Lethrense aus der Mitte des zwölften Jahrhunderts (SM I, 47): carnali captus concupiscencia milites regi aptam quesituros puellam mittit. Qui cuiusdam baronis Rolfcarl filiam, nomine Thoram, prosequente patre regi adducunt. – Saxos Amplificatio lässt das realistische Dekor beiseite und konzentriert sich auf die moralische Implikation des aus diesem stuprum erwachsenden Inzests.
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Frau. Aus der Beziehung wird dann Rolf Krake geboren. Bis hierhin handelt es sich um die gewöhnliche Geschichte einer Beutefrau und ‚Königsmagd‘. Erst einige Jahre später macht die Königin von Saxland, offenbar auf diplomatischem Besuch in Dänemark, ihm die Eröffnung, Yrsa sei ihre eigene Tochter und Helgi (der sie also im Verlauf eines früheren Plünderzugs nach Sachsen geschwängert hatte) der Vater. Auf die Nachricht, die völlig unkommentiert bleibt, kehrt Yrsa nach Schweden zurück und bleibt dort Königin zeit ihres Lebens.124 Dieselbe Geschichte also, die in anderen etwa zeitgleichen Versionen zu stilistisch-affektiven Höhenflügen der Epik oder der moralisierenden Latinität den Anlass gibt, wird in der Königssaga auf ähnliche Art dem Erzählprinzip der politischen Rationalität untergeordnet, wie es den maßstabreduzierten Unholden der Isländersagas geschieht, ohne dass dadurch das Bedeutungssurplus, das die Sagaschreiber durch die Inkorporation mythischer Motive gewinnen, verlorenginge. In dieser generalisierten Praxis – und nicht etwa in dem Umstand der Inkorporation mythischer Motive an sich – liegt die Spezifik der nordeuropäischen Geschichtssicht und Geschichtsschreibung um 1200. Indem sie Berserker und inzestuöse Mythenkönige ebenso fugenlos integriert wie ihr übriges disparates Material zwischen Amerika und Palästina, stattet sie den Stoff des genus grande mit Alltäglichkeit aus, zugleich aber auch den Alltag mit Grandeur. Strandraub an benachbarten Küsten und Erbeutung wunderschöner Mädchen125 gehörten zu den Alltagserfahrungen zahlreicher Rezipienten dieser Erzählungen126, deren kulturelle Sozialisierung in diesem intrareferentiellen System sie daran gewöhnt hatte, auch eine solche Aktion als mit vielfältiger Bedeutung beladen zu verstehen. Abermals ist zu fragen, ob das an süd- und westeuropäischen Küsten (und in den Binnenländern) sehr viel anders war, auch wenn die dortigen Erzählwelten nicht in derselben Weise den Weg in die gelehrte Schriftlichkeit fanden.
Die Kaisertochter und die Elbgrenze: Erik Ejegod und Königin Bothild (um 1100) Die Bezeichnung kriegerischer Überlegenheit im Konflikt durch den Umgang mit Frauen – die letzte hier zu diskutierende, vielleicht markanteste Weise der Semantisierung polygyner Praxis – ist nahezu Allgemeingut. Die Judith der Septuaginta erhebt ihre Stimme zu Gott: Strafe „die Fremden, die den Gürtel einer Jungfrau zu ihrer Befleckung lösten, die Schenkel zu ihrer Schande enthüllten und den Schoß zu ihrer Schmach ent124 Ys cc. 28f. 125 So Snorri über Yrsa (ebd.): var mær ein undarliga f™gr. 126 ,Alltag‘ mag im Hinblick auf das 13. Jahrhundert übertrieben sein, und die Küsten Sachsens waren ebenso wie die der britischen Inseln schon seit langem für wikingartige Anschläge unzugänglich, doch sowohl die inneren Konflikte in allen skandinavischen Ländern als auch die Kreuzzüge im Ostseeraum boten nach wie vor Gelegenheit zur Ausübung solcher Praktiken.
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weihten, und gib ihre Frauen zu Beute und ihre Töchter in Gefangenschaft!“127 Die angelsächsische Bibeldichtung sekundiert: „Manch eine furchtsame weißwangige Frau musste zitternd in eines Fremden Umarmung gehen; tödlich getroffen fiel der Wahrer von Frauen und Ringen“128 – und die Frau, die im Beowulf an der Seite Hrothgars in der Königshalle sitzt und den Helden die Becher füllt, heißt Wealhþeow, „fremdländische Sklavin“. Die Annalen von Inis Faithlinn vermelden zum Jahr 1111 „einen Beutezug von Muirchertach Ua Briain gegen die Männer von Bréifne, und er plünderte und brachte ihre Frauen und ihr Vieh nach Munster“129, während am anderen Ende Europas von der Einnahme von Antiochia 1098 zu berichten war, die Kreuzfahrer hätten dort „an den schönen Sarazeninnen ihr Vergnügen gehabt“.130 Es überrascht nicht, dass auch in Nordeuropa Sieg und Niederlage mit sexuellen Mitteln zum Ausdruck gebracht wurden; zu untersuchen ist vielmehr, auf welche Weise dies geschah und namentlich, welche Verfeinerungen der Ausdrucksweise im Rahmen des hier erörterten sozialsemantischen Systems der Polygynie möglich wurden. Die Nordeuropäer stimmten den angelsächsischen und fränkischen Chronisten in der Einschätzung zu, ,ihre‘ wikingerzeitliche Vergangenheit sei von kriegerischem Frauenraub charakterisiert.131 Aber in der nachwikingerzeitlichen ‚jüngeren Vergangenheit‘ sieht das nicht anders aus. Von den vielen detailreichen Erzählungen über hochmittelalterliche Beutefrauen – wie sie sich ähnlich vielleicht oft unter dem stereotypen viros interficientes et mulieres captivantes der lateinischen Chronistik132 verloren haben – seien hier nur zwei berichtet. Die erste – eine Episode aus der dänischen Königsgeschichte aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, der Knýtlinga saga – behandelt die Zeugung des nachmaligen Jarls von Süderjütland, Fürsten der Abotriten, ,Märtyrers‘ und Heiligen Knut Lavard um 1096 und ist in ihrer Bedeutung für die Reichsgeschichte meines Wissens bisher unbeachtet geblieben. König Erik I. (Ejegod, r. 1095–1103) ist auf Romfahrt gegangen, und Heinrich, „Kaiser in Sachsen“133, nutzt die Gelegenheit, das bisher dänisch beherrschte 127 Idt 9,2f. Die Vulgata ist gegenüber der Septuaginta abgekürzt: in defensione alienigenarum qui violatores extiterunt in coinquinatione sua et denudaverunt femur virginis in confusionem (...) et dedisti mulieres eorum in praedam et filias eorum in captivitatem. 128 Sceolde forht monig / blachleor ides / bifiende gan / on fremdes fæðm; / feollan wergend / bryda and beaga, / bennum seoce; zitiert nach Fell, Women (1984), 67, zu Gn. 34,29. 129 Annals of Inisfallen, s. a. 1111: Cresc.sluaged la Murcerrtach .H. Briain i firu Bréfni coros airg 7 co tarat a mmná 7 a mbú co firu Muman... 130 Chanson d’Antioche, v. 6413: des beles sarrasines i ont fait lor delis. 131 Der Locus classicus ist Dudo von St-Quentin (I, 3, seinerseits in Anlehnung an die alttestamentlichen Vorgaben): uxores a pluribus stuprate, ducuntur flebiliter aduenae; omnis puellarum sexus, ab ipsis turpiter deuirginatur. Ein Florilegium ähnlicher Notizen bietet Zettel, Bild der Normannen (1977). 132 Hier Heinrich von Lettland, Chronicon Livoniae, 22,5 – und unzählige andere überall in Europa. 133 KnS c. 75: keisari í Saxlandi. Rein chronologisch müsste es sich um Heinrich IV. handeln, doch sollte man nicht nach einer allzu klaren Individuisierung der Kaiserfigur suchen. An die ,däni-
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Wendenland zu unterwerfen. Der mächtigste unter den vom Kaiser dort eingesetzten „Häuptlinge“ ist Björn, der für das Risiko, das er eingeht, Heinrichs Halbschwester Bothild verlangt und bekommt. Bothild stammt über ihren Vater, einen jütischen Magnaten, von den norwegischen Ladejarlen ab; wer ihre und Heinrichs Mutter ist, bleibt unklar. Aus Rom zurückgekehrt, unternimmt Erik einen erfolgreichen Revanchezug, tötet Björn und behält aus der Beute die Kaiserschwester für sich, mit der er Knut Lavard zeugt. Die anschließende Trennung des Königs von seiner Beute schildert die Saga folgendermaßen: Als [Knut] noch in jungem Alter war, sagte König Erik einmal zu Frau Bothild: „Du bist nun eine Zeitlang hier gewesen, aber das wird nun ein Ende nehmen, ich werde dich jetzt zu deinen Verwandten heim geleiten lassen.“ Sie antwortete: „Ich glaube, Liebe ist bei unserem Zusammensein wenig im Spiel gewesen, und Ihr habt mehr aus Rachsucht als aus Liebe mit mir gelegen. Ihr werdet mir darum, Herr, vergönnen, dass Knut, unser Sohn, zu meinem Troste mit mir geht.“ Der König antwortete: „Ich habe deinen Gesippen nicht so Gutes zu lohnen, dass ich es ihnen gönnte, dass dieser Junge dort aufwachse, denn das ist meine Ahnung, dass seine Gesippen und viele andere Ehre durch ihn haben werden.“ Darauf wurde sie zu ihren Verwandten heimgeleitet, der König gab ihr ein anständiges Gefolge mit.134
Die Episode ist schon des epigrammatischen Kondensats meirr af heipt en ást, „mehr aus Rachsucht als aus Liebe“ wegen bemerkenswert, das die Saga dem Opfer der politischen Wechselfälle an der südlichen Ostsee in den Mund legt. Sozialgeschichtlich bietet sie eine literarisierte Illustration der Macht- und Rechtlosigkeit einer Konkubine gegenüber dem Mann, wenn es um Auflösung der Beziehung, Absicherung der Frau und künftige Verfügungsgewalt über die Kinder geht. Politisch aber ist sie bemerkenswert, weil sie mit dem zur Zeit der Abfassung der Knýtlinga saga (Mitte des 13. Jahrhunderts) bereits etablierten Geschichtswissen um die Eltern des heiligen Knut Lavard von Ringsted, Stammvaters der regierenden Dynastie der Waldemare, in fast allen Punkten konfligiert. Allein Bothilds Vaterlinie stimmt mit der ,waldemarischen‘ Version überein, wobei jene jedoch in allen Chroniken und Annalen, Genealogien, bei Saxo und seinen Kompilatoren zwei Umstände betont: Bothild, die „Königin aus edelstem dänischen Stamm“ ist die eine und einzige uxor legitima König Eriks, und sie hat ihn auf seine Jerusalemfahrt – die erste eines nordischen Königs – begleitet und ist wie er dort gestorben und begraben. Bei Saxo wird Botilda zur ob ihrer Milde beinahe heiligmäßigen treuen Gattin, Rachel und Livia, die ihrem Mann die Konkubinen noch verschönt zuführt; Berichte von sche‘ Verbindung Heinrichs III. mit Gunhild/Kunigunde, der Tochter Knuts des Großen (1036), ist höchstens als vage Anregung zu denken, da sie sowohl zeitlich als auch sachlich weit von dem hier geschilderten Fall entfernt ist. Dasselbe gilt für die Ehe von (W)Úlfhild, Tochter Óláfs des Heiligen und der Ástríð, mit dem Billunger Ordulf etwa um dieselbe Zeit. 134 KnS c. 78.
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Wundern an ihrem Grab (am Ölberg) und dem ihres Gatten (auf Zypern) vervollständigen das Bild.135 Wie Bothilds in dieser ,waldemarischen‘ Version ungenannt bleibende Mutter vorher oder nachher von einem Salier hätte geschwängert werden können, bleibt völlig unklar, und dass sie der König nach ,Sachsen‘ zurückgesandt habe, statt auf Kreuzzug mit ihr zu gehen, widerspricht einer ansonsten eindeutigen Überlieferung. Was die Faktizität des Berichtes angeht, wird man Thyra Nors’ Urteil zustimmen müssen: Der Sagaautor „hat wohl selber nicht geglaubt, was er schrieb“.136 Doch mit Nors’ Hinweis auf die Häufigkeit des Motivs der geraubten Stammmutter in der genealogischen Literatur der französischen Laienaristokratie im 12./13. Jahrhundert, der zweifellos zutrifft, ist es nicht getan. Zu erklären ist, warum in diesem Fall das Herrscherhaus sich so prononciert für eine andere Version – die milde uxor legitima aus heimischem Häuptlingsgeschlecht – entschieden hatte, lange bevor die alternative Version schriftlich in der Knýtlinga saga erscheint. Um die Mitte des 13. Jahrhunderts war das System des waldemarischen Königtums mit seinen beiden Stützpfeilern der agnatischen Dynastie und der im kirchenrechtlichen Sinne legitimen Geburt fest etabliert, ein Kurswechsel nicht erkennbar. Die Version der Knýtlinga saga zeugt also von einem beträchtlichen Interesse für die Dänengeschichte fernab von der direkten Beteiligung des dänischen Königtums, das eine so diskordante Version der Legitimitätsbasis ihrer Dynastie sicher nicht ermutigt hätte; Sprache und Genre zeigen, dass das Thema in Norwegen und auf den atlantischen Inseln offensichtlich als belangreich galt, dass man aber zumindest dort – und vermutlich auch anderswo – andere Interessen und Interpretationen an den Stoff herantrug, als es das waldemarische Dänemark tat.137
135 Genealogie des Abtes Wilhelm von Æbelholt, um 1190 zur Vorlage im Prozess um die Ehe Philipp Augusts mit Ingeborg von Dänemark verfasst (SMD I 180): Botilde Regina de nobilissima Danorum prosapia orta. Seeländische Chronik, hrsg. von Kroman, s. a. 1101: cum Botilda regina, uxore sua legitima. Vgl. Saxo XII 1,1; 3,6; entsprechend Compendium Saxonis (SM I, 386f.). Als uxor erscheint Bothild in fünf weiteren Annalen. Die einzige Ausnahme stellt Sven Aggesen mit seiner Brevis Historia dar, die Bothild nicht erwähnt und sämtliche Kinder Eriks als „verschiedenen Verbindungen entsprossen“ zusammenfasst. 136 Thyra Nors: Art. Bodil, in: Jytte Larsen (Hrsg.), Dansk Kvindebiografisk Leksikon, København 2000–2001 und Online-Ausgabe. 137 Es gibt keine neuere Studie zum politischen Gehalt der Knýtlinga saga, und die zuletzt in den 1960er Jahren lebhafte Debatte konzentrierte sich auf die Themen der Quellen und literarischen Vorlagen sowie die Autorenfrage. Aus verschiedenen textuellen Gründen erscheint die Autorschaft von Óláf Þórðarson hvítaskáld, eines Neffen von Snorri Sturluson, möglich, wenn auch letztlich unbeweisbar. Entscheidend ist, dass für Komposition und Publikum zumindest der vorliegenden Fassung ein primär nichtdänischer, nämlich norwegisch-atlantischer Kontext vorausgesetzt werden muss. Vgl. die Einführung in Danakonunga sögur, hrsg. von Bjarni Guðnason (1982), und Rikke Malmros, Art. Knýtlinga saga, in: EMSc 359f., jeweils mit weiterführenden Literaturabgaben.
Die Kaisertochter und die Elbgrenze: Erik Ejegod und Königin Bothild (um 1100)
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Welche ,Bedeutung‘ gewinnt die Umschreibung der quasi-kanonisierten Version von Knut Lavards Geburt nun in diesem Kontext? Die Vergabe der Kaiserschwester Bothild und ihr anschließender Raub sind beide durch den Kampf um Vinðland – also das ostseeslawische spätere Ostholstein und Mecklenburg – bedingt, von dem die Knýtlinga saga behauptet, es habe sich ursprünglich (also rechtmäßigerweise) unter dänischer Oberherrschaft befunden, sei dann aber – obgleich als Besitz eines pilgernden Königs eigentlich immun – von den Sachsen geraubt worden; der Dänenkönig habe den rechtmäßigen Zustand wiederhergestellt und die Kaiserschwester, die Heinrich seinem Markgrafen Björn gegeben hatte, für sich behalten. Zwei mögliche politische Subtexte kommen in Frage: In den 1120er Jahren erreichte Knut Lavard – um dessen Zeugung es hier geht – mit Billigung Lothars III. die Anerkennung als Oberherrn (knes’) der westlichen Ostseeslawen und vielleicht auch der Polaben an der unteren Mittelelbe, wodurch Nordelbingen nach dem Ende der Billungerherrschaft praktisch in den Machtbereich des dänischen Königshauses geriet. Knuts Ermordung 1131, die Jugend und das Exil seines Sohnes, die 1134 ausbrechenden Parteienkämpfe in Dänemark sowie die (Wieder-) Einsetzung des Schauenburgers Adolf II. als Graf in Holstein und Stormarn 1143 und die anschließende Offensive gegen die Ostseeslawen brachten Nordelbingen erneut unter sächsische Oberhoheit.138 Sechzig Jahre später brach die schauenburgische Kontrolle über Nordelbingen nach dem Sturz Heinrichs des Löwen wieder zusammen, und Knut VI. und Waldemar II. erreichten erst faktisch und dann auch formell den Übergang der Länder „jenseits von Elbe und Elde“139 vom Reich an Dänemark. Die Schlacht von Bornhöved 1227 und die Reinstallation der Schauenburger mit hamburgisch-lübischer Unterstützung lösten Nordelbingen allerdings ein weiteres Mal aus Dänemark heraus.140 Diese Unbestimmtheit der ‘frontier’-Zone zwischen Elbe und Ostsee gewann über die im engeren Sinne politischen Fragen hinausweisende Bedeutung in einer Situation, in der die Frage nach dem alle „Nordländer“ (norðrlönd) Verbindenden zum Antrieb für eine eigentümliche kulturelle Produktion wurde. Für die britischen Inseln konnte die Frage nach der Südgrenze des Nordens unter Hinweis auf die lange dänische Herrschaft in England und nach 1066 auf die angeblich fortgesetzte Affinität der ,Nordmannen‘ zu den Herkunftsländern ihrer Väter in den Ärmelkanal verlegt, ja sogar die Normandie hinzugeschlagen werden.141 Im Osten sorgten die unablässig skandinavisch versippten Herrscher von Hólmgarð/Nowgorod und Kœnugarð/Kiew dafür, dass ,der Norden‘ auf dem Weg 138 Vgl. Hoffmann, Sachsen, Abodriten und Dänen (1986); Hermanson, Danish lords (2004). 139 Sogenanntes ,Metzer Privileg‘ Friedrichs II. 1214, in: DD I, 5, Nr. 48. 140 Die angemessenste Würdigung der Waldemarenzeit in Holstein ist weiterhin Hoffmann, Bornhöved (1977); vgl. zuletzt Wille-Jørgensen, Ostseeimperium (2003); Riis, Ostseeimperium (2003); Lind u. a., Danske korstog (2004), Rüdiger, Helgenkongen (2005); jetzt auch Rüdiger, Holstein (2008); ders., Framing the frontier (2009). 141 Z. B. in der Knýtlinga saga c. 19 mit dem Hinweis, England sei „von allen Nordländern an Geld das reichste“; a fortiori sind Schottland, Irland und Nordhumberland in das norwegisch-dänische Beziehungsnetz integriert.
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nach Miklagarð/Byzanz erst an den großen Stromschnellen in die von den Petschenegen heimgesuchte Steppengrenze überging. Kritisch waren der friesisch-wendische Südrand der beiden Binnenmeere und insbesondere ihr Isthmus. Die Frage der Zugehörigkeit Sachsens zum Norden (im Gegensatz zum ‚fränkischen‘ Binnenland) wurde im 13. Jahrhundert kontrovers diskutiert142 und erledigte sich offenbar erst durch den Übergang der nordischen Königtümer von primär see- zu landgestützten politischen Formationen gegen 1300, wodurch Nord- und Ostsee einen trennenden Charakter annahmen. Als kontingenter Faktor brachte die zeitweilige Einordnung Waldemars I. in das staufische Herrschaftssystem nach dem Revirement dieser Politik um 1190/1200 bei Geschichtsschreibern wie Saxo und dem Redakteur der Annalen von Rüdekloster eine Fixierung auf die Südgrenze als Ort der Begegnung mit dem Anderen, die die weitere dänische Historiographie (und den romantischen Nationalismus der frühen Moderne) entscheidend beeinflussen sollte: Was südelbisch war, war von Übel und gefährlich. Diese Sicht prägt auch die Darstellung des Raubes von Bothild in der Knýtlinga saga. Was zur Disposition steht, ist der Kampf um die Grenze, ausgetragen auf dem von beiden Seiten her als Glacis behandelten holsteinisch-mecklenburgischen Raum.143 Sogar der in der dänischen Historiographie als Königsverwandter etablierte Bjørn, bei Saxo als Markgraf über Holstein eingesetzt und als Gründer Rendsburgs ausdrücklich in die Tradition des heldischen Vorzeitkönigssohns Offa gestellt144, wird nun ,umgedreht‘ und soll unter Beibehaltung seines geradezu emblematisch nordischen Namens nunmehr für den Kaiser dessen Nordmark gegen die Dänen halten. Ebenso ,umgedreht‘ erscheint die väterlicherseits dänische, mütterlicherseits kaisernahe Bothild: Erst macht Heinrich sie zum Zeichen seiner angemaßten Verfügungsgewalt über Nordelbingen, indem er sie seinem Anführer gibt; dann lässt Erik sie nach der Wiederherstellung der Ordnung für die Störung büßen, indem er sich die Kaisernähe ihres Körpers für die auspiziöse Zeugung des Sohnes Knut zunutze macht – jenes Knut Lavard, der dann (wie die Knýtlinga saga im Detail berichtet) tatsächlich die dänische Herrschaft im „Wendland“ errichten und sich erst mit der Königs-, dann mit der Märtyrerkrone schmücken wird. Diese Darstellung ist zwar einer der Tendenzen in der dänischen Geschichtsschreibung der Zeit – der Behauptung Nordelbingens gegen die zu Theutonici hochstilisierten Schauenburger – recht nahe; ihr Darstellungsmittel allerdings weicht 142 Vgl. Von See, “Sonderkultur” (1999). 143 Das Wort „Glacis“ gebraucht schon Fritz Rörig, Schlacht bei Bornhöved (1927), 14, allerdings für Holstein und Schleswig. Mir scheint, dass nördlich von Eider und Schlei keine Rede von einer „Glacis“-Situation sein kann und Rörig hier unter dem Eindruck der ,schleswigschen Frage‘ des 19. und 20. Jahrhunderts die Konfliktlinien zu weit in die Vormoderne zurückzieht. Bis gegen 1840 ist eher Holstein als Schleswig die Zone der Unbestimmtheit. 144 Saxo XII, 3,6. Laut Saxo ist es König Erik, der eine seiner Töchter ex concubinatu dem Manne gibt, der den Mord an Björn rächt: ein weiterer Beleg dafür, dass die Knýtlinga saga aus den bekannten Elementen der Geschichte einen neuen, dem aktuellen Sinnstiftungsbedarf eher entgegenkommenden Zusammenhang unter umgekehrten Vorzeichen kreiert.
Der Käse und die Ankerketten: Haralds des Harten Beute (1047)
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von der ,waldemarischen‘ Version, wie gezeigt, beträchtlich ab und lässt damit eine Art gesamtnordischer Öffentlichkeit erkennen, in der die Geschichte als Argument genutzt und dabei von einer Version zur anderen unter Beibehaltung eines gewissen Grundbestandes an Erzählelementen zu beinahe beliebig voneinander abweichenden Sinnmustern um- und neugeordnet werden konnte.
Der Käse und die Ankerketten: Haralds des Harten Beute (1047) In der zweiten zu untersuchenden Episode geht es um Aussagevielfalt nicht der späteren Aneignungen und Fortschreibungen, sondern bereits der Akteure. Sie trägt sich im Sommer 1047 im Nordosten Jütlands zu. Ihr Protagonist ist Harald der Harte, der ‚Bigamist‘ am Beginn dieses Kapitels. Er ist einige Jahre zuvor aus Byzanz und der Rus’ zurückgekehrt und sucht zunächst im Verbund mit Sven Estridsen die Königsherrschaft seines Halbbruders Magnús ,des Guten‘ über Dänemark, die diesem nach dem Tod von Knuts des Großen Sohn Hardeknut 1042 zugefallen war, durch regelmäßige Heerfahrten an dänischen Küsten zu erschüttern. Bereits diese Züge hat er von seinen Skalden besingen lassen: Allein da blieb elend auf dem Fleck ein Haufe: Dänen floh’n; die Frau’n doch, feine gar, man einfing. Viel’ umschloß die Fessel. Vor euch zum Schiff keuchten schmucke Mädchen. Schrecklich 145 schnitt die Kett’ die Glieder.
Das ist deutlich genug. Es ist aber immer noch nicht so drastisch wie das Original. Zwar ist es dieses Mal aufgrund des Mangels an komplizierten kenningar möglich, eine den Inhalt angemessen wiedergebende strophische Übersetzung zu zitieren, doch ein Teil der Raffinesse des Wortlauts geht verloren. Im letzten Satz: bitu fíkula fj™trar h™rund bjartir „gierig bissen glänzende Fesseln in die Haut“ wird über das meist für gelblichen Glanz (Sonne, Gold) gewählte, eher das Aufleuchten als das Reflektieren bezeichnende Adjektiv bjartr „glänzend“ die metaphorische Konnotation der Goldringe hergestellt, die sonst 145 HsS c. 19, Str. 95 (von Valgarð, wohl Teil einer drápa, eines längeren Preislieds): Dvalði daprt of skilða, / drifu, þeirs eptir lifðu, / ferð, en fengin urðu / f™gr sprund, Danir undan. / Láss helt líki drósar. / Leið fyr yðr til skeiða, / bitu fíkula fj™trar, / fljóð mart, h™rund bjartir. – Übersetzung von Niedner, Snorris Königsbuch, Bd. 3 (1923). – Vgl. Turville-Petre, Harald the Hard-ruler (1968).
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4 Der expressive Aspekt
Mädchenarme schmücken. Nicht einfach Frauen werden erbeutet, sondern der skopische Fokus der – primär an die Gefolgschaft König Haralds, sekundär an jede andere denkbare Versammlung von Kriegern in festlichem Rahmen gerichteten – Strophe liegt auf den Frauen der Edlen. Da die Verse tendenziell auch an die angegriffenen Dänen gerichtet sind, gehören die Ringträgerinnen selber ebenso wie ihre Männer zu den durch sie Herausgeforderten. Dieser Kontext ist nötig, um die Episode von 1047 richtig einzuordnen. Harald hat inzwischen die Seiten gewechselt und als Alleinerbe von seinem Halbbruder Magnús das Königtum übernommen. Seine alljährlichen Heerzüge an dänische Küsten setzt er als Erbe von Magnús’ Oberhoheitsanspruch über Dänemark fort, nur dass er nun andere Landesteile angreift als früher. In Jütland hat man die kommende Bedrohung registriert, aber auch die mit ihr verbundene, in skaldischem Vers formulierte Herausforderung nicht vergessen. Im Haus des „großen Häuptlings“ Þorkels des Heftigen (geysa146) an der Mündung der Gudenå nahe der späteren Stadt Randers übernehmen es dessen zwei Töchter, Harald zu antworten: „Im Winter trieben sie großen Spott darüber, dass Harald mit Kriegsschiffen nach Dänemark fahren wollte. Sie schnitten aus Käse einen Anker und sagten, dass solch ein Anker genügen würde, die Schiffe des Norwegerkönigs festzuhalten.“147 Die Geste aus Mädchenhand dürfte, hinreichend verbreitet, nicht weniger stark gewirkt haben als ein Vers aus Männermund. Harald antwortete zunächst in Worten, wiederum mit einer Strophe: L™tum vér, meðan lirlar líneik veri sínum, Gerðr, í Goðnarfirði, galdrs, akkeri halda. Wir werfen Anker in der Gudenå, während die Mädchen noch ihren Männer vorträllern.148
Und sein Hofskald Þjóðólf Arnórsson ergänzt, den Halbvers vervollständigend und dazu Haralds Vorgabe zu einer meisterhaften Gesamtmetapher umschmiedend: 146 Sein Beiname ist eigentlich ein Verbum: geysa „heranstürmen, heftig vordringen“ zu dem Wortfeld, das im Deutschen durch die entlehnte Bezeichnung der isländischen thermischen Springquellen bekannt ist. In der Morkinskinna (c. 31) erscheint er als Drahtzieher von Sven Estridsens Königserhebung und wird so auch ,realpolitisch‘ zu Haralds Hauptgegner. Snorri berichtet von ihm nichts als die folgende Episode. 147 HsS c. 32: Þær h™fðu g™rt spott mikit áðr um vetrinn um þat, at Haraldr konungr mundi fara til Danmerkr með herskipum. Þær skáru ór osti akkeri ok s™gðu, at slík mundi vel mega halda skipum Nóregskonungs. 148 HsS c. 32, Str. 100. Die Mädchen werden durch zwei Frauenkenninge bezeichnet: lineik „LinnenEiche“ (der leinenbekleidete Körper wie ein Baum) und Gerðr galdrs „Gerð (Riesinnenname) des Liedes“; beide Kenninge weisen auf die idyllisch-häusliche Sphäre hin und erzeugen mit dem seltenen Wort lirla „trällern“ ein leichtfertiges, fast kindisches Szenario.
Der Käse und die Ankerketten: Haralds des Harten Beute (1047)
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Sumar annat skal sunnar, segik eina sp™, fleini, vér aukum kaf króki, kaldnefr furu halda. Im nächsten Sommer – das sehe ich kommen – wird die ,kalte Nase‘ die ,Föhre‘ mit ihrer ,Öse‘ festhalten; oft werfen wir den ,Haken‘ aus ! 149
Die erste Ebene der Metapher erschließt sich unmittelbar nur dem, der mit einem wikingerzeitlichen Anker vertraut ist (also dem gesamten ursprünglichen Publikum). Der Form nach modernen Ankern recht ähnlich, ist er am oberen Ende durch zwei nebeneinander liegende Ringe mit der Ankerkette verbunden.150 Dies ist die „Öse“ beziehungsweise „kalte Nase“ (der Form nach Nasenlöchern ähnlich, aber aus Eisen), die die „Föhre“ (das hölzerne Langschiff) festhält. Daneben ist die sexuelle Aggression, die – immer in der Ankermetapher bleibend und damit auf Häuptling Þorkels Töchter zielend – die Wortverbindung „Haken auswerfen“ und „Öse“ generiert, überdeutlich. Schließlich verweist die die schlanke ‚Föhre‘ fesselnde Ankerkette auf die älteren Strophen über angekettete Mädchen und damit auf Haralds vergangene Siege. Es blieb nur noch, den Worten Taten folgen zu lassen. Die Morkinskinna expliziert, was in der Heimskringla ungesagt bleibt (durch die Ereignisse selber aber hinreichend zum Ausdruck kommt): „König Harald sagte zu seinen Männern, ihm wäre es recht, wenn sie alle Kräfte daran setzten, den Spott der Dänen zu rächen, und das ganze Heer war begierig, es den Dänen heimzuzahlen.“ Im Sommer heerte Harald in Jütland und natürlich auch an der Gudenå. „Dort verbrannten sie den Hof Þorkels des Heftigen. Seine Töchter wurden gefesselt zu den Schiffen gebracht. Man erzählt, dass ein Wächter, der die Flotte König Haralds gesichtet hatte, zu Þorkels Töchtern sagte: „Ihr habt doch gesagt, dass Harald nicht nach Dänemark kommen würde!“ Sie antworteten: „Das war gestern.“151 Und auch darüber wurde ein Vers in Umlauf gebracht:
149 Ebd., Str. 101; man beachte, wie sowohl die dem Norwegerhof hinterbrachte Beleidigung als auch beide Halbstrophen auf dasselbe Verbum halda „(fest)halten“ ausgehen. – In den verschiedenen Versionen der Episode in den Sagas (Heimskringla, Morkinskinna, verschiedene Abschriften der Fagrskinna) variiert die Zuschreibung der Halbstrophen an die beiden Urheber; Snorris Lösung ist vor dem Hintergrund des ,Sitzes im Leben‘ der Skaldik die stringenteste. – Finnur Jónsson hat einen etwas varianten Text, insbesondere kaldnets statt kaldnefr, wodurch die ,kalte Nase‘ (der Ankerring) zur Genitivbestimmung des Schiffs („des kalten Netzes“) wird. Diese Version halte ich für wenig überzeugend. 150 Ein Schiffsgrab mit sehr gut erhaltenem, 1,36 m hohem Anker an einer 10 m langen Ankerkette wurde 1935 in Ladby freigelegt; zu Befunden und Deutung vgl. zuletzt Sørensen, Ladby (2001). 151 Ebd.: Þá brenndu þeir bœ Þorkels geysu. (...) Váru þá leiddar dœtr hans bundnar til skipa. (...) Svá segja menn, at njósnarmaðr mælti, sá er sét hafði flota Haralds konungs, við dœtr Þorkels geysu: „Þat s™gðu þér, Geysudœtr, at Haraldr mundi eigi koma til Danmarkar.“ Dótta svaraði: „Svá var í gjárna.“ – Dótta, hier als Eigenname aufgefasst, dürfte eine Korruption von dóttir „Tochter“ sein.
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4 Der expressive Aspekt Sk™ru jast ór osti eybaugs Dana meyjar, þat of angraði þengil þing, akkerishringa. Nú sér m™rg í morgin mær, hlær at því færi, ernan krók ór járni allvalds skipum halda. Aus Käselab schnitten die Dänenmädchen Ankerringe; das erzürnte den Fürsten über alle Maßen. Nun sieht manches Mädchen am Morgen starke Eisenringe des Herrschers Schiffe halten, und wenige lachen dabei. 152
Die Metapher ist Wirklichkeit geworden, die Mädchen sind Haralds Beute. Ihr Vater, der keineswegs dem Angriff zum Opfer gefallen ist, darf sie mit einem „ungeheuren Lösegeld (með ógrynni fjár) freikaufen, und die Episode ist abgeschlossen. Harald dem Harten gelang es nie, seinen Anspruch auf Dänemark durchzusetzen, doch erst zwanzig Jahre später schloss er mit Sven Estridsen ein Stillhalteabkommen. Politisch war die Episode also der Auftakt zu einem fortgesetzten Misserfolg153, doch betrachtet man lediglich den verbalisierten und gestualisierten Konfliktverlauf, so steht Harald am Ende ,im Plus‘ da – und es ist denkbar, dass für den Ruf seines noch jungen Königtums in Nordeuropa dieser Propagandaerfolg wichtiger war als die genaue Aufrechnung der Beute und Feuersbrünste, die die Könige einander quer übers Skagerrak zufügten. In diesem Kampf hatten die beiden Mädchen eine nicht nur entscheidende, sondern auch aktive Rolle; man sieht sie hier einmal nicht nur als Sememe eines symbolischen Systems, sondern zur gleichen Zeit als dessen Benutzerinnen. Sie nehmen gewissermaßen einen semantischen Akt mit sich selber vor. Diese Feststellung erweckt das kritische Misstrauen: Ist nicht die gesamte Episode eine (männliche) literarische Fiktion, oder besser die genrebedingte Literarisierung politischer Vorgänge, die zwar den realen Harald und den realen Þorkel den Heftigen betreffen, seine Töchter aber allenfalls als passive Beute vorkommen lassen? Obgleich der kritische Einwand methodisch gerechtfertigt ist, halte ich ihn nicht für stichhaltig. Es gibt – außer einem generellen Misstrauen gegenüber weiblichen Handelsspielräumen in einer Männergesellschaft – keinen Anlass, die 152 Ebd., Str. 103. Es ist nicht eindeutig, ob die durch zwei Verse voneinander getrennten Wörter eybaugs „des Inselringes“, Kenning für „des Meeres“, und þing „Sache“ zusammengehören („Seegerät“ als Doublette zu „Ankerring“) oder auf die jeweils angrenzenden syntaktischen Einheiten zu verteilen sind („die Dänenmädchen von der Küste“ und „die Sache verärgerte den Fürsten“). In beiden Fällen ist inhaltlich nichts gewonnen oder verloren, darum übergehe ich beide in der Übersetzung. 153 Snorri sagt ausdrücklich (c. 34), dass Svens Angriffe auf Norwegen nicht minder Schaden anrichteten als umgekehrt.
Der Käse und die Ankerketten: Haralds des Harten Beute (1047)
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Lebensweltlichkeit der Episode grundsätzlich zu bezweifeln. Sie steht quellenmäßig mindestens ebenso gut da wie die meisten in den Königssagas berichteten Ereignisse, und zudem ist der Ablauf der Herausforderungen in sich sehr detailliert und zugleich auffällig ungewöhnlich. Zumindest der Kern – ,Frauen äußern eine mit der Haltbarkeit von Haralds Ankern zusammenhängende Beleidigung‘ – ist den Skaldenstrophen zu entnehmen, und um diese zu diskreditieren, wäre eine übermäßige philologische Anstrengung erforderlich.154 Gewiss ist es möglich zu argumentieren, erst die Sagaverfasser des 13. Jahrhunderts hätten die Strophen um die Ankermetapher (die Harald und Dänenmädchen, nicht aber einen bestimmten Häuptling nennen) mit dem Überfall Haralds auf Þorkel verbunden. Doch dies wäre ein unwesentliches Detail, denn die Beleidigung durch Mädchen, die Harald ausweislich des Sagakommentars „über alle Maßen erzürnt“155, und ihre Konsequenzen sind Bestandteile des Strophenwechsels. Den durch diese zeitgenössische Überlieferung etablierten Handlungsablauf konnten alle wichtigen Königssagas im 13. Jahrhundert aufnehmen und in ihr eigenes Sinnsystem einfügen. Inwiefern ist dies eine polygyne Episode? Außer metaphorisch in Þjóðólfs Skaldenstrophe mit Haken und Öse ist es zu keinen sexuellen Handlungen gekommen. Gewiss handelt es sich um zwei Mädchen, und biographisch betrachtet hatte König Harald zu jenem Zeitpunkt bereits eine Frau (Elisabeth aus Nowgorod) und war im Begriff, die zweite zu nehmen (die Häuptlingstochter Þóra), so dass die Situation potentiell polygyn war. Aber eigentlich ist die Frage, ob es zu Vergewaltigungen im sexuellen Sinn gekommen ist, für den ,expressiven‘ Aspekt der Episode nicht mehr von Bedeutung. Da weder die Jungfräulichkeit beziehungsweise ihr Verlust noch überhaupt die Zahl und Art früherer Sexualpartner für den sozialen Rang, das Ansehen oder die Zukunftschancen einer Frau entscheidend waren, konnte König Harald die Mädchen, nachdem er sie einmal in Ketten auf sein Schiff gebracht hatte, getrost ignorieren. Das Entscheidende war, dass er sie in seine Macht gebracht und dies in einer Weise inszeniert hatte, die gewissermaßen ihre ursprüngliche (ebenfalls gestische) Herausforderung beantwortete. Kaum war dies getan, konnte er – sicher auch unter dem Gesichtspunkt der Deeskalation – in Verhandlungen mit dem Vater eintreten. Harald wollte Dänemark nicht verwüsten, sondern regieren, und daher war es ratsam, der Behauptung seiner Autorität nun eine gewisse Konsensbereitschaft folgen zu lassen.156 Damit sind aber auch die Mädchen – allem Anschein zum Trotz – nicht mehr Opfer, sondern Akteure der Episode. Wie ihr Vater (der Hof und Reichtum eingebüßt hat) gehen 154 Neben der gesamten Prosaepisode müsste die dritte hier zitierte Strophe („Aus Käselab schnitten...“) als unhistorische, späte Hinzufügung erklärt werden, wodurch die Pointe der beiden vorigen Strophen von Harald und/oder Þjóðólf ins Leere ginge. 155 Das signalisiert die Verwendung des Expletivpartikels of „so sehr, allzusehr“ in den Worten þat of angraði þengil „das erzürnte den Fürsten über alle Maßen“. 156 In der Morkinskinna überlässt Þorkel Harald das Selbsturteil, erkennt also seinen Sieg an. Nach der Zahlung des als Bußgeld für zugefügte Beleidigungen interpretierten Lösegelds verlassen die beiden einander „geschlichtet“.
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sie mit verringertem Ansehen, aber substantiell unbeschädigt aus ihr hervor. Ebenso verhält es sich mit sämtlichen aktiv Beteiligten an Saga-Konflikten, soweit diese nicht tödlich enden, ganz anders aber mit jenen, die passiv in sie hineingezogen werden: Haus und Hof, Knechte und Gefolgsleute und oft genug auch die Frauen, die geraubt und versklavt werden. Durch ihr Auftreten sind Þorkels Töchter dieser Rolle entgangen; sie haben sich – wieder in Carol Clovers Begriffen – auf die Seite der ,Machtvollen‘ geschlagen. Ohne dadurch in irgendeiner Weise sozial zu ,Männern‘ zu werden, gebrauchen sie im Gegenteil ihre Semantisierbarkeit als Frauen, um mit sich selbst Aussagen zu machen. Die Episode ist nötig, um dem Eindruck vorzubeugen, die Interpretation der Polygynie unter ihrem ,expressiven‘ Aspekt mache die Frauen zu Zeichen in einem Diskurs, den Männer untereinander führen. Tatsächlich nehmen die Frauen auf vielerlei Weise an ihm teil: Man täte einer Ælfgifu von Northampton oder einer Sigríð auf Vík Unrecht, wollte man annehmen, dass sie nur teilnahmslose Werkzeuge ,ihrer‘ Männer waren und nicht einen mindestens so regen Anteil an den Anliegen ihrer Gruppe nahmen, wie die Morkinskinna ihn von der Häuptlingstochter Margrét behauptet: „Ihr Vater pflegte sich mit ihr in beinahe allen Dingen zu beraten.“ Und das dürfte auch dort nicht wesentlich anders gewesen sein, wo die Geschichtserzählungen in lateinischer Sprache die Frauen fast nur kollektiv und im grammatischen Patiens erscheinen lassen. Die Krieger Heinrichs IV., die die sächsischen Frauen öffentlich vergewaltigten oder sie in ihre Lager mitnahmen, „sie missbrauchten, wenn die Lust sie ankam“, und irgendwann den Männern zurücksandten157 – sie sind Zeitgenossen Haralds des Harten und der Töchter des Þorkel geysa. Häufig genug werden sich diese Dinge ähnlich individuiert, ‚expressiv‘, ereignet haben; auch dort, wo sie nie aufgezeichnet wurden, werden solche Geschichten erzählt, gesungen und erinnert worden sein, und die Sächsinnen (und Fränkinnen, Irinnen, Aquitanierinnen) der Führungsgruppen haben gewiss ebenfalls oft in ähnlicher Weise Initiative gezeigt wie die spottenden Häuptlingstöchter am Kattegat – und ähnlich viel riskiert.
157 Lampert von Hersfeld, Annales, s. a. 1073: Filias eorum et uxores consciis et pene aspicientibus maritis violabant. Nonnullas etiam vi in castella sua raptas et, quanto tempore libido suggessissent, impudicissime habitas ad ultimum maritis cum ignominiosa exprobatione remittebant.
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Der performative Aspekt
Ego murus et ubera mea sicut turris (Ct 8,10)
„Mädchen und Burgen“ Hin und wieder begegnet man in erzählenden Quellen des europäischen Mittelalters Nachrichten, die sich der Einordnung in das hier vorgestellte System aus generationalen Chancen, habitualen Bedürfnissen, agonistischen Zwängen und expressiven Gelegenheiten entziehen. Wenn etwa König Philipp der Schöne (r. 1285–1314) in der Österreichischen Reimchronik des Ottokar von der Steiermark die im Louvre gefangengehaltene Tochter des Grafen Gwijde von Flandern mit gewalte und ân iren danc nahm1, so war dies im Hinblick auf erhoffte Nachkommenschaft unnütz und für Habitus und Herrschaftsstilisierung angesichts des ritterlichen Ethos, das die Vergewaltigung von Edelfrauen durchweg missbilligte, eher kontraproduktiv. Auch als expressiven Akt kann man die Vergewaltigung im Kerker kaum verstehen, da die Grafentochter Philippa sich als Ergebnis des von ihrem Vater bereits verlorenen Konflikts als Geisel im Louvre befand, alle nötigen Zeichen also bereits seit längerer Zeit gesetzt waren. Selbst wenn man die Faktizität des Berichts bezweifelt, so bleibt zu konstatieren, dass die Nachricht als solche von Paris ins Steirische gewandert war oder dass Ottokar aus den ihm bekannt gewordenen Umständen einen pointierten Schluss gezogen hat; letztlich ist entscheidend, dass man es dem König von Frankreich zutraute, die Gewalt über die gefangene Tochter eines ,treubrüchigen Vasallen‘ sexuell auszunutzen. Zu bezweifeln ist, dass der Bericht lediglich einen weiteren Beleg für Philipps ja auch in anderen – namentlich ökonomischfiskalischen – Dingen attestierte Maßlosigkeit liefern sollte; die politischen Details sind dafür zu präzise und stimmig. Was trieb also Philipp den Schönen, den politischen Akteur, oder ,Philipp den Schönen‘, die Königsfigur in der steirischen Reimchronik, in Philippas Kerker? Was veranlasste Swen Godwineson, ausweislich der Angelsächsischen Chronik im Jahre 1046 auf der Rückkehr von einem kriegerischen Vorstoß ins walisische Grenzgebiet die Äbtissin des mercischen Klosters Leominster „zu sich bringen zu lassen, und sie so lange bei sich
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Ottokar aus der Gaal, Österreichische Reimchronik, v. 63482f.; vgl. Rieger, Viol (1988), 243.
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zu behalten, wie es ihm gefiel, und sie dann wieder heimreisen“ zu lassen?2 Warum hielt Edmund ,Eisenseite‘ es 1002 für angebracht, einen soeben von seinem Vater Æthelred dem Unberatenen veranlassten Mordbrand in Oxford zu ergänzen, indem er sich eigenmächtig auf die Reise zu der im westsächsischen Kernland gefangengehaltenen Frau eines der verbrannten nobilissimi Danorum machte, „sie erblickte, begehrte und nahm“3? Erzbischof Wulfstan von York malte wenig später in einer Predigt aus, wie gleich „zehn oder zwölf Dänen, einer nach dem anderen, die Frau oder auch die Tochter oder Cousine des englischen Thanes schänden, während er, der sich soeben noch für stolz, kühn und mächtig hielt, zusehen muss.“4 Einerseits stehen diese Fälle von Kriegsvergewaltigung in einem Kontinuum, das (mindestens) vom vorköniglichen Israel5 bis in die Gegenwart reicht. Es ist ein sehr altes und allzu neues Schema; die Nachkriegsmoderne hat Europa hier lediglich eine leider nur kurze Ausnahme beschert. Andererseits ist innerhalb des Schemas „Mädchen und Burgen / müssen sich geben“6 wie bei allen ‚historischen Konstanten‘ mit einiger Varianz zu rechnen. Um sie soll es hier gehen.
Abischag am Hofe des Hákon Hákonarson Dabei ist, wie bereits angedeutet, zunächst eine möglichst deutliche Trennung vom ,expressiven‘ Aspekt zu etablieren. Er sei an biblischen Fällen erläutert: Eine ,expressive‘ Absicht verfolgte Absalom, als er im Verlauf seiner Revolte gegen seinen Vater David nach dem geglückten Einzug in Jerusalem auf den Rat seiner Vertrauten hin zuerst 2
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ASC C, s. a. 1046: Her on þysum geare for Swegn eorl into Wealan 7 Griffin se norþera cyng [Gruffydd ap Llewellyn, König von Gwynedd und Powys; er hatte eine Tochter des Earls von Mercien zur Frau] forð mid him, 7 him man gislode [er erhielt Geiseln gestellt]. Þa he hamwerdes wæs, þa het he feccan him to þa abbedessan on Leomynstre 7 hæfde hi þa while þe him geliste, 7 let hi syþþan faran ham. Wilhelm von Malmesbury, GRA II, 179: Vxor Sigeferdi Malmesberiam in captionem est abducta, spectabilis nobilitatis femina; quapropter Edmundus, regis filius, dissimulata intentione in partes illas iter arripiens, uisam concupiuit, concupitae communionem habuit. – Mehr noch als bei Philipp dem Schönen schließt es die Detailgenauigkeit aus, hinter der Episode eine nur allgemeinmoralische Verdammungsabsicht zu vermuten: Sie trug sich in Malmesbury zu, dem Ort von Wilhelms Kloster, über dessen Geschichte er auch erheblich ältere Nachrichten in Fülle berichten kann; für den Mordbrand in der St. Frideswide-Kirche zu Oxford im Gefolge des berühmt-berüchtigten Massakers am Briciustag (13. November 1002), der dieser Episode logisch wie textlich direkt vorausgeht, stützt Wilhelm sich nach eigener Angabe auf eine – erhaltene – dokumentarische Quelle in archiuo. Sermo Lupi ad Anglos (1014), in: Bethurum (Hrsg.), The Homilies of Wulfstan (1957), Nr. 20, 267–75: oft tyne oððe twelfe, ælc æfter oþrum, scendað to bysmore þæs þegenes cwenan 7 hwilum his dohtor oððe nydmagan, þær he on locað, þe læt hine sylfene rancne 7 ricne 7 genoh godne ær þæt gewurde. Idc 21,22: rapuerunt eas iure bellantium et victorum. Vgl. Idc 5,30; 19,23ff.; II Sm 12,11. Faust I „Vor dem Tor“ (Lied der Soldaten, unmittelbar vor dem Osterspaziergang).
Abischag am Hofe des Hákon Hákonarson
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„vor den Augen von ganz Israel zu den Kebsweibern seines Vaters hineinging“, denn es wird ausdrücklich auf die erhoffte Wirkung der Nachricht von der solchermaßen erfolgten „Besudelung“ Davids auf die Zögernden im Lande hingewiesen.7 Aber nicht wirklich ‚expressiv‘ können wir folgende Episode verstehen, die sich im Wettstreit mehrerer Söhne um die Nachfolge Davids zuträgt: Adonija, der seinen durch relativ hohe Geburt gegebenen Vorsprung bereits zu Lebzeiten des Vaters durch demonstrative Großzügigkeit auszubauen gesucht hatte, sieht sich im entscheidenden Moment durch Batscheba, die ihre Nähe zum sterbenden König für die Lancierung ihres Sohnes Salomo ausnutzt, um die Favoritenposition gebracht. Leichtsinnigerweise ersucht Adonija, seinen Anspruch scheinbar zurückstellend, ausgerechnet Batscheba, dem designierten Nachfolger Salomo seine Bitte zu unterbreiten: Er möchte die Abischag aus Schunem – die Bettgefährtin des alternden, bereits impotenten David8 – zur Frau (uxor) haben. Batscheba richtet das Ersuchen in einer Weise aus, die Salomo antworten lässt, statt nur Abischag möge man doch gleich das Königtum von ihm fordern! Dann ruft Salomo seinen Gott als Bundesgenossen an und lässt Adonija erschlagen (III Rg 2,19–25). Salomos Reaktion hat manchen modernen Kommentator ratlos gelassen.9 Am norwegischen Königshof hatte man um 1250 hingegen offenbar keine Probleme, mit Salomo den Griff des Halbbruders nach der letzten Beischläferin des Vaters als Griff nach der Herrschaft zu verstehen. In dem in Hofkreisen entstandenen Königsspiegel (Konungs skuggsjá, vgl. Kap. 4) wird die Geschichte aus dem israelitischen Königsbuch folgendermaßen ausgelegt:
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II Sm 16,22: ingressusque est ad concubinas patris sui coram universo Israhel. Absaloms Berater Achitophel expliziert (16,21): ut cum audierit omnis Israhel quod foedaveris patrem tuum, roborentur manus eorum tecum. – Im norwegischen Königsspiegel (Konungs skuggsjá, hrsg. von HolmOlsen [21983], 109) wird die Lektion, in ihrer fortgesetzten politischen Relevanz erkannt, textnah epitomisiert und dabei ihre öffentliche Wirksamkeit betont: Absalon son hans gecc i augliti allz folks oc lagðez mæðr [sic] friðlum hans oc gerðe þessa skom fæðr sinum firi allu folki „Sein Sohn Absalon ging vor den Blicken des ganzen Volkes und lag mit seinen Frillen und tat seinem Vater diese Schmach an vor allem Volk“. Zur Figur vgl. Häusl, Abischag und Batscheba (1993), die mit vergleichend-linguistischen Argumenten vorschlägt, den Hapax legomenon סכנתSKNT (modern vokalisiert sokènèt; zur Wurzel SKN „Nutzen bringen“ mit Femininumsuffix -t), den die Vulgata verbal mit foveat eum und die deutsche Bibel als „Pflegerin“ übersetzt, als Amtsbezeichnung (etwa „Vorsteherin der königlichen Gemächer“) aufzufassen. Adonija hätte demnach die Heirat mit einer einflussreichen Person im Palast gesucht. Während diese Erwägungen zum Verständnis des Bibeltextes zweifellos wertvoll sind, haben sie keine Relevanz für den mediävistischen Kontext, in dem die lateinische Bibel autoritativ ist. Hier ist Abischag eine adulescentula[.] virg[o]... erat autem puella pulchra nimis / dormiebatque cum rege et ministrabat ei / rex vero non cognovit eam (III Rg 1, 2 und 4). Häusl, Abischag und Batscheba (1993), 245ff., führt unterstützend für ihre These an, Salomos heftige Reaktion bliebe unverständlich, wenn Abischag keine mächtige Amtsträgerin, sondern ,nur‘ die jugendliche Beischläferin des alten Königs gewesen sei.
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5 Der performative Aspekt
Abischag war jung und das schönste Mädchen des Reiches und aus sehr gutem und angesehenen Geschlecht. Man führte sie zu Davids Bett, damit sie neben ihm liegen und ihn wärmen und ihm dienen sollte, und damit David sich an der Weichheit ihrer Haut erwärmen möge. [...] Und darum erwarb Abischag so großes Ansehen, dass sie in den Augen des Volkes als die Hauptkönigin über allen anderen Königinnen galt, und ihre Ehre wurde geheiligt (helgat) dadurch, dass sie in Davids Umarmung gelegen hatte. Und mit diesem Gedanken bemühte sich Adonija nach dem Tod Davids, sie zur Frau zu gewinnen, dass er so auf hinterlistige Weise zur Herrschaft gelangen könnte. Denn bekäme er Abischag, würde das ganze Volk sagen, dass derjenige der Geeignetste wäre, auf Davids Thron zu sitzen, der es am meisten wert wäre, in Davids Bett und in der Umarmung zu liegen, die David durch sich selbst geheiligt hätte. Außerdem meinte er, dass Abischags Brüder und ihre Verwandten ihm, wenn er sie nähme, die Herrschaft eher gönnen würden als einem Mann, der ihnen nicht auf diese Weise verbunden wäre.10
Zuerst erstaunt, dass die Abischag-Geschichte dem Verfasser des norwegischen Königsspiegels überhaupt eine solch extravagante amplificatio wert war. Außerdem erstaunt ihre Position im Königsspiegel; es wird diesem Wissen also ein Wert für künftige Könige – die ostentativen (und primär wohl tatsächlichen) Adressaten dieses als Dialog zwischen Vater und Sohn aufgebauten Traktats – und ihre Umgebung zugemessen. Besondere Aufmerksamkeit verdienen deshalb die Abweichungen vom Vulgata-Text, angefangen mit der sprachlichen Adaptation, durch die der sacerdos Ebjatar (2,22) zum „Bischof“ wird, Salomo die Handlungsweise Adonijas mit aus norwegischer Rechts- und Geschichtsprosa wohlbekannten Termini als dróttinsvík „Hochverrat“ und níðingsráð „Verschwörung von Ehrlosen“ bezeichnet und die alttestamentlichen Nebenfrauen zu ,Frillen‘ akkulturiert werden11, und überhaupt die nur wörtliche, nicht-allegorische Lesung, die im Gegensatz zur exegetischen Standard der Zeit steht.12 10 Konungs skuggsjá, hrsg. von Holm-Olsen (21983), 119f.: Þa var abisag vng ok meyia fegurzt j rikinu ok af ennj beztu ok stæstu ætt. Enn hun var leidd til sængur davids kongs til þess at liggia ner honum ok uerma hann ok þiona honum. at david skylldi taka verma af blautu hennar horundi. (...) Enn firi þat hlaut abisag suo mikla sæmd at hon uar uird hofuddrottning jfir ollum drottningum j augliti allz lyds. ok helgadizt suo tign hennar af fadmlagi davids. Enn med þeiri athygli leitadi Adonias kuanfangs eptir andlat davids at hann ætladizt suo at komazt at rikinu med flærdsamligri uel. þuiat suo mundi folkit allt mæla ef hann fengi Abisag at sa ueri makligaztur at sitia i sæti davids er uerdaztr uar at liggia j sæng davids. ok þess uar uerdr at liggia j þeim fadmi er david hafdi helgat med sialfum sier. þat ætladi hann ok sem uera mundi, at brædr abisag ok allir frændr hennar mundi betur unna honum rikis ef hann fengi hennar. helldr en þeim manni er ecki uar uid þa leytum bundinn. – Mit etwa 60 Handschriften, die bis ins 13. Jahrhundert zurückgehen, ist der Königsspiegel das wohl meistverbreitete Werk der nordischen Traktatliteratur. Vgl. Ludvik HolmOlsen, Art. Konungs skuggsjá, in: EMSc, 366f., mit weiterführenden Literaturhinweisen, sowie aus historischer Perspektive insbesondere Bagge, “The King’s Mirror” (1987). 11 Konungs skuggsjá, hrsg. von Holm-Olsen (21983), 109 (über Absalom nach II Sm 16,21): friðlur (Plural von friðla~frilla) für concubinae (Vulgata) bzw. παλλακαί (Septuaginta)/ פלגשיםpilagschim. 12 Im Anschluss an Hieronymus zeichnet sich spätestens seit Hrabanus Maurus (Comm. lib. Reg. III, 1, in: PL 109, Sp. 123ff.) als vorherrschende Tendenz ab, die Figur der Abischag rein allegorisch, insbesondere als die von Adonijas Ansprüchen bedrohte Reinheit des Salomo von Gott verheißenen Friedenskönig-
Abischag am Hofe des Hákon Hákonarson
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Auffallend sind aber vor allem zwei Punkte: Erstens wird Abischags Sippe, die der Bibeltext nicht erwähnt – im Gegenteil wird dort (1,3) der Eindruck einer Mädchenlese erweckt –, zu einer politischen Gruppierung, mit der zu rechnen ist. Zweitens wird die in der Bibel nirgends ausdrücklich erläuterte Beziehung, die offenbar zwischen Abischag und dem regnum besteht (und die Salomo zu seiner scheinbaren Überreaktion veranlasste), mehrmals13 in aller Ausführlichkeit und Deutlichkeit erklärt: Das Mädchen ist durch Davids Umarmung „geheiligt“, und dieses Heil geht auf den nächsten über, dem die Umarmung zuteilwird. Der Rückschluss von dieser hochmittelalterlichen norwegischen Exegese auf zeitgenössische Haltungen ist nicht ganz einfach. Unproblematisch ist es für den eher ‚expressiven‘ Aspekt: Adonijas Spekulieren auf die Unterstützung durch Abischags „Brüder und Verwandte“ musste angesichts der Karriere eines Saxi í Vík (vgl. Kap. 4) unmittelbar einleuchten, und dass um die Königsmacht rivalisierende Brüder ihren Primatsanspruch vermittels der Übernahme von Frillen zum Ausdruck brachten, war das historisch avertierte Publikum des 13. Jahrhunderts zum Beispiel vom ,Männervergleich‘ der Königsbrüder Sigurð und Eystein um die junge Borghild (vgl. Kap. 3) gewöhnt. Insofern hat auch Adonijas Griff nach Abischag eine ‚expressive‘ Komponente. Wie aber kam der Verfasser des Königsspiegels darauf, David habe durch seine Umarmung die Frau „geheiligt“, die Adonija nun zur Nachfolge verhelfen sollte? Auszuschließen dürfte die Möglichkeit sein, eine Vorstellung der „heiligenden“ Kraft der königlichen Umarmung in Nordeuropa habe auf die David-Darstellung eingewirkt. Obgleich die Idee des ,Königsheils‘ insbesondere in der rekurrenten Phrase ár ok friðr „Ernteglück und Sicherheit“, deren Ausbleiben zum Sturz eines ,glücklosen‘ Herrschers zu führen pflegte, in den Sagas stets präsent ist, gibt es keine Anzeichen dafür, dass den königlichen Emanationen segenspendende Kraft zugebilligt wurde. Die für die Wikingerzeit vieldiskutierte Frage nach einem skandinavischen Sakralkönigtum14 stellt sich für das hohe Mittelalter zum einen im Hinblick auf die Königsheiligen Óláf, Erik und die beiden Knuts15, zum anderen auf die Mythographie der Königssagas und ihre Darstellung des vorchristlichen Sakralkönigtums.16 Keine dieser Fährten führt zu David und Abischag:
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tums zu deuten. Bei Petrus Damiani dient sie als Exemplum des Satzes ‚Wer einmal sündigt und nicht ermahnt wird (als nämlich Adonija seine Usurpation mit Großzügigkeit und Gastfreundschaft vorbereitete), der begeht eine zweite‘ im Kampf gegen einen ‚unwürdigen‘ Erzbischof (Epp. Kaiserzeit IV,2, Nr. 88) oder als Allegorie für sapientia und intelligentia (Epp. Kaiserzeit IV,3, Nr. 135). Die Amplificatio von Salomos zorniger Antwort auf das durch seine Mutter vermittelte Ansinnen Adonijas wiederholt die Passage über den „geeigneten Nachfolger, der in Davids Bett liegt“. Vgl. zusammenfassend McTurk, Sacral kingship in ancient Scandinavia (1974–77); ders., Scandinavian sacral kingship revisited (1994–97); ders., Art. Kingship, in: EMSc, 353ff. (mit weiterführender Literatur); Steinsland, Mythologische Grundlage (1992); dies., Den hellige kongen (2000); dies., Norrøn religion (2005). Vgl. Hoffmann, Die heiligen Könige (1975); Røthe, Odinskriger (1999). Der Locus classicus ist die rituelle Opferung des Sveakönigs Dómaldi in der Ynglinga saga der Heimskringla (c. 15); vgl. zusammenfassend Lönnroth, Dómaldi’s death (1986).
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5 Der performative Aspekt
Weder Óláf noch seine heiligen Amtskollegen in Schweden und Dänemark sind Thaumaturgen, ihr postmortales Protektorat über ihre jeweiligen Reiche ist im Rahmen der Visio beatifica gedacht und entbehrt jeder körperlichen Komponente. Der Nexus von Königsblut und Landesheil ist definitiv in die heidnische Vorzeit verlagert und erfüllt dort eine zwar mehrdeutige (also nicht gänzlich negativ-dämonisierte), aber rigoros alterisierte Funktion. Nicht einmal das in Stiklestad vergossene Blut des heiligen Christuskämpen Óláf hat eine Wirkung, die über die orthodoxen Berührungs- und Heilungswunder an einzelnen Gläubigen hinausginge: es tränkt nicht den Boden seines Reiches, sondern es bildet Lachen, in die ein Blinder versehentlich greift, sich die Augenhöhlen reibt und wieder sehend wird.17 Die im Königsspiegel in erläuternder Absicht hinzugefügte und durch mehrfache Wiederholung unterstrichene Bemerkung von der „Heiligung“ des Nachfolgers durch den Vorgänger in Abischags Armen hat also mehr mit ihr als mit ihm zu tun. Die Frage lautet demnach, ob die Passage durch eine Disposition motiviert sein könnte, der geschlechtlichen Verbindung eine von ihrem ,expressiven‘ Aspekt wesentlich verschiedene Qualität zuzumessen. Die „Heiligung“ der Umarmung ist ein Begriff, der auf eine Vorstellung dieses Beilagers schließen lässt, der mehr als nur die expressivkommunikative Komponente enthält. Er deutet darauf hin, dass das Beilager nicht nur eine Mitteilung darstellt, etwas ,bedeutet‘, sondern selber etwas ,ist‘: Indem Adonija mit Abischag läge, signalisierte er nicht nur seinen Griff nach dem Königtum, sondern nähme ihn bereits vor. In seiner Theorie des Sprechaktes unterscheidet J. L. Austin perlokutive und illokutive Sprechakte. Perlokutiv sind solche, ‚durch welche (by which)‘ etwas geschieht, also Äußerungen mit Folgen – der kommunikative Normalfall. Illokutive Sprechakte (,in which‘) sind solche, die bereits durch die Tatsache, dass sie gesprochen werden, Konsequenzen haben – Austins klassisches Beispiel sind die Worte „Ich erkläre die Brücke für eröffnet“. In soziale Semantik übertragen, entspricht das in etwa dem Unterschied zwischen den hier diskutierten Aspekten. Adonijas Wunsch, Abischag zu bekommen, ist perlokutiv genug (die Folgen sind drastisch), aber hätte er sie bekommen und sich auf diese Weise „geheiligt“, wäre das offenbar das praktische Äquivalent eines illokutiven ‚Sprechakts‘ gewesen. Nun ist ein Beilager kein Sprechakt, und daher lassen sich Austins aus der Vokabel locutio gewonnenen Begriffe nicht auf den hier zu diskutierenden letzten Aspekt der mittelalterlichen Elitenpolygynie anwenden. ‚Symbolisch‘ wäre nicht genug (Abischag ist offensichtlich nicht bloß ein Symbol für die Herrschaft), ‚sakral‘ wäre einengend (was Philipp der Schöne im Kerker tat, war alles andere als sakral). Mit einer gewissen Verlegenheit möchte ich diesen Aspekt den ‚performativen‘ nennen, im Bewusstsein, dass schon J. L. Austin den Begriff wieder verworfen und stattdessen das Wortpaar ‚per-/illkokutiv‘ eingeführt hat, und in der Hoffnung, dass der Leser beim Anblick dieses kulturwissenschaftlichen Klischees nicht müde abwinkt, denn mir geht es nur um die schlichte 17 Das Wunder steht u. a. in OsH c. 236; Passio et miracula beati Olavi (in: Monumenta historica Norvegiæ, hrsg. von Storm [1880]), II 1.
Nordeuropäische Hierogamie?
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Vokabel: Im Unterschied zum ‚expressiven‘ Aspekt zielt der ‚performative‘ nicht primär auf Außenwahrnehmung und -wirkung (Adonija will, dass man ihn als Prätendenten wahrnimmt), sondern entfaltet seine Wirkung durch sich selber (Adonija will die „Heiligung“ durch die Frau seines Vaters). Dass auch dieser Akt kommuniziert und wahrgenommen werden soll, ist nicht ausgeschlossen und vermutlich die Regel, aber bereits nachgelagert. Faðm er helgat, „die Umarmung ist geheiligt“: Was heißt jenes Wort, das den Unterschied zwischen einer sozialsemantischen Mitteilung und einem Fait accompli bezeichnet?
Nordeuropäische Hierogamie? Helgi „Heiligkeit“ und faðm „Umarmung“ sind die lexikalischen Entsprechungen von hieros und gamos: Der ,performative‘ Aspekt ist nichts anderes als die Frage, ob im europäischen Mittelalter mit Vorstellungen von Hierogamie zu rechnen sei. So global gestellt, ist sie selbstverständlich mit ,ja‘ zu beantworten: Die Wirkung der mittelalterlichen Hohelied-Exegese mit ihrer Deutung von der Vermählung Christi mit der Kirche sowie ihre Weiterungen, etwa die Idee von der Vermählung des Bischofs mit seiner Kirche im Moment der Investitur18, dürfte den Gedanken von der heiligen Hochzeit in einem Maße kulturell verankert haben, dass es vielleicht nicht übertrieben ist zu behaupten, die mittelalterliche Sakramentalisierung der menschlichen Ehe sei ohne diese theologische Voraussetzung nicht möglich gewesen. Zu fragen ist also statt nach dem (Quasi-) Universalen vielmehr nach dem Partikularen: ob nämlich in den regionalen europäischen Laienaristokratien hierogame Vorstellungen wirksam waren, die nicht (oder nicht allein) auf das biblisch-ekklesiologische Modell rückführbar sind. Zumindest in einem der einleitend mit Fragecharakter versehenen Fälle meint Margaret Clunies Ross – obgleich sie es sehr zurückhaltend formuliert – solche Zusammenhänge erkennen zu können. Den Übergriff des Swen Godwineson auf die Äbtissin von Leominster im Jahre 1046 vergleicht sie mit anderen Notizen der Angelsächsischen Chronik über Nonnen, die im Verlauf von Thronstreitigkeiten oder anderen Magnatenkämpfen von einem Parteiführer genommen werden, und zieht den Schluss, die sexuelle Beherrschung einer geweihten Frau aus dem eroberten oder zu erobernden Land sei gleichbedeutend mit der „absoluten Verfügungsmacht“ des Siegers.19 Die weitverbreitete Laienvogtei über Kirchen und Klöster, so Clunies Ross, habe dazu geführt, dass die cirican hlafordes („Kirchenherren“) durchaus davon ausgegangen sein mochten, auf die in Analogie zum eigenen Hausstand ihrer Gewalt unterstellten Insassinnen von Frauenklös18 Vgl. klassisch Ohly, Hohelied-Studien (1958); zusammenfassend H[elmut] Riedlinger, Art. Hohelied, in: LdM, Bd. 9, Sp. 79ff. 19 Clunies Ross, Concubinage (1985), 31.
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tern sexuelle Ansprüche geltend machen zu können. Per extensionem seien diese Frauen dadurch zum geeigneten Objekt symbolischer Domination durch Rivalen der jeweiligen hlafordes geworden. Clunies Ross’ Vorschlag ist insofern, als sie scheinbar singuläre Phänomene zueinander in Beziehung setzt und verständlich macht, wissenschaftlich elegant; wie jede mentalitätshistorische Interpretation ist sie letztlich unbeweisbar und beruht in ihrer Überzeugungskraft auf Plausibilitätserwägungen.20 In diesem Sinne möchte ich die Beobachtung ergänzen, dass einer der von Clunies Ross zitierten Fälle – der Raub einer Klosterfrau durch den schließlich erfolglosen Prätendenten Æthelwold unter dem Jahr 900 – den Hinweis enthält, die Frau sei ær to nunnan gehalgod („bereits zur Nonne geweiht“21) gewesen. Sicher ist gehalgod die naheliegende Vokabel, um den Sachverhalt zu beschreiben. Angesichts des Umstandes aber, dass Æthelwold in einem kritischen Moment des Thronkampfes die Nonne aus seinem eigenen Familienkloster Wimborne, der Grabstätte seines königlichen Vaters Æthelred raubte, sollte man wie in der Formulierung des Königsspiegels damit rechnen, dass sich mit dem Begriff halig noch andere Vorstellungen verbanden als die kirchliche Weihe. Der Sphäre des Rechts ebenso wie dem der Religion angehörend – Sphären, die keineswegs getrennt zu denken sind –, entspricht die Vorstellung des ,Heilseins‘ am ehesten ihrem lexikalischen Äquivalent, der ,Integrität‘.22 Der Griff des Prätendenten nach ,seiner‘ Nonne mag durchaus der Heiligkeit gegolten haben, die sie durch ihre Weihe und die aus ihr resultierende Nähe zu Gottes Ohr erworben hatte – ganz gleich, wie der Bischof zeterte.23 Im Spiel war aber auch seine eigene hæle, seine Integrität, die er – nicht zuletzt vor seinen Anhängern – unter Beweis stellen musste, indem er zeigte, dass er, komme was wolle, wenigstens in ,seinem‘ eigenem Münster als Herr aufzutreten wusste.24 Konkrete ,expressive‘ Demonstration politischer Schlagkraft und die Suche nach kultischer Heiligung des eigenen Tuns sind in Æthelwolds Übergriff – den vielleicht keiner der unmittelbar Beteiligten als solchen empfand – untrennbar vereinigt. 20 Aus der Akteursperspektive argumentiert Stafford, Sons and mothers (1978), 97, mit ihrer Vermutung, die denselben Sippen angehörenden Klosterfrauen seien gegebenenfalls durchaus bereit gewesen, verbündeten Prätendenten ihr ,Blut‘ zur Verfügung zu stellen. Auch Yorke, Nunneries and the Anglo-Saxon royal houses (2003), 153–159, verzichtet auf Überlegungen über mentalitäre (hierogame) Weiterungen. 21 ASC A, s. a. 900; es geht um die Nachfolge Königs Alfreds ,des Großen‘. Im angelsächsischen Vaterunser lautet sanctificetur nomen tuum: sie þin nama gehalgod. 22 Vgl. Durrenberger, Dynamics (1992), 95: „In medieval Iceland, concepts of honor followed from concepts of holiness. (...) To respect what was holy was to be honorable. Part of that respect was to maintain one’s own sense of holiness, not to allow one’s self to be violated by the actions of others.“ 23 ASC A, s. a. 900 sagt ausdrücklich, der Bischof habe ebenso vergeblich interveniert, wie Æthelwolds Konkurrent im Kampf um das Königtum machtlos gewesen sei: þæt wif þæt he hæfde ær genumen butan cynges leafe 7 ofer þara biscopa gebod. 24 Mit seinem Griff nach dem Wessex-Königtum scheiterte Æthelwold, doch nach einem verzweifelten Ausbruch aus einem umstellten Lager gelang es ihm, in Nordhumberland als König anerkannt zu werden – ein Detail, das die besonders ,westsächsische‘ Version A auslässt, in D aber ergänzt wird.
Hákon Hlaðajarl
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Die Lakonik der Angelsächsischen Chronik lässt Motive nur andeutungsweise nachvollziehen. Spätere Schilderungen ähnlicher Situationen helfen nur bedingt weiter. König Edgar (r. 959–975) etwa ist bei Wilhelm von Malmesbury, knapp zwei Jahrhunderte später, in vielen Punkten lobenswert und doch als libidinosus in virgines ein exemplarischer Polygynist.25 Er verlangt die Überlassung von Aristokratentöchtern, wenn ihrer formae fama ihn erreicht, und hat Kinder von einer Reihe von Frauen, die Wilhelm mit sichtlicher Mühe und unter Verwendung von kirchenrechtlichen Echos wie dilexit unice... als Reihe (und nicht als Schar) erscheinen zu lassen bestrebt ist. Er holt aber auch eine schöne Jungfrau aus dem Kloster, „raubte ihre Scham und nahm sie mehr als einmal in sein Bett“.26 Ein anderes Mädchen legt, obgleich nicht geweiht, Habit an, um den Nachstellungen des Königs zu entgehen, doch der „riss ihr den Schleier herunter und legte sie ins Herrscherbett“.27 In allen Fällen tritt umgehend Erzbischof Dunstan von Canterbury, Wilhelms Held, auf und weist den König in die Schranken (in letzterem Fall für Missachtung des Habits). Wie viel an Wilhelms ,Edgar‘ ist der postgregorianische Standardfürst, der die Kirchenmauern so wenig respektiert wie ihre Gebote – und wie viel der Politiker des zehnten Jahrhunderts in Handhabung des ihm zur Verfügung stehenden Instrumentariums? Welches Maß an ,spiegelstraflicher‘ Eleganz soll man in der Buße sehen, die ihm der Erzbischof für den Raub der hübschen Nonne auferlegte: nämlich eine siebenjährige penitentia, während derer der König seine Krone nicht tragen durfte? In einem Wort: Welche mentalitäre Realität hat die Assoziation von Frau und Herrschaft?
Hákon Hlaðajarl Diesen schwer fassbaren ,performativen‘ Aspekt aristokratischer Polygynie anhand unterschiedlicher Quellen aus verschiedenen Perspektiven auch vergleichend in den Blick zu nehmen, erlaubt die Geschichte der nordnorwegischen Jarle von Hlaðir/Lade im späten zehnten Jahrhundert. Diese Zusammenschau ist meines Wissens noch nie unternommen worden und soll im Folgenden allein und exemplarisch untersucht werden. Ihr Anliegen ist es, plausibel zu machen, dass polygyne Praktiken mit einer Bedeutung befrachtet waren, die im oben dargestellten Sinn nicht expressiver, sondern performativer Art war, in ihrer Wirkung also nicht von der künftigen Rezeption durch andere abhing, sondern sie bereits durch den Akt selber entfaltete.
25 GRA II 157; seine Episoden bezeichnet Wilhelm selber als exempl[a] libidinis (II, 158). 26 GRA II 158: Virginis Deo dicatae audiens pulchritudinem, uiolenter eam a monasterio abstraxit, abstractae pudorem rapuit et non semel thoro suo collocauit. 27 GRA II 159: [Wulfthryth] quam certum est non tunc sanctimonialem fuisse, sed timore regis puellam laicam se uelauisse, moxque eandem abrepto uelo lecto imperiali subacto.
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Das Geschlecht der späteren Jarle von Lade stammte aus Hålogaland28, wohl von der Insel Andøy auf der Nordseite der Lofoten-Kette. Materielle Grundlage des Lebens – und der Akkumulation – waren hier weder Ackerbau noch Viehzucht (obgleich die Ackerbaugrenze um 1000 sicher nördlicher lag als in Spätmittelalter und Neuzeit29), sondern Fisch- und Robbenfang und vor allem der Tauschhandel mit den nomadisierenden Jägern im Inneren von Bjarmaland (< Perm’), dem subarktischen Taiga- und Tundragürtel.30 Dies verlieh den nordnorwegischen Häuptlingen eine sehr hohe Mobilität und erlaubte es Grjótgarð Herlaugsson, der ersten historisch fassbaren Gestalt des Geschlechts, gegen Mitte des neunten Jahrhunderts seine Landbasis weit nach Süden zu verlegen und sich in Yrjar/ Ørland niederzulassen, einer urbaren Halbinsel an der Einfahrt in den Trondheimfjord, von der aus er an entscheidender Stelle den küstennahen Seeweg zwischen seinen nordnorwegischen Ressourcen und dem Nordseeraum kontrollierte und – achthundert Kilometer südlicher als bisher – erheblich verbesserte Möglichkeiten hatte, sich an der aufblühenden wikingerzeitlichen Handels- und Plünderungsökonomie direkt zu beteiligen. Sein Sohn Hákon war bereits so mächtig, dass man im Hinblick auf den zeitgleichen Harald Schönhaar von einer „Vereinigung Norwegens aus einer anderen Richtung“ gesprochen31 und darauf hingewiesen hat, dass sowohl König Haralds Machtkonzentration im Süden als auch Hákon Grjótgarðssons paralleler Aufstieg in Mittel- und Nordnorwegen durch die gemeinsamen Handelsinteressen der küstennahen Mächtigen am norðveg getragen wurden.32 Haralds Allianz mit Hákon Grjótgarðsson, besiegelt respektive bezeichnet dadurch, dass dieser dem aufsteigenden Südlandkönig Harald seine Tochter Ása überließ (vgl. Schwellenkapitel), verhalf letzterem zu dem Rückhalt, den er für sein Vorgehen im Westland brauchte, und sicherte zugleich Hákon die Macht im Norden. Das gesamte zehnte Jahrhundert hindurch blieb offen, ob Skandinavien westlich des Gebirgsrückens sich in einer oder zwei Oberherrschaften organisieren würde. Wahrscheinlich war es letzten Endes das dänische, auf Kontrolle der Küsten abzielende Engagement in ,Norwegen‘, das sowohl Haralds als auch Hákons Nachkommen veranlasste, die wech28 Hálogaland ist der mittelalterliche Name für den atlantischen Küstensaum ungefähr zwischen dem 65. und dem 69. Breitengrad (in etwa die heutigen norwegischen Fylker Nordland und der Südteil von Troms). Im Süden grenzte sie an das Trøndelag und das Namdal, im Norden lief sie in das nomadisch besiedelte Bjarmaland/Finnmark aus. 29 Vgl. Ulf Sporrong, The Scandinavian landscape and its resources, in: Helle, Cambridge History of Scandinavia, Bd. 1 (2003), 15–42, 38ff. 30 Eine einzigartige Selbstbeschreibung eines hålogaländischen swyðe spedig man[nes] („sehr wohlhabenden Mannes“) und seiner Ökonomie enthält der um 890 am westsächsischen Hof aufgezeichnete und in der geographischen Vorrede des altenglischen Orosius überlieferte ,Reisebericht‘ des Óttar/ Ohthere (The Old English Orosius hrsg. von Bately (1980); neu in: Dies./Englert (Hrsg.), Ohthere’s Voyages [2007]); vgl. Hansen, Samisk fangstsamfunn (1990), und allgemein Zahrisson (Hrsg.), Möten i gränsland (1997). 31 Krag, Norges historie (2000), 48: „rikssamling fra en annen kant“. 32 Für diese bis heute – mit Abstrichen hinsichtlich der historisch-materialistischen methodischen Grundannahmen – maßgebliche Sicht vgl. v. a. Schreiner, Norges samling (1929).
Hákon Hlaðajarl
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selnde Unterstützung der Dänenkönige für Übergriffe auf die Einflusssphäre der jeweils anderen Seite zu nutzen.33 Mit der erneuten Verlegung des Hauptsitzes ins Innere des Trondheimfjords nach Hlaðir/Lade (einem Vorgebirge, das rund achtzig Meter tief in den Fjord abfällt und von dem sowohl die Ausfahrt Richtung Atlantik als auch der Weg zu den agrarisch nutzbaren Schwemmlandebenen im inneren Trøndelag einsehbar ist) übernahm Hákon effektiv auch die landgestützte Macht in der agrarisch wichtigsten Zone Westskandinaviens und änderte damit fundamental die ältere Siedlungs- und Machtstruktur.34 Unter Hákons Sohn Sigurð spitzte sich das Verhältnis zu den Königen aus Harald Schönhaars Geschlecht zu; dies führte 962 zum Überfall und Mordbrand an Jarl Sigurð. Sein Sohn Hákon übernahm das Vatererbe, versicherte sich mit einem Geschick, das entweder ihn oder seinem Chronisten Snorri Sturluson als Meister macchiavellistischen Ränkeschmiedens ausweist, der Rückendeckung durch Harald Blauzahn in Dänemark und vernichtete einen Schönhaarenkel nach dem anderen, bis er etwa 970 für ein Vierteljahrhundert die effektive Alleinherrschaft über Norwegen errungen hatte – und auch Harald Blauzahn bald bewies, dass dessen berühmte Inschrift auf dem Jelling-Stein zumindest in der Behauptung, er habe „auch Norwegen unterworfen“ (sąr uan... ok nuruiak), illusorisch war. Dieser Hákon Sigurðsson Hlaðajarl steht im Mittelpunkt der folgenden Erörterung. Sie geht von einem Saganarrativ und seinem im Hinblick auf den ,performativen‘ Aspekt von Hákons Polygynie springenden Punkt aus und setzt diesen anschließend mit anderen Überlieferungen in Beziehung. An Hákons Portrait in den Königssagas, das nach Auffassung einiger führender Philologen auf eine verlorene *Hlaðajarla saga zurückgehen muss35, ist dabei vor allem ein Zug zu beachten, den die historiographische Rückschau zwar verstärkte, der aber offensichtlich seinem eigenen Kalkül entsprungen ist: sein prononciertes Heidentum. Bei Snorri steht die Lade-Dynastie in ihrem konsequenten Festhalten am Opferkult – denn der Kult, nicht der eventuell dahinterstehende, nie thematisierte Götterglaube macht in den Königssagas den ,Heiden‘ aus – in auffälliger Weise dem Schwanken 33 Die These der Entstehung ,Norwegens‘ als Ergebnis dänischer Politik vertritt prononciert Tøtlandsmo, Vikingtidas „norske rikssamlingskamper“ (1996); vgl. auch den kritischen Forschungsüberblick bei Krag, Norges historie (2000), 216f., mit Verweis auf P. A. Munch (Det norske folks historie Bd. 1,1 [1852]) und Halvdan Koht (Dansk og svensk i norsk historie [1920]) als frühe Vertreter dieses Zusammenhanges. 34 Vgl. Sognnes, Trondheimen før Nidaros (1998); Røskaft, Trønderske maktsentra (1999), sowie beider Beiträge in: Trøndelags historie, Bd. 1 (2005); Wichtig ist die in den 1990er Jahren auf archäologischer Grundlage gewonnene Erkenntnis, dass Lade machtgeographisch eine Neugründung und kein älterer Häuptlingssitz war. Im Gegensatz zu den älteren Zentren im Gauldal, Stjørdal und Verdal mit ihren vergleichsweise ausgedehnten Ackerböden und langen Flusstälern hat Lade an der Mündung der kurzen Nidelv (an deren Mündung sich im Mittelalter das ebenfalls spätere Eyrarthing versammelte und wo nach 1000 der Handelsplatz Nidaros entstand) ein unbedeutendes Hinterland, wohl aber die beschriebene hervorragende Kontrollage. 35 Grundlegend weiterhin Bjarni Aðalbjarnarson, Formáli, in: Heimskringla, Bd. 1 (1941), ibs. xcv und cv-cvii.
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der Schönhaar-Linie zwischen Annahme, Praktizierung und Tolerierung von Christentum und Heidentum gegenüber: der jeweilige Ladejarl ist unweigerlich inn mesti blótmaðr, „der größte Opferer“ oder „der größte Götzendiener“.36 Nach seiner Machtübernahme folgte Jarl Hákon der Tradition, sorgte für die Restauration vernachlässigter Kulte und ließ den Umstand skaldisch festhalten: „Der kluge Mann hieß die Leute alle zuletzt verwüsteten Opferstätten (hof) und Heiligtümer (vé) Thors wieder in Ehren halten.“37 Damit, so gibt Snorri Sturluson um 1230 ohne Umschweife zu verstehen, gehörte eine Serie von Hungerjahren der Vergangenheit an: „Im ersten Winter von Hákons Herrschaft kam der Hering an alle Küsten zurück, und schon zur Ernte war das Korn überall gereift, wo es gesät worden war. Im Frühjahr besorgten sich alle Bauern Saatgut, und die meisten Bauern bestellten ihr Land, und überall sah es nach Ernteglück aus.“38 Mit Blick auf die agrarischen Lebensgrundlagen war die Herrschaft des letzten „großen Heiden“ Norwegen also der hochmittelalterlichen Saga zufolge ein Segen, und auch politisch befand sich Jarl Hákon gegenüber den Ottonen und ihren Missionaren auf dem richtigen Weg: Im Auftrag Harald Blauzahns fügte er dem Otta keisari und seinem sächsisch-fränkisch-friesischen Heer (zu dem holsteinische und wendische Hilfstruppen stießen) an einem als steinern beschriebenen und damit literarisch auf den letzten Stand der Waldemarenzeit gebrachten Danewerk eine gewaltige Niederlage zu39, und während 36 HsG c. 14. Das Wort ‚Götzendiener‘ ist dem oft respektvollen Umgang der Sagas mit den blótmenn eigentlich nicht angemessen, zumal als Kennzeichen für das Heidentum nie der Glaube und selten die Idole, sondern meist die Kultpraxis (eben das Opfern) gebräuchlich sind. Das heidnische Opfer (blót) hängt etymologisch nicht mit dem „Blut“ (blóð) zusammen; über die konkreten Abläufe erfährt man außer der Nennung von Opfertieren fast nichts. 37 Aus dem Preisgedicht Vellekla von Hákons Hofskalden Einar ,Schalenklang‘ (skálaglamm), 975/85: ™ll lét senn enn svinni / s™nn Eindriða m™nnum / herjum kunn of herjuð / hofs l™nd ok vé banna. In der Heimskringla (OsTr c. 16, Str. 108) wird die Strophe mit folgendem Prosakommentar zitiert: „Als Jarl Hákon [auch] im Süden die Macht übernommen hatte, befahl er, dass in seinem gesamten Herrschaftsbereich die heiligen Orte und die Opfer wieder aufnehmen sollten, und so geschah es.“ – Der hof, eine durch tradierten Kultus hervorgehobene Lokalität, die ihren Eignern eine gewisse Eminenz verlieh, ist toponomastisch zweifelsfrei als wesentliches Element der vorchristlichen Kultpraxis erwiesen und wird häufig als Voraussetzung sowohl für das isländische goði-System als auch für die frühen ,Eigenkirchen‘ (hægindakirkjur) in Norwegen aufgefasst. 38 Die Passage schließt unmittelbar an die Zitate aus dem Preisgedicht auf Hákons Kultrestauration an: Inn fyrsta vetr, er Hákon réð fyrir landi, þá gekk síld upp um allt land, ok áðr um haustit hafði korn vaxit, hvar sem sáit hafði verit. En um várit ™fluðu menn sér frækorna, svá at flestir bœndr søru jarðir sínar, ok varð þat brátt árvænt. – Diese Schilderung neuen Vertrauens der Bauern und Fischer in die Zukunft kontrastiert mit den Schilderungen vorangegangener Not (HsGr c. 16): Korn und Fisch blieben jahrelang aus, es wurde schlimmer und schlimmer besonders im Norden, wo es zu Mittsommer schneite und das Vieh bis Juli im Stall bleiben musste; allseits gab man den Königen die Schuld. 39 OsTr c. 26. Die zeitgenössische Skaldik nennt Sachsen, Friesen und Franken; darüber hinaus erkennt man den Einfluss Adams von Bremen und seiner Nachfolger sowie (in der Nennung Holsteins und Wendlands) die aktuellen politischen Gegebenheiten des frühen 13. Jahrhunderts; vgl. oben, Kap. 4.
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der Dänenfürst sich am Ende doch zur Taufe bewegen ließ, nahm der konsequentere Hákon die für Norwegen bestimmten „Priester und Gelehrten“ zwar an Bord, ließ sie aber vor seiner Abfahrt alle wieder an Land waten. Anschließend veranstaltete er ein „großes Opfer“, in dessen Verlauf zwei Raben geflogen kamen, „woraus der Jarl schloss, dass Odin sein Opfer angenommen hatte und nun der rechte Zeitpunkt sei zu kämpfen.“ Mit großem Erfolg heerte er nun in Dänemark und Götaland und kehrte als Triumphator heim.40 Man meint ein Kapitel aus den biblischen Königsbüchern oder Chroniken zu lesen, und die Parallele geht über Sprache und Stil weit hinaus: Die heidnische Zeit wird zu so etwas wie dem Alten Bund des mittelalterlichen christlichen Nordeuropa, und der mit komplizenhafter Sympathie geschilderte Jarl Hákon ist ein würdiger Vorläufer seines großen Nachfolgers, des Christenkönigs Óláf Tryggvason – dessen Härten und Schwächen die Sagas im Übrigen mit erheblich geringerer Nachsicht aufzeigen als die des „großen Opferers“. Jarl Hákon siegte sich von Triumph zu Triumph. Seinen größten Sieg errang er in der dreitägigen Seeschlacht von Hjörungavåg vor der Küste von Møre 985, die in den Sagas als nie wieder erreichter Höhepunkt wikingischer Waffentaten gilt. Auch ‚politisch‘ war der Sieg wichtig: Das autonome Krieger- und Siedlerkollektiv in der Jómsborg an der Odermündung, das sich der Eingliederung in Oberherrschaften durch geschickte Allianzen mit dem pommerschen und polnischen Hinterland sowie durch schiere Kriegsmacht seit langem hatte entziehen können, war von Harald Blauzahn angeheuert worden, um Jarl Hákon so weit zu schwächen, dass dieser die Tributzahlungen nach Jelling wieder aufnähme. Das ,Anheuern‘ geschah in Gestalt eines sagenhaft gewordenen Festmahls, in dessen Verlauf es zu dem berühmtesten heitstrenging (agonalen Gelöbnisablegen) der gesamten Überlieferung kam – wobei unter den bei Bier und Met erklärten Kriegszielen das Beilager mit der Tochter eines der gegnerischen Häuptlinge nicht fehlen durfte.41 Hákon brach mit seinem Sieg also nicht nur die Militärmacht der Jómswikinger, von denen sich selbst die Dänenkönige hatten einschüchtern lassen, sondern beendete auch den Einfluss letzterer nördlich des Skagerraks für mehrere Jahrzehnte.
40 OsTr c. 27, nach der Version K: Gerði hann þá [wohl in den Schären vor Östergötland] blót mikit. Þá kómu þar fljúgandi hrafnar tveir. Þá þykkisk jarl vita, at Óðinn hefir þegit blótit ok þá mun jarl hafa dagráð til at berjask. 41 Die Geschichte ist vielfach überliefert; bei Snorri, der eine relativ geradlinige Version bringt, lautet das einschlägige heit („Gelöbnis“, das fünfte in Reihe; OsTr c. 35) so: „Da gelobte Vagn Ákason, dass er mit den anderen [Jómswikingern, die sich vor ihm festgelegt hatten] nach Norwegen fahren und nicht umkehren wollte, bevor er Þorkel Leira erschlagen hätte und mit seiner Tochter Ingibjörg ins Bett gegangen wäre“ [þá strengdði heit Vagn Ákason, at hann skyldi fara með þeim til Nóregs ok koma eigi aptr, fyrr en hann hefði drepit Þorkel leiru ok gengit í rekkju hjá Ingibj™rgu, dóttur hans). Snorri nimmt der manchen modernen Germanomanen so teuren Szene viel von ihrem Glanz, indem er zeigt, wie der Dänenkönig seine Gäste sorgfältig betrunken macht und diese am nächsten Morgen beim Aufwachen denken, sie hätten doch etwas zu viel geredet (þóttusk þeir hafa fullmælt).
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Es wird nie ganz klar, wieso ein derart erfolgreiches Regime nach fünfundzwanzig Jahren mit einem Mal zerbröckelt und ein geradezu peinlich bescheidenes Ende nimmt. Während die Königssagas – insbesondere Snorri – den Zerfall einer Herrschermacht zumeist zum Anlass für ausführliche Analysen politischer Fehler nehmen42, heißt es hier – zudem unmittelbar im Anschluss an die skaldisch belegte Beschreibung von Hákons straffer Herrschaftsorganisation: Solange Jarl Hákon in Norwegen herrschte, waren die Ernten gut im Land, und es herrschte gutes Einvernehmen im Inland mit den Bauern. Der Jarl war beliebt bei den Landbesitzern den größten Teil seines Lebens. Aber irgendwann wurde man immer mehr aufmerksam darauf, dass er in Frauendingen (um kvennafar) die Gewohnheit überschritt. Es kam dahin, dass der Jarl die Töchter mächtiger Männer nehmen und sie in sein Haus bringen ließ und eine Woche oder zwei mit ihnen lag und sie dann heimschickte, und dafür hatte er großen Undank von den Verwandten der Frauen, und die Bauern begannen zu murren, wie es die Trønder immer tun, wenn ihnen 43 etwas gegen den Strich geht.
Das Problem bei dieser Passage ist, dass sie unmittelbar einleuchtet. Sie zeigt einen alternden (wohl etwa sechzigjährigen) Autokraten, der zum tyrannus wird und damit eine Freibauernschaft gegen sich aufbringt, die das von ihr als regionale Eigenart beanspruchte ,Widerstandsrecht‘ zu identitären Zwecken nachgerade kultiviert.44 Ereignisgeschichtlich wohlbegründet und herrschaftstypologisch stimmig, findet der Sturz des hochmütigen Heiden auch in der historiographischen Gesamtanlage seine Rechtfertigung darin, dass sein Nachfolger – er ist bereits, aus England kommend, in Norwegen gelan-
42 Das Musterbeispiel ist der Zusammenbruch der Autorität von Óláf Haraldsson 1028, dem sein vergeblicher Comeback-Versuch in Stiklestad 1030 folgte. 43 OsTr c. 45: Meðan Hákon jarl réð fyrir Nóregi, þá var góð árferð í landi ok góðr friðr innan lands með bóndum. Jarl var vinsæll við búendr lengsta hríð ævi sinnar. En er á leið, þá gerðisk þat mj™k at um jarl, at hann var ósiðugr um kvennafar. Gerðisk þar svá mikit at, at jarl lét taka ríkra manna dœtr ok flytja heim til sín ok lá hjá viku eða tvær, sendi heim síðan, ok fekk hann af því óþokka mikinn af frændum kvinnanna, ok tóku bœndr at kurra illa, svá sem Þrœndir eru vanir, allt þat er þeim er í móti skapi. 44 Das häufig als ,germanisch‘ gedeutete und mit dem christlich-monarchischen Mittelalter kontrastierte sogenannte Widerstandsrecht im Frostathings-Recht (dem Landschaftsrecht des Trøndelag, IV §§50–52), nach dem die Trønder gegen einen schlechten Herrscher atf™r (Widerstand, Opposition) leisten dürfen, ist unschwer als Variante einer gemeinmittelalterlichen Haltung zu den Grenzen von Herrschaft zu erkennen (vgl. Isidor, Etymologiae IX, 3,4: rex eris si recte facias; si non facias, non eris); vgl. Hallan, Den trønderske motstandsretten (1976); Sjöholm, Sveriges medeltidslagar (1988); Sandnes, Germanisches Widerstandsrecht (1992). Immerhin ist bemerkenswert, dass sich eine ähnliche Bestimmung in keinem anderen Landschaftsrecht findet. Da auch in den Sagas das Trøndelag durchweg als die Standardlandschaft großbäuerlicher Einungen gegen Königsmacht gilt (und in dieser Funktion zuweilen eine Folie für das ,Island‘ des 13. Jahrhunderts abzugeben scheint), hat man es hier wohl mit der erfolgreichen Selbst- und Außendarstellung einer politisch in der Tat recht eigenständigen Landschaft zu tun.
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det – der Christianisierungskönig Óláf Tryggvason wird.45 Zu einem womöglich langgezogenen Konflikt mit dem bisher immer siegreichen Jarl kommt es nicht mehr, weil sich dieser sozusagen im rechten Moment selber stürzt. So erscheint das unrühmliche Ende seiner Herrschaft und seines Lebens in mehrfacher Hinsicht folgerichtig: Jarl Hákon war auf Gastung in Melhus im Gauldal [dem ersten traditionellen Häuptlingssitz südlich von Lade], während seine Schiffe draußen bei Viggja [im Fjord, 15 km von Melhus] lagen. Es war da ein mächtiger Bauer namens Orm der Zaudernde. Er hatte Land auf Bynes [dem Vorgebirge westlich des heutigen Trondheim, wenige Kilometer von Melhus]. Er hatte eine Frau namens Guðrún, die Tochter des Bergþór auf Lunde. Man nannte sie die ,Lunde-Sonne‘. Sie war eine sehr schöne Frau. Der Jarl sandte seine Knechte zu Orm mit dem Auftrag, seine Frau Guðrún zum Jarl zu bringen. Die Knechte trugen ihren Auftrag vor. Orm lud die Knechte zuerst zum Abendessen ein. Als die Knechte noch aßen, waren schon viele Männer aus der Umgebung zusammengekommen, nach denen Orm gesandt hatte. Nun erklärte Orm, es käme nicht in Frage, dass Guðrún mit den Knechten zöge. Guðrún sprach und trug den Knechten auf, dem Jarl zu sagen, dass sie nicht zu ihm kommen werde, wenn er nicht Þóra auf Rimul nach ihr schickte. Diese war eine mächtige Hausherrin und eine der Geliebten des Jarls. Die Knechte sagen, dass sie ein anderes Mal wiederkommen werden, und dann so, dass der Bauer und die Hausherrin diesen schändlichen Streich bereuen. Die Knechte stoßen noch viele 46 Drohungen aus und reisen dann ab.
Dies ist der Anfang vom Ende von Hákons Herrschaft. Orm tut nun Wort für Wort, was das Frostathings-Recht über das Recht des freien Mannes erzählt (er lässt „den Heerpfeil schneiden“, das heißt per Botschaft die Bauern der einzelnen Landstriche aufbieten), und der Jarl, dem durch die topographischen Umstände der Weg zu seinen Schiffen bereits 45 Mit der Suggestion eines prozesshaften Automatismus tut man allerdings dem Bewusstsein der Sagaautoren für historische Kontingenz unrecht. Snorri denkt zwar epochal: „Daß all dies geschah, lag vor allem daran, dass damals die Zeit gekommen war, da die Opferei (blótskaprinn) und die Opferer verdammt würden (fyrirdœmask) und an ihre Stelle der heilige Glaube und die rechten Sitten treten sollten“ (c. 50). Doch der Christenkönig Óláf Tryggvason kehrt nach langem Exil unter falschem Namen keineswegs im providentiellen Augenblick zurück, sondern ist durch einen von Jarl Hákon entsandten Agent provocateur aufgestöbert, identifiziert und durch Fehlinformationen über angebliche Unzufriedenheit in Norwegen dazu verleitet worden, einen verfrühten Griff nach der Macht zu wagen. Providentiell ist allenfalls, dass Jarl Hákon die Falle nicht mehr zuschnappen lassen kann, weil die Desinformation sich inzwischen bewahrheitet hat. 46 OsTr c. 48: Hákon jarl var á veizlu í Gaulardal at Meðalhúsum, en skip hans lágu út við Viggju. Orm lyrgja er maðr nefndr, ríkr bóndi. Hann bjó á Býnesi. Hann átti konu þá, er Guðrún er nefnd, dóttir Bergþórs af Lundum. Hon var k™lluð Lundasól. Hon var kvinna fríðust. Jarl sendi þræla sína til Orms þeira ørenda at hafa Guðrúnu, konu Orms, til jarls. Þrælar báru upp ørendi sín. Ormr bað þá fyrst fara til náttverðar. En áðr þrælar h™fðu matazk, þá váru komnir til Orms margir menn ór byggðinni, er hann hafði orð sent. Lét Ormr þá engan kost, at Guðrún fœri með þrælunum. Guðrún mælti, bað þræla svá segja jarli, at hon myndi eigi til hans koma, nema hann sendi eptir henni Þóru af Rimul. Hon var húsfreyja rík ok ein af unnustum jarls. Þrælarnir segja, at þeir skulu þar svá koma ™ðru sinni, at bóndi ok húsfreyja munu þessa íðrask skammbragðs, ok heitask þrælarnir mj™k ok fara brot síðan.
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versperrt ist, muss landeinwärts in die Täler fliehen. Er trennt sich von seinem Gefolge, das durch ein anderes Tal den Fjord erreichen soll, versteckt sich die Nacht über in einer Höhle und erreicht anderntags den Hof Rimul, wo Þóra – die Hausherrin und „eine der Liebsten“ (ein af unnustum) des Jarls, die die unwillige Guðrún mit ihrer Antwort an die Boten verhöhnt hat – ihn verstecken soll. Um diese Zeit ist bereits niemand mehr bei ihm als sein Knecht Kark. Die beiden graben, um sich vor den nahenden Verfolgern zu verbergen, im Schweinekoben eine Grube, decken sie ab und warten auf den nächsten Tag, den der Jarl – mit seinem Diener in einen Strudel prämonitorischer Träume und Ahnungen gerissen – nicht mehr erleben wird: In einem Anfall von Panik schneidet Kark dem im Schlaf schreienden Jarl den Kopf ab.
Tod im Schweinestall Die bildlich wie psychologisch grässlich eindrucksvolle Episode hat der Liverpooler Nordist Andrew Hamer mustergültig analysiert und herausgearbeitet, wie sorgfältig Snorri Jarl Hákons Höllenfahrt sowohl topologisch (vom Tal in die Höhle und dann in eine selbstgegrabene Grube/Grab [gr™f]) als auch skriptural (Mt 8,28: die gadarenischen Schweine; vgl. Kap. 1) durchgeformt hat.47 Über Korrespondenzen auf unterschiedlicher Ebene werden Hákon und Kark allmählich zu Schicksals-,Zwillingen‘ und immer mehr schweinegleich in ihrem Koben, während oben auf dem Hofplatz (unrealistischerweise) bereits Óláf Tryggvason mit seinen Verbündeten ratschlagt. Vermutlich hat die Komposition, die in dieser Vollendung zwar Snorris Werk, aber auch in anderen Versionen mit moralisch-theologischer und/oder politischer Signifikanz ausgestattet ist, dazu beigetragen, dass die Episode auf der Ereignisebene so umstandslos akzeptiert wird. Das Augenmerk gilt den Ausgestaltungen des Themas vom Fall des Tyrannen in den verschiedenen Quellen des 12. und 13. Jahrhunderts; dieser Ausgestaltung entkleidet, ist Jarl Hákon in den geschichtswissenschaftlichen Deutungen von Gustav Heber in den dreißiger Jahren bis zu Sverre Bagge in der Gegenwart nichts weiter als ein gieriger Greis, der in Selbstüberschätzung seiner letzten Sexualwallung zum Opfer fällt.48 Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, eine alternative Deutung zu begründen, die Hákon Jarl als einen nach wie vor politisch denkenden und handelnden Fürsten ausweist, dem sein unentwegtes Festhalten an der politischen Stimmigkeit seiner Handlungen zum Verhängnis wird. Dazu müssen zunächst die den hochmittelalterlichen Bearbeitungen der Geschichte vom Hákons Sturz gemeinsamen Elemente benannt wer47 Hamer, “Death in a pig-sty” (1992). 48 Heber, Harald Hårfagre (1934), 86 über den angeblich durchschnittlichen sexuellen Appetit Harald Schönhaars: „Nein, da war Jarl Hákon noch etwas ganz anderes.“ Bagge, Mann og kvinne (1992), 11f., macht sich das Sagaepitheton vom „Frauenliebhaber“ zu eigen („en kvinnekjær mann“), dessen Problem nicht die Alterslust als solche, sondern sein Verkennen der Grenzen war; ebenso ders., Det primitive middelaldermenneske? (1990), 48f., 57.
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den. Der ansonsten unauffällige Hof Rimul im Gauldal gehört dazu; eine entsprechende lokale Überlieferung kann ohne weiteres angenommen werden.49 Ebenso konstant ist das Motiv der Übergriffe auf anderer Männer Frauen gegen Ende (also zum Höhepunkt) seiner Herrschaft – nicht aber die ursächliche Verbindung zwischen diesen Übergriffen und dem Sturz des Jarls. In der sagaartig angereicherten ,Liste der Norwegerkönige‘ (Nóregs konungatal) wird der Zusammenhang von Kriegertriumph, Herrschaftsstil und Tyrannis ganz explizit gemacht: Nach der Jómswikinger-Schlacht meinte Jarl Hákon, er habe nun die volle Herrschaftsgewalt (fullkominn til ríkis), weil er so große Häuptlinge besiegt hatte, und er meinte nie mehr die Dänen als Bedrohung seiner Herrschaft fürchten zu müssen. Da wurde er seinen Landsleuten gegenüber immer härter und wurde geizig [d. h. verzichtete auf die Ausübung der herrschertypischen Großzügigkeit] und achtete nicht mehr das Recht. Der Gipfel war, dass er sittenlos bei Frauen war, und seine Leute taten es ihm nach, und weder die Verwandten mächtiger Männer 50 noch verheiratete Frauen, mächtig oder nicht, waren sicher.
Von seinem Tod berichtet die ,Königsliste‘ nur den Ort und den Täter (sein skósveinn „Leibdiener“ Kark – es fehlt die Emphase der Unfreiheit, die Snorris Schilderung zugleich eindringlich und etwas unrealistisch macht), während von der „Geliebten“ und Hausherrin Þóra auf Rimul ebenso wenig die Rede ist wie von der Forderung nach Guðrún ,Lunde-Sonne‘, die den Aufstand losbrechen ließ. Die auf das spätere zwölfte Jahrhundert zurückgehende Saga des isländischen Mönchs Odd bietet die gleiche Charakterisierung der Herrschaft und betont die Übergriffe auf „Jungfrauen und verheiratete Frauen großer Männer“51, die er nach Wochen oder Monaten „geschändet“ (svívirðar) heimschickte. In beiden Versionen fällt die Nähe zu kirchenrechtlichen Maßstäben auf: Verheiratete Frauen und Jungfrauen sind es, die Hákons Maßnahmen mit einem der zeitgenössischen Pastoral entlehnten Begriff als saurlífi (luxuria) verdammenswert machen, während Snorri sich allein auf den Aspekt der Kränkung von trønderschen Magnaten konzentriert; 49 Die Örtlichkeiten sind eine halbe Tagereise von Nidaros/Trondheim entfernt, wo die ersten uns bekannten Geschichtswerke über Norwegen in lateinischer und nordischer Sprache verfasst wurden. 50 Nóregs konunga tal, hrsg. von Finnur Jónsson (1902–03) c. 20: æftir iomsvikinga orrastu þottez Hacon iarl fullcomen til rikis er hann hafðe sva mikla hofðingia sigrat. oc þottezk hann ækki þurfa þa at rædaz Dane um sitt riki. þa toc hann at harðna við lannzmenn sina. oc gierðez fegiarn oc rœkte ækki logen. en mest var at þui at hann var osiðar maðr um konor. oc þar æftir gierðo menn hans. oc var hvarke þyrmt frend conom rikis manna. ne ægin konom bæðe rikra oc orikra. Das im frühen 13. Jahrhundert kompilierte Sagawerk heißt auch nach einer der beiden 1728 beim Brand der Kopenhagener Universitätsbibliothek verlorenen Handschriften Fagrskinna „das schöne Pergament“ – zur Unterscheidung zu der in Kap. 2 diskutierten, ebenfalls Nóregs konungatal genannten strophischen Genealogie aus dem Umkreis von Oddi. 51 Saga Óláfs Tryggvasonar af Oddr Snorrason munk c. 20/14: hann hafði við hond ser (an seiner Hand = Seite) konur manna, oc stor ættaðar (sogar von Männern aus großem Geschlecht), oc margar meyjar.
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konsequenterweise sind es bei ihm auch nicht die Frauen, die durch den kurzzeitigen Konkubinat „geschändet“ werden, sondern die Männer, zu denen sie zurückgeschickt werden. Gerade die beiden lateinischen Historien enthalten hingegen keine Diatribe gegen Hákons Sittenlosigkeit. Die Historia Norwegiae (um 1220) bietet eine rein politische Darstellung von Hákons Siegen und verweist sogar auf den legendären Ursprung seines Geschlechts (dazu unten mehr), nennt aber als seine einzige Schwäche die idolatria und erzählt seinen Tod (mit Ort und Täter) ohne jeden Hinweis auf Frauen.52 Theoderichs Historia de antiquitate rerum Norwagiensium (vor 1180) schildert Hákons letzte Tage relativ ausführlich, nennt den Hof, den Sklaven, den Schweinestall und Hákons concubina Thora, stellt aber keine Verbindung zwischen dem Ereignis und anderen Frauengeschichten her.53 In Details ist die um 1190 verfasste Epitome der norwegischen Königsgeschichte (Ágrip af Nóregs konunga s™gum) Snorris Version am nächsten; sie hat unter anderem die Namen der zuletzt begehrten Frau (Guðrún Lundasól) und seiner Frille Þóra, die ihm den letzten Unterschlupf gewährt.54 Umso auffälliger sind die Abweichungen in der Substanz. Der Hauptunterschied ist sicher, dass Hákon im Ágrip nicht schreiend wie ein Schwein im Schlaf abgestochen wird, sondern wie weiland Nero seinen Diener um den Gnadenstoß bittet, als er sieht, dass die Häscher kommen. Doch auch die Frauengeschichte zeigt markante Eigenarten: Die eingeforderte Guðrún lebt auf dem Hof Lundir, dessen ,Sonne‘ sie ihrem Beinamen nach ist (bei Snorri stammt sie von dort, lebt aber woanders), und organisiert ihre Hilfe selber, als Jarl Hákons Knechte kommen – von einem Mann ist im Unterschied zu Snorris und Odds Versionen keine Rede. Daher wirkt das Bonmot, das sie dem Jarl zurücksendet – sie werde erst kommen, wenn die Botin Þóra auf Rimul sei, die getreue Frille des Jarls – auch besser motiviert als bei Snorri, wo sie den Worten ihres Mannes sozusagen nur noch eine weibliche Gehässigkeit aufzusetzen scheint. Die Guðrún des Ágrip kann eine Herausforderung selber aussprechen. Was ergibt sich nun aus diesem Durchgang der Erzählvarianten? Erstens ist Jarl Hákons Tod im Geschichtswissen der Zeit um 1200 mit einigen Kernelementen (der Ort, der Mörder, die frilla/concubina als Hausherrin) und dem allgemeinen Kontext (Revolte im Trøndelag) fest verankert. Zweitens überlagert das allgemeines Bild von Jarl Hákon als einem allzu erfolgreichen Autokraten das politische Einzelereignis; es entsteht eine narrative Sequenz, in der das bekannte Ende die vorangegangenen Umstände bedingt.
52 Monumenta historica Norvegiæ, hrsg. von Storm (1880), 111. 53 Ebd. c. 10: ille vero derelictus a suis et in sola fuga spem ponens devenit in quedam viculum, Rimul nomine, ibique cum solo servo suo, Carke nomine, a concubina sua Thora in ara porcorum absconsus... Laut Adam von Bremen (II, 25) vertreiben die Norweger Hákon „wegen seines hochfahrenden Wesens aus dem Reiche“ (in Norveia Haccon princeps erat, quem, dum Nortmanni superbius agentem regno depellerent... – ab hier verwechselt Adam ihn mit König Hákon dem Guten). 54 Ágrip c. 13.
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Diese Umstände sind nun nach Ausweis fast aller Texte polygyner Art. Jarl Hákon exemplifiziert sozusagen noch einmal die in dieser Untersuchung dargestellten ,Aspekte‘: Sein grandioses Auftreten „in Frauendingen“ (um kvennafar) setzt mit dem abschließenden Triumph von Hjörungavág über die Jómswikinger und mit ihnen den Dänenkönig ein, der ihn endgültig unter die ganz Großen hebt (habitual); die Bedingung Guðrúns, sich nur unter seine Frauen einreihen lassen zu wollen, wenn er Þóra auf Rimul als Botin sende – und damit ihr selber gegenüber degradiere55 –, verweist auf ein realistisches Auge entweder der Frau oder der Sagaautoren für die offene Konkurrenz innerhalb des relationalen Systems der nordischen Polygynie (agonistisch). Hákons verschärfte Forderungen nach Beilager wurde allseits als Wechsel des Herrschaftsstils, als Aufkündigung des Konsensus – im Wort des Frostathings-Rechtes: als atf™r – verstanden56 und entsprechend quittiert (expressiv), obwohl die eventuelle Präzision seiner Forderungen hinter der summarischen Information „Töchter mächtiger Männer“ verlorengegangen ist. Der generative Aspekt schließlich ist an anderer Stelle vertreten: Eine Frau, mit der er im Rahmen einer Gastung im Ostland geschlafen hatte, kam mit dem Sohn dieser Nacht nach Lade; der Jarl gab ihn zur Erziehung an einen „Freund“ im Trøndelag und behielt ihn so in der Hinterhand – mit Recht, wie sich herausstellen sollte.57 Der letzte der hier benannten ,Aspekte‘ mittelalterlicher Polygynie – der performative – hingegen entzieht sich der narrativen Darstellbarkeit. Die quasi-essentielle Einheit von Bezeichnendem und Bezeichnetem gehört in einem Maße dem Kollektiv-Mentalen an, dass mit erzählerischer Reflexion kaum zu rechnen ist – wie es bei dem Wert der Polygynie für Nachfolgesicherung, Selbststilisierung, Konkurrenzaustragung und Zeichensetzung ja durchaus der Fall ist. Andererseits lassen die Erzählquellen eine Erklärungslücke, die auf einen weiteren, fehlenden Aspekt schließen lässt. Es ist nämlich aus obigem 55 Driscolls interpretierende Übersetzung der Passage in Ágrip: nema hann sendi konu þá er hann hafði er Þóra hét „unless he sent away the woman he kept as mistress, who was named Þóra“ ist irrig. Das Verb senda „aussenden, schicken“ bedarf wie sein modernes deutsches Äquivalent eines adverbialen Komplements, um als „weg-, fortschicken“ aufgefasst werden zu können. Auch im Ágrip geht es also darum, dass Guðrún spottend von der potentiellen Mitfrau einen Botendienst verlangt. Vermutlich scheint es Driscoll, als wenn es für Guðrún sozusagen natürlich wäre, den Abschied ihrer Vorgängerin zu fordern, bevor sie selber einer Beziehung zu Hákon zustimmte. Die im Lauf dieser Untersuchung betrachteten Fälle weisen aber vielmehr darauf hin, dass die Pluralität der Frauen, soweit ihre eigene Stellung dabei zufriedenstellend war, als solche auch für diese kein Problem darstellte, ja im agonistischen Sinne sogar attraktiv erscheinen mochte. Diese Statusaushandlung ist es, auf die die intendierte Abwertung Þóras zur Botin abzielt. 56 Bereits früher hatte er als Teil der Gastung anscheinend regelmäßig Beilager gefordert und erhalten (HsGr c. 8: Hákon jarl fór einn vetr til Upplanda ok á n™kkura gisting ok lagðisk með konu einni), nur hatten damals seine Frauen keine relevante Verwandtschaft (var sú lítillar ættar). 57 Ebd. Der Vater hatte zunächst nicht viel für ihn übrig, worauf der Sohn Eirík mit jener Art Bravado reagierte, die schon öfter als Karriereprinzip von auf Anerkennung hoffenden Frillensöhnen begegnet ist: er provozierte einen (für jenen tödlichen) Streit mit einem Vertrauten des Jarls, und nach der Schlacht von Hjörungavåg gab er eigenmächtig den führenden Jómswikingern Pardon. Tatsächlich sollte Eirík in den folgenden Jahrzehnten der letzte erfolgreiche Ladejarl werden.
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Durchgang nicht hinreichend klar geworden, warum Jarl Hákon nach langer Herrschaft und manchmal äußerst geschicktem Taktieren auf diese Weise zu Fall kam. Die Ereignisse laufen so mechanisch ab, dass der Fürst sie hätte voraussehen müssen. Wie gesehen, verbieten es sowohl die Detailgenauigkeit der Überlieferung als auch die Vielfalt der mit ihr konstruierten Narrative, in Hákons Fall lediglich eine historiographische Invention, eine superbia-Parabel zu sehen. Auch eine einfache ereignisgeschichtliche Erklärung – etwa: Óláf Tryggvason war der Stärkere – kommt nicht in Frage, da dessen Erfolg ja durchweg als Ergebnis von, nicht Bedingung für Jarl Hákons Sturz gezeichnet wird. Der Jarl und die Frauen bleiben ein irreduzibles Faktum. Bei seiner Deutung hilft eine ganz andere Quellenart.
Jarl Hákon und seine Beschützerin Jarl Hákon unterhielt auffällig produktive Skalden. Mehr als bei anderen nordischen Fürsten ist es bei ihm angebracht, von „Dichtung als Propagandainstrument“ zu sprechen.58 Das herausragende Werk aus dieser Produktion ist die Háleygjatal („Genealogie der Hålogaländer“) des Eyvind skáldaspillir, datierbar gegen 985 und so einflussreich, dass Snorri Sturluson sie im Prolog der Heimskringla als Musterbeispiel einer verlässlichen Quelle zitiert und Adam von Bremen (II 25) ihr seine Informationen über Jarl Hákon entnimmt. Die Háleygjatal ist nur fragmentarisch überliefert; die erhaltenen Bestandteile und indirekte Zeugnisse erlauben aber eine recht zuverlässige Rekonstruktion des wesentlichen Inhalts.59 In Replik auf die Ynglingatal, die metrische Genealogie von Harald Schönhaars konkurrierendem Geschlecht, führt sie Jarl Hákons Ahnenreihe durch 27 Generationen in die nordnorwegische Herkunftslandschaft und bis auf das Gründerpaar des Geschlechts zurück: Odin und die Riesin Skaði.60 In einer wichtigen Studie über „Die heilige Hochzeit und altnordische Königsideologie“ hat die Osloer Religionswissenschaftlerin Gro Steinsland unter anderem die Háleygjatal analysiert. Sie kommt aufgrund zahlreicher Belege linguistischer, ethnographi58 So Ström, Poetry (1981). Nicht nur sind mehrere umfangreiche Preislieder in großen Teilen erhalten geblieben, sondern auch eine Reihe Skaldensagas, die von einzelnen Dichterpersönlichkeiten an Jarl Hákons Hof berichten, zeugen von dem bleibenden Bewusstsein von Lade als einem Zentrum der Kulturproduktion um 1000. 59 Vgl. Edith Marold, Art. Eyvindr Finsson skáldaspillir, in: EMSc, 175f. 60 Die Fragmente sind ediert in Skj B 1, 60–62. – Adam von Bremen (II, 25): Haccon iste crudelissimus ex genere Inguar et giganteo sanguine descendens... Inguar (Yngvi–Frey) ist der göttliche Stammvater der Ynglinge (des Königsgeschlechts), nicht der Háleygir/Ladejarle, und Adam verwechselt in dieser Passage noch andere Figuren, doch die wesentlichen Informationen haben die zuständige Metropole Bremen zuverlässig erreicht. – Krag, Ynglingatal og Ynglingesaga (1991), vertritt sogar eine Datierung der Ynglingatal ins zwölfte Jahrhundert, womit umgekehrt diese Genealogie des Königshauses als Replik auf die frühere Háleygjatal zu betrachten wäre.
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scher und literaturwissenschaftlicher Art zu dem Schluss, der Hofskald Eyvind habe bei der Erstellung seines die göttliche Herkunft der Ladejarle darstellenden genealogischen Preisliedes auf ein wohletabliertes traditionales ,Wissen‘ um den hierogamen Charakter der frühen Herrschaft des Geschlechts bauen können.61 In Odins Nachfolge und an Odins Stelle schläft nun Jarl Hákon mit dem ganzen Land: Þeims alt austr til Egða býs brúðr val-Týs und bœgi liggr. In [Hákons] Arm liegt die Braut des Schlachten-Týr [d.h. Odins], ganz bis hinunter nach Agder.62
Und zwar wörtlich „unter der Armbeuge“: der Jarl hält „die Erde“ (j™rð, auch im Nordischen ein grammatisches Femininum) fest im Griff. Zur Formel lexikalisiert findet sich dieses Sprachbild auch regelmäßig in den Sagas, wenn ein König die Macht erobert: „er legte das ganze Land unter sich“.63 Die eigentliche hieros gamos-Tradition der Ladejarle bezieht sich aber nicht auf die Riesin der Háleygjatal (die in dieser Konstellation durchaus eine gelehrte skaldische Konstruktion sein kann). Eine andere Frauenfigur, verstreuter und zugleich weitläufiger überliefert als die saubere mythologische Konstruktion des Hofpoeten ist es, die den zwingenden Nexus von Frau~Land zu den Ladejarlen vermittelt. In der Mythologie ist sie unter dem Namen Þorgerð H™lgabrúð bekannt.64 Sie ist mehrfach in der Snorra Edda (unter anderem in einer Namensliste von zur Anwendung in skaldischer Dichtung empfohlenen Figuren), in mehreren Königs- und Isländersagas sowie in den Gesta Danorum und sogar in einem Beispielsatz in einem grammatischen Traktat von etwa 1150 belegt, also recht umfassend. Saxo, der eher außenstehende Mythograph nordischer Vorzeit ohne regionalpolitisches Engagement in Nordnorwegen, liefert dennoch eine ausführliche Beschreibung der Werbung von Helgo, Halogie rex (König von Hålogaland) um Thora, 61 Steinsland, Det hellige bryllup (1991), 214–226, die Háleygjatal hier als einziges ,historisches‘ Gedicht neben drei eddischen Liedern. 62 Háleygjatal, in: Skj B 1, 62, wörtlich: „ganz nach Osten bis Agder“, aus der Sicht des Seefahrers, der von Lade die norwegische Küste zunächst südwärts und dann ostwärts bis in die südnorwegische Landschaft Agder am Skagerrak gelangt. 63 Hier HsHb c. 19: lagði allt land undir sik. Äquivalente wie ‚subicere, unterwerfen, soumettre‘, auch das moderne skandinavische ‚underkaste‘ haben eine etwas andere Nuance. 64 Die erste eingehende Studie ihrer Namensformen war Storm, Om Thorgerd Hölgebrud (1885); ein umfassendes Inventarium der Belege steht bei E. F. Halvorsen, Art. Þorgerðr Hölgabruðr, in: KLNM, Bd. 20, Sp. 382ff.; vgl. auch Chadwick, Þorgerðr Hölgabrúðr (1950) (für eine kultisch-religiöse Interpretation); Vries, Altgermanische Religionsgeschichte, Bd. 2 (²1957), 340f.; Motz, Goddess of the North (1997) (mythologisch); McKinnell, Þórgerðr H™lgabrúðr and Hyndluljóð (2002) (für die Integration in den Pantheon); Røthe, Þorgerðr Hölgabrúðr (2007) (für die Euhemerisierung einer verehrten Stammutter).
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die Tochter des rex Finnorum Byarmorumque (König der Finnen und ,Bjarmaländer‘, der subarktischen Finno-Ugrier, auf deren ökonomische Bedeutung für die Stellung der hålogaländischen Ladejarle schon verwiesen wurde). Helgo ist der eponyme königliche Vater des Landes Halogia, der in den nordischen Texten phonetisch präziser H™lgi heißt65 und dort als Vorfahr auch anderer prominenter hålogaländischer Häuptlingsgeschlechter erscheint; seine Braut Thora ist Þorgerð, H™lga brúð („Braut des Hölgi“).66 Im Rahmen der Gewohnheit, in skaldischen Metaphern zu denken, musste schon der im Grunde alltägliche Personenname ,Þorgerð‘ in außeralltäglichem Rahmen unweigerlich die Assoziation „Beischläferin-Gottheit“ auslösen. Der Eigenname ,Þorgerð‘ ist zwar einer der in Norwegen bis ins Spätmittelalter geläufigen Frauennamen zum Gott Thor und als solcher nicht notwendigerweise mythologisch motiviert; Steinsland weist aber zu Recht darauf hin, dass das zweite Glied, -gerð (als Frauenkenning in der Skaldik weitverbreitet) der Name der wohl bekanntesten Riesin im Umkreis der Asen ist.67 Diese Gerð wiederum ist als die Sexualpartnerin des Fruchtbarkeitsgottes Freyr (des von den Ynglingen reklamierten Stammvaters, von dem auch Adam von Bremen im Zusammenhang mit dem templum von Uppsala berichtet) unlöslich mit dem Hierogamiemotiv verknüpft. Diese Gesamtkonstruktion ist nicht die Einzelleistung eines etymologiefreudigen Intellektuellen des zwölften Jahrhunderts; im Gegenteil nutzt Saxo den von ihm als bekannt vorausgesetzten und daher nur andeutungsweise explizierten Mythos, um mit ihm sein eigenes Narrativ zu befördern.68 Dass ,Hölgi‘ als Stammvater Hålogalands schon im zehnten Jahrhundert bekannt war, bezeugt unter anderem der Vers des Þorbjörn hornklofi über Harald Schönhaars Polygynie (vgl. Schwellenkapitel), in dem er die Mädchen aus den verschiedenen Landesteilen von Haralds Reich aufzählt, die durch seine Verbindung mit der Dänenprinzessin in die Zweitrangigkeit rutschten und unter denen sich auch eine H™lga ættar „aus Hölgis Geschlecht“ befindet. Zu Jarl Hákons Zeit also war es allgemeines ,Wissen‘, dass sein Haus und seine Herrschaft aus der Vermählung des eponymen Stammvaters mit einer leicht außermenschlich konnotierten Frauengestalt hervorgegangen waren. Diese Vorstellung hatte beträchtliche politische Konsequenzen. Nicht weniger als Jarl Hákons Sieg über die Jómswikinger in der Schlacht von Hjörungavåg 985 wurde allgemein – und mit kräftiger Beförderung durch die „Propaganda“ seiner Hofskalden – der Intervention der als Schutzgottheit der Ladejarle verstandenen Þorgerð H™lgabrúð zugeschrieben. Eine Fassung der Saga von Óláf Tryggvason berichtet von dieser tagelangen Seeschlacht, in deren Verlauf sich das Kriegsglück allmählich immer mehr den dänischen 65 Vgl. Snorra Edda–Skáldskaparmál c. 42: konungr sá, er H™lgi er nefnd, er Hálogaland er við kent „der König namens Hölgi, nach dem Hálogaland benannt ist“). 66 Saxo III, 2,6–8. Zu den Belegstellen und insbesondere zur Diskussion des phonetisch-etymologischen Unterschieds Helgi/Hölgi vgl. Storm, Om Thorgerd Hölgebrud (1885). 67 Steinsland, Det hellige bryllup (1991), 221. 68 Bezeichnend ist die Verknüpfung der Brautwerbung des – formal menschlichen – Königs Helgi mit der gleichzeitig berichteten Werbung des Gottes Baldur um das schöne Mädchen Nanna, eine Hierogamiegeschichte ganz anderer Art und textstrategischer Funktion, aber ähnlicher Konstellation.
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Angreifern zuneigt, bis Jarl Hákon sich auf eine kleine Insel rudern lässt, eine Waldlichtung erreicht, nach Norden (also in Richtung Hålogalands, des alten Stammlandes) niederkniet und Þorgerð H™lgabrúð anruft. Er bietet ihr erst Tier-, dann Menschenopfer und schließlich seinen Sohn Erling an. Nach dessen Opferung bricht von Norden her ein Unwetter mit Schnee- und Hagelsturm los, das die Schiffe der Jómswikinger zusammentreibt und zu hilflosen Opfern von Jarl Hákons Flotte macht.69 In anderen spätmittelalterlichen Berichten kommt der Jarl stattdessen an einen mit gläsernen Fenstern und Statuen ausgestatteten Tempel im Wald, der bemerkenswerte Ähnlichkeit mit den zahlreichen von chevaliers errants aufgesuchten Kapellen der Artusliteratur aufweist und die Integration von Jarl Hákons Geschichte in den narrativen Grundbestand des mittelalterlichen Nordeuropa bezeugt. Daher muss auch ein Historiker wie Snorri Sturluson, dem rationale Motive allemal lieber sind als übernatürliche, mit diesem Vorwissen umgehen. Er tut es mit allen Anzeichen des Dégoût, aber er kann nicht umhin, sowohl den Sturm – den er als meteorologisches Faktum mit einem Satz in den Schlachtverlauf einbaut – als auch die Opferung zu erwähnen, die er nach Ende der Schlacht, Freilassung der prominentesten Gefangenen und Auflösung beider Heere als Postskriptum („die Leute sagen, dass...“) unkommentiert abtut.70 Weniger die explizite Schilderung des Sohnesopfers – als Negation des Opfers Christi sozusagen die widerlichste denkbare Manifestation von Teufelswerk auf Erden – als vielmehr der Umstand, dass auch jene hochmittelalterlichen Autoren, die am liebsten darauf verzichten würden, sich gezwungen sehen, die Tradition wenigstens zu erwähnen, erlaubt uns festzustellen: Zum Inventar des kulturalen Wissens über die Ladejarle gehörte demnach das hohe und späte Mittelalter hindurch, dass sie in direktem Kontakt mit ihrer eponymen Schutzmacht standen und bereit waren, dies auszuspielen. Vor diesem Hintergrund gewinnt das andere große überlieferte Preislied auf Jarl Hákon, die um 990 anzusetzende Hákonardrápa des Hallfreð Óttarson, ihre ganze Prägnanz. Sie malt den Weg des Jarls zur Macht in Norwegen so: Sannyrðum spenr sverða snarr þiggjandi viggjar barrhaddaða byrjar biðkv™n und sik Þriðja. Der kühne Herr der Langschiffe lockt mit den wahren Worten des Schwertes Odins tannenhaarige Geliebte unter sich. 69 OsTr c. 154 in der Flateyjarbók; vgl. Røthe, Þorgerðr Hölgabrúðr (2007), 4f. In dieser erst im 14. Jahrhundert entstandenen Sammelhandschrift lautet der Beiname der dämonischen Gottheit H™rða brúð „Braut der (westnorwegischen) Hordaländer“; dieser phonetisch geringfügige, aber geographisch wesentliche und in diesem Kontext unsinnige Lapsus zeigt, dass der Kompilator hier ohne eigene spezifische Aussageintention eine ältere Überlieferung wiedergab. 70 OsTr cc. 41f.: Þat er s™gn manna... – nämlich die Opferung, der Hagelsturm und die Wendung des Kriegsglücks. Mit dieser Formel, die dem Infinitiv+fertur der lateinischen Chronistik ähnelt, distanziert sich Snorri regelmäßig von Überlieferungen, die er, da alt, berichten zu müssen glaubt, aber nicht akzeptieren kann.
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Því hykk fleygjanda frakna – ferr j™rð und menþverri – ítra eina at láta Auðs systur mj™k trauðan. Daher meine ich, dass der Speerschleuderer – die Erde kommt unter den Ringverschenker – die herrliche Schwester Auðs nicht allein liegen lassen wird. Róð lukusk, at sá, síðan, snjallráðr konungs spjalli átti einga dóttur Ónars, viði gróna. Die Unterredungen gingen schließlich so aus: der ideenreiche Königsfreund erhielt die einzige, die waldbestandene Tochter Onars. Breiðleita gat brúði Báleygs at sér teygða stefnir stöðvar hrafna stála ríkism™lum. Mit den Machtworten des Schwertes zog der Herr der Landeplätze der Raben [= der Herr des Schlachtfeldes = der Jarl] die Braut des strahläugigen Odin mit ihrem breiten Gesicht an sich.71
Schon in der Übersetzung wird deutlich, was Hallvard Lie 1957 zu dem Kommentar veranlasste, Hákons Weg zur Macht werde in der Hákonardrápa zu einer Art wikingischen Frauenraubs.72 Die Metaphorik des Originals allerdings sorgt dafür, dass die Eroberung Norwegens kein Frauenraub „wird“, sondern unter Wahrung ihrer politischen Substanz einer „ist“. Es handelt sich streng genommen nicht um Metaphorik im klassischen Sinn, denn die kenningar („Benennungen“) dieses Liedes übertragen keine Begriffe von einem Bereich in einen anderen, sondern wollen den Zusammenfall zweier nur scheinbar getrennter Bereiche erkennbar machen: Hákons mit stala ríkismálum „des Stahles Macht-Worten“ (hier mit Metonymie) vollbrachte Eroberung des Landes, der Erde (j™rð) ist zugleich die erfolgreiche Werbung des Allvaters Odin um Jörð, die Riesin, die zu einer seiner eljur „Mitfrauen“ wird.73 Wenn die durch Kampf und politisches Geschick (snjallráðr „gewandt im Rat“) gewonnene Erde/Frau zudem als „tannenhaarig“, „wald71 Skj B 1, 147f., angeordnet und übersetzt in Anlehnung an Ström, Hieros gamos-motivet (1983). Einige kenningar sind des besseren Verständnisses halber aufgelöst, doch nicht alle Umschreibungen des Typs „Frau zu Riese N.“ konnten durch „die Erde, das Land“ ersetzt werden. Eine metrische Übersetzung bieten Neckel/Niedner, Snorri Sturluson: Die jüngere Edda (1925), 127 (Str. 10) und 170 (Strn. 121, 118 und 119). 72 Lie, ,Natur‘ og ,unatur‘ i skaldekunsten (1957), 97. 73 In der Skáldskaparmál empfiehlt Snorri im Abschnitt Jarðarkenningar „Umschreibungen für ,Land‘“ (unter Verweis auf Óttars Hákonardrápa als eine seiner Autoritäten) neben anderen die
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bestanden“, „breitgesichtig“ gemalt wird, entsteht das im Hinblick auf mittelalterliche Schönheitskanones zwar befremdliche, aber deshalb nicht minder überzeugende Bild der norwegischen Hochwald- und Fjellandschaft. Die „Erde legt sich unter“ (ferr j™rð und) den Jarl, er „lockt sie unter sich“ (snarr und sik): Das Land hat sich dem Sieger nicht unwillig unterworfen. Diese mythographische Weise, den Aufstieg der Ladejarle zu erzählen, ist auf ihre Art nicht minder ,sinnvoll‘ als Snorris Version von dem raffinierten Taktiker und erfolgreichen Krieger Hákon; beide hatten ihren sozialen Ort und ihr Publikum. Seine spezifische Wirkung bezieht das Preislied mit seiner im Vergleich zur Erzählprosa der Saga viel strenger formalisierten und darum assoziationenreicheren Sprachform daraus, dass die Verbindung des zu preisenden Ladejarls mit seiner Schutzgottheit zum abrufbaren Assoziationenbestand des avertierten Publikums gehörte.74 Jenseits zwingender Sprache in feierlichem Rahmen kann diese Verbindung auch in anderen sozialen Praktiken manifest geworden sein. Nichts spricht nichts gegen die unter anderem von Nora Chadwick, Folke Ström, Gro Steinsland und zuletzt von Gunnhild Røthe vertretene Hypothese, Þorgerð H™lgabrúð sei ein Objekt des von den Ladejarlen ausgeübten Kults gewesen. Der Zweifel hinsichtlich von Detailbeschreibungen solcher Kultfeiern in späten Quellen besteht zwar zu Recht75, trifft aber eher die berichteten Kultdetails als die religionshistorisch plausibilisierbare Vermutung, dass die Häuptlinge auf Lade für die Ausübung der mit Herrschaft verbundenen lokal-regionalen Kulte verantwortlich waren. Im Gegenteil ist es – jenseits aller Spekulationen über die Glaubensvorstellungen der Akteure – kaum glaubhaft anzunehmen, so machtbewusste Herrscher wie die Ladejarle hätten sich die Gelegenheit entgehen lassen, vor aller Welt als „die größten Opferer“ zu gelten und damit einen Agon für sich zu entscheiden. Bezeichnungen „Schwester des [Riesen] Auð“, „Tochter des [Riesen] Onar“, „Braut des Odin“, „Mitfrau der Frigg“ (oder anderer Riesinnen, mit denen Odin geschlafen hat). 74 Aus religionswissenschaftlicher Sicht wird kontrovers diskutiert, ob Þórgerð H™lgabrúð als (1) eine eventuell vanische Gottheit, (2) eine Riesin oder (3) eine als fylgja und/oder dís (Schutzwesen einer Person und/oder eines Ortes) verehrte ursprünglich historische Stammmutter zu deuten sei. Vom Standpunkt des Historikers aus kommt es auf diese Frage nicht an – obgleich ihm mit Blick auf die Forschungen LeGoffs zur Melusine letztere, von Gunnhild Røthe vertretene Hypothese am ehesten einleuchten wird. Entscheidend ist der Befund der früh- und hochmittelalterlichen Quellen, nach welchen den Jarlen der dauerhafte, wirkmächtige Kontakt zu einer mit übermenschlichem Vermögen begabten Frauenfigur zugesprochen wurde. 75 Snorri bietet eine detaillierte Darstellung der unter Hákons Vater Sigurð in Lade abgehaltenen Opferfeste (HsG c. 14); als Quelle gewürdigt u. a. in Ström, Hauptriten (1966); kritisch Walter, Opferfest von Hlaðir (1966). Düwel, Opferfest von Lade (1985), sieht alttestamentliche Blutriten, nicht nordische Kultpraxis als Motivation für Snorris Beschreibung; einschränkend dazu Hultgård, Altskandinavische Opferrituale (1993). Die angebliche Opferung des eigenen Sohnes dürfte mit Sicherheit auf biblisch-klassische Anregungen (Abraham; Karthago) zurückgehen, wenngleich die offenbar transkultural gültige Logik des Gabentausches es verbietet, eine entsprechende Praxis in anderen opfernden Glaubenswelten völlig auszuschließen.
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Die Frage nach der konkreten Ausgestaltung des Kults hingegen ist nur mit größter Vorsicht zu beantworten. Einen wertvollen Hinweis liefert die Textkritik. Unter den spätmittelalterlichen Varianten („Entstellungen“) des Beinamens H™lgabrúð „Håloga(land)s Braut“ finden sich mehrere Zusammensetzungen mit h™rga-. Betrachtet man sie nicht als verderbt, sondern nimmt sie lexikalisch ernst, so verweisen sie auf h™rg „Heiligtum“ (insbesondere eine kleine bauliche Anlage oder ein Grabhügel) und damit eventuell auf eine der Familiengeschichte der Ladejarle entnommene Episode, deren in zahlreichen Quellen (mit unterschiedlicher Pointe) berichteter Grundbestand die Anlage eines Grabhügels durch die letzten im Nordland residierenden Vertreter des Geschlechts mit anschließender freiwilliger Selbsteinschließung ist.76 Es ist sinnlos zu spekulieren, ob auch auf dem neuen Stammsitz im Trondheimfjord eine an das chthonische Familienheiligtum aus dem Norden erinnernde Erdstruktur angelegt wurde (das Vorgebirge von Lade erinnert in der Landschaft selber an einen ins Riesenhafte übersteigerten solchen Hügel), denn die aus so vielen unterschiedlichen Strängen geknüpfte Beziehung der Jarle zur Erde der Stammväter und der Stammmutter ist eindrücklich genug, um den Herrschaftsstil ihrer einzelnen Vertreter nachhaltig zu bestimmen.
Die unablässige Hierogamie Vor diesem Hintergrund gewinnt Jarl Hákons kvennafar, sein „Vorgehen bei Frauen“ eine andere Bedeutung. Meines Wissens ist der Zusammenhang zwischen Hákons sogenannter Maßlosigkeit in sexuellen Dingen einerseits und seiner Führungsposition in einem Kult mit hierogamen Zügen andererseits in der Forschung noch nie hergestellt worden. Bei der Begründung dieser Hypothese muss daher zunächst eingeräumt werden, dass keine nordische Quelle einen solchen Zusammenhang ausdrücklich herstellt. Ausweislich der Skaldenlieder übernahm Jarl Hákon den männlichen Part hierogamer Vereinigungen mit der als Frau gedachten Erde. Ausweislich der Sagas war Jarl Hákon eine Zentralfigur in der Ausübung heidnischer Kulte sowie ‚maßlos‘ mit Frauen. Zur möglichen kultischen Motivation des Letzteren gibt es keine Aussage. Allerdings wiegt diese Einschränkung weniger, als es scheinen mag, denn die Sagas pflegen Zusammenhänge und Motivationen nicht auktorial zu explizieren, sondern berichten Handlungen und arbeiten mit Textmitteln wie der Aufeinanderfolge von Episoden, lexikalischen oder strukturellen Korrespondenzen. Ein Sagaautor würde auch dann nicht sagen, Jarl Hákon habe den Beischlaf
76 In seiner Version (HsH c. 8) achtet Snorri – bei dem die Selbstdegradierung der bisherigen ,Könige‘ zu ,Jarlen‘ angesichts des nahenden Harald Schönhaar den Grund für die Episode abgibt – darauf zu präzisieren, der Hügel sei mit grjót „grobem Geröll“ gebaut. Der Sohn des Eingeschlossenen, der erste historisch greifbare Ladejarl in trønderscher Umgebung, trägt den Namen Grjótgarð „GeröllUmfassung/-Befestigung“.
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mit allen Frauen seines Machtbereiches gefordert, weil er es der kultischen Begründung seiner Herrschaft schuldig war, wenn er es meinte. Anders ist das – der Vergleich ist nicht aufgrund möglicher kultureller Abhängigkeiten, sondern aufgrund der strukturellen Ähnlichkeiten beider frühmittelalterlicher Gesellschaften sinnvoll – in Irland. In der irischen Erzählliteratur kommt es vor, dass ein Held wie Niall Noígiallach, der Sohn eines Königs von einer Sklavin aus britischem Königsgeschlecht, in akuter Nachfolgekonkurrenz mit seinen bessergestellten Brüdern die im Wald vorgefundene Frau, die ihm den Beischlaf mit ihr nahelegt, nach ihrem Namen fragt und rundheraus die Antwort erhält: „Ich bin die Herrschaft.“77 Die Vorstellung von Erin als einer Frau, mit der der jeweilige Herrscher den Beischlaf zu vollziehen hatte, war das gesamte Mittelalter hindurch (und bis ins 18. Jahrhundert hinein) lebendig in einer Weise, wie es in Norwegen nicht mehr beobachtbar ist. In seiner ersten Parlamentsrede als König von England (-Irland) und Schottland erklärte der protestantische Jakob I./VI. 1604: „I am the Husband, and the whole Isle is my lawfull Wife“.78 Diese Vorstellungswelt äußert sich in der mittelalterlichen Narrativik wie in der Chronistik – um nicht von der Praxis zu sprechen.79 Der Unterschied zu Skandinavien erscheint aufgrund der Verschiedenheit der Quellen – namentlich des großen Abstands zwischen dem rhetorisch-stilistischen Aufbau der nordischen Sagas und der irischen, in der englischsprachigen Forschung unglücklicherweise ebenfalls gelegentlich als ,Sagas‘ bezeichneten Erzählungen – allerdings größer, als er gewesen sein muss. Vor dem Hintergrund der hierogamen Verankerung seiner Herrschaft und der Notwendigkeit ihrer kultischen Perpetuierung stand Jarl Hákon sicher unter mindestens ebenso großem Druck wie jeder neue Hochkönig in Teamhair/Tara, der sich für den inauguralen banfheis bereit machte, das Gelage, das wörtlich „Beischlaf-Fest“ heißt. Auf kaum einen anderen nordischen Magnaten, dessen Frauenbeziehungen im Laufe dieser Untersuchung erörtert worden ist, scheint das taciteische Diktum so gut zuzutreffen 77 Echtra mac Echach Muigmedoin c. 15: „Cia tusu?“ or in mac. „Misi in flaithius“, or si. – Die ,Abenteuer der Söhne von Eochaid Muigmedón‘ sind in zwei spätmittelalterlichen Handschriften überliefert, ihre vorliegende Textgestalt geht vermutlich auf das elfte Jahrhundert zurück. Ihr Held, Niall Noígiallach (,von den neun Geiseln‘), gehört der späten Kaiserzeit an und wurde als Stammvater der Uí Néill betrachtet. 78 Rede zur Parlamentseröffnung, 19. März 1604 (gedruckt London 1604), zitiert nach Mackie, History of Scotland (21978), 187. Jakobs Ziel war die Union beider Königreiche, die er in den folgenden Jahren gegen wachsenden Widerstand verfechten sollte; seine Pointe in der Rede war, dass er als christlicher König ja kein „polygamist and husband to two wives“ sein könne. – Natürlich kann dies keine Persistenz keltisch-vorchristlicher Mythen belegen, wohl aber einen produktiven hierogamen Akzent in der politischen Theologie. Nach dem Tod von Charles de Gaulle am 9. November 1970 eröffnete Staatspräsident Georges Pompidou seine Fernsehansprache mit den Worten: „Français, Françaises, le général de Gaulle est mort, la France est veuve…“ 79 Vgl. Byrne, Irish kings (1973), 16ff., 50ff.; Jaski, Early Irish kingship (2000), 143–171; zum Mythos ibs. Ó Máille, Medb Chruachna (1928); Trindade, Irish Gormlaith (1986); Ní Mhaonaigh, Tales of three Gormlaiths (2002).
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wie auf Jarl Hákon, der polygyn war non libidine sed ob nobilitatem. Aber wer wollte sagen, ob hier nicht doch der Gegensatz wieder zusammenfällt? Mag es nicht die libido des Jarls beflügelt haben, in der „heiligen Umarmung“ der Frauen des Landes, von der noch der Königsspiegel spricht, seinen Weg zur Macht, den Sieg von Hjörungavág und den Triumph über den Dänenkönig noch einmal und immer wieder vergegenwärtigt zu erleben – und die einer Þóra auf Rimul80, für einen Moment das ganze Reich zu sein? Es wäre ebenso hochfahrend, dies aus dem Blick zu verlieren und die aristokratische Polygynie auf ihre soziale Zweckbestimmtheit zu reduzieren, wie es kurzsichtig ist, jene zu verkennen und die polygynen Praktiken gleichsam als Privatsinnlichkeit misszuverstehen. Was aber führte dann zum Sturz des Jarls? Eine Übererfüllung seiner hierogamen Pflichten, so will es scheinen. In den Sagas heißt es aus hochmittelalterlicher Perspektive, er habe „auch die Frauen der Mächtigen“ nicht mehr verschont. Das ist die Wahrnehmung der an die Funktionsweise des ,expressiven‘ Aspekts gewöhnten Beobachter des politischen Spiels ihrer Zeit, drei Jahrhunderte nach dem „Sittenwechsel“.81 Sie erscheint wie gesagt wenig glaubhaft: Der politisch äußerst geschickte Jarl Hákon hätte nach einem Vierteljahrhundert plötzlich die elementaren Vorsichtsmaßregeln im Umgang mit den bedeutendsten Männern seiner Kernregion außer Acht gelassen? Die umgekehrte Deutung hingegen ist durchaus plausibel: Jarl Hákon, der „davon ausging, dass er ein gleichmäßiges Verfügungsrecht über alle Frauen hatte“82, bemerkte vielleicht nicht, dass die 80 Nora Chadwick (vgl. oben, Anm. 64) schlägt aus religionswissenschaftlicher Sicht die Gleichsetzung der Sagafigur Þóra mit der mythologischen Þorgerð H™lgabrúð vor. Das setzt eine intakte Überlieferung über zwei Jahrhunderte voraus und ist meines Erachtens schwer zu vertreten und unmöglich zu beweisen. Plausibler – wenngleich ebenso wenig beweisbar – wäre die Annahme, Þór-Namen für Töchter seien im Bereich des Kultes um Þórgerð H™lgabrúð möglicherweise recht verbreitet gewesen. Allerdings scheint Þóra in den Königssagas eine Art Standardname für Beischläferinnen von Fürsten zu sein, so dass jede von diesem Namen ausgehende Interpretation problematisch ist. Hingegen ist der Beiname der Guðrún Lundasól, die sich dem Zugriff des Jarls entzieht, vielleicht aufschlussreich. Ágrip und Snorri geben zu verstehen, dass sich der Name von dem Hof Lundar (und bei Snorri: von ihrer Schönheit) ableitet. Doch lundar ist der Plural von lundr „Wäldchen, Hain“; denselben Namen (im Singular) trägt unter anderem die zentrale Thing- und Kultstätte Schonens, der spätere Erzbischofssitz Lund. Guðrúns Beiname „Sonne des (heiligen) Hains“ könnte durchaus einen religiösen Akzent haben, der allerdings nicht weiter spezifizierbar ist; jedenfalls gibt es bei den Ladejarlen kein Anzeichen für einen Sonnenkult. 81 Das ist die wörtliche Bedeutung von siðaskipti, dem geläufigen Wort für die Bekehrung zum Christentum. 82 Ágrip c. 12: at hann lét sér konur allar jamt heimilar. Letzterer Begriff ist ein Rechtswort: „verfügbar, zur freien Verfügung, zu Gebote stehend; rechtmäßig“ Baetke, Wörterbuch (51993), s. v. heimill. Als Adverb bezeichnet es die Überlassung „zum Nießbrauch“, das abgeleitete Substantiv heimild „Besitzrecht“ spielt als Gegenstand von Konflikten über die Ansprüche auf Höfe, Ländereien oder Godentümer in den isländischen Litigationen eine große Rolle (vgl. Jón Viðar Sigurðsson, Chieftains [1999], passim. – Vgl. die Worte Gottes (durch den Mund Nathans, II Sm 12,8) an David: dedi tibi domum domini tui et uxores domini tui in sinu tuo. Man könnte vor diesem Hintergrund für eine alttestamentlich-typologische Interpretation der Sagapassage argumentieren; aufgrund der angeführten
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Zeiten sich änderten und immer mehr Menschen, Männer wie Frauen, diesen Nießbrauch zu Kultzwecken in Frage stellten. Die Leichtigkeit, mit der Óláf Tryggvason – ohne viel Anhang (wenn auch mit mächtiger politischer Rückendeckung) aus England ins Land kommend – die Alleinherrschaft übernahm, erlaubt es, Snorris summarischen Epilogos auf Jarl Hákon buchstäblich zu nehmen: Es war Zeit für einen Glaubenswechsel.83 Wenn die Polygynie des Herrschers tatsächlich so kultisch konnotiert war, wie die Quellen es vermuten lassen, dann brauchten Óláf Tryggvason und seine englischen Missionare nicht die biblische Gleichsetzung von Promiskuität und Götzendienst84, um auf diese Praktiken ein aufmerksames Auge zu haben. „Soll sich ein Edler etwa an den Lippen vieler Frauen besudeln und wie die Hunde und die Schweine glauben, er könne so viele Frauen sein eigen nennen, wie er sich durch seine Lust beigesellen kann?“85 Während Jarl Hákon „sein schmutziges Leben und seine Macht an einem schmutzigen Ort beendete“86, ging Óláf Tryggvason an die Errichtung der neuen Zeit und ließ – einer Version seiner Saga zufolge – das Götzenbild der Þorgerð H™lgabrúð vor versammeltem Volke entkleiden und dann zerschlagen87: Auch der Glaubenswechsel war als Paarbeziehung darstellbar.
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zeitgenössischen Quellen sowie des Umstandes, dass Ágrip keine besonderen theologisch-skripturalen Qualitäten aufweist, scheint es mir aber doch zulässig, die Passage auch auf das Rechtsempfinden des norwegischen Hochmittelalters und nicht nur auf einen entlegenen Bibelvers zu beziehen. OsTr c. 50: þá var sú tíð komin, at fyrirdœmask skyldi blótskaprinn ok blótmenninir, en í stað kom heil™g trúa ok réttir siðir. Vgl. oben, Anm. 45. Die zentrale Stelle, von der alle übrigen – namentlich Salomos Schwanken in Kultdingen aufgrund des Einflusses seiner Frauen (III Rg 11) – abhängen, ist Ex 34, 16: „Wenn die Töchter der Bewohner des Landes mit ihren Göttern buhlen (fuerint fornicatae cum diis suis)...“ Salvian von Marseille, De gubernatione Dei IV, 28 (MGH Auct. ant. 1,1 41): numquid multarum uxorum labe polluitur et canum vel suum more tantas putat coniuges suas esse, quantas potuerit libidini coniugare? Damit wäre dem Inventar skriptural-patristischer Bezüge von Snorris Version des Todes von Jarl Hákon im Schweinestall eine weitere Bezugsstelle hinzuzufügen. Ágrip c. 14: lauk svá saurlífismaðr í saurgu húsi sínum d™gum ok svá ríki. Die Óláfs saga Tryggvasonar en mesta (III 11f.) betont den Inszenierungscharakter: Der König entdeckt die bekleidete Kultfigur auf einer Waldlichtung und lässt sich sagen, es sei Þórgerð h™lgabrúð, „mit der Jarl Hákon die innigste Freundschaft verbunden habe“ (er Hakon jarl hafdi mest vinfengi vid). Er nimmt ihr die Kleidung und den Gold- und Silberschmuck (Votivgaben des Jarls Hákon) ab, bindet sie an den Schwanz seines Pferdes und reitet ins Lager. Hier wird die Statue wieder bekleidet, auf einem Altar placiert und das Gold und Silber in Körben aufgestellt. Nun wird sie coram publico abermals ausgezogen (sidan bad hann afkleda hana), anschließend mit Knüppeln zerschlagen und die Trümmer verbrannt. Während das letzte Stück zum hagiographischen Standard des Umgangs mit Kultbildern gehört (zur vermutlichen Existenz heidnischer Kultstandbilder vgl. Olsen, Hørg, hov og kirke [1966], 121; Røthe, Þórgerðr Hölgabrúðr [2007], 3ff.), ist die vorangehende, recht umständliche sexuelle Demütigung anscheinend eine Besonderheit. Vgl. Ez 23,29f.: et tollent omnes labores tuos / et demittent te nudam et ignominia plenam / revelabitur ignominia fornicationum tuarum / scelus tuum et fornicationes tuae / fecerunt haec tibi quia fornicata es post gentes inter quas polluta es in idolis eorum („sie werden all dein Vermögen wegnehmen und dich nackt und bloß liegenlassen, so dass deine schamlose Blöße, deine sündige Buhlerei aufgedeckt wird. Das wird dir geschehen, weil du mit den Heidenvölkern gebuhlt hast, an ihren Götzen dich befleckt hast“).
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5 Der performative Aspekt
Es ist schwieriger als bei den übrigen Aspekten, die ‚performative‘ Polygynie des nordnorwegischen Magnaten aus der späten Ottonenzeit vergleichend zu perspektivieren. Für die Kultausübung waren zwar auch andere reges et sacerdotes zuständig oder wenigstens verantwortlich und wurden von der Bevölkerung bis ins späte Mittelalter (und darüber hinaus) dafür in die Pflicht genommen.88 Doch Hierogamie spielte dabei eine, wie am Anfag dieses Kapitels kurz angedeutet, viel mittelbarere Rolle, und wenn Vorstellungen über die Beziehung Christi zur ecclesia oder der anima zu Gott auf irdische Sexualpraktiken zurückwirkte, dann im Sinne des biblisch-patristischen Monogamismus: Polykoitie ist Götzendienst (und umgekehrt) – „wir kennen nur eine Verheiratung, so wie wir nur einen Gott kennen!“89 Aber diesseits der Transzendenz ist es ja dennoch möglich, dass der gedachte Zusammenhang einer Frau mit etwas anderem unter gewissen Umständen, an manchen Orten und zu manchen Zeitpunkten enger als zeichenhaft ist.90 Das bringt uns zu den eingangs gestellten Fragen zurück: Was tat Philipp der Schöne mit der flandrischen Grafentochter im Kerker, was Swen Godwineson in seinem Kloster und die vielen Eroberer in den Städten? Ist es denkbar, dass die kontextuelle Fügung Frau~Land (Stadt, Herrschaft) zuweilen essentieller war als ‚nur‘ zeichenhaft? In den letzten beiden Kapiteln, in denen die am nordischen Material gewonnenen Erkenntnisse an anderen europäischen Regionen, Akteuren und Redeweisen erprobt werden, sollen diese Fragen nicht aus dem Blick kommen.
88 Vgl. jetzt zusammenfassend Erkens, Herrschersakralität (2006); ders., Heißer Sommer (2003). 89 Os 1,2: fornicans fornicabitur terra a Domino; Tertullian, De monogamia I, 4: Unum matrimonium novimus sicut unum deum. Tertullian geht es zunächst um die (von ihm abgelehnte) Wiederverheiratung, also serielle Polygynie; die simultane schließt er a fortiori aus. Wer sich auf Abraham und die Väter beruft, dem hält er vor, dass Abraham erst polygyn wurde, als er beschnitten war – Monogamie wird zu Ausweis und Essenz des Neuen Bundes. 90 Vgl. jetzt Gießauf, Feind in meinem Bett (2005) zu Innerasien; Groebner, Mit dem Feind schlafen (2007) zum Mittelmeerraum.
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Der vergleichende Blick : Westeuropa
Im Kerneuropa der Mediävistik Auf der Landkarte der Europageschichte erscheint der mittlere Teil seines atlantischen Randes, die westfränkischen Länder zwischen dem Golf von Biscaya und der Rheinmündung sowie England, als die Ideallandschaft mediävistischer Forschung über aristokratische Gesellschaft und Geselligkeit, über Verwandtschaft, Familienstrukturen und ihre Wechselwirkung mit den ökonomischen Umständen, mit Rechtssystem und Rechtsempfinden, mit Glaube, Furcht und Hoffnung und schließlich mit der politischen Geschichte, die als ,protonational‘ aufzufassen und als eine der Kraftquellen auch noch des Europas unserer Gegenwart zu deuten immer noch (oder wieder) en vogue ist.1 Es mag sein, dass die Führungsrolle, die Frankreich in der internationalen Mediävistik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts übernommen hat, in Kombination mit dem Umstand, dass die heute oft als tonangebend anmutende angloamerikanische Mediävistik traditionell ihr zentrales Betätigungsfeld im englischen und nordfranzösischen Mittelalter findet, zu diesem Eindruck beiträgt. Gewiss ist, dass die internationale Forschung zu Fragen der Sozialgeschichte der aristokratischen Familie von den Zuständen in dieser Zone mehr als von jedem anderen Teil des Kontinents geprägt ist. Fast scheint es, als würde diese Region – gelegentlich sogar explizit – als normsetzender Kern verstanden, denen gegenüber andere Gebiete (darunter nicht zuletzt der in dieser Studie vor allem untersuchte Norden) als peripher, die Unterschiede als Devianzen erscheinen.2 Auch in diesem Buch sind die 1 2
Als prominentes Beispiel sei genannt Le Goff, Geburt Europas (2004); zur Kritik vgl. die Rezension von Michael Borgolte (2004). Selten wird diese Position so deutlich wie bei Mitterauer, Warum Europa? (2003); zur Kritik vgl. meine Rezension (2003). Sie ist aber implizit, wenn allgemeine Darstellungen zur mittelalterlichen Geschichte häufig überwiegend oder ausschließlich auf Material aus diesem Raum einschließlich der ostfränkischen Kernlandschaften zwischen Mittelrhein und Bodensee beruhen; vgl. neben vielen anderen Ennen, Frauen im Mittelalter (³1987); Goetz, Leben im Mittelalter (1986); Klapisch-Zuber, Geschichte der Frauen, Bd. 2 (1993); Aurell, Noblesse en Occident (1996); entsprechend die einschlägige Untersuchung von Esmyol, Geliebte oder Ehefrau? (2002). Würde in derartigen Werken überwiegend nord-, ost- oder südeuropäisches Material verwandt, wäre es wohl kaum möglich, diesem Umstand nicht im Titel Rechnung zu tragen.
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untersuchten nordeuropäischen Zustände gelegentlich bereits en passant in erläuternder Absicht mit dem bekannteren Westmitteleuropa, nicht aber mit den ähnlich unbekannten Verhältnissen etwa in der Rus’ oder auf dem Balkan verglichen worden. Die inzwischen unüberschaubar gewordene Fülle der Untersuchungen zu den aristokratischen ,Häusern‘, in den Werken von Forschern wie Georges Duby und Dominique Barthélemy kanonisiert und bis heute mit unverminderter In- und Extensität betrieben3, scheint die Länder zwischen Flandern und Poitou zur Terre d’élection für die Suche nach der hochmittelalterlichen Polygynie zu machen.
Zur Forschung „In dieser polygamen Gesellschaft“, als die Georges Duby das nordwestfranzösische zwölfte Jahrhundert anspricht4, ist die Suche nicht vergebens. Doch so zahlreich die „Mädchen“ auch sein mochten, die es verstanden, den Männern „durch ihre körperlichen Reize, durch ihre Gefälligkeit und ihr Geschick Vergnügen zu bereiten“5 – als ein tragendes Element dieser Gesellschaft gelten sie nicht. Der katalanische, in Poitiers lehrende Mediävist Martin Aurell widmet dem Thema in seiner sozialhistorisch ausgerichteten Überblicksdarstellung zum Adel im Abendland von knapp zweihundert Seiten gerade acht Zeilen. In ihrer Dichte verdienen sie es, vollständig zitiert zu werden: (...) Par leurs divorces et remariages à répétition, des nobles s’adonnent ainsi à une polygamie successive, sérielle. Ils ne rejettent pas pour autant une polygamie simultanée. En Normandie, le mariage more danico, « à la mode danoise », permet à certains nobles d’entretenir une concubine à côté de leur femme légitime. En Flandre, Lambert d’Ardres, chapelain et chroniqueur des comtes de Guines, évoque les égarements de son maître Baudouin II (†1169), „qui corrompit plus de vierges que
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Drei Zentren französischer Forschung sind namhaft zu machen: das an der Universität Caen eingerichtete Centre de Recherches Archéologiques et Historiques Médiévales (CRAHM) um Claude Lorren und Pierre Bauduin mit seinen zahlreichen Aktivitäten, unter anderem der Internetzeitschrift Tabularia; die auch nach Pierre Bonnassie eine Schule bildenden Forscher zum südfranzösischen und nordiberischen „Feudalismus“ in Toulouse; die international verknüpfte Équipe ,Mondes Plantagenêt‘ mit organisatorischem Zentrum in Poitiers unter Leitung von Martin Aurell, die mehrere wichtige Kolloquien veranstaltet hat (« La cour Plantagenêt (1154 –1204 », Thouars 1999 [publiziert 2000]; « Culture politique des Plantagenêt (1154 –1224) », Poitiers 2002 [publiziert 2003]; vgl. als aktuelle Synthese Aurell, L’empire Plantagenêt [publiziert 2003]). Duby, Frauen im 12. Jahrhundert (1999), 267. Ebd., 286; zur Stilkritik vgl. die Rezension von Doris Ruhe (2001). – Auf diesen Seiten werden die Forschungen Dubys häufig parte pro toto zur Kennzeichnung bestimmter Forschungsmeinungen herangezogen, gerade in kritischer Weise. Dies ist eine Reverenz gegenüber einem ,Maître‘, dessen klar formulierte, gelegentlich pointierte Thesen zur Debatte und zum Widerspruch einladen – Widerspruch, den er auch gesucht hat. Nicht viele Historiker wirken mehrere Generationen fort. Vgl. für eine erste Würdigung: Duhamel-Amado/Lobrichon (Hrsg.), Georges Duby (1996).
Zur Forschung
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David, Salomon et Jupiter“, devenant le père d’au moins vingt-trois bâtards. Faire ostentation de sa puissance, s’assurer une descendance et obtenir de nombreuses alliances déterminent la polygynie aristocratique.6
In wenigen Worten bringt Aurell – meines Wissens einer der wenigen Mediävisten, die überhaupt diesen Begriff gebraucht haben – die aristokratische Polygynie auf den Punkt. Seine Stichworte „puissance – descendance – alliances“ scheinen zumindest die ersten beiden ,Aspekte‘ im Sinne vorliegender Untersuchung abzudecken. Und doch wird die Passage, eingebettet in den Abschnitt „Le mari et la femme“, im weiteren nicht fruchtbar gemacht; die Polygynie bleibt peripheres Ornament einer auf der untrennbaren Einheit von „Ehe und Macht“7 beruhenden Gesellschaftsstruktur. Das berühmte Trio von Ritter, Frau und Priester kommt nur zueinander, wenn es um „die Ehe im feudalen Frankreich“ geht8, und wenn der Ritter sich noch so sehr wie Jupiter und Salomo gebärdet. Dies hängt gewiss mit dem intellektuellen Erbe der strukturalen Anthropologie zusammen und ist zudem bedingt durch die Konzentration auf die aristokratischen ,Häuser‘ als soziale Zellen einschließlich ihrer ökonomischen Basis und soziablen Verankerung, die beide klassischerweise durch die dotierte Ehe beeinflusst werden, während weniger formalisierte Bindungen ihrem Wesen nach geringere Spuren hinterlassen. Die geringe Wertschätzung der Polygynie in der Mittelalterforschung zum westlichen Europa ist aber zu einem guten Teil auch quellenbedingt. Eine Reihe markanter Unterschiede zur Situation in Nordeuropa führen dazu, dass die Erforschung der Polygynien beider Teile Europas unweigerlich von einer grundsätzlichen Asymmetrie der Quellen bestimmt ist. Der Hauptunterschied ist der Reichtum an dokumentarischen Quellen, die deren fast völligem Fehlen in Nordeuropa gegenüberstehen. Keine der großen Landschaftsstudien, wie Bonnassie sie für Katalonien, Duby für Burgund, Barthélemy für das Vendômois, Lemesle für das Maine, Fossier für die Picardie und Warlop für Flandern vorgelegt haben9, 6
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Aurell, Noblesse en Occident (1996), 66; es schließt sich eine ethnologisch informierte Erörterung des hypergamen Heiratsmusters an. Judith Green widmet in ihrer umfassenden Darstellung der anglonormannischen Aristokratie auf knapp 450 Seiten dem Konkubinat ganze elf Zeilen (Aristocracy [1997], 356); Constance Bouchards Darstellung des französischen Rittertums (Chivalry and society [1998]) enthält trotz prononciert sozialanthropologischer Ausrichtung abgesehen von einigen Nennungen von „bastard sons“ keinen Hinweis auf Konkubinat/Polygynie. So der Titel von Aurells fast gleichzeitig erschienenen bedeutenden Studie: Noces du comte (1995). Auch hier gehören die Ehefrauen in die politische Sphäre, die Konkubinen sind eine Sache der Leidenschaft (424: „Comme aux siècles précédents, Catalans et Toulousains continuent [im 12. Jh.] de pratiquer la polygynie, répudiant leurs épouses au gré des vicissitudes politiques ou prenant des concubines au rythme de leurs passions.“) Duby, Ritter, Frau und Priester (1985), frz. u.d.T. Le chevalier, la femme et le prêtre (1981). – Der deutsche Titel des zweiten Teils von Duby, Frauen im 12. Jahrhundert: Mütter, Witwen, Konkubinen (erstmals 1997), weicht ab vom Originaltitel Le souvenir des aïeules (1995). Bonnassie, La Catalogne (1975); Duby, La société aux XIe et XIIe siècles (21971); Barthélemy, Vendôme (1993); Lemesle, Haut-Maine (1999); Fossier, Picardie (1987); Warlop, Flemish nobility (1975–76).
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ließe sich für Skandinavien auch nur ansatzweise durchführen – weshalb die Übertragbarkeit von deren Ergebnissen zu den meistdiskutierten Themen der vergleichenden europäischen Geschichte in Nordeuropa zählt.10 Diese Quellen geben (neben vielen anderen Dingen) vor allem über ,rechte‘, von Güterübertragungen begleitete Eheschließungen reiche Auskunft, so dass es möglich ist, auf ihrer Grundlage Untersuchungen zu Verwandschaftssystemen durchzuführen, „Heiratsstrategien“11 zu erkennen und sogar „Bündnistheorien“ zu entwickeln.12 Nichteheliche Beziehungen hingegen, ,Konkubinate‘, wie die Forschung sie im Anschluss an die kirchenrechtliche Klassifikation der Zeit meist nennt, sind gewissermaßen per Definition in diesem Quellenmaterial nicht vorhanden. In seiner tausendseitigen Untersuchung zur aristokratischen Gesellschaft im Vendômois hat Dominique Barthélemy daher gerade zweimal Anlass, das Thema ,Konkubinat‘ zu erwähnen – das zudem nicht notwendigerweise etwas mit Polygynie zu tun haben muss, sondern jene minderrechtliche Form der Monogamie bezeichnen kann, die vom I. Toletanum bis zum Decretum Gratiani und darüber hinaus als eheähnlich toleriert wird.13 Sichtbarer als die Eltern sind die Kinder aus solchen Verbindungen. Sie haben, so selten auch sie erwähnt werden (beziehungsweise als solche identifizierbar sind), aufgrund ihrer eventuellen materiellen Ausstattung einen gewissen Platz in den Urkunden.14 Gegen die generalisierende Sicht von Jean-Pierre Poly und Éric Bournazel in ihrer bekannten Studie zum ,feudalen Umbruch‘, wonach der Ausschluss der ,Bastarde‘ eine der Charakteristika der fundamentalen Umstrukturierung der Verwandtschaftsbeziehungen in den Jahrzehnten nach dem Jahr 1000 gewesen sei, betont Barthélemy die Fallbezogenheit von Ex- oder Inklusion von ,Bastarden‘ in die aristokratischen Verwandtschaftssolidaritäten, räumt aber ein, dass ihnen insgesamt ab dem elften Jahrhundert nur noch ein zweitrangiger Platz 10 Vgl. Paludan, Familia og familie (1995); Gelting, Det komparative perspektiv (1999); Lind, Europæiseringer i middelalderen (2003); Hybel, Danmark i Europa (2003). 11 Den in anderen Räumen und Epochen ja auch nicht selten gebrauchten Begriff benutzt Martin Aurell programmatisch im Titel: Stratégies matrimoniales de l’aristocratie (2000). 12 Für Katalonien – den einzigen Teil des westfränkischen Reiches, das nicht von den Schäden der Revolutionszeit an den Archivalien betroffen war – vgl. die ungeachtet einiger Manierismen exzellente Untersuchung von Ruiz-Domènec, L’estructura feudal (1985), in der eine quellenbasierte Regionalstudie konsequent auf Grundlage strukturalistischer Theorie durchgeführt und dadurch der (von Ruiz-Domènec zitierten) Gefahr entgeht, „die Geschichtswissenschaft in ein Kuriositätenkabinett zu verwandeln“ (František Graus). 13 Eine im Kartular von Saint-Père zu Chartres bewahrte Urkunde aus dem späten zehnten Jahrhundert liefert folgende mustergültige ,Definition‘ der rechten Ehe in ihrer auf regionaler Ebene rezipierten Gestalt: secundum legem salicam et secundum consuetudinem qua viri proprias uxores dotant (Barthélemy, Vendôme [1993], 545), woran der Verfasser die Beobachtung anschließt: „On ,dote‘ ainsi une femme légitime, mais non une illégitime. Ainsi, le douaire coutumier n’est-il pas responsable, par contraste, de nombre de concubinages? Peu d’indices sur ceux-ci...“. 14 Barthélemy (ebd., 536–540) findet in seiner reichen Dokumentation für das gesamte elfte Jahrhundert in der Grafschaft Vendôme zehn ,Bastarde‘, alle männlich, von denen vier als solche bezeichnet und sieben namentlich genannt sind (einer also beide Identifikationsmittel trägt).
Zu den Quellen
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blieb.15 Dass die Quellen, mit prosopographischem Interesse betrachtet, ein unausgewogenes Bild zeichnen und die Anzahl der ,Bastarde‘ erheblich höher gewesen sein dürfte, steht wohl außer Zweifel; um wie viel höher er ist, entzieht sich aber jedenfalls für das Hochmittelalter der Überprüfbarkeit. Betrachtet man die Nachkommenschaft des Normannenkönigs Heinrich I. von England (r. 1100 –1135), so ist das Verhältnis 1:10 zugunsten der Bastarde. Nun war der beau clerc auf dem englischen Thron auch in der Wahrnehmung der Zeitgenossen hinsichtlich seiner concupiscentia feminarum16 ein Extremfall, doch ist es unmöglich abzuschätzen, ob für eine gegebene aristokratische Population des elften oder zwölften Jahrhunderts die Relation sich tendenziell eher diesem oder jenem Wert annähert. Zusammenfassend gesagt: Das Urkundenmaterial stützt zwar die Annahme, außereheliche (und potentiell polygyne) Verbindungen seien weitverbreitet gewesen, lenkt aber die Aufmerksamkeit vor allem auf die Ehe als „Eckstein des sozialen Gebäudes“.17
Zu den Quellen Eine Reihe weiterer Unterschiede zwischen West- und Nordeuropa in punctis Überlieferungsdichte und -charakter verschiedener Quellengattungen wäre benennbar, doch für die Erforschung der Polygynie ist einer von ihnen von entscheidender Bedeutung: der Ort der Volkssprache. Die nordische Sprache stand in Norwegen-Island vom Beginn der Buchschriftlichkeit an neben dem Lateinischen, ihre Pflege wurde mit einer auch auf theoretischer Ebene außergewöhnlichen sprachlichen Selbstsicherheit betrieben, und sie beherrschte mit ihren Erzählkonventionen in großen Teilen Nordeuropas die Geschichtsschreibung, während die lateinische Chronistik (mit Ausnahme von Saxo) lediglich Achtungsleistungen hervorbrachte. In Westeuropa ist es beinahe umgekehrt: Hier dominiert das Lateinische nicht nur in den Urkunden, sondern auch in den Erzählquellen; die französische Volkssprache in ihren vier literarischen Dialekten entwickelte ihre Schriftlichkeit unter ständigem Bezug auf und in Abhängigkeit vom Lateinischen. Für das Französische gilt zweifellos Lars Boje Mortensens Diktum, die Literaturen in europäischen Volks15 Ebd., 540, zu Poly/Bournazel, Mutation féodale (1980), 187; vgl. Barthélemy, Vendôme (1993), 536: „la bâtardise est un statut : la filiation est reconnue, mais non légitime.“ Bekanntlich ist Barthélemy auch generell ein vehementer Kritiker der „mutationistischen“ Thesen im Anschluss an Poly und Bournazel; vgl. dens., La mutation de l’an mil (1997). 16 Wilhelm von Newburgh, Historia rerum Anglicarum, Bd. 1, 3; vgl. Ordericus Vitalis, HE XI 23. Den Kindern Heinrichs I. räumt The Complete Peerage einen eigenen Anhang ein (White, Appendix D [1949]) und listet zwei (eventuell drei) eheliche und 20 (eventuell 22) außereheliche Kinder auf; die Geschlechterverteilung ist in allen Fällen nahezu ausgewogen. Vgl. Given-Wilson/Curteis, Royal bastards (1984), 60–73. 17 Duby, Ritter, Frau und Priester (1985), 25. Im französischen Original ist die architektonische Metapher noch wuchtiger: „la clé de voûte de l’édifice social.“ Entfernt man den Schlussstein aus dem Gewölbe, stürzt das Gebäude ein.
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sprachen seien bis um 1200 nur eine Fußnote zur lateinischen.18 Ihre Domäne blieb bis ins 13. Jahrhundert die laikal-,höfische‘ Literatur, darunter eine reiche, meist versifizierte Narrativik, die eine auf die Absteckung von Fächergrenzen bedachte Geisteswissenschaft als ,Literatur‘ tout court der romanischen Philologie überließ, während die lateinische Prosa der Historiographen (einschließlich des gelegentlichen Prosimetrums wie bei Dudo von Saint-Quentin) von der Geschichtswissenschaft reklamiert wurde. Die französische Literatur des 12. und frühen 13. Jahrhunderts hat die sicher bekannteste kulturelle Formalisierung der Polygynie entwickelt: den amour courtois. Allen philologischen Bedenken zum Trotz hat sich der im 19. Jahrhundert lancierte Begriff als tragfähig erwiesen, um die Gesamtheit der Kulturprodukte (um nicht zu sagen: den Diskurs) zu bezeichnen, deren Movens das Spannungsverhältnis zwischen einem Mann, einer Frau und amour ist.19 Die Versuche, die höfische Liebe zum Gegenstand oder wenigstens Bestandteil geschichtswissenschaftlicher Interpretation zu machen, sind so vielfältig wie verwirrend. Meines Erachtens muss man zunächst die Wahl treffen, die höfische Liebe als soziopolitisches Phänomen gewinnen zu wollen und psychosoziales oder emotionsgeschichtliches Interesse zurückzustellen, ohne zu verkennen, dass man sich damit für einen Teilzugriff entschieden hat. Diese Wahl bedeutet, dass jede Erwägung zu Themen wie ,Liebestheorie‘ oder ,Liebesdiskurs‘ in ihrem totalisierenden Anspruch hinfällig wird, da es nur noch um die kontingenten Verwendungen, nicht mehr um die ,Bedeutung‘ courtoiser Kulturpraktiken gehen kann. Auf der anderen Seite muss man diese Praktiken ernst nehmen – im Gegensatz zu Reduktionismen wie jenem, der sich in Georges Dubys Formulierung verdichtet (doch in der Sache weiterhin von vielen geschichtswissenschaftlich orientierten Deutungen der Minne geteilt wird), zu unterscheiden sei zwischen den Romanen und Liedern einerseits, der „wirklichen Struktur der gesellschaftlichen Kräfte und Beziehungen“ andererseits20 – als wären Urkunden und Chroniken nicht nur andere, sondern auch ‚wahrere‘ Quellensorten. In den Begriffen der Kulturanthropologie ist die Courtoisie einer Region stets zugleich ein kognitives und ein normatives Modell.21 Auf 18 Mortensen, Medieval Latin Literature (2003). 19 Gelegentlich begegnet man Indizien, dass die besten Dichter sich der trinitarischen Implikationen des Systems bewusst waren; vgl. etwa die beinahe monotheletische Formel bei Raimon de Miraval (PC 406,2 v. 10f.: Ma domna et eu et amors Eram pro d’un voler tuich trei „Meine Herrin und ich und Liebe hatten stets einen einzigen Willen“. – Für eine Analyse der höfischen Dichtung im Lichte der Diskurstheorien vgl. Huchet, L’amour discourtois (1987), für ihre Verbindung mit anderen ,Diskursen‘ vgl. Baldwin, Language of sex (1994). 20 Duby, À propos de l’amour que l’on dit courtois, in: Ders., Mâle moyen âge (²1990), 74–82, 74: „...les correspondances entre ce qu’exposent ces chansons et ces romans et, d’autre part, l’organisation vraie des pouvoirs et des relations de société.“ Deutsch: Ders., Über die höfische Liebe, in: Ders., Frau ohne Stimme (1989), 81–90, 81. 21 Vgl. Geertz, Religion as a cultural system, in: Ders., The interpretation of cultures (1973), 87–125, 93. Die Parallele zum Ritusbegriff, auf den Geertz sich bezieht, ist weniger weitläufig, als es zunächst den Anschein haben mag; vgl. Köhler, „Can vei la lauzeta mover“ (1979), 348f.
Zu den Quellen
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diese Weise haben Gadi Algazi und Rina Drory die ,Liebe‘ der Abbasidenzeit als „Regelwerk sozialer Kompetenz“ beschreiben können, und ich habe vorgeschlagen, die okzitanische fin’ amor des Hochmittelalters als „Grammatik der Mentalität“ aufzufassen22, in beiden Fällen ohne Präjudiz für die Interpretation anderer, womöglich zeitgleicher und benachbarter Regionen, deren ,höfische‘ Kultur formal mit ähnlichen oder sogar gleichen Elementen operiert – wie etwa der französisch-anglonormannischen. Hier soll nun nicht der Versuch einer ähnlichen Theoretisierung der Courtoisie zwischen Loire und Schelde (und der Irischen See) unternommen werden; ich bin der Meinung, dass die Courtoisie im Anjou, der Normandie oder France eine ganz andere, erheblich geringere Rolle spielte als die totalisierende Cortesia im tolosanischen Okzitanien. Gleichwohl ist sie als Formalisierung der Laienkultur von hervorragender Bedeutung für das Verständnis der aristokratischen Polygynie. Die höfische Liebesbeziehung ist zwar exklusiv gedacht, die ,Herrin‘ duldet keine andere Frau neben sich – was die Courtoisie viel eher dem christlichen Gesetz annähert als dem Feudalsystem, als dessen Abbildung sie in zahlreichen ,politischen‘ Interpretationen verstanden worden ist und dessen Wesen, allen verzweifelten Versuchen der Exklusivierung und Perpetuierung des Bandes zwischen Männern zum Trotz, doch gerade die reale oder potentielle Vielzahl der Bindungen ist. Ebenso verhält es sich mit dem ,höfischen Modell‘, in dem die beminnte Frau stets zu vergegenwärtigen hat, dass ein Fehlen ihrerseits den Transfer der Hommage (des homenaticum) des Mannes anderwärts zur Folge haben kann. Zu diesem gewissermaßen systemimmanent polygynen Zug der höfischen Liebe gesellt sich – jedenfalls in ihrer französischen Ausprägung – ein zweiter, eher regionalspezifischer: Anders als in der okzitanischen Cortesia, in der die Herrin der Annäherung (außer durch ihre eigenen Ge- und Verbote) nur durch schemenhafte, zu den Appropriationen aus der arabischen Liebesdichtung zählenden Standardtypen wie den ,Beobachter‘ (gelós) und den ,Verleumder‘ (lauzengier)23 entzogen ist und ihre lebensweltliche Position als Tochter, Schwester, Gattin und/oder Witwe ganz unthematisiert bleibt, ist der (nord)französische amour courtois seinem Wesen nach konflikthaft. Die ,Rechte‘ der Liebenden kollidieren mit jenen, die Recht und Herkommen anderen Männern über die Frau einräumt. In der französischen Courtoisie ist diese in aller Regel verheiratet, der sexuelle Zugang zu ihr durch kirchliches und weltliches Recht also streng privilegiert.24 22 Vgl. Algazi/Drory, L’amour (2000); Algazi, Hofkulturen im Vergleich (2001), Rüdiger, Aristokraten und Poeten (2001). 23 Zu den Zusammenhängen zwischen okzitanischer und arabo-andalusischer Dichtung (hier die Figuren des raqīb/ḥāsid und des wāšī) habe ich mich in Aristokraten und Poeten (2001), 210–222 geäußert und meine Sicht der selektiven Appropriation seither nicht geändert. 24 In der frühen aquitanisch-poitevinischen Trobadordichtung wird diese Aporie noch ebenfalls thematisiert; Cercamon (fl. 1135/45) hat eine höfische Trinität, die dem Höllenfeuer geweiht ist: Drut, moiller e marit, tug tres Sias del pechat comunau (...) Non a valor d’aissí enan Cela c’ab dos ni ab tres jai (Ab la pascor [PC 112,1a] v. 27f., 36f.: „Der Liebhaber, die Frau und der Gatte, alle drei sind sie gemeinsam der Sünde verfallen... Eine Frau, die mit zweien oder dreien schläft, hat
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Dies ist weder der Ort, das ,höfische Modell‘ einmal mehr nachzuzeichnen, noch die mögliche Lebensweltlichkeit seiner Inszenierungen zu erörtern. Jede Positionierung in der Frage, ob Männer und Frauen ,tatsächlich‘ Paarbeziehungen nach höfischer Manier lebten, endet ebenso in der Aporie wie die von den Philologen des 19. Jahrhunderts heftig diskutierte Frage, ob die berühmten, von Eleonore von Aquitanien, Marie von der Champagne oder anderen hohen Damen präsidierten Liebeshöfe ,tatsächlich‘ getagt und verbindliche Urteile abgegeben haben.25 Debattengedichte mit mehreren Stimmen um Fragen der höfischen Etikette liegen in einiger Menge vor26, so dass ihre öffentliche, soziable Inszenierung – und sei es ‚nur‘ im Vortrag mit verteilten Rollen – vorausgesetzt werden kann; wie stark die Einübung des höfischen Codes das Verhalten der von ihm Betroffenen beeinflusste, entzieht sich nicht nur der Messung, sondern bereits der Messbarkeit. Ebenso verhält es sich mit der Frage, in welchem Maße die Ideen der höfischen Zweisamkeit das Verhalten der in den Chroniken und (selten) Dokumenten fassbaren Personen geprägt haben – allenfalls kann man ihren Einfluss auf die Chroniken (selten auf die Urkunden27) nachvollziehen. Wie die Urkunden dominiert das Lateinische – und alles, was ihm an linguistischer, genremäßiger, rhetorischer und kognitiver Konvention angelagert ist – auch die westeuropäische Geschichtsschreibung. Es liegt eher an Richtungweisungen solcher im weitesten Sinne sprachlicher Art als etwa an konsequenter Zensur durch die hegemonialen Ideologeme der ,klerikalen Kultur‘, dass die Frauen um einen „David, Salomo oder Jupiter“ darin nie so ausführlich beschrieben werden wie in den Sagas. In den narrativen Quellen der Länder zwischen Loire und Schelde stößt die Beschreibung polygyner Beziehungen sehr rasch an ihre Grenzen, so zahlreich ihre Nennungen auch sein mögen – denn Dubys Wort von der „société polygame“ hat seine Quellenbasis ja nicht in den Urkunden, sondern in den Chroniken. Die Geringschätzung der Polygynie als eines sozialen Phänomens durch die Forschung ist weitgehend (wenn auch, wie oben dargelegt, nicht völlig) durch ihre Geringschätzung in den Quellen bedingt. fortan keinerlei Wert [persönliche höfische Qualität] mehr“; vgl. auch Delbouille, Tristan [1966]). Bei den ,klassischen‘ Trobadors, die zugleich eine Verlagerung des regionalen Schwergewichts in den Mittelmeerraum bedeuten, verschwindet die lebensweltliche Reflexion in dem Maße, wie der Beischlaf, lo plus, gewissermaßen als Singularität hinter den Gültigkeitshorizont aller Gesetze der Cortesia gedrängt wird. 25 Der kurz nach 1180 verfasste Traktat De arte (honeste) amandi des Andreas Capellanus enthält knapp zwei Dutzend in kasuistischem Stil dargebotener ,Fälle‘, in denen ein Streitfall in Sachen des höfischen Regelwerks einem mit benannten prominenten Frauen besetzten Gerichtshof vorgelegt wurde. Die 1817 von Raynouard vertretene Existenz dieser mit normsetzender Autorität versehenen Tribunale – Stendhal verlieh dieser Sicht in De l’amour (1822) einige Wirkung – wurde schon 1825 von Friedrich Diez zurückgewiesen und verlor mit dem Aufkommen der wissenschaftlichen Philologie immer weiter an Boden. 26 Vgl. Neumeister, Spiel mit der höfischen Liebe (1969). 27 Zum möglichen Einfluss der höfischen auf die Urkundensprache vgl. Rüdiger, Aristokraten und Poeten (2001), 234f.
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Hier setzt dieses Kapitel an: Die Untersuchung der Elitenpolygynie in Nordeuropa hat gewissermaßen den Anfangsverdacht geweckt, dass die soziale Bedeutung polygyner Praktiken (an deren Verbreitung, wie gesagt, kein Zweifel besteht) im Westen vielleicht größer ist, als es oft scheint. Für einen vitalisierenden „choc mental“ zu sorgen, hält Marc Bloch für einen großen Wert der vergleichenden Methode.28 Am Einzelfall muss sich erweisen, ob der Vergleich noch mehr leisten kann: nämlich, ob die Quellen aus Westeuropa sich anders erschließen, liest man sie unter Rekurs auf diejenigen aus Nordeuropa – und ob diese ihrerseits durch den Vergleich an Relief gewinnen.
Figurationen der Polygynie : Die Artusliteratur Wer von Gott spricht, dem schlafen sogar die Mönche ein. Aber wenn der Abt sich dann unterbricht und neu ansetzt: „Hört, Brüder, eine neue und großartige Geschichte: Es war einmal ein König namens Artus...“29 – dann wachen auch die schnarchenden Laienbrüder sofort auf, wie der rheinische Zisterzienser Caesarius von Heisterbach um 1220 in einer seiner berühmtesten Anekdoten bitter konstatiert. Erst recht die laikalen Eliten erzählten sich von der Welt und von Gott – die Zisterzienser kamen rasch darauf, ihre Lehren ebenfalls als Artusroman zu verbreiten30 – mit Vorliebe auf dem Umweg über die chevalereske Imaginationswelt der Tafelrunde, an der auch der König nur der Erste war und ganz sicher nicht der heldenhafteste. Die Artuswelt vermittelt zwischen oral-vokaler Erzählwelt und historia, Volkssprache und Latein, Prosa und Vers, Kloster und Burg, Wiese und Wald und Nebelinsel; sie soll hier auf dem Weg vom Nordeuropa der Sagas nach dem Westen einen Einstieg bieten. Die Artuswelt beruht zu einem guten Teil auf der Vielzahl und Vielfalt von verfügbaren Frauen, zwischen denen die Ritter der Tafelrunde nicht immer erfolgreich ihre 28 Bloch, Histoire comparée (1928/1963), 18. Programmatisch gibt Bloch gegenüber dem transkulturellen Fern- dem Nahvergleich den Vorzug: „étudier parallèlement des sociétés à la fois voisines et contemporaines, sans cesse influencées les unes par les autres, soumises par leur développement, en raison précisement de leur proximité et de leur synchronisme, à l’action des mêmes grandes causes, et remontant, partiellement du moins, à une origine commune“ (ebd., 19). „Unablässig voneinander beeinflusst“ waren West- und Nordeuropa im 10.–12. Jahrhundert wohl nicht, aber „dieselben großen Ursachen“ und „der wenigstens teilweise gemeinsame Ursprung“ sind gegeben. 29 Caesarius von Heisterbach, Dialogus miraculorum IV, 36: [Abt Gevard von Heisterbach] verbum exhortationis in Capitulo ad nos faceret, et plures, maxime de conversis, dormitare, nonullos etiam stertere conspiceret, exclamavit: „Audite, fratres, audite, rem vobis novam et magnam proponam. Rex quidam fuit, qui Artus vocabatur.“ Hoc dicto, non processit, sed ait: „Videte, fratres, miseriam magnam. Quando locutus sum de Deo, dormitastis; mox ut verba levitatis inserui, eviligantes erectis auribus omnes auscultare coepistis.“ Caesarius betont, dass er die Episode miterlebt hat. 30 Ziemlich zeitgleich mit Caesarius von Heisterbach entstand wohl in der Champagne die dem sogenannten Lancelot-Prosazyklus zugerechnete Queste del Saint-Graal, in der zahlreiche wortmächtige Eremiten die fabelfreudige Religiosität des Gralsthemas auf pastorale Linie bringen.
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Aventuren durchleben. Ihre dramatischsten Momente sind Dreiecksverhältnisse: Nicht nur Yseut/Isolde steht zwischen zwei Männern, ihrem angetrauten königlichem legitimus und dessen Vertrauten und Neffen Tristan, sondern auch dieser zwischen zwei Frauen, die beide Isolde heißen und beinahe so etwas sind wie dieselbe Person in zweierlei (legaler) Gestalt. Weniger numinose, aber ähnlich intrikate Situationen beschwören auch die übrigen Ritter der Tafelrunde immer wieder herauf, selbst Perceval, der ‚tumbe Tor‘, der nicht weiß, unter welchen Umständen man sich besser nicht zu einer Edelfrau ins Zelt und ins Bett legt.31 Polygynie, unter ihrem ‚performativen‘ Aspekt womöglich, steht an der Gründung des Artusreiches. Ein weniger bekannter Text aus dem frühen 13. Jahrhundert, die einer Handschrift des Perceval-Romans vorangestellte sogenannte Elucidation, enthält dessen einzige Ätiologie: Das ursprüngliche Königreich Logres (Lloegr „England“, der Name des Artusreichs in den französischen Romanen) war ein goldzeitliches Idyll, in dem niemand Hunger litt und den fahrenden Rittern allenthalben Quelljungfern (puceles des puis) mit Speis und Trank aufwarteten – bis ein böser König, sich mit dem gewährten service nicht begnügend, „eine der Jungfrauen überwältigte und sie an ihrem Brunnen entjungferte“.32 Der Sündenfall, die Überführung dieser eigentümlichen chorographischen Polygynie aus der Latenz in die Virulenz – eine Aneignung, die das Gefolge des bösen Königs, den kollektiven Charakter ritterlicher Herrschaft bekräftigend, umgehend imitierte – ließ die puceles verschwinden und das Land veröden, das hier als Amalgam aus dem (Grals-) Reich des Fischerkönigs und dem künftigen Artusreich geschildert wird.33 Nachdem viel später die Tafelrunde etabliert war und das Land einen erneuten agrarischen Aufschwung genommen hatte, verpflichteten sich die Ritter in Erinnerung dieses Ur-Missgriffs, durch gottesfriedensartige Schutzmaßnahmen den Status quo ante wiederherzustellen, „und gewiss, um der Jungfrauen willen gab es manchen Kampf in diesem Land.“34 Aber erst mit der Wiederauffindung des Hofs des Fischerkönigs wird der Urzustand restauriert und werden die Quelljungfrauen ihren Dienst wieder aufnehmen: eine bemerkenswerte Gleichsetzung jenes ultimativen Ziels aller questes, das in den bekannteren Fassungen der Gralssuche der Abendmahlskelch mit dem Blut Jesu ist (die eine Reliquie, die man nicht in Konstantinopel hatte rauben können), mit der Vielzahl der familial-lokalen Urmütter des urbaren Landes, das dem Publikum der Artusromane die materielle Basis lieferte.35
31 Chrétien de Troyes, Le conte du Graal, v. 602–741. 32 Elucidation nach der Handschrift von Mons, in: Chrétien de Troyes, Sämtliche Werke, Bd. 5 (1932), 417–429, v. 69f.: Des puceles une esforcha Sor son pois le despucela. 33 Ebd., v. 100 und 116. 34 Ebd., v. 155f.: Por les puceles, ce m’est vis, Ot mainte batalle el païs. 35 Die Elucidation bezeichnet die vergewaltigten Quelljungfern ausdrücklich als „unser aller Ahninnen“ (v. 189: Tuit somes né des damoseles). Zur Rolle von Frauengestalten in lignagèren Konstruktionen auf agrarischer Basis vgl. klassisch Le Goff, Mélusine maternelle (1977/1999).
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Die meisten Artusromane sind weniger explizit, erweisen aber in ihren Handlungsabläufen Mal um Mal, wie sehr die Kette von Aventuren, denen das paritäre Idealfürstentum der Tafelrunde seine Textur verdankt, von der Vielzahl verfügbarer puceles abhängt, die es zu retten oder deren Rechte gegenüber finsteren Nachbarn es zu wahren gilt. Manchmal überschneiden sich die Aventuren gar: „Nehmt, Herr Ritter! Jetzt habt Ihr zwei.“36 Der polygyne Heros par excellence ist Gawain, der Königsneffe. Im Laufe seiner Karriere vom epischen Helden in der lateinischen Britengeschichte des Galfried von Monmouth um 1130 (in der er noch der unumstrittene Paladin des Reiches ist, sich aber bereits von den Frauen auf der Burgmauer zujubeln lässt) über die schulbildenden Romane des Chrétien de Troyes, in denen er als Musterritter ohne das durch die wahre (höfische) Liebe vermittelte Genie stets den guten Zweiten neben den jeweiligen Minnehelden Lancelot, Yvain oder (bereits transzendental akzentuiert) Perceval abgibt, bis zum GewohnheitsAventurier in den oft burlesken Situationen der späten Romanzen wird sein Unvermögen, den Frauen zu entgehen, für seine Figur konstitutiv. „O weh!“ klagt eine Jungfrau, die ihm, auf einer Frühlingswiese ihr Haar kämmend, soeben begegnet, von ihm nach reizender Plauderei entjungfert und umgehend (Gawain befindet sich in Eile) wieder verlassen worden ist: „Dabei weiß ich doch, dass er noch vor Monatsende zwei oder drei haben wird, die schöner sind als ich und die ihn ebenso lieben!“37 Nimmt er sich einmal zusammen, weil er in ernsthafter Angelegenheit wie der Gralssuche unterwegs ist, riskiert er gleich seinen Ruf: Zwei Jungfrauen fordern ihn auf, zwecks Brechung einer male costume – die Beseitigung von ungerechtfertigten Neuerungen ist die vornehmste Aufgabe der fahrenden Ritter der Tafelrunde38 – „heute Nacht diejenige von uns beiden zu wählen, die Euch besser gefällt“.39 Er lehnt ab und muss sich anhören, er sei ja wohl nur ein Imitat: „cist est uns Gavains contrefez!“ Ist das Leben in serieller – und, da die Episoden oft Treue- und Rückkehrversprechen enthalten, auch simultaner – Polygynie für Gawain, den ewigen Neffen und iuvenis, gewissermaßen ein notwendiges Charakteristikum, so wird an ihm doch nur auf die Spitze getrieben, was auch seine Gefährten immer wieder vorleben: Selbst mit den lautersten Absichten der Welt kann es der auf multiple Verhaltenscodices festgelegte chevalereske Held nicht vermeiden, in aporetische Situationen zu geraten. 36 Lancelot du Lac (um 1225), 480: „Tenez, fait il, sire chevaliers. Or en avez deus.“ Der Ritter und sein Knappe können sich nicht darüber einigen, wer die beiden damoiseles trop beles „haben“ soll, die sie soeben nach erfolgreich bestandenen Zweikämpfen von einer geheimnisvollen Insel beziehungsweise aus einem Prunkzelt geholt haben, und schicken sie schließlich als Trophäen nach Camelot. 37 Sogenannte Zweite Fortsetzung des Perceval (anonym, um 1200, in: Continuations, Bd. 4 [1971]), v. 30 467ff.: „Je puis tres bien de fi savoir Que, ainz que soit passé li mois, An avra il ou deus ou trois Qui plus belles de moi seront Et autant com je l’ameront.“ 38 Vgl. Köhler, Rolle des „Rechtsbrauchs“ (1962). 39 Perlesvaus (anonym, um 1210), zitiert nach Busby, Gauvain (1980): „choisiroiz ennuit la quele qui mielz vos plaira de nos .II.“
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Am schlimmsten ist es für Lancelot, der nur eine – die Königin – minnen darf und zugleich jeder anderen jeden Beistand schuldet, den sie fordert. Als das Artusreich gegen 1220/30 – zur selben Zeit, da Snorri seine Königsgeschichte als Saga des orbis terrarum schrieb – in den Romanen des sogenannten Vulgata- oder Grals-Zyklus seiner zeitlosen Anderweltlichkeit enthoben und zuerst mit einem Telos (dem Ende der Gralssuche) und dann einer Apokalypse ausgestattet wurde, war es eben diese Situation, die den Untergang einleiten sollte: Lancelot zwischen seiner courtoisen Verpflichtung gegenüber der demoisele d’Escalot und seiner von dieser erwiderten Liebe zur Königin Guenièvre, die sich in ihrer politischen Konsequenz nicht weniger verheerend erweist als die Tristan’sche, von dieser aber durch die grundsätzliche Wahrung des freien Willens abhebt. Die bigyne Aporie des ,besten Ritters‘ setzt eine Kettenreaktion pflichtgemäßen Handelns in Gang, an deren Ende das Artusreich zusammenbricht. Bedenkt man, wie eng zumindest eine Zeitlang gegen Ende des zwölften Jahrhunderts das Logres der Tafelrunde als Vorläufer und Folie des Plantagenêt-Reiches in Anspruch genommen wurde40, so besteht kein Zweifel, dass die polygyn ausgestaltete Diskussion um den rechten Weg des Ritters in der Welt einen zentralen Sitz in der aristokratischen Kultur ihrer Zeit hatte.
Strategien der Darstellung : Im Banne des Monogamismus Mit dem ,expressiven‘ Aspekt der Polygynie konnte die aristokratische Narrativik also durchaus arbeiten – solange sich die Dinge in sicherer Entfernung in Logres zutrugen. Selten sind die Zeugnisse für eine unmittelbare Diskussion der Problematik der Polygynie in einer lateinchristlichen Aristokratie. Die kalkulierte Nonchalance der dänischen Chroniken und norwegisch-isländischen Sagas (vgl. Kap. 1 und 4) findet sich im Westen nicht. Keine Historie eines anglofranzösischen Fürstenhauses berichtet detailliert und kommentarlos über Dutzende von concubinae ihrer ehrenwertesten Vertreter. Ausnahmslos jede Erwähnung einer solchen Beziehung wird in irgendeiner Weise mit einer Wertung versehen, die zeigt, dass der fragliche Text sich im Verhältnis zu einem System positionieren muss, das man als hegemonialen Monogamismus bezeichnen könnte.41 40 Die ,Auffindung‘ des Grabes von Artus rex quondam rexque futurus in der mit Avalon gleichgesetzten Abtei Glastonbury 1191 und der Ansatz, das Herrscherhaus auch onomastisch an die britischen Frühzeitkönige anzusippen (Arthur, als Sohn von Geoffroy Plantagenêt designierter Bretonenherzog und 1199/1202 glückloser Thronprätendent) sind zwei herausragende Momente, die sich in zahlreiche kulturelle Démarchen einbetten. Zu diesem umfassend diskutierten Thema vgl. zuletzt die Untersuchung von Chanou, L’idéologie Plantagenêt (2001). 41 Mit diesem – ästhetisch zugegebenermaßen unbefriedigenden – Begriff soll vermieden werden, die Hochschätzung der Ehe und Abwertung anderer Bindungsformen allein der kirchlichen Lehre im engeren Sinne zuzuschreiben, als wäre ,die Kirche‘ für das Vordringen der Monogamie in einer polygynen ,Laienkultur‘ verantwortlich. Der Hegemoniebegriff erlaubt, Protagonisten und Profiteure der jeweils hegemonialen Denkweise zu benennen, ohne sie damit zu ihren Urhebern erklären zu
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Eine Weise dieses Umgangs ist die prahlerisch-provokative Vorwärtsverteidigung, wie sie in dem von Martin Aurell zitierten, der ,Geschichte der Grafen von Guînes‘ entnommenen Nachsatz zum Ausdruck kommt, der Fürst habe David, Salomo und Jupiter überboten. In diesem Fall handelt es sich um ein kaum verhülltes Beispiel jener chevaleresken Hyperbole, die in der Lyrik als gap bekannt ist und die es Herzog Wilhelm IX. von Aquitanien (VII. als Graf von Poitou, r. 1086 –1126) erlaubte, sich einer polykoitalen Woche mit zwei Burgherrinnen („einhundertachtundachtzigmal!“42) zu rühmen, ohne dass dies seinem Ruf als ,erstem Trobador‘ Abbruch täte. Wie ein invertierter gap erscheint demgegenüber der Epilog Wilhelms von Newburgh über Heinrich I. (r. 1100 – 35), als anglonormannischer Herrscher der Zeitgenosse des aquitanischen Trobador-Herzogs: Er war ein von vielen den Fürsten wohl anstehenden Tugenden geschmückter Mann, Tugenden, die er jedoch (tamen) sehr stark durch seine Gier nach Frauen verdunkelte, in welcher er die Wollust eines Salomo nachahmte. Auch die rohen Vergnügen der Jagd liebte er mehr als angemessen und ging so weit, in öffentlichen Verfahren Wilderer mit Mördern gleichzubehandeln.43
Doch es ist fraglich, ob das aristokratische Publikum die adversativen Signale nicht mühelos durch additive ersetzen und das Bild eines beeindruckenden Herrschers mit Frauen und Jagd (eine bezeichnende Reihung) für sich vervollständigen konnte. Derselbe König erntete für dasselbe Verhalten auch das entgegengesetzte Lob: „Sein ganzes Leben lang war er völlig frei von Unzucht und Begierde“, erklärt Wilhelm von Malmesbury, ein Zeitgenosse Heinrichs I., und bemerkt wohl selber den Widerspruch zum allgemeinen Wissen: „denn wie ich von seinen Vertrauten weiß, hat er sich nicht aus zügelloser Wollust, sondern zum Zweck der Zeugung von Nachkommen in Frauenschöße ergossen.“ Stets sei er, seiner Herrscherwürde eingedenk, auf die effektive Verwendung des königlichen Samens bedacht gewesen, „denn er unterwarf die Natur wie ein Herr und gehorchte nicht der Lust wie ein Sklave.“44 Dem Abt von Malmesbury ist hier ein Herrscherportrait geglückt, das benediktinischen Maßstäben genügte, ohne deshalb den Magnaten zu missfallen, die ihrem König und Herzog gern beim Unterwerfen zusahen, solange es der Regierung förderlich war. Wer sich dieser unablässigen Leistungskontrolle müssen; im Gegenteil wird auch die Beteiligung, um nicht zu sagen Komplizität der ,Verlierer‘ an ihrer Durchsetzungskraft sichtbar. In diesem Sinne befinden sich auch die mächtigsten concubinarii ihrer Zeit in einer Verteidigungsposition, der sie durch Auftrumpfen nicht entkommen können. 42 PC 183,12, v. 79f.: Tant las fotei com auzirets: Cent et quatre-vinz et ueit vetz. 43 Wilhelm von Newburgh, Historia rerum Anglicarum, Bd. 1, 3: Homo multis quae decerent principem bonis ornatus: quae tamen plurimum denigrabat in concupiscentia feminarum imitando petulatiam Salomonis. Feras quoque propter venationis delicias plus iusto diligens, in publicis animadversionibus cervicidas ab homicidis parum discernebat. 44 GRA V, 412: Omnium tota uita omnino obscenitatum cupidinearum expers, quoniam, ut a consciis accepimus, non effreni uoluptate sed gignendae prolis amore mulierum gremio infunderetur, nec dignaretur aduenae delectationi prebere assensum, nisi ubi regium semen procedere posset in effectum, effundens naturam ut dominus, non obtemperans libidini ut famulus. Beim Essen und Trinken, so die Fortsetzung, hörte er auf, wenn er satt war.
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entzog, konnte sogar für das Ausscheren aus der polygynen Norm Beifall finden wie die schottischen Königsbrüder Edgar, Alexander I. und David I., die sich als gute Söhne ihrer heiligmäßigen Mutter Margarete außer in punctis Speisen, Almosen und Gebete vor allem darin hervortaten, dass sie dem Hausübel der Könige (domesticum regibus vitium) entgingen und, soweit man weiß, nie andere als nur ihre rechten Frauen in ihre Betten kamen und ihre Sittsamkeit nie durch Beischlä45 ferei befleckt worden ist.
Nur leicht umweht der Geruch der Heiligkeit hingegen Balduin VI., Grafen von Hennegau, später auch von Flandern und ersten lateinischen Kaiser in Konstantinopel, den Georges Duby ob seiner demonstrativen Monogamie mit der ihm angetrauten champenesischen Grafentochter Marie vielleicht etwas voreilig als „Original“, als „Witzfigur“ verstanden hat, weil er versäumte, sich mit der üblichen Schar von puceles zu umgeben.46 Hält man den Bericht Giselberts von Mons nicht überhaupt nur für den Versuch, dem Kreuzfahrerkaiser mit Hilfe eines direkt dem Decretum Gratiani entlehnten Sittlichkeitszeugnisses47 das passende Profil zu verleihen, so ist zwar gut denkbar, dass manche Beobachter den Grafen für komisch hielten. In einer Zeit allerdings, da auch die höfische Laienkultur der selbstbeherrschten Orientierung auf eine ‚hohe Frau‘ einigen Wert einräumte, konnte man Graf Balduin für seine situationsbedingt zweckmäßige Beschränkung ebenso respektieren wie Heinrich I. für seine nicht minder zweckmäßige und zielgerichtete Promiskuität. Die häufigste Art, mit der Fürstenpolygynie umzugehen, ist jedoch das Stillschweigen, das nur durchbrochen wird, wenn es nicht anders geht – etwa, wenn der Sohn oder die Tochter einer Verbindung nicht übergangen werden kann – und das vor allen anderen Faktoren dazu führt, dass der direkten Beobachtung der aristokratischen Polygynie in Westeuropa so enge Grenzen gesetzt sind. Zwischen diesen Extremen und neben der arthurianischen Erzählwelt finden sich noch Zeugnisse wie der Lai Eliduc der Marie de France (anglonormannisch, um 1170/80), in ihrer unprätentiösen Schonungslosigkeit eine herausragende, aber ganz untypische Vertreterin der höfischen Literatur. Aufgrund der bretonisch-britischen Konnotationen gehö45 Ebd. V, 400: ita domesticum regibus uitium euicerunt ut numquam feratur in eorum thalamos nisi legitimas uxores isse, nec eorum quemquam pelicatu aliquo pudicitiam contristasse. – Zur sich gegen 1100 vollziehenden Dynastiebildung in der „polygamen Gesellschaft“ Schottlands vgl. Wall, Queen Margaret of Scotland (1997); zur polygynen Praxis des Landes Sellar, Marriage, divorce and concubinage (1978–80). 46 Duby, Que sait-on de l’amour en France au XIIe siècle ? In: Mâle moyen âge (²1990), 34–49, 44: „Un original. Ridicule.“ Deutsch: Ders., Was weiß man über die Liebe im Frankreich des 12. Jahrhunderts? In: Ders., Frau ohne Stimme (1989), 33–51, 46. Zur Kritik vgl. Joris, Un seul amour (1992), ibs. 198: Duby übersehe, dass die implizite Alternative nicht ,jugendliche‘ Promiskuität, sondern regelrechte Konkubinate seien. 47 Giselbert von Mons, Chronicon Hanoniense, 172 (hier textgleich mit der von Duby und Joris benutzten Ausgabe von Leo Vanderkindere, Bruxelles 1904): ea sola contentus sit zu Decretum Gratiani D 34,4: unius mulieris... sit coniunctione contentus.
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ren die Lais – relativ kurze, oft episodenhafte Erzählungen häufig wunderbaren Charakters – tendenziell der Artuswelt an, und in einigen von ihnen kommen Figuren der Tafelrunde auch vor, sind aber vom Gros der Artusliteratur merklich geschieden. Die Geschichte Eliduc berichtet von dem namengebenden Helden, einem verheirateten bretonischen Ritter und Stütze seines Königs, der, ungerechtfertigt aus dem Land vertrieben, Dienst auf der anderen Seite des Ärmelkanals nimmt. Dort erfasst die Liebe ihn und Guilliadun, die Tochter seines neuen Herrn. Wieder in Gunst, kehrt Eliduc schweren Herzens in die Bretagne zurück, gelobt seiner amie Guilliadun seine baldige Rückkehr, macht dies unter einem Vorwand auch wahr und ,raubt‘ sie mit ihrem Einverständnis. Noch weiß sie nicht, dass er in der Bretagne eine Frau namens Guildeluëc hat; sie erfährt es durch Zufall während der Überfahrt und sinkt scheintot zusammen. Eliduc, untröstlich, bahrt sie in einer Kapelle im Wald auf und kommt jeden Tag als Trauernder. Es bleibt nicht aus, dass Guildeluëc aufmerksam wird, ihrerseits den Weg zur Kapelle findet, den Zusammenhang begreift und von Mitleid für das tote Mädchen überwältigt wird. Einer wunderbar scheinenden Wiedererweckung folgt die Verzichtserklärung Guildeluëcs, die sich ins Kloster zurückzieht, wohin ihr nach einigen Jahren mit Eliduc auch Guilliadun folgt, worauf sich auch jener in das zu diesem Zweck neu angelegte Hauskloster zurückzieht, in dem nun alle drei füreinander beten. Der Schatten Abaelards und Héloïses scheint uns auf dieser bretonischen Geschichte von menschlicher und göttlicher Liebe zu liegen, die näher zu betrachten sich lohnt, da sie eine der wenigen expliziten Diskussionen der Polygynie innerhalb der höfischen Literatur enthält. Während nämlich Eliduc zunächst noch raisonniert, er werde sich nicht ehrlos verlieben, schulde er seiner Frau doch das gegebene Wort ( fei – die fides) und sei er zudem der ,Mann‘ von Guilliaduns Vater48, sieht er sich bald hilflos: „Wenn ich meine Geliebte heirate, ist das gegen das Christentum!“49 Drastischer drückt sich der Seemann aus, der Guilliadun über Bord werfen will, um den lebensbedrohenden Sturm zu beruhigen: „Ihr habt eine Frau zur rechten Ehe (leial espuse) und führt nun eine weitere heim, gegen Gott und das Gesetz (lei), gegen das Recht (dreiture) und das gegebene Wort ( fei)!“50 Dieselbe ausgewogene Überlegung stellt schließlich Guildeluëc an, als sie ihren Mann um die Ausstattung einer Klosterneugründung bittet, damit sie sich dorthin zurückziehen und er „jene heiraten könne, die er so sehr liebe, denn es ist nicht gut und anständig (bien ne avenant), zwei Gattinnen zugleich zu haben, und außerdem ist es gegen das Gesetz (lei).“51 48 Eliduc (in: Marie de France, Lais, hrsg. von Karl Warnke [1990], 270–327), v. 473–476: „Mes ja ne li querra amur Ki li aturt a deshonur, Tant pur sa femme guarder fei, Tant pur ceo qu’il est od le rei.“ 49 Ebd., v. 601f.: „S’a m’amie esteie espusez, Nel suffereit crestiëntez.“ 50 Ebd., v. 835–38: „Femme leial espuse avez Et sur celi altre en menez Cuntre Deu e cuntre la lei, Cuntre dreiture et cuntre fei.“ Eliduc wirft den Schiffer ins Meer und übernimmt das Kommando; Guilliadun fällt ins Koma. 51 Ebd., v. 1127–30: cele prenge qu’il eime tant; Kar n’est pas bien ne avenant De dos espuses meintenir, Ne la leis nel deit cunsentir.
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In beiden Fällen ist mit „Gesetz“ das christliche gemeint. Die Laienethik hat andere Maßstäbe: Da ist die naturrechtliche dreiture (Rechtmäßigkeit), praktisch erlebbar in der fei (durch die Assonanz der paulinischen fides anagogisch überhöht), der Gültigkeit des gegebenen Wortes. Schließlich gebraucht die Frau die durch und durch höfischen Attribute bien ne avenant, was etwa so viel heißt wie: „Bigamie gehört sich nicht!“ Der hegemoniale Monogamismus prägt diesen Lai zwar bis in die Sprachkunst hinein52, doch anders als die meisten Autoren ihrer Zeit lässt sich Marie dadurch nicht die Eigenständigkeit der Interpretation nehmen. Ihr Begriff von Bigamie ist erstaunlich unorthodox. Kirchenrechtlich betrachtet könnte Eliduc keinesfalls seine amie heiraten, nachdem seine erste Frau die Gelübde abgelegt hat (und solange sie noch am Leben ist); wenn Guildeluëc den Plan zur Lösung des Dilemmas dennoch entwickelt und er sich offenbar problemlos durchführen lässt, geschieht dies in Übereinstimmung mit einer kohärenten Laienethik, die sich nur andeutungsweise fassen lässt53, die sich aber sichtlich im Reinen mit der Religion weiß und deren Zielpunkt – ganz im bernhardinischen Sinn – der Umschlag von der Menschen- in die Gottesliebe ist.54 Angesichts der feinsinnigen Verarbeitung aktuellen Gedankenguts in den Lais wäre es verfehlt anzunehmen, Marie beschreibe hier schlicht die überlebte Methode präreformerischer Zeiten, unerwünscht gewordene Frauen ins Kloster einzuschließen. Der höfische Monogamismus weiß sich im Einklang mit der Ehelehre der Kanonisten – consensus facit nuptias –, ohne von ihr abhängig zu sein. Die vor allem von Georges Duby bekannt gemachte Auffassung, in der ,feudalen‘ Ehe habe man den Triumph des „kirchlichen Modells“ gegenüber hergebrachter laikaler Praxis zu sehen, ist wiederholt zu Recht nuanciert worden.55 Wir können weiter gehen: Die Verschärfung der theologisch begründeten Sexualpastoral seit dem elften Jahrhundert läuft in Westeuropa bis zu einem gewissen Grad parallel mit zum Teil ökonomisch bedingten Änderungen in der familialen Struktur der Laiengesellschaft, für die die grundsätzliche und dauerhafte Privilegierung genau einer Frau und ihrer Kinder ebenfalls eine Neuerung war. Aufgrund des personalen wie interessemäßigen Zusammenfalls beider ,Oberschichten‘ kam es zu sich in ihren Erschei52 Das Wort des Kapitäns sor... menez „über (jene) führt Ihr (eine andere) heim“ etwa ist ein Echo des Verbums superduxere „(eine Frau zu einer anderen) hinzunehmen“ der Dokumente. 53 In seinem Traktat über die Liebe stellt der etwa gleichzeitige champenesische Hofkleriker Andreas Capellanus zwar ein wahres Liebesgesetz (II 8: regulae/praecepta amoris) zusammen, in dem sich mehrere einschlägige Passus finden, etwa regula 3: nemo duplici potest amore ligari; die satirische Anlage seines Werkes macht es jedoch zu einem schwierigen Unterfangen, seinen Codex als Ausdruck des ,höfischen Modells‘ zu nehmen. 54 Ebd. v. 1177–79 (die Schlussworte): Mult se pena chescuns pur sei De Deu amer par bone fei E mult par firent bele fin. 55 Etwa Bouchard, Chivalry and society [1998], 67ff.; vgl. generell Baschet, Civilisation féodale (32006), 753: „l’institution ecclésiale... est peut-être davantage que la colonne vertébrale du système féodal : son enveloppe, voire sa forme même“. Diesem Urteil kann man sich anschließen, wenn man es auf eine regional begrenzte ‚feudale Kultur‘ bezieht, also auf Nordfrankreich und Nachbargebiete.
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nungsformen voneinander gelegentlich stark unterscheidenden, grundsätzlich aber übereinstimmenden Ausprägungen des Monogamismus; hier wie dort verursachte die Polygynie neuerdings Probleme. Insofern erfand das zwölfte Jahrhundert vielleicht nicht die Liebe56, wohl aber ‚das Paar‘. Maries Position ist die der Fenice in Chrétiens Cligès, die ihren Körper nur dem geben will, der ihr Herz hat (und nicht dem Kaiser), und all der höfischen Poeten, die sich und ihr Tun in den Dienst der Einen stellen, aber eben auch der aktuellen kirchlichen Idee der Konsensehe. Im Vergleich mit vielen anderen Dispositionen laikaler Eliten – darunter der Polygynie – ist die französische Courtoisie eine relativ kirchennahe Version des westeuropäischen Christentums, auch und gerade dann, wenn sie sich in Details nicht ganz im Einklang mit der neuesten Kirchenlehre befindet.
Die unsichtbaren Frauen In diesem Milieu haben die pluralen Frauen keinen Platz mehr. Sie sind zwar da, und mit ihrer Nachkommenschaft ist zu rechnen, doch von ihnen (im gesellschaftlichen Sinne) ,sprechen‘ kann man nicht. Die von Georges Duby bekannt gemachte ,Geschichte der Grafen von Guînes‘ (nahe Dünkirchen) ist ein gutes Beispiel dafür. Polygynie ist in ihr allgegenwärtig. Buchstäblich vom Anfang bis zum Ende der Geschichte wimmelt es von „unzähligen Söhnen und Töchtern verschiedenster Abstammung“ (innumerabiles et multigenas57); die Töchter werden dem Niederadel der Region gegeben, die Söhne sind Ritter oder canonici und stellen, in Leah Shopkows Wort, einen „pool of talent“ dar, auf den gegebenenfalls zurückgegriffen wird.58 Die beiden Züge Familiarität und Nachrangigkeit prägten die ,Stellung‘ der Nebenfrauenkinder im artesisch-flandrischen Landadel.59 Einige fanden sich mit der Zurücksetzung schlechter ab als andere, führten mit Hilfe übel beleumundeter Berufskrieger Plünderzüge im brüderlichen Besitz durch – eine geläufige Art, seine Rechtsansprüche zum Ausdruck zu bringen und Verhandlungen zu beför56 Die tradierte, wohl fälschlich Charles Seignobos zugeschrieben Formel „L’amour, cette invention du XIIe siècle“ wird sinngemäß seit Stendhal und der romantischen Philologie vertreten; über Denis de Rougemont (L’amour et l’Occident [21956], 57) und die ‚Renaissance des 12. Jahrhunderts‘ (vgl. etwa Morris, Discovery of the Individual [1972]) prägt sie die Kultur-, Literatur- und Emotionengeschichte bis heute; vgl. zuletzt Schnell, Historische Emotionsforschung (2004). 57 Lambert von Ardres, Historia comitum Ghisnensium c. 89. – Der angebliche Gründer des Geschlechts von Guînes, Siegfried der Däne, nimmt die Tochter des Grafen von Flandern mit sanfter Gewalt (sine vi ludendo vim intulit, c.11); der Gewährsmann des Chronisten, Walter von Le Clud, ist der Urenkel eines Herrn von Ardres mit einer durch und durch ,illegitimen‘ Verwandtschaft. 58 History of the Counts of Guines, übers. von Shopkow (2001), 15, mit einem Hinweis auf die begrenzte Wahrung der Rechtsansprüche illegitimer Söhne noch in den Coutumes de Guines im 15. Jahrhundert (vgl. Espinas, Origines du capitalisme, Bd. 4 [1949], 57). 59 Duby, Ritter Frau und Priester (1985), 203ff., hat dieses Milieu bereits in ähnlicher Zuspitzung geschildert – obgleich er aufgrund seiner Prämisse zu wesentlich anderen Einschätzungen gelangt als den in dieser Studie vorgeschlagenen.
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dern60 – oder wählten flamboyantere Formen des Ausdrucks von Außenseitertum wie Anselm, Sohn des Burgherrn von Ardres und einer der drei puellae, die dieser während eines Englandaufenthaltes geschwängert hatte. Wie der typische ,jüngere Bruder‘ ohne Erbansprüche aus den Lehrbüchern zur Kreuzzugszeit, der er ja war, ging er in ultramarinas; dort wurde er gefangengenommen, konvertierte zum Islam und pflegte auch nach seiner Heimkehr weiter demonstrativ „sarazenische“ Attituden, was so weit ging, dass sein Fleischessen am Freitag allseits zum Ärgernis wurde und den Anlass bot, diesen integrationsunwilligen Remigranten des Hauses zu verweisen.61 Leider wird nicht überliefert, ob er neben den muslimischen Speise- auch die Ehegesetze zu kultivieren suchte. Angesichts der Üblichkeiten in Guînes hätte dem Versuch, es den polygynen Sarazenen gleichzutun, aber vermutlich die Pointe der Alterität gefehlt. Im Großen und Ganzen scheinen sich die Söhne der zahlreichen puellae mit der Grenze, die ihre Geburt ihrer Ambition setzte, in diesem landaristokratischen Milieu im zwölften Jahrhundert ebenso abgefunden zu haben wie unter den benachbarten Fürsten. Die ,Bastarde‘ der Grafen von Hennegau wurden Domherren, Pröpste, Kanzler von Flandern und, soweit sie de mulieribus nobilibus stammten, mit bona quedam versorgt62; Graf an Sambre und Schelde oder gar Kaiser am Bosporus wurden sie nicht. Auch von den elf Nebenfrauensöhnen des anglonormannischen Herrschers Heinrich I. nahm keiner den Tod des einzigen ehelichen Königssohnes Wilhelm beim Untergang der Blanche Nef 1120 zum Anlass, in den fünfzehn restlichen Regierungsjahren ihres erbenlos bleibenden Vaters auch nur einen Griff nach der Nachfolge zu wagen. Im Gegenteil: Einer von ihnen, Robert von Gloucester, wusste zwar so gut wie nur irgendein Prätendent, sich in dem voraussichtlichen Wettkampf um die ungeklärte Nachfolge gegenüber dem wichtigsten Konkurrenten Stephan zu placieren. Im Rahmen des feierlichen Aktes, mit dem Heinrich die Thronfolge seiner (ehelichen) Tochter Mathilde sichern wollte, kam es, „wie berichtet wird, zu einem bemerkenswerten Wettstreit“ zwischen den beiden Männern um die Frage, ob Sohnesrecht oder Neffenwürde über den Vortritt bei der Eidesleistung entschiede.63 60 Für dieses Charakteristikum der „ritterlichen Herrschaftsweise“ vgl. Barthélemy, Les comtes, les sires (1995), 453: „...tout repose sur des rapports de force socialement régulés et symbolisés, c’està-dire sur les revendications, concurrentes es successives, par chacun de son droit. L’équilibre social s’obtient par un travail social permanent, d’une manière qu’on ne doit raisonnablement ni déprécier, ni idéaliser.“ (Hervorhebung im Original). In dieser Perspektive hätte gerade der Ausschluss der „Bastarde“ vom Vatererbe und ihre daraus resultierende Aggressivität faktisch ihre Inklusion in die konstant fehdende ritterliche Schicht bedeutet. 61 Historia comitum Ghisnensium c. 113. 62 Giselbert von Mons, Chronicon Hanoniense cc. 227, 72, 252; vgl. Joris, Un seul amour (1992), 198. 63 Wilhelm von Malmesbury, Historia novella c. 5: Notabile fuit ut fertur certamen inter Rotbertum et Stephanum, dum emula laude virtutum inter se contenderent quis eorum prior iuraret, illo priuilegium filii, isto dignitatem nepotis spectante. Wilhelm sagt später (c. 61) in panegyrischem Kontext, Robert habe als erster geschworen; Johannes von Worcester (Chronicle of John of Worcester [1998], Bd. 3, 178f.) behauptet das Gegenteil, deutet allerdings an, dass die Frage einvernehmlich nach Alterswürde geregelt wurde.
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Doch den gesamten Erbfolgekrieg hindurch bis zu seinem Tod 1147 vertrat er als Heerführer die Sache seiner ehelichen Halbschwester, ohne je selber nach der Krone zu greifen64 – was während der gleichzeitigen norwegischen Thronkämpfe die erste Reaktion jedes auch noch so implausiblen Kandidaten war. Angesichts der Verheerungen, die der sogenannte ‚Civil War‘ (oder ‚the Anarchy‘) zwischen Mathilde und Stephan in England und der Normandie anrichtete, ist man versucht zu behaupten, dass die norwegische offene Konkurrenz der Frillensöhne vielleicht doch nicht die schlechtere Lösung war. Roberts und Mathildes Gegner Stephan von Blois konnte seinen Sohn Gervais kurz nach seiner Krönung 1135 zum Abt der Krönungsabtei Westminster machen, wo er zwanzig Jahre lang die Interessen seines Vaters so getreu vertrat, dass ihn dessen Nachfolger Heinrich II. trotz der einvernehmlichen Nachfolgeregelung einige Zeit nach Stephans Tod absetzte. Seine Grabplatte im Kreuzgang der Abtei proklamierte die Abkunft des Prälaten, als wären die impedimenta etwas, das man provokativ ignorieren konnte.65 Morgan, einer der zahlreichen Söhne Heinrichs II. (die Beziehung des Königs zu seiner Mutter, der Frau eines Ritters, muss recht passager gewesen sein), wurde Propst von Beverley und Elekt von Durham, stieß hier allerdings auf Schwierigkeiten aus Rom. Ähnliches widerfuhr seinem Halbbruder Geoffrey, dessen Mutter, die nicht eindeutig identifizierbare Hikenai/Ykenai aus wohl ritterlicher Familie, mit dem Dreijährigen gleich nach Heinrichs Thronbesteigung Zugang zum englischen Königshof erhielt; sie dürfte bereits vorher im Umkreis des damaligen Grafen von Anjou und Prätendenten auf das anglonormannische Königtum eine gefestigte Stellung eingenommen haben. Geoffrey besetzte lange Jahre das Bischofsamt in Lincoln, ohne die endgültige Weihe erhalten zu können, war aber als Kanzler von England und erfolgreicher Heerführer – unter anderem gegen seine rebellierenden legitimen Halbbrüder – auch ohne diese letzte Krönung seiner Laufbahn eine Hauptstütze seines Vaters, dem er bis ans Totenbett von Chinon 1189 treu blieb.66 Alles in allem waren die ,Bastarde‘ in das Regierungssystem ihrer Väter und Brüder sehr gut integriert. Aufgrund des von Chris Given-Wilson und Alice Curteis gesammelten Materials zeichnet sich ab, dass ihnen besonders gern die ,neuralgischen Punkte‘ der anglonormannisch-angevinischen Herrschaft anvertraut wurden: zum einen die Südostgrenze der Normandie, zum anderen die Marken zu den keltischen Ländern, über die die Normannen- und Plantagenêtherrscher eine recht ungesicherte Oberhoheit beanspruchten.67 Zweimal vergab Heinrich I. seine Nebenfrauentöchter auch über die Grenze, nämlich an den Bretonenherzogs Conan III. und den Schottenkönig Alexander I. (um 1110). 64 Zu Roberts Laufbahn vgl. Given-Wilson/Curteis, Royal bastards (1984), 74–93. 65 Ebd., 96: De regum genere pater hic Gervasius... 66 Richard Löwenherz erfüllte den Wunsch seines Vaters und arrangierte die Wahl Geoffroys zum Erzbischof von York. Vgl. Douie, Archbishop Geoffrey Plantagenet (1960); Lovatt, Geoffrey Plantagenet (1975); Given-Wilson/Curteis, Royal bastards (1984), 103–125; Turner/Heiser, Richard Lionheart (2000), 77ff. 67 Ebd., 70ff.
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Der Unterschied zu den rebellischen Söhnen Heinrichs aus der Ehe mit Eleonore von Aquitanien springt ins Auge, und es hat geradezu den Anschein, dass ein Normannenoder Anjoukönig die Bedrohung seiner Herrschaft durch die legitimen Söhne mit Hilfe seiner „auf weniger würdige Weise gezeugten“ Kinder68 ausbalancieren musste. In diesem Sinn trifft Wilhelm von Malmesbury das System genau mit seiner Bemerkung, Heinrich I. habe stets das Königtum im Kopf gehabt, wenn er entschied, in welchem Schoß sein Samen fruchtbar zu machen sei.69 Angesichts solcher Prominenz der Kinder ist das Fehlen der Frauen umso erstaunlicher. Robert von Torigny, der von Genealogien aller Art faszinierte Abt von MontSaint-Michel und eifrige Interpolator der auf Wilhelm von Jumièges zurückgehenden und bereits von Ordericus Vitalis ergänzten Gesta Normannorum ducum, erstellt einen detaillierten Katalog der „auf weniger würdige Weise gezeugten“ Nachkommen Heinrichs I., nennt aber keine einzige ihrer Mütter. Dabei lassen die über knappe chronistische Erwähnungen und die Pipe Rolls verstreuten Aufschlüsse70 erkennen, dass die anglonormannisch-angevinischen Herrscher ihre Frauen durchaus mit der von Wilhelm von Malmesbury gewürdigten Sorgfalt fanden; Kathleen Thompsons Wort von den „StaatsAffären“71 ist gut gewählt. Heinrichs I. langjährige Nebenfrau Sibylle Corbet war die Tochter eines normannischen, in Warwickshire und Shropshire an der walisischen Grenze begüterten Ritters. Über die Herkunft von Ansfride, mit der der König ebenfalls lange Jahre liiert war, ist nichts bekannt, aber die Herkunft ihres zuvor verstorbenen Mannes, ihr dokumentarisch belegter Besitz und ihre Grablege in der Abtei Abingdon verweisen auf das lokalaristokratische Milieu im oberen Themsetal. Eine weitere Nebenfrau, Edith, war die Tochter eines in Cumbrien ansässigen, aber auch in Yorkshire begüterten Magnaten namens Forn Sigulfsson, der wohl als Stütze der Normannenherrschaft über den nominell zu England gerechneten norwegisch-keltischen Ostrand der Irischen See betrachtet werden kann. Isabelle de Meulan, mit der der König um 1120 eine gleichnamige Tochter zeugte, hatte Robert von Beaumont, den ersten Grafen von Leicester und „einen der mächtigsten nor68 GND VIII, 28: de ceteris liberis Henrici regis, licet minus idoneo modo procreatis... Wenige Zeilen später variiert er: licet minus honesto, ut prediximus, modo progenitos. 69 Die Loyalität der Kinder ging so weit, dass sie in einer Extremsituation verheerende Folgen haben konnte. Bei der Schiffskatastrophe vom 25. November 1120 saß der legitime Thronerbe Wilhelm bereits im rettenden Boot, als seine um ihr Leben kämpfende illegitime Schwester Mathilde ihm zurief umzukehren. Das überladene Boot kenterte kurz darauf, und alle Insassen ertranken – was Heinrich I. ohne legitimen männlichen Erben zurückließ. – Ein einziges Mal scheiterte die Politik, als nämlich Heinrichs I. Tochter Juliana mit ihrem Gatten Eustace de Pacy – seinerseits ein illegitimer Sohn des normannischen Magnaten Wilhelm von Bréteuil – aufgrund von Unstimmigkeiten um dessen Vatererbe 1119 eine Rebellion gegen ihren Vater anstrengte, die einige der burleskesten und einige der grausamsten Szenen der normannischen Historiographie mit sich brachte. Vgl. Ordericus Vitalis, HE XI 4ff. 70 Vgl. White, Appendix D (1949), 105–121. 71 Thompson, Affairs of State (2003).
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mannischen Barone“72, zum Vater; ihre Großväter waren Roger de Beaumont, der wohl wichtigste Getreue Wilhelms des Eroberers, und Hugo der Große, Graf von Vermandois. Zweifellos wurde die Verbindung des Königs mit der jungfräulichen Tochter und Schwester aus solchem Hause mit großer Sorgfalt arrangiert, und es ist anzunehmen, dass sie keinem der Beteiligten als minus honestus modus einer Paarbeziehung (Robert de Torigny) erschienen wäre. In der politischen Praxis des anglonormannischen Reiches hatten nicht nur die Kinder, sondern auch die Frauen des Königs – und deren Väter und Brüder – eine von monogamistischen Vorstellungen unbeeinträchtigte Bedeutung. Derweil war Heinrich I. beinahe während der gesamten Dauer seiner fünfunddreißig Regierungsjahre ,verheiratet‘, also in formvollendeter Weise annähernd isogam mit Fürstentöchtern liiert (Edith/Mathilde von Schottland 1100–1118, Adela von Löwen seit 1121). Eine Reihe seiner Kinder, darunter der wohl prominenteste unter ihnen, Robert, der spätere Earl von Gloucester (dessen früher Beiname ,von Caen‘ auf normannisches, vielleicht städtisches Milieu der Mutter schließen lässt73), sind in der Zeit vor seiner Machtergreifung 1100 gezeugt, bis zu welcher der dritte Sohn Wilhelms des Eroberers, ohne Erbland nur mit beweglichen Gütern versehen, zu einer ähnlichen Nachrangigkeit bestimmt schien wie später seine eigenen Söhne. Doch obgleich für keinem Fall genaue Angaben vorliegen, ist er offensichtlich während der Verbindung mit der Schottenprinzessin (die er nur zwei Monate nach seiner Thronbesteigung in England einging und die gewissermaßen einen Teil seines Krönungsornats darstellt) keineswegs monogyn geworden, und die Ritter und Grafen, die zu den Beziehungen ihres ,salomonischen‘ Königs zu ihren Töchtern, Schwestern oder Gattinnen die Zustimmung gaben, hatten keine grundsätzlichen Einwände: Wie auch immer im jeweiligen Einzelfall die Machtverhältnisse ausgesehen haben, so ist doch auszuschließen, dass im Falle etwa der Isabelle de Meulan von Gewaltausübung gegen das Haus Beaumont die Rede sein kann. In anderen Fällen ist vorstellbar, dass die Aufnahme einer Beziehung zur Tochter oder Schwester als Teil der ,Freundschaft‘ des Königs mit einem Lokalaristokraten aufgefasst wurde, welcher zum besonderen Herrschaftsträger in einer wichtigen Region avancierte – mit allen Vor- und Nachteilen, die eine solche Festlegung mit sich brachte.74 Manches Mal mag Druck ausgeübt worden, die Aufnahme einer Beziehung das Signum einer Unterwerfung gewesen sein. Dies kann zwar bei Heinrich I. in keinem Fall mit einiger Stichhaltigkeit angenommen werden, doch der Vorwurf, den Eudo IV. von Porhoët, ehemaliger Graf der Bretagne, 1168 gegen Heinrich II. erhob – er habe Eudos Tochter, die Heinrich als Geisel anvertraut war, geschwängert –, zeigt, dass derartige 72 R[obert]-H[enri] Bautier, Art. Beaumont-le-Roger, in: LdM, Bd. 1, Sp. 1759. Vgl. Crouch, Beaumont twins (1986), die politische Biographie von Isabelles Brüdern Waleran und Robert. 73 Zum frühstädtischen Aufschwung Caens im elften Jahrhundert vgl. Jean-Marie [sic], Caen (2000). 74 Vgl. etwa Given-Wilson/Curteis, Royal bastards (1984), passim, zur Häufung von Allianzen und anschließender Begüterung der Kinder solcher Verbindungen in Devon und Cornwall, einer wichtigen (Metallvorkommen) und schwer zu sichernden Region.
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Demonstrationen zumindest als vorstellbar galten. Ein ähnlicher Bericht über Heinrich II. und Alice, die Tochter des Königs von Frankreich, die sehr jung mit Heinrichs Sohn Richard verlobt worden war und am angevinischen Hof aufwuchs, wird unter anderem von Giraldus Cambrensis und Wilhelm dem Bretonen kolportiert.75 Die konsensual gemeinten Verbindungen hingegen endeten – wenn sie überhaupt endeten – in der Regel mit der Verheiratung der Frau. Soweit sich beobachten ließ, wurde auch hier sorgfältig auf Nuancen geachtet: Edith, die Tochter des cumbrischen Magnaten Forn Sigulfsson, und die mehrfache Mutter Sibylle Corbet wurden mit begüterten Rittern verheiratet, während Isabelle de Meulan gegen 1130 (zehn bis zwölf Jahre nach Beginn ihrer Verbindung mit Heinrich I.) die Frau von Gilbert FitzGilbert von Clare wurde, Mitglied einer der herzogsnahen normannischen Familien, aus denen seit dem elften Jahrhundert die Machtelite des anglonormannischen Reiches bestand. Gilbert wurde kurz darauf als erster Earl von Pembroke einer der Hauptinteressenten an der Expansion nach Wales (und in der nächsten Generation weiter nach Irland76). Auf diese Weise war dafür gesorgt, dass die Königskinder für ihre diversen Aufgaben den nötigen Rückhalt fanden und mit einem ,Netzwerk‘ aus anderen Königstreuen ausgestattet waren, während diese – oder diejenigen, die die Könige zu solchen zu machen hofften – über die Königskinder und vor allem -frauen einen zuverlässigen, dauerhaften Zugang zum Ohr des Königs besaßen. Als König Heinrich I. während einer Reise Ende 1135 plötzlich auf das Totenlager geworfen wurde, waren fünf Grafen bei ihm: sein Sohn Robert von Gloucester aus seiner Caenneser Zeit; Rotrou, Graf von Perche, Witwer der beim Untergang der Blanche Nef umgekommenen Mathilde; Wilhelm von Warenne, der ein Vierteljahrhundert zuvor eine andere Tochter Heinrichs hatte heiraten sollen, wogegen jedoch Anselm von Canterbury den Einwand zu naher Verwandtschaft erhoben hatte; schließlich die Zwillinge Robert und Waleran, Brüder von Isabelle de Meulan.77 Einmal mehr waren die Söhne und Brüder der Nebenfrauen im engsten Zirkel dabei.
Im Vergleich : der generative Aspekt Aus all dem ergibt sich auch für Westeuropa der Eindruck einer vielfältigen und politisch relevanten Elitenpolygynie, die es erlaubt, sie auf die an den nordeuropäischen Verhältnissen gewonnenen fünf Aspekte hin zu betrachten. Der ,generative‘ Aspekt ist offenkundig vorhanden, man könnte sogar sagen, dass er variantenreicher ausgeprägt ist als im Norden, wo die nächste Generation anscheinend weniger planmäßig zustande kam und Erfolg oder Obskurität stärker von Kontingenzen bestimmt waren. Die grundsätzliche Erbfähigkeit aller Söhne, an der Skandinavien 75 Vgl. Warren, Henry II (1973/2000), 119f.; Gillingham, Richard Löwenherz (1981), 110f. 76 Vgl. Altschul, The Clares (1965). 77 Vgl. Given-Wilson/Curteis, Royal bastards (1984), 73.
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bis ins 13. Jahrhundert festhielt, bedeutete jedoch stets, dass jeder überhaupt in Frage kommende männliche Nachkomme grundsätzlich als Konkurrent aller seiner Brüder und Vettern in einem möglichen agonistischen Idoneitätsentscheid zu betrachten war. Dies war in Westeuropa (und selbst in der Normandie, für deren politisches Selbstverständnis die polygyne Komponente in der Herrscherfolge zentral war) spätestens seit der Mitte des elften Jahrhunderts anders; wie gesehen, unternahm nach 1066 kein ,Bastard‘ einen Griff nach der Krone. Dies bedeutete keineswegs eine allgemeingültige gesellschaftliche Regel; in der normannischen Herrschaft Bréteuil etwa setzte sich um 1100 in günstiger Konjunktur der außereheliche einzige Sohn des letzten Burgherrn gegen zwei eheliche, aber weitläufiger verwandte Konkurrenten durch, was Ordericus Vitalis befriedigt mit dem Kommentar versieht, die Normannen zögen „einen illegitimen Landsmann einem ehelichen Bretonen oder Burgunder vor“.78 Und selbst, wenn die gekrönten Nachfolger Wilhelms des Eroberers sich auf eine ‚monogamistische‘ Legitimität der Königsreihe festlegten, verloren sie dadurch nicht den Blick für die Zweckdienlichkeit gut gezeugter Kinder. Ein Beobachter wie Ordericus Vitalis kannte und explizierte den Zusammenhang zwischen Polygynie, secularis fastus und politischer Taktik: „An Geld und Genüssen reich, war [Heinrich I.] der Wollust sehr zugetan; von der Knabenzeit bis ins hohe Alter unterwarf er sich sündhaft diesem Laster und zeugte viele Söhne und Töchter mit Beischläferinnen.“79 Gerade weil ,Bastarde‘ jedoch nun selbst im Falle ungeklärter Nachfolge (wie 1135) nicht mehr in Frage kamen, konnten die anglonormannischen Herrscher ihren Samen sehr zielgerichtet vergießen und Nachkommen zeugen, die je nach Lage der Dinge zum Kanzler, zum Bischof oder Abt, zum Kriegstruppenführer oder zum ritterlichen Begleiter und Hofmarschall ihrer Schwestern eigneten, die ihrerseits entweder zur Königin im Nachbarreich oder zur Gattin eines besonders begüterten Burgherrn in strategisch wichtiger Position wurden. Wenn man so will, sorgte die monogamistische Legitimität lediglich für eine Hierarchisierung der Verhältnisse innerhalb der Schar der Halbbrüder und Halbschwestern an Stelle der offenen Idoneitätskonkurrenz, wie sie in Norwegen (und anscheinend auch unter anglonormannischen Magnaten) weiter galt. Doch auch die anglonormannischen Königsfrauen und -kinder saßen an den Schlüsselstellen der Ressourcenkontrolle und -verwendung – Edelmetallvorkommen, Bistümer, Kriegergefolge – und hatten so einen 78 HE XI, 4: sed Normanni Eustachium de concubina filium eius susceperunt, quia compatriotam nothum quam Britonem seu Burgundionem liberum praeesse sibi maluerunt. – Die günstige Konjunktur war für Eustache de Pacy die königliche Protektion, die vor allem darin zum Ausdruck kam, dass er mit Heinrichs I. Nebenfrauentochter Juliana verheiratet war. 79 Ebd., XI 23: Diuitiis deliciisque affluens libidini nimis deditum fuit, et a puericia usque ad senectutem huic uitio culpabiliter subiacuit; et filios ac filias ex pelicibus plures genuit. Im Folgenden erläutert Orderic die strengen Jagdgesetze Heinrichs und andere Sicherungsmaßnahmen des neuen Königs, der sich an dieser Stelle der Historia gerade durchgesetzt hat, und bescheinigt ihm vergleichend, dass er an allem, quantum pertinet ad secularem fastum, sämtlichen englischen Königen überlegen war.
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vermutlich oft maßgeblichen Anteil an dem, was wir nur scheinbar klar ‚Herrschaft‘ nennen und was tatsächlich aus dem dauernden Bemühen aller bestand, die Stellung zu halten und nach Möglichkeit zu verbessern. Dass der Königsname nunmehr außerhalb des Agons blieb, markiert einen merklichen Wandel, nicht aber einen Systemwechsel.
Im Vergleich : der habituale Aspekt An der habitualen Bedeutung der Polygynie kann angesichts der hyperbolischen Großspurigkeit, mit der ein Chronist wie Lambert von Ardres über einen Grenzgrafen auf Marginalland am Ärmelkanal verkündet, bei der reihenweisen Verführung junger Mädchen übertreffe er sämtliche Könige des Alten Bundes sowie die olympischen Götter, kein Zweifel bestehen. Gerade dieser Aspekt ist mehr noch als der generative (dessen geringe Bedeutung für die familiale Sukzession in einer agnatischen Gesellschaft von den zahlreichen anderen Zwecken ablenkt) in der bisherigen Forschung besonders hervorgehoben worden. Zum Habitus gehörte neben Waffentaten auf dem Schlachtfeld oder wenigstens im Turnier, Grandeur bei Speis und Trank, einer überzeugend das tatsächliche Augenmerk auf die Einnahmenseite überspielenden largesce, der ebenfalls überzeugend dargestellten Selbstvergessenheit beim Kraftsport (Jagen und Reiten) sowie einem intakten Verhältnis zum Allmächtigen und seinem klerikalen Gefolge (bis zu einem bestimmten Lebensalter am besten aus respektvoller Distanz gepflegt) der rechte Umgang mit den Frauen. Im literarisierten gap (der seinerseits zum Habitus gehörenden erfolgreichen Großsprecherei) wird er nur übersteigert, aber nicht travestiert. Ein Herzog auf Wallfahrt sollte sich vielleicht nicht eine Woche lang von zwei lüsternen Burgfrauen sequestrieren und überanstrengen lassen, „bis ihm fast Sattelzeug und Harnisch in Stücke gingen“.80 Doch der Ratschlag des Andreas Capellanus, die eventuell durch den Anblick einer jungen Bäuerin entfachte Lust nicht länger auszuhalten, als bis man einen geeigneten Ort gefunden hatte, um sie dort zu stillen81, steht zwar im Zusammenhang der satirischen Reaktion eines an Ovid geschulten Intellektuellen auf die um sich greifende courtoise Mode, würde aber als Satire nicht funktionieren, wenn ihm nicht eine geläufige Praxis zugrunde läge. Das Schäferstündchen mit einer Hirtin – gerne einer sich wehrenden – ist in der lyrischen Form der Pastourelle ein eigenes Genre der altfranzösischen Literatur: Man hörte so etwas gern und kultivierte nicht ungern den Eindruck, man täte es auch gern.82 80 Wilhelm IX. von Aquitanien, PC 183,12, v. 81f.: Que a pauc no·i rompei mos corretz E mos arnés. 81 Andreas Capellanus, De amore I 11: Si vero [empfehlenswerter sind nämlich Beziehungen zu adligen Frauen] et illarum te feminarum amor forte attraxerit..., si locum inveneris opportunum, non differas assumere quod petebas et violento potiri amplexu. 82 Die knapp zweihundert bekannten Gedichte, jeweils etwa vier bis sieben Strophen lang, sind gesammelt in Rivière (Hrsg.), Pastourelles (1974 –76). Die vielleicht beste Studie des Genres ist Zink, La pastourelle (1972); eine auf die Stilisierung der Vergewaltigung als Spiel abzielende kritische Lesung bietet Gravdal, Ravishing Maidens (1991), 104–121.
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In der ,Geschichte der Grafen von Guînes‘ beobachtet man das Zusammentreffen einer an Andreas Capellanus und die einschlägigen volkssprachlichen Genres erinnernden Darstellungsweise polygyner Protzerei mit vielen lebensweltlichen Details, berichten doch sowohl der Chronist als auch sein alternder Gewährsmann, wie oft sich derlei in ihrem eigenen Umfeld zugetragen hat. Selten wird in einer Quelle so deutlich, wie (literarische) Repräsentation und Praxis einander bedingen, ohne ineinszufallen. Ständig finden die Helden der Geschichte auf ihren Reisen oder auf den umliegenden Feldern puellulae vor, die umarmt, geschwängert und dem narrativen Vergessen überlassen werden. Nur ausnahmsweise werden sie mit Namen genannt; dass sie überhaupt in der Historie erscheinen, verdanken sie allein ihren Nachkommen – was impliziert, dass die puellulae ohne Nachkommen nicht einmal diesen Nachruhm (sowie vermutlich konkretere Vorteile als Mütter von Grafen- oder Ritterkindern) davontrugen. Nichts ist bezeichnender für diese habituale Attitude, die zu ihrer vollen Entfaltung stets den provokativen Kontrast zum hegemonialen Monogamismus braucht, als der Satz, in dem der Erzähler seine eigene Zeugung berichtet (und sich damit in seine Geschichte einschreibt): „Balduin, [Graf Arnolds] Bruder und zudem mein Vater, hatte damals etwas (rem habuit) mit einer Jungfrau namens Adela, der Tochter seines Onkels väterlicherseits, des canonicus Radulf – man schämt sich schon, aber eigentlich schämt man sich doch nicht, es zu sagen!“83 Der lateinische Satzbau suggeriert, dass die Scham nicht so sehr durch die voreheliche Entjungferung als vielmehr die enge Verwandtschaft hervorgerufen wird, doch letztlich kommt es gar nicht darauf an, welche Missachtung kirchlicher Präzepte die schlimmere ist: Der Berichterstatter hat mehrere Jahrzehnte gut damit gelebt, dass Graf Balduin ihn mit seiner jungfräulichen Cousine ersten Grades gezeugt hat, und schenkt seinen Gönnern nun die öffentliche Ausstellung seiner „Schande, die keine ist“, zu deren größerem Ruhm. In dieser Passage verdichtet sich ein wesentlicher Unterschied zwischen West- und Nordeuropa, der für die habituale Wirkungsweise der Polygynie in den beiden Regionen wichtig ist: das große Interesse des Westens an den Themen Inzest und Jungfräulichkeit im Gegensatz zur Gleichgültigkeit des Nordens gegenüber diesen für das lateinchristliche Hochmittelalter insgesamt so zentralen Belangen. Wo man den ,verbotenen‘ Verwandtschaftsgraden so wenig Aufmerksamkeit entgegenbrachte, dass sich in der Schilderung solcher Geschlechtsbeziehungen nicht einmal ein trotziges Beharren, sondern lediglich Ignoranz findet84, konnte die Verführung einer Cousine – was immer die Beziehung 83 Historia comitum Ghisnensium c. 134: Eodem tempore Balduinus, frater eius, qui et pater meus, cum virgine quadam – pudet iam, et ecce non pudet dicere – patrui sui, Radulfi scilicet canonici filia, nomine Adela, rem habuit; que concepit et peperit ei filium, ista vobis referentem... 84 Die Landschaftsrechte (z. B. Gulathingsrecht §§24ff., Frostathingsrecht III §§1ff.) enthalten zwar im Großen und Ganzen die herkömmlichen Inzestkriterien, und Kirsten Hastrup hat die mittelalterliche isländische Familienstruktur auf der Grundlage der Angaben im Rechtsbuch Grágás aus dem späten 13. Jahrhundert beschrieben (Hastrup, Culture and history [1985], 80ff.), doch der Umstand, dass die in den Königssagas beschriebenen Beziehungen oft in keinem Verhältnissen zu
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unter den jeweils gegebenen Umständen noch für Weiterungen haben mochte – nicht als Ausweis besonderer Bravour dienen. Die Tochter eines Bastardsohnes des eigenen Großvaters zu verführen, dessen Stellung als canonicus nicht zuletzt vom Wohlwollen des Verführers abhing, war keine Heldentat, derer sich ein Skandinavier an Graf Balduins Stelle hätte rühmen können – eben weil ihr habitualer Wert vor allem in denjenigen ihrer Eigenschaften lag, die dem Skandinavier nichts bedeuteten. Noch deutlicher ist der Unterschied, wie in dieser Untersuchung bereits mehrfach angesprochen, im Hinblick auf die Unberührtheit. In den nordischen Landschaftsrechten fehlt sogar die für entsprechende Rechtsquellen der meisten europäischen Regionen so typische Unterscheidung zwischen den Bußtarifen für Übergriffe auf Jungfrauen oder andere Frauen.85 Das Faszinosum Jungfräulichkeit berührte, allen Mutmaßungen über die Quasi-Konstanz dieses anthropologischen Faktums zum Trotz, Nordeuropa nicht.86 Das hat wesentliche Folgen für die Beziehungen, bei denen es weder eine ,erste Nacht‘ noch eine andere durch die Reihenfolge verursachte Rangabstufung geben konnte. Das römische univira-Ideal, das sich im westmitteleuropäischen Mittelalter in Figuren wie Kriemhild und Enide manifestiert, konnte in Nordeuropa wenig Anklang finden. Im Gegenteil ermöglicht es die serielle Polyandrie einer Heldinnenfigur wie der Guðrún Ósvífsdóttir in der Laxdœla saga, ohne den Hautgoût, der einer fünfmal liierten Frauenfigur der westeuropäischen Aristokratenliteratur sicher anhaften würde, am Ende rückblickend eine Rangfolge ihrer Männer aufzustellen, nach vom Sexuellen ganz losgelösten Kategorien.87 Das mangelnde Interesse am „Tempel Jungfrauenkörper“ (Hieronymus88) und damit
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diesen Bestimmungen stehen, erlauben es, mit Sjöholm, Sveriges Medeltidslagar (1988), den stark ‚europäischen‘ Charakter solcher Bestimmungen zu betonen und sie nicht als Selbstbeschreibung der Lokalgesellschaften aufzufassen. Wohl am bezeichnendsten ist, dass sich dieser Unterschied in den Leges sogar auf Mägde bezieht, die sich auf der Grenze zwischen Personen- und Sachenrecht befinden: si vero ancilla et virgo erat, cum qua quislibet homo moechatus est (Lex Frisionum tit. 9, 3 [MGH LL 3, 635–697, 665]), fällt die Buße höher aus, und zwar in Schritten von je 1s. weniger, je öfter sie prius fuerit constuprata; vgl. Obermeier, „Ancilla“ (1996), 250ff. Selbst wenn man solcher Kasuistik nicht allzu viel Lebensnähe zubilligen mag: Der fränkischen Welt geht es bei der Jungfräulichkeit nicht nur um die Wahrung des Heiratswerts der Töchter von ingenui – dies allein wäre bereits ein mit Skandinavien zu kontrastierender Befund –, sondern um eine umfassende Disposition. Eine Erörterung dieses Umstands fehlt bisher. Zu verweisen ist vorerst allgemein auf die Darstellungen von Jochens, Women in Old Norse society (1995) und dies., Images of women (1996), und speziell für die Reaktion auf das Eindringen religiös begründeter Formen der Jungfräulichkeit (Konsensforderung; Nonnenklöster) Sawyer, Sköldmön och madonnan (1997). Zwar ist die Laxdœla saga bis ins Vokabular hinein von westeuropäischen Vorstellungen dessen, was kurteis ist, beeinflusst (vgl. zuletzt Sävborg, Kärleken [2004], 75–109), doch bin ich der Meinung, dass gerade in dieser Transferbegegnung die Unvereinbarkeit autochthoner Züge zur Diskussion kommt. Hieronymus, Ep. 23 (PL 22, col. 410): Neque enim vas aureum et argenteum tam carum Deo fuit quam templum corporis virginalis. Weiter unten im selben Brief plündern die ‚Assyrer‘ den schlecht gehüteten ‚Tempelschatz‘, und König Balthasar zecht aus den geraubten ‚Gefäßen‘ inter concubinarum greges (vgl. Dn 5,2).
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der mangelnde Anreiz zu dessen Schändung prägt auch die habituale Wirkungsweise der Polygynie: Ein „großer Frauenmann“ wie König Magnús Erlingsson (r. 1161–84) hätte sich mit seinem Zeitgenossen Balduin von Guînes darüber verständigen können, dass eine salomonische Vielzahl von Frauen einem Fürsten wohl anstand, aber der Norweger hätte nicht eingesehen, warum es sich nach Möglichkeit um iuvenculae zu handeln habe. Ein weiterer durch den Vergleich hervortretender Unterschied der Regionen ist folgender: König Magnús und der seinem faktischen Einflussbereich nach fast eher als Burgherr einzuordnende Graf Balduin mochten sich einig sein; ob die normannisch-angevinischen Fürsten derselben Ansicht waren, ist hingegen fraglich. Keiner von ihnen wäre wie ihr angelsächsischer Vorgänger Eadwig 955 „am Tag seiner Königsweihe, mitten in einer von zahlreichen Edlen besuchten Ratssitzung, auf der ernste und entscheidende Anliegen des Reiches verhandelt wurden, plötzlich, als wäre er völlig entspannt, auf ein Lager und in die Umarmung seiner Gespielin gesunken“.89 Mehr noch, auch der gestrengste Tadler unter den Chronisten hätte einen solchen Vorwurf gegen einen hochmittelalterlichen König von England nicht erheben können, weil eine solche Ostentation selbst denen unter ihnen, die sich dem Vergleich mit der „Frechheit Salomos“ aussetzten wie Heinrich I. bei Wilhelm von Newburgh, fremd war. Die Vorstellung, dass der mehr oder minder öffentliche Beischlaf des neuen Königs mit einer seiner Frauen auf die versammelten Großen eine Wirkung haben sollte, die derjenigen der vorangegangenen Weihe (sacratus fuerat) nicht ganz unähnlich war – eine ‚performative‘ also vielleicht –, hatte sich zur Zeit Wilhelms von Malmesbury ganz verloren. In ihrer chronistischen Stilisierung sind die westeuropäischen Fürsten des zwölften Jahrhunderts gewissermaßen indirekt polygyn: die bemerkenswerten Kinder ihrer Frauen werden sichtbar, diese selber nicht. Dies gilt für die anglonormannischen Herrscher ebenso wie für die extrem monogamistischen Kapetinger, deren zwei berühmte Polygynieaffären, Philipps I. ,Raub‘ der Bertrada von Montfort 1092 und Philipps II. Liaison mit Agnes von Meran anstelle der sequestrierten Ingeborg von Dänemark 1196, ihrer Herrschaftsstilisierung gewiss nicht zuträglich waren. Es gilt ebenso für die großen ,Fürstentümer‘90 wie Flandern, Hennegau, Anjou, in deren Chronistik die Frauen der Herrscher ähnlich abwesend sind wie in den Geschichten der anglonormannischen Könige und nur indirekt in Erscheinung treten, sei es durch ihre Kinder, sei es in Episoden wie der prononcierten Monogynie Balduins VI. von Hennegau, quod in aliquo homine raro invenitur. Die Polygynie als „Hausübel der Könige“, wie Wilhelm von Malmesbury es ausdrückt, ist zwar bekannt und wird vorausgesetzt, aber möglichst nicht erwähnt. 89 GRA II 147: Ipso quippe die quo in regem sacratus fuerat, frequentissimo consessu procerum, dum de rebus seriis et regno necessariis inter eos ageretur, e medio quasi ludibundus prorupuit, in triclinium et complexum ganeae deuolutus. Abt Dunstan von Glastonbury, der spätere Erzbischof, holt den lasciuentem iuuenculum aus dem Bett, sorgt für die Vertreibung der pelex und handelt sich dadurch die dauernde Feindschaft des neuen Königs ein. 90 Vgl. Barthélemy, L’ordre seigneurial (1990), 200, zum Wert des Begriffs „principautés féodales“.
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Im Vergleich : der agonistische Aspekt Dies wiederum verdeckt (für uns) weitgehend die Wirkungsweise ihres agonistischen Aspektes. Ein Agon, dem das Publikum fehlt (oder nachträglich abhandengekommen ist), ist keiner (mehr). Dabei waren die westeuropäischen Aristokraten nicht nur aufgrund ihrer Vertrautheit mit den alttestamentlichen Vorbildkönigen mit dem Gedanken bekannt, Rivalitäten unter Männern durch Zugriff auf die Frauen auszutragen. In der mittelalterlichen Geschichte gibt es kaum eindrücklichere (und von den Zeitgenossen aufmerksamer kommentierte) Beispiele für politische Rivalitäten um Frauen als Philipps I. Griff nach Bertrada von Montfort, die Frau des Angevinergrafen Fulko IV. (1092), und den Wechsel Eleonores von Aquitanien von Ludwig VII. zu Heinrich II. (1152), dessen politische Brisanz sich nicht mit den territorialen Verschiebungen erschöpfte. Beide Fälle belegen zudem eindrücklich, dass die Frauen selber alles andere als passive Objekte männlicher Rivalität waren. Dass diese Angelegenheiten – die in der modernen Geschichtswissenschaft als ‚Ehe‘fälle behandelt werden und in der Tat sozial sehr hoch angesiedelt waren – für die Zeitgenossen durchaus in ein polygynes Wahrnehmungsschema passten, zeigt der Bericht des Ordericus Vitalis über Bertrada von Montfort. Anfangs ist die concupita puella Bertrada, die der Graf (consul) von Anjou nach langen Verhandlungen freudig in Empfang nimmt, in der Diktion kaum von den zahlreichen Mädchen der Grafen von Guînes zu unterscheiden, mehr noch, Fulko „heiratete, während zwei seiner Frauen noch lebten, die dritte“.91 (Bertrada war mindestens Fulkos vierte, vielleicht fünfte ,Ehefrau‘; die erste war tot, die zwei oder drei übrigen waren verstoßen worden. Wie bei den Oddaverjar ist zu fragen, was diese sämtlich dem Burgherrenmilieu entstammenden Frauen zu uxores machte und in wessen Sicht.) Nach einer Weile beginnt Bertrada dann zu fürchten, ihr könnte dasselbe bevorstehen wie ihren Vorgängerinnen, und sie würde „von allen als billige Buhlerin“ (cunctis ceu uile scortum) behandelt werden. „Ihrer Schönheit und guten Abkunft bewusst“ (conscia nobilitatis et pulchritudinis suae), nimmt sie Kontakt mit Philipp I. auf – der sich durch seine Komplizität Orderics vernichtendes Prädikat mollis princeps einhandelt, obgleich seine Bereitschaft zum Konflikt mit Anjou in unseren Augen erst einmal auf das Gegenteil schließen lässt – und führt den Männerwechsel durch: „So verließ die flüchtige Kebse den ehebrecherischen Grafen und blieb bei dem ebenso ehebrecherischen König bis zu dessen Tod.“92 Es ist kurios, wie sich in die plakative Verurteilung Bertradas durch den so strengen wie feinsinnigen Benediktiner die Anerkennung ihrer univiralen Treue zum König mischt, dessen Handlungsweise für Orderic im Übrigen vor allem deshalb tadelnswert erscheint, 91 HE VIII 10: Deinde Andegavensis consul concupitam puellam gaudens suscepit, et uiuentibus adhuc duabus uxoribus terciam desponsauit. Zu Philipp und Bertrada vgl. Duby, Ritter, Frau und Priester (1985), 7–28, von dessen Deutung die hier vorgestellte allerdings abweicht. 92 Ebd., X, 20: Sic peculans pelex adulterum comitem reliquit, adulteroque regi usque ad mortem eius adhesit.
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weil die von Bertrada aus der Spitzenposition verdrängte Königin Bertha ihm immerhin einen Thronerben und eine Tochter geboren (und sich damit den nötigen Respekt verdient) hat. Auch im Folgenden bleibt Bertradas Bild seltsam zweideutig: Zum einen versucht sich die crudelis adultera wiederholt an Giftmordanschlägen auf den Thronerben Ludwig, zum anderen fädelt sie mit weiblichem ingenium die Versöhnung ihrer beiden Männer ein und bringt König Philipp und Graf Fulko so weit, dass sie am selben Tisch essen und in derselben Kammer schlafen, während sie „ihnen aufwartete, wie es passend schien“.93 Es ist, als wolle der anglonormannische Rigorist seine Anerkennung einer Frau, die als virago die Initiative übernimmt, wenn die Männer sich als molles erweisen, nicht ganz von der kirchlicherseits erforderlichen Verurteilung übertönen lassen. In Orderics Darstellung unterscheidet sich Bertradas mögliches Schicksal als einer der uxores des Grafen Fulko von Anjou in nichts von den Aussichten, die die Volkssprache einer soignant zuschreibt. Das substantivierte Partizip Präsens zum Verbum soignier „sorgen für; pflegen“ (< fränk. *sunnjôn) gehört zunächst in den Bereich häuslichen Dienens; mit der friesischen bortmagad „Tischmagd“ ist es eines der raren lexikalischen Zeugnisse für den alltäglichen Zusammenfall sexueller und anderer Verrichtungen, von denen die Chroniken nie und die Romane fast nie erzählen.94 Im Rahmen des höfischen Monogamismus wird das Wort zum Äquivalent von concubina im Gegensatz zu uxor/ mouillier; Salomos 700 uxores quasi reginae und 300 concubinae erscheinen in der französischen Bibel als femmes cume reines beziehungsweise suinnantes.95 Im französischen Mädchenlied, der chanson de toile, werden solche Schicksale szenisch ausgemalt. „Sabine“, sagt dort der Graf zur Kammermagd seiner Gattin, „Euer hübscher Körper macht mir Appetit, und ich möchte Eure Liebe!“ Das Mädchen hat Bedenken, „meine Jugend in einem Konkubinat (soignentage) zu verbrauchen.“ Der Graf sichert ihr eine dauerhafte Beziehung zu und darf ihr schließlich „den süßen Namen der Jungfrau nehmen“ (li a tolu le douz non de pucele) – concupitam puellam gaudens suscepit, heißt es bei Orderic Vitalis über Bertrada. Tatsächlich behält er sie lange Zeit bei sich, doch am Ende vermitteln die mittlerweile erwachsenen Söhne der zwischenzeitlich verstoßenen Gattin des Grafen – sie müssen sich um ihre Stellung und ihr Erbe sorgen – eine 93 Ebd., XI, 9; VIII, 20: prout placuit illis ministraret. Tatsächlich wurde schließlich 1106 in Angers die Konfliktbeilegung inszeniert. 94 Eine seltene solche Schilderung eines Abends vorm Herdfeuer, wo der Graf mit dem Kopf im Schoß einer „ganz entgürteten“ (also nur mit einem Untergewand bekleideten) bele pucele ruht und auf seine Bratäpfel wartet, bietet der Versroman L’escoufle von Jean Renart (pikardisch, um 1200). Das Mädchen ist die Heldin des Liebesromans, der Graf der Gönner des Paares, das sich gleich wunderbar wiederfinden wird; es liegt textstrategisch keine pejorative Absicht in der Schilderung des Lieblings-deduit des Grafen. Vgl. Rüdiger, Aristokraten und Poeten (2001), 182–186. 95 Die lateinische Glosse ist focaria (vgl. Greimas, Dictionnaire [21986]; Godefroy, Dictionnaire [1881–1902], jeweils s. v. soignant), ähnlich zum Beispiel die nordischen Wörter arinelja („HerdMitfrau“ in den Rechtsbüchern) und fylgikona „Folge-Frau“ – und die Vulgata-Verben über David und Abischag: foveat dormiebatque.
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Wiedervereinigung. Deren Leidtragende ist Sabine, die am Ende doch „mit Schimpf und Schande von seinen Ländern verjagt wird“96 – ceu uile scortum, wie Orderics Bertrada es für sich befürchtet. Wenn aber im Hinblick auf ihre Zukunftsaussichten die Chancen der uxores eines Grafen von Anjou nicht wesentlich verschieden waren von denen der soignant des Liedes – wie sieht es mit den Kindern aus? Im Lied sorgen die männlichen Erben für die Versöhnung ihrer Eltern zu Lasten der Beischläferin des Vaters; in der politischen Praxis konnte der Wettstreit aber auch anders ausgehen, wie Bertha von Holland, die Gattin Philipps I., erfahren musste, die trotz ihrer beiden Kinder (darunter dem allentscheidenden Sohn) gegen Bertrada von Montfort verlor. Ihr Sohn Ludwig (VI.), 1098 zum rex designatus erhoben, herrschte jahrelang in Kooperation mit dem Vater, der seine Mutter verstoßen hatte. Selbst ein solchermaßen legitimierter Sohn bedeutete also keine Absicherung der Mutter – was den Agon der Frauen untereinander verschärfen musste. In anderen Fällen, wenn die Solidarität der Erben eher der Mutter galt, konnte gerade dies den Konflikt eskalieren lassen und für die uxor schwerwiegende Folgen haben, wie Eleonore von Aquitanien erfahren musste, als sie 1173 die Rebellion ihrer Söhne Heinrich und Richard gegen König Heinrich II. unterstützte. Festgenommen und festgesetzt musste sie zusehen, wie der König nun erstmals – und demonstrativ – eine seiner Nebenfrauen aus der Diskretion an die Öffentlichkeit holte.97 Walter de Clifford, ein aufwärtsmobiler Kastellan in der walisischen Mark, der seine aus der Eroberungszeit datierende und eigentlich der königsnahen FitzOsbern/Tosny-Familie gehörende Burg während des Kampfes um die Krone um 1150 quasi zu Eigen übernommen hatte, dürfte entzückt gewesen sein, welchen Aufstieg seine Tochter Rosamonde in den beiden Jahren nach dem Bruch des Königspaars nahm. 96 Au novel tans pascour que florist l’aube espine, in: Zink (Hrsg.), Belle (1978), Nr. 13: Sabine, dit li cuens, vos gens cors m’atalente (v. 15); Qu’en soignentage soit usee ma jovente (v. 19); v. 30; Et Sabine a touz jours de la terre honie (v. 124). Es handelt sich um eine dem Trouvère Audefroi le Bâtard (Arras, frühes 13. Jahrhundert) zugeschriebene chanson de toile, ein Exemplar jener ,popularisierenden‘ Gattung der höfischen Lyrik, die ihre metrisch dem Volkslied angenäherten Texte den im Frauengemach sitzenden Mädchen in den Mund legen. In diesem Lied ist Sabine das Kammermädchen (sa pucele) der Gattin des Grafen; diese protestiert gegen den Konkubinat und wird dafür verstoßen. Das Wiederfinden der zu Rittern herangewachsenen ehelichen Söhne wird aventurenhaft geschildert. 97 Giraldus Cambrensis, De principis institutione, zitiert nach T[homas] A[ndrew] A[rcher], Art. Rosamond Clifford, in: Dictionary of National Biography (1937/38), Bd. 4, 531–533: [Rex] qui adulter antea fuerat occultus effectus postea manifestus non mundi quidem rosa iuxta falsam et frivolitatissimam compositionem sed inmundi verius rosa vocata palam et impudenter abutendo. Als Zeitraum der offenen Beziehung gibt Giraldus an: biennali vero clade sedata. Während die Details über das irrgartenartige Lusthaus in Woodstock, in dem Eleonore die Rivalin schließlich aufspürte und tötete, von Archer in ihrer nachträglichen Entstehung nachgezeichnet werden, lassen mehrere einander ergänzende chronistische und dokumentarische Auskünfte über Rosamondes Grablege im Nonnenkloster Godstow (zehn Kilometer südlich von Woodstock bei Oxford) eine Residenz der Favoritin an diesem im zwölften Jahrhundert bevorzugten Königssitz zumindest glaubwürdig erscheinen.
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,Fair Rosamund‘ ist seit den ersten romanzenhaften Ausschmückungen ihrer Geschichte im 14. Jahrhundert zum Standardinventar englischer Geschichtsromantik geworden. Das geht zu Lasten ihrer historisch greifbaren Figur. Eleonores Reaktion als ,Eifersucht‘ zu emotionalisieren bedeutet, die politische Brisanz des Konfliktes zu verkennen – was keineswegs heißen soll, dass die entmachtete Königin oder ihre Anhänger nicht tatsächlich, wie es die Legende will, für Rosamondes frühen Tod gesorgt haben könnten. Ihrer legendarischen Weiterungen entkleidet, weist die Geschichte gewisse Parallelen mit derjenigen Philipps I. achtzig Jahre zuvor auf; auch Bertradas Herkunft aus dem franzischen Burgherrenmilieu im Gegensatz zur Fürstentochter Bertha, die für die legitime Nachkommenschaft gesorgt hatte, ähnelt dem Verhältnis Rosamondes zu Eleonore. Es bleiben Unterschiede: Heinrichs offene Verbindung zu Rosamonde blieb Episode und wurde nicht wie seinerzeit Philipps I. ein Politikum, das ein Jahrzehnt lang die Fürsten und Bischöfe eines Reiches spaltete98; Eleonore blieb Königin – und wurde, als schließlich ihre Söhne Richard (r. 1189–99) und Johann (r. 1199–1216) dem Vater nachfolgten, noch im Alter von fast siebzig Jahren und bis zu ihrem Tod 1204 die allseits geachtete Königinmutter. Vor allem aber entstand aus der Verbindung von Heinrich und Rosamonda kein Sohn, der wie Bertradas Sohn Philipp eine ernsthafte Konkurrenz für den designatus (hier Heinrichs und Eleonores ältesten Sohn Heinrich, den „jungen König“) hätte werden können. Doch dürfen diese Unterschiede nicht über die grundsätzliche Ähnlichkeit beider Fälle hinwegtäuschen, deren Verlauf unter anderen Umständen – etwa, wenn Rosamonde länger gelebt hätte – auch wesentlich mehr Ähnlichkeiten hätte aufweisen können. Der Unterschied zwischen der uxor Bertrada und der amica Rosamonde gehört jedenfalls nicht zu den entscheidenden Faktoren. Nur wenige derartig agonistische Situationen zwischen Männern (König Philipp I. und Fulko von Anjou; der Kapetinger Ludwig VII. und der Plantagenêt Heinrich II.) oder Frauen (Bertha und Bertrada; Eleonore und Rosamonde) – haben ihre Spuren in den Schriften oder der Überlieferung hinterlassen. Sie markieren die Eskalation von Spannungen bis zum offenen Konflikt. Keine Quelle hingegen unterrichtet uns darüber, ob zwischen einigen (oder allen) der mindestens zwölf Frauen Heinrichs I. ähnlich agonistische Verhältnisse bestanden, ob das Nebeneinander eine Konkurrenz war, die merkbare Konsequenzen für die Frauen, ihre Verwandten oder ihre Kinder mit sich brachte. (Streng genommen wissen 98 Immerhin wurde der Fall kontrovers diskutiert, wie sich an den unterschiedlichen Stellungnahmen der Chronisten ablesen lässt: Wilhelm von Newburgh (Historia rerum Anglicarum III, 26) nimmt Heinrich ein wenig in Schutz, wenn er schreibt, der König habe die Königin „in ihrer Zeit hinreichend im Bett gebraucht“ und sich erst nach Ende ihrer Fruchtbarkeit der Lust und Zeugung von Bastarden ergeben (regina pro tempore sufficienter usus ad sobolem, ea desinente parere, sectando voluptatem spurios fecit). Radulf Niger (Chronica, 168), der Heinrich in den schwärzesten Farbe malt, verzichtet nicht auf den so topischen wie – in gewisser Hinsicht – zutreffenden Hinweis, der ausschweifende König habe in Nachahmung seines Großvaters Heinrich I. seine unerlaubte Lust erst an den Frauen und dann an den Töchtern der Edlen ausgelassen; um ungehemmter huren zu können, habe er die Königin in den Kerker geschlossen (corruptor pudicitiae et avum sequens in flagitiis, primo in sponsas, post in filias procerum illecebras exercens (...) Reginam, ut liberius stupris vacaret..., in domo carceris inclusit).
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wir nicht einmal, ob und wie viele von Heinrichs Frauen sich zu einem gegebenen Zeitpunkt überhaupt in Konkurrenz befanden; die auf den Auskünften über die Lebenswege der Kinder beruhenden Schätzungen machen Simultanbeziehungen aber zumindest wahrscheinlich.) Die Notizen sind so dürr, dass nicht einmal ersichtlich ist, ob die Frauen sich regelmäßig in der Nähe des sein Reich zwischen Cher und Cheviot bereisenden Königs aufhielten oder ,uxorilokal‘ in ihren jeweiligen Ländern lebten, um den König angelegentlich zu empfangen. Was für die Tochter des Ritters aus der walisischen Grenzmark galt, musste außerdem nicht auch auf die franzische Magnatentochter zutreffen. Angesichts der Punkthaftigkeit der Auskünfte, der konsequenten Weigerung, die Frauen des Herrschers zu narrativisieren, hilft vielleicht der Vergleich. Unter im Großen und Ganzen ähnlichen lebensweltlichen Umständen kann man den im Norden gewonnenen Befund von einer gelegentlich, wenn auch keineswegs regelmäßig auftretenden heftigen Konkurrenz zwischen Frauen auf den Westen übertragen. In den meisten Fällen wäre hier eine zu heftige Konkurrenz um die ,Ressource‘ König als Quelle materieller Zuwendungen und habitualer Zukunftssicherung weniger nötig und womöglich gar kontraproduktiv, denn die anglonormannisch-angevinischen Herrscher gehören zu den erfolgreichsten Akkumulierern materiellen und immateriellen Kapitals, die das Europa des zwölften Jahrhunderts kannte; es war sozusagen für alle etwas da, solange es nicht um die Spitzenposition ging. Selbst auf dem Niveau der Grafen von Guînes und Burgherrn von Ardres ist zu beobachten, dass zumindest eine ganze Reihe der puellulae samt ihrer Nachkommen dauerhaft versorgt wurden. Auch hier hängt vieles von der konkreten Ausgestaltung der polygynen Lebenswelt ab: Fand alles in der Burg von Ardres oder den Pfalzen des anglonormannischen Reiches statt, konnten Rangkonflikte in der Art von jenem, den Snorri Sturluson zwischen der Königinwitwe Ástríð und der Königinmutter Álfhild beschreibt, kaum ausbleiben; verteilten sich die Frauen jedoch geographisch (oder wenigstens über mehrere domus), so dürfte der latenten Konkurrenz bereits viel Schärfe gefehlt haben. Die agonistische Grundsituation ist jedoch implizit stets vorhanden und betrifft nicht nur die Frauen selber, sondern gegebenenfalls auch die hinter ihnen stehenden Gruppen. Die Beaumont-Zwillinge Robert und Waleran dürften sorgfältig beobachtet haben, ob sich ihre Schwester Isabelle in der Gunst des Königs an angemessener Stelle hielt oder durch andere amicae womöglich konkurrierender Herkunft herausgefordert wurde. Und der König seinerseits dürfte die wichtige Rolle der Beaumonts bei seiner Absicherung in der Normandie nicht vergessen haben, wenn er anderswo „den königlichen Samen zweckgerichtet einsetzte“.99 Die auffällig breite geographische Streuung der Herkunft der Frauen Heinrichs I. (im Gegensatz zu ihrer und ihrer Verwandten anschließenden Begüterung, die sich wie gesagt auf strategisch wichtige Zonen konzentrierte) könnte ein Indiz dafür sein, dass der König bestrebt war, derartige Konflikte zu minimieren. 99 GRA V, 412 ...ubi regium semen procedere posset in effectum; vgl. Anm. 44.
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Im Vergleich : der expressive Aspekt Ist schon der agonistische Aspekt der westeuropäischen Elitenpolygynie oft nur indirekt erschließbar, so gilt das erst recht für die semantische, kommunikative Wirkweise, den ‚expressiven‘ Aspekt. Was die Reaktionen des Umfelds auf einzelne Beziehungen angeht, sind die Chroniken so stumm, wie die Sagas auskunftsfreudig sind. Zwar werden etwa bei Lambert von Ardres die Nebenfrauen der artesischen Aristokraten häufig benannt und in den Handlungsverlauf eingebaut. Doch die Redeweise über sie lässt dennoch völlig im Dunkeln, was – außer dem Reiz eines „besonders schönen Mädchenkörpers“ (invenit sibi prestantissime forme puellam) – die Beziehungen eigentlich zustande kommen ließ. Nachdem er seine Cousine entjungfert und den Erzähler gezeugt hatte, schlief Graf Balduin „mit einem anderen jungen Mädchen von herausragend, ganz außerordentlicher Gestalt und hohem Adel“ (cum quadam alia eminentis, immo supereminentis forme, generose nobilitatis iuvencula), sein Bruder Arnold „mit einem Mädchen aus Herchem namens Helewide“ (cum puella quadam de Herchem nata nomine Helewide rem habuit) und kurz darauf „mit einem Mädchen aus Ardres“ (cum quadam puella in Ardee rem habuit). Eine puella pulcherrima hier, eine eminentissimae pulchritudinis puella dort: von Individuation kann nicht die Rede sein. Es ist gut zu verstehen, wie Georges Duby und andere, die sich mit nordfranzösischen Adelshaushalten beschäftigen, zu ihrer Sicht auf die „Gespielinnen“ kommen. Gibt es denn den Bedarf und den Wunsch, mit bestimmten puellae bestimmte Signale zu setzen? Auf dem Niveau der Herren von Guînes und Ardres mag das weniger oder in anderer Weise der Fall sein als bei den normannisch-angevinischen Königen. Immerhin wäre es möglich, wenigstens ansatzweise die Beziehungen zu lokalisieren und auf dieser Grundlage zu untersuchen, ob der Beischlaf mit einer Jungfrau aus einem bestimmten Dorf als Akt territorialer Aggression oder Revendikation gedeutet werden könnte. Ebenso gut könnten auch der Wettbewerb der Grafenbrüder um die größere Ähnlichkeit mit Jupiter, der Wunsch des Mädchens oder der Eltern nach sozialer Aufwärtsmobilität eine Rolle gespielt oder schlicht – wie bei Andreas Capellanus – die günstigen Umstände eine spontane Verbindung verursacht haben. Der Vergleich hilft nicht bei der Beantwortung dieser Fragen, aber er erlaubt es, sie überhaupt zu stellen. Sorgfältiger wird man einige von Heinrichs I. Beziehungen betrachten wollen. Es ist davon auszugehen, dass jede uns bekannte Verbindung des Königs von sozialer, über sich selbst hinausweisender Bedeutung war, denn es handelt sich um einen doppelt reduzierten Minimalkatalog: Zum einen sind die Frauen nur im Zusammenhang mit ihren Kindern bekannt, und nicht jede einzelne königliche ,Aussaat‘ trug Früchte. Es gibt gelegentlich Angaben, die aufhorchen lassen, wie den Posten in den königlichen Rechnungen für 1184 über die Lieferung von Kleidungsstücken an eine Frau Bellebelle – wohl ein sprechendes Sobriquet – und die Auszahlung von £30 an eine andere amica regis.100 Derlei fehlt für 100 Given-Wilson/Curteis, Royal Bastards (1984), 99f.; 127.
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Heinrich I. (aus dessen Herrschaftszeit nur eine Pipe Roll existiert), aber es zeigt uns, wie fragmentarisch die Quellen schon zu den Königsfrauen sind. Zum anderen können auch Frauen mit Kindern unbekannt sein: Es gibt ‚Dunkelziffern‘, aber wir ahnen nicht einmal, wie groß sie ist.101 Welche Verbindungen sich als „offiziell“ nutzbar erweisen würden, mag manches Mal bereits im Vorwege recht deutlich gewesen sein; der beiderseitige Vorteil der Liaison Heinrichs mit Isabelle de Meulan aus dem franzisch-normannischen Grenzgebiet liegt auf der Hand. In ähnlicher Weise bedeutete – oder bezeichnete – Heinrichs Verbindung mit Edith, der Tochter des Forn Sigulfsson aus Cumbrien, das durch Titelverleihungen (deren konkreter Gehalt anfangs eher gering zu taxieren sein dürfte) flankierte Bündnis des rex Normanglorum mit einem lokalen Häuptling in der skandinavisch-keltischen Welt rund um die Irische See. Schon für sich genommen war dies eine wertvolle Basis, wie sie die englischen Könige jenseits der Penninen bis dahin nicht aus eigener Kraft hätten errichten können. Eine besondere Bedeutung bekam die Verbindung erst im Hinblick auf die konkurrierenden Ansprüche aus Schottland. Alexander I., der Sibylle, eine weitere Nebenfrauentochter Heinrichs I., zur Frau hatte, starb 1124. Sein Bruder David I. – am Hof Heinrichs I. aufgewachsen und mit dessen Politikstil bestens vertraut – hatte zuvor schon für Alexander in Südschottland gewaltet. Nach Heinrichs I. Zeit betrieb er erfolgreich die schottische Südexpansion und ließ sich von König Stephan das Earltum über Nordhumbrien zusichern. Davids Enkel Wilhelm ,der Löwe‘, der spätere König der Schotten, dem David 1152 das Earltum Nordhumberland übertrug, ging unter Plantagenêt-Druck die Ehe mit einer Urenkelin Heinrichs I. und dessen normannischer Nebenfrau Isabelle de Meulan ein. Außerhalb dieser Verbindung sind sechs Kinder von ihm bekannt. Soweit sich die Mütter identifizieren lassen, sind sie alle Töchter nordhumbrischer Lokalaristokraten. Da ihm Heinrich II. das Earltum schon 1157 aberkannte, als Wilhelm ,der Löwe‘ etwa siebzehn Jahre alt war, darf man davon ausgehen, dass sein polygynes Vorgehen südlich der Grenze als Erklärung seiner fortgesetzt erhobenen Ansprüche zu verstehen waren.102 Der konkurrierende Griff der englischen und schottischen Könige nach den Regionen Nordhumberland und Cumbrien/Strathclyde, jeweils unter anderen mit den Mitteln der Polygynie geführt, gab den lokalen Machthabern und ihren Frauen zeitweilig einigen Manövrierspielraum – soweit sie sich nicht verkalkulierten und „einzelne Edelfrauen und keusche Jungfrauen im Gemenge mit den anderen Frauen und der Beute verschleppt wurden, nackt, mit Seilen und Gurten zusammengebunden, mit Lanzen- und Speerstichen vorangetrieben“, wie Richard, Prior der nordhumbrischen Abtei Hexham, einen Einfall der Schotten 1138 beschreibt.103 101 Vgl. ebd., 63, die tabellarische Übersicht über 24 bekannte „bastards“ Heinrichs I., darunter einige namenlose, und (soweit bekannt) ihre Mütter, sowie das Inventar in Appendix D (vgl. Anm. 16). 102 Vgl. Owen, William the Lion (1997), 67; 82. Zu Nordhumbrien als eigenständiger Geschichtsregion vgl. Musgrove, The North of England (1990); Rollason, Northumbria (2003). 103 De gestis regis Stephani, 156: solas nobiles matronas et castas virgines, mixtim cum aliis feinis et cum praeda, pariter abduxerunt. Nudatas quoque et turmatim resticulis et corrigiis colligatas et
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Ähnlich kriegerisch ging es auch in der walisischen Mark zu, auch hier mit ,expressivem‘ Anteil durch Frauen. Mit dem Tode des Fürsten Rhys ap Tewdwr 1093 übernahmen anglonormannische ‘marcher lords’ die faktische Herrschaft in Deheubarth/Suthwallia (Südwestwales). Mehrer seiner Söhne aus unterschiedlichen Verbindungen kamen um oder flohen nach Irland. Die Tochter Nest, die mütterlicherseits aus dem Königshaus von Powys in Nordost-Wales stammte, verheiratete Heinrich I. an seinen Gefolgsmann Gerald FitzWalter von Windsor, dem die seestrategisch wichtige Burgherrschaft von Pembroke an der walisischen Südwestspitze anvertraut war. Die Chronologie ist nicht sehr klar, doch entweder noch vor oder während ihrer Verbindung zeugte der König mit Nest einen Sohn, der den Namen des Vaters erhielt – soweit bekannt, als einziger seiner Nebenfrauensöhne, obgleich andere Kinder die Familiennamen Robert, Wilhelm und Mathilde trugen – und offenbar zunächst durchaus als nachfolgefähig galt. Zum akuten Politikum wurde Nest 1106, als der westwalisische Lokalfürst Owain ap Cadwgan einen Überfall auf Geralds Burg Cenarth Blychan unternahm, mehrere Gebäude anzündete, den Burgherrn zu einer peinlichen Flucht zwang und Nest mit ihren Kindern raubte.104 Ob der Übergriff als direkter Angriff gegen Heinrich I. nicht nur als König, sondern auch als Nests Mann (und damit einen der Verlierer im Agon mit dem erfolgreichen Angreifer Owain) gemeint und/oder aufgefasst wurde, entzieht sich der direkten Beobachtung. In jedem Fall arrangierte Heinrich den Vergeltungszug Geralds nach Ceredigion – einem durch ein „starkes regionales Eigenbewußtsein“105 gekennzeichneten Teil des nichtnormannischen Wales –, der für Owain tödlich ausging und Nest den chronistischen Beinamen „walisische Helena“ eintrug. Auch in diesem Fall also ist der Kontext, durch den Übergriff von 1109 auf die Spitze getrieben, von beträchtlicher politischer Relevanz; zudem war Heinrich, der Königssohn Nests, in späteren Jahren aktiv in die walisische Politik der Monarchie eingebunden (er fiel bei der Eroberung von Ynys Môn/Anglesey 1158), und seine beiden Söhne zählten zu den wichtigsten Anführern und anschließend Landnehmern bei der anglonormannischen Invasion Irlands 1169/71. Dennoch wissen wir von der gesamten Verbindung (außer durch eine kurze Notiz in den Annales Cambriae, die Heinrich fälschlich als Sohn Heinrichs II. bezeichnet) allein aus den Werken des Giraldus Cambrensis, dessen besondere Causa scribendi für diesen Fall in dem Umstand begründet lag, dass seine Mutter eine der Töchter der Nest mit ihrem Gatten Richard war. Aus ihr begründet Giraldus seine Abkunft aus walisischen Fürstenhäusern, ein Argument für seine Anwartschaft auf copulatas lanceis et telis suis compungentes ante se illas abegerunt. Nachdem die Pikten es müde wurden, sie more brutorum animalium zu missbrauchen, machten sie die Gefangenen entweder zu ihren ancillae oder tauschten sie bei anderen ‚Barbaren‘ gegen Vieh ein. Der zeitgenössische Beobachter, wo nicht Augenzeuge Richard ergänzt, die Schotten handelten im Krieg immer so, in diesem aber noch mehr als üblich. 104 Brut y Tywysogion [„Fürstenchronik“], s. a. 1106. Die verschiedenen Versionen der Chronik bieten die Episode unterschiedlich detailliert; dies ist der allen gemeinsame Erzählkern. 105 J. B[everly] Smith, Art. Ceredigion, in: LdM, Bd. 2, Sp. 1630.
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den Bischofssitz Menevia/St Davids.106 Wäre Nests Enkel nicht zufällig ein produktiver Autor und ehrgeiziger Kirchenpolitiker gewesen, wüsste man über sie ebenso wenig wie über (vermutlich) viele andere Frauen des Königs.
Im Vergleich : der performative Aspekt Vollends im unklaren lassen uns die Quellen über den letzten, den ohnehin eher dem Bereich der kollektiven Mentalitäten angehörenden und schwer greifbaren ,performativen Aspekt‘, also jenen, bei dem die Bedeutungsgeneration nicht antizipiert wird (Nests Raub wird erst dadurch ,expressiv‘ wirksam, dass die Öffentlichkeit und König Heinrich I. von ihm erfahren), sondern im Akt selber begründet liegt (in einer Version der walisischen Fürstenchronik vergewaltigt Owain nach der Einnahme der Burg Nest noch auf der Stelle107). Gewiss ist, dass die von agrarischen Erfahrungen und physiologisch-lexikalischen Vorstellungen ohnehin nahegelegte Annäherung und Gleichsetzung von ,Frau‘ und ,Land‘ auch in Westeuropa gebräuchlich war. Bereits am Anfang der normannischen chronikalischen Tradition, bei Dudo von Saint-Quentin um 1020, werden die zu erobernde Normandie und die Frau, deren Übergabe an den Erobererhäuptling Rollo die Etablierung der Normannen an der Seinemündung besiegeln soll (Gisla, die Tochter Karls des Einfältigen), in spiegelbildlichen Wendungen als „verlassen und unbestellt“ (penitus desolata, militibus privata, aratro non exercita), aber bei entsprechender, häufiger Nutzung durch Männer sehr fruchtbar (si fuerit frequentia hominum usitata, valde erit fertilis et uberrima) beschrieben. In der Plantagenêt-Fassung der Geschichte bei Benoît um 1170 wird daraus, ebenfalls das grammatische Femininum von terre und fille nutzend, eine fast hundert Verse einnehmende Suada der normannischen Magnaten an Rollo über das Thema „Pren la!“ mit Passagen wie dieser: „Denken wir auch daran, die Erde zu bevölkern – und leben wir fortan von den Früchten, die sie für uns abwerfen wird.“108 Das ist zwar – auch – ein Echo des Gelobten Landes und der Aeneis, aber die besondere Ausmalung sowie der Umstand, dass die verschiedenen Etappen der normannischen Landnahme stets mit geeigneten Frauenfiguren verknüpft werden – dazu im folgenden mehr –, geben der chronistischen Darstellung von Performanz doch einen eigenständigen Akzent. Wie es in der Lebenswelt aussah, steht auf keinem Blatt. Immerhin ist vor diesem Hintergrund zu fragen, ob die ausgewogene humangeographische Herkunft der Frauen Heinrichs I. – eine Normannin aus dem alten Kernland, eine franzische Magnatentochter, einige Anglonormanninnen und Sächsinnen aus England, eine Waliserin, eine Cumbrierin 106 Giraldus Cambrensis, De rebus a se gestis c. 1, 9 und passim; vgl. Kightly, Medieval Wales (1988), 7f. 107 Brut y Tywysogion, Peniarth Ms. 20, s. a. 1106. 108 Dudo von Saint-Quentin II, 26; Benoît de Sainte-Maure, Chronique, v. 8580ff.: Penson de la terre popler; Sin vivum des fruiz des or més Dunt ele nos rendra adés. Auf die normannische Chronistik gehe ich unten näher ein.
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skandinavischer Abstammung und so weiter –, die als bewussten Gestus ethnischer Integration zu deuten mit Recht abgelehnt worden ist109, unbeschadet der jeweiligen konkreten Bedeutungen auf einer ‚performativen‘ Ebene vielleicht mit so etwas wie Herrschaftsvollzug zusammenhingen. Der Vergleich mit der in das Anderland ,Logres‘ transponierten aristokratischen Narrativik – etwa der eingangs angeführten Elucidation mit ihrer Geschichte von den missbrauchten Quelljungfern – ermöglicht es, die Frage zu formulieren; der Vergleich mit der Polygynie skandinavischer Herrscher, wie sie oben am Fall des Jarls Hákon erläutert worden ist, erlaubt es meiner Ansicht nach, sie vorsichtig zu bejahen. Es ist dies eine Ermessens- und eine Methodenfrage. Selbst wenn man ihr nicht beipflichten mag, bleibt für die besser fassbaren Aspekte der komparativ gewonnene Befund bestehen, dass eine – bei einigen beträchtlichen, insbesondere vom Erbrecht abhängigen Unterschieden – grundsätzlich recht ähnliche polygyne Praxis der Aristokratien Westund Nordeuropas durch Unterschiede in den Quellen ,verunähnlicht‘ wird. Die Magnatenpolygynie entzieht sich im Westen grundsätzlich der Narrativisierung, das heißt, der in den allgemeinen Erzählverlauf eingeflochtenen Autonomie der Ereignisfolge (im Gegensatz zu punktuellen Erwähnungen, die das Narrativ durchaus befördern können). Dieses Phänomen, das benediktinische Chronisten ebenso betrifft wie courtoise Lyriker, kann als ein für das hochmittelalterliche Westeuropa – jener Region, in der ab dem elften Jahrhundert das „weltliche“ und das „kirchliche Ehemodell“ in Konflikt geraten sein sollen – charakteristischer Monogamismus bezeichnet werden. Bei allen Nuancen in Form und Grundlage hatten die beiden Modelle nämlich vor allem dieses eine gemein: dass sie auf Monogamie zielten, entweder ausnahms- und unterschiedslos (das „kirchliche Modell“) oder wenigstens im Sinne einer prinzipiell von allen anderen Beziehungen eines Mannes wesentlich unterscheidbaren privilegierten Beziehungsform, die der Frau und ihren Kindern einen nicht mehr verhandelbaren Vorrang einräumte (das „weltliche Modell“ und die Unterscheidung legitimer und illegitimer Kinder). Vor einer abschließenden Wertung ist allerdings ein Blick auf die eine große Ausnahme von dieser Regel nötig, nämlich die Chronistik der Normannenherrscher vor 1066.
Polygynie als politisches Prinzip : Die Normandie Die eigentümliche normannische Repräsentation der eigenen Polygynie ist eine der vielen Seiten der generellen Eigentümlichkeit der „Normandie vor 1066“, jener Eigentümlichkeit, die heute zunehmend wieder als solche anerkannt wird, nachdem die Forschung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einer verständlichen und auch notwendigen Reaktion gegen die insbesondere im imperialen Großbritannien gepflegte Perpetuierung des ‘Norman Myth’ dazu übergegangen war, die Diskontinuitäten des zehnten Jahrhun109 Vgl. Thompson, Affairs of State (2003); die Vorstellung beruht offensichtlich auf dem gegenwärtig wiedererwachten prä- und postmodernen Interesse für Ethnizität.
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derts herunterzuspielen und den Akzent auf die Fortdauer karolingischer Strukturen sowie die rasche Assimilation der nordischen Neulinge an die vorhandene westfränkische Gesellschaft zu legen.110 Die ältere Tendenz, die normannischen Eigenarten – insbesondere die konzentrierte Expansionskraft, die sich an den Eroberungen Englands und Siziliens erweist und in der Geschichte des europäischen Mittelalters wohl tatsächlich keine Parallele hat – in ethnischen Begriffen unter Hinweis auf die skandinavisch-wikingische Qualität der Northmanni zu erklären, dürfte sich damit auf Dauer erledigt haben. Andererseits riskiert man mit der Forderung, die normannische Geschichte des 10./11. Jahrhunderts ausschließlich in ihrem französischen Kontext zu betrachten111 und die Kontinuität karolingischer Strukturen auch während der zum ‚Ereignis‘ geschrumpften Invasionen zu betonen, dass die Aussagen der notwendigerweise lateinisch-karolingischen Schriftzeugnisse für zuverlässige Zustandsbeschreibungen statt für hilflose oder hoffnungsvolle Beschwörungen besserer Zeiten gehalten werden. Die Debatte über die ebenfalls in den Jahrzehnten um 1000 verortete ,mutation féodale‘ hat jedenfalls gezeigt, dass urkundliche Stabilität durchaus einen verzweifelten Konservativismus im Angesicht von allzu raschem Wandel bezeugen kann.112 Manche Argumente für das Erlöschen karolingischer Ordnung – etwa der Hinweis auf die Nichtexistenz einer herzoglichen Kanzlei und den kleinen, den Rahmen eines itineranten Gefolges nicht übersteigenden normannischen ,Hof‘ – erledigen sich zwar in dem Maße, wie sich für das postkarolingische Europa insgesamt die Vorstellung von „Herrschaft ohne Staat“113 durchsetzt. Bemerkenswert bleibt aber, dass sogar die kirchliche Struktur gegen 900 in weiten Teilen der späteren Normandie auf Dauer zusammenbrach114 und eine institutionelle Rechristianisierung mit der Wiedererrichtung der Bischofssitze und Neugründung von Klöstern ebenfalls erst nach 1000 einsetzte. (Die für das ,Altland‘ der römischen Kirche einzigartige Koextension der Kirchenprovinz mit dem sich ab 1000 festigenden Fürstentum115 ist einer der Faktoren, 110 Vgl. für diese Sicht prononciert Bates, Normandy before 1066 (1982), und neuerdings Lifshitz, La Normandie carolingienne (1998). 111 Bates, Normandy before 1066 (1982), xviii: „eleventh-century Normandy must be analysed entirely in its French context.“ Allerdings warnt Bates, 16, vor den zu seiner Zeit aktuellen Tendenzen, den skandinavischen Einfluss auch für das zehnte Jahrhundert zu minimieren. 112 Vgl. White, ,Feudal Revolution‘ (1996). Lifshitz, Norman conquest (1995), weist aufgrund der Analyse hagiographischer Texte auf Anzeichen einer tiefgehenden ,religiös-psychologischen‘ Krise zur selben Zeit hin: Während die Dämonen in Texten aus der Zeit vor den Invasionen fast ausschließlich im Zusammenhang mit Versuchung oder Krankheit erscheinen, sind sie in späteren Texten beunruhigend allgegenwärtig, und ganze ,Straßengangs‘ von ihnen verunsichern Rouen. 113 Vgl. Althoff, Ottonen (2000). 114 Von den sieben Diözesen der Kirchenprovinz Rouen sind die Bischofslisten unterbrochen (bzw. Bischofssitze verlassen) für Avranches 862 – 990, Bayeux 876 – um 1000, Sées ab 910, Coutances ab etwa 900–1025. 115 Entsprechendes gilt meines Wissens nur noch für das katalanische Erzbistum Tarragona, das allerdings 1089 aus der Narbonensis ausgegliedert („wiedererrichtet“) wurde und damit der säkular begründeten territorialen Kohäsion folgt, nicht ihr vorausgeht.
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die für die bemerkenswerte politische Kohäsion des elften. Jahrhunderts entscheidend wurden.) David Bates’ Formel von der „heavy institutional continuity combined with a drastic rupture in the personnel of the ruling classes“116 ist von Eleanor Searle, die 1988 mit deutlich ,alterisierender‘ Darstellungsabsicht die partikulare politische Kultur der Normandie monographisch analysiert hat, überzeugend zurückgewiesen worden. Die Vernichtung oder Ignorierung vorgefundener Herrschaftsträger als Kennzeichen dieser (und späterer) normannischer Eroberungen erlaubt Eleanor Searle zur Verteidigung der oben zitierten Passage von Dudo über das „verlassene, ungepflügte, entvölkerte Land“ mit allerdings enormem Exploitationspotential die Bemerkung, in gewisser Hinsicht kämen die Normannen immer nur in ,leeres Land‘.117 Ihre radikale Ignoranz gegenüber den jeweils vorgefundenen lokalen Führungsgruppen ist zweifellos ein Charakteristikum normannischer Landnahmen – im Gegensatz übrigens auch zur skandinavischen Expansion auf die atlantischen Inseln und entlang den osteuropäischen Strömen, die bei aller habitualen Gewaltausübung regelmäßig in Bündnisse mit lokalen Magnaten mündete. Inzwischen hat Klaus van Eickels in abgewogener Weise die normannische politische Kultur in ihrer Eigenständigkeit beschrieben und dabei verdeutlicht, in welcher Weise originäre, auf skandinavischem Hintergrund zu verstehende Männlichkeitskonzepte nicht nur in der politischen Praxis wirksam wurden, sondern auch für die reflektive Selbstbeschreibung und Abgrenzung (insbesondere gegenüber der Francia) nutzbar gemacht wurden.118 Auf ähnliche Weise, nicht als quasi-essentielles kulturelles ,Erbe‘, sondern als unter kontingenten Umständen entwickeltes und reflektiertes kulturelles System, ist die Polygynie der ,Jarle von Rouen‘119 zu verstehen. Ihre Schlüsselfigur ist Gunnor/Gunnvör. Geboren um 950, gestorben 1031, ist sie als ,Konkubine‘ und spätere ,Ehefrau‘ Richards I. (r. 942–996) und Mutter Richards II. (r. 996–1026) ein Teil der normannischen Dynastiegeschichte.120 Rund siebzig Jahre lang stand sie also nahe dem Mittelpunkt des herzoglichen ,Hofs‘, die letzten Jahrzehnte in herausgehobener Stellung, wie die von ihr bezeugten Akten und insbesondere ihre Placierung darauf belegen: nach ihrem Sohn Richard, dem Herzog; insgesamt gleichauf mit 116 Bates, Normandy before 1066 (1982), 16. 117 Searle, Predatory kinship (1988), 242, gegen Bates, Normandy before 1066 (1982), 11, für den die Behauptung von einer (wörtlich genommenen) Bevölkerungsleere durch die Forschungen von Lucien Musset und Jean Yver zur Agrar- und Handelsstruktur „für immer widerlegt“ seien. 118 Van Eickels, Domestizierte Maskulinität (2002); ders., Vom inszenierten Konsens (2002). 119 Als Rúðujarlar bezeichnen die Sagas die Normannenfürsten; vgl. HsH c. 24, KnS c. 9. In den normannischen Chroniken und Urkunden wird der Titel dux vor 1066 zwar verwendet, der Gebrauch ist aber weder majoritär (comes ist am häufigsten) noch konsequent. Die Häuptlinge/Herrscher/ Fürsten von Rouen als „Herzöge“ zu bezeichnen, ist konventionell. Unter dieser Voraussetzung wird der Titel auch hier gebraucht. 120 Eine Zusammenstellung der bekannten biographischen Daten sowie einen Kommentar zu ihrem möglichen literarischen Patronat bietet Van Houts, Countess Gunnor (1999).
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ihrem Sohn Robert, dem Erzbischof von Rouen; vor den Gattinnen des Sohnes.121 Ihre Bedeutung für die normannische Geschichte geht aber weit darüber hinaus. In der tiefgreifenden Umwälzung und Erneuerung der normannischen Führungsgruppe während der zweiten Hälfte der Regierungszeit Richards I. fiel ihr, entweder als Symbol oder als Akteur122, die entscheidende Rolle zu. Die sich in dieser Zeit unter beträchtlichem kriegerischem Druck ad hoc formierende normannische politische Kultur beruhte auf zwei Prinzipien: Erstens war die Fürstenlinie agnatisch zu denken, der jeweilige Herrscher hatte immer nur einen erbfähigen Sohn – ganz anders also als in Skandinavien; in dieser Hinsicht ähnlich wie bei den Ottonen vielleicht. Weitere Söhne wurden ignoriert oder mit Bistümern versehen; dass der Ausschluss von der Nachfolge anders als in vielen westeuropäischen Häusern des 10./11. Jahrhunderts in fast allen Fällen funktionierte, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Stärke der Gruppenkohäsion. Zweitens betrachtete sich die gesamte Führungsgruppe als kognatisch versippt und wählte Gunnor – respektive ihr namenlos bleibendes „edles dänisches“ Elternpaar – zur Spitzenahnin.123 Als der fränkische, in der Normandie bepfründete canonicus Dudo von Saint-Quentin um 1015/26 seine bahnbrechende Normannengeschichte (genannt De 121 Ebd., 17 (insgesamt 11 Dokumente). Es handelt sich zur Hälfte um Originale, sonst überwiegend Kartularüberlieferung. 122 Searle, Dudo of Saint-Quentin (1984), und dies., Predatory kinship (1988), nimmt an, die durch den fränkischen Druck bereits ähnlich wie die normannischen Siedlungen an der unteren Loire und Schelde in ihrem Bestand bedrohten Landnehmer um Rouen und im Pays de Caux (der Küstenlandschaft zwischen unterer Seine und Ärmelkanal) seien um 960/70 durch die Ankunft neuer Krieger und Siedler mit Schwerpunkt im Cotentin entscheidend verstärkt worden. Die Bereitschaft der Neuankömmlinge, den vorgefundenen ,Häuptling‘ und seinen christlichen Kultus zu akzeptieren, habe die eigentliche Gründung der Normandie markiert; Gunnor sei als Tochter eines Exponenten dieser ,Neuen‘ zu verstehen und ihre herausgehobene Stellung daraus erklärlich. Selbst wenn man sich dieser Hypothese nicht anschließen mag, bleibt Gunnor, deren „edle“ und „dänische“ Abkunft in fast allen Texten betont wird, eine Symbolfigur der Betonung normannischer Partikularität gegenüber den genealogisch stets fruchtlosen fränkischen Ehen der Herzöge. Duby, Frauen im 12. Jahrhundert (21999), 277, hält Gunnors noble/dänische Abkunft für dynastische Enkomiastik ohne faktische Basis, ohne zu erklären, warum eine solche Herkunft seiner Ansicht nach unmöglich gewesen sein sollte. Zu dokumentarischen Belegen für die Begüterung von Gunnors Vorfahren im Cotentin vgl. Searle, Dudo of Saint-Quentin (1984), 135; Van Houts, Countess Gunnor (1999), 8f. 123 Für Einzelheiten vgl. die genealogischen Tafeln 1–7 in Searle, Predatory kinship (1988); White, Sisters and nieces (1921), 57–65 und 128–132; mehrere Einzelstudien in Keats-Rohan, Family trees (1997); Green, Aristocracy (1997); grundlegend Klapisch-Zuber, L’ombre des ancêtres (2000). Von Gunnor, ihrem Bruder Herfast/Árnfast, zwei Schwestern und fünf Nichten leiteten sich, den um die Mitte des 12. Jahrhunderts von Robert de Torigni gesammelten und in die Gesta Normannorum ducum interpolierten Auskünften zufolge, das Herzogs-Königshaus sowie die Warenne, Giffard, Mortimer, Beaumont, Montgomery, Clare, FitzOsbern sowie zahlreiche in der Folge minder bedeutende Nebenlinien ab. Diesem genealogischen Wissen zufolge – das auch praktiziert wurde, sogar wenn es nachteilig wirkte, wie bei dem gescheiterten Versuch Heinrichs I., eine Nebenfrauentochter an Walter de Warenne zu verheiraten – gab es in der (anglo)normannischen Aristokratie ab etwa 1030 fast nur noch endogame Eheverbindungen.
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moribus et actis primorum Normannorum ducum) verfasste, sprachlich-stilistisch den gerade im tonangebenden westsächsischen England gepflegten rhetorischen Ornat und inhaltlich offensichtlich die Erwartungen seiner Protektoren bedienend124, standen ihm als ,Gewährsleute‘ (huius operis relatore[s]) und Stichwortgeber zwei betagte Mitglieder der Führungsgruppe zur Seite. Der eine, Radulf von Ivry, war der uterine Bruder Richards I., der Sohn einer ehemaligen Frau des Wilhelm Langschwert (r. 930 – 942)125 aus einer späteren Verbindung. Die andere war Gunnor selber, „mit ihrem enormen Gedächtnis eine Schatzkammer von Erinnerungen“126. Wie keine andere war die Zeitzeugin von sechs Jahrzehnten normannischer Geschichte geeignet, die Aufgabe zu erfüllen, die Matronen wie ihr zukam, nämlich die Stabilisierung der Memoria ihres Hauses.127 Angesichts des Umstandes, dass wir über ihre historiographische Initiative so viel besser unterrichtet sind als über ihre Aktivität in der Organisation des kirchlichen Totengedenkens, ist es übrigens ein reizender Gedanke, ihr Engagement bei der Wiedererrichtung des Bistums Coutances128 nicht allein – wie bisher vertreten129 – auf ihre vermutliche familiale Herkunft aus dem Cotentin und lokale Solidaritäten zurückzuführen, sondern mit dem von Orderic Vitalis berichteten Gründungsmythos der civitas in Beziehung zu setzen. Constantius Chlorus, seiner clementia und seines unter anderem in dem konsequenten Verzicht auf Christenverfolgungen bestehenden Nutzens für die Sache Gottes wegen130 eine Art Protochrist, gründet demnach im äußersten Neustrien eine Stadt namens Constantia. „In dieser Provinz hatte er nämlich eine Konkubine namens Helena, mit der er Konstantin den Großen zeugte, den späteren Gründer von Konstantinopel.“131 Das zweite, eigentlich demnach sogar erste Byzanz am Ärmelkanal ist ein schönes Beispiel für die normannische Bereitschaft zur Hyperbel. Wenn die toponomastisch sugges124 Vgl. L[ucien] M[usset]/G[illette] T[yl]-L[abory], Art. Dudon de Saint-Quentin, in: Dictionnaire des lettres françaises, Bd. 1 (21992), 393f. 125 Dudo selber nennt sie (III, 42) „ein gewisses sehr edles Mädchen von anziehender Erscheinung“ und lässt einen versifizierten Appell der Magnaten folgen, der martyr Clioneus möge sich um der Staatsraison willen ihrer „gesetzlichen Umarmung“ ausliefern. Für Flodoard von Reims ist sie eine Bretonin, wohl eine Beutefrau also. 126 Dudo IV, 125: capacisque memoriae et recordationis thesauro profusius locupletat[a]. 127 Vgl. Shopkow, History and community (1997); Van Houts, Memory and gender (1999); dies., History and family traditions (1999; Artikelsammlung). Zu Gunnors Rolle in der Literaturproduktion vgl. Ziolkowski, Jezebel (1989); Van Houts, Jezebel and Semiramis (1992); Bate, Les normands et la littérature latine (2000). 128 Seine Bischöfe amtierten seit einiger Zeit im ,Exil‘ an einer Kirche in Rouen, doch erst 1025 kam es zur Neugründung an dem fast anderthalb Jahrhunderte zuvor verlassenen Bischofssitz im westlichen Cotentin. Gunnor war bei der Grundsteinlegung präsent. – Vgl. Toussaint, Coutances des origines à nos jours (1979). 129 Van Houts, Countess Gunnor (1999), 8f. 130 HE V 9 (unter Berufung auf Eusebius): homines multa clementia, erga Deum uero religione utebatur maxima... 131 Ebd.: et in ipsa prouincia concubinam nomine Helenam habuit, ex qua Constantinum magnum conditorem postea Constantinopolis genuit.
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tive Idee bereits ein Jahrhundert vor Orderic zur Zeit der Neugründung der Kathedrale lanciert worden sein sollte, so ist leicht einzusehen, welche besondere Veranlassung Gunnor, die einstige concubina Richards I., und ihr gleichnamiger Sohn haben mochten, die Geschichte zu wiederholen und so die lokale Herrscherpolygynie mit heilsgeschichtlichem Sinn auszustatten: ,Konkubinen‘söhne werden epochale Weltherrscher.132 Ähnliches geschieht in der von Gunnor und dem ihr verschwägerten Radulf initiierten Geschichtsschreibung. Wenn, was wohl unstrittig ist, der seit Dudo gewachsene ,normannische Mythos‘ Züge der Geschichte des Erwählten Volkes trägt133, dann ist die konsequent außereheliche Sukzession ausdrücklich gottgewollt. Unter diesem Aspekt bietet die normannische Historiographie von Dudo (um 1020) über Wilhelm von Jumièges (um 1060) und seine Interpolatoren Orderic Vitalis und Robert de Torigni (um 1110/1150) bis hin zu den französischen Versifikationen der Plantagenêt-Zeit (Wace um 1150, Benoît um 1170) eine Gelegenheit, die die sämtlich der Zeit um 1200 entstammenden Verschriftlichungen nordeuropäischer Geschichte vermissen lassen, nämlich die Fortführung, Anwendung und Anpassung der Bestandteile einer sich etablierenden Tradition über fast zwei Jahrhunderte hinweg zu verfolgen. Dabei ist festzustellen, auf welche Weise die verschiedenen Historien mit denselben ab Dudo etablierten Situationen von Polygynie operieren, um eine markante Abweichung erzählbar zu machen: In der Normannengeschichte wird Legitimität ausschließlich durch Beziehungen vermittelt, die anderswo als illegitim gelten.
Die Beute des Eroberers : Rollo und Popa Der Erobererherzog Rollo/Hrólf nimmt, wie es sich gehört, eine Stadt und ein Mädchen zugleich. Von Rouen und der unteren Seine aus betrachtet, wo sich Rollos Trupp zunächst eingerichtet hat, ist Bayeux, die Bischofsstadt in der fruchtbaren Kalkebene des Bessin, der Schlüssel zur Westexpansion – der einzigen landseits möglichen, da im Osten und Süden der fränkische Druck übermächtig wird.134 Die Reichtümer des Bessin sind es auch, die zuerst die Aufmerksamkeit wecken: es herrscht Nachschubnot bei den Plün132 Jedenfalls hat schon Radulf Glaber (Historiae IV 6) fast noch zu Gunnors Lebzeiten das normannische System, nur Konkubinensöhne zu Fürsten zu machen, mit den alttestamentlichen Jakobssöhnen und mit dem proto-Christicola Konstantin gerechtfertigt. Der burgundische Mönch wird in der Normandie nicht bekannt gewesen sein, belegt aber, dass der Gedanke möglich und vielleicht geläufig war. 133 Vgl. Davis, Normans (1976); Musset, Idée (1993). 134 Der Begriff der ,Expansion‘ geht an der Realität der ersten Jahrzehnte nordischer Landnahme sicher vorbei, die viel defensiver zu denken ist, als es die Jeremiaden fränkischer Annalisten suggerieren. Besser wäre es wohl zu sagen, Rollo habe sich gegenüber dem fränkischen Druck wenigstens den Westen als Rückzugsgebiet und Ravitaillementbasis sichern müssen. Vgl. jetzt Bauduin, La première Normandie (2004); zur Toponymie zuletzt Lepelley, Trace (2002).
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derzügen seineaufwärts, und man musste schon die Angriffe auf Paris unterbrechen (das Land der Robertiner also, die bei Dudo und seinen Nachfolgern aus aktuellem Anlass zu den ,natürlichen Feinden‘ der Normannen werden, gilt von Anfang an als der eigentliche Gegner). Doch auch Bayeux, von dem tapferen comes Berengar verteidigt, ist keine leichte Beute; die fränkischen Verteidiger nehmen sogar den normannischen Anführer, Rollos getreuen Botho, gefangen, und um ihn zurückzubekommen, müssen sich die Normannen auf einen einjährigen Frieden einlassen. Das erlaubt ihnen, sich wieder um Paris zu kümmern und nach Ablauf der Frist mit Rollo an der Spitze wiederzukommen, um die Stadt Bayeux nun „zu begehren, sie mit Gewalt zu nehmen“135 und reiche Beute zu machen. Außerdem gefiel es Rollo, ein Mädchen namens Popa mit sich zu führen, das schön anzusehen war, geboren aus stolzer Linie, Tochter des mächtigen Berengar; und er nahm sie zur Ehe und zeugte mit ihr einen Sohn namens Wilhelm.136
Niemand konnte (und sollte) im Zweifel darüber sein, welcher Art diese „Ehe“ war: Der zweite Herzog der Normandie, so wünschten es die führenden Köpfe ein Jahrhundert später für die Nachwelt festzuhalten, war nicht nur „aus edlem Stamm von einem dänischen Vater, nämlich Rollo, und einer fränkischen Mutter, nämlich Popa“137 – er war auch, damit die politischen Proportionen gegenüber der kürzlich an die Kapetinger übergegangenen Francia gewahrt blieben, der Sohn eines skandinavischen Eroberers und eines fränkischen Beuteweibs. Wilhelm, der Mönch der bereits von Wilhelm Langschwert begünstigten Abtei Jumièges zwei Seineschleifen flussabwärts von Rouen, der es rund dreißig Jahre nach Dudo unternahm, Dudos ornamentales Epos in benediktinischer Nüchternheit neu zu erzählen, hat keinen mehrjährigen Kampf um Stadt und Frau. Bei ihm fällt Bayeux, es gibt ein Gemetzel, und dort nahm Rollo auch ein sehr edles Mädchen namens Popa, die Tochter des hervorragenden Berengar, gefangen und nahm wenig später eine Verbindung nach dänischer Art mit ihr auf. Mit ihr zeugte er Wilhelm und eine sehr schöne Tochter namens Gerloc.138
135 Dudo II, 16: Baiocas petit, eamque violenter cepit... Klassisch könnte man petere auch einfach als „angreifen“ übersetzen – aber das läuft aus Feldherrensicht in mancher Hinsicht auf dasselbe hinaus. 136 Ebd.: Quin etiam quamdam Popam virginem, specie decoram, superbo sanguine concretam, praevalentis principis Berengarii filiam, secum laetus adduxit eamque sibi connubio ascivit, et ex ea filium nomine Willelmum genuit. Zur Kontextualisierung vgl. zuletzt Bauduin, Chefs normands (2005). 137 Ebd. III, 36: ex prosapia insigni, patre Daco, scilicet Rollone, matre Francigena, videlicet Poppa... 138 GND II, 6: in qua [sc. urbe=Bayeux] quamdam nobilissimam puellam nomine Popam, filiam scilicet Berengerii illustris uiri, capiens non multo post more Danico sibi copulauit. Ex qua Guillelmum filium genuit filiamque nomine Gerloc ualde decoram.
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Auch der Mönch verzichtet also nicht auf das so einleuchtende Wortpaar urbs capta– puella capta, das die Normannen, zu deren Fremdbeschreibung durch die fränkischen und englischen Annalen der siegreiche Frauenraub längst gehörte139, anscheinend gern in ihre Eigenbeschreibung aufnahmen und dem Dudo mit seinem eindeutig-zweideutigen Wortgebrauch bereits gerecht geworden war. Ungemein erfolgreich ist aber seine Erfindung der „Verbindung nach dänischem Brauch“ (puellam... more Danico sibi copulauit) gewesen. Der Versuch des von Haus aus auf einen gewissen Monogamismus verpflichteten Benediktiners, den Jungfrauenraub seiner Fürsten mit dem Hinweis auf deren Herkunft sowohl zu entschuldigen als auch zu nobilitieren, hat sich nicht nur bei seinen mittelalterlichen Nachfolgern durchgesetzt, sondern auch zahlreiche moderne Forschungen und Darstellungen um eine spezifisch normannische Variante der sogenannten Friedelehe bereichert.140 Wilhelm schrieb ungefähr im Zeitraum 1060/70141, als die Konzilien der Kirchenprovinz Rouen gerade mit der Rezeption der neuen Sexualmoral begannen142, und fand mit dem Hinweis auf die Sitten der Neubekehrten (die fränkischen Ehen werden bei Wilhelm nämlich Christiano more geschlossen) eine gelungene Formel, die die Anwendbarkeit der seit der Spätantike geläufigen Bestimmungen zur Tolerierbarkeit des Konkubinats bei gegebener affectio, Dauer und Exklusivität möglich machte. Doch so sehr die Formel den oft gehegten Vorstellungen von kulturell irreduzibler Ethnizität entgegenkommen mag, gibt es nicht den geringsten Hinweis auf ein lebensweltlich existentes Institut dieser Art – allenfalls insofern, als die wie selbstverständliche Ansammlung von Frauen um den Häuptling Rollo einem monastischen Beobachter aus einer auf ihre merowingische Tradition stolzen Abtei143 tatsächlich als ein mos Danicus erschienen sein mag. Popa jedoch, oder 139 Vgl. die Belegsammlung bei Zettel, Bild der Normannen (1977), 133ff. 140 Sehr einflussreich in dieser Richtung war die in der führenden historischen Zeitschrift der Normandie erschienene Studie von Elizabeth Eames, Mariage et concubinage légal (1952), in der auf damaligem Forschungsstand die friðla als Quasi-Ehefrau in einer freien Konsensehe beschrieben und dieser Befund auf die angebliche Verbindungsform more Danico übertragen wurde. Zahlreiche spätere Forscher haben in ähnlicher Weise eine besondere frühnormannische Verbindungsform angenommen, die viel Ähnlichkeit mit dem eheähnlichen exklusiven Dauerkonkubinat hat, wie es im Kirchenrecht seit der Spätantike bis zum Decretum Gratiani begegnet – das Vorbild, das auch Wilhelm von Jumièges vorgeschwebt haben dürfte. 141 Gesta Normannorum ducum (1998), xxxii. 142 Lisieux 1055 (Absetzung von Mauger, ‚illegitimem‘ Sohn Richards I., als Erzbischof von Rouen) und Rouen ~1060 enthalten Bestimmungen zum Priesterkonkubinat, die elaborierteren Canones von Rouen 1072 und insbesondere Lillebonne 1080 berühren auch Fragen von Scheidung und Inzest; vgl. Foreville, Synod of the province of Rouen (1976), 19–39. Zu Mauger mehr im Folgenden. 143 Die im siebten Jahrhundert gegründete, während der Invasionen aufgegebene Abtei war nach zögernden Anfängen um 940 erst im frühen elften Jahrhundert wieder etabliert. – Neben dem nach wie vor fundamentalen Sammelwerk Jumièges. Congrès scientifique du XIIIe centenaire (1955), und der Überblicksdarstellung von LeMaho, L’Abbaye de Jumièges (2001), vgl. zur Geschichte des Klosters während der Invasionen jetzt Keats-Rohan, Francs, Scandinaves ou Normands? (2005), und prosopographisch Gazeau, Normannia monastica, Bd. 2 (2008), 143–170.
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vielmehr ein real existierendes Mädchen in einer Situation, die derjenigen von Dudos und Wilhelms chronistischer ,Popa‘ entsprach, wäre jedenfalls tatsächlich eine von jenen gewesen, die ihr nachträgliches Avancement zur Quasi-Gattin – ähnlich wie im Falle des Jón Loptsson (vgl. Kap. 2) – der Wahl ihres Sohns zu Rollos Nachfolger verdankte. Tatsächlich lässt Wilhelm von Jumièges seine ,Popa‘ verschwinden, sobald Rollo im Gefolge des sogenannten Abkommens von Saint-Clair-sur-Epte 911 Christiano more die Lavinia-Figur der Gis(e)la, die Tochter Karls des Einfältigen geheiratet hat. Erst nach deren kinderlosen Tod, so versichert er (und es ist im Text keine Spur von Augenzwinkern auszumachen), habe der Herzog seine Beziehung mit der verstoßenen Popa, die ihm den bereits erwachsenen Sohn Wilhelm geschenkt hatte, wieder aufgenommen:144 Dem Buchstaben des Kirchenrechts ist Genüge getan. Wenige Jahrzehnte später hatte sich die Interessenlage verschoben. Die allmähliche Integration der Niederen in die Obere Normandie, noch um 1050 keineswegs abgeschlossen, verlor angesichts der Eroberung Englands viel von ihrer Bedeutung. Bayeux war nicht mehr der Gegenpol zu Rouen145, sondern das Bistum von Wilhelms Halbbruder Odo, einem der Hauptakteure bei der Etablierung der Normannenherrschaft in England. Als der von Jersey gebürtige, in Caen aufgewachsene clericus Wace um die Mitte des zwölften Jahrhunderts als Protégé von Heinrich II. Plantagenêt seinen Roman de Rou begann, setzte er den Akzent dann auch ganz anders: Der Graf Berengar hatte eine sehr schöne Tochter. Man nannte sie Popa, sie war ein sehr edles Mädchen. Sie hatte noch keinen Busen, nicht einmal den Ansatz von Brüsten; es gab keine edlere Frau noch ein edleres Fräulein. Rou [=Rollo], der sie sehr begehrte, machte sie zu seiner Geliebten (amie); sie gebar Guillaume mit dem Beinamen Langschwert.146
144 GND II, 15: Per idem tempus morte preuenta uxor eius absque liberis moritur et dux repudiatam Popam ex qua filium nomine Willelmum iam adultum genuerat, iterum repentens, sibi copulauit. Dudo berichtet nichts von dieser Wiederkehr. 145 Bei Dudo (IV, 68) lässt Wilhelm Langschwert seinen Sohn Richard nach Bayeux senden, um dort nach der in Rouen erworbenen Romana auch die Dacisca eloquentia zu lernen. Alle daran anschließenden Debatten über das regionale Weiterleben des Nordischen sind gegenstandslos; wie in Dudos Fortsetzung, insbesondere dem berühmten neuntägigen Palaver mit den heidnischen Dänenhäuptlingen deutlich wird, geht es nicht um Spracherwerb, sondern um Beredsamkeit und die Einübung des spezifischen, ,dänischen‘ Politikstils der eigenständigen Häuptlinge im Westen. Die angeblich schon 924/933 angesetzte Ausdehnung der Herrschaft Rouens auf die gesamte spätere ,Normandie‘ ist nachträgliche Fiktion des auf territorial-familiale Kohäsion bedachten elften Jahrhunderts. Vielmehr wahrte der Westen, vor allem das Cotentin – naturräumlich recht klar geschieden von der Ebene um Caen und dem unteren Seinetal – lange eine merkliche Distanz zur Entourage der Fürsten. Selbst an der Eroberung Englands war er kaum beteiligt, engagierte sich aber bald umso mehr in Sizilien. 146 Wace, Roman de Rou, Bd. 2, v. 591–596: Li quens Berengier out une fille moult bele, Pope l’apeloit l’on, moult ert gente pucele, N’avoit encor eu sain ne triant ne mamele, Ne savoit l’en plus gente dame ne dameisele. Rou en a fait s’amie, qui moult l’a desiree, De li‚ fu nez Guillaume qui out non Longue Espee.
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Keine Spur mehr von mos Danicus: Das Objekt der Begierde gleicht bis ins Detail den puellulae und iuvenculae anderer aristokratischer Eroberungszüge auf heimischem Territorium. Man darf darüber aber nicht die Gewandtheit des anglonormannischen clerc verkennen, mit der er die ihm durch Dudo und durch Wilhelm von Jumièges vorgegebene Gleichsetzung von Mädchen und Burg aufgreift und als zu grob für einen höfischen Roman unter dem biblischen Zitat gewissermaßen intertextuell verschwinden lässt: „Sie ist noch klein und hat noch keine Brüste... ,Ich bin eine Mauer, und meine Brüste sind Türme!‘“147 So wird Rollo auf zusätzliche, exquisite Weise zu einem neuen Salomo. Die Nachfahren brauchen sich ihrer Herkunft nicht zu schämen – ein heikler Punkt im Hinblick auf Heinrichs Urgroßvater Wilhelm ,den Bastard‘, den man gewöhnlich in der Umgebung des Königs besser nicht ansprach.148 Eine solche amie verdient es dann auch, nach dem kinderlosen Tod der Königstochter Gisela selber die Spitzenposition zu erlangen: „Danach heiratete Rou Popa und behielt sie lange.“149 Waces Nachfolger als courtoiser Plantagenêt-Hofhistoriograph, Benoît de Sainte-Maure, änderte zwanzig Jahre später nur wenig an dem Modell, machte aber aus Waces sechs Alexandrinern 42 Achtsilber. Aus der präpubertären Trouvaille wird dabei eine höfische Schönheit gemäß einer bereits zum Standard gewordenen descriptio puellae mit einem nur leicht gewagten Akzent: Rou sah sie so angenehm, so schön und so wunderbar anzuschauen: so schönes Haar, ein so schönes Gesicht, frischer als Rose und Lilie; ein so schöner Mund, so schöne Augen, in denen sich nicht Falsch noch Stolz fand, eine so wohlgeformte Figur und so schöne Arme – mehr Worte wage ich nicht zu machen.150
Ganz will sich Benoît von der älteren Vorlage anscheinend nicht lösen, bemerkt er doch im Folgenden noch einmal, wie beim Anblick ihres Gesichts und ihrer schönen Brust 147 Ct 8,8;10: soror nostra parva et ubera non habet (...) „ego murus et ubera mea sicut turris“. 148 Eine Episode in der Großen Vita des Hugo von Lincoln (III, 10) beschreibt, wie der Bischof, in gespannter Situation zum König zitiert, sich trotz massiver Inszenierung königlichen Zorns in den im Wald rastenden Kreis seiner Jagdgefährten hineindrängt und nach einiger Zeit das nervöse Schweigen bricht, indem er dem mit Nadel und Faden an einem Fingerverband herumstochernden König zumurmelt: „Wie du doch deinen Gesippen aus Falaise ähnelst“ (quam similis es modo cognatis tuis de Falesia). Der König kann fast nicht glauben, dass man es wagt, auf die angeblich niedere Herkunft der Mutter Wilhelms des Eroberers anzuspielen, und bricht in einem Lachkrampf zusammen. Die wenigen, die Hugos Worte gehört haben, wollen ihren Ohren auch kaum trauen: mirantur enim supra modum sub tali articulo tale improperium tanto principi ab homine tali fuisse intortum. Als der König sich gefasst hat, erklärt er den Scherz sogar. 149 Ebd., v. 1289: Donc espousa Rou Pope, qu’il tint puiz longuement. 150 Benoît de Sainte-Maure, Histoire, v. 6295–6302: Cele vit Rou si agraable, Si bele e si tres remirable, Si tres beiaus chés, si tres biaus vis, Plus freis de rose e flor de lis, Si belle boiche e si beiaus oiz Ou n’apareist mau ne orguiz, Si bien fait cors e si beiaus braz. Autre parole n’os en faz.
Die Beute des Eroberers: Rollo und Popa
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„der ganze Sinn des Herzogs von Verlangen erfüllt wurde“.151 Aber was ihn erfüllt, ist ,höfische Liebe‘, fine amor, und nichts hindert die beiden noch, in ethnischer Feierlichkeit – die Benoît also wieder einführt – zusammenzufinden: Nach dem Brauch und dem Gesetz, das in Dänemark die Dänen haben, hat er sie mit großer Feierlichkeit in großer Freude und Heiterkeit zur Frau genommen. Viel Ehre hat er ihr erwiesen.152
Wilhelms ein Jahrhundert alte Erfindung drängt sich gerade noch zur rechten Zeit in den Roman, musste man sich doch bereits fragen, wo denn noch der Unterschied sei zwischen Pope, der höfischen Geliebten des Urahnen Rou, und Bellebelle und den anderen, die die Rechnungsbücher und das Bett des regierenden Königs schmückten – deren Söhne aber nicht zu Alleinerben aufstiegen. Der laikale Monogamismus, der die Sukzession im angevinischen Reich regelte, war eine womöglich noch brisantere Angelegenheit als sein kirchliches Gegenstück, mit der Wilhelm von Jumièges hatte rechnen müssen. Für den Fall, dass costume und lei der dänischen Ahnen auf die Dauer nicht ausreichen, lässt Benoît das Liebespaar nach dem Tod der fränkischen Zweckgemahlin zusätzlich noch in rechter Konsensehe zusammenfinden: „Als sie tot war, nahm er Pope wieder zu sich und heiratete sie (l’esposa), denn sie liebte er am meisten. Ohne Böswilligkeit hatte er sie verstoßen für die Tochter des Königs von Frankreich, doch nie hatte er die große Liebe vergessen, die er für sie gehabt hatte.“153 Aus der wikingischen Beutefrau ist die Heldin eines Liebesromans geworden. Die einzige Konstante der ‚Popa‘ ist die wechselnd begründete, aber unantastbare Legitimität des Sohnes Wilhelm, des zweiten Normannenherrschers, gezeugt in einer Verbindung, die alles Mögliche sein kann – nur keine rechte Ehe. Wiederholungen gefallen: In der nächsten Generation der Normannenherrscher erscheint Sprota, die Gefährtin des zweiten und Mutter des dritten Herzogs, ebenfalls ein „sehr edles Mädchen, dem Herzog auf dänische Weise verbunden“.154 Gegenüber dem Vorgängerpaar Rollo–Popa gibt es zwei Abweichungen: Anders als der Eroberer Rollo muss Wilhelm Langschwert, der sozusagen den Numa Pompilius zu Rollos Romulus gibt, erst gedrängt werden, überhaupt an Frauen zu denken. Den dann plangemäß gezeugten Sohn preist Dudo als „geboren von einer heiligmäßigen Mutter, Erben einer Linie der Integrität“ – was den Herzog allerdings nicht daran hindert, die heiligmäßige Mutter umgehend durch die Tochter des Grafen Herbert von Vermandois zu 151 Ebd. v. 6313–16: Quer de si tres grant beiauté fine Mire son vis e sa petrine Que de voleir, ce li est vis, En a tot le coraige espris. 152 Ebd. v. 6323–27: Son la costume e son les leis Qu’en Denemarche unt li Daneis L’a prise a fenne a grant haustece, A grant joie e a grant leece. Moct la tint honnoreement. 153 Ebd. 10128–34: Mais aprés ce que fu fenie Reprist Pope, si l’esposa; Ce fu la riens qu’il plus ama. Gerpie l’oct sanz mauvoillanze Por la fille le rei de France. Porquant ne mist pas en obli La grant amor qu’il oct od li. 154 GND III, 2: nobilissima puella sibi Danico more iuncta.
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ersetzen.155 Wilhelm von Jumièges folgt seiner Vorlage Dudo mit erheblich weniger Worten (III, 2f.). Vor einem Rücktausch, wie er bei Rollo nötig war, bewahrt die Chronisten Wilhelms früher Tod. Wace lässt die Sprota-Figur ganz aus, Benoît verschanzt sich hinter seinen Vorlagen: „Er nahm ein edles und schönes Mädchen, Sprote, und liebte sie sehr, wollte sie aber auf dänische Weise haben und nicht anders: so sagt die Historia, die nicht lügt.“156 Auch die Mutter des dritten Herzogs darf zwar notfalls verschwiegen werden, auf keinen Fall aber eine uxor sein.
Die Landesmutter : Gunnor Komplizierter gestaltete sich der Fall Gunnor. Gehörten Popa und Sprota der legendarischen Frühzeit an, über die jedes genauere Wissen schon eine bis zwei Generationen später erloschen zu sein scheint, so situiert sich Gunnor im Zentrum des großen Neuanfangs um 970/80, auf dem die gesamte spätere Normannengeschichte aufbaut. Sie ist die Mutter des Herzogs Richard II., des Erzbischofs Robert von Rouen und der zweifachen englischen Königin Emma sowie eine Art Passepartout-Ahnin sämtlicher anderer Mitglieder der normannischen Führungsgruppe, auch wenn sich die Einzelheiten erst mit den genealogischen Interpolationen des Robert von Torigni um die Mitte des zwölften Jahrhunderts verfestigen, als die Konstituierung der anglonormannischen Elite zum Abschluss gekommen ist. Dudo, der unter Gunnors Aufsicht schreibt, schlägt mit Hilfe von Entlehnungen unter anderem bei Martianus Capella geradezu anagogische Töne an: Emma, der fränkischen Gattin Richards (Tochter Hugos des Großen), ist es vorherbestimmt, keine Kinder zu haben, aber „mit göttlichem Beistand wird eines Tages ein himmlisches Mädchen kommen, dänischer Abkunft, edel, mild, (...) die der gerechte Markgraf, Herzog Richard, als eine unter vielen erwählen und sich mit ihr verbinden wird...“157 Emma stirbt kinderlos, Richard, von der (gleichfalls dem Martianus Capella entnommenen) „juckenden Schwäche“ geplagt, zeugt vier Kinder mit concubinae, doch dann wird die Voraussage Wirklichkeit, und es erweist sich, dass Gunnor im Hinblick auf ihre Reize, ihre Abstammung und ihren Reichtum ein Spiegelbild der verstorbenen Emma ist. Richard „nahm sie in Liebe und schloss eine verbotene Union“, worauf seine Untertanen ihn auffordern, sie korrekt zu ehelichen, da die Vorsehung der Höchsten Gottheit sie nun einmal zusammengeführt hat, „damit der Erbe einen dänischen Vater
155 Dudo IV, 46f.: Pollens iste puer, matre satus sacra / justae progeniei... 156 Benoît de Sainte-Maure, Chronique, v. 11039–44: Por c’en prist une franche bele, Sprote, qui ert jentis pucele. Icele ama moct e tint chiere, Mais a la danesche maniere La voct aveir, non autrement, Ce dit l’estoire qui ne ment. 157 Dudo IV, 102: Verum, divino numine nutus, / coelestis virgo proiet olim / stirpe Dacigena, nobilis, alma (...) quam dux Ricardus, marchio justus / pluribus sibimet eliget unam, / jungens connubio, foedere, pacti...
Die Landesmutter: Gunnor
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und eine dänische Mutter habe“.158 So geschieht es; im Laufe der Zeit bekommt das providentielle Fürstenpaar fünf Söhne und drei Töchter. Ginge es Dudo und seinen Rezipienten um Legitimität im Sinne des coniugium legitimum, wäre unverständlich, warum er den verwitweten Herzog überhaupt erst eine „verbotene Union“ eingehen lässt, die erst durch öffentlichen Druck zur Ehe avanciert. Der Einwand, dass Dudos Zeitgenossen um den späten Zeitpunkt der ,Ehe‘ des Paares wussten, ist angesichts seiner sonstigen faktualen Großzügigkeit kaum relevant159, denn bei Dudo regiert die Kohärenz des historischen Sinns die Darstellung: Der Erbe der Normandie muss nun einmal stets aus derjenigen polygynen Verbindung seines Vaters hervorgehen, die sich als die beste erweist; sie muss kulturell (auf jeden Fall regional, in dieser Situation außerdem auch gentil) endogam sein; eine spätere Umwandlung in eine Ehe „christlicher Art“ ist möglich, darf aber keinesfalls am Anfang der Beziehung stehen, da für einen Normannenherrscher solche Beziehungen per Definition nur kulturell exogam in Frage kommen und daher unfruchtbar bleiben müssen. Ein Sohn aus einer monogamen Fürstenehe wäre für Dudo nachgerade ein Verstoß gegen die Vorsehung. Wilhelm von Jumièges hat andere Vorstellungen von Legitimität. Die Entschuldigung more Danico scheint ihm für eine Figur der ,Zeitgeschichte‘, eine Frau, die den regierenden Herzog und Erobererkönig Wilhelm noch hat aufwachsen sehen, offenbar nicht mehr tragfähig. Also wird er kategorisch: Um diese Zeit starb [Richards I.] Gattin Emma, die Tochter Hugos des Großen, kinderlos. Jener aber verehelichte sich wenig später nach christlicher Art mit einer überaus schönen Jungfrau namens Gunnor, die aus edelster dänischer Familie stammte.160
Ohne eigentlich von Dudos Chronologie abzuweichen – erst stirbt Emma, später heiratet der Herzog Gunnor –, schließt er doch jeden Gedanken an eine zunächst ‚verbotene Union‘, wie sie Dudo so nachdrücklich behauptet, kategorisch aus. Die terminologische Präzisierung (in matrimonium Christiano more desponsauit) fällt bei dem wortkargen 158 Dudo IV, 125: se connexuit, eamque prohibitae copulationis foedere sortitus est amicabiliter (...) Providentia summae Divinitatis, ut remur, hanc tibi Dacigenam, quam modo refoves, connexuit, ut patre matreque Dacigena haeres hujus terrae nascatur... 159 Wer nach ereignisgeschichtlicher Zuverlässigkeit sucht, wird von Dudo enttäuscht sein, und das hat diesem für dem Genus grande entwöhnte Leser stilistisch schwer erträglichen, aber mit seinem holistischen Geschichtsentwurf höchst respektablen Autor bemerkenswert harte Urteile eingebracht: „a thoroughly untrustworthy document, a bombastic and rhetorical text, embroidering a long and frequently tedious discourse around a very small number of facts“ (Bates, Normandy before 1066 [1982], xii f.); „l’emphase rhétorique, le goût des mots rares et la pédanterie la plus insupportable dominent sa prose comme ses vers. Malheureusement ce détestable auteur est la seule source d’information directe dont on dispose sur le premier siècle de la Normandie“ (Musset/Tyl-Labory, wie Anm. 124). 160 GND IV, 18: Qua tempestate Emma eius uxor, filia Magni Hugonis, moritur absque liberis. Ipse uero non multo post quamdam speciosissimam uirginem nomine Gunnor, ex nobilissima Danorum prosapia ortam, sibi in matrimonium Christiano more desponsauit.
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Benediktiner beinahe aus dem Rahmen und macht deutlich, dass für Wilhelm die Zeit der Akkulturation vorbei ist. Im Anschluss an diese Passage zählt er Richards und Gunnors Kinder auf und suggeriert damit eine chronologische Nachzeitigkeit, von der der Mönch in Jumièges ebenso wie die ganze Normandie gewusst haben muss, dass sie nicht zutraf. Diese Version hatte auch keinen Bestand. Siebzig Jahre später korrigierte der Ausschreiber Robert de Torigni Wilhelms Gesta in diesem Punkt und beschrieb zusätzlich in einiger Ausführlichkeit, wie „einige Leute“ den Herzog darauf aufmerksam machten, dass er seinen und Gunnors Sohn Mauger nicht zum Erzbischof machen könnte, weil das nach kanonischem Recht ausgeschlossen sei, da seine Mutter nicht geheiratet worden sei (VIII 36: responsum est ei a quibusdam hoc nullatenus secundum scita canonum posse esse, ideo quod mater eius non fuisset desponsata). Der Abt von Mont-Saint-Michel benutzt sogar dieselbe Vokabel wie der Mönch von Jumièges (desponsauit/non desponsata), um das Gegenteil zu sagen. Um seinen Plan doch durchzuführen, heiratet in der von Robert de Torigni korrigierten Version der Herzog dann Gunnor nachträglich „christlich“ (more christiano sibi copulauit), die Kinder werden während der Zeremonie zusammen mit den Eltern mit einem Mantel bedeckt – es handelt sich um den einzigen normannischen Beleg für diese Form der nachträglichen Legitimierung –, worauf der zweite Sohn wie geplant Erzbischof werden kann. Die Verbindung hatte somit vorher mindestens anderthalb Jahrzehnte bestanden. Im selben Geist fügt Robert de Torigni Wilhelms Liste der von ihm als ehelich geschilderten Kinder Richards und Gunnors die fehlenden Kinder ex concubinis und deren kaum minder prominente Nachkommen hinzu: Der benediktinische Versuch, die Normannenherzöge auf das monogamistische Modell festzulegen, ist gescheitert. Gunnors polygyn begründete Eminenz, aus der Mitglieder der Führungsgruppe die Legitimation ihrer Zugehörigkeit zur Herzogs,sippe‘ bezogen, war für die Verfassung der anglonormannischen Elite weiterhin unverzichtbar. Als Wace und Benoît die Geschichte ins Anglonormannische übertrugen, versifizierten und höfisches konsumierbar machten, bedurften sie des strahlenden Geschöpfes der Vorsehung nicht mehr, das Dudo kreiert hatte – der Erfolg der Normannen war auch so offenkundig. Die Magnaten zwischen Loire und Irischer See ließen sich ihre Stammutter als ein hochqualifiziertes Edelfräulein aus dem Palast schildern, „dänisch von Vater- und Mutterseite“, von aufrechtem und freundlichem Wesen und „in Frauenarbeiten so gut bewandert wie nur irgendeine Frau. Der Graf liebte sie und machte sie zu seiner Geliebten.“161 Die Abkunft ist den Anglonormannen dabei sehr wichtig: „Gott hat gewollt“, sagen die Barone zu Richard, „dass wir nach dir einen Herrn mit dänischem Vater und dänischer Mutter haben werden; darum bekam die Französin nie Kinder!“162 161 Wace, Roman de Rou, Bd. 3, 235–245: El palaeis out une pucele, Gunnor out nun, si fu mult bele, Bien afaitie et bien curteise, De pere e de mere daneise, De nobles Daneis esteit nee, De dous parz bien enparentee; Debonaire iert e amiable, Large forment e honurable, De ovraigne de femme saveit Quantque femme saveir poeit. Li quens l’ama, s’en fist sa amie. 162 Benoît de Sainte-Maure, Chronique, v. 27 053–56: „Que Dex par sa sainte douçor Vect qu’après tei aion seignor De pere et de mere daneise: Por ce n’enn oct nul la Franceise.“
Die Tochter des Spießgesellen: Herleve
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Auf allgemeinen Druck („Bitten“ des Klerus und „Rat“ der Barone) heiratet der Herzog sie irgendwann, denn „bei einem solchen Fürsten wie dem, zu dem Gott dich gemacht hat, wäre es ein Übel und eine hässliche Unhöfischkeit, wenn dein Erbe nicht von einer Gemahlin nach dem Gesetz geboren würde, das Gott gegeben und die heilige Kirche erlassen hat.“163
Der anglonormannischen Praxis des zwölften Jahrhunderts ist damit Genüge getan; für die polygyne politische Kultur gibt es dazu den Kommentar, dass es eigentlich auch nicht darauf ankomme: „er liebte sie vorher, und hinterher auch.“164 Für Gunnor, für die Frau hingegen änderte sich alles, und Wace schließt auf über dreißig Versen die Beschreibung ihrer Hochzeitsnacht an, die zu den einfühlsamsten Schilderungen der Lebenswelt einer aristokratischen amie gehört. „Ich pflegte in Eurem Bett zu liegen und nur Eure Wünsche zu erfüllen“, sagt sie und dreht ihm zum ersten Mal den Rücken zu, „nun liege ich in meinem Bett und lege mich hin, wie ich will.“ Und dann der Cri de cœur der Frau, die noch nicht daran denken mag, dass auch eine Verheiratete wie Eleonore im Gefängnis landen kann: „Niemals habe ich mich sicher gefühlt, als ich hier lag, und nie war ich Euer ohne Furcht. Jetzt bin ich endlich in Sicherheit.“165
Die Tochter des Spießgesellen : Herleve Als Dudo sein Konzept außerehelicher Legitimität formulierte, konnte er nicht ahnen, zu welchen Höhen dieses System seine Normandie noch führen würde. Die Geburt eines Sohnes von Gunnors Enkel Robert (dem nachgeborenen Sohn Richards II.), aus dessen Beziehung mit einem Mädchen aus seinem Gefolge, die sich gegen Ende der Abfassung der Gesta zutrug, hat Dudo allenfalls am Rande bemerkt und jedenfalls nicht in sein Werk 163 Benoît, der Waces Schilderung recht textnah folgt, fügt den Beginn der Beziehung und die Eheschließung, die bei Wace weit (340 Verse, also mindestens zwanzig Minuten zügigen mündlichen Vortrags) voneinander getrennt sind, zu einer langen Szene (106 Verse aus Waces 11+9 Versen desselben oktosyllabischen Maßes) zusammen. Bei ihm tragen die Barone – nicht etwa die Kleriker – die zitierte Begründung ihrer Forderung vor, Richard möge Gunnor en mariage nehmen (v. 27077–81: D’iteu prince cum Dex t’a fait Sereit maus, vilanie e lait Que tis eirs ne fust d’esposee Sum lei que Dex a commandee E en saint’ iglise establie). Der höfische Monogamismus setzt sich durch, mit nahezu derselben Begründung, wie die – vielleicht gleichzeitig am selben Hof lebende – Marie de France im Eliduc liefert. 164 Wace, Roman de Rou, Bd. 3, 246 : anceis e puis l’a bien amee. 165 Ebd. 635–38: „Je soil en vostre lit gesir E soil faire vostre plaisir, Ore gis el mien, si me gerrai Sur quel cost‚ ke jeo voldrai... (v. 643–45:) Unkes mais aseüre n’i jui Ne sanz poür od vus ne fui, Ore sui aukes aseüree.“ Bei Benoît fehlt diese Episode vollständig. Die „Sicherheit“, von der die gewesene ,Konkubine‘ spricht, könnte sich auch auf das Ende der Sündhaftigkeit ihres Tuns beziehen, wie Duby, Frauen im 12. Jahrhundert (1999), 280f., andeutet. Die Betonung der Selbstbestimmung in Worten und Körpersprache legt aber wohl eine weltliche Interpretation näher.
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aufgenommen. Zu diesem Zeitpunkt war nicht abzusehen, dass Robert nach dem frühen Tod Richards III. unter dubiosen Umständen die Nachfolge antreten und sie kurz darauf, das Heilige Land vorziehend, wieder aufgeben würde. Die Geburt Wilhelms ,des Bastards‘, ,des Eroberers‘ aber ist im wahrsten Sinne die Krönung der normannischen Polygynie. Über seine Mutter Herleva haben die aufeinanderfolgenden normannischen Chroniken unterschiedliche Aussagen getroffen, deren unaufmerksame Lesung bis in die Gegenwart das Verständnis der Episode beeinträchtigt.166 Sie steht jedenfalls innerhalb der Kontinuität der systematischen Nachfolgepraxis, nach der die exogamen Spitzenverbindungen der Herzöge mit meist fränkischen Fürsten- oder Königstöchtern erbenlos bleiben musste, die Verbindung zur Mutter des Nachfolgers hingegen endogam-hypogyn war. In dieser Hinsicht war Herleve eine gute Wahl. Orderic Vitalis, der früheste Zeuge, nennt die Mutter des späteren Erobererkönigs auf einer nicht wiederherstellbaren Rasur „die Tochter des Kammerherrn (cubicularius) Fulbert“167, keineswegs eine ,niedrige‘ Abkunft also, sondern sozusagen eine sichere Wahl aus der eigenen domus. Ebenfalls von Orderic stammt die berühmte Schilderung der Belagerung von Alençon 1049: Die Verteidiger verhöhnen den angreifenden Wilhelm durch das Schwenken und Schlagen von Häuten und Fellen als „Gerber“ – so jedenfalls die seit Wace (parmentier) und Benoît (peletier) geläufige Deutung, auf der das Bild von Wilhelms Mutterahnen als „niedrigen Standes“ beruht. Mir scheint diese Lesart einer aufwändig angelegten und durchgeführten Beleidigung des Gegners während einer langgezogenen Belagerung zu wörtlich und damit zu harmlos. Selbst wenn die gewissermaßen ,wörtliche‘ Aussage „Gerbersohn!“ metonymisch als „Sohn niedriger Herkunft!“ – also „Konkubinensohn!“ – verstanden würde, wäre damit zwar immerhin den fruchtlosen Spekulationen über Fulberts Berufsbild die Basis entzogen, das Rätsel aber nicht hinreichend geklärt. Wilhelms maßlose Reaktion nämlich (nach der Einnahme von Alençon ließ er „den Spöttern vor den Augen aller Einwohner die Hände und Füße abschlagen“168) ist kaum durch einen Hinweis auf das sein ganzes Leben hindurch offene Geheimnis seiner mütterlichen Herkunft erklärlich. Ich vermute, das Prügeln der Häute und Pelze und der von Orderic ergänzte verbale Kommentar, Wilhelms parentes seien schließlich pollinctores (Leute, die die Toten zur Beerdigung vorbereiten), hat eine stärker metaphorische, klar politische Bedeutung. 166 Noch im 1998 erschienenen letzten Band des Lexikons des Mittelalters beschreibt K[arl] Schnith, Art. 2. Wilhelm I. ,der Eroberer‘, in: LdM, Bd. 9, Sp. 127, den König als Sohn „eines Mädchens aus niederem Stande“. Elisabeth van Houts, Origins of Herleva (1986), kommt auf philologischem Weg zu der Annahme, Herleves Vater sei eine Art Totengräber oder Präparator (pollinctor) gewesen. 167 GND VII [3]: Fulberti cubicularii ducis filia natus. Natürlich kann Fulbert auch erst als Folge der Beziehung seiner Tochter zum Herzog aufgestiegen sein, doch der Wortlaut legt das eigentlich nicht nahe. Zur Quellenkritik vgl. Gesta Normannorum ducum (1998), Bd. 2 96 n. 1. 168 GND VII 8: illusores uero coram omnibus infra Alentium consistentibus manibus pedibusque priuari iussit. Wilhelm sagt nicht, worin der Hohn bestand.
Die Tochter des Spießgesellen: Herleve
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Alençon, im Westteil der Herrschaft Bellême gelegen, stellte so etwas wie den äußersten Vorposten der Francia im Grenzland zur Normandie und zum Maine dar; in jahrzehntelanger immer wieder kriegerisch ausbrechender Nachbarschaft dürfte sich die Inszenierung der (an sich geringfügigen) kulturellen Gegensätze übersteigert und verfestigt haben. Aus der Sicht des franzischen Vorpostens waren die Normannen demnach erstens diejenigen mit den kuriosen Begriffen von Verwandtschaft und zweitens die grausamen Barbaren. Die Normannen selber teilten, mit positiver Wertung versehen, diese Zuschreibung durchaus. Für die polygyne Legitimität ist das in dieser Untersuchung erörtert worden; die normannische Grausamkeit und ihre Stilisierung durch die anglonormannischen Herrscher ist wohlbekannt.169 Meiner Ansicht nach wusste man allgemein um Herleves Herkunft aus dem Gefolge Roberts ,von Falaise‘; selbst wenn ihr Vater Fulbert erst post factum zum cubicularius aufgerückt wäre170, hätte er auch vorher zum Gefolge des Herzogssohns gehört und für ihn jene Kriegstaten begangen, die von den Franken – deren eigene Kriegspraxis sich vielleicht nur in Nuancen von der normannischen unterschied, die aber sicher geneigt waren, gerade diesen Unterschied mit kultureller Bedeutung überzudeterminieren – als besonders abstoßend aufgefasst wurden. Wenn sie also auf den Mauern Häute und Felle prügelten und damit zum Ausdruck brachten, Wilhelms Verwandtschaft bestünde aus pollinctores, hieß das so viel wie: „Schlagetots und Hyänen“. Sein Vater, der Anführer, war dabei um keinen Deut besser als seine Mutterlinie, die Ausführer. So verstanden, ist Wilhelms Reaktion nach dem Sieg nicht mehr maßlos, sondern bedrückend konsequent: Er zeigte ihnen, wie recht sie hatten. Auf Herleves weitere Karriere in der normannischen Geschichtsschreibung ist hier nicht weiter einzugehen.171 Die realgeschichtliche Herleve, von ihrem herzoglichen Mann noch vor seinem Aufbruch ins Heilige Land an Herluin de Conteville, einen respektablen ritterlichen Landbesitzer an der Seinemündung verheiratet und gut ausgestattet, hatte aus dieser Verbindung zwei Söhne, Odo (er wurde Bischof von Bayeux) und Robert (er wurde Graf von Mortain). Sie waren Wilhelms Stützen bei seinem Griff nach der westlichen Normandie, erwiesen sich aber nach 1066 als nicht immer gleichermaßen zuverlässig. Ist Herleve die letzte und für die Normannengeschichte glorreichste Trägerin der außerehelichen Legitimität, die mit der Übernahme des englischen Königtums ihre Praktikabilität verlor, entsprechen Herluin und die Söhne in ihrer königsnahen Hilfsfunktion bereits den Vätern, Brüdern und (anschließenden) Gatten der Nebenfrauen späterer Normannenkönige. Mit Hilfe der Adaptationsleistung von Autoren wie Robert 169 Vgl. Van Eickels, Hingerichtet, geblendet, entmannt (2005). 170 Vgl. Searle, Predatory kinship (1988), 127, zu den aus den Urkunden ablesbaren rudimentären Amtsbezeichnungen am Herzogshof. Searle lehnt (154f.) sämtliche ,Berufs‘-Deutungen für Fulbert, auch den „Totenwäscher“, ab und meint, die Beleidigung („Gerber!“) bedeute angesichts des niedrigen Prestiges dieses übelriechenden, vom Umgang mit Kadavern auch mental verschmutzten Gewerbes so viel wie „Allerniedrigster Herkunft!“. 171 Duby, Frauen im 12. Jahrhundert (1999), widmet der literarischen ,Arlette‘ ein eigenes Kapitel (287–299).
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de Torigni, Wace und Benoît konnte die anglonormannische Aristokratie zugleich ihre polygyne Ursprungsgeschichte feiern, ihre polygyne politische Praxis fortsetzen und für Legitimation an hohem Orte nunmehr auf den Monogamismus rekurrieren. Im Hinblick auf die Quellen der Großregion Westeuropa habe ich von dem fragmentarischen Charakter der Aufschlüsse über Polygynie gesprochen, von dem durch die zunehmende Hinwendung zum Monogamismus verursachten generellen Unwillen oder Unvermögen, die Frauen der Fürsten in das Sagbare einzubinden. Stattdessen erscheinen sie nur in bestimmten fixen Aspekten, meist dem ,generativen‘ und dem ,habitualen‘, während man über die übrigen Aspekte nur mit Hilfe des komparativen Blicks auf nordeuropäische Verhältnisse Aussagen treffen kann. Allein auf die Normandie vor 1066 trifft dieses Bild offensichtlich nicht zu. Die plural gedachten Frauen der Normannenherrscher – denn jede von ihnen hat tendenziell zahlreiche Mitfrauen, auch wenn sich stets nur eine (die Mutter des Nachfolgers) aus dem Agon erhebt – sind zentrale Trägerinnen, geradezu der Antrieb des Narrativs. Das hat mit jener Eigenart der normannischen Politik zu tun, die Elizabeth Searle mit dem Begriff ‘Kinship by Choice’ bezeichnet.172 Vermittels Polygynie und Kontrolle der Nachkommenschaft durch eine von den politischen Kontingenzen diktierte Auswahl konnte sich ab Ende des zehnten Jahrhunderts eine Führungsgruppe herausbilden, von der gewöhnlich angenommen wird, dass die Herzöge und die bedeutenden Magnatenfamilien aus demselben ,Uradel‘ der Landnahmezeit stammten und ihre fortgesetzte Kooperation durch angelegentliche Verschwägerung sicherten. Searle regt an, umgekehrt von einer die normannische Oberschicht komplett umfassenden verwandtschaftlichen Fiktion zu sprechen, wonach alle diejenigen, die in diese (im Vergleich mit anderen Regionen extrem solide strukturierte) Führungsgruppe integriert waren, sich als Sippe auffassten. Begreift man Abstammung auf diese Weise konsequent als das Ergebnis, nicht die Voraussetzung gemeinsamen Handelns, gibt es auch Zweifel an dem bereits von den normannischen Historiographen konstruierten Geschichtsbild, wonach die (fränkischen) Ehen der Normannenherrscher sämtlich unfruchtbar waren und aus diesem Grund von Wilhelm Langschwert bis zu Wilhelm dem Eroberer alle Herzöge Nebenfrauensöhne waren.173 Entsprechende nachträgliche Auswahl und rückwärtslaufende Konstruktion scheint ein Grundprinzip normannischer Politik mittels Verwandtschaftsvorstellungen gewesen zu sein. Gerade die strenge Durchstrukturierung des normannischen Polygyniesystems bedeutet aber, dass selbst so markante Persönlichkeiten wie Gunnor ihrer Vorfestlegung nicht entgehen: An ihnen ist zum einen (selbstverständlich) der ,generative‘ Aspekt wichtig, 172 Searle, Predatory kinship (1988), Titel des 3. Kapitels und ibs. 94ff. 173 Ebd., 94: die fränkischen Ehen „were artificially, officially, infertile, whatever they may have been biologically.“ Den zeitgenössischen Beobachtern war das Systematische an der normannischen Fürstenlinie ebenfalls deutlich; Radulf Glaber notierte (Historiae IV 6): Fuit enim usui, a primo adventu ipsius gentis in Gallias..., ex hujusmodi concubinarum commixtione illorum principes exstitisse.
Die Tochter des Spießgesellen: Herleve
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denn sie alle erscheinen nur, wenn sie Mütter von Fürstensöhnen sind. Zum anderen sind sie durch den ,expressiven‘ Aspekt markiert: „Popa“ bedeutet den Sieg über die Franken im Bessin, „Gunnor“ die Allianz der älteren mit den neueren skandinavischstämmigen Siedler-Kriegern. Da die Herrscherpolygynie auch die fränkischen uxores umfasst, kann man weitergehen und sagen: „Gisla“ bedeutet die Negation des ,generativen‘ Aspekts und ist geradezu auf ihren ,performativen‘ reduziert; von Dudo bis Benoît wird sie nicht anders denn als agrarische Landschaft beschrieben. Daher ist die Bilanz auch der normannischen Chronistik, so sehr die Polygynie in ihr auch im Vordergrund – ja geradezu im Rampenlicht – steht, die einer Reduktion. Ein ,offenes‘ sozialsemantisches System, wie es in Nordeuropa die Sagas schildern, beruht auf der Polysemie. Funktioniert die Polygynie unter der Dominanz eines Repräsentationsschemas, wie es in der Chronistik zwischen Loire und Schelde der Monogamismus mit seinen Weiterungen, in der Normandie hingegen der nichteheliche Legitimismus ist, so ist die Arbitrarität des Zeichens nicht mehr gegeben. Die Beziehung eines Norwegerkönigs oder Isländerhäuptlings mit einer Frau kann unter kontingenten Umständen sehr unterschiedliche, zuweilen konkurrierende Bedeutungen generieren. Die hier gesammelten fragmentarischen Indizien über Königs- und Magnatenfrauen in Westeuropa lassen aber, selbst wenn die kohärenten Verschriftlichungen fehlen, den Schluss zu, dass diese Gesellschaften ähnlich (nicht ebenso!) mit den vielfältigen Möglichkeiten umzugehen wussten, die die Elitenpolygynie ihnen bot. Die in der Normandie geradezu zum kulturellen Emblem gewordene Form ist nur die augenfälligste davon.
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Der vergleichende Blick : Südeuropa
„Unerträgliche Hitze“ Der Süden – das ist aus der Perspektive der beiden bisher betrachteten Großregionen zuallererst, was sie selber nicht sind. „Kein künftiges Zeitalter wird sie, wenn es recht urteilt, je zur Genüge lobpreisen können“, sagt Wilhelm von Malmesbury über die Kreuzfahrer, „jene Männer, die aus der starken Kälte Europas kamen und sich in die unerträgliche Hitze des Orients stürzten!“1 Den klimatisch bedingten Befindlichkeitsunterschied wird man bei der Begegnung des ,tribalen Europa‘2 mit dem Mittelmeerraum stets mitzubedenken haben, hat er doch die Reflexion über die so andersartigen Lebensbedingungen dieser Klimazone3 durch ihre nördlichen Beobachter grundlegend geprägt – Wilhelm von Malmesbury spricht von der Erleichterung Konstantins des Großen, einen von Nordwinden begünstigten Ort am Bosporus gefunden zu haben, an dem er eine seinem Temperament angemessene Welthauptstadt gründen konnte, „denn da er in Britannien geboren war, hasste er die Glut der Sonne“4 – und den Gang der Ereignisse mehr als einmal entscheidend beeinflusst. Die Schlacht an den Hörnern von Hattin 1187 war vielleicht die wichtigste, aber sicher nicht die einzige Auseinandersetzung, die die Julihitze gegen die Europäer, die aus der Kälte kamen, mitentschied.5 Das klimatische ist ein zwar notwendiges, aber gewiss kein hinreichendes Kriterium für die Definition eines südeuropäischen, mediterranen Raumes in einer Abhandlung 1 2
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GRA IV, 372: quorum titulis nullas umquam affiget metas postera, si rectum iudicet, aetas; uiri qui ab extremo Europae frigore in importabiles se Orientis calores immerserint. Als „tribal North“ und „fringe“ bezeichnet der Historiker des Kreuzfahrerkönigreichs València, Robert I. Burns (Muslims, Christians, and Jews [1984], 111) England, Deutschland und (Nord-) Frankreich im Gegensatz zum mediterranen Zentrum der mittelalterlichen Welt. Ihre überzeugendste Darstellung findet sie außer in Braudels richtungweisender historischer Geographie im ersten Teil von La Méditerranée (1949) und seiner essayartigen Epitomisierung in ders. (Hrsg.), Die Welt des Mittelmeers (1987) in der als Teil eines größeren Werkes angelegten, aber bereits in der vorliegenden Fassung überwältigenden Mittelmeergeschichte von Horden/ Purcell, Corrupting sea (2000). GRA IV, 355: quia enim in Britannia natus fuerat, ardoris solis exosus erat. Vgl. zuletzt Van Eickels, Schlacht von Hattin (2005).
„Unerträgliche Hitze“
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über aristokratische Polygynie. Es ist zwar im Laufe der Jahrhunderte immer wieder versucht worden, sexuelle Spezifika einzelner Regionen klimatisch zu begründen, und auch in der gegenwärtigen Forschung hat man das Desinteresse des mittelalterlichen Nordeuropa an der sinnlichen Zurschaustellung und dem Genuss von Frauenkörpern durch die schiere Menge an schwerem Stoff erklären wollen, die die Frauen hier (im Gegensatz zu Ovids Rom) stets trugen6 – was, wenn man sich auf dieses Argument einlässt, die Frage nach der Alltagskleidung im mittelalterlichen Damaskus oder Troyes aufwirft. Aber da es bei der Elitenpolygynie stärker um die Kontingenzen der politischen Kultur als um deren strukturelle Grundlagen geht, sind weder das Klima, Relief und Bodengüte noch korrespondierende allgemein-kulturelle Grenzen wie die an dem Grad der Dachneigungen oder dem Gebrauch von Butter und Öl ablesbaren Linien hinreichend. Immerhin ist die durch diese der longue durée angehörenden Phänomene zumindest mitbestimmte demographische und politische Spezifik an jenem vielbeschriebenen Bündel unterschiedlicher, aber im Großen und Ganzen zusammenfallender Grenzen mitbeteiligt, das das Mittelmeerbecken einschließlich seines Küstensaums vom „tribalem Norden“ trennt. Eine von vielen benennbaren Unterschieden liegt darin, dass im Süden die autokratische Monarchie als Vorstellung von Weltordnung nicht nur toter Buchstabe in Handschriften des Corpus iuris, sondern lebendige Tradition war. ,Rom‘, also Byzanz dominierte auf wesentlich direktere Weise nicht nur (wie im Norden und Westen) die Imagination, sondern die politische Praxis. Zum Kosmokrator am Bosporus gesellten sich im Laufe der Jahrhunderte Filialen zunächst in Damaskus, dann Bagdad, Kairo und Córdoba, schließlich Dutzende kleinerer Zentren wie Sevilla, Saragossa und Palermo, Ikonion oder Tripolis. Der fränkisch überformte nordwestliche Mittelmeerrand befand sich demgegenüber in einer Art ,frontier‘-Situation, die unter anderem gekennzeichnet war durch die lebendige Präsenz dieses Autokratismus als repräsentationeller Option bei gleichzeitigem Unvermögen, ihn zu imitieren. Hier entstand eine ins Extreme gesteigerte paritäre Akephalie, wie sie sich tendenziell auch in der offenen Konkurrenz Nordeuropas oder auch in der segmentierten Gruppenkonkurrenz des „authentischen Feudalismus“ findet, als welche Dominique Barthélemy das ,Grand Anjou‘ und mit ihm die Länder am Ärmelkanal beschreibt7, die am Nordwestrand des Mittelmeers jedoch zum alleini6
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Jochens, Male gaze (1991), 21. Jochens’ Beobachtungen zu diesem Desinteresse und der Transposition von Schönheitswahrnehmung auf die Kleidung sind durchweg zutreffend, ihre klimatische Begründung hingegen kann nur teilweise überzeugen. Zwischen Pindars und Sapphos „schönarmigen Jungfrauen“ und der eddischen Göttergeliebten mit ihren „strahlenden Armen, die Himmel und Erde erhellten“ (Skírnismál 6) liegen nicht mehr als dreißig Breitengrade, und ovidianische Vagantenverse über Mädchenschönheit in der Mittagssonne – ignibus calesco – ritzte man auch in Norwegen in Runenstäbe (vgl. Düwel, Runenkunde [³2001], 166ff.) – vgl. Montesquieu, De l’esprit des lois XVI, 2: das Monogamiegebot sei dem „europäischen Klima“ angepasst, die Polygamie dem asiatischen. Barthélemy, Note sur le ,maritagium‘ (1992), 19.
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7 Der vergleichende Blick : Südeuropa
gen Prinzip avancierte. Die Polygynie als eine Weise der Begegnung dieses Systems mit der mediterranen Autokratie soll im Mittelpunkt dieser abschließenden vergleichenden Betrachtung stehen.8
Konkubinat auf höchster Ebene : Jakob I. und Aurembiaix von Urgell (1228) Am 23. Oktober 1228 wurde in Agramunt im südlichen, ebenen Teil der katalanischen Pyrenäengrafschaft Urgell, hundert Kilometer nordwestlich von Barcelona, eine im Original erhaltene Urkunde ausgefertigt9, die Odilo Engels zu Recht als „merkwürdigen Konkubinatsvertrag“10 bezeichnet. Kontraktanten waren Jakob I., König von Aragon, Graf von Barcelona und Herr über einige kleinere Graf- und Herrschaften nördlich und südlich der Pyrenäen (r. 1213 –1276), und Aurembiaix, Erbtochter von Ermengol VIII. (r. 1184 –1209), letztem Grafen aus der auf das zehnte Jahrhundert zurückgehenden Linie der Urgell; beide waren zu jenem Zeitpunkt etwa zwanzig Jahre alt.11 Merkwürdig ist die Angelegenheit in zweierlei Hinsicht: Zum einen sind Geschlechtsverbindungen zwischen 8 Zur paritären Akephalie am nordwestlichen Mittelmeerrand vgl. Rüdiger, Mit Worten gestikulieren (2000); ders., Aristokraten und Poeten (2001). Zur Begründung der hier vorausgesetzten und gegebenenfalls thesenartig wiederholten Befunde sei auf jene Arbeiten verwiesen. 9 Arxiu de la Corona d’Aragó, perg. 389 Jaume I, ediert in: Soldevila, Fou Aurembiaix d’Urgell amistançada del rei Jaume I? (1926), 408–410, und: ders., Els primers temps (1968), 298–300. – Die Grafschaft Urgell hat wie andere pyrenäische Fürstentümer eine langgestreckte Nord-Süd-Form, die aus der Expansion der auf die spätkarolingische Zeit zurückgehenden Herrschaften aus dem Gebirge in die muslimisch beherrschte Ebro-Ebene resultiert. Ihr Kern um die Bischofsstadt la Seu d’Urgell [