Nationale Grenzen und internationaler Austausch: Studien zum Kultur- und Wissenschaftstransfer in Europa [Reprint 2011 ed.] 9783110942644, 9783484630109

The volume assembles the papers held at a symposium organised by the Heinrich Heine Institute (Düsseldorf), 20-22 Octobe

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German Pages 367 [372] Year 1995

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Table of contents :
Vorbemerkung
Zur Einführung
Begrenzung – Entgrenzung. Kultur- und Wissenschaftstransfer in Europa
Maßstab und Untersuchungsebene. Zu einem Grundproblem der vergleichenden Kulturtransfer-Forschung
Welche Grenzen? Reflexionen zu einem konstitutiven Element komparatistischer Forschung
I. Literatur: »Aneignung und Enteignung«
»...alle edeln Herzen des europäischen Vaterlandes«. Heine und Europa
Heines Wirkung. Ein deutscher Skandal und ein europäisches Ereignis?
Heine und die russische Lyrik. Beispiele von Lermontov bis Blok
Zwischen Aneignung und Enteignung. Heine in Südeuropa
Der »reichste, gewandteste, berühmteste Erzähler seines Jahrhunderts«. Walter Scott und der Roman in Deutschland
Von Hugo bis Asterix. Walter Scotts Einfluß in Frankreich
Zola und England
Zolas Wirkung in Spanien
II. Geschichte: Nationaler Horizont und europäische Perspektive
Geschichte und Geschichtsschreibung in Deutschland und Italien im Vergleich. Die Zeit der nationalen Bildung
Rom und Griechenland. Die klassische Antike in Frankreich und die Rezeption von Johann Joachim Winckelmann
Das »Annales-Paradigma« und die deutsche Historiographie (1929–1939). Ein deutsch-französischer Wissenschaftstransfer?
»Was tun?« Russische Historiographie zwischen europäischem Bezug und patriotischer Aufgabe
III. Wissenschaft: Nationale Faktoren und universaler Anspruch
Nationale Wissenschaftsakademien im Europa des 19. Jahrhunderts
Universität und Ausbildung. Historische Bemerkungen zu einem europäischen Vergleich
Unterschiedliche Formen der Universitätsorganisation und der Forschungsförderung. Der merkwürdige Fall der Physik um 1900
Bewunderung und Ablehnung. Deutsch-britische Wissenschaftsbeziehungen von Liebig bis Rutherford
Nationale Bedingungen mathematischer Kultur in Deutschland und Frankreich in den Jahren um 1900
»Nationale Wissenschaften« in den europäischen Naturwissenschaften
Mitarbeiterverzeichnis
Personenregister
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Nationale Grenzen und internationaler Austausch: Studien zum Kultur- und Wissenschaftstransfer in Europa [Reprint 2011 ed.]
 9783110942644, 9783484630109

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CÖMMUNICATI( )

Band 10

Studien zur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte Herausgegeben von Fritz Nies und Wilhelm Voßkamp unter Mitwirkung von Yves Chevrel und Reinhart Koselleck

Nationale Grenzen und internationaler Austausch Studien zum Kultur- und Wissenschaftstransfer in Europa Herausgegeben von Lothar Jordan und Bernd

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1995

Kortländer

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Nationale Grenzen und internationaler Austausch : Studien zum Kultur- und Wissenschaftstransfer in Europa / hrsg. von Lothar Jordan und Bernd Kortländer. - Tübingen : Niemeyer, 1995 (Communicatio; Bd. 10) NE: Jordan, Lothar [Hrsg.]; GT ISBN 3-484-63010-8 © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1995 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck und Einband: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt

Vorbemerkung

Die Veränderungen des letzten Jahrzehnts in Europa haben das Bewußtsein für die Historizität von Grenzen geschärft. Das Verhältnis von Gefahren und Chancen, die sich daraus ergeben, bleibt noch unbestimmt, die Probleme werden drängender, Herausforderungen und Anforderungen größer. Es ist die eigentümliche mehrfache Rolle von Kultur und Wissenschaft, zugleich Movens, Indikator und Archiv der historischen Prozesse zu sein. Diese Vielfalt der Realisationen, Aspekte und Probleme des Transfers über Grenzen sollte in einer Veranstaltungsreihe Begrenzung - Entgrenzung. Wirklichkeiten und Möglichkeiten europäischer Kultur in Beispielen vorgeführt und reflektiert werden, die das Heinrich-Heine-Institut der Landeshauptstadt Düsseldorf initiierte und in Verbindung mit zahlreichen in- und ausländischen Einrichtungen vom 11.-23. Oktober 1992 durchführte. Zu verschiedenen Konzerten, Dichterlesungen und Podiumsgesprächen kam ein wissenschaftliches Symposium (20.-22.10.1992), das wir in Verbindung mit der Equipe Transferts culturels im CNRS (Paris) und dem Istituto Storico Italo-Germanico (Trient) vorbereitet haben. Unser herzlicher Dank für die zugleich freundschaftliche und effektive trilaterale Zusammenarbeit gilt namentlich Michael Werner (Paris) und Pierangelo Schiera (Trient). In gleicher Weise trugen die Vorträge und Diskussionen der Referenten aus zehn Staaten zum Gelingen der Veranstaltung bei. Der Veranstaltungstitel des Symposiums »Nationale Grenzen und europäischer Austausch in Literatur, Geschichte und Wissenschaft« sollte nicht nur seine internationale, sondern auch seine interdisziplinäre Ausrichtung kenntlich machen, die in drei Sektionen realisiert wurde. Die Tagungsbeiträge werden in dem hier vorgelegten Sammelband entsprechend in drei Gruppen zusammengefaßt. Zur Einführung in das Problemfeld sind ihnen drei Aufsätze aus dem Kreis der Vor- und Nachbereitung des Symposiums vorangestellt. Für die Förderung der Veranstaltung und die Ermöglichung des Druckes ihrer wissenschaftlichen Ergebnisse danken wir insbesondere der Stiftung Kunst und Kultur des Landes Nordrhein-Westfalen, dem Kultusministerium des Landes Nordrhein-Westfalen, der Firma Henkel KGaA, dem Institut Frangais Düsseldorf sowie der Handelsblatt Verlagsgruppe, Düsseldorf.

VI

Vorbemerkung

Weiterer Dank gilt dem früheren Düsseldorfer Kulturdezernenten Bernd Dieckmann und dem Direktor des Heine-Instituts, Joseph A. Kruse, für ihr großes Engagement, sowie den Herausgebern der Reihe »Communicatio«, insbesondere Fritz Nies und Wilhelm Voßkamp, für ihre Bereitschaft zur Aufnahme des Bandes in diese Reihe. Schließlich sei an Heinrich Heine erinnert, der dieser Veranstaltung nicht nur als Namenspatron den Weg wies, sondern durch die Verbindung von Bild und Begriff, künstlerischer Autonomie und aufklärerischem Engagement, nationalen Sorgen und europäischen Perspektiven das in vieler Hinsicht grenzüberschreitende Gespräch sowohl mitrealisiert hat als auch über unsere Tage hinaus in Gang halten wird.

Düsseldorf, am 17. Februar 1995

B.K., L.J.

Inhalt Vorbemerkung

V

Zur Einführung Bernd

Kortländer

Begrenzung - Entgrenzung Kultur- und Wissenschaftstransfer in Europa Michael

Werner

Maßstab und Untersuchungsebene. Zu einem Grundproblem der vergleichenden Kulturtransfer-Forschung Lothar

20

Jordan

Welche Grenzen? Reflexionen zu einem konstitutiven Element komparatistischer Forschung I.

1

34

Literatur: »Aneignung und Enteignung« Joseph A. Kruse

»...alle edeln Herzen des europäischen Vaterlandes« Heine und Europa Karol

Sauerland

Heines Wirkung Ein deutscher Skandal und ein europäisches Ereignis? Jurij

53

73

Archipov

Heine und die russische Lyrik. Beispiele von Lermontov bis Blok Susanne

84

Zantop

Zwischen Aneignung und Enteignung. Heine in Südeuropa . . . . 94 Hartmut

Steinecke

Der »reichste, gewandteste, berühmteste Erzähler seines Jahrhunderts«. Walter Scott und der Roman in Deutschland . . . 109 Jean

Gaudon

Von Hugo bis Asterix. Walter Scotts Einfluß in Frankreich . . . . 121 Robert

Lethbridge

Zola und England Francisco

139

Caudet

Zolas Wirkung in Spanien

151

VIII

Inhalt

II. Geschichte: Nationaler Horizont und europäische Perspektive Pierangelo Schiera Geschichte und Geschichtsschreibung in Deutschland und Italien im Vergleich. Die Zeit der nationalen Bildung

163

Frangois Hartog Rom und Griechenland. Die klassische Antike in Frankreich und die Rezeption von Johann Joachim Winckelmann

175

Peter Schöttler Das »Annales-Paradigma« und die deutsche Historiographie (1929-1939). Ein deutsch-französischer Wissenschaftstransfer?

200

Hans Hecker »Was tun?« Russische Historiographie zwischen europäischem Bezug und patriotischer Aufgabe

221

III. Wissenschaft: Nationale Faktoren und universaler Anspruch Renato G. Mazzolini Nationale Wissenschaftsakademien im Europa des 19. Jahrhunderts

245

Willem Frijhoff Universität und Ausbildung Historische Bemerkungen zu einem europäischen Vergleich . . . 261 R. Steven Turner Unterschiedliche Formen der Universitätsorganisation und der Forschungsförderung Der merkwürdige Fall der Physik um 1900

276

Peter Alter Bewunderung und Ablehnung. Deutsch-britische Wissenschaftsbeziehungen von Liebig bis Rutherford

296

Jean Dhombres Nationale Bedingungen mathematischer Kultur in Deutschland und Frankreich in den Jahren um 1900

312

Joachim Fischer »Nationale Wissenschaften« in den europäischen Naturwissenschaften

334

Mitarbeiterverzeichnis

345

Personenregister

347

Zur Einführung

Bernd Kortländer

Begrenzung - Entgrenzung Kultur- und Wissenschaftstransfer in Europa

Menschen sind in jeder Hinsicht begrenzte Wesen, und die Erfahrung von Grenzen gehört deshalb zu ihren Grundbefindlichkeiten. Die Frage nach den vielfältigen Möglichkeiten, mit dieser Erfahrung umzugehen, wird wirklich brisant erst im Horizont aktueller oder historischer Problemlagen. Aber schon ganz allgemein ist zu sagen, daß das Überschreiten bzw. Errichten von Grenzen, seien sie geographisch, kulturell, sprachlich oder wie auch immer beschaffen, positive wie negative Seiten haben kann, die einander spiegelbildlich zugeordnet sind: Die Begrenzung, das Einhalten und Errichten von Grenzen, kann positiv Eigenständigkeit und Bestand des Abgegrenzten sichern, zur Ausbildung von Unterschieden und Unterscheidungen beitragen und auf diese Weise Vielfalt und Individualität ermöglichen; negativ ver- oder behindert sie den Austausch, die Erweiterung der Erfahrungshorizonte, unterstützt Mißverstehen und Egoismus, begünstigt Enge von Herz und Verstand. Die Entgrenzung, das Überschreiten und Aufheben von Grenzen wiederum kann zum Verwischen von Identitäten, zum Verschwinden der Mannigfaltigkeit führen, andererseits aber selbstverständlich erstarrte Strukturen aufbrechen, neue Entwicklungen in Gang setzen, den Blick und den Geist erweitern. An der Schwelle zu einem vereinten Europa werden wir tagtäglich Zeugen, welche konkreten positiven und negativen Folgen politische und soziale Grenzen für das Zusammenleben haben und welche reale Bedeutung der geplante Wegfall eines Teils dieser Grenzen notwendig nach sich ziehen wird. Wir sehen, wie nationalistische Kräfte durch diese Diskussion Nahrung erhalten, wie mit der Einsicht, daß ein Teilen des Erreichten mit den Anderen unabwendbar ist, die Angst um den Erhalt des Besitzes wächst, wie andererseits der Prozeß aber bereits irreversibel und für viele selbstverständlicher Bestandteil ihres Lebens geworden ist. Die Düsseldorfer Initiative des Heinrich-Heine-Instituts vom Herbst 1992 mit einer Vielzahl sehr unterschiedlicher Veranstaltungen, zu denen auch das wissenschaftliche Kolloquium zählte, das in diesem

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Bernd

Kortländer

Band dokumentiert wird, hat sich, wie bereits der Titel deutlich macht, mit Grenzen im Feld der Kultur beschäftigt.1 Sie war inspiriert und angefeuert durch die unglaublichen Veränderungen und Aufbrüche der letzten Jahre, die alle auch Grenzdurchbrüche waren, aber, wie wir jetzt sehen, auch zu einer Viel- und Mehrzahl neuer Grenzen geführt haben, an denen sich die positiven und negativen Aspekte des Errichtens bzw. Aufhebens von Grenzen sehr anschaulich demonstrieren ließen. Ähnlich wie an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, als sich in Europa die Nationalstaaten herausbildeten und konsolidierten (wenn auch unter selbstverständlich unvergleichbaren Bedingungen), macht sich dabei heute wieder in den Bereichen von Kunst und Wissenschaft, deren Entstehungs- und Verwertungszusammenhang, ein Nationalismus bemerkbar, der die gegenläufige und ζ. T. widersprüchliche Bedeutung und Wirkung von Grenzen gerade in diesen Bereichen in krasser Weise hervortreten läßt. Kunst und Wissenschaft sind, beide in unterschiedlicher Weise, auf Wahrheit verpflichtet, zielen damit auf allgemeine, nationale und sonstige Grenzen selbstverständlich überschreitende Gültigkeit und Anerkennung. Andererseits sind ihre historischen Erscheinungsformen, insbesondere aber die Modi ihrer Rezeption und Verwertung zumindest seit der Neuzeit immer auf einen von Grenzen unterschiedlichster Art bestimmten Hintergrund bezogen. Kunst und Wissenschaft spielen seit dem 19. Jahrhundert geradezu eine notorische Rolle als konstitutiver Bestandteil nationaler Besonderheit. Wie kurz der Weg von der stolzen Selbstbeschreibung als »Land der Dichter und Denker« zu wahnhaften Überlegenheits- und Missionierungsideen und -taten ist, hat die deutsche Geschichte zu Genüge gezeigt. Andererseits ist die nationalistische Legitimation wissenschaftlicher Paradigmen durchaus kein deutsches Phänomen. Heinrich Heine, der so energisch darauf bestand, ein deutscher Dichter zu sein, für den die Sprache der Poesie aber gleichzeitig die internationale Sprache der Freiheit war, hat in seinen Schriften und mit seinem leidenschaftlichen Engagement für eine >entente cordiale< zwischen Deutschland und Frankreich einen konkreten und wirksamen Beitrag zur Überwindung solcher nationalistischer Vorurteile und Respektierung nationaler Besonderheiten geleistet. Die politischen Hoffnungen allerdings, die er damit verband, haben sich seither nicht erfüllt. Gerade in der jetzigen Situation lohnt es sich, die Heineschen Gedanken aufzugreifen und weiterzuführen. Die Düsseldorfer Veranstaltungsreihe hat sich als Versuch in diese Richtung verstanden.

Vgl. das beim Heine-Institut erschienene Programmbuch zu der Veranstaltungsreihe: Lothar Jordan/Bemd Kortländer (Hg.): Begrenzung - Entgrenzung. Wirklichkeiten und Möglichkeiten europäischer Kultur. Düsseldorf 1992.

Begrenzung -

Entgrenzung

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Wenn wir hier die thematisch z.T. sehr unterschiedlichen Vorträge von Literaturwissenschaftlern, Historikern, Wissenschaftshistorikem aus Europa und Amerika dokumentieren, so verbindet sich damit die Hypothese, daß jenseits der Unübersichtlichkeit des realen kulturellen Miteinander allgemeine Strukturen sichtbar werden, Bedingungen, die für den Austausch auf dem Gebiet der Literatur ebenso gelten wie auf dem der Geschichtsforschung oder der exakten Naturwissenschaften, und daß deren Bearbeitung dazu beitragen kann, die Komplexität der Probleme zu reduzieren. Die einzelnen Beiträge dieses Bandes legen neben der im engeren Sinne fachwissenschaftlichen zugleich eine Lektüre nahe, die an generellen Fragen des Transfers interessiert ist; darin liegt sein roter Faden. Damit dieser Faden besser sieht- und faßbar wird, werde ich in diesem Beitrag zunächst einige Gedanken und Beobachtungen zum Transfergeschehen allgemein anstellen und von dort aus Hinweise auf eine wünschbare Lesart der anschließenden Aufsätze geben. Auch in den Beiträgen von Michael Werner und Lothar Jordan stehen vor allem allgemeine Fragen des Kulturtransfers im Vordergrund.

Zu einigen Voraussetzungen des Transfers Die Ebenen des Transfers und seine Akteure Die Forschung zum Kulturtransfer geht Fragestellungen nach, die, was die Reichweite angeht, auf sehr unterschiedlichen Niveaus angesiedelt sein können. Auf einem untersten, am engsten umgrenzten Niveau geht es um den Austausch unter Individuen. Die Vermittler standen in dieser Funktion genau wie ihre Hilfsmittel und ihr Publikum bislang nicht im Vordergrund des Interesses historischer Forschung, selbst dann nicht, wenn es sich um prominente Forscher, Autoren, Künstler handelt, deren Leistungen ansonsten umfassend gewürdigt werden. Ganz generell sind hier zunächst all jene zu nennen, die auf freundschaftlicher oder auch nur auf der Ebene des gemeinsamen Interesses an einer Sache über die nationalen Grenzen hinweg miteinander verbunden waren, im Briefwechsel, im gelegentlichen Besuch und Gespräch. Zu dieser Gruppe gehören aber auch die vielen Bildungsreisenden, die ganz gezielt aufbrachen, um bestimmte Menschen zu treffen bzw. Dinge zu besichtigen. Gelegentlich waren das sogar Mitarbeiter der öffentlichen Verwaltungen, die - nicht erst in unserem Jahrhundert - eigens dafür eingesetzt wurden, Entwicklungen im Ausland zu beobachten und darüber Berichte anzufertigen. Sie bezogen ihre Informationen entweder durch eigene Anschauung auf eigens dafür durchgeführten Dienstreisen oder durch Korrespondenten, mit denen sie brieflich in Verbindung

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Bernd

Kortländer

standen (ein gutes Beispiel ist hier Victor Cousins Korrespondentennetz in Deutschland2). Zu dieser Gruppe sind natürlich auch Spione und Spitzel zu zählen. Spezielle Berufsbilder als kulturelle Vermittler haben seit je - auf dem literarischen Feld - die Übersetzer und ihre oft unendlich umfangreichen Lebenswerke;3 in einem allgemeiner kulturellen Sinne die Lehrer für Fremdsprachen an Schulen und - wohl wichtiger an Hochschulen. In vielen Fällen waren Journalisten vor Ort (Auslandskorrespondenten) diejenigen, die zumindest die Neugierde wecken und Eindrücke geben konnten. Neben den persönlich dingfest zu machenden Vermittlem gibt es selbstverständlich eine anonyme Vermittlung über Immigranten, Soldaten, Handwerksburschen, Seeleute, Händler, Reisende ganz allgemein, die teils direkt, teils als Begleitprodukt ihrer eigentlichen Aufgabe, Kulturtransfer leisteten. Auf einer darüberliegenden Ebene geht es um den kulturellen Austausch zwischen Gruppen, die keine >natürliche< Einheit darstellen wie die Individuen, sondern sozial konstruierte Einheiten sind. Der Prototyp solcher Einheiten in der Moderne ist die >Nation< und die mit ihr verbundene >NationalkulturDialektik der aufgeklärten Gesellschaften die aufklärerischen Parolen zur Routine, und es wächst der Wunsch nach neuen Orientierungen, und zwar solchen Orientierungen, die scheinbar jenseits des geschichtlichen Wandels und der individuellen Wahl liegen. Denn die so konstruierte Identität zieht ihren Wert aus dem Schein ihrer normativen Gültigkeit, sie unterliegt damit zugleich dem Zwang, ihren tatsächlichen Charakter als soziales Konstrukt verbergen zu müssen.4 Wenn zuletzt der Begriff der >Regionalkulturen< als eine unterhalb der Nation angesiedelte Einheit wieder verstärkt diskutiert wird, so hat das damit zu tun, daß unter dem Druck größerer Einheiten wie der Vorstellung einer europäischen oder auch einer globalen Kultur der wahre Charakter nationaler Identitäten, ihre historische und soziale Bedingtheit sich nicht länger verbergen läßt und nationale Muster in dem Maße an Wert und bindender Kraft ver-

2

3

4

Vgl. die Publikationen einer Auswahl seiner diesbezüglichen Korrespondenz in dem Band: Lettres d'Allemagne. Victor Cousin et les hegeliens. Hg. von Michel Espagne/ Michael Werner. Tousson 1990. Vgl. zu den Problemen der historischen Übersetzungs-Forschung jetzt meinen Aufsatz: Traduire. »La plus noble des activites« ou »la plus abjecte des pratiques«. Sur l'histoire des traductions du fran9ais en allemand dans la premiere moitie du XIXe siecle. In: Philologiques III: Qu'est-ce qu'une litterature nationale? Hg. von Michel Espagne/Michael Werner. Paris 1994, S. 121-145. Auf diesen Zusammenhang macht aufmerksam Bernhard Giesen: Die Intellektuellen und die Nation. Eine deutsche Achsenzeit. Frankfurt a.M. 1993, S. 28f. (stw 1070).

Begrenzung - Entgrenzung

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lieren, wie deutlich wird, daß die ihnen quasi naturwüchsig zugeschriebenen Aufgaben von anderen, größeren Einheiten problemlos übernommen werden können. Der Wegfall der nationalen Grenzen führt einerseits zu einer Globalisierung der Kultur, andererseits aber auch zu einer stärkeren Binnendifferenzierung mit einer Orientierung hin auf kleinere Einheiten, wie eben die Regionen.5 Die oberste Ebene in dieser Hierarchie der Reichweiten ist die bereits angesprochene internationale Organisationseinheit< und die mit ihr verbundene Vorstellung von einer >globalen KulturEuropa< ist in zahlreichen Varianten bis in die Gegenwart aktuell geblieben, ζ. B. bei G. Vajda, hier unter stärkerem Einbezug religionsgeschichtlicher Aspekte: Eine solche umschreibbare Literatureinheit wäre die europäische, die auf die griechisch-römisch-jüdisch-keltisch-germanische Überlieferung zurückgeht und deren Grenzen [...] nicht am östlichen Ende des deutschen und italienischen Sprachgebiets liegen, sondern am Uralgebirge, am Schwarzen Meer, am Bosporus. Manche gutgläubigen Wissenschaftler glauben übersehen zu können, daß sich das spätrömische Reich in eine westliche und eine östliche Hälfte spaltete und daß die östliche Hälfte die griechisch-römisch-jüdische Überlieferung, nur auf der Grundlage der griechischen Sprache, ebenso weiter verpflanzte wie die westliche Hälfte mit Hilfe der lateinischen Sprache.14

Mit ähnlicher kulturhistorischer Begründung hat Vajda an anderer Stelle die Annahme der »Einheit und Existenz einer europäischen Literatur«15 bekräftigt. Der besondere Stellenwert ihrer Erforschung resultie-

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15

S. ζ. B. Lothar Jordan: Europäische und nordamerikanische Gegenwartslyrik im deutschen Sprachraum 1920-1970. Studien zu ihrer Vermittlung und Wirkung. Tübingen 1994 (=Communicatio. Studien zur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte. Bd. 8); zu einer solchen >(Groß-)Region Europa< s. auch Anm. 25. Methodologische Fragen einer Historiographie der Weltliteratur. In: Riesz et al. (Hg.) [Anm. 2], S. 193-202, hier: S. 199. - Ähnlich Hans Georg Gadamer: Die Zukunft der europäischen Geisteswissenschaften. In: Fritz König/Karl Rahner (Hg.): Europa Horizonte der Hoffnung. Graz u. a. 1983, S. 243-261. Vajda [Anm. 14], S. 101. Er berichtet dort, daß der Plan zu dem internationalen Projekt der Association de Litterature Comparee, eine Vergleichende Geschichte der

Welche Grenzen ?

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re aus der Zwischenstellung zwischen der - abstrakten - Weltliteratur einerseits und den je konkreten Einzelliteraturen. (Letzteres fügt seiner Argumentation einen eher pragmatischen Aspekt hinzu.) Wo aber genau die Grenze dieser Einheit liegt, ist um so schwerer zu sagen, je mehr Merkmale zu ihrer Begründung berücksichtigt werden! Ein abgegrenzter Objektbereich europäische Literatur< kann in der komparatistischen Reflexion auch aus den zeitgenössischen politischen oder wirtschaftlichen Einigungs- und Vereinheitlichungsprozessen hergeleitet werden. Dieser Aspekt wird aber - in der Literaturwissenschaft! - nicht sehr häufig in die erste Reihe der Argumente gestellt, obwohl der europäische Faktor in der Forschungsförderung und im Bildungsbereich wie in den ERASMUS-, TEMPUS-, TEMPUS-TACIS- und PHARE-Programmen eine (teils noch experimentelle) Rolle spielt. Dabei ist das Problem, wenn man das Modell einmal durchspielt, nicht so sehr die - historisch gesehen - relativ schnelle Veränderung dessen, was ein politisch zusammenhängendes Europa ausmacht, sondern die etwaige, geradezu absurde Ausgrenzung von Ländern wie Rußland oder der Schweiz und damit von deren Literaturen. Das politische Konzept reicht zur Begründung einer europäischen Literaturforschung nicht aus, wenn es sie auch befördern kann. So bleibt die theoretisch unbefriedigende Einsicht, daß die Konstitution eines von der Komparatistik bevorzugten Raumes Europa sich überwiegend auf eine >Idee Europa< stützt, die sich aus der Überlagerung sprachlicher, politischer, (kultur)geschichtlicher Perspektiven generiert. Anscheinend ist die Idee einer europäischen Einheit, deren Sinn wohl einzusehen ist, den wissenschaftlichen Konzepten voraus. Daß die Entfaltung und Artikulation dieser Idee im wissenschaftlichen Bereich dabei geschichtliche, auch wissenschaftsgeschichtliche Erkenntnisse zugrundelegen können, macht ihre Begründung noch nicht stringent. Selbst wenn man zeigen kann, daß die Komparatistik (samt ihrer Vorgeschichte) von Anfang an einen transnationalen Zug hatte oder sich teilweise als Korrektiv der Nationalphilologien verstanden hat, kann nicht von der Fachgeschichte her entschieden werden, warum diese oder

europäischen Literaturen in Einzelvorhaben zu erstellen, »von der tiefen geistigen Einheit Europas« ausging. - Die geistige Einheit Europas wird ζ. B. von Fritz Nies: Kulturwissenschaften in Europa: Defekte Frischluftzufuhr? (In: [DVA Stiftung (Hg.):] Übersetzerpreis zur Förderung der deutsch-französischen Beziehungen. Preisverleihung am 25. März 1993 in Straßburg. Stuttgart o.J., S. 22-33, hier: S. 31) aus der Geschichte der Bildungsinstitutionen hergeleitet: »Erlauben Sie mir, daran zu erinnern, daß bisher die Zusammengehörigkeit Europas nie politischer oder wirtschaftlicher Art war. Sie wurzelt vielmehr ganz wesentlich in einer geistigen Einheit, einer übernationalen Republik des Geistes. Bei dieser Einigungsbewegung hat seit einem Jahrtausend die Universität, eine typisch europäische Schöpfung, eine entscheidende Rolle gespielt.«

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Lothar Jordan

jene Grenzziehung heute und morgen die maßgebliche sein soll. Die Wissenschaftsgeschichte bietet unter dem europäischen Aspekt einen heterogenen, keinen eindeutigen Fundus an effektiven Traditionen und verschütteten Möglichkeiten.16

Nationalliteratur Die nationale Grenze ist immer noch die für die Vergleichende Wissenschaft relevanteste. Wo aber die Grenzen der Nation bzw. der Nationalliteratur liegen, ist alles andere als unstrittig und zwar nicht nur dann, wenn man Möglichkeit und Sinn nationaler Identität17 überhaupt infragestellt. Ich hebe hier drei Konzepte hervor, die der Literaturwissenschaft zur Ziehung nationaler Grenzen dienen. Das wohl wichtigste Konzept ist das sprachliche.18 Aufgrund seiner Eindeutigkeit, die allenfalls durch Dialekte und diachrone Differenzen relativiert wird, ist es theoretisch recht stringent, obwohl die Sprachtheorien bzw. sprachwissenschaftlichen Forschungen, auf die sich solche

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17

18

Die grundsätzliche Heterogenität von Konzepten mit einem fachkonstituierenden Anspruch in den verschiedenen Philologien wird von jüngeren wissenschaftsgeschichtlichen Forschungen herausgearbeitet, zur Germanistik s. etwa Jürgen Fohrmann/Wilhelm Voßkamp (Hg.): Wissenschaft und Nation. Studien zur Entstehungsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft. München 1991. - Die Institutionalisierung der Komparatistik als Europaforschung ist nachdrücklich ζ. B. von Hugo Dyserinck und seinen Schülern gefordert worden, wenn auch methodisch verengt auf eine imagologische Perspektive und unter den etwas einfachen Annahmen, daß der Komparatist per Deklaration, jedenfalls problemlos, über einen supranationalen Standort verfügen könne und also den Nationalphilologen überlegen sei (moralisch, fachlich?); s. ζ. B. Hugo Dyserinck/Karl Ulrich Syndram (Hg.): Europa und das nationale Selbstverständnis. Imagologische Probleme in Literatur, Kunst und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts. Bonn 1988 (=Aachener Beiträge zur Komparatistik. Bd. 8) und dies. (Hg.): Komparatistik und Europaforschung. Perspektiven vergleichender Literatur- und Kulturwissenschaft. Bonn/Berlin 1992 (=Aachener Beiträge... Bd. 9). Das nationale Konzept< ist bis heute politisch und wissenschaftlich wirksam und umstritten. Ich nenne hier nur Peter Boemer (Hg.): Concepts of National Identity. An Interdisciplinary Dialogue. Interdisziplinäre Betrachtungen zur Frage der nationalen Identität. Baden-Baden 1986 (mit wertvoller Bibl.) und Bernhard Giesen (Hg.): Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit. Frankfurt a.M. 1991 (stw. Bd. 940). - Daß und wie sich ein solches nationales Konzept mit verschiedenen Funktionen und verschiedenen Fassungen in Europa erst allmählich herausbildete, faßt zusammen Klaus Garber: Nationalliteratur, europäische. In: Hans Jörg Sandkühler (Hg.): Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften. Bd. 3, Hamburg 1990, S. 491-508. Die zentrale Rolle der Sprachen bei der Konstitution von Nationen betont das (völker-)rechtssoziologische Standardwerk von Heinz Kloos: Grundfragen der Ethnopolitik im 20. Jahrhundert. Die Sprachgemeinschaften zwischen Recht und Gewalt. Wien u. a. 1969 (=Ethnos. Bd. 7).

Welche Grenzen?

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Unterscheidung stützen könnte, nicht einheitlich sein müssen. Nationalbzw. Einzelliteraturen sind dann die Summe der in einer Sprache verfaßten Werke bzw. Texte oder, weiter gefaßt, die in einer Sprache realisierten Literatursysteme (als Gesamtheit von Literatur, Literaturkritik, literarischen Institutionen usw.). Die Übersetzungsproblematik und der Aufschwung der Übersetzungsforschung, für die die Sprachgrenze und ihre Überschreitung ebenfalls den Ausgangspunkt bilden, unterstützen eine solche Grenzziehung. Merkwürdigerweise wird das Konzept aber weniger häufig sauber realisiert, als das Bedürfnis nach theoretischer Stringenz vermuten läßt. Kaum je wird die englischsprachige Literatur als Einzelliteratur erforscht und zwar nicht, weil das britische, amerikanische oder australische Englisch so verschieden wären. Politische und ähnliche Kategorien werden zu den zwischen den Sprachen gezogenen Grenzen hinzugenommen (so etwa von Weisstein, Chevrel, Dyserinck), ohne daß eine verallgemeinerbare Form der Kombination zu bestimmen wäre. Eine Synthese von sprachlichem und im weiteren Sinne politischem Prinzip der Grenzziehung einer Nationalliteratur bietet sich in der Tat an. Wo aber liegt nun eine solche Grenze? Vielleicht sollte man also besser von einer Kombination sprechen, die im Grunde nach Art, Anzahl und Hierarchie der berücksichtigten Elemente von Fall zu Fall, Land zu Land, Epoche zu Epoche differieren kann. Noch problematischer ist die Konstitution der Nationalliteraturen auf der Basis politischer bzw. politikwissenschaftlicher oder gesellschaftlicher bzw. gesellschaftswissenschaftlicher19 Konzepte (was verschiedene Aspekte sein können). Das liegt nicht so sehr an einem bloßen Wechsel der Leitfächer, sondern meist an unmittelbaren politischen Interessen, etwa bei der Frage, wieviele deutsche Literaturen es gab bzw. gibt, oder was belgische, schweizerische, kanadische Literatur sind. Nicht selten dient eine staatliche bzw. politische Vorgabe, erweitert um kulturelle und historische Begründungen, zur literarischen Grenzziehung innerhalb einer Sprache, etwa der englischen,20 aber 19

20

Zima [Anm. 10], S. 14: »Solange es nationale Gesellschaften gibt, die legitime Objekte (Objektkonstruktionen) der Wirtschaftswissenschaften, der Soziologie und der Politologie sind, weil sich ζ. B. die französischen politischen Institutionen in ihrer Eigengesetzlichkeit grundsätzlich von den deutschen unterscheiden (Unitarismus vs. Föderalismus), wird es auch vernünftig sein, Literatur aus nationaler (nicht nationalistischer!) Sicht zu betrachten. Auch die literarischen Institutionen Frankreichs (ζ. B. die Academie fran^aise) unterscheiden sich von den deutschen, niederländischen oder englischen. Die nationalphilologische Ausrichtung erscheint also auch im sozialwissenschaftlichen Kontext sinnvoll«. Wenn man schon diesen Weg durch andere Fächer antritt, sollte man die staats- und völkerrechtlichen (und damit die rechtsgeschichtlichen) Aspekte berücksichtigen. Sie kommen in den Diskussionen zu unserem Thema allerdings meist zu kurz. Man sehe allein die Menge der Referate einer einzigen komparatistischen Tagung zur angloirischen Literatur: Wolfgang Zach/Heinz Kosok (Hg.): Literary Interrelations.

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Lothar

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auch innerhalb des deutschen Sprachraums, wenn bis in die Gegenwart versucht wird, eine eigene, von der deutschen Literatur unterschiedene österreichische Literatur zu konstruieren. Für alle historischen komparatistischen Forschungen besteht das Dilemma dieser Konzepte nicht zuletzt darin, daß die Veränderbarkeit oder Festigkeit der politischen Grenzen in Europa (um in diesem Raum zu bleiben) sowie der Ansichten über die Relation etwa von Staat und Gesellschaft sehr verschieden sind, ja, daß ihr Status kaum vergleichbar ist. Legte man dieses Konzept strikt zugrunde, wäre ζ. B. die polnische Literatur mit dem polnischen Staat wiederholt von der europäischen Landkarte verschwunden, was doch niemand ernsthaft behaupten würde, und wären exilierte Autoren zu vernachlässigen. Zumal bei kleineren Literaturen können bei diesem Konzept durchaus konfliktreiche Divergenzen bestehen, wie an dem einst international gebräuchlichen Konstrukt der multinationalen Sowjetliteratur< zu zeigen wäre. Das gilt erst recht für Minoritätenliteraturen, um Autonomie bemühte Nationen oder Regionen (s. unten). Dabei kann der Standort der Wissenschaftler eine erhebliche Rolle spielen was den internationalen Diskurs über diese Fragen nicht erleichtert. Es ist in der Komparatistik weit verbreitet, die Grenze der Nation durch die Grenze der einzelnen (National-)Kultur zu bestimmen. Diese wird jedoch in den verschiedenen theoretischen Ansätzen, historischen Untersuchungen21 und von Land zu Land22 sehr verschieden verstanden, wobei häufig ein bloßes Vorverständnis von Nationalkultur zugrundeliegt, das gar nicht weiter konkretisiert wird. Es kann von der Auffassung einer regulativen Idee bis zu einer deskriptiven Synthese von Aspekten verschiedener Bereiche wie Sprache, Kunst, Raum, Geschichte, Volk, Klasse u.v.a. samt ihren Verästelungen und Derivaten usw. reichen, deren Verhältnis in Theorie und Praxis extrem variabel ist. Ein weiterer Ansatz zur Bestimmung der Grenze von >Nationalliteratur< als Schwelle zur Komparatistik besteht darin, die Wissenschaftsgeschichte einzubeziehen. Im Rekurs auf diese werden die Grenzen der Objektbereiche, durch deren Überschreitung die Komparatistik entsteht, aus den National-/Einzelphilologien bestimmt, deren Grenzen dann oft

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22

Ireland, England and the World. 3 Bde., die natürlich ihre eigene Forschungsgesellschaft hat. S. ζ. B. Winfried Woesler: Die Idee der deutschen Nationalliteratur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Klaus Garber (Hg.): Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit. Akten des I. Internationalen Osnabrücker Kongresses zur Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit. Tübingen 1989, S. 716-733. Predrag Matvejevic: Cultures et litteratures nationales en Europe (concepts et pratiques). In: Gillespie (Hg.) [ Anm. 4], S. 29-38, vermerkt in Bezug auf das Konzept von Nationalkultur: »Son sens varie d'une nation ä 1 'autre et, egalement, au sein d'une meme nation« (S. 29).

Welche Grenzen ?

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als aus den Sprachgrenzen emergierende erscheinen. Dabei wird nicht selten übersehen, daß ein erheblicher Teil der sogenannten Nationalphilologien sich gar nicht aus der Erforschung einer einzelnen Sprache herleitet, sondern nach Sprachfamilien bzw. Kulturkreisen ordnet: Bis heute relevante Konzepte zur Strukturierung der geisteswissenschaftlichen Fächer an den deutschen Universitäten wie Germanistik, Romanistik, Slawistik sind sprachübergreifend,23 so daß die sehr verbreitete Ansicht von der »notwendige[n] Komplementarität der Komparatistik und der Einzelphilologien«24 der institutionellen Geschichte und der Situation der Literaturwissenschaften nicht oder nur partiell gerecht wird. Sie basieren auf der wissenschaftlichen Anwendung neuplatonischer, oft organologisch konkretisierter weltanschaulicher Elemente, die sich in der Geistesgeschichte als fachübergreifendes Konzept niederschlugen. Angesichts der großen Anzahl der von ihr einbezogenen Elemente mit der entsprechenden Anzahl von Kombinationen und Schwerpunktbildungen hatte sie vielfältige Möglichkeiten der Grenzziehungen. Mit dem Schwund jener Elemente und Konkretisationen ist die Geistesgeschichte scheinbar zum bloßen Objekt der Wissenschaftsgeschichte depraviert. Sie wird aber unter neuen Titeln und methodisch modernisiert etwa als interdisziplinäre Kulturwissenschaft unter Einbeziehung von Ideen-, Mentalitäts-, Funktionengeschichte usw. faktisch rekonstruiert. Von dieser Grundkonzeption her ergibt sich im interdisziplinären Verbund eine noch höhere Schwierigkeit, eindeutige Grenzen plausibel zu machen, da die Grenzen der politischen Geschichte, Wirt-

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Das ist in der Gegenwart allerdings nicht mehr unumstritten und wird de facto teilweise anders praktiziert; s. ζ. B. zur aktuellen Diskussion in der Romanistik um Einheit bzw. Differenzierung des Faches die Beiträge in Fritz Nies/Reinhold R. Grimm (Hg.): Ein >unmögliches FachRegionalliteratur< sind für die theoretische Reflexion der Vergleichenden Literaturwissenschaft noch weitgehend Neuland.25 Die folgenden Bemerkungen können daher kaum mehr als eine Anregung sein, ihn systematischer in die Forschung einzubeziehen. Aus der literaturwissenschaftlichen Perspektive, die aber hierbei gar nicht die ausschlaggebende ist, erscheint er zunächst als eine Sonderformation innerhalb der Nationalphilologien, meist in einem historischen und/oder kulturpolitischen Kontext. Von daher verbindet sich mit ihm in der Regel die Vorstellung einer kleineren Einheit unterhalb der Ebene einer Nationalliteratur, die aber von Land zu Land, Nationalphilologie zu Nationalphilologie verschieden konstituiert sein kann. Der Begriff wird jedoch, überschreitet man den Bereich der Literaturwissenschaft, vielfältiger gebraucht, praktisch für alle anthropogeographischen Strukturen, die sich von einem Einzelstaat unterscheiden. So kann ganz Europa als Region 26 erscheinen, Mitteleuropa, Skandinavien; dann gibt es ζ. B. die Alpenregion, Alpen-Adria-Region usw. Da die eigene Begriffsbildung bzw. -reflexion des Faches in diesem Fall wenig ausgeprägt ist, orientiert sie sich an anderen Fächern bzw. Weltbereichen. Relevante Impulse gehen dabei von den politischen Maßnahmen der europäischen Integration aus, die Regionen als verschiedene Typen von Gebietskörperschaften bestimmen. Folgt man dem, so hat man klare (Verwaltungs-)Grenzen

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Erwin Koppen: >Heimat international·. Literarischer Regionalismus als Gegenstand der Komparatistik. In: Riesz et al. (Hg.) [ Anm. 2], S. 267-274. »Dieser Klassifizierung sei hinzugefügt, daß im Sinne des >WeltregionRegion< auch in transkontinentaler Dimensionierung verwendet wird, wie dies die UNESCO mit ihrer Zuordnung Israels, Kanadas, der Vereinigten Staaten und der Staaten der ehemaligen Sowjetunion zur >Region Europa< tut,« so Wolfgang Mitter: Europa der Regionen: Schlagwort oder Herausforderung? In: Günter Brinkmann (Hg.): Europa der Regionen. Herausforderung für Bildungspolitik und Bildungsforschung. Köln u. a. 1994, S. 209-223, hier: S. 214 (=Studien und Dokumentationen zur vergleichenden Bildungsforschung. Bd. 57).

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von Regionen27 - die sich allerdings für die Vergleichende Literaturwissenschaft nur in sehr beschränktem Umfang eignen. Versucht man, ähnliche Wege der Konstitutionen der Grenzen von Regionalliteratur zu gehen wie bei der Nationalliteratur, so kann als erstes Kriterium das der Sprache genommen werden. Das kann zum einen ein Dialekt sein, zum anderen eine Minderheitensprache. Während aber der Dialekt von der Hochsprache klar abzugrenzen ist, gilt das für die entsprechende Literatur in geringerem Maße. Manche Autoren schreiben in Dialekt und Hochsprache und werden dann von der entsprechenden Nationalphilologie behandelt. Bei entsprechender Bedeutung wird so auch bei Autoren verfahren, die ganz oder überwiegend im Dialekt schreiben.28 Ein anderer Aspekt ist die Konstitution einer Regionalliteratur durch eine nicht als Staatssprache anerkannte Sprache.29 Dabei kann sich die entsprechende Sprachgemeinschaft als Nation auffassen und die entsprechende politische Anerkennung anstreben oder sich mit der ideellen Anerkennung als Sprach- oder Kulturgemeinschaft begnügen. Zwischen beiden gibt es fließende Übergänge. Gelegentlich deckt sich das mit dem Aspekt der Minoritätenliteratur, die sich jedoch nicht auf eine Region beschränken muß. Schließlich gibt es Sprachgemeinschaften, die Regionen verschiedener Staaten bewohnen und die ein ausgeprägtes Selbstbewußtsein haben, das als nationales bezeichnet werden muß. Das kann auch für sehr kleine, auch regional konzentrierte Minderheiten gelten. Es ist fast unumgänglich, die politischen Komponenten zur Grenzziehung der Regionalliteratur heranzuziehen. Zudem gibt es auch Regionen, die nicht durch sprachliche Differenzen konstituiert werden. Oft steht der Begriff der Regionalliteratur in einem aktuellen unabgeschlossenen Prozeß kulturpolitischer und politischer Entwicklungen, oft wird er im Kontext einer vergleichsweise aktivistischen - offiziellen

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28 2Ebene 3< (Landkreise), 174 der >Ebene 2< (Regierungsbezirke) und 66 der >Ebene 1 < (Länder) zurechtfinden will. Ob die EG-Kommission mit der in ihrem einschlägigen Bericht vom Januar 1991 [...] getroffenen Differenzierung des Begriffs >Region< nach >normativen< und >analytischen< Varianten (diese wiederum nach Funktionalität und Homogeneität spezifiziert) die Schneise zu verbreitern vermag oder sie nicht wieder verengt, bleibt das verwirrende Fazit dieses Versuchs einer Begriffsklärung«; gemeint sind »die >normative< Variante der historisch gewachsenem Region [...], der die deutschen Bundesländer und die schweizerischen Kantone zuzurechnen sind; - die >analytische< Variante, die durch die Zugehörigkeit der Bewohner zu einer ethnischen (und/oder religiösen) Gruppe bestimmt ist.« Orale Literatur spielt hier allerdings eine besondere Rolle. S. als ein Beispiel Gustav Siebenmann: Sprache als Faktor der kulturellen Identität (der Fall Kataloniens). In: Dyserinck/Syndram (Hg.) 1992 [Anm. 16], S. 231-251.

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Lothar Jordan

oder inoffiziellen - Kulturpolitik appliziert. Er ist meist Ausdruck eines auf organisatorische Etablierung drängenden Gruppenbewußtseins, oft, aber nicht immer als Minoritätenbewußtsein.30 So überschneidet sich der Begriff in der Anwendung mit dem der Nationalliteratur: Es gibt Regionalliteraturen, die als Nationalliteraturen betrachtet werden können bzw. - nach dem kulturpolitischen Willen ihrer Träger - wollen. Ähnlich wie bei >Nation< kann man versuchen, ein Regionalbewußtsein aus dem Bewußtsein (der Idee) von Identität abzuleiten, die sich aus dem Zusammenhang von geographischem bzw. geopolitischen Raum, der Geschichte, der Kulturgeschichte inkl. Besonderheiten von Alltagsund Mentalitätsgeschichte, Religion, Sprache usw. ergibt. Anzahl und Anteil der Faktoren eines solchen regionalen Kulturbewußtseins sind jedoch von Region zu Region verschieden, sie können fast diametral entgegengesetzt sein oder sich bis zur Konkurrenz31 überschneiden. Zwischen echtem Separatismus, der sich als Befreiungsbewegung versteht und der - vorläufig - politisch harmloseren Variante der Kulturautonomie und der regionalen Kulturpflege gibt es fließende Übergänge und sehr verschiedene Grenzziehungen. Diese hängen nicht selten von den sie begleitenden bzw. konstruierenden kultur- und wissenschaftspolitischen Institutionen ab. Den komparatistischen Projekten zur Regionalliteratur ist oft ein praktisches Element inhärent. Das gilt im interregionalen (zugleich internationalen) Kultur- und Literaturaustausch, zumal jenem, der zwischen verschiedenen europäischen Grenzregionen praktiziert wird.32 Anders als das Konzept der Nationalliteratur wird das der Regionalliteratur - zumal in der komparatistischen Diskussion - erst im Spannungsverhältnis zu anderen Grenzziehungen, nämlich zur Nationalliteratur und zur europäischen Literatur virulent. Das ist angesichts der Schwierigkeiten, für diese Bereiche Grenzen zu begründen, ein gewich-

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S. dazu ζ. B. den Abriß des Problems von Yves Chevrel: Litterature comparee. Paris 1989 (=Que sais-je?), S. 24ff.: »Les litteratures dites >regionales< ou >dialectalesWirklichkeit< (weder die der Literaturen, noch die des Fachdiskurses) bändigen und die verschiedenen theoretischen Perspektiven verbinden oder gar überholen kann.33 Dabei spielt hierfür keine Rolle, ob die entsprechenden Einheiten ζ. B. als Systeme 34 bezeichnet oder untersucht werden. Der Zuwachs an Entscheidungshilfe für die Grenzziehungen ist kleiner, als es auf den ersten Blick erscheinen mag: Ob Sprachsystem, Kultursystem, Sozialsystem, politisches System, Bildungssystem: Die in großer Vielfalt schon vorhandenen Differenzierungen werden keineswegs plausibel überwunden oder verbunden, sondern nur umbenannt.35 Mit der Herausarbeitung dieser ungelösten Schwierigkeit habe ich gar keine Kritik einer bestimmten Methode, eines bestimmten Forschungsansatzes im Auge gehabt. Ob Kontaktstudie oder typologischer Vergleich, selbst die möglicherweise noch grundlegendere Frage, ob sich die Forschung primär am Gegenstandsbereich oder an der Methode orientieren soll: Grenze als

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Dem Antagonismus zwischen den Ansprüchen einer allgemeinen Theorie und der Auffassung, es gebe hier (National- und Regionalliteratur) immer nur Einzelfälle, könnte man vielleicht durch den Versuch einer pragmatischen Typologie seine Schärfe nehmen. Es ist bemerkenswert, daß der Begriff Grenze bei N. Luhmann nur en passant behandelt wird (»Theoretische Behandlungen des Grenzbegriffs sind selten und zumeist wenig ergiebig«, in: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a.M. 1987, S.52) obwohl Grenzen ein System mitkonstituieren: »Systeme haben Grenzen. Das unterscheidet den Systembegriff vom Strukturbegriff [...] Grenzen sind nicht zu denken ohne ein >dahinterLa matiere a aussi son merite; changeons de cuisine et de fourismydemokratischen Kunstform< in Deutschland. München 1987, S. 76-100.

Der »reichste, gewandteste, berühmteste Erzähler seines Jahrhunderts«

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Werk Scotts und in der Folgezeit mit den deutschen historischen Romanen, die häufig im Blick auf Scott und die Gattung im allgemeinen gelesen und rezensiert wurden. Solche kritische Auseinandersetzung geht weit über die Einzelrezension hinaus und kann zu ausführlichen romanpoetologischen Betrachtungen führen - so ist etwa die Besprechung Scottscher Gesamtausgaben, die Willibald Alexis bereits 1823 veröffentlicht hat, mit 75 enggedruckten Seiten eigentlich die erste Monographie über Scott und zugleich einer der bedeutendsten Beiträge zur Romandiskussion des 19. Jahrhunderts. 24 Zugleich dürfte dies eine der gründlichsten Auseinandersetzungen mit Scott bis heute sein. Alexis geht davon aus, daß der Genius Scott gewisse Eigentümlichkeiten eingegeben habe, »woraus der ruhigere Betrachter Regeln ziehen« 25 könne. Diese Regeln gelten nicht nur für die spezielle Gattung des historischen Romans, sondern für den Roman generell. Infolgedessen führt die Analyse der Scottschen Romane zu Beobachtungen und Forderungen an den Roman, die lange Zeit hindurch und bis ins 20. Jahrhundert hinein für viele Schreibende wichtig blieben. Ich kann hier nur einige Themen herausgreifen, die Alexis erörtert: das Gegeneinander von Idee und Wirklichkeitserfassung im Roman; die Forderung nach Objektivität im Roman und die Rolle der Autorreflexionen, die Auffassung der Handlung und des Helden. An diesem letzten Punkt kann das Verfahren von Alexis kurz erläutert werden. An Scotts Romanen liest er ab, daß an die Stelle der Heroen des früheren Epos im gegenwärtigen Weltzeitalter durchschnittliche Menschen getreten sind, die der Roman schildern müsse, Menschen, »wie wir sie jetzt im Leben erblicken«. 26 Eduard Waverley wird zum Vorbild des Helden, den Alexis den mittleren oder »durchschnittlichen« Helden nennt - was Lukäcs weit über hundert Jahre später ausführlich entwickelte, ohne jede Kenntnis von Alexis, und was als seine romantheoretische Entdeckung gefeiert wurde, wird bei Alexis schon weit differenzierter beschrieben. Bei der Bezeichnung des mittleren Helden fallen Adjektive wie »unbedeutend«, »charakterlos«, »negativ« 27 - die Linie zu Musils Mann ohne Eigenschaften und den negativen Helden des 20. Jahrhunderts läßt sich leicht ausziehen. Der von Alexis beschriebene Heldentypus ist im gesamten 19. Jahrhundert zu finden, allerdings ohne die von Alexis dafür gefundenen Begriffe. Die hier angedeuteten neuen Vorstellungen von der Gattung Roman setzten sich in Deutschland rasch und in hohem Maße durch. Das ist bemerkenswert, weil sie in einigem die radikale Abwendung von einem idealistischen Romankon-

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S.Anm.5. Ebd., S. 16. Ebd., S. 30. Ebd., S. 29f.

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Hartmut Steinecke

zept bedeuteten. Während Goethe nur in privaten Zeugnissen die fehlende Idee und das Übermaß an Detailmalerei tadelte, 28 waren andere deutlicher, nannten den Scottschen Roman einen »Bastard« zwischen Geschichte und Fiktion. 29 Karl Immermann schrieb 1826, Scott sei »halb Historiker, halb Poet, diese Spaltung wirkt erkältend auf sein bildendes Vermögen [...]. Der Historiker stört den Poeten, und doch kann wieder die historische Wahrheit vor der Poesie nicht zum vollen Durchbruch kommen. [...] Es scheint in der zu unmittelbaren Berührung der Geschichte mit der Poesie ein erkältender Zauber für letztere zu liegen, dem selbst die größten Geister sich nicht ganz entwinden konnten.« 30 Diese Gegenstimmen gegen das an Scotts Romanen abgelesene Gattungskonzept wurden jedoch rasch schwächer, je mehr sich die Hochschätzung von Wirklichkeitstreue und unterhaltsamer Belehrung durchsetzte. Vielleicht haben die politischen Interpreten recht, die das Menschenbild des Tories Scott als liberal, sein Gesamtwerk (auch wegen seiner Wirkung in allen Bevölkerungskreisen) sogar »demokratisch« nannten: Selbst Wolfgang Menzel - in der deutschen Literaturgeschichte sonst eher als Liberalenfresser berüchtigt - attestierte Scott und dem historischen Roman 1827 »den Charakter des Demokratischen«. 31 Wenn trotz des Fehlens weltliterarisch bedeutender deutscher historischer Romane von der großen Wichtigkeit Scotts für die deutsche Literatur die Rede sein kann, so vor allem wegen dieser Auswirkungen auf ein neues Gattungsverständnis. Ein zweiter Grund führt zum Roman selbst zurück. Eine kreative Weiterführung Scotts im deutschen Roman erfolgte allerdings weniger im historischen Roman als in den Werken, die Scotts Prinzipien der Zeit- und Gesellschaftsdarstellung in die Gegenwart übertragen. Das ist natürlich ein Abweichen vom Scottschen Modell in einem - man kann auch sagen: in dem - zentralen Punkt: der Geschichte. Aber wenn sich für diesen neuen Romantypus der Begriff »zeitgeschichtlicher Roman« einbürgert - Ludolf Wienbarg gebraucht ihn bereits 1835 programmatisch 32 - , dann wird die Verbindung doch wieder deutlich. Dieser zeitgeschichtliche Roman lernt von Scott insbesondere den Umgang mit der Wirklichkeit, den genauen, detaillierten, oft detailverliebten Blick und wird damit zu einem Wegbereiter des Realismus. Der französische Roman war hierin vorausgegangen, wie sich etwa an Stendhal und seinem Roman Le rouge et le noir zeigt, der

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Werke [Anm. 3], Bd. 23, S. 449. Carl Nicolai: Versuch einer Theorie des Romans. Quedlinburg/Leipzig 1819, Tl. 1, S. 160. Karl Immermann: Werke, hg. von Benno von Wiese et al. Bd. 1. Frankfurt a.M. 1971, S. 551. Menzel [Anm. 6], S. 3. Ludolf Wienbarg: Wanderungen durch den Thierkreis. Hamburg 1835, S. 257.

Der »reichste, gewandteste, berühmteste Erzähler seines

Jahrhunderts«

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sich im Untertitel ja Chronique du XIXe siecle nennt. Das andere zentrale Moment wäre die Heldenfigur, der mittlere Held, der ebenfalls in die Gegenwart versetzt wird und mehr von seiner gesellschaftlichen Umgebung und der Zeit geprägt und bestimmt ist, als daß er dieser seinen Stempel aufdrückt.33 Das einseitige Interesse, das lange Zeit in Deutschland den besonderen Romantypen des Bildungs-, Entwicklungs- und Künstlerromans gegolten hat, ließ diese zweite, eher europäische Tradition der ScottNachfolge und generell: des Romans bis vor kurzem viel zu sehr in den Hintergrund treten. Beispiele kann ich nur nennen, nicht ausführen: Karl Immermann, der mit einer Scott-Übersetzung beginnt, Charles Sealsfield, der Scott in den Mittelpunkt seiner frühen Romanpoetik stellt, und Theodor Fontane, der sein Romanwerk mit einem historischen Roman und zwei großen Essays über Scott und Alexis eröffnet: Alle drei kamen durch diese Auseinandersetzung zum zeitgeschichtlichen Roman, zum Gesellschaftsroman. Statt dies auszuführen, stelle ich zum Schluß im Blick auf unser Rahmenthema die Frage: Wie konnte der Ausländer Scott zu einer solchen Wirkung in Deutschland (und in ähnlicher Weise in vielen anderen Ländern Europas) kommen? Zwei Antwortversuche. Der erste verweist auf ein Paradoxon. Ohne allen Zweifel waren Scotts Romane als nationale Romane geschrieben: Sie behandelten meistens Ereignisse aus der schottischen oder britischen Geschichte, und sie trugen wesentlich zur nationalen Identität der Schotten (übrigens bis heute) bei. Im 19. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Nationalitäten und des Nationalismus, erhielt der historische Roman immer mehr dies als Hauptaufgabe: durch die Rekonstruktion, Ausmalung, Verklärung der nationalen Vergangenheit der Gegenwart und dem regierenden Herrscherhaus oder System Begründung und Weihe zu geben. Das gilt auch für die deutschen Bestseller: Hauffs Lichtenstein und Alexis' sogenannte »vaterländische« Romane, Scheffels Ekkehard, Gustav Freytags Dauererfolg Die Ahnen und viele andere mehr. Aber die List der Literatur sträubt sich gegen allzu penetranten Nationalismus. Denn für den ausländischen Leser verwandelt sich das identitätsstiftende Nationale in Fremdes, ja Exotisches. Populär kann ein historisch-nationaler Roman im Ausland nur werden, wenn er über das Spezifisch-Nationale hinaus allgemeinere Seiten der Geschichte zeigt, etwa historische Prozesse, Kämpfe von Prinzipien, Auseinandersetzungen von Individuen mit Mächten.

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Vf.: Romantheorie und Romankritik in Deutschland. Die Entwicklung der Gattungsdiskussion von der Scott-Rezeption bis zum programmatischen Realismus. Bd. 1. Stuttgart 1975, S. 77.

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Steinecke

Damit hängt eng der zweite Versuch einer Antwort auf die Frage nach den Gründen für Scotts europäischen Erfolg zusammen: es sind die Möglichkeiten des neuen Genres. Einerseits erreichte es durch seine Unterhaltsamkeit und Abenteuerlichkeit eine breite Leserschaft, andererseits entging es den üblichen gegen solche Merkmale gerichteten Verdammungsurteilen der anspruchsvollen Kritiker und Kollegen dadurch, daß auch dieser Leserkreis Lektüreanreize fand - in der neuartigen Behandlung von Geschichte, in einem dem beginnenden demokratischen Jahrhundert entsprechenden Heldentypus. Die Schwerpunktsetzung bei Handlung, Dialogen und Detailbeschreibungen, nicht auf Reflexionen und Ideen, das Fehlen größerer sprachlicher und stilistischer Raffinessen, das eher handwerklich Saubere als Artistische: das alles führte zu leichter Übersetzbarkeit; auch in mittelmäßigen Übersetzungen blieb noch viel vom Geist Scotts und von seinen Eigenarten erhalten. Die Wendung von den Inhalten zu den Formen, all die Wandlungen, die mit dem Stichwort »Moderne« verbunden sind, brachten daher Scotts Romanen als Produkten eines naiv-erzählfreudigen Jahrhunderts eine wachsende Geringschätzung, nicht nur in Deutschland. Sie wurden weithin zur Jugendlektüre degradiert. Aber periodisch erlebt solches Erzählen eine neue Blüte, auch im 20. Jahrhundert. Etwa in der Zeit der Weimarer Republik und vor allem der Exilzeit: Bei Feuchtwanger, Zweig, Döblin und dann vor allem bei Heinrich Mann löste sich der historische Roman aus der historisierenden Geschichtsbebilderung und dem didaktischen Erzählen. Geschichte wurde in einer schwierigen Gegenwart zum einen wieder zur gegen- und vorbildlichen Tradition, und sie wurde zum anderen und wichtiger durchlässig für die Probleme dieser Gegenwart, zum unterhaltsamen, damit breitenwirksamen Beispiel für die Möglichkeit, sich mit dem Nationalsozialismus und allgemeiner: mit dem Totalitarismus und der Stellung des »mittleren«, des durchschnittlichen Helden darin auseinanderzusetzen. Es ist sicher kein Zufall, daß Georg Lukäcs' großes Buch über den historischen Roman mit seiner Hochschätzung und Wiederentdeckung Scotts im Exil entstand, fast zeitgleich mit Heinrich Manns Henri Quatre, dem vielleicht bedeutendsten deutschen historischen Roman. Und wiederum im Abstand einiger Jahrzehnte entdecken die Historiker abermals neu, was Leser und Schriftsteller seit Scott nie vergessen hatten: die Faszination und die Erkenntnisleistung erzählter Geschichte. Seit der vorerst letzten Welle solcher Neuentdeckungen durch Hayden White in den späten siebziger Jahren erlebt das historische Erzählen eine neue Blüte auch in Deutschland.

Jean Gaudon

Von Hugo bis Asterix Walter Scotts Einfluß in Frankreich

Als wir aus dem Walde traten, weitete sich der Blick ins Offene. Wir waren am Ufer der Teiche von Chäalis angekommen. Der Kreuzgang des Klosters, die Kapelle mit den schlanken Spitzbögen, der Turm aus den Ritterzeiten und das kleine Schloß, das Heinrich IV. und Gabrielle d'Estree als eine Zuflucht ihrer Liebe gedient hatte, lagen abendrötlich überglänzt vor dem düsteren Grün des Waldes. »Eine Landschaft wie von Walter Scott, nicht wahr?« sagte Sylvie. »Und wer hat Ihnen von Walter Scott erzählt?«1

In dieser kleinen Textpassage von Gerard de Nerval, die vermutlich von 1854 stammt, stellt sich bereits die Grundfrage, die den folgenden Überlegungen als Leitfaden dient. Eine oberflächliche Lesart dieser Anekdote bestätigt, was wir bereits wußten: Walter Scott ist überallhin gelangt, selbst bis in die Bauemhütten des Valois, und man braucht nicht einmal des Lesens mächtig zu sein, um seinen Namen zitieren zu können. Der Erzähler, der sich auf die Suche nach einer unwiederbringlich verlorenen Zeit begeben hat und mit jedem Schritt die Sinnlosigkeit dieser Suche erkennen muß, versteht das Eindringen eines literarischen Gemeinplatzes in das Gespräch mit einer einfachen Heimarbeiterin als Riß im Gewebe der Erinnerung, als weiteres Anzeichen eines zeitlich bedingten Verfalls, für den hundert andere Symptome sprechen. Aber warum die gute Sylvie dafür verantwortlich machen? Diese papierne Landschaft, für die Nerval seine Worte mit größter Sorgfalt gewählt hat, ist in der Tat bis in alle Einzelheiten eine Landschaft von Walter Scott. Diese späte, kaum ironisch gefärbte Würdigung des berühmten Schotten trägt wesentlich mehr als die Reaktion des jungen Mädchens zum Verständnis des Falls Scott bei; die eigenartige Faszination, die von diesem Fall ausgeht, erstaunt durch ihre Langlebigkeit.2

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Nerval: Sylvie. Erinnerungen an das Valois. XI. Rückkehr. In: Werke, hg. von Norbert Miller/Friedhelm Kemp. München 1989, Bd. 3, S. 211. Es erübrigt sich wohl darauf hinzuweisen, daß Nerval (1808 geboren), zu jung war für den Kult, der zu Beginn der 20er Jahre mit Walter Scott getrieben wurde.

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Jean Gaudon

Mein Anliegen ist es, dieser Frage, die in fruchtlosen Diskussionen versandet ist, eine andere Richtung zu geben. Bei dem Versuch, den Standort eines Schriftstellers im kulturellen Panorama einer bestimmten Epoche festzulegen, besteht immer ein gewisses Risiko, und in meinem Fall sehe ich tatsächlich zwei große Klippen, die ich vielleicht mit Nervals Hilfe umschiffen kann: Einerseits einen eintönigen Determinismus mehr oder weniger marxistischer Prägung; zum anderen den Untergang Scotts in den Mäandern der Geschichte einer Gattung, die fortwährend neu definiert wird. Der erste Fall macht aus Scott den unfreiwilligen Verkünder von Erkenntnissen, deren Voraussetzungen er gar nicht verstanden hätte. Diese Interpretation legt der Lektüre ein Raster zugrunde, das einem unwissenschaftlichen Überbau entlehnt ist und bringt Resultate hervor, die nur von einem unrealistischen und reduktionistischen Standpunkt aus verwertbar sind. Die Rezeption Scotts in Frankreich eignet sich nicht für ein solches Schema: man braucht es deshalb nicht in Betracht zu ziehen. Die Vertreter der Rezeptionsgeschichte begünstigen aber eine vorrangig quantitative Einschätzung, die den schottischen Schriftsteller zur Handels- und Spekulationsware geraten läßt. So hat man beispielsweise festgestellt, daß Scotts Börsenwert in Frankreich plötzlich gesunken ist, und zwar zugunsten einer Hausse der Aktien E.T.A. Hoffmanns. Eine solche Betrachtungsweise ist für die Geschichte der Mode von großem Nutzen, da sie gleich mehrere ihrer Bereiche betrifft, wie beispielsweise Kleidung, Mobiliar, Architektur, Musik, Malerei und sogar - warum nicht? - Literatur. Wie kann dieses Konzept, das unbedingte Objektivität für sich in Anspruch nimmt, jedoch mit Nervals Text in einen Zusammenhang gebracht werden? Sylvie hat Hoffmann offensichtlich nicht gelesen, und selbst wenn sie ihn gelesen hätte, so konnte dies in ihrem Fall die unbeschreibliche und überwältigende Wirkung jenes Magiers nicht aufheben, der auch die Duchesse de Berry verzaubert hatte.3 Die bleibende Wirkung eines literarischen Textes läßt sich ohnehin nicht mit Hilfe solch kurzfristiger Aufzählungen beschreiben oder bewerten. Ein Text bringt wiederum neue Texte hervor, ein Vorgang, der viel komplizierter und auch viel mehr dem Zufall unterworfen ist als die Mode, sei es nun die der Frisuren oder der Romane. Glücklicherweise verwischt Nervals Text diese Spuren und bringt die Statisti-

Chateaubriand erwähnt in seinen Erinnerungen Memoires d'outre-tombe (hg. und übers, von Sigrid von Massenbach. München 1968, S. 607), daß der junge Hauptmann aus Nantes, der nach Paris gekommen war, um dem »Komitee« der Legitimisten die Ankunft der Duchesse de Berry in seine Heimatstadt zu melden, eine interessante Deutung dieses Unternehmens vorgenommen hatte: »Wenn Madame nicht weggeht, bleibt nichts als zu sterben, das ist alles. Und dann, meine Herren Staatsräte, lassen Sie Walter Scott aufhängen, denn er ist der wahre Schuldige.«

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ken durcheinander. Auf den ersten Blick scheint er die allgemeine Vorstellung zu bestätigen, zu einer bestimmten Epoche hätten alle Walter Scott gekannt; die Frage ist nur, zu welcher? Nerval hat mit Absicht den Zeitpunkt der Aussage verschwiegen, und das Kapitel trägt die Überschrift »Retour«. Rückkehr nach Chäalis? Zur Vergangenheit? Zu Scott? Ja und Nein. Trifft es nun zu, daß »die Landschaft wie von Walter Scott« 1854 noch als solche zu erkennen war, oder war sie bereits hinter dem Horizont verschwunden, wie die »Sonnen«, die Victor Hugo 1835 in einem Gedicht beschwört, das den Titel »Passe« (Vergangenheit) trägt?4 Hier könnte man die Editionsgeschichte zu Rate ziehen; anhand der Neuausgaben und der Auflagen ließe sich in etwa feststellen, inwiefern die Leser im Second Empire den Text überhaupt verstehen konnten. Sie würde zugleich dazu beitragen, Nervals eigene Leserschaft zu bestimmen. Mehr jedoch nicht. Im zweiten Fall wird die Beschäftigung mit Scott von Anfang an mit der Gattungsgeschichte vor Scott und nach Scott gekoppelt. Die Grenzen zwischen Roman und Geschichtsschreibung waren ja schon immer fließend; die wechselseitige Beeinflussung dieser beiden Genres, die keiner strengen Definition unterliegen, ist eine längst vertraute Erscheinung. Sainte-Beuve, der nicht umhin kam, Scott ironisches Lob zu bezeugen, sorgte durch zweifelhafte historische Bezüge bedenkenlos für Verwirrung und behauptete, die berühmte Schrift Valincours zur Princesse de Cleves enthalte »eine vollständige Theorie des historischen Romans [...] und jene Theorie ist ebendie, die Walter Scott zum Teil umgesetzt hat«.5 Natürlich ist diese Aussage nicht zutreffend. Die kategorische Formulierungsweise paßt zum autoritären Habitus, den Kritiker besonders dann annehmen, wenn sie bewußt Unwahrheiten äußern. Es wäre sinnlos, dem »historischen Roman« eine Geschichte absprechen zu wollen. Einige der hervorragendsten Wissenschaftler für das 17. und 18. Jahrhundert haben dies bereits nachgewiesen, was jedoch nicht heißen soll, daß man diese Tatsache als Mittel gegen Walter Scott verwenden muß. Da sich das Geschichtsverständnis seit dem 17. Jahrhundert entscheidend gewandelt hatte, konnten die apodiktischen Behauptungen eines Sainte-Beuve nur irreführend sein. Für die Zeit nach Scott erfolgte eine Umkehrung der Problematik. Die Wirkung Scotts

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Les Voix interieures, XVI (1er avril 1835). Man hat dieses Gedicht oft mit der Odelette »Fantaisie« und der Novelle Sylvie von Nerval verglichen. Es wäre jedoch zu gewagt, das Gedicht von Hugo als weiteren Beleg für den >Einfluß< Walter Scotts anzuführen. Portraits de femmes: Madame de La Fayette. In: CEuvres. Paris: Bibliotheque de la Pleiade o.J. [1951], Bd. 2, S. 1233. [Soweit nicht ausdrücklich eine deutsche Übersetzung genannt ist, stammen die Ubersetzungen der Zitate aus fremdsprachigen Quellen von mir; P.K.]

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war so nachhaltig, daß bis in die Gegenwart hinein weiter historische Romane geschrieben werden. Manche Autoren, wie zum Beispiel Nerval, wissen dabei genau, was sie tun. Andere indes beziehen sich auf ein imaginäres Vorbild, das sie zuweilen als Walter Scott bezeichnen. Man könnte in diesem Fall zahlreiche Namen berühmter Romanciers anführen, desgleichen ebenso andere, die weniger bekannt sind; die Walter Scotts des Konsumzeitalters beispielsweise, mit denen heute manch eine »Sylvie« ihren Bildungshunger zu stillen versucht, als legitime Nachfolgerin Ihrer königlichen Hoheit, der Duchesse de Berry (siehe Chateaubriand). Man könnte sogar die These aufstellen, Die Abenteuer von Tim und Struppi oder die Astern-Reihe seien zeitgemäße Varianten des Romans, wie ihn Walter Scott konzipiert hat. Dieses immer weiter um sich greifende Phänomen wäre im Rahmen einer ideologischen Betrachtung ein wichtiges Beweisstück. Eine solche Untersuchung würde Scott, den eine mit Blindheit geschlagene Moderne aus ihrer Mitte verbannt hat, jedoch nur als Vorwand benutzen. Die einzige Möglichkeit, aus dieser doppelten Sackgasse wieder herauszugelangen, besteht darin, die Zeitgenossen Scotts und ihre unmittelbare Einschätzung seines Werkes zu Rate zu ziehen. Sehr bald schon haben sie Scott nämlich zugestanden, Schöpfer eines Genre zu sein, das allgemein als »historischer Roman« bezeichnet wird. Chateaubriand, dem man wohl (aufgrund des Prosaepos Les Martyrs) aus patriotischen Gründen die Vaterschaft für dieses Genre zusprechen wollte, teilte in dieser Hinsicht die herrschende Meinung.6 Auffallend ist jedoch, daß hier und dort manche von Scotts Zeitgenossen den Terminus »roman historique« zu vermeiden suchten, auch wenn sie den schöpferischen Stellenwert der großen Romane Scotts erkannten. Einer lähmenden Diskussion zu entgehen, die sich allzuschnell um Nebensächlichkeiten dreht, ist wohl nur möglich, wenn man folgendes Postulat aufstellt: es gibt ein Genre, das man als »le genre Walter Scott« bezeichnen kann. Seine Existenz wird mehr oder weniger ausdrücklich anerkannt, und es stellt aus historischer Perspektive einen der Grenzfälle dar, die aus der komplexen Wechselbeziehung zwischen Roman einerseits und Geschichte andererseits entstehen. Die Bezeichnung »roman historique« ist zu umstritten, um zweckdienlich zu sein. Ich möchte diesen Vorbemerkungen noch eine letzte hinzufügen, obwohl sie eigentlich zu selbstverständlich ist, als daß sie noch einmal betont werden müßte: Die »Rezeption« (in welcher Hinsicht auch immer) setzt immer die Kenntnis der Werke Scotts voraus, und es ist nur

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Hier sei nachdrücklich auf den Artikel »roman« im Grand dictionnaire universel von Pierre Larousse hingewiesen. Walter Scott erscheint dort als »chef d'ecole«, Chateaubriand hingegen als Erfinder.

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bedauerlich, daß viele Kritiker weiterhin von seiner Wirkung sprechen, ohne ihn je gelesen zu haben. Der »Mythos« Scott ist allzu oft, wie bei den alten Griechen, bloße Fiktion. Es ist bezeichnend, daß einer der ersten wirklich bedeutenden Beiträge, die über Walter Scott in Frankreich verfaßt wurden, aus der Feder eines der französischen Begründer der Geschichtsschreibung stammt, und es ist verwunderlich, daß ihm so wenig Beachtung geschenkt wird. Ich beziehe mich hier auf die Beobachtungen, die der damals fünfundzwanzigjährige Augustin Thierry unter dem Titel »Sur la conquete de l'Angleterre par les Normands, ä propos du roman de Walter Scott, Ivanhoe«7 zusammengefaßt hat. Diese ausführliche Analyse stellt einen wichtigen Beitrag dar, dessen theoretische und praktische Folgen beachtlich sind. Die Geschichtsschreibung ist eine epische Gattung, und es zeugt von großer Naivität sowie von mangelnder Leseerfahrung, wenn a priori zwischen einer Dichtung unterschieden wird, die sich ausschließlich mit Gespenstern beschäftigt, und einer Geschichtsschreibung, die sich durch rein wissenschaftliche Objektivität auszeichnet. Augustin Thierry hat diesen Irrtum nicht begangen. Er sieht in Chateaubriand, dem Verfasser der Martyrs, einem Romanschriftsteller also, ein Vorbild für die Erneuerung der Geschichtsschreibung. Thierry spendet ihm 1840 in seinem Vorwort zu den Recits des temps merovingiens ein außergewöhnliches Lob: »Die erschütternde Wirkung von Eroberung und Barbarei, die Sitten der Zerstörer des Römischen Reiches, deren wildes und seltsames Auftreten, sind in jüngster Zeit oftmals geschildert worden, und das gleich zweimal von einem großen Meister.«8 Die Verehrung, die Thierry Walter Scott entgegenbringt und die bei Spezialisten der französischen Literaturgeschichte kaum Beachtung findet, ist sicherlich von größerer Bedeutung und schwächt den Wert seiner Aussagen über Chateaubriand etwas ab. Für Thierry spielte Chateaubriand vermutlich die Rolle des Auslösers. Die eigentliche Inspiration, die der Historiker würdigen muß, geht jedoch von Scott aus. Thierry sieht in Scott den großen Lehrmeister, der die falschen Ansätze der »philosophischen Erzähler des vergangenen Jahrhunderts, die weit mehr irren als die großen Chronisten des Mittelalters«, einfach für hinfällig erklärt, weil sie die tieferen Gründe für kulturelle und nationale Konflikte nicht berücksichtigt haben. Jene Erzähler sind nicht mehr gefragt,

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Dieser Artikel vom 29. Mai 1820 sollte einer der wichtigsten Beiträge in seinem Werk DixAns d'etudes historiques werden, das Just Tessier 1835 herausgab. Thierry nimmt 1835 in seinem Vorwort einige Thesen dieses Artikels wieder auf. Eine Anmerkung Thierrys erhellt diese etwas kryptische Aussage: »M. de Chateaubriand: Les Martyrs, livres VI et VII. Etudes ou Discours historiques, etude sixieme, >Mceurs des BarbaresSchauplatz< und >Nationalität< nicht verwechselt werden; noch weniger darf Walter Scott für einen regionalen Autor gelten. Nur weil sie die Landschaft, die Charaktere, die Gebrauchsgegenstände, die Traditionen des Alltagslebens in Schottland, in der Provence oder im Berrichon zum Gegenstand ihrer Romane machen, sind Scott, Giono oder George Sand keine Regionalschriftsteller, sondern lediglich wirklichkeitsbezogene Autoren. Die Fälle Scott und Cooper haben gemeinsam die Frage aufgeworfen, inwiefern der Ort für die Einbindung der Romanhandlung von Bedeutung ist: Nicht als Mittel, sich der Außenwelt zu verschließen, sondern um die erforderliche Bindung an Raum und Zeit herzustellen und sich der sinnlichen Welt zu öffnen. Obwohl dieser Durchbruch, den Scott ermöglicht hat, im Meinungsstreit um den »realistischen« Roman kaum mehr berücksichtigt wird, sollte das Entscheidende dadurch nicht verdrängt werden: Die Bedeutung der räumlichen und zeitlichen Kategorien und die damit verbundenen Konsequenzen werden hier erkannt und verhelfen dem Roman zu seinem Siegeszug in die moderne Literatur, und zwar als eigenständige Gattung. Die regionalistische, schottische, folkloristische, pittoreske Einstufung der Romane Scotts beruht auf reiner Mißgunst und erklärt auch ihren Untergang, den ich allerdings nur für temporär halte.24 Thierry und Hugo dagegen waren - jeder auf seine Art - würdige Leser, so wie all die anderen, die sich von dem Pro-

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Offensichtlich liegt ihm der themenbezogene Patriotismus Vignys eher fem. Les Travailleurs de la mer und L'Homme qui rit sind »englische« Romane. Zugleich sind sie auch raumgebundene Romane. Die englische Forschung hat in den letzten zwanzig Jahren große Fortschritte gemacht, und ein Teil der französischen hat sich ihr angeschlossen. Ich verweise hier auf das Vorwort von Michel Crouzet zu einer französischen Ausgabe des Romans Waverley (collection Bouquins, Laffont 1981), der die Diskussion mit viel Sachverstand eröffnet hat.

Von Hugo bis Asterix

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blem des historischen Romans als »Abart« nicht haben beeindrucken lassen, sondern in Walter Scott den Schöpfer einer neuen, allumfassenden Gattung erkannten. Gerade dieser Epos-Begriff, diese Vorstellung eines poetischen Romans, hat so viele große französische Romanschriftsteller angeregt, daß man ihr einfach Aufmerksamkeit schenken muß; sie ist eine Grundidee, aus der sich jener innovative französische Roman herleitet, der tatsächlich auch ein »nouveau roman« ist. Lamartine nannte Scott in einem triftigen Gedicht: »Homere de l'histoire ä l'immense Odyssee«25 (Homer der Geschichte, Chronist einer unendlichen Odyssee). Dieser Vergleich sollte zu einer erneuten Lektüre Walter Scotts Anstoß geben und zu einer Neubewertung der Geschichte des Romans im 19. Jahrhundert führen, die auf weniger festgefahrenen und nationalistischen Grundlagen beruht. Nach Erscheinen des Dramas Le Theätre de Clara Gazul von Merimee, schrieb ein »abonne du Globe«, bei dem es sich möglicherweise um Stendhal handelt, am 18. Juni 1825 folgendes: »Das Erscheinen von Waverley vor einigen Jahren stellte für den ganzen epischen Teil unserer Literatur eine Revolution dar; es zeigte uns nämlich eine bis dato unbekannte Wahrheitstreue bei der Schilderung der Sitten und der Charaktere.« Balzac, der in Les Chouans eines der außergewöhnlichsten »paysages« der französischen Prosaliteratur geschaffen hatte, erklärt im Vorwort zur Comedie humaine: »Walter Scott erhob also den Roman zu dem philosophischen Wert der Geschichte; jene Literaturgattung, die von Jahrhundert zu Jahrhundert unsterbliche Diamanten einfügt in die Krone der Dichtung jener Länder, in denen die schönen Künste gepflegt werden. Er führte den Geist der alten Zeiten ein; er vereinigte in ihr das Drama, den Dialog, das Porträt, die Landschaft und die Schilderung; er wies dem Wunderbaren und dem Wahren seine Stellung an, jenen Elementen der Epik, und bei ihm berührte sich die Poesie mit der Vertraulichkeit der niedrigsten Sprache.«26 Balzac macht jedoch ähnliche Vorbehalte geltend wie Hugo im Jahr 1834. Dieser hatte durchblicken lassen, daß Walter Scott nicht mit ihm zu verwechseln sei und der als Mangel empfundene »prosa'isme« noch behoben werden müßte. Balzac sollte dies nach Vollendung eines opus mirandum deutlich benennen; denn für den Schöpfer der Comedie humaine war ein solches Vorgehen zum damaligen Zeitpunkt ganz selbstverständlich. Die Frage, ob Balzac nun ein realistischer oder romanti-

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Reponse aux adieux de Sir Walter Scott ά ses lecteurs, Epitre familiere, avril-mai 1832. In: Lamartine: (Euvrespoetiques completes. Hg. von Marius-Frangois Guyard. Paris: Bibliotheque de la Pleiade [ 1963], S. 531. Balzac's Menschliche Komödie. Leipzig 1908, Bd. 1, S. XXXIIf. (Übersetzung von Felix Paul Greve).

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scher Autor ist, oder vielleicht beides, bleibt auch in diesem Fall unerheblich. Er steht, wie Scott und Hugo, in einem anderen Horizont. Die Diskussion um den »roman historique« läßt ihn eher gleichgültig. Balzac schaut zurück, versucht, seinen eigenen Beitrag einzustufen, dem er gerade einen Namen und eine Form verliehen hat, die Οοιηέάΐβ humaine. Hugo für seinen Teil zieht sich für eine Weile vom Romanschreiben zurück, bis zu den Miserables, die er als »l'epopee de la conscience humaine« konzipiert. Die Phase der unmittelbaren Beeinflussung durch Scott ist jetzt offensichtlich abgeschlossen. Balzac und Hugo zeigen jedoch auf ihre Art, daß der Schotte eine neue Theorie und Praxis des Romans in Gang gesetzt hatte: Unabhängig von den unterschiedlichen Lesarten führt dieser Prozeß zu einem Ergebnis, das ich als neue Gattung bezeichnet habe. Ich hätte zuvor wohl nicht von einem neuen französischen Roman sprechen dürfen. Der riesige Erfolg, der Balzac und auch den Miserables außerhalb Frankreichs beschert war, hat Scott zwar teilweise verdrängt, aber auch gezeigt, daß man ihn richtig verstanden hatte. Die Verbreitung der großen französischen Romane des 19. Jahrhunderts über die Grenzen der Frankophonie hinaus entspricht gleichzeitig einer Internationalisierung der Gattung. Manch einer hat geglaubt und glaubt wohl immer noch, der »roman fransais« sei aus der Princesse de Cleves entsprungen wie Minerva aus dem Haupte Jupiters. Es handelt sich dabei um volkstümelnde Anhänger der nationalen Kultur, um die Urenkel des Asterix. Genausowenig wie Tolstoj oder Thomas Mann, wie Dikkens oder Zola, bedürfen Scott, Balzac und Hugo eines vereinfachenden Etiketts. Sie alle sind Schriftsteller, die in ihrer eigenen Sprache endlich ein weltweites Publikum ansprechen, nämlich all diejenigen, die Romane lesen. Möglicherweise ist das Goldene Zeitalter bereits vorbei, und wir sind nunmehr zum Stadium der Massenproduktion von billigen »historischen« Romanen übergegangen. Das würde bedeuten, daß ein großes Kapitel der europäischen Literaturgeschichte jetzt abgeschlossen ist: nicht für den historischen (oder auch: »romantischen«) Roman und auch nicht für seinen Nachfolger, den realistischen Roman sowie dessen naturalistische Spielart, sondern einfach nur für den triumphalen Erfolg des poetischen (oder auch: epischen) Romans im 19. Jahrhundert. (Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky)

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Zola und England

Die Geschichte der Zola-Rezeption in England und eine Darstellung von Zolas Einfluß auf den englischen Naturalismus sind keineswegs deckungsgleich. Ob es letzteren überhaupt gibt, ist jedenfalls schon höchst fraglich. Yves Chevrel schreibt, daß »die internationale Dimension des Phänomens Naturalismus unbestreitbar ist.«1 Andererseits bildet das viktorianische Großbritannien einen scheinbar so deutlichen Gegensatz zum europäischen Modell, daß es häutig als Ausnahme von dieser kulturellen Hegemonie des 19. Jahrhunderts angeführt wird. Wie es ein Zeitgenosse ausdrückte, »hält sich nur England von dieser breiten Bewegung fern«.2 Es fehlen nicht nur gänzlich die üblichen Signale einer literarischen Bewegung wie Gruppen, Polemiken, Manifeste und theoretische Positionierung; auch die einzelnen englischen Schriftsteller und ihre Werke fügen sich selbst im Rückblick so schwer in Definitionen und Klassifikationen, daß erst seit kurzer Zeit aus der minutiösen Identifizierung von Quellen, Parallelen und Analogien komparatistische Studien erwachsen.3 Damit soll nicht bestritten werden, daß biographische Schnittpunkte und intertextuelle Anklänge lehrreich sein können. Indes will der vorliegende Aufsatz eine andere Gruppe von Mechanismen des literarischen Systems in den Vordergrund stellen: Jene soziologischen und ökonomischen Faktoren, die untrennbar mit der Erosion der Grenzen durch den Naturalismus ver-

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Le Naturalisme. Paris 1982, S. 48; s. auch ders. (Hg.): Le Naturalisme dans les litteratures de langues europeennes. Universität Nantes 1983, und Sigfrid Hoefert: Naturalism as an International Phenomenon: the State of Research. In: Yearbook of Comparative and General Literature 27 (1978), S. 84-93. - Die Zitate aus der Sekundärliteratur wurden von mir übersetzt. Die Quellenangaben beziehen sich jeweils auf die englischen und französischen Originaltexte (Anm. d. Ü.). Andrew Lang: Emile Zola. In: The Fortnightly Review 31 (1882), S. 439-452. Eine nützliche Bibliographie liefern Walter Greiner und Gerhard Stilz: Naturalismus in England 1880-1920. Darmstadt 1983, S. 1 -24. Die intellektuell stimmigste Perspektive ist die generische, entwickelt von David Baguley: Naturalist Fiction. The Entropie Vision. Cambridge 1990; seine Synopse der Probleme des Naturalismus (S. 29-39) in England ist Ausgangspunkt des vorliegenden Aufsatzes.

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bunden sind. Darüber hinaus wird er erweisen, daß wir die dem 19. Jahrhundert eigenen, unvermeidlich militaristischen Metaphern von Invasion und Eroberung, die ein Vermächtnis napoleonischer Kulturpolitik, zunehmender Kolonialisierung und territorialer Imperative jener Epoche sind, möglicherweise in Frage stellen müssen. Zolas Fall ist beispielhaft, denn selten ist ein einzelner Schriftsteller enger mit einer bestimmten ästhetischen und kreativen Praxis assoziiert worden. Seine eigenen militanten Äußerungen beruhen auf der Annahme einer universellen Gültigkeit des Naturalismus. Er erfreute sich zu Lebzeiten eines wahrhaft europäischen Status, der mit nichts zu vergleichen ist. Tatsächlich bedarf es, um in den Begriffen der entwerteten künstlerischen Währung unseres medienübersättigten Zeitalters zu sprechen, erheblicher imaginativer Anstrengung, um das Ausmaß von Zolas internationalem Ruf und Prestige vollkommen zu erfassen. Zumindest in dieser Hinsicht ist sein Nachruf in The Times (30. September 1902) unzweideutig: Ein großer Erneuerer ist dahingegangen. Vielen zurückhaltenden Menschen erschien sein Werk verabscheuungswürdig; vielen Menschen von geschultem Geschmack war es unlesbar; aber beinahe für die gesamte lesende Klasse Südeuropas hatte es als neue Offenbarung gedient, und in Rußland, Deutschland, Holland, in den Augen einer großen französischen Leserschaft und eines Teils der angelsächsischen Welt galten und gelten die Schriften Zolas als das wichtigste schöpferische Werk der letzten fünfundzwanzig Jahre.

Lange vor der Dreyfus-Affäre konnte der Autor dem niederländischen Kritiker Jacques van Santen Kolff versichern, daß »es genüge, einen Briefumschlag an Emile Zola, Frankreich, zu adressieren, damit er mich erreicht.«4 Sein ständig wachsender Kreis ausländischer Briefpartner bezeugt eine Dynamik der Inbesitznahme, die sich spiralförmig von Medan über den Kontinent ausbreitete. Man sollte jedoch betonen, daß Zolas Haltung im wesentlichen reaktiv ist. Er beantwortet Briefe aus anderen Ländern, die ihn in Form von Anfragen wegen Interviews, Übersetzungsrechten oder der Erlaubnis zur Erstellung einer Bühnenfassung für ausländische Theater erreichen. Stellt man diese Gewichtung wieder her, so wird damit natürlich die traditionelle Richtung der literarischen Beeinflussung umgekehrt. Sie deckt sich mit dem allgemeinen Muster von Zolas »Grenzüberschreitungen«. Zwischen 1889 und 1892 beispielsweise importiert Deutschland 100 000 Bände seiner Werke. Die bedeutende Artikelserie, die Zola in den späten 1870er Jahren für die St. Petersburger Vestnik Evropy verfaßt, zielt auf ein französisches Publikum, das Le Voltaire liest, und hängt mit der gewachsenen Autorität zusammen, die durch vorherige Veröffentlichungen außerhalb

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Correspondance

(1880-1883). Bd. 4. Montreal 1983, S. 448.

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Frankreichs aufgebaut wurde. Umgekehrt wird die Pariser Veröffentlichung von Eugene-Melchior de Vogiies Le Roman russe (1886) durch einen stillschweigenden Vergleich auf Kosten Zolas angeregt. Hier wird das Verdopplungsprinzip erkennbar, von dem Edward Said in seinem Buch Orientalism (1978) spricht und durch das die kulturelle Übertragung in beiden Wortbedeutungen symbiotisch mit der heimischen Befangenheit verbunden ist. Der alternative Titel einer Studie zu »Zola und England« ist »England und Zola«. Diese revidierte Perspektive gestattet es uns, das symptomatische Moment in Zolas Beziehung zur englischen Kultur, repräsentiert durch seinen ersten London-Besuch im September 1893, neu zu interpretieren.5 Denn die Episode ist keineswegs ein Indikator der verspäteten Anerkennung seines literarischen Talentes. Auch reicht es nicht aus, den Widerspruch in Zolas spektakulärem Empfang in den Korridoren viktorianischer Macht zu registrieren, kaum vier Jahre, nachdem Henry Vizetelly für die Veröffentlichung der Romanübersetzungen ins Gefängnis mußte. Bezeichnenderweise war nur einer von Zolas zahlreichen offiziellen Terminen zu Ehren des Verfassers von Les RougonMacquart anberaumt. Er selbst war sich bewußt, daß seine frühere Sprache vielleicht »ein wenig zu literarisch für die Engländer« gewesen sein könnte. Und als er nach Paris zurückkehrte, gestand er Le Temps: »unter uns gesagt, bin ich überzeugt, daß die Engländer große Vorbehalte gegen meine Romane hegen [...]. Es hat kein Meinungsumschwung stattgefunden. [...] Auch bin ich in England weit mehr gefeiert als gelesen oder verstanden worden.« Man sollte sich daran erinnern, daß er vom Institute of Journalists in seiner Eigenart als Präsident der Societe des Gens de Lettres eingeladen worden war. Ebenfalls eingeladen zum allerersten Jahreskongreß in der Hauptstadt war die Elite der französischen Presse. Zolas Anwesenheit bei diesem bemerkenswerten Anlaß ist Bestandteil des Triumphes des New Journalism.6 Er wird gerade wegen der Unterschiede in der Pressepraxis zu beiden Seiten des Kanals gebeten, bei der Plenarsitzung über »Anonymität« zu sprechen. Zolas nicht überraschendes Eintreten für den Vorrang individueller Namenszeichnung vor Kollektivtexten trifft mitten ins Herz einer weit umfassenderen englischen Debatte über die Stellung des Schriftstellers in der Gesellschaft. Der Naturalismus ist beinahe unerheblich, zumindest in seinen pragmatischen Effekten, wenn auch nicht in den weitreichenderen Implikationen, die in Zolas L'Argent et la litterature (1880)

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S. Colin Burns: Le voyage de Zola ä Londres en 1893. In: Les Cahiers naturalistes 60 (1986), S. 41-73. Die abwertende Formulierung stammt von Matthew Arnold; s. Raymond Williams: The Long Revolution. London 1961 und Lucy Brown: Victorian News and Newspapers. Oxford 1985.

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angesprochen wurden. Er wird weder als Theoretiker noch als Praktiker des Romans nach London geholt, sondern eher aufgrund seines sprichwörtlichen Professionalismus, der seinem Ruhm und Reichtum zugrundeliegt. Was die Verbreitung von Zolas fiktionalen Werken betrifft, so müssen nicht nur parallele, sondern auch verwandte, in England wurzelnde kommerzielle und institutionale Zwänge beachtet werden. Im November 1884 fährt ein Vertreter von The People, der auflagenstärksten Sonntagszeitung, nach Medan, um über die englischen Serienrechte für Germinal zu verhandeln. The People, im Jahre 1881 gegründet, steht beispielhaft für die Herausforderung der Tradition durch den New Journalism, die sich im klar verkündeten Ehrgeiz ausdrückte, eine »Wochenzeitung für alle Klassen« zu sein. Auch ist es kein Zufall, daß The People die Rechte für Germinal später vom Verlag Henry Vizetellys kaufte. Die Aufrichtigkeit von dessen aufgeklärter Haltung steht außer Zweifel; er macht einem englischen Lesepublikum wichtige ausländische Autoren von Flaubert bis Dostoevskij zugänglich.7 Vizetelly war aber auch eine Schlüsselfigur in den Kämpfen um die soziale Praxis des Schreibens, und sein Bankrott, der aus den Verfolgungen durch die National Vigilance Association (in deren Augen er der »Hauptschuldige für die Verbreitung verderblicher Literatur« war) resultierte, stellte einen vorübergehenden Sieg der Kräfte dar, die entschlossen an der Kontrolle des Kulturschaffens festhalten wollten. Bedroht wurde diese Position durch die zunehmende Schreib- und Lesefähigkeit als Ergebnis des Education Act von 1870 und die technologischen Fortschritte in Druck und Vertrieb, die gleichzeitig ein Massenpublikum schufen und versorgten. Die Möglichkeit einer gezielten Verbreitung von Zolas Romanen war durch die wachsende Zahl der aus den USA importierten Übersetzungen bewiesen worden. Die Berner Konvention des Jahres 1886 über literarisches Eigentum (bei der das Vereinigte Königreich einer der ursprünglichen fünf Unterzeichner war) machte es auch aus Wettbewerbsgründen um so dringlicher, der Nachfrage mit einer taktischen Alternative zu begegnen, deren Erfolgsaussichten durch Zolas Einwilligung verbessert worden waren. Das hieß, sich dem berüchtigten Monopol von Charles Edward Mudies Leihbibliotheken zu widersetzen.8 Mudies Ruf als Wachhund der zeitgenössischen literarischen Moral war untrennbar verbunden mit einer kommerziellen Strategie, die im Einklang mit der Preispolitik der Verlagshäuser und der relativen Freiheit der Schriftsteller stand, die durch Verträge Zugang zum Lesepublikum gewannen. 7 8

Simon Curtis: Vizetelly and Co. In: PN Review 9 (1982-83), S. 28-31. Richard Altick: The English Common Reader. Α Social History of the Mass Reading Public, 1800-1900. Chicago 1957, und Guinevere Griest: Mudie's Circulating Library and the Victorian Novel. Bloomington 1970.

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Denn die Preise neuer Bücher konnten künstlich hochgehalten werden, solange ermäßigte Verkäufe an die Leihbüchereien durch Mudies eigennützige Vetorechte bei der Verbreitung neuer Literatur vergolten wurden. Der Widerstand der Zeitungsbesitzer gegen den Kampf der Journalisten um die namentliche Unterzeichnung ihrer Texte zielt in ähnlicher Weise auf den Erhalt eines Maklerprinzips ab. Auf dem Spiel steht, auch wenn sie sich noch so gut mit der verlegerischen Zensur verträgt, die bislang mittelbare Beziehung zwischen der Produktion des Autors und dem Leser als Konsumenten. So gesehen muß Henry Vizetellys Veröffentlichung von Zolas Werk in England im gleichen Zusammenhang wie die radikale Veränderung gesehen werden, die durch die Einführung von Zeitungen entstanden, welche sich auch ein breites Lesepublikum leisten konnte. Die eigentlichen Streitpunkte werden mit dem Fall George Moore ins Zentrum gerückt, dem einzigen britischen Schriftsteller, bei dem man überhaupt einen gewissen Konsens über die Ähnlichkeit zwischen einigen seiner Romane und dem Vorbild Zolas finden zu können scheint. Eine Einordnung, die Moores Opportunismus und seine Bewunderung für Zola gleichermaßen berücksichtigt, muß sein Eintreten für Zola in England und seine heftige Verurteilung von Mudies Leihbüchereien in denselben zeitlichen Rahmen der Jahre 1884-85 stellen. Als er 1883 entdeckte, daß Mudie lediglich 50 Exemplare seines Romans Α Modern Lover erworben hatte, wurde dies für ihn zum auslösenden Faktor für eine Allianz mit dem Verleger und Übersetzer Vizetelly. Als dieser dann Moores A Mummer's Wife als erstes Exemplar seiner »einbändigen« Serie zum Preis von sechs Schilling herausbrachte, unternahm er damit einen Frontalangriff auf den institutionalisierten »Drei-Decker« (den dreibändigen Roman). Eine wichtige Übereinstimmung zwischen L'Assommoir und Moores Roman von 1885 liegt nicht zuletzt im Konzept des Bestsellers, der durch Zolas Erfolg als ökonomisches und ästhetisches Ideal entstanden war. Daß man dies in England nicht erreichen konnte, galt als weiterer Beweis für die Zwänge, unter denen unabhängig gesinnte Verleger und Schriftsteller zu arbeiten hatten. Zolas Name erschien zur Unterstützung solch böser Vergleiche an naheliegendsten. Diese gipfeln in Moores Pamphlet aus dem Jahre 1885, das Vizetellys Stempel trägt und Literature at Nurse, or Circulating Morals betitelt ist. Selbst in seinem Vorwort zu Vizetellys Übersetzung von Pot-Bouille gewährt Moore den negativen finanziellen Konsequenzen von Mudies System großen Raum. Sein Artikel in The Pall Mall Gazette vom 3. Mai 1884 war eigentlich als Interview mit Zola während der Vorbereitungen zu Germinal gedacht. Doch anstatt durch die Verteidigung des französischen Schriftstellers Kontroversen zu riskieren, ergriff Moore die Gelegenheit, um über Zolas »extreme Verwunderung angesichts des absoluten Niedergangs, in dem sich die englische Literatur

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seit einigen Jahren befindet«, zu berichten. Zola, so erklärte er begeistert, »schreibt diese Verschlechterung dem Monopol der Leihbüchereien und deren Tendenz zu, sich nur um junge Mädchen zu kümmern, zum Nachteil aller anderen Lesergruppen.« 9 Wir haben hier das sichtbarste Zeichen eines Angriffs, den eine bestimmte Generation von Künstlern gegen die Konventionen der Verkaufsstrategie, der literarischen Zensur und der Romanpraxis führte. Während Moore und Vizetelly am engsten mit Zola in Verbindung zu sehen sind, haben sie gleichzeitig an einem heterogenen Spektrum teil, das sich von Henry James bis Oscar Wilde erstreckt und das durch eine gemeinsame Unzufriedenheit mit dem Zustand der englischen Kultur verbunden ist. Betrachtet man einzig Zola als repräsentativ, wie es im Fall des auf den französischen Journalismus ausgedehnten Empfangs im Jahre 1893 geschah, so heißt das, eine gemeinsame Diagnose (ungeachtet der unterschiedlichen Reaktionen auf Les Rougon-Macquart) zu ignorieren, die als Hauptschwäche der Kultur ihre Insellage sah. Dies ist erkennbar eines der gängigsten rhetorischen Muster des 19. Jahrhunderts, von Madame de Stael zum passenderen Beispiel des Deutschlands der 1880er Jahre, wo man Zola, Tolstoj und Ibsen beschwor, um die Debatte über deutsche Werte neuzubeleben. Selbstverständlich ist es nicht möglich, die gegenseitige Befruchtung der fin-de-siecle-Kultur in Europa zu analysieren, ohne den Kosmopolitismus in Betracht zu ziehen, der die vergleichbaren Entwicklungen sowohl erklärt als auch erzeugt. Auf einer rein prosaischen Ebene wurzeln diese in einer modernisierten Infrastruktur der Nachrichtenübermittlung und Verkehrsmittel. Ein Brief, den man morgens in Paris abschickt, ist am Abend in London; dort erscheint wöchentlich Le Courrier de Londres et de l'Europe auf französisch; Pariser Theaterpremieren werden wie selbstverständlich in der britischen Presse besprochen, und die ausländische Rezeption ist von direkter Bedeutung, wie Zolas Sorge um die Bühnenfassung von Germinal beweist: »Wir wollen keine öffentliche Ablehnung von Germinal in London, denn das würde unsere Situation in Paris noch schwieriger machen.« 10 Auch muß nicht im Detail auf die menschliche Komponente solcher Netze hingewiesen werden. Vizetelly war 1865 Pariser Korrespondent von The Illustrated London News; Moore war 1873 nach Frankreich gezogen und blieb auch nach seiner Rückkehr nach London

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Zola trifft eine solche Feststellung nur in einem Brief an Moore (25. Januar 1885) und läßt wahrscheinlich bloß dessen Meinung anklingen: »wunderbar ist auch, was Sie mir über Ihren schnellen Sieg über Ihre Leihbüchereien berichten; denn ich bin davon überzeugt, daß diese Publikationsweise einen beträchtlichen Einfluß auf die leise Dummheit hatte, in die der englische Roman gesunken war.« In: Correspondence (1884-1886). Bd. 5. Montreal 1985, S. 226. Brief vom 25. Februar 1886. Ebd., S. 372.

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sieben Jahre später ein regelmäßiger Besucher. London und Paris sind Orte des Exils und des Austausche. Für einen bestimmten Teil der angelsächsischen Künstlergemeinde gilt eine Pariser Lehrzeit als rite de passage. Es genügt wohl zu sagen, daß diese persönlichen Kontakte zum Ausgleich kultureller Unterschiede notwendig sind. Auf einer ganz anderen Ebene steht Matthew Arnolds hochgesinnte Vision von »Europa als einzigem großen Bündnis für intellektuelle und geistige Zwecke«11 aus dem Jahre 1864. Man muß sich daran erinnern, daß die englische Zola-Rezeption zu einem kritischen Diskurs gehört, in dem die Qualitäten vor allem französischer Literatur ganz hoch gehandelt werden. Viktorianische Haltungen gegenüber Frankreich sind - im besten Fall - zutiefst zwiespältig.12 Als Walter Pater und sein Kreis in den 1890er Jahren Wohlwollen gegenüber französischen Kunstwerken äußern, versagen sie damit langjährigen religiösen und moralischen Abneigungen den Respekt. Gleichzeitig ist jedoch Vorsicht geboten, bevor man den Schluß zieht, daß dieser Avantgarde der Dank für die allmähliche Akzeptanz Zolas in England gebühre. Diese selbst ernannte Elite, die in literarischen Zeitschriften veröffentlichte, bewegte sich in unübersehbarer Distanz zu den Lesegewohnheiten des breiten Publikums. Da fiel es ihnen naturgemäß schwer, mit dem Paradox fertig zu werden, daß sie die Demokratisierungstendenzen der Kunst unterstützten, die sich in Zolas Aufstieg ausdrücken. Illustriert wird dies durch die Frage der Übersetzung von Zolas Werken, die nirgendwo präziser auf den Punkt gebracht wird als in The Saturday Review vom 26. Januar 1901: »An der Notwendigkeit, M. Zola zu übersetzen, bestehen schwere Zweifel. Gebildete Menschen können ihn im Original lesen, und die Ungebildeten läsen ihn am besten überhaupt nicht.« Eine solche Feststellung ist von politischer Neutralität ebenso weit entfernt wie der rassistische Hinweis auf die »lesenden Klassen Südeuropas« im Zola-Nachruf der Times. Die ausgezeichneten Übersetzungen von sechs Romanen, die von der »Lutetian Society« von 1894 bis 1895 in Auftrag gegeben wurden, stellten zunächst noch keine Bedrohung dar: sie waren teuer, zudem als Privatdrucke und in limitierter Auflage von 300 Exemplaren erschienen. Die von Henry Vizetelly und später von seinem Sohn Ernest für den Verlag Chatto and Windus angefertigten Übersetzungen umgehen die offiziellen Geschmacksrichter. Sie mögen uns heute als in grotesker Weise verballhornte Versionen von Zolas Texten erscheinen. Der Briefwechsel zwischen Ernest Vizetelly und dem Schriftsteller macht deutlich, in welchem Umfang die

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Zitiert von John J. Conlon: The Reception of French Literature in England, 18851914. In: Studies in Anglo-French Cultural Relations. Imagining France. Hg. von Ceri Crossley/Ian Small. London 1988, S. 34-Φ6. Walter E. Houghton: The Victorian Frame of Mind, 1830-1870. New Haven 1957.

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Kürzungen des Übersetzers auf die Erwartungen des englischen Lesepublikums abzielten.13 Ihre nachträgliche Interpretation wie auch die sprachlichen Verschrobenheiten der Übersetzungen bestätigen JeanMarie Schaeffers Bemerkung, daß »jeder Übergang von einer Sprache in eine andere offensichtlich eine Rekontextualisierung impliziert.«14 Auf dem Höhepunkt des Taktierens beinhaltet dies eine Wiedereinsetzung Zolas in didaktische Konventionen, ob nun im 1893 in The Contemporary Review erschienenen Artikel, der »Die moralische Lehre Zolas« überschrieben ist, oder im Untertitel The Downfall. Α Story of the Horrors of War (1892), den Ernest Vizetelly seiner Übersetzung von La Ddbäcle hinzufügte. Auch war dies kein völlig erfolgloser Appell an britische Anti-Kriegs-Gefühle. Die positive Reaktion auf den Serienabdruck der Übersetzung in The Weekly Times and Echo beschleunigte die Veröffentlichung von Robert Sherards bahnbrechender Zola-Biographie,15 und es veranlaßte das Verlagshaus Heinemann, Edmund Gosses Fassung von Zolas anderen warnenden Militärerzählungen unter dem Titel der Geschichte The Attack on the Mill (1892) zu publizieren. Beachtung gebührt auch der Art und Weise, in der das Theater zu dieser »Rekontextualisierung« beiträgt. Wie David Baguley gezeigt hat, regte das öffentliche Aufsehen rund um die 1879 in Paris aufgeführte Bühnenversion von L'Assommoir Charles Reade zur Produktion seines siebenaktigen Drink im selben Jahr an.16 Indem er die Grundelemente von Zolas Erzählung in ein Abstinenztraktat verwandelte, gewann Reades Stück eine ansonsten undenkbare Legitimität. Seine Beliebtheit beim englischen Publikum diente als Auslöser sowohl für den Import unerlaubter amerikanischer Zola-Übersetzungen wie auch für den darauf reagierenden Konkurrenzkampf Vizetellys. Neue Richtungen im Theater sind jedoch schlicht ein Element jener zunehmenden Wertschätzung ausländischer Texte, die sich in derartigen kommerziellen Unternehmungen spiegelt. Strindberg, Hauptmann und Ibsen schaffen minde13

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Colin Burns: Lettres inedites d'Emile Zola ä Ernest Vizetelly (1899-1902) et ä Chatto et Windus (1897-1900). In: Les Cahiers naturalistes 64 (1990), S. 105-133. Was dies bedeutet, läßt sich sehr schön aus dem Vorschlag eines Ubersetzers ermitteln, den er dem Verlagshaus von Richard Bentley und Sohn unterbreitete: »Gewiß kann ich daraus [L'Assommoir] durch Herausnahme der anstößigen Passagen, Glättung der Sprache und Kürzung um ein Drittel (denn es ist für den englischen Markt zu umfangreich) ein nicht nur lesbares, sondern auch äußerst gut verkäufliches Buch machen«; zitiert von William E. Colburn: Victorian Translations of Zola. In: Studies in the Literary Imagination 1 (1968), S. 23-32. In: Qu'est-ce qu'un genre litteraire. Paris 1989, S. 145. Michael Tilby: Emile Zola and his First English Biographer. In: Laurels 59 (1988), S. 33-56. S. Baguleys Ausgabe des Stückes in der Serie Documents Naturalistes, Nr. 4. London 1991.

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stens im gleichen Maße wie Zola neue Erwartungshorizonte: das vom Dramatiker choreographierte »well-made play« (gut gemachte Stück) ist nicht länger die Norm; die konventionelle Einheit der Struktur weicht der Formlosigkeit der Erfahrung. 17 Reade und seine Nachahmer führen, ebenso wie andere, die Zolas Stücke auf die Londoner Bühne bringen, keinen moralischen Kreuzzug; sie sehen einzig auf die Kasse. Schon die bloße Tatsache, daß Zola bis zu seinem Tod und darüber hinaus in England auf Schmähungen und Widerstand stieß, bleibt von großer Bedeutung. Sie weist darauf hin, daß sich die Mechanismen, die er erschüttert, nicht auf die offensichtlichen kulturellen Konventionen der viktorianischen Gesellschaft beschränken. Ohne Zweifel ist kritische Feindseligkeit (im engen Sinne einer Rezeption, die durch die Rezensionen der konservativen Presse kanalisiert wird) Anzeichen für nicht länger feststehende literarische Konventionen; und die Anwesenheit Wildes, James' und Bernard Shaws während einer Vorstellung von Therese Raquin im Royalty Theatre am 9. Oktober 1891 sagt viel über zeitgenössische ästhetische Bindungen aus. Eine Debatte, die sich auf den Meinungsaustausch in intellektuellen Zeitschriften oder den Versammlungen der »high society« beschränkt, läßt die Unterscheidung zwischen den »Gebildeten« und »Ungebildeten« intakt, die der obengenannte Artikel in der Saturday Review von 1901 mit solch erschreckender Deutlichkeit vornimmt. Die einander überlagernden Phänomene von Verlagskartellen, populärem Journalismus und professionellem Schriftsteller, die alle ans Publikum verkaufen, sorgen dafür, daß der ideologische Subtext sich stets nur knapp unter der Oberfläche befindet. The People wendet sich an »alle Klassen«; George Moore schreibt von »Klassen von Lesern«. Leserschaft und Klasse sind nachhaltig untrennbar verbunden. Aus diesem Grund ist insbesondere die Diskussion über den Roman mit Ängsten befrachtet. Denn er besitzt eine erkenntnistheoretische Valenz, die sich aufgrund des privaten Konsums und der gleichzeitigen Massenwirkung keiner anderen literarischen Form bietet. Er ist der mächtigste Informationsträger seiner Zeit, wie Trollope in seinem berühmten Essay über »Novel Reading« erkannte. Der Roman konnte den Interessen der allgemeinen Aufklärung wie auch denen der sozialen Revolution dienen. Die Ergebnisse einer Umfrage zu Lesegewohnheiten, die in den späten 1880er Jahren von den Free Libraries von Birmingham, Darlington, Portsmouth und Liverpool durchgeführt wurde, ließen The Pall Mall Gazette berichten, daß »Romanschriftsteller die

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S. Eileen Ε. Pryme: Zola's Plays in England, 1870-1900. In: French Studies 13 (1959), S. 28-38; und Edward Mclnnes: Naturalism and the English Theatre. In: Forum for Modern Language Studies 1 (1965), S. 197-206.

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Funktion der Prediger an sich gerissen haben, [und] daß in beinahe allen öffentlichen Büchereien fiktionale Prosa am häufigsten, religiöse am seltensten verlangt wird.«18 Als die Bücherstände in den Bahnhöfen unter die ausschließliche Kontrolle von W.H. Smith gestellt wurden, wollte man mittels dieser Maßnahme ausdrücklich überwachen, welche Arten von Romanen im Zug gelesen wurden. Oftmals hinter dem moralischen Anspruch verborgen, ist die langgehegte Angst vor Romanen sicherlich mit der Gleichsetzung von Prosa und Propaganda verbunden. Es ist kein Zufall, daß sich die kompromißloseste Haltung gegenüber Zola in W.S. Lillys Α Century of Revolution (1889) findet. Die englische Sicht auf Frankreich, die vor Ansteckung warnte, beschäftigte sich weniger mit moralischer Zersetzung als mit einer möglicherweise tödlichen politischen Krankheit. Vizetellys Zusatz »A Realistic Novel« (»Ein realistischer Roman«) in den Titeln seiner Übersetzungen aus dem Französischen war in brillanter Weise zweideutig. Einerseits schob diese Formel die Verantwortung präventiv auf jene, die so unklug waren, einen solchen Text in die Hände des »Jungen Lesers« zu geben; andererseits stellte sie eine unwiderstehliche Einladung dar, den Euphemismen und der süßlichen Sentimentalität zu entgehen, die man den »lesenden Klassen« gewöhnlich als Teil ihrer fortgesetzten bürgerlichen Erziehung anbot. Was immer sonst »Ein realistischer Roman« versprach, seine Entmystifizierung setzte bei realen sozialen Welten an. Vizetellys Behauptung, daß am Ende des Jahrhunderts über eine Million Exemplare von Zolas Romanen in Umlauf gewesen sein, mag übertrieben sein; die Behauptung selbst jedoch stellte eine enorme Herausforderung an den politisch-kulturellen Status Quo dar. Weitaus offensichtlicher als der subversive Effekt, den Zola auf seine englischen Leser in der Arbeiterklasse ausübte, ist jedoch die allgemeinere Untergrabung einer kritischen Hierarchie, die durch die Popularität seiner Romane lediglich beschleunigt wird. Ein Massenpublikum destabilisiert zuerst und vor allem die pädagogische Autorität der literarischen Führung, deren Ratschläge von den anspruchsvollen Londoner Zeitschriften an Familienzeitungen im ganzen Land weitergegeben werden. Als ihre Rolle als Zwischenvermittler von der Zunahme des publizierten Materials überholt wird, ist es nur ein kleiner Schritt zurück zu Coleridges Klage über die Ausbreitung des Lesens. Wie in Frankreich steht Zolas Originalität in direktem Verhältnis zu den Problemen, denen sich englische Kritiker gegenübersahen, wenn sie sich bemühten, sein Werk in überkommene Kategorien einzuordnen. Während auf diesem

18

Robert A. Colby: Rational Amusement: Fiction vs Useful Knowledge. In: Victorian Literature and Society. Essays presented to Richard D. Altick, hg. von James R. Kincaid/Albert J. Kuhn. Ohio 1984, S. 46-73.

Zola und England

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Gebiet noch Forschungsarbeit zu leisten ist, so läßt sich sagen, daß im Zentrum der Bildung von Leser»horizonten« deutlich die positive bzw. negative Zusammenschau steht. Pater beschreibt einen anderen Romanautor (Ferdinand Fabre) als »würdig eines M. Zola in seinen besten Arbeiten«; die gegensätzliche Position sieht Zola auf einer Stufe mit den Tiefpunkten bei Balzac. Daudet ist ein besonders interessanter Gewährsmann: er verkörpert das akzeptable Gesicht des französischen Realismus, ebenso charmant wie Zola brutal ist, nichtsdestotrotz aber nützlich für dessen vorbehaltlose Ablehnung.19 Auch englische Belletristik wird nach diesen Kriterien beurteilt. 1891 verteidigt Arthur Symons Moore, indem er bestreitet, jemals bedauert zu haben, daß der Autor von Α Modern Lover laut The Spectator vom 18. August 1883 »der englische Zola« sei. Eine weitere Rezension von Vain Fortune (Athenaeum, 7.11. 1891) liefert ein gutes Beispiel für dieses Vorgehen der Kritik: Wenn Mr. George Moores neuestes Werk in gewisser Hinsicht weniger eindeutig zolaesk ist als einige seiner Vorgänger, so ist es nichtsdestoweniger unerfreulich und ungesund. Seine Charaktere weisen diese besondere Seelenlosigkeit auf, diesen beinahe gänzlichen Mangel an moralischer Vernunft, der M. Zolas monströsen Helden und Heldinnen eigen ist.

Die umgekehrte Spiegelung solcher Urteile findet sich in Brunetieres Le Roman naturaliste (1902): von Paris aus betrachtet existiert ein »Abgrund zwischen dem französischen Naturalismus und dem englischen Naturalismus«, der in Zolas Unfähigkeit, von Dickens und George Eliot zu lernen, begründet liegt. All diese Allianzen, die vielleicht den Zweck hatten, literarische Bezüge zu verstärken, bezeugen die klassifikatorische Hilflosigkeit angesichts der allgemeinen Instabilität; der Mangel an festen Vergleichspunkten ist neben dem exzessiven Vokabular, das in persönliche Beleidigungen absinkt, ein weiteres Anzeichen für die Auflösung einer gemeinsamen Kultur. Gewiß sollten wir vermeiden, Zola eine unverhältnismäßige Rolle in der englischen Wahrnehmung dieser Krise zuzuschreiben. Bezeichnenderweise bezieht sich sein Nachruf in der Times auf den Naturalismus als »eine Weiterentwicklung von Balzacs Methode«. Man sieht, wie stark Les Rougon-Macquart durch den Einfluß des französischen Realismus in England eingegrenzt werden, eines Realismus, der selbst neue Richtlinien kritischen Urteils setzt, die Aufmerksamkeit auf den sozialen und moralischen Rahmen der zeitgenössischen Gesellschaft lenkt und die Determinanten menschlicher Erfahrung neu definiert. Daneben aber gibt es weitere moderne Stimmen, von Darwin bis Schopenhauer,

19

S. Alphonse Favreau: British Criticism of Daudet, 1872-1897. In: PMLA 52 (1937), S. 528-539.

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die Annahmen und Methodologien zerstören. Es wäre ebenso tendenziös, Zolas Schatten auf Thomas Hardys physiologischem Pessimismus zu sehen, wie Gissings Aufruf des Jahres 1895 an die Romanschriftsteller, sich ebenso ernst zu nehmen wie Wissenschaftler es tun, auf Le Roman expirimental zurückzuführen. Selbst Havelock Ellis' epischer Vermerk, Zola habe das »Gebiet des Romans erweitert«, macht den Schriftsteller zu einem aktiven Subjekt. Eines der seltsamsten Merkmale im Prozeß der Verbreitung von Zolas Werk in der englischen Öffentlichkeit liegt darin, daß er selbst, anders als in Frankreich, offenbar tatsächlich keinerlei Besorgnis wegen der furchtbaren Verstümmelung seiner Werke im Zuge der Übersetzung gehegt hat. Ohne seinen unternehmerischen Pragmatismus, der sich am besten in seinem Umgehen der Agentur von Ernest Vizetelly und den Direktverhandlungen mit Chatto and Windus über die englischen Rechte seiner letzten Romane zeigt, wäre Zolas »Grenzüberschreitung« vielleicht weniger systematisch gewesen. Zurück bleibt eine zweifache Überschreitung, nicht nur der Konventionen, mit denen sein Werk konfrontiert war, sondern auch des Originaltextes, den es hinter sich läßt. Vielleicht ist dies eine abschließende Bestätigung dessen, was diese »Geschichte zweier Städte« zu zeigen versucht hat: daß der Ausgangspunkt jeder Untersuchung zu Zola und England nicht in Paris zu finden ist, sondern in London. (Aus dem Englischen von Susanne Goga)

Francisco Cauäet

Zolas Wirkung in Spanien

Die spanische Literatur, die ebenso wie Spaniens Geschichte seit Ende des 17. Jahrhunderts grundlegende Veränderungen erfahren hatte, steckte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in einer tiefen Identitätskrise. Diese Krise war vor allem ein Resultat des immer geringeren Einflusses Spaniens in Iberoamerika, wo es seine Kolonien eine nach der anderen seit Beginn des 19. Jahrhunderts verloren hatte. Die Abkehr der Kolonien von ihrem Mutterstaat beruhte wiederum auf der Tatsache, daß Spanien schon seit Beginn des 18. Jahrhunderts seine Vormachtstellung in Europa eingebüßt hatte. Infolgedessen hatte sich Spanien immer mehr abgekapselt, bis es vollständig vom Rest der europäischen Länder isoliert war. Die Pyrenäen wurden so zum Symbol eines Spaniens, das sich fast hermetisch jedem fremden Einfluß verschloß. Das Ergebnis war die Aufspaltung Spaniens in zwei Lager: ein konservativ-reaktionäres und ein liberal-fortschrittliches. Auf diesem Hintergrund bildete sich zur Jahrhundertmitte zaghaft eine Polemik um den Darwinismus und den Positivismus in den Wissenschaften heraus, was die Kluft zwischen den beiden ideologischen Lagern noch weiter vertiefte. Letzten Endes ging es darum, entweder das Vaterland mit dem Lobgesang auf vergangene Ruhmestaten einzulullen - mit einer Rhetorik also, die veraltete Gesellschaftsstrukturen aufrechtzuerhalten trachtete - oder aber das Land unter enormen Anstrengungen zu modernisieren, indem man es den neuen geistigen Bewegungen Europas einzugliedern versuchte. Zum Glück hat es schon immer politische und intellektuelle Minderheiten gegeben, die es abgelehnt haben, Spanien dazu verurteilt zu sehen - wie ein Schriftsteller der damaligen Zeit sich ausdrückte - , das Schlußlicht am europäischen Zug zu bilden. In literarischer Hinsicht trennte eine solche Doppelstrategie die Autoren in Idealisten und Realisten. Letztere hielten den Idealismus für eine falsche, verlogene Ästhetik, die der Welt den Rücken kehrt. Andererseits stieß der Realismus auf die Feindschaft derer, die sich unter dem Vorwand, die Funktion der Kunst beschränke sich auf Weltverschönerung (die Haltung der Idealisten), radikal dagegen sträubten, daß der Künstler unmittelbar in Kontakt mit der ihn umgebenden Wirklich-

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keit treten und von dieser eine getreue literarische Darstellung geben könnte. 1 Im Grunde ging es darum zu verhindern, daß die Literatur generell und insbesondere der Roman - wie Stendhal in Le Rouge et le Noir festgestellt hatte - zu einem Spiegel würde, »ein Spiegel, den man auf einer großen Straße spazieren trägt: bald sehen deine Augen in ihm die Himmelsbläue, bald den Schlamm der Straßenpfützen.« Wie Stendhal vorausgesagt hatte, gaben die Idealisten dem Spiegel die Schuld für das, was in ihm zu sehen war, und wollten ihm das Recht absprechen, das widerzuspiegeln, was er auf seinem Weg auffängt. Mit anderen Worten, sie wollten lieber nicht wissen - man verzeihe mir das Wortspiel - wie die Wirklichkeit wirklich ist. In Le Rouge et le Noir heißt es weiter: »Und den Mann, der in seinem Korbe den Spiegel trägt, willst du der Unmoral bezichtigen! Sein Spiegel zeigt den Schlamm, und du klagst den Spiegel an! Klage doch vielmehr die Landstraße mit den Tümpeln an, oder besser noch den Straßenaufseher, der es zuläßt, daß das Wasser fault und einen Morast bildet.«2 Im Hintergrund dieser Konfrontation lag der Streit zwischen den beiden schon erwähnten Ideologien verborgen: die konservativ-reaktionäre, die Spanien vom Rest Europas isoliert halten oder, was auf dasselbe hinausläuft, den status quo beibehalten wollte, ein halbfeudalistisches Spanien also, das von einem altüberkommenen Adel und einem ultramontanen katholischen Klerus beherrscht war; und die liberal-fortschrittliche, die bestrebt war, Spanien in Europa zu integrieren. Es mußte also eine bürgerliche Revolution durchgeführt werden, um dem Ancien Regime den Garaus zu machen. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß die Französische Revolution von 1789 und der Frühling der Völker 1848 in Spanien so gut wie unbeachtet geblieben waren und daß erst 1868 ein unblutiger Umsturz stattfand, der die Bourbonenmonarchie vorübergehend aufhob, eine Monarchie, die jedoch schon sechs Jahre später, im Jahre 1875, wieder restauriert wurde und sich bis 1931 auf dem Thron halten sollte. Aber nach 1875 konnte Spanien in seine politische und gesellschaftliche Struktur gewisse Verhaltensmuster einführen, die weitgehend mit der Zeit vor der 68er Revolution brachen. Von da an begann ein kultureller Aufschwung, und in dessen Gefolge gewann in der Literatur der Realismus die Oberhand und, mit besonderer Stoßkraft, der Naturalismus von Emile Zola. In diesem langen Prozeß nimmt Frankreich eine Vorrangstellung ein. Seit den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts hatten sich Übersetzungen der wichtigsten französischen Feuilletonromanciers wie Sue, Du1

2

Vgl. G. Davies: The Spanish Debate over Idealism and Realism before the Impact of Zola Naturalism. In: PMLA 84 (1969), S. 1649-1656. Stendhal: Rot und Schwarz. Übers, von Rudolf Lewy. Bd. 2. München 1921, S. 148f. (Teil 2, Kap. 19).

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mas, Ponson du Terrail oder Soulie in Spanien verbreitet. Perez Galdos entdeckte an den Quais der Seine, während der Pariser Weltausstellung 1867, die Romane Balzacs, eines Autors, der auf ihn und den Rest der spanischen Romanciers einen enormen Einfluß ausüben sollte. Aber der größte und nachhaltigste Einfluß auf den spanischen Roman des 19. Jahrhunderts setzte 1880 ein mit der spanischen Übersetzung von Zolas L'Assommoir und Nana. Von diesem Augenblick wurde der Roman an sich, wie ein zeitgenössischer Kritiker voraussagte, vor allem zu einer Studie, zur direkten Beobachtung und getreuen Wiedergabe der Wirklichkeit.3 Idealisierungen und Phantasien über die Welt erlitten einen Rückschlag, von dem sie sich nicht wieder erholen sollten. Der Realismus hatte in seiner naturalistischen Verzweigung den Idealismus verdrängt. Im Jahre 1881 veröffentlichte Perez Galdos den Roman La desheredada (Die Enterbte), eine Studie der determinierenden Ursachen für einen Prozeß, der die Tochter eines Geistesgestörten - in klarer Parallele zu Nana - zur Prostitution verleitet. Spanien gesellte sich mit diesem Roman zur naturalistischen Schule, der großen Erzählbewegung, mit der sich Frankreich im Rest Europas durchgesetzt hatte. Gleichzeitig konnte Spanien 1881 - mit beträchtlicher Verspätung - endlich den Roman aus seinem Dämmerzustand retten, in den dieser als direkte Folge der politischen und kulturellen Isolierung verfallen war. Aber der Naturalismus führte in Spanien zu einer Debatte auf nationaler Ebene, die trotz ihrer Parallelen mit anderen Ländern, inklusive Frankreich, einige grundsätzliche Unterschiede aufweist.4 Diese Parallelen bestehen in der heftigen Opposition, mit der die reaktionärsten Elemente der europäischen Gesellschaft der naturalistischen Schreibweise begegnet sind. So hat zum Beispiel Ferragus in seinem bekannten Artikel »La litterature putride«, der am 23. Januar 1868 in Le Figaro erschienen war, Zolas Roman Thärise Raquin verrissen. So wie es auch in anderen europäischen Ländern der Fall war, wurde der Naturalismus als »unkünstlerisch«, da »unästhetisch«, bezeichnet. Sogar in Frankreich wurden also zahlreiche Gegenstimmen laut; die Gründe dafür lagen eher im politischen als im literarischen Bereich. Der Naturalismus gefährdete eine Vorstellung von der Welt, der es in erster Linie darum zu tun war, die falsche Moral der mächtigen, einflußreichen Minderheiten aufrecht zu erhalten. Deswegen erhob man Einspruch gegen eine Literatur, die wie der Naturalismus die Verhaltensmuster der machthabenden Gesellschaftsschicht zu denunzieren

3

4

Vgl. E. Pardo Bazän: Vorwort zu Un viaje de novios. In: Obras completas. Madrid 1973, S. 572. Vgl. Vf.: La querella naturalista. Espana contra Francia. In: Y. Lissorgues (Hg.): Realismo y naturalismo en Espana en la segunda mitad del siglo XIX. Barcelona 1988, S. 58-74.

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suchte. Der Rougon-Macquart-Zyklus war sowohl ein Frontalangriff gegen das Second Empire, als er auch Überlegungen anstellte zur französischen Gesellschaft, so wie sie sich während der Jahre, in denen Zola den Zyklus schrieb, dem Auge bot. Als er 1877 L'Assommoir veröffentlichte, warfen ihm die französischen Republikaner vor, ein so unvorteilhaftes Bild der Arbeiterklasse gemalt zu haben. Zola antwortete darauf, er habe lediglich die Realität, so wie er sie gesehen hatte, darstellen wollen, und wenn man wirklich etwas für die Arbeiterklasse tun wolle, so solle man doch die Kneipen schließen und mehr Schulen einrichten.5 Zola wurde von seinen republikanischen Bundesgenossen angegriffen, eben weil diese nicht imstande gewesen waren, eine angemessene Lösung für diejenigen Mißstände unter Napoleon dem Dritten zu finden, die L'Assommoir bloßgelegt hatte. Das Politische ist somit immer ein entscheidender Faktor gewesen, wenn es um ästhetische Grundsätze der naturalistischen Schule ging. In Spanien war genau dasselbe der Fall. Die reaktionären Kräfte in der spanischen Gesellschaft leisteten heftigen Widerstand gegen den Naturalismus. Aber außerdem spielten noch einige andere Faktoren bei dessen Ablehnung eine entscheidende Rolle. Erstens grassierte unter den Reaktionären ein doppelt negatives Frankreichbild: einerseits fürchtete man das Land wegen der Geschehnisse der Revolution und der Pariser Kommune, die man Spanien um jeden Preis ersparen wollte; andererseits wurde es als Heimat der sittlichen Unordnung betrachtet. Paris insbesondere bedeutete für diese Leute ein riesiges Bordell.6 Spanien hingegen, so glaubten die reaktionären Kräfte, genieße eine politische und soziale Ordnung, die von einer Monarchie garantiert wurde, welche an der Mentalität des Ancien Regime festhielt, und auch von einer Armee, die jederzeit zur Verteidigung dieser Ordnung einsatzbereit war. Darüber hinaus gewährleistete die katholische Kirche eine mit jener Ordnung übereinstimmende Moral.7 Der spanische Naturalismus wurde zu einem subversiven Element dieser Ordnung, deshalb griff man ihn an und verfolgte seine Schriften. Trotzdem konnte er sich einen Weg bahnen, wenigstens während der 80er Jahre, und zwar besonders deswegen, weil er sich zwei Grundsätze des Naturalismus zu eigen machte: die Studie des »milieu« und des »moment historique«. Alles, was das dritte naturalistische Prinzip be-

5

6

7

»Fermez les cabarets, ouvrez les ecoles,« hatte er denen geantwortet, die ihn nach der Veröffentlichung von L'Assommoir angegriffen hatten; vgl. Zola: Correspondance. Bd. 2. Montreal/Paris 1980, S. 537. Vgl. Vf.: Francia en las novelas contemporänes de Galdos. In: F. Lafarga (Hg.): Imägenes de Francia en las letras hispänicas. Barcelona 1989, S. 165-174. S. Hibbs-Lissorgues: La Iglesia catolica y el naturalismo. In: Lissorgues (Hg.) [Anm. 4], S. 198-207.

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traf, nämlich die Studie der »race«, wurde eher als nebensächlich empfunden. Zum einen stieß das biologisch Bedingte frontal auf die katholische Doktrin, und zum anderen war der spanische Naturalismus besonders darauf bedacht, einen sozialpolitischen Kampf zu liefern. Er setzte somit den Hauptakzent auf die Studie des »milieu« und des »moment historique«, wo - so sahen es die bekanntesten naturalistischen Romanciers in Spanien wie Perez Galdos und Clarfn - Veränderungen am dringendsten notwendig waren. Der Einfluß von Zola - mit Ausnahme des besagten dritten naturalistischen Grundsatzes - war in Spanien ausschlaggebend, und zwar so sehr, daß die Neugeburt des spanischen Romans im 19. Jahrhundert mit La desheredada von Perez Galdos beginnt, mit dem Roman, der den Naturalismus in Spanien einführt. Dieser Einfluß erweckte jedoch sogar bei Literaten mit Fortschrittsmentalität wie Perez Galdos das nationale Selbstgefühl. Perez Galdos verdroß die Tatsache - bis zu einem gewissen Grad ist das verständlich, wie ich versuchen werde zu erklären - , daß Spanien, wo die Wiege des Realismus gestanden hatte, die Wiege von Cervantes und des Schelmenromans in der Literatur und von Velazquez in der Kunst, jetzt im 19. Jahrhundert aus Frankreich eine Erzählstrategie importieren mußte, die in Spanien schon zweihundert Jahre zuvor entwickelt worden war. Tatsächlich besteht ein nachweislicher Einfluß von Cervantes bei Flaubert - seine Emma Bovary ist die erste weibliche Quichotte genannt worden - , und im Schelmenroman findet man, so meinte Perez Galdos, den Grundstein für die naturalistische Schreibweise.8 Was den Nationalismus in diesen Fragen betrifft, so lag Perez Galdos auf der gleichen Linie wie der philiströse spanische Kritiker Menendez Pelayo. Dieser Kritiker bemerkte im Rahmen seiner Rezension von La desheredada, also der Geschichte eines Prostituierungsprozesses, daß der spanische Schelmenroman des 16. und 17. Jahrhunderts von berüchtigten Huren nur so wimmele und es daher keinen Grund für Perez Galdos gebe, diesen Stoff in Frankreich zu suchen.9 Aber was sowohl Perez Galdos als auch Menendez Pelayo vergessen haben, ist, daß der Naturalismus im Grunde genommen ältere Erzählformen unter dem Zeichen einer sogenannten Wissenschaftlichkeit zu aktualisieren suchte. Diese Erneuerung wollte nichts Geringeres - und hierin waren sich Zola und Perez Galdos einig - als den Staub von den morschen soziopolitischen Strukturen zu klopfen, die die zeitgenössische Gesellschaft unterhöhlten. Der Schriftsteller sollte genau wie ein Arzt 8

9

Vgl. das Vorwort von B. Perez Galdos zu L. Alas Clarin: La Regenta. Hg. von G. Sobejano. Madrid 1981, S. 83. Vgl. M. Menendez y Pelayo: Estudios sobre la prosa del siglo XIX. Madrid 1961, S. 262.

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die Krankheiten diagnostizieren und ein Heilungsverfahren verordnen. In diesem Punkt klaffen der Naturalismus und der Realismus des 16. und 17. Jahrhunderts weit auseinander. Aber es erscheint mir unbestreitbar, daß eine kulturelle Interdependenz zwischen Spanien und Frankreich entstanden war, die man auf den folgenden ökonomischen Nenner bringen kann, wie ihn übrigens auch Galdos verwendet: das Spanien von Cervantes und des Schelmenromans exportierte im 16. und 17. Jahrhundert einige Grundsätze des Realismus, die von Zola unter dem Namen Naturalismus auf den neuesten Stand gebracht und von den Spaniern im 19. Jahrhundert als Neuheit wieder zurückimportiert wurden. Auch die Darwinismus- und Positivismusdebatten waren in Spanien mit vielen Widersprüchen durchsetzt. Viele ihrer engagiertesten Teilnehmer zeigten große Bedenken, wenn es darum ging, diese durch den Evolutionismus und den Materialismus geprägten Philosophien anzuerkennen, zwei Formen von Determinismus also, die direkt einer Philosophie zuwiderliefen, welche an einen merkwürdig undurchsichtigen Begriff glaubte, den sie »Gedankengut für die Menschheit« nannte. Diese Philosophie hatte man um die Jahrhundertmitte von einem deutschen Philosophen zweiten Ranges übernommen, von Karl Christian Friedrich Krause, den man in Spanien, so fürchte ich, besser kennt als in Deutschland. Die spanischen Anhänger Krauses gaben sich bewußt liberal und hatten sich kühn für grundlegende Reformen in allen Bereichen der spanischen Gesellschaft eingesetzt. Viele Universitätsprofessoren unter ihnen wurden in den achtziger Jahren wegen ihrer progressiven Ideen von der Universität verwiesen und gründeten eine parallel laufende akademische Institution, die in Spanien später von größter Bedeutung werden sollte. Diesen Fortschrittsphilosophen also, mit denen Perez Galdos sympathisierte, widerstrebte es, den Determinismus und eine seiner literarischen Verzweigungen, den Naturalismus, mit allen Konsequenzen zu akzeptieren. Einer der Gründe, der vielleicht am überzeugendsten diese verschleierte Ablehnung sogar in den Reihen des spanischen Progressismus erklärt, liegt in der Schwäche des spanischen Bürgertums des 19. Jahrhunderts. Spanien hatte zu der Zeit noch kaum eine Form vom modernem Bürgertum entwickelt, das wie das französische in den exakten Wissenschaften einen Pfeiler der Wirtschaft hätte sehen können. Eine solche Nichtübereinstimmung von exakter Wissenschaft und Wirtschaft untergrub die Möglichkeiten, auch geistig in die Moderne einzutreten und verminderte vom literarischen Standpunkt her gesehen die Fähigkeit, die Barriere zu durchbrechen, die den Realismus vom Naturalismus trennte.10

10

Vgl. D. Nufiez: La mentalidadpositivaen

Espana: desarralloy

crisis. Madrid 1975.

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Aber es gab noch einen anderen Grund. Zola hatte 1885 Germinal veröffentlicht, einen Roman, der - wie sein Autor es schon in der »ebauche« des Werkes ankündigt - »den Kampf zwischen Kapital und Arbeit« darstellt. Das spanische Proletariat, wie auch das anderer europäischer Länder, interpretierte das Werk auf viel revolutionärere Weise, als es in Zolas Absicht gelegen hatte. Germinal wurde somit zum Mythos des Proletariats. Die naturalistischen Schriftsteller, in ihrer Mehrheit bürgerlich wie Zola selbst, fühlten sich durch diese soziale und revolutionäre Dimension des Naturalismus überfordert. Es leuchtet ein, daß beim spanischen Bürgertum der Naturalismus eine neue Gefahr bedeutete, denn die Veröffentlichung von Germinal fällt in Spanien mit den ersten Anfängen der Arbeiterbewegung zusammen. Der spanische Naturalismus, der erst im Jahre 1881 - also spät Wurzeln schlug, machte schon bald, wie im Rest Europas, eine jähe Wende durch. Mit seinem Roman Fortunata und Jacinta, dem wichtigsten der ganzen Epoche in Spanien, führte Perez Galdos 1887 den widersprüchlichen Begriff des »spirituellen Naturalismus« ein. Der durch den Spiritualismus ausgezeichnete russische Roman verstellte in Spanien genauso wie in Frankreich den Weg (ich weise darauf hin, daß Eugene-Melchior de Vogüe dort 1886 den Titel Le Roman russe veröffentlicht hatte).11 Andererseits erschien 1887, gleichzeitig mit Zolas La Terre, das »Manifeste des cinq«. Dieses Dokument bekräftigte den Bruch einer Gruppe von Naturalisten mit Zola, die bisher zu seiner Schule gehört hatten. Das heißt, die naturalistische Bewegung brach von innen heraus auseinander. Spiritualismus und Neuchristentum russischer Prägung wurden von nun an in Spanien als ideologischer Vorwand gegen alles gebraucht, was den Naturalismus kennzeichnete. Gustave Planche, so erinnert sich Arnold Häuser, hatte in der Revue des Deux Mondes vorausgesagt, daß der Widerstand gegen den Naturalismus ein Glaubensbekenntnis für die bestehende Ordnung sei und daß man, indem man ihn ablehne, zugleich den Materialismus und die Demokratie der Zeit zurückweise.12 In Spanien war Gräfin Pardo Bazän seit 1887 Vorkämpferin der antinaturalistischen Reaktion. Dabei führte sie eine merkwürdige Argumentation. Für die Gräfin gab es zwischen Spanien und Rußland tiefe kulturelle Gemeinsamkeiten: sie teilten ein und dieselbe spirituelle und neochristliche Mentalität. Die spanische Mentalität, so stellte die Gräfin plötzlich fest, stand sozusagen Rußland näher als Frankreich. Deswegen sollte der Einfluß des französischen Romans durch den des russischen aufge-

11 12

Vgl. E.-M. Vogüe: Le Roman russe. Hg. von P. Pascal. Montreux 1971. Vgl. A. Hauser: Historia social de la literatura y el arte. Bd. 2. Madrid o. J., S. 82f.

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hoben werden.13 Oder mit anderen Worten, es galt, den Materialismus und die Demokratie, auf die Gustave Planche sich bezieht, aus Spanien zu vertreiben, indem man bei solch vielschichtigen Figuren der russischen Literatur wie Tolstoj oder Dostoevskij eine parteiische, einseitige und vereinfachende Deutung anwendete. Wir müssen also im Auge behalten, daß auch reaktionäre Kräfte über Vogüe, Renan, Desjardins, Guyau und einige angesehene Mitarbeiter der Revue des Deux Mondes in Frankreich zu denselben Schlüssen gekommen waren. Europa war in eine Etappe der ideologischen Rezession getreten, und als eine ihrer Folgen wurde der Naturalismus für tot erklärt. Aber Zola führte einen Gegenangriff im Schilde. Nachdem er 1893 den Rougon-Macquart-TyVXxxs beendet hatte, schrieb er die Trilogie Les Trois Villes, und im Anschluß daran begann er mit den Quatre Evangiles. Travail, das dritte dieser Evangiles, ist eine sozialistische Utopie. Das Werk wurde 1901 von Leopoldo Alas, dem zusammen mit Perez Galdos begabtesten Zola-Schüler, ins Spanische übersetzt. Aber Leopoldo Alas hatte sich um das Jahr 1901 schon vom Naturalismus distanziert. Jetzt war Tolstoj sein Vorbild, den er in seinem Vorwort aus dem Jahr 1900 zu Auferstehung als »guten Christen« und außerordentlichen Dichter und Künstler bezeichnet hatte, »denn die Gnade, die Gott in sein Herz gesenkt hat, hat er auch seinem Werk zuteil werden lassen.«14 Der damals schwerkranke Leopoldo Alas klammerte sich an seine »Gotteslegende«, und er sorgte sich mehr darum, seine Seele zu retten, als Lösungen, wie Zola sie in Travail vorschlug, für das soziale Problem zu finden. Leopoldo Alas schrieb ein Vorwort zu seiner Übersetzung dieses Romans, das wie ein literarisches Testament klingt, zumal er kurz nach der spanischen Veröffentlichung des Romans starb. In diesem Vorwort gesellt sich Leopoldo Alas zu den Erzfeinden Zolas, denn einerseits schwört er darin ausdrücklich dem Positivismus ab, andererseits bekennt er sich zu einem spiritualistischen Deismus. In besagtem Vorwort stellt Leopoldo Alas folgende Behauptungen auf, mit denen er sich von Travail und der sozialistischen Utopie Zolas, aber auch vom Naturalismus an sich distanziert: »Ich glaube an Gott und an seinen Heiligen Geist. Schwerwiegende soziale Fragen können heutzutage, so glaube ich, nicht auf wissenschaftlichem Wege gelöst werden. Die kategorischen Behauptungen, die Zola über Gott, die Seele, die Evolution, das Ende des Lebens und die sogenannte soziale Frage aufstellt, weise ich hiermit zurück.«15

13

14 15

Vgl. E. Pardo Bazän: La revolution y la novela en Rusia. In: Obras completas [Anm. 3], S. 875f. Vgl. A. Ramos-Gascon: Clarin. Obra olvidada. Madrid 1973, S. 240. Vgl. das Vorwort von L. Alas Clarin zu Zola: Trabajo. Hg. von F. Caudet. Madrid 1991, S. 147.

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Albert Savine, ein französischer Kritiker, ist in dem 1885 veröffentlichten Aufsatz Le naturalisme en Espagne. Simples notes zu dem Schluß gekommen, daß der spanische Naturalismus, im Gegensatz zum französischen, schon »immer spiritualistisch, oft sogar katholisch« gewesen sei.16 Aber Albert Savine weiß ganz genau, als er 1885 diese Feststellung macht, daß Eugene-Melchior de Vogüe schon 1883 in der Revue des Deux Mondes die Leserschaft mit dem Spiritualismus des russischen Romans bekanntgemacht hat (es handelt sich um Artikel, die Vogüe später, im Jahr 1886, in dem Buch Le Roman russe zusammengefaßt hat). Diese Artikel bedeuten den ersten Frontalangriff gegen den Naturalismus, ein Angriff, der folglich in Frankreich selbst entstand. Es erscheint uns deshalb nicht ratsam, die Problematik der kulturellen Beziehungen, was Annahme und Ablehnung von gewissen literarischen oder ideologischen Tendenzen betrifft, im Sinne der Relation von gewissen Mentalitäten einiger Länder zu denen anderer aufzuwerfen. Die Schlußfolgerung, die man ziehen muß, was das Thema Wirkungsgeschichte des Naturalismus in Frankreich und in Spanien angeht, zeigt klar und deutlich, daß sich das Problem der Rezeption oder Ablehnung im Inneren eines jeden Landes stellt. Sowohl in Frankreich als auch in Spanien gab es ja eine innere Debatte, die sich entweder für einen hitzigen Kampf um den Vorrang der spiritualistisch-reaktionären Ideologie oder, wie es der naturalistische Positivismus eines Zola vorschlug, für den Vorrang der materialistisch-fortschrittlichen Ideologie entschied. Die soziale Frage bildete lediglich die Kulisse im Hintergrund. Ein katholischer Kritiker setzte sich folgendermaßen mit dem unseligen Einfluß des Naturalismus auseinander (und in einer solchen Analyse findet man denn auch den Grund dafür, warum Teile der spanischen und französischen Gesellschaft bereit waren, diesen Einfluß so entschieden zu bekämpfen): »Wie soll man sich die günstige Aufnahme des naturalistischen Romans erklären? Doch nur dadurch, daß dieser Roman den Positivismus widerspiegelt, der jetzt in allen gesellschaftlichen Bereichen vorherrscht. Das zahlenmäßig starke Proletariat hat ihn enthusiastisch aufgenommen, denn es sieht, wie solche Bücher seine eigenen Utopien preisen und den Kult der Materie heiligen.«17 Der Einfluß von Zola erreichte innerhalb und außerhalb Frankreichs neue Dimensionen, als der Autor am 13. Januar 1898 in der Zeitung L'Aurore das Manifest »J'Accuse« veröffentlichte. Zola engagiert sich in der Dreyfus-Affäre, oder, was auf dasselbe hinausläuft, er schlägt sich auf die Seite derer, die eine Revidierung des Urteils für den jüdischen Hauptmann fordern. Dreyfus war nach verschiedentlichen Mani-

16 17

Vgl. W. T. Pattison: El naturalismo espanol. Madrid 1965, S. 123f. A. Lopez Peläez: Los danos del libro. Barcelona 1905, S. 247.

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pulationen und Urkundenfälschungen durch den Generalstab der französischen Armee verurteilt worden. Zolas Manifest trug dazu bei, den Begriff des »Intellektuellen« zu prägen und den Schriftstellern in Frankreich und in anderen Ländern - unter ihnen Spanien - bewußt zu machen, daß sie sich in ihrer jeweiligen Gesellschaftsform zu engagieren und politisch zu handeln hätten. In der spanischen Presse fand die Dreyfus-Affäre ein gewaltiges Echo, besonders weil es hier eine Parallele in der Verfolgung einer Gruppe von katalanischen Anarchisten gab, die 1897 verurteilt und in Montjuich (Barcelona) hingerichtet worden waren. Dieser Prozeß mobilisierte die spanischen Intellektuellen, die dann, wie die Franzosen bei der Dreyfus-Affäre, die Mängel des bürgerlich-parlamentarischen Systems, die unverhältnismäßige und bedrohliche Macht der Militärs, die ebenso gefährliche soziale und politische Rolle der Kirche und nicht zuletzt die Korruption und Wirkungslosigkeit der bürgerlichen Regierungen in Frankreich und Spanien bloßstellten. Unter diesen Umständen schien es Aufgabe der Intellektuellen, als eine aktive, regenerierende Macht in ihren Ländern aufzutreten.18 Aber gerade Zola war derjenige, der durch seine Beteiligung an der Dreyfus-Affäre das Engagement von spanischen Intellektuellen beschleunigte, die eigentlich zu einer späteren Generation als die der naturalistischen Romanciers gehörten. Der kulturelle Kontakt zu Frankreich erwies sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts erneut als ausgesprochen nützlich. Bei dieser Gelegenheit ging die Debatte jedoch über solch eine Fragestellung hinaus, wie sie Naturalisten von Idealisten und Spiritualisten schied. Es ging jetzt darum, die herrschenden politischen und sozialen Machtsysteme zu stürzen. Auf diese Weise hat Spanien in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts langsam die Mauern niederreißen können, die es vom Rest Europas trennten, und hatte dafür in Frankreich in der Figur Zolas einen emblematischen Bezugspunkt gefunden.

18

Vgl. R. Perez de la Dehesa: Zola y la literatura espafiola finisicular. In: Hispanic Review 1971, S. 49-60.

II. Geschichte Nationaler Horizont und europäische Perspektive

Pierangelo Schiera

Geschichte und Geschichtsschreibung in Deutschland und Italien im Vergleich Die Zeit der nationalen Bildung

I.

Das Stichwort, das die Grundlage meiner weiteren Ausführungen bildet, lautet: das 19. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Geschichte; und weiter: Geschichte ist im 19. Jahrhundert >Wissenschaft der Erfahrung·«.1 Es ist Schnabel, der diesen Ausdruck gebraucht und ihn insbesondere auf die erste Hälfte des Jahrhunderts anwendet.2 Goethe schrieb am Anfang des 19. Jahrhunderts im West-östlichen Divan: Wer nicht von dreitausend Jahren Sich weiß Rechenschaft zu geben, Bleib im Dunkeln unerfahren, Mag von Tag zu Tage leben.3 Geschichte als >Wissenschaft der Erfahrung< ist zu verstehen auch im Sinne des schönen Passus aus Alexander von Humboldts Kosmos, den Burckhardt 1847 der von ihm betreuten zweiten Ausgabe des Handbuchs der Geschichte der Malerei als Motto vorangestellt hatte. Hier heißt es sogar: »Weltbeschreibung und Weltgeschichte stehen auf derselben Stufe der Empirie.«

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3

Da es sich um einen Ausdruck Schnabels handelt, sei mir der Verweis auf seine Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Freiburg 1964-1970, erlaubt; vgl. bes. »Zweiter Abschnitt: Die Geschichtswissenschaften«. Die gesamte zweite Hälfte mit der Spezialisierung der Geschichtsschreibung: von der Verfassungsgeschichte bis zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte mit ihren Ablegern, von der Anthropologie, über die Psychologie und Soziologie bis hin zur Politikwissenschaft bleibt ausgeschlossen. Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hg. von Erich Trunz. Bd. 2. München 1978, S. 49.

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Gemeint ist aber auch die Geschichte, die - nach Dilthey - als Mittel gegen die soziale Leidenschaft fungiert, die anti-revolutionäre Geschichte, von Winckelmann und Herder durch die Romantik (so passend als »Wegführerin der Geschichte« beschrieben) bis hin zu Niebuhr, den Brüdern Grimm, Savigny und Böckh. Gemeint ist eine Geschichte, die den Sinn für die Realität verkörpert, für >RealismusMaterials< bei der Rekonstruktion des Mittelalters bei weitem zu überwiegen, während sich andererseits die Breite und Produktivität der deutschen >Wissenschaft< abzeichnen. Beziehungen - auch kulturelle - sind anscheinend immer von Überlegenheiten und Abhängigkeiten geprägt, und es ist nicht gesagt, daß auf lange Sicht die »Ausbeuter« nicht - unter einem anderen Gesichtspunkt - gerade als die »Ausgebeuteten« erscheinen. Der Gebrauch dieser Ausdrücke scheint mir legitim, da sie zum Teil aus dem klaren Bewußtsein der damals Handelnden selbst stammen. In seiner Akademierede an der Universität Göttingen im Jahr 1868 untersuchte Emst Curtius das Thema Rom und die Deutschen16 und legte besonderes Gewicht auf die Unvergänglichkeit der italienischen Hauptstadt: Aber sie ist immer eine Weltstadt geblieben, nach dem Untergange der Republik als Sitz der Cesaren, nach dem Sturze des heidnischen Fürstensitzes als die Stätte der Apostel- und Märtyrergräber, und auch nach dem Aufhören päpstlicher Weltherrschaft ist Rom bis auf den heutigen Tag für einen großen Teil der Christenheit

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Ebd., S. 211. Die im Text folgenden Zitate stammen allesamt aus der »Rede gehalten bei der jährlichen Preisverteilung in der Aula der Georgia-Augusta-Universität in Göttingen am 4. Juni 1868«, zusammen mit anderen erinnemswerten Akademiereden enthalten in Fritz Strich: Deutsche Akademiereden. München 1924, S. 164-176.

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die geistliche Hauptstadt geblieben, für alle Gebildeten aber ein Mittelpunkt geistiger Interessen, eine hohe Schule für Wissenschaft und Kunst.

Und dieser artistische und wissenschaftliche Primat hat für ihn einen Sinn, insofern als der Norden wie auf dem Gebiet der Religion, so auch in der Wissenschaft unabhängig geworden ist. Dennoch ist die Verbindung zwischen den beiden Welten erhalten geblieben: [...] aber der Zug blieb, welcher das nördliche Binnenland und die südliche Halbinsel unauflöslich miteinander zusammenhält, und wenn dieser Zug diesseits der Alpen lebhafter als jenseits gefühlt wurde, so ist die Zudringlichkeit der Deutschen nur ein Zeichen ihrer größeren Rührigkeit und eines kräftigeren Bildungstriebes. Denn die Pilgerfahrten unserer Künstler und Gelehrten, welche von Jahr zu Jahr in immer dichteren Zügen über die Alpen gehen, sind nicht bloß das Ergebnis Zerstreuung suchender Reiselust, sie sind nicht eine Sache der Laune und des Luxus, sie haben vielmehr eine gewisse Notwendigkeit, und große Kulturinteressen knüpfen sich an dieselben: denn es handelt sich um die Ausbeutung der Schätze, die nur dort zu heben sind, um eine friedliche Eroberung, welche beiden Parteien zugute kommt.

Dies läßt sich leicht am Beispiel der Kunst nachvollziehen, die vom Standort ihrer >Quellen< abhängiger ist. Es trifft aber in gleichem Maße auf die Wissenschaft zu, vor allem auf die Archäologie und die Altertumsforschung, die Curtius besonders am Herzen lagen und die bis ins letzte Viertel des 19. Jahrhunderts eine zentrale Stelle in der »deutschen Wissenschaft« insgesamt innehatten. Hier wird natürlich Winckelmann angeführt, aber es wird auch gefragt: »Wußte man wohl, daß man damit den Vorrang anerkannte, welche die deutsche Bildung durch die Reformation gewonnen hatte?« Curtius Wissen um das Problem reicht so weit, daß er sich nicht darauf beschränkt, die einzelnen deutschen Gelehrten aufzuzählen, die auf Winckelmanns Spuren nach Rom pilgerten, er fügt noch hinzu: »[...] auch von Staatswegen und namentlich von unserem Staat [also Preußen] geschah alles, um diese Verbindung zu pflegen und dem Werte, den man auf sie legte, würdigen Ausdruck zu geben.« Es war hauptsächlich Niebuhrs Verdienst (der in Rom »nur Stoff zur Arbeit, unbenutzte Schätze der Erkenntnis, ungelöste Aufgaben« sah), daß in der italienischen Hauptstadt ein fester Sitz für die deutsche Wissenschaft eingerichtet wurde. Das Campidoglio, der neue Botschaftssitz, wurde »eine Stätte der deutschen Wissenschaft«, dank der »Hyperbolischen Freunde«, die sich vom Jahre 1825 an dort versammelten und dann das archäologische Institut ins Leben riefen. »Von Jahr zu Jahr ist es unter dem Schutze der preussischen Krone kräftiger ausgewachsen und wirksamer geworden, auf fremdem Boden die Wissenschaft in deutschem Geiste pflegend, In- und Ausländer, so weit das Interesse für klassische Denkmälerkunde reicht, zu gemeinsamer Tätigkeit vereinigend.«

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Und die Operation verlief so erfolgreich, daß inzwischen auch die italienischen Gelehrten das Campidoglio »als den Mittelpunkt der römischen Studien an[sahen] und [...] hier vor allem auf Verständnis und Förderung [rechnen konnten]«. Dies alles hat natürlich nicht mehr ausschließlich mit dem Mittelalter zu tun, aber es lohnt sich darüber zu sprechen, insofern es auf denselben Geist verweist, mit welchem man auf anderen Gebieten der deutschen Wissenschaft, unter ausdrücklicher Bezugnahme aufs Mittelalter, an Rom dachte und die Beziehungen zwischen Italien und Deutschland pflegte - auch auf internationalem politischen Niveau. Dadurch wird nun die Besorgnis besser verständlich, mit welcher sich der »prepotente« [überhebliche] Mommsen (wie Chabod ihn nannte) nach der »Eroberung« Roms an den italienischen Premierminister Quintino Sella wandte. Er fragte: »Ma che cosa intendete fare a Roma? Questo ci inquieta tutti. Α Roma non si sta senza avere dei propositi cosmopolitici. Che cosa intendete di fare?«17 Und auch >unsere< - die italienische Antwort hört sich weniger inadäquat und provinziell an: »Vi coltiveremo la scienza.«18 Wie Chabod schreibt: »Mutava cosi il fine della missione di Roma: dall'alleanza tra cattolicesimo e libertä, vagheggiata dal Cavour, si trascorreva all'affermazione dell'impossibilitä di quell' alleanza, dopo il Sillabo, e quindi della necessitä di impegnare la lotta contro il clericalismo in nome della Scienza. Ε dal clima del Risorgimento si passava nel clima del positivismo italiano ed europeo.«19 Hinter dem im Grunde genommenen antipäpstlichen Gepräge der Debatte, ist - um noch einmal mit Curtius zu sprechen - jener »geistige Austausch auszumachen, auf den Italien und Deutschland von Natur angewiesen sind«, ebenso wie die Vorstellung - die noch grotesker anmutet als die Antwort des italienischen Premiers Sella - , die Deutschen seien »[...] das priesterliche Volk, welches berufen ist, in reinen Händen die ewigen Güter der Menschheit zu tragen«.20

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»Aber was wollt Ihr in Rom machen? Diese Frage beunruhigt uns alle. In Rom kann man nicht ohne kosmopolitische Vorschläge sein. Was habt Ihr vor?« - F. Chabod: Storia della politico estera italiana. Bd. l.Bari 1971,S.221. »Wir werden dort die Wissenschaft kultivieren.« »So änderte sich das Ziel der Mission Roms: von der Allianz zwischen Katholizismus und Freiheit, die Cavour vorgeschwebt war, ging man nach dem Syllabus zur Feststellung der Unmöglichkeit dieser Allianz über und also zu der Notwendigkeit, den Kampf gegen den Klerikalismus im Namen der Wissenschaft zu führen. Und vom Klima des Risorgimento ging man in das Klima des italienischen und europäischen Positivismus über.« - Ebd., S. 231, aber vgl. auch die Anm. 73ff., S. 330ff. Im Allgemeinen würde es die gesamte Chabodsche Abhandlung zu diesem Thema verdienen, aufs schnellste erneut aufgegriffen und weiterentwickelt zu werden, um endlich ein lückenloses Bild der Rolle zu gewinnen, die der Verweis auf die Wissenschaft beim Entstehungsprozeß der italienischen Einheit gespielt hat. Und dies ist die Schlußfolgerung der oben zitierten Rede von Curtius.

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Ein ähnlicher Geist animierte Generationen von deutschen Historikern, die 1824 gewissermaßen initialisiert wurden mit Leopold Rankes Geschichten der romanischen und germanischen Völker 1494-1514 und mit dem Einstieg in das Unternehmen der Monumenta Germaniae (Leitung: Georg Heinrich Pertz), in dessen Rahmen schon zwei Jahre später der erste Band der Scriptores gedruckt vorliegt. Sieben Jahre später schrieb Johann Gustav Droysen die berühmt-berüchtigten einleitenden Seiten seines Werkes über Alexander den Großen?* Diese Generationen haben die moderne Geschichtswissenschaft begründet. Noch 1876, anläßlich ihrer Nominierung zu Mitgliedern der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, bekräftigten Sybel und Waitz dies im Namen Rankes: »Die Kritik der Quellen, die Herstellung zuverlässiger Texte, die Prüfung der Echtheit, die Unterscheidung des Selbständigen und Abgeleiteten ist eine notwendige Grundlage aller weiteren historischen Forschung.« 22 Wir wissen aber andererseits auch, daß das Motto, welches das Frontispiz jeder Ausgabe der Monumenta ziert, »Sanctus amor patriae dat animum« lautet. Und danach richtete sich auch die kritische Schule Rankes, wie die Qualen von Waitz, Dahlmann und Droysen in den 48er Jahren beweisen; und es ist symptomatisch, daß - im selben Jahr 1856, als dieser seine Geschichte der preussischen Politik begann der erste Band der Geschichte der deutschen Kaiserzeit von Giesebrecht erschien. Dies gilt auch für die Organisation der historischen Studien, in denen sich die rankianische Tradition der großen körperschaftlichen Initiativen das gesamte Jahrhundert hindurch am Leben erhielt, über die lokalen »Historischen Kommissionen« ζ. B. oder über die alten »Geschichtsvereine«, die seit 1852 im »Gesamtverein der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine« organisiert wurden (aus dem unter anderem auch das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg hervorging). Ganz zu schweigen von großen und ehrgeizigen Initiativen, wie die »Historische Kommission« bei der »Akademie der Wissenschaften«, die 1858 auf Anraten Rankes in München von Maximilian Π. eingerichtet wurde, um mit der Veröffentlichung von Quellen und kritischen Rekonstruktionen, mit den Jahrbücher[n] der deutschen Geschichte, mit nationalen Sammelwerken, wie der Geschichte der Wissenschaften in Deutschland und der Allgemeine[n] Deutschein] Biographie der Beschäftigung mit deutscher Geschichte zu dienen. Aber das Bild ist unvollständig, wenn man nicht auch das wachsende wissenschaftliche Interesse am Ausland miteinbezieht. Abgesehen von 21

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Zu Droysen vgl. I. Cervelli: Droysen dopo il 1848 e il Cesarismo. In: Quaderni di storia 1 (1975), S. 15-56. Der Passus von Waitz ist zitiert in K. Brandl: Mittlere und neue Geschichte. In: Aus 50 Jahren deutscher Wissenschaft, hg. vonG. Abb. Berlin 1930, S. 174-191.

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Hermann Baumgarten, der in der Einleitung zu seiner Geschichte Karls V. aus dem Jahre 1892 vorschlagen wird, in die deutschen Botschaften »neben die militärischen und technischen auch historische Attaches« zu entsenden, sind die Unterfangen großer deutscher Forschungseinrichtungen in Italien bekannt, die auf das schon erwähnte archäologische Institut folgten. Diese Öffnung der deutschen Geschichtsschreibung gegenüber der italienischen Geschichte fand andererseits gegen Ende des Jahrhunderts seinen vollendetsten Ausdruck in der Serie der großen Städtegeschichten Italiens, die Karl Brandl sagen ließen: »Es waren Deutsche, die den italienischen Stadtstaaten ihre Geschichte schenkten«, und er nannte das Florenz von Davidsohn (1896), das Venedig Kretschmayrs (1905), Hessels Bologna (1910), während die Päpste ab 1886 ihre monumentale Geschichte von Pastor erhielten.23 Die Aufzählung könnte weitergehen und andere wichtige Gebiete miteinbeziehen, auf die man erst seit kurzem aufmerksam geworden ist: die Sozial- und Staatswissenschaften, die aufgrund der historizistischen Grundlage ihres Ursprungs und ihrer ersten Entwicklung in Deutschland (man denke nicht nur an das Recht, sondern auch an die Wirtschaft und die Soziologie selbst) oft im Mittelalter wichtige Konstruktionselemente fanden. Nun müßte aber auch die Rolle des Mittelalters im Bereich der wissenschaftlichen Spezialisierung untersucht werden, die in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts auch die Geschichtsforschung, in der doppelten Ausrichtung der Verfassungsgeschichte mit juristischem Gepräge und der Wirtschaftsgeschichte betraf. Ganz zu schweigen von der komplexen und so sehr ideologisierten Kulturgeschichte Lamprechts, aus der dank Gelehrter wie Hintze die moderne Sozial- und Verfassungsgeschichte2* hervorgehen sollte.25

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Brandl [Anm. 22] hat der gesamten im Text gelieferten Rekonstruktion als Ausgangspunkt gedient. G. Oestreich: Die Fachhistorie und die Anfänge der sozialgeschichtlichen Forschung in Deutschland. In: Historische Zeitschrift 208 (1969), S. 320-336. Ich weise noch auf einige Initiativen hin, die am Italienisch-deutschen historischen Institut in Trient in den vergangenen Jahren organisiert worden sind und deren Akten auch auf deutsch vorliegen; vgl. etwa Die Antike im 19. Jahrhundert in Italien und Deutschland. Hg. von Karl Christ/Arnaldo Momigliano. Bologna/Berlin 1988 und: Die Renaissance im 19. Jahrhundert in Italien und Deutschland. Hg. von August Buck/Cesare Vasoli. Bologna/Berlin 1989. Diese Rekonstruktionen lassen ein Bild der Beziehungen zwischen der italienischen und der deutschen Geschichtsschreibung entstehen, das dem von mir entworfenen nicht unähnlich ist. Wichtiger ist die Bestätigung der Rolle der Historie als Knotenpunkt und Schmelztiegel der neuen wissenschaftlichen Unruhe des modernen Menschen und seines immerwährenden Bedürfnisses, Ideologien zu konstruieren. Die Historie konnte im 19. Jahrhundert diese beiden - nur dem Anschein nach gegensätzlichen - Instanzen mit ihrem essentiellen Verweis auf die Erfahrung und die Empirie temperieren, der auch der Ausgangspunkt dieses Vortrags gewesen ist.

Frangois Hartog

Rom und Griechenland Die klassische Antike in Frankreich und die Rezeption von Johann Joachim Winckelmann

Ich möchte mich hier mit einem Fall und mit einer Fragestellung beschäftigen, die beide in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts angesiedelt sind - als der Terminus »Neuzeit« sich gerade konstituierte und sich, wenn nicht der, dann mindestens ein moderner Begriff von Geschichte in Deutschland herausbildete. Der Fall ist Frankreich in seinem Verhältnis zur Antike und in seiner Benutzung des antiken Vorbilds im Laufe dieser Periode; die Fragestellung, mit dem Fall verbunden, ist die der französischen Rezeption von Johann Joachim Winckelmann schon seit 1755, dem Jahr der Veröffentlichung seiner Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, die sofort ins Französische übersetzt wurden. Hier will ich nur einige Bezugspunkte für eine intellektuelle Geschichte markieren, einige Veränderungen betonen und auf einige Mißverständnisse hinweisen. 1

I. Das Politische Seit ihrer Wiederentdeckung war die Antike in der Kultur und in den Debatten der Zeitgenossen permanent präsent. Es wäre also grob vereinfachend und größtenteils falsch, das 18. Jahrhundert, zumal seine zweite Hälfte, als eine Rückkehr zur Antike zu betrachten, auch wenn es außer allem Zweifel steht, daß sich dieses Jahrhundert gern vor einem an die Antike erinnernden Bühnenbild inszeniert hat. Es steht ebenso fest, daß die Entdeckung von Herculaneum (1738) und Pompeji (1748) ein Schock war und dadurch eine katalysatorische Wirkung hatte: Zum Für eine gründlichere Untersuchung dieses Moments vgl. Vf.: La Revolution frangaise et l'Antiquite. Avenir d'une illusion et cheminement d'un quiproquo. In: La Pensee politique 1 (1993), S. 30-61.

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erstenmal drang man wie Einbrecher in die Antike ein, plötzlich stand sie da, vor Augen, greifbar, in ihrem Leben vom Tod überrascht.2 Aber auch jenseits der Anekdoten läßt sich sagen, daß das 18. Jahrhundert sich gründlich mit der Neuerforschung der Antike beschäftigt hat. In seinem Kampf gegen den Absolutismus hat es sich bemüht, das antike Vorbild neu zu analysieren und die Republiken des Altertums wieder zu politisieren. Während das 17. Jahrhundert in der Antike nur Beispiele für Moral und Heldentum suchte, wurden im 18. vor allem ihre politische Dimension betont sowie politische Modelle gefunden. Doch auch wenn viele diesen politischen Blick hatten, seien es Montesquieu oder Mably, Rousseau oder Condorcet, sowie alle bekannten oder unbekannten Denker, die sich mit dem Zustand des Königreiches Frankreich, d. h. mit den öffentlichen Angelegenheiten auseinandersetzten, wichen die Betrachtungsweisen und die daraus gezogenen Konsequenzen weit voneinander ab: Die einen betonten die Distanz, die anderen die Nähe; die einen betrachteten die antiken Republiken als eine Vergangenheit, die zwar bewundernswert sei, aber nicht mehr wiederkommen könne, die anderen betrachten sie als eine strahlende Zukunft. Diese Dichotomie ist natürlich zu einfach, aber sie bringt zumindest zwei Tendenzen zur Geltung, die bis zur Revolution vorherrschten, zwei verschiedene Verhältnisse zur Antike bei Menschen, die im übrigen dieselben Gymnasien besuchten und dieselbe klassische Kultur miteinander teilten. Dieser Übergang von der Moral zur Politik ist ganz deutlich bei dem Mann zu beobachten, der das neue Feld der Politik entwarf, Montesquieu. Als Antwort auf an ihn gerichtete Kritiken betonte er im Vorwort zu LEsprit des Lois (1748), daß die »Tugend«, die er für die Triebfeder der Republik hielt, nicht im Sinne der Moral und der Religion verstanden werden solle, sondern vielmehr als »politische Tugend«, d. h. als »Liebe zum Vaterland und zur Gleichheit«. Allgemein weiß man, welch große Rolle die Alten für die Vorbereitung von L'Esprit des Lois und Montesquieus Ansatz insgesamt spielten. Doch was er uns am Ende präsentiert, ist ein Inventar der Unterschiede zwischen den Alten und uns, das bereits die liberale Vision der Antike vorwegnimmt. Denn in Wirklichkeit ist die Zeit der antiken Republiken definitiv vergangen. Sie als Vorbilder zu nehmen, wäre also unvernünftig. »Man muß«, schreibt er, »die antiken Verhältnisse kennen, nicht um die neuen zu verändern, sondern um die neuen richtig anzuwenden«. Man darf nicht Vergangenheit und Gegenwart verwechseln, man darf nicht die Vergangenheit in der Gegenwart beschwören, um diese zu

2

Pompei, le reve sous les ruines. Hg. von Claude Aziza. Paris 1992. 1766 veröffentlicht Nicolas Boulanger ein Buch mit dem bezeichnenden Titel: L'Antiquite devoilee parses usages.

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verändern. Es könne nur Probleme stiften, den Bruch zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu ignorieren oder zu überspringen. Bei Condorcet, einem der wichtigen Akteure der Revolution, ist die Distanz zur Antike insgesamt genauso groß. Gegenüber der zahlreichen Gruppe der Bewunderer Spartas hat er immer seine Vorbehalte ausgedrückt und Kritik am Staat des Lykurg geübt; man könne mehr lernen, wenn man sich mit England oder gar Amerika beschäftige statt mit den antiken Republiken. In seiner Esquisse d'un tableau historique des progres de Vesprit hwnain, die er in der Verbannung verfaßte, ist Griechenland als vierte unter den zehn Epochen, die Condorcet unterscheidet, zwar hoch geschätzt, aber er erinnert sofort daran, daß der politischen Praxis der Griechen die Sklaverei ebenso zugrundelag wie die Möglichkeit, die »Gesamtheit der Bürger« auf einem öffentlichen Platz zu versammeln. Eine »große moderne Nation« kann nicht auf Sklaverei beruhen und auch nicht allen die Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten gewähren: man braucht eine repräsentative Regierungsform. Hier liegt der fundamentale Unterschied zwischen Antike und Moderne. Diese kritische Tendenz, die sich selbstverständlich nicht auf die Namen Montesquieu und Condorcet beschränkt, politisierte bzw. repolitisierte die Antike (und näherte sich ihr in diesem Sinne), distanzierte sich aber zugleich auch von ihr, indem sie auf der Vergangenheit und Nicht-Wiederholbarkeit ihrer Erfahrung insistierte. Ihr gegenüber steht die Gruppe der Bewunderer oder Verteidiger der Antike, zumal Spartas. 3 Zu ihnen sind Mably und Rousseau zu zählen, aber auch Männer, die weniger bekannt sind, wie Guillaume-Joseph Saige, Rechtsanwalt am Gerichtshof von Bordeaux. 1775 lancierte Saige einen Catechisme du Citoyen (»Katechismus für den Staatsbürger«), ein anonym entworfenes Pamphlet; aber vorher hatte er schon 1770 einen Dialog mit dem Titel Cato oder Unterhaltungen über die politischen Freiheiten und Tugenden veröffentlicht. Seine beiden Vorbilder heißen Rousseau (der des zweiten Discours) und der Abbe Mably, Verfasser der Unterhaltungen von Phocio, wo Sparta als die vorweggenommene, unübertreffliche Verwirklichung des Platonischen Idealstaats erscheint. Auch der Rechtsanwalt Saige, der gern über die politischen Freiheiten und Tugenden nachdenkt, kann kein besseres Vorbild als die Verfassung von Lykurg finden: Sie ist, sagt er, »das Meisterwerk des menschlichen Geistes und grenzt an politische Vollkommenheit«. Es läßt sich nicht deutlicher sagen, daß Sparta ein unübertreffliches Vorbild und seine Nachahmung zwingend geboten ist. Schon anhand dieses Beispiels versteht man die Rolle des antiken Vorbilds in der vorrevolutionären Periode. Die In-

}

Vgl. L. Guerci: Liberia degli antichi e liberta dei moderni. Neapel 1979.

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szenierung und das >Ins-Wort setzen< des antiken Republikanismus war selbstverständlich ein Mittel, den Despotismus und den Absolutismus anzugreifen, die Autorität des Monarchen zu unterminieren. Dieses Ziel wurde durch die Ausgrabung eines Feldes erreicht, wo deutlich zu machen war - und sei es nur durch die Form des Dialogs - , daß nicht nur ein einzelner etwas zu sagen hat. Was die Wörter selbst und ihren Inhalt betrifft, so ermöglichten sie eine Wiederentdeckung und eine Wiederaneignung der Öffentlichkeit, des Politischen als solchen;4 sie lieferten nicht nur einen begrifflichen Rahmen, um zu denken, sondern auch ein Bild, um sich - nach einem Wort von Rousseau - »den Übergang von dem, was die Menschen gewesen sind, zu dem, was sie sein können«, vorzustellen.5 Genau diesen Übergang, diesen Sprung von hinten nach vorn, von der Vergangenheit zur Gegenwart, weigerte sich Montesquieu zu vollziehen. War aber Rousseau bereit, diesen Sprung zu tun? Es sieht so aus, als sei das oben gegebene Zitat ein Beweis dafür, um so mehr als es aus den allerersten Zeilen der Histoire de Laceddmone entnommen ist (die nicht über die ersten Seiten hinauskam). Gegen die Modernen lobt und wählt Rousseau immer die Alten. Im Rahmen der Polemik glänzt Sparta ganz prächtig: »Was würden sie [meine Gegner] nicht geben, damit dieses Sparta nie existiert hätte?«, sagte er in seiner Antwort auf die an den Discours sur les Sciences et les Arts gerichteten Einwände.6 In Wirklichkeit schwankt er den Alten gegenüber zwischen Nostalgie (wovon seine Plutarch-Lektüre zeugt) und Utopie (wie sie das genannte Zitat zeigt). Ob das reicht, um die antiken Republiken als Modell zu nehmen? Nein, Rousseau kennt als Bürger Genfs den durch die Größe gegebenen Einwand gut (eine Republik kann nur klein sein), er weiß wohl auch, daß die Freiheit der einen (der Bürger) die Sklaverei der anderen (der Sklaven) voraussetzt. Und wenn er die Alten für ihre Abkehr von der repräsentativen Regierungsform lobt, sieht er andererseits, wie die Modernen (die Engländer) sie anwenden oder preisen. Er weiß auch, daß die Distanz zwischen den heutigen Menschen und den antiken beträchtlich ist. Die Genfer, behauptet er in seiner neunten »Lettre sur la montagne«, sind weder Römer noch Athener, sondern einfach Händler, für welche die Freiheit nur ein Mittel ist, »ungehindert zu erwerben und ohne Gefahr zu besitzen«. Er war also nicht blind, wie es ihm Benjamin Con-

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Vgl. K. Backer: Inventing the French Revolution. Cambridge U.P. 1990, S. 128-152, wo der Fall Saige dargestellt und analysiert wird. J.-J. Rousseau: Histoire de Lacedemone. In: (Euvres Completes. Paris 1964, Bd. 3, S. 544. J.-J. Rousseau: Reponse ä Bordes (1752), ebd., S. 182.

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stant vorwarf, und verkannte den Zeitunterschied sowie die Distanz zwischen Freiheit der Alten und Freiheit der Modernen nicht. Nicht zuletzt hat der im Contrat social dargestellte Staat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem antiken Staat; diese Ähnlichkeit findet man ausgerechnet im viel später, und zwar 1864, geschriebenen Werk von Fustel de Coulanges, La Citi Antique, das größtenteils gegen Rousseau gerichtet ist. Trotzdem ist für Rousseau jede Gesellschaft - auch das Sparta Lykurgs - eine Verstümmelung des Naturzustandes. Daher der Aufruf zum »Naturmenschen«, der Rückgriff auf eine theoretische Fiktion, die von seinen Gegnern als dummes Lob des wilden Lebens karikiert wurde. 1791 sieht man den jungen Chateaubriand - der noch nicht weiß, was er später sein oder machen wird - , wie er sich als überzeugter Anhänger Rousseaus nach Amerika aufmacht. Seine Suche in den Wäldern der Neuen Welt ist vor allem die nach dem wilden Menschen: »Du, Mensch aus der Natur, nur Dir habe ich zu verdanken, daß ich mich meiner Menschlichkeit rühme! Dein Herz kennt die Hörigkeit nicht«.7 Das Eingreifen des wilden (oder des Natur-)Menschen - egal, ob man sie ähnlich oder verschieden sieht - kompliziert also die Situation und hindert uns daran, Rousseau einfach als Verteidiger der Alten zu betrachten. In diesem politischen Raum, zu dessen Aufbau die Antike beiträgt, spielt bis zur Revolution 1789 die Person des Gesetzgebers eine wesentliche Rolle. Er ist dieses fast übermenschliche Wesen, das es unternimmt, einem Volk >eine Form zu gebenc genau wie Lykurg für Sparta, Numa für Rom oder in weit geringeren Masse Solon der Athener (der mehr als Reformator denn als Gesetzgeber gilt). Der Gesetzgeber ist derjenige, welcher mit der alten Ordnung oder besser mit der Unordnung bricht und zugleich eine neue Ordnung stiftet, die gerecht und dauerhaft ist - ohne Übergang und ohne Distanz zwischen Gesetzgeber und Bürgerschaft. Mit ihm wird der notwendige Bruch sofort nach seiner Durchführung auch vollendet und in den neuen politischen Körper integriert. Der Beginn, die Gründung, die arche haben ein Gesicht und einen Namen. Alles beginnt und endet in der Transparenz des Augenblicks. Die Verfassung von Lykurg läßt Sparta von heute auf morgen von der kakonomia, von der politischen Unordnung, zur eunomia für immer, zur guten Ordnung der bürgerlichen Tugend wechseln: Genau das hat die Überlieferung seit den Griechen selbst permanent wiederholt. Sparta wurde vor allem wegen seiner politischen Stabilität, d. h. aufgrund seiner Fähigkeit, Wechsel zu verhindern, bewundert.

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F. R. de Chateaubriand: Essai historique, politique et moral sur les revolutions anciennes et modernes considerees dans leurs rapports avec la Revolution fran ςa is e. Paris 1978, S.440.

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II. Die Ästhetik In dieser kurzen Diagnose der erneuerten, zwischen Nähe und Distanz schwankenden Präsenz der Alten im intellektuellen Bereich habe ich das Politische bevorzugt und einen wesentlichen Aspekt beiseitegelassen, der doch der auffallendste, der meistdiskutierte seit der sogenannten >Querelle des Anciens et des Modernes< war: Ich meine den von Kunst und Ästhetik. Gerade die Rezeption Winckelmanns in Frankreich, zumal die seiner Geschichte der Kunst des Altertums, hat den Übergang von der Ästhetik zur Politik ermöglicht. Genauer gesagt: Die Rezeption machte diesen Zusammenhang zwischen Ästhetik und Politik zum Gegenstand der Debatte, denn das Beispiel der Griechen selbst zeigte, daß ihre Kunst so lange groß war, wie sie frei waren. Die Rezeption erfolgt unmittelbar. Winckelmanns Gedanken erschienen im Mai 1755 in Dresden bei Hagenmiiller in nur sechzig Exemplaren.8 In weniger als einem Jahr standen zwei Übersetzungen auf Französisch zur Verfügung.9 Das gilt auch für die Geschichte der Kunst des Altertums: Sie wurde 1764 veröffentlicht, und schon 1766 waren zwei französische Versionen im Verkehr, die eine in Paris erschienen, die andere in Amsterdam. Zwar ist diese schnelle Verbreitung sicher auf einige Deutsche in Paris, vor allem auf Georg Wille zurückzuführen, aber der Anklang, den die Gedanken fanden, zeigt deutlich, daß sie auf ein günstiges Terrain oder auf eine schon begonnene Debatte trafen. Zunächst konnte es so aussehen, als würde der Autor die Theorie der Nachahmung der Antiken in ihrer klassischen Strenge bestätigen: die Alten, vor allem die Alten, nur die Alten.10 Aber das tat er von Dresden aus. Zweitens kam das Buch den Bestrebungen der Verteidiger des »Grand genre«, des »Grand beau« oder »genre antique« entgegen. Sie

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S. J. J. Winckelmann: Kleine Schriften, Vorreden, Entwürfe. Hg. von Walter Rehm. Berlin 1968, S. 324f. Pensees sur limitation des Grecs dans les ouvrages de Peinture et de Sculpture. In: Nouvelle Bibliotheque Germanique. Bd. 17, Amsterdam Juli-Sept. 1755, S. 302-329, und Bd. 18, Jan.-März 1756, S. 72-100 (die Veröffentlichung erfolgte unter der Leitung von Formey, damals ständiger Sekretär der Berliner Akademie); Reflexions sur I'imitations des ouvrages des Grecs, en fait de Peinture et de Sculpture. In: Journal Etranger, Paris, Jan. 1756, S. 104-163. Über die Rezeption von Winckelmann vgl. Edouard Pommier: Winckelmann et la vision de l'Antiquite classique dans la France des Lumieres et de la Revolution. In: Revue de l'art 1988, S. 9-20, sowie ders.: L'Art de la liberie. Doctrines et debats de la Revolution franqaise. Paris 1991; M. Espagne: La diffusion de la culture allemande dans la France des Lumieres: les amis de J. G. Wille et l'echo de Winckelmann. In: Winckelmann: la naissance de l'histoire de l'art ä l'epoque des Lumieres. Hg. von E. Pommier. Paris 1990, S. 101-135. J. Chouillet: L'esthetique des Lumieres. Paris 1974, S. 206-211.

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lehnten den »petit gout« (den kleinen Geschmack), die »petite maniere« ab und wandten sich gegen Manierismus und Rokoko, die als Abschwächung und Verfälschung der Antike galten. Der Maler David war damals noch nicht aufgetreten. 1730 sprach ζ. B. Präsident de Brasses voller Nostalgie vom »großen Geschmack der Alten, der im vorigen Jahrhundert herrschte«.11 Hier lag vor allem der Sinn einer »Rückkehr« zur Antike, die diese Gruppe einfordern wollte. Winckelmann konnte dabei hilfreich sein. In einer Welt, die bis dahin weit mehr römisch als griechisch ausgerichtet war, wurde nun der Scheinwerfer plötzlich auf Griechenland gerichtet, und zwar auf ein anderes als das übliche Griechenland: Nicht mehr auf den Staat, der Mably begeisterte und Rousseaus Gegner »wütend« machte, d. h. nicht mehr auf Sparta, sondern auf Athen, nicht mehr auf ein literarisches Griechenland, mit Homer und immer wieder Homer, durch den die >Querelle des Anciens et des Modernes< am Anfang des Jahrhunderts erneut aktuell geworden war, sondern auf ein sichtbares, greifbares Griechenland, das Griechenland der Kunst, der Skulptur vor allem. Aus diesem Volk von Standbildern tauchte plötzlich die Schönheit selbst auf, eine leider vergessene, von den Modernen entstellte, eine verlorene Schönheit. Was für eine Schönheit war das? Man sprach von »schöner Natur«, vom »idealischen Schönen«, von »edler Einfalt«.12 Jeder schlug seine eigene Definition vor. Diese damals unvermeidlichen, modischen, immer wieder neu diskutierten, mehrdeutigen Wörter waren ein günstiges Terrain für Mißverständnisse, gleichsam Teiche, wo das Denken gern im Trüben fischt. Anhand dieser Wörter hat sich die moderne Ästhetik zu formulieren versucht, und in ihrem Umkreis hat sich zumindest teilweise der Übergang von der Aufklärung zur Romantik vollzogen. Winckelmanns Gedanken waren ebenfalls ein Beitrag zum Fischen und deshalb ein ganz aktuelles Buch. Diderot, der Winckelmann gelesen und über ästhetische Fragestellungen sehr intensiv nachgedacht hat, schrieb ungefähr zur selben Zeit: »Nie werde ich aufhören unseren Franzosen zuzurufen: Die Wahrheit! Die Natur! Die Alten!«13 Diese drei Wörter sind in solchem Kontext fast Synonyme. Selbst Caylus, der für Diderot und seine Freunde, die Enzyklopädisten, die Gegenfigur

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Zitiert von J. Erhard: L'idee de nature en France dans la seconde moitie du XVIIle siecle. Paris 1963, S. 289. Über die Geschichte und die Bedeutung dieser Ausdrücke s. A. Becq: Genese de l'esthetique frangaise moderne de la raison critique ä 1'imagination creatrice 16801814.2 Bde. Pisa 1984, insbesondere S. 516-546. Diderot: CEuvres Competes. Hg. von Jules Assezat/Maurice Tourneux. 20 Bde. Paris 1875-1879,Bd. 7, S. 120; s. J. Seznec: Essais sur Diderot et ΓAntiquite. Oxford 1957, S. 106.

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darstellte, und zwar die des Antiquars (siehe den Antiquar als Affen bei Chardin), pries ebenfalls »die edle Einfalt« und »die edle und einfältige Art des antiken Schönen«. 14 Zwei der Encyclopidie entnommene Beispiele - das erste aus der Encyclopedie selbst, das zweite aus dem Anhang (»Supplements«) - sind für diese Rezeption und ihre Entwicklung bezeichnend. Der Artikel »Griechen« in der ΕηογαΙορέάϊβ erscheint 1757.15 Sein Autor ist der Chevalier de Jaucourt, der als viel schreibender Schriftsteller bekannt war. Jaucourt geht die verschiedenen griechischen Zeitalter durch und schließt mit »Reflexions sur la preeminence des Grecs dans les sciences et dans les arts« (Gedanken über die Überlegenheit der Griechen in Wissenschaft und Kunst). Man kann sich fragen, ob diese Gedanken lediglich Abschluß eines besonders bunt zusammengewürfelten Artikels sind oder ein Anhang, der im letzten Augenblick hinzugefügt wurde, um eine aktuelle Debatte aufzunehmen. Nachdem Jaucourt daran erinnert, daß die Griechen die berühmteste Nation sind und die größten Männer der Geschichte hervorgebracht haben, liefert er eine reine Kopie der ersten Seiten von Winckelmanns Gedanken, ohne dies zu erwähnen. Genauer gesagt, er benutzt wörtlich Sätze aus einer von Freron verfaßten >Rezension< für das Journal Etranger, die er als dessen Redakteur offenbar zur Hand hatte. 16 Den Text der Gedanken selbst hat Jaucourt sicher nicht benutzt und wohl unter Zeitdruck zum Mittel des Abschreibens gegriffen. Im vorliegenden Fall hat das eine witzige Pointe, da sich Freron, ein erklärter Feind Voltaires und der >philosophesden Griechen zur Wohnung angewie-

14 15 16

Philippe de Caylus: Recueil d'antiquites. Paris 1752,1, XI, XIII. Encyclopedie, VII, S. 254-258. Journal Etranger, Jan. 1756, S. 104-163. Freron selbst spricht von einer Rezension. Es handelt sich genau gesagt um eine aus Adaption und Übersetzung bestehende Montage. Die Lektüre dieses Werkes, so schreibt er, ist »interessant auch für die, welche weder Maler noch Bildhauer sind«, und alle hießen den Autor gut, »dessen Ziel es ist zu beweisen, daß die Nachahmung der Griechen das sicherste Mittel, vielleicht das einzige ist, um den Höhepunkt der Vollkommenheit in den Künsten zu erreichen«. In der »Nouvelle Bibliotheque Germanique« ist der ganze Text übersetzt, aber der Autor der Übersetzung (wahrscheinlich der Berliner Philosoph Johann Georg Sulzer) stellt seine Arbeit so vor: »Hier ist die freie Übersetzung eines Werkes, das auf Deutsch mit dem Titel >Gedanken< erschien. Das Original wurde so sehr gutgeheißen, daß wir geglaubt haben, eine Übersetzung besorgen zu müssen.«

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senVorbild< meint das, was man vor Augen hat oder vor Augen haben will. Es steht vor uns, wie es gestern stand und morgen stehen wird. Im Gegensatz zur >QuelleQuelle< und >Vorbild< schwanken: Das Vorbild setzt die Nachahmung voraus und führt zwangsläufig zu der Frage, ob es möglich ist oder nicht, das Vorbild zu übertreffen. Daher die Problematik der Vollkommenheit: Ist es eine absolute oder eine relative Vollkommenheit? In seiner Parallele des Anciens et des Modernes hatte Perrault den Begriff »Höhepunkt der Vollkommenheit« (»point de perfection«) verwendet im Sinne des Scheitelpunktes einer Kurve, die danach nur noch sinken kann, zugleich aber auch im Sinne der Relativierung der Vollkommenheit: Der von der Kunst der Alten erreichte Höhepunkt unterscheidet sich von dem der Modernen (er ist eigentlich unterlegen), aber in beiden Fällen handelt es sich um Vollkommenheit. »Die Quellen [der Kunst] suchen heißt, nach Athen reisen«. Bekanntlich gelang es Winckelmann nie, bis nach Athen zu kommen, aber 20

21

S. Aleida Assmann: Arbeit am Nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee. Frankfurt a.M. 1993. Keine Einzelheiten über Winckelmann. Gedanken in Rehm (Hg.) [Anrn. 8], S. 29.

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unabhängig von diesem biographischen Detail ist klar, daß die Metapher >Quelle< einem ganz anderen Erkenntnisfeld als >Vorbild< zugehört. Indem man aus der Quelle trinkt, wird man selbst verändert, man wird selbst zu einem Alten, man sieht mit den Augen der Alten. In diesem Sinn widmet man sich zwar der Nachahmung, aber aus der Rolle des Vorbilds der Alten ist die des Ideals geworden. Zwar stehen sie definitiv hinter uns, aber auch vor uns: Die Zukunft ist offen. Es ist beides: wir schreiben sie ein in unseren Erwartungshorizont, und wir machen uns zu Alten, um groß zu sein. Zurück zu Jaucourt. Er ignoriert den Satz von der »Nachahmung der Alten als einziges Mittel für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden«, während Freron darin die zentrale Bedeutung von Winckelmanns Werk erkannte gegen die »blöden Schmäher der Antike, von denen es in diesem Jahrhundert wimmelt.«22 Trennt sich Jaucourt in diesem Punkt von Freron? Hätte die Anwendung des Satzes geheißen, sich allzu entschlossen den »Fanatikern«23 der Antike anzuschließen? Oder, und das wäre eine banalere Erklärung, hat Jaucourt, der den Originaltext nicht kannte, diesen Satz nicht verwendet, weil Freron ihn als seinen eigenen ausgegeben hat? Andererseits stimmt er der These von der Überlegenheit der griechischen Schönheit, zu der die »Bemühungen der Natur und der Kunst« beitragen, völlig zu, greift aber nur die »schöne Natur« auf und läßt die letzte Stufe der »idealischen Schönheit«24 beiseite. Insgesamt kann man sagen, daß Winckelmann dieser griechischen Vollkommenheit, die bis dahin überwiegend literarisch geblieben war, Fleisch, einen Körper, einen Rahmen gab. Er machte sie sichtbar und greifbar, indem er sie als Produkt eines Klimas und einer Organisation von Gemeinschaft betrachtete. Der Staat (das Wort >polis< wird nicht verwendet) erscheint als eine Einrichtung, eine Maschine, um von der Geburt an - und schon vor der Geburt - bis zum Erwachsensein schöne Körper zu formen. Wenn Zwang und eine strenge Kontrolle auf die Körper ausgeübt wurden, hatten sie keinen anderen Zweck, als die Natur nicht zu behindern. Es ging nur darum, Mißbildungen der Körper durch Wachsamkeit und Übung zu vermeiden oder zu begrenzen. Was das Übrige betrifft, so herrschte die Regel des möglichst geringen Zwangs, insbesondere hinsichtlich der Bekleidung: Nichts darf den Körper zusammendrücken oder -pressen und so die Natur >zügelnGeburtstag< des 9. Thermidor zu feiern hieß, »alle Erinnerungen zu streichen«, so F. de Neufchateau: Der Zug, der an einen römischen Triumphzug erinnert, soll zugleich als »der Sühnezug für die Verbrechen der am 9. Thermidor gestürzten Tyrannei« betrachtet werden. Durch dieses triumphale Opfer werden die Schreckensherrschaft sowie die bilderstürmerische Gewalt gegen alle Symbole der Vergangenheit abgebüßt und damit getilgt. Diese Inszenierung bringt den engen, permanenten Bund zwischen Kunst und Freiheit, der Revolution und den Künsten zur Geltung. Es wird so etwas wie eine »annehmbare« Geschichte der Revolution vorgeschlagen: In der Feier des Jahres VI betrachtet sich die Revolution im Bild ihrer eigenen Geschichte, so wie sie sie selbst dargestellt wünschte. Es wäre sicher absurd, in Winckelmann die einzige Quelle all dieser Äußerungen zu sehen. Und doch ist er anwesend. Es war nicht einmal nötig, seinen Namen auszusprechen, insofern sein Werk auf die Formel »Kunst und Freiheit« reduziert war, eine Art von >Winckelmannschem Lehrsätze Der Winckelmann, auf den sich Jansen und, als extremes Beispiel, auch Wicar mit ihrem Gebrauch des Begriffs »Erneuerung« berufen, ist vor allem der des Programms der Gedanken: mit den Griechen als Vorbildern soll aus Paris ein neues Athen werden. Aber es gibt auch einen anderen Winckelmann, d. h. eine andere Verwendung seines Werkes, die sich aus den mit der Gesamtheit der Denkmälern gestellten Problemen ergibt. Denn die Gesamtheit der Denkmäler bezeichnet ja auch unseren Abstand von den Griechen. Dieser Winckelmann ist der der Geschichte der Kunst, den Alexandre Lenoir, der Gründer des Musee des Monuments Francis (Museum der französischen Denkmäler), geistig nachgearbeitet und sich zunutze gemacht hat. Was soll man mit jenen »Kunstdenkmälern« machen, die der Geistlichkeit gehört hatten und Gemeingut geworden waren? So die Frage, auf die Lenoir nach und nach eine Antwort fand. Es wurde entschieden, daß ein Teil verkauft und ein anderer in provisorische Depots eingelagert wurden. In Paris wählte man den Couvent des Petits Augustins (das

44

F. de Neufchateau: Le Redacteur, No 957, 12 thermidor, S. 1-6. In: Pommier (Hg.) [Anm. 9], S. 453f.

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Kloster der Kleinen Augustiner), und Lenoir, der mit Doyen Malerei studiert hatte, wurde auf Vermittlung Doyens die Obhut der Werke anvertraut (im Juni 1791 wurde er zum »Wächter des Depots« ernannt). Von nun an widmete sich Lenoir der intensiven Inventarisierungs-, Erwerbs-, Restaurierungs- und Wiederaufbauarbeit. Er gönnte dabei dem Mittelalter einen zunehmenden Platz. 1795 wurde das Depot zum >Museum der französischen DenkmälerKunst und Freiheit entstammen könnte, dem Vorhaben von Lenoir eigentlich nicht völlig entspricht, wollte er doch die Bewahrung von Denkmälern der Vergangenheit vorstellen. Aber die Diskrepanz selbst ist interessant, denn sie zeugt von der Schwierigkeit, diese Museumsarbeit zu konzipieren, Aufbewahrung zu denken. Wie kann man sie definieren, welche Bedeutung kann man ihr geben? Während Winckelmann lediglich eine künstlerische und intellektuelle Blüte beschreibt, bezieht sich Lenoir auf dieses Bild von Athen und auf die Aura von Winkkelmann, um sozusagen der Konservierung ihren Adelsbrief zu geben. Das Nebeneinander der Akropolis des Perikles mit dem Museum der französischen Denkmäler mußte zu der Überzeugung führen, daß die Aufbewahrung, die zur Bildung des guten Geschmacks beitragen sollte, eine besondere Rolle im Kreis der Erbauer der republikanischen Akropolis spielte. Im Vorwort Lenoirs sowie im Museum selbst ist Winckelmann anwesend. Lenoir hat seine Büste im Umgang des Klosters aufgestellt: »Die Ehrfurcht, die dieser erhabene Mann mir eingeflößt hat, die Dankbarkeit, die ihm die Künstler schuldig sind, alles hat mich angeregt, ihm ein Denkmal zu errichten.«47 Bemerkenswert ist, daß er als einziger

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47

Über Lenoir s. Pommier (Hg.) [Anm. 9], S. 371-379, D. Poulot: Alexandre Lenoir et les Musees des Monuments frangais. In: Pierre Nora et al. (Hg.): Les Lieux de memoire. Bd. 2: La Nation. Paris 1986, S. 497-531. Description historique et chronologique des monuments de sculpture reunis au Musee des monuments franqais. Paris, an VI de la Republique, S. 1. Ebd., S. 351, No 401.

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Ausländer so geehrt wurde. Als Prophet Athens und der Freiheit, aber vor allem als Entdecker der Kunstgeschichte: einer als System gedachten Geschichte, die sich von einer einfachen Geschichte der Künstler unterscheidet. Mit seiner Hilfe konnte Lenoir sein Depot zu einem Museum umgestalten, das heißt in eine Reise durch die Geschichte. Durch diese Verwandlung erlangten die Gegenstände, die aus dem Besitz der Geistlichkeit in den der Allgemeinheit übergegangen waren, den Status von historischen Objekten. Sie waren jetzt Träger einer Geschichte und zeugten durch eine Reihe von Merkmalen davon, daß Kunst selbst eine Geschichte hat. Diese Objekte konnte man neu gruppieren und einordnen und so die >Reise< organisieren. Diesem ersten Prinzip der Klassifizierung, das den Begriff des Stils betonte, um anwendbar zu sein, fügte Lenoir ein Instrument hinzu - bzw. er setzt an seine Stelle ein Instrument - , das schärfer, ausdrucksvoller und unmittelbarer verwendbar ist: das Jahrhundert. Indem er im Museum vorwärts schreitet, soll der Besucher »nach und nach von Jahrhundert zu Jahrhundert reisen«. Die Räume sind tatsächlich nach Jahrhunderten aufgeteilt, so daß jedem Jahrhundert der Charakter verliehen wird, der »zu ihm paßt«.48 Lenoir vermeidet zwar in seinen Bemühungen um Chronologie (»die Hauptbasis meiner Arbeit«) eine aus dem Rückblick konstruierte Teleologie der Freiheit und der >letzten HeimstattJahrhundert< s. D. Milo: Trahir le temps. In: Les Belies Lettres. Paris 1991, S. 319ff. Ebd., S. 4. Ebd., S. 10. Ebd., S. 13.

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angehört, ist aufs ganze gesehen weder Griechenland noch Rom, sondern das Mittelalter. In der Unordnung seines Depots baut er restaurierend, träumend, bastelnd die erste postrevolutionäre Nationalgeschichte. 1816 befahl dann die Restauration die Schließung des Museums. 52 Im Bereich der Kunst setzte die Erneuerung die Nachahmung der Griechen voraus, und logischerweise führte die Kritik an der Erneuerung dazu, daß die Nachahmung am Ende in Frage gestellt wurde. Wie ist es mit der Politik? Die Jakobiner, Saint-Just und Robespierre an der Spitze, wurden tatsächlich angeklagt, Frankreich in ein neues Sparta verändern zu wollen. Die Anklage gewann an Gestalt und Gewicht zur Zeit des Thermidor im Kreis der Ideologues, und der 1819 von Benjamin Constant gehaltene Vortrag »Von der Freiheit der Alten im Vergleich zu der den Modernen« ist ihr vollständigster Ausdruck. Ohne auf die Logik dieser Anklage und ihrer Argumente einzugehen, will ich mich darauf beschränken, an einen Satz von Saint-Just, dem Römer, zu erinnern, der sich mehrmals als Brutus verstand: »Zweifelt nicht daran: alles, was um euch existiert, ist Unrecht. Der Sieg und die Freiheit werden die Welt erfassen. Verachtet nicht, aber ahmt auch nicht nach, was früher passiert ist; Heldentum hat keine Vorbilder. So werdet ihr, ich wiederhole es, ein mächtiges Imperium begründen, mit der Kühnheit des Genies und der Macht der Gerechtigkeit und der Wahrheit.«53 Wie kann man den Aufruf zum antiken Heldentum, das Bild des modernen Republikaners als antikem Republikaner und die erklärte Ablehnung der Antike als Vorbild miteinander vereinbaren? Es scheint, als hätten wir das genaue Gegenteil des Aufrufs von Winckelmann (»das einzige Mittel für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden heißt, die Antiken nachzuahmen«) vor uns. Doch in beiden Fällen geht es um Anfänge. Der gute Geschmack hat sich anfangs in Griechenland gebildet; um ihn in Deutschland auszubilden und zu verbreiten, könne man nur den Weg der Nachahmung gehen. Aus den Quellen der griechischen Kunst schöpfen heißt nicht, sich wie die Griechen anzuziehen, sondern sich so weit wie möglich zu bemühen, die Welt mit den Augen der Griechen zu sehen. Diese Forderung bringt alles zum Ausdruck, was die Modernen von der Antike trennt: Die Körper waren schöner (wegen des Klimas und auch, weil die Regeln des sozialen Lebens auf das Schöne zielten54).

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53 54

Das ist eine andere Geschichte, in der Quatremetre de Quincy auftritt. Auch er beruft sich auf Winckelmann, ist aber gegen die Idee des Museums. Saint-Just: Rapport du 26 germinal an II. In: (Euvres Completes. Paris 1984, S. 819. Man denkt an den bekannten Satz von Thukydides in der Grabrede auf Perikles II, 40: "Wir pflegen das Schöne in der Einfalt (euteleia)." Anhand dieses Textes definiert Hannah Arendt die griechische Kultur als "Liebe zur Schönheit und Weisheit" innerhalb der von der Polis gesetzten Grenzen. Winckelmann ist noch nicht völlig verschwunden.

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Mit den Augen der Griechen sehen heißt, im Stande zu sein, das künstlich Erhabene des Barocks zu durchschauen, die unechte Größe von der echten zu unterscheiden, die Unterlegenheit der modernen Natur a b z u gleichen, und für die Besten wie Raffael heißt es, ein Werk zu schaffen, das wahre Größe erreicht. Mit den Augen der Griechen sehen heißt für den modernen Künstler, sich in den Stand zu setzen zu beginnen. Wenn Saint-Just die Nachahmung und das Vorbild ablehnt, tut er dies im Namen einer Auffassung von Revolution als absolutem Beginn. Aber diese Ablehnung widerspricht den Anrufungen und Beschwörungen der Antike nicht. Weil zwischen den Römern und uns nichts liegt, weil die Welt »leer« ist - um die Figur des Auslöschens der Zeit zu benutzen, die wir schon bei Wicar, dem >Rächer der griechischen Freiheit kennengelernt haben - , taucht die Vergangenheit blitzartig in der Gegenwart auf, so daß sie plötzlich das Übrige verdunkelt, auch weil die Antike, auf die man sich bezieht, selbst als Bruch und als Beginn wahrgenommen wird. Immer wieder bezieht man sich auf den Zusammenbruch der Monarchie und die Gründung der römischen Republik, auf den Sturz der Tyrannen in Athen und die Gesetzgebung von Lykurg in Sparta und spielt so die Figur der Analogie voll aus. Sicherlich, Winckelmann und Saint-Just liefern nicht dieselbe Antwort, aber in verschiedenen Kontexten und Registern antworten sie zumindest auf dieselbe Frage: Wie beginnen? Ihr Abstand in dieser Hinsicht begründete die beiden Antike-Referenzen in Deutschland und Frankreich: geht es dem einen um Bildung und ist er nur griechisch, so beschäftigt sich der andere mit Institutionen und Imperium und ist vor allem Römer (gelegentlich Spartaner, wobei es sich um das von Lykurg instituierte Sparta handelt). Der eine schlägt die Nachahmung der Griechen vor, damit wir selbst unnachahmlich werden, der andere lehnt sie ab, weil wir (schon) unnachahmlich sind. Am Ende setzte sich das Verdikt gegen die Nachahmung durch, ja, es wurde daraus ein Gemeinplatz, mit dem man die Revolution erklären konnte. »Unsere Revolution«, bemerkte der junge Chateaubriand, »wurde zum Teil von Schriftstellern bewirkt, die eher Bewohner von Rom oder Athen als von ihrem eigenen Land waren und deshalb die antiken Sitten nach Europa zurückbringen wollten.«55 Dem alten Wortsinn nach bedeutet Revolution ein Zurück. Zugleich ist die Kritik der Revolution, die zum »Despotismus der Freiheit« führte, d. h. zur Beseitigung der Freiheit in ihrem eigenen Namen, mit dem Begriff der Illusion verbunden, der es ermöglicht, den Mechanismus der Nachahmung selbst zu

55

Chateaubriand [Anm. 7], S. 90.

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demontieren.56 Die Revolutionäre haben sich in doppelter Weise geirrt: sowohl im Hinblick auf die gegenwärtige Realität Frankreichs, eines modernen Landes, das mit den kleinen antiken Republiken nichts zu tun hat, wie auch hinsichtlich der vergangenen Realität der antiken Stadt, die nicht jener Ort der Freiheit und der Gleichheit war, an den sie als Plutarch-Leser immer dachten. In der Frage der Freiheit war der Angriff besonders heftig und das Nachdenken besonders intensiv. Es führte zur Definition des Modells der zwei Freiheiten bei Constant. Die Freiheit der Alten, die in der Teilnahme an der Ausübung von Souveränität besteht, war mit Sklaverei in den »privaten Verhältnissen« verbunden. Die Freiheit der Modernen, die individuelle Freiheit, die »die Sicherheit in den privaten Genüssen« bringt, setzt das System der Repräsentation voraus. Partizipation gegen Repräsentation, kollektive Freiheit gegen individuelle Freiheit: in diesen Punkten erfolgt ein endgültiger Bruch mit der Welt der Alten, der der Nachahmung den Weg versperrt und das alte Spiel der Analogien veralten läßt. Im Bereich der Kunst bildet sich eine Kritik an der Nachahmung heraus, die Winckelmann sehr direkt betrifft. Fran$ois R.J. Pommereul, Offizier der Artillerie und später Präfekt des Empire, veröffentlichte in La Decade, der Zeitschrift der Ideologues, einen Bericht unter dem Titel: »Des institutions propres ä encourager et perfectionner les beaux-Arts en France«57 (Über die Institutionen zur Förderung und Vervollkommnung der bildenden Künste in Frankreich). In diesem Bericht fordert er die jungen Künstler auf, ihren Horizont zu erweitern und lehnt die Beschränkung auf die Griechen ab: »Es wurde zuviel davon gesprochen, daß die Griechen ein von besonderen Umständen begünstigtes Volk sind«. Das sei »ein Wunder, das Winckelmann und Mengs in ihrer Begeisterung nicht immer richtig einzuschätzen wissen«. Diese Begeisterung begründe »die Tyrannei der Meinungen«, und Winckelmann, der erhabene Mann der Kunst und der Freiheit, wird von Pommereul unter die »Despoten der Kunst«58 eingereiht. Der verwendete Wortschatz ist vielsagend: Von einem Despotismus zum anderen rächt sich die Politik an der Ästhetik. Vergeblich seien die zahlreichen Dissertationen über die Frage, ob die Griechen übertroffen werden können: »Suche das wirklich Schöne«, fährt Pommereul fort, es befindet sich in der Natur; die Griechen fanden es ohne Hilfe ihrer Vorgänger: Handle wie sie, finde es; vielleicht werden deine modernen Meisterwerke die Alten

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Über diesen Begriff, seine Verwendung in der Kritik und seine weitere Geschichte vgl. Hartog [Anm. 1], La Decade, 9. und 19. April 1798, in einem Buch wiederholt, s. Pommier (Hg.) [Anm. 9], S. 337-344. Pommereul, S. 235f., s. Pommier (Hg.) [Anm. 9], S. 340.

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übertreffen; vielleicht wirst du noch erfolgreicher als die Griechen sein und uns zeigen, daß sie das Erhabene oder das Vollkommene nicht erreicht hatten. [...] Bleibe kein blinder Plagiator, selbst auf die Gefahr hin, nicht so gut wie sie zu sein. Nichts ist dem Genie so abträglich wie das Diktat der Nachahmung. 59

Die Nachahmung gilt nicht mehr als Vorbedingung, um anfangen zu können, im Gegenteil: Nun muß man die Abhängigkeit von der Nachahmung abschütteln. Die moderne Freiheit des Künstlers oder die Freiheit des modernen Künstlers besteht darin, daß er >aus sich selbst< schafft. Der Weg zur Auffassung der künstlerischen Tätigkeit als Schaffensprozeß öffnet sich.60 Die Nachahmung tritt den Rückzug an: Sie wird von der Politik verjagt, von der Ästhetik abgewiesen. Aber diese Vertreibung erfolgte aufgrund eines Mißverständnisses, das darin bestand, die Nachahmung auf das reine Kopieren zu reduzieren. Dieses Mißverständnis war damals wahrscheinlich unvermeidbar. Es half zu verstehen, wie die Revolution so weit vom Weg hatte abkommen können, daß sie sich selbst verleugnete, und es trug dazu bei zu rechtfertigen, daß man Frankreich eine »moderne« Verfassung gab, die es so dringend nötig gehabt hatte. Dieses Mißverständnis rechtfertigte auch, daß man die Künstler aufforderte, Rom zu verlassen, die sie umgebende Welt anzuschauen und die Natur überall zu finden. In intellektueller, künstlerischer, politischer Hinsicht bot also dieses Mißverständnis nicht wenige Vorteile. Nachahmen oder nicht nachahmen: letztendlich sind das zwei entgegengesetzte und doch untrennbar miteinander verbundene Strategien, um den Anfang zu wagen oder sich gegen die Angst vor dem Anfang zu wehren, wenn der Boden einsinkt in einer Welt, die ihre arche, ihr Prinzip verloren hat. (Aus dem Französischen von Carole Daffini)

59 60

Ebd., S. 341. A. Becq hat die Etappen zwischen dem Thermidor und dem Ende des Empire anhand der zahlreichen Diskussionsbeiträge zum idealistischen Schönen nacherzählt [Anm. 12], S. 789-878.

Peter Schüttler

Das »Annales-Paradigma« und die deutsche Historiographie (1929-1939) Ein deutsch-französischer Wissenschaftstransfer?

Die frühen Annales d'histoire economique et sociale von Lucien Febvre und Marc Bloch sind heute nachgerade zum Mythos geworden. 1 Allenthalben wird auf sie Bezug genommen, und zahlreiche Bücher handeln von ihrer Geschichte und Wirkung. Einen Mythos gegen den Strich zu lesen, ihn zu dekonstruieren, fällt aber bekanntlich besonders schwer. In diesem Fall kommt hinzu, daß die Durchsetzung des »Annales-Vaiadigmas« sowohl in Frankreich wie international umstritten ist, und in diesen hegemonialen Kämpfen spielt auch die genealogische Situierung der Annales - also die Frage nach ihrer Entstehung und Frühgeschichte - eine wichtige Rolle. Dies gilt nicht zuletzt für das Verhältnis der deutschen Historiker zu den Annales. Nachdem in den fünfziger und sechziger Jahren - von wenigen Ausnahmen wie Werner Conze und Hermann Kellenbenz abgesehen - der französischen Geschichtswissenschaft und dem Aufschwung der Annales kaum Interesse entgegengebracht wurde - man hielt sie nämlich für deterministisch oder gar kryptomarxistisch2 - und ihnen dann in den siebziger Jahren - gleichsam spiegelverkehrt - das

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Aus der Fülle der Literatur s. bes.: Traian Stoianovich: French Historical Method. The »Annales« Paradigm. Ithaca/London 1976; Jacques Revel: Histoire et sciences sociales. Les paradigmes des »Annales«. In: Annales E.S.C. 34 (1979), S. 1360-1376; Michael Erbe: Zur neueren französischen Sozialgeschichtsforschung. Die Gruppe um die »Annales«. Darmstadt 1979; Peter Burke: Offene Geschichte. Die Schule der »Annales«. Berlin 1991; Matthias Middell/Steffen Sammler (Hg.): Alles Gewordene hat Geschichte. Die Schule der »Annales« in ihren Texten 1929-1992. Leipzig 1994. S. ζ. B. Gerhard Ritters Polemik auf dem Internationalen Historikerkongreß in Rom (Relazioni del X Congresso Internazionale di Science Storice, Roma 4.-11.9. 1955. Bd. 6. Florenz 1955, S. 294-330) oder Hermann Heimpels Einleitungsvortrag auf dem Ulmer Historikertag 1957: Geschichte und Geschichtswissenschaft. In: ders.: Der Mensch in seiner Gegenwart. Göttingen 1957, S.201. Vgl. dazu auch Winfried Schulze: Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945. München 1989, S. 286ff.

Das »Annales-Paradigma«

unddie deutsche Historiographie

(1929-1939)

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Odium des »Objektivismus« angehängt wurde, 3 läßt sich seit einiger Zeit fast schon eine Annales-Euphorie beobachten. Allerdings hat sie hauptsächlich Studenten und jüngere Historiker erfaßt sowie ganz allgemein die Leser historischer Bücher, während die etablierte Historikerzunft sich eher nolens als volens gezwungen sieht, ihre »Abwehr« (im psychoanalytischen Sinne des Wortes) neu zu formulieren - vielleicht aber auch zu überdenken.4 In diesem Zusammenhang spielt nun seit einigen Jahren das Argument eine Rolle, daß das Projekt der Annales so originell eigentlich gar nicht gewesen sei, sondern daß Lucien Febvre und Marc Bloch ihre wichtigsten Anregungen seinerzeit aus Deutschland erhalten hätten. Dabei wird nicht nur auf die Werke Karl Lamprechts verwiesen - ein etwas zweischneidiges Argument, weil Lamprecht in der Historikerzunft kein hohes Ansehen genießt und ebenfalls lange Zeit als Kryptomarxist galt5 - , sondern zusätzlich und vor allem auf das Forschungsterrain der sogenannten »Landesgeschichte«, also das, was heute vielfach auch als Regionalgeschichte bezeichnet wird.6 Mit den innovativen Arbeiten etwa der Bonner Arbeitsgruppe um Hermann Aubin, Theodor Frings und Josef Müller und ihrem Buch Kulturströmungen und Kulturprovinzen in den Rheinlanden1 sei bereits, so Reinhard Elze, in den frühen zwanziger Jahren das interdisziplinäre Projekt einer »histoire totale« im Sinne der Annales-Historie vorweggenommen worden.8 Waren also Lucien Febvre und Marc Bloch am

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Vgl. bes. Dieter Groh: Kritische Geschichtswissenschaft in emanzipatorischer Absicht. Überlegungen zur Geschichtswissenschaft als Sozialwissenschaft. Stuttgart u. a. 1973, S. 74ff. Vgl. Emst Hinrichs: Läßt sich die Geschichte mit Brettern vernageln? Bemerkungen zu deutsch-französischen Annäherungen in der Geschichtsforschung. In: Frankreich und Deutschland. Zur Geschichte einer produktiven Nachbarschaft. Bonn 1986, S. 129-143; Hartmut Kaelble: Sozialgeschichte in Frankreich und der Bundesrepublik: Annales gegen Historische Sozialwissenschaften? In: Geschichte und Gesellschaft 13 (1987), S. 77-93. Für weitere Einzelheiten zur Geschichte der deutschen »Annales«-Rezeption vgl. Vf.: Zur Geschichte der »Annales«-Rezeption in Deutschland (West). In: Middell/Sammler [ Anm. 1 ], S. 40-60. Vgl. zuletzt: Roger Chickering: Karl Lamprecht. Α German Academic Life (18561915). Atlantic Highlands N.J. 1993, S. 175ff. Als kurze, problemorientierte Einführung vgl. Carl-Hans Hauptmeyer (Hg.): Landesgeschichte heute. Göttingen 1987; ferner die Textsammlung von Pankraz Fried (Hg.): Probleme und Methoden der Landesgeschichte. Darmstadt 1978. Einen (leider recht traditionellen) historiographischen Überblick gibt: Alois Gerlich: Geschichtliche Landeskunde des Mittelalters. Genese und Probleme. Darmstadt 1986; s. auch die Anm. 8 aufgeführte Literatur. Hermann Aubin/Theodor Frings/Josef Müller: Kulturströmungen und Kulturprovinzen in den Rheinlanden. Geschichte - Sprache - Volkskunde. Bonn 1926; erw. Neudruck: Darmstadt 1966. Diskussionsbeitrag von Reinhart Elze auf der Otto-Brunner-Tagung in Trento 1987, in: Annali dell'Istituto storico italo-germanico 13 (1988), S. 150; vgl. dazu bereits die kritische Bemerkung von Otto Gerhard Oexle: Das Andere, die Unterschiede, das

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Peter Schüttler

Ende bloße Nachahmer deutscher Erfindungen? Ist das Projekt der Annales womöglich nur ein Plagiat? Auch wenn man das Argument nicht so polemisch (bzw. ironisch) zuspitzen will, bleibt doch die Frage, ob und inwiefern der innovative Schub, welcher heute weltweit mit dem Namen Annales verbunden wird, sich de facto einer besonderen Rezeption deutscher Forschungen verdankt.9 Im übrigen ließe sich auch noch die Hypothese hinzufügen, daß dieser Transfer möglicherweise nur aufgrund des Nationalsozialismus und des Krieges auf französischer Seite vergessen, verdrängt oder auch bewußt kaschiert worden sein könnte. In der folgenden Skizze will ich daher versuchen, den besonderen Beziehungen zwischen den Annales und der zeitgenössischen deutschen Historie genauer nachzugehen.10

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Ganze. Jacques Le Goffs Bild des europäischen Mittelalters. In: Francia 17/1 (1990), S. 151. - Auf »Parallelen« zwischen deutscher Landesgeschichte und Annales verwies vor Jahren auch schon Karl Georg Faber (vgl. z.B.: Geschichtslandschaft-R6gion historique-Section in History. Ein Beitrag zur vergleichenden Wissenschaftsgeschichte. In: Saeculum 30 [1979], S. 4-21; ders.: Ergänzende Bemerkungen zu dem Aufsatz »Regionalgeschichte-Landesgeschichte«. In: Gerhard A. Ritter/Rudolf Vierhaus [Hg.]: Aspekte der historischen Forschung in Frankreich und Deutschland. Göttingen 1981, S. 216-222) und in Anlehnung daran auch Luise Schorn-Schütte: Territorialgeschichte, Provinzialgeschichte, Landesgeschichte, Regionalgeschichte. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der Landesgeschichtsschreibung. In: Civitatum Communitas. Studien zum europäischen Städtewesen. Festschrift Heinz Stoob zum 65. Geburtstag, hg. von Helmut Jäger etal. Köln/Wien 1984, S. 390-416. Kritisch dazu: Ernst Hinrichs: Regionalgeschichte: In: Hauptmeyer [Anm. 6], S. 24ff. Vgl. ferner Irmile Veit-Brause: The Place of Local and Regional History in German and French Historiography: Some General Reflections. In: Australian Journal of French Studies 16 (1979), S. 447-478, sowie bes. Franz Irsigler, der aber nicht nur »Ähnlichkeiten« sieht, sondern auch »Gegensätze« betont: Zu den gemeinsamen Wurzeln von »histoire regionale comparative« und »vergleichender Landesgeschichte« in Frankreich und Deutschland. In: Hartmut Atsma/Andre Burguiere (Hg.): Marc Bloch aujourd'hui. Histoire comparee & sciences sociales. Paris 1990, S. 73-85. Kürzlich hat nun wiederum Georg Iggers in einer Rezension des Buches von Schulze [Anm. 2] auf Gemeinsamkeiten zwischen der Annales-Historie und der deutschen »Volksgeschichte« der dreißiger Jahre angespielt, während er - anders als Schulze - die westdeutsche Sozialgeschichte und insbesondere die »Bielefelder Schule« gegen den Verdacht einer solchen Kontinuität verteidigt (History and Theory 31 [1992], S. 341f.). So zuletzt der französische Mediävist Pierre Toubert in seiner gewichtigen Einleitung zu: Marc Bloch: Les caracteres originaux de 1'histoire rurale franqaise. Paris 1988, S. 5-41. Symptomatisch für die neuere Pariser Diskussion ist in diesem Zusammenhang auch die theoretische Rehabilitierung des deutschen »Vorbilds« durch Gerard Noiriel (Pour une approche subjectiviste du social. In: Annales E.S.C. 44 [1989], S. 1435-1459), der zwischen einer »subjektivistischen« und einer »objektivistischen« Annales-Tradition unterscheiden möchte: Febvre vs. Braudel. Die vorliegende Beitrag steht im Zusammenhang einer größeren Untersuchung über die Beziehungen zwischen den Annales und der deutschen Historiographie. Für Vorarbeiten und Teilergebnisse s. u. a. Lucie Varga: Zeitenwende. Mentalitätsgeschichtliche Studien 1936-1939, hg. von Peter Schöttler. Frankfurt a.M. 1991; Vf.: Die »An-

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Beginnen wir mit der Gründung der Zeitschrift oder vielmehr zunächst mit ihrer Vorgeschichte und der Biographie ihrer Gründungsväter: Lucien Febvre, geboren 1878, und Marc Bloch, geboren 1886.11 Ihrer Herkunft nach entstammten beide den östlichen Provinzen Frankreichs - der Freigrafschaft Burgund und dem Elsaß. Aber einen direkten, anschaulichen Kontakt zu Deutschland erhielten sie entweder erst während des Studiums, wie Marc Bloch, oder während des Ersten Weltkriegs, wie Lucien Febvre. Beide Historiker gehörten auch noch zu jenen Generationen, deren Sozialisation im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert vom »defi allemand« überschattet wurde.12 Sie mußten sich also mit dem Trauma der Niederlage von 1870 auseinandersetzen. Um die »science allemande« an Ort und Stelle zu erleben, reisten viele Studenten damals für ein oder zwei Semester nach Deutschland. 13 So auch Marc Bloch, der 1908 und 1909 - nach der »agregation« - je ein Semester in Leipzig und Berlin studierte. Diese Teilnahme am deutschen Seminarbetrieb hat sicher dazu beigetragen, daß er später dem unpersönlichen, forschungsfernen Pauksystem der französischen Hochschulen sehr kritisch gegenüberstand.14 Auch die Lektüre deutscher Bücher und Fachzeitschriften dürfte für ihn aufgrund dieser Studienerfahrung noch selbstverständlicher geworden sein. Inwiefern damit allerdings eine direkte, gleichsam pauschale Übernahme deutscher Lehrinhalte verbunden war, scheint zweifelhaft. Blochs dauerhafte Auseinandersetzung mit den Thesen, Arbeitsweisen und Lektüregewohnhei-

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nales« und Österreich in den zwanziger und dreißiger Jahren. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 4 (1993), S. 74-99; ders.: »Desapprendre de l'Allemagne«. Les »Annales« et l'histoire allemande pendant l'entre-deux-guerres. In: Hans-Manfred Bock/Reinhart Meyer-Kalkus/Michel Trebitsch (Hg.): Entre Locarno et Vichy. Les relations culturelles franco-allemandes dans les annees 1930. Paris 1993, S. 439-461; ders.: Geschichtsschreibung in einer Trümmerwelt. Reaktionen französischer Historiker auf die deutsche Historiographie während und nach dem Ersten Weltkrieg. In: Dieter Berg/Otto Gerhard Oexle (Hg.): Mittelalterwissenschaft und Mittelalterbild in Deutschland und Frankreich im ausgehenden 19. Jahrhundert. Bochum 1995. Zu Blochs Biographie s.: Carole Fink: Marc Bloch. A Life in History. Cambridge 1989. Eine vergleichbare Arbeit über Febvre liegt bisher nicht vor. Die folgenden Ausführungen basieren überwiegend auf einer Auswertung des Nachlasses von Febvre, der mir dankenswerterweise durch dessen Sohn, Henri Febvre, zugänglich gemacht wurde. Vgl. Claude Digeon: La crise allemande de la pensee franqaise (1870-1914). Paris 1959. Vgl. Helene Barbey: Le voyage de France en Allemagne de 1871 ä 1914. Nancy 1994. Vgl. Olivier Dumoulin: Les »Annales d'histoire economique et sociale« fage au Probleme de Penseignement de l'histoire. In: Revue d'histoire moderne et contemporaine (1984), Sonderheft: Cent ans d'enseignement de l'histoire (1881-1981), S. 2030.

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ten deutscher Fachkollegen zeigt im Gegenteil, daß die genaue Kenntnis der deutschen Wissenschaftslandschaft, wie er sie später auch von seinen Studenten forderte, für ihn nur eine Voraussetzung eigenständiger Forschungen war.15 Bloch hat verschiedentlich anklingen lassen, daß ihn während seiner beiden deutschen Semester einige Professoren besonders beeindruckten. So veröffentlichte er ζ. B. 1932 in den Annales einen Nachruf auf Karl Bücher, der seinerzeit in Leipzig Nationalökonomie und Wirtschaftsgeschichte lehrte. Bloch erinnert an die für einen Franzosen ungewohnte Diskussionsatmosphäre in Büchers Seminar und betont, daß dessen Buch Die Entstehung der Volkswirtschaft noch immer ein Klassiker der wirtschaftshistorischen Literatur sei.16 Ein anderer Leipziger Hochschullehrer, dessen Vorlesungen er besuchte, war Karl Lamprecht. Schon während seines Studiums an der Ecole Normale Superieure lieh sich Bloch mehrfach - wie übrigens auch Febvre - das einzige ins Französische übersetzte Buch Lamprechts aus. Darüber hinaus kannte er natürlich Lamprechts Artikel über die »Historische Methode in Deutschland«, der 1900 in der Revue de Synthese historique übersetzt worden war. Das heißt, Bloch wußte schon vorher, daß es in Leipzig einen besonders interessanten, aber auch umstrittenen Wirtschafts- und Kulturhistoriker gab. Trotzdem ist die häufig vertretene These, daß Bloch und mit ihm die Annales ihren gesellschaftsgeschichtlichen Ansatz mehr oder weniger direkt von Lamprecht übernommen hätten,17 konkret nicht zu belegen. Es ist vielmehr auffällig, daß Lamprechts Lehrveranstaltungen von Bloch an keiner Stelle besonders gewürdigt werden und daß er Lamprechts Bücher - wenn überhaupt - stets kritisch annotiert. So heißt es ζ. B., Lamprechts sogenannte kulturhistorische Methode sei im Grunde bloß »heiße Luft«, die »kaum all den Wirbel

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Vgl.Anm.39. Marc Bloch: Karl Bücher. In: Annales d'histoire economique et sociale (fortan: AHES) 4 (1932), S. 65f. So zuletzt: Catherine Devulder: Karl Lamprecht, »Kulturgeschichte« et histoire totale. In: Revue d'Allemagne 17 (1985), S. 16; Bryce Lyon: Marc Bloch: Did he repudiate »Annales« History? In: Journal of Medieval History 11 (1985), S. 183; Peter Burke: Die »Annales« im globalen Kontext. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 1 (1990), S. 21. Vgl. dagegen die differenzierteren Darstellungen bei Georg G. Iggers: Geschichtswissenschaft in Deutschland und Frankreich 1830 bis 1918 und die Rolle der Sozialgeschichte. In: Jürgen Kocka (Hg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert. Bd. 3. München 1988, S.175-199; Lutz Raphael: Historikerkontroversen im Spannungsfeld zwischen Berufshabitus, Fächerkonkurrenz und sozialen Deutungsmustern. Lamprecht-Streit und französischer Methodenstreit der Jahrhundertwende in vergleichender Perspektive. In: Historische Zeitschrift 251 (1990), S. 325-363.

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verdiente, den sie verursacht hat«.18 Man gewinnt also den Eindruck, daß der junge Bloch von Lamprecht enttäuscht wurde. Er fand ihn wohl oberflächlich und geschwätzig und räumte ihm daher nie einen Ehrenplatz in seinen deutschen Erinnerungen ein, während er überraschenderweise zwei kleine Artikel über Lamprechts wichtigsten Gegner, Georg von Below, verfaßte, obwohl er ihm nie begegnet war.19 Schließlich ist noch ein dritter Leipziger Hochschullehrer zu nennen, dessen Name bei Bloch gelegentlich auftaucht: Rudolf Kötzschke. Als Leiter des Siedlungsgeschichtlichen Seminars gehörte er zu den Begründern einer wissenschaftlichen Agrargeschichte, einem Forschungsfeld, dem Bloch später einen ganz besonderen Stellenwert beimaß.20 Lucien Febvres Kontakt zu Deutschland und zu deutschen Historikern war demgegenüber nur indirekter Natur. Von seinen studentischen Bildungsreisen ist nichts bekannt. Deutschen Boden betrat er offenbar zum ersten Mal, als er 1918 mit seiner Einheit in Eupen einmarschierte. In den zwanziger Jahren hielt er dann regelmäßig Vorlesungen in Köln und Mainz, aber nur im Rahmen der französischen Besatzungs- bzw. Kulturpolitik. Offizielle Kontakte zu deutschen Universitäten gab es nicht. Febvres Sohn berichtet außerdem, daß sein Vater die deutsche Sprache im Grunde nur passiv beherrschte.21 Aber bedurfte es überhaupt solcher Deutschland-Reisen bzw. eines deutschen Studiums, um die innovativen Fragestellungen der »science allemande« gründlich kennenzulernen? Wurden nicht ζ. B. das Instrumentarium der historisch-philologischen Textkritik oder - in einem anderen Bereich - die Fragestellungen und Methoden der Anthropogeographie auch in Frankreich durch Zeitschriftenberichte und Übersetzungen hinreichend bekannt gemacht? Immerhin galten deutsche Geschichtsschreibung und Geographie vor 1914 weltweit als »Modell«, von dem man sich auch in

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Marc Bloch: L'Alleniagne de l'avenement de Henri IV (1056) ä la mort de Louis de Baviere (1347). In: Bulletin de la Faculte des Lettres de Strasbourg 2 (1923/24), S. 255. S. Revue historique (fortan: RH) 158 (1928), S. 223f.; AHES 3 (1931), S. 553-559. Vgl. auch: RH 128 (1918), S. 343-347. Wie Bloch in einem Brief an Henri Pirenne bemerkt (30.11. 1931), ist er v. Below nie persönlich begegnet (Bryce Lyon/Mary Lyon [Hg.]: The Birth of Annales-History: the Letters of Lucien Febvre and Marc Bloch to Henri Pirenne. Brüssel 1991, S. 135f.). Aber er wußte natürlich, daß v. Below ebenso wie Lamprecht ein Anhänger alldeutscher Expansionsträume war. Und dies gilt erst recht für Dietrich Schäfer - ein weiterer Lamprecht-Gegner - , den Bloch als Student in Berlin hörte und dem er ebenfalls einen - allerdings sehr kühlen -Nachruf widmete (AHES 1 [1929] S. 250f.). Vgl. seine in Anni. 9 zit. Untersuchung sowie darin die Einleitung von Pierre Toubert. Gespräch mit Henri Febvre, 7.4. 1989.

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Frankreich faszinieren ließ.22 Erst nachdem der Krieg vor der Tür stand, artikulierte sich das heftige Bedürfnis nach einer Distanzierung vom deutschen Vorbild. Die »histoire ä l'allemande« wurde zum Schreckgespenst, dem man nur noch negative Charakterzüge wie Faktenhuberei, nationale Überheblichkeit und mangelhafte literarische Qualität nachsagte: »L'histoire ä l'allemande«, schrieb ein Historiker, »est l'expression d'une mentalite particuliere, resultant de la forte discipline qui soumet l'individu ä la collectivite.«23 Lucien Febvre und Marc Bloch haben sich solchen manichäischen Gegenüberstellungen von »französischem Geist« und »deutscher Mentalität« bzw. »Disziplin« in bezug auf die Geschichtsschreibung nie angeschlossen. Da sie beide den Krieg als Offiziere an der Front verbrachten - und dabei auch mehrfach verletzt wurden - , hatten sie es nicht nötig, ihren Patriotismus durch publizistische Heldentaten zu beweisen. Umso interessanter ist ihr Verhalten nach dem Krieg, als es galt, im Rahmen der neugebildeten französischen Universität Straßburg eine Alternative zum vormaligen deutschen Lehrbetrieb aufzubauen. Die Straßburger Universität wurde von der französischen Regierung als eine Art »Brückenkopf« im zurückgewonnenen Elsaß besonders gefördert.24 Vor allem in den ersten Jahren wurden brillante Nachwuchsprofessoren berufen, die mit viel Elan an ihre Aufgabe gingen und auf ihren sogenannten »Samstagstreffen« auch untereinander diskutierten. (Später ließ dieser Schwung nach, und die meisten Professoren bemühten sich um einen Ruf nach Paris.) Febvre wurde 1919 auf den Lehrstuhl für frühneuzeitliche Geschichte berufen und leitete das entsprechende Institut; Bloch dagegen - der, wie gesagt, etwas jünger war - vertrat die Mediävistik, anfangs noch ohne Professur. Beide lernten sich erst in Straßburg persönlich kennen, arbeiteten in benachbarten Räumen und schlossen sehr schnell eine eigentümliche wissenschaftliche Freundschaft. In vielen inhaltlichen Fragen stimmten sie vollständig überein, aber ihre Temperamente, auch ihre theoretischen, waren unterschiedlich. Vor allem im persönlichen Umgang gehörten sie ver-

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Vgl. Charles-Olivier Carbonell: Histoire et Historiens. Une mutation ideologique des historiens franqais 1865-1885. Toulouse 1976, S.495ff.; Beate Gödde-Baumanns: La France et l'Allemagne: l'eclosion d'une historiographie et ses echos. In: Storia di Storiografia 1987, Nr. 12, S. 72-88; Numa Broc: La geographie franijaise face ä la science allemande (1870-1914). In: Annales de Geographie 86 (1977), S. 71-94. Louis Daville: Le retour ä la tradition frangaise en histoire. In: Revue des etudes napoleoniennes 11 (1917), S. 340. Zu diesem Umschwung s. meinen in Anm. 10 zit. Aufsatz »Geschichtsschreibung in einer Trümmerwelt«. Vgl. Charles-Olivier Carbonell/Georges Livet (Hg.): Au berceau des »Annales«. Le milieu strasbourgeois. L'histoire en France au debut du XXe siecle. Toulouse 1983, sowie bes. John E. Craig: Scholarship and Nation Building: The Universities of Strasbourg and Alsatian Society, 1870-1939. Chicago 1984, S. 195ff.

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schiedenen Welten an: Febvre war ein Menschenfreund mit vielen sozialen Kontakten, beinahe leutselig; Bloch dagegen war ironisch, kühl und reserviert, verbarg seine Emotionen unter einem undurchdringlichen Panzer. Obwohl Febvre und er wissenschaftlich eng zusammenarbeiteten, wurden sie kaum miteinander vertraulich und bewahrten stets das distanzierende »Sie«.25 Dennoch war das Tandem Febvre-Bloch zu langfristigen Initiativen und Anstrengungen in der Lage, die weit über das übliche Maß akademischer Kooperation hinausgingen. Gemeint ist natürlich das Projekt der Annales, das schon in den allerersten Straßburger Jahren, wenn auch zunächst in anderer Form, entstand. Denn anfangs träumten beide noch von einer großen Revue internationale d'histoire et de sociologie iconomique. Als Herausgeber wollten sie den belgischen Historiker Henri Pirenne gewinnen, während sie selbst nur die redaktionelle Leitung übernehmen wollten.26 Allein schon der Name Pirenne signalisierte damals ein ganzes Programm.27 Denn dieser Gelehrte stand in den Nachkriegsjahren nicht nur für einen sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Blick in der Geschichtsschreibung, er symbolisierte zugleich eine äußerst kritische Haltung gegenüber der deutschen Politik und Wissenschaft. Pirenne hatte in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Lüttich, Paris, Leipzig und Berlin studiert und war bis 1914 der bekannteste Vermittler zwischen deutscher und französischer Historie gewesen. Er stand nicht nur in ständigem Kontakt zu Lamprecht, sondern auch zu von Below und zur Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, die ihn ab 1903 als Mitherausgeber führte. Aber im Krieg erlebte der Belgier dann seine deutschen Kollegen von einer anderen Seite, und er selbst wurde 1916 als Repräsentant des belgischen Widerstandes nach Deutschland deportiert. Einer seiner Söhne fiel im Kampf um die Befreiung seines Landes. So wurde Pirenne nach 1918 zum unnachgiebigen Warner vor den barbarischen Konsequenzen der »science alleman-

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S. dazu ausführlicher Schöttler: Lucie Varga (Anm. 10], S. 30ff., sowie das eindrucksvolle Porträt von Blochs ältestem Sohn: Etienne Bloch: Marc Bloch. Souvenirs et reflexions d'un fils sur son pere. In: Atsma/Burguiere [Anm. 8], S. 23-37. Vgl. dazu jetzt die von Bryce und Mary Lyon edierten Briefe Febvres und Blochs aus dem Pirenne-Nachlaß [Anm. 19]. Leider ist diese Ausgabe aber unvollständig und oft fragwürdig kommentiert [Anm. 34], Zur Biographie s. Bryce Lyon: Henri Pirenne. Gent 1974. Pirennes Verhältnis zu Deutschland bedarf noch einer genaueren Untersuchung. Vgl. vorläufig: Hermann Aubin: Zum 50. Band der Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (fortan: VSWG) 50 (1963), S. 1-24 (bes. S. 18-21); Heinrich Sproemberg: Henri Pirenne und die deutsche Geschichtswissenschaft. In: ders.: Mittelalter und demokratische Geschichtsschreibung. Ausgewählte Abhandlungen, hg. von Manfred Unger. Berlin 1971, S. 377-446.

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de«. In seinen drei Genter Rektoratsreden von 1919, 1920 und 1921 geißelte er insbesondere die Querverbindungen zwischen deutscher Historie und alldeutscher Politik.28 Völkische Ideologie, Germanenkult und Rassismus hätten die deutschen Universitäten vergiftet und eine expansive Politik legitimiert. Nachdem man jahrzehntelang von der deutschen Wissenschaft gelernt habe, stehe jetzt eine grundlegende Revision an: In Zukunft müsse man von Deutschland - auch wissenschaftlich - »verlernen«. Diese Abkehr vom deutschen Vorbild findet sich auch im Projekt der beiden Straßburger Professoren wieder. Die neue Zeitschrift sollte nämlich ausdrücklich eine Alternative zu der vor 1914 international dominanten Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte darstellen. Gedacht war an eine »inter-allierte Zeitschrift«,29 die auf dem 1923 - nicht zufällig - in Brüssel stattfindenden und von Pirenne geleiteten internationalen Historikerkongreß der Öffentlichkeit vorgestellt werden sollte.30 Von diesem Kongreß aber waren die deutschen und österreichischen Historiker ausgeschlossen.31 Im Grunde ging es aber nicht bloß um einen Ersatz für die Vierteljahrschrift, sondern zugleich um ein völlig anderes Zeitschriftenmodell. So heißt es in einem im Juni 1922 von Febvre und Bloch verschickten Zirkular: Es wäre sehr leicht, eine französisch-belgische Zeitschrift für Wirtschaftsgeschichte zu gründen, die auch regelmäßige Berichte über das Ausland enthielte und einigen auswärtigen Gelehrten ihre Türen öffnen würde; sie könnte sich mit dem gleichen Recht eine internationale Zeitschrift nennen wie die Vierteljahrschrift. Aber wir wollen ein tatsächlich internationales Organ; wir wollen ein gemeinsames Haus für alle Geistesarbeiter guten Willens, in dem sie sich zu Hause fühlen; in dem sie in allen großen Kultursprachen veröffentlichen können, die ein Historiker beherrschen muß; und in dem sie nicht als auswärtige Gäste, sondern als wirklich Beteiligte behandelt werden. Denn dies ist eine unerläßliche Voraussetzung für eine kontinuierliche und wirksame Mitarbeit.32

Die Abwendung vom Modell der VSWG bedeutete also keinen Rückzug in frankophone Einseitigkeit, sondern sollte im Gegenteil eine echte internationale Öffnung und Vielsprachigkeit möglich machen. Die natio-

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S. Schüttler: Geschichtsschreibung in einer Trümmerwelt [Anm. 10]. So Febvre in einem Brief an Pirenne vom 4.12.1921 (Lyon/Lyon [Anm. 19],S. 7). Vgl. dazu Karl Dietrich Erdmann: Die Ökumene der Historiker. Geschichte der Internationalen Historikerkongresse und des Comite International des Sciences Historiques. Göttingen 1987, S. 97ff. Dieser jahrelange internationale Boykott deutscher Wissenschaftler ging auf Beschlüsse der allierten Wissenschaftsakademien vom Herbst 1918 zurück. Er wurde erst 1925/26 gelockert, aber nicht formell aufgehoben. Vgl. Brigitte Schroeder-Gudehus: Les scientifiques et la paix. La communaute scientifique internationale au cours des anntes 20. Montreal 1978, S. 131ff.; Erdmann [Anm. 30], S. 98-102. Archives Nationales, Paris, Nachlaß Marc Bloch, 3797, Vervielfältiger Brief v. 22.6. 1922.

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nalistische Bornierung der anderen Seite sollte nicht symmetrisch umgekehrt, sondern tatsächlich durchbrochen werden. Indirekt wurde damit auch das während des Krieges popularisierte Konzept der »science frangaise« kritisiert. Schon in seiner Straßburger Antrittsvorlesung vom Dezember 1919 hatte Febvre jede nationale Zweckbestimmung der Wissenschaft abgelehnt: »Eine Geschichtsschreibung, die dient«, so erklärte er, »ist eine dienerische Geschichtsschreibung. [Une histoire qui sert, est une histoire serve.] Als Professoren der französischen Universität Straßburg sind wir keine zivilen Missionare eines offiziellen nationalen Evangeliums.«33 Unter dem Titel »Geschichtsschreibung in einer Trümmerwelt« hatte er statt dessen das Programm einer problemorientierten »analytischen Geschichtswissenschaft« skizziert, das in den folgenden Jahren seinen Forschungen zugrundeliegen sollte. Aus der geplanten internationalen Zeitschrift ist bekanntlich nichts geworden.34 Einerseits fehlten die nötigen Mittel, da die erhoffte Finanzierung durch die Rockefeiler-Stiftung nicht zustandekam; andererseits waren weder Pirenne noch Febvre oder Bloch an einer Zeitschrift interessiert, die von dem im Gefolge des Brüsseler Kongresses gegründeten »Internationalen Historikerkomitee« herausgegeben bzw. kontrolliert worden wäre. Denn in diesem Gremium herrschten natürlich diplomatische Rücksichten, und die meisten Mitglieder - wie etwa der Sekretär Michel Lheritier - gehörten zum politik- und diplomatiege-

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Lucien Febvre: L'histoire dans un monde en ruines. In: Revue de synthfcse historique 30(1920),S. 1-15 (S. 4). Diese umwegige Vorgeschichte der Annales wurde bislang in der Literatur nie restlos aufgeklärt. Denn bekanntlich gibt es kein »Annales-Archiv«, und die Nachlässe der beteiligten Personen waren oder sind in der Regel unvollständig und schwer zugänglich. Auch die Korrespondenz zwischen Febvre und Bloch ist nur fragmentarisch erhalten und setzt erst 1928 ein. Hinzu kommt, daß auf französischer Seite die internationale Dimension des Projekts völlig vernachlässigt wurde, vgl. etwa Paul Leuillot: Aux origines des »Annales d'histoire economique et sociale« (1929). Contribution ä l'historiographie frangaise. In: Melanges en Γ honneur de Fernand Braudel. Toulouse 1973, Bd. 2, S. 317-324; Andre Burguiere: Histoire d'une histoire: la naissance des Annales. In: Annales E.S.C. 34 (1979), S. 1337-1359; Carbonell/Livet [Anm. 24], während Erdmann, der als erster die internationalen Quellen auswertete, an der /Inna/fs-Thematik kaum interessiert war (Erdmann [Anm. 30] S. 151, 161, 170f.). Die kürzlich publizierte Edition der Briefe an Pirenne schließlich (Lyon/Lyon [Anm. 19]) ist in genau diesem entscheidenden Punkt unvollständig - es fehlen ζ. B. wichtige Febvre-Briefe von 1926-1930 sowie die Gegenbriefe Pirennes - und in der Kommentierung unzureichend bzw. unzutreffend. Im übrigen kann die Vorgeschichte der Λ/irtii/es-Gründung im Rahmen dieses Beitrags nur ganz kurz skizziert werden; dies soll demnächst an anderer Stelle ausführlicher geschehen. Ich stütze mich dabei vor allem auf eine Auswertung des Pirenne-Nachlasses und der Korrespondenz Febvre-Bloch. Für ständige Diskussionen über diese Fragen danke ich Bertrand Müller (Lausanne), dessen kritische Edition des Febvre-Bloch-Briefwechsels ab Herbst 1994 erscheinen und das landläufige Bild der frühen /4/ina/fi-Geschichte grundlegend verändern wird.

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schichtlichen Flügel der Zunft. Die von Febvre und Bloch geplante »revue de type nouveau«,35 in der vor allem innovative Methodendiskussionen geführt bzw. in einem umfangreichen Rezensionsteil kommentiert werden sollten, wäre in diesem Rahmen natürlich unmöglich gewesen. Als das Komitee auf seiner Genfer Gründungssitzung im Mai 1926 beschloß, das Zeitschriftenprojekt weiter zu verfolgen, und 1927 in Göttingen noch einmal darauf zurückkam, war von Febvres Konzept bereits nicht mehr die Rede. Daher entschlossen sich die beiden Straßburger Historiker, die von Pirenne laufend informiert wurden, eine eigene, nunmehr rein französische Zeitschrift zu lancieren: die Annales d'histoire 4conomique et sociale. Allerdings konnte sich auch diese Zeitschrift, deren Prospekt im August 1928 von Bloch auf dem Osloer Historikerkongreß verteilt wurde, von vornherein auf einen internationalen Mitarbeiterkreis stützen (angefangen bei Pirenne), und diese - in Frankreich keineswegs selbstverständliche - Öffnung wurde auch zielstrebig weiter verfolgt. In einem Brief an seinen Studienfreund Albert Thomas, den Leiter des Internationalen Arbeitsamtes in Genf, schrieb Febvre im September 1928: Die Annales sind eine >nationale< Zeitschrift, weil sie von Franzosen geleitet werden und in Frankreich entstanden sind; sie verfolgen unter anderem das Ziel, dem Ausland zu beweisen, daß man in Frankreich sehr viel intensiver auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Sozialgeschichte arbeitet, als allgemein vermutet wird. Aber diese >nationale< Zeitschrift will dem Geist und den Mitarbeitern nach auch »international· sein. Wir haben bereits zahlreiche Zusagen aktiver Mitarbeit aus den verschiedensten Ländern, darunter auch von Deutschen.36

Und in einem zweiten Brief heißt es: Die Zielsetzung unserer Zeitschrift ist klar [...]. Wir wollen vor allen Dingen den französischen Wirtschaftshistorikern die nötige Erziehung vermitteln. Dazu müssen wir sie zunächst aus ihrer nationalen Routine herausreißen. Und was die Mitarbeiter angeht, werden wir sehr international sein. Bereits heute haben wir Zusagen über ein gutes Dutzend Aufsätze von ausländischen Gelehrten aller Länder, darunter auch von Deutschen, was ich nicht extra betonen muß.37

Aber gerade diese Betonung ist wichtig. Denn zum einen war die Mitarbeit deutscher Wissenschaftler an internationalen Projekten damals noch ein brisantes Thema, und die Praxis der Annales, von vornherein eine Reihe deutscher Historiker und Soziologen als Autoren anzuspre35

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Archives de 1'Universite Libre de Bruxelles, Brüssel, Nachlaß Henri Pirenne, Akte »Activites scientifiques diverses«: Projet de creation d'une Revue internationale d'histoire economique [von Lucien Febvre, Oktober 1923]. Brief vom 11.9. 1928. Zit. nach Bertrand Müller: »Problemes contemporains« et »hommes d'action« ä l'origine des »Annales«. Une correspondence entre Lucien Febvre et Albert Thomas (1928-1930). In: Vingtieme Siecle 9 (1992), Nr. 35, S. 81. Brief vom 21.9. 1928, zit. ebd., S. 85. Zur Schwierigkeit, geeignete, d. h. nicht »militaristisch« vorbelastete deutsche Mitarbeiter zu finden, s. auch den Brief Febvres an Pirenne vom 27.5. 1928 in: Lyon/Lyon [Anm. 19], S. 101.

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chen, war folglich bemerkenswert; zum anderen erinnert dieser Wunsch nach deutscher Mitarbeit an die fortbestehende Konkurrenz mit der Vierteljahrschrift, die inzwischen ihr Erscheinen wieder aufgenommen hatte. Tatsächlich lassen sich viele Beispiele dafür anführen, daß Febvre und Bloch in den folgenden Jahren immer wieder an dieses deutsche Pendant gedacht und entsprechend gehandelt haben. Als ζ. B. ein tschechischer Historiker ein eher schwaches Manuskript schickte, wurde diskutiert, ob man ihn nicht durch eine Ablehnung vergrätzen und damit in die Arme der Vierteljahrschrift treiben würde.38 Außerdem wurden sämtliche Hefte und Beihefte der Vierteljahrschrift im Austausch mit den Annales bezogen und fast Aufsatz für Aufsatz kommentiert, häufig von Marc Bloch selbst.39 Wie aber läßt sich diese kontinuierlichen Beobachtung - die übrigens nicht ganz einseitig war, denn auch auf deutscher Seite wurde das Auftauchen der Annales kommentiert40 - bezeichnen? Steckte dahinter eine heimliche Faszination? Verführte die selbst gesteckte »Erziehungsaufgabe« in der Praxis vielleicht zur Imitation, zur Angleichung an das Gegenüber? Was den Vergleich zur VSWG angeht, kann es über die Antwort keinen Zweifel geben: Weder in der formalen Gliederung und Präsentation noch in der Themenwahl und methodischen Durchführung bildeten die Annales ein bloß seitenverkehrtes Spiegelbild ihres deutschen Pendants. Aber die Frage nach einer impliziten Vorbildfunktion der deutschen Geschichtsschreibung ist damit noch nicht erledigt. Man muß sie vielmehr ausweiten und auf die wissenschaftlichen Denkhorizonte und Problematiken beziehen, die auf beiden Seiten die historiographische Arbeit strukturierten. Folglich gilt es, die gesamte Rezeption deutscher Forschungsbeiträge durch die Autoren der Annales-Gruppe -

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Archives Nationales, Paris, Nachlaß Marc Bloch, 318 Mi 2, Briefe Febvres an Bloch vom 19. und 23.9.1928. Eine Edition sämtlicher Rezensionen und Forschungsberichte Marc Blochs zur deutschen Geschichte und Geschichtsschreibung wird demnächst, hg. von Bertrand Müller und dem Verf., in der Schriftenreihe des Max-Planck-Instituts für Geschichte erscheinen. Vgl. VSWG 22 (1929), S. 115 und bes. VSWG 23 (1930), S. 515f. Der Hg., Hermann Aubin, bezeichnet dort die Annales als das »unserer Vierteljahrschrift parallele französische Organ« und skizziert durchaus wohlwollend die besonderen »Konturen« der Zeitschrift. Er schreibt u. a.: »In Hinsicht ihrer Mitarbeiter wie des Interessenkreises erfüllen die Annales, was sie versprochen haben, eine nationale Zeitschrift mit internationalem Charakter zu sein. [...] Die Themen der Aufsätze und besprochenen Bücher machen vor keinen Grenzen halt und die übrigen Rubriken suchen planmäßig alle Kulturländer zu berücksichtigen«. Auch manche Bücher der Annales-Gründtr wurden in deutschen Fachzeitschriften rezensiert. Dies gilt besonders für Marc Blochs 1931 erschienene Agrargeschichte (Les caracteres originaux de l'histoire rurale frangaise), die ζ. B. durch Alphons Dopsch, Carl Brinkmann und Hermann Wopfner ausführlich besprochen wurde.

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einschließlich ihrer Bücher - in den Blick zu nehmen und die Formen der intellektuellen Verarbeitung jener Literatur zu untersuchen. Schon eine oberflächliche Betrachtung erweist nun, daß keine andere nationale Geschichte und Geschichtsschreibung - mit Ausnahme der französischen natürlich - in den Annales und in dem damit verbundenen Korpus von Publikationen so präsent ist wie die deutsche. Dies gilt vor allem für die vielen hundert Rezensionen aus allen humanwissenschaftlichen Bereichen. Besonders hinzuweisen ist femer auf die regelmäßigen Forschungsberichte Marc Blochs zur deutschen Mediävistik, die allein schon aus Gründen des Umfangs nicht in den Annales, sondern in der Revue historique erschienen: Sie formulieren eine Art laufenden Kommentar zur deutschen Forschungsliteratur, der aufgrund seiner Scharfsinnigkeit sowie seiner Unnachgiebigkeit gegenüber akademischer Routine, methodischen Verirrungen und nationalistischen Entgleisungen bis heute vorbildlich bleibt.41 Daneben gibt es zahlreiche Abhandlungen in den Annales selbst, die entweder deutsche Fragen thematisieren oder von deutschen Autoren verfaßt wurden und insofern indirekt deutsche Fragestellungen dokumentieren. So veröffentlichte die Zeitschrift schon in den ersten Jahrgängen Beiträge der Hanse-Historiker Walther Vogel und Fritz Rörig sowie des Soziologen Carl Brinkmann.42 Mit der Machteroberung durch die Nazis reduzierten sich dann die Möglichkeiten trans-nationaler Kooperation. Zwar rissen nicht alle Kontakte schlagartig ab, und einige Autoren und Verlage schickten weiterhin Sonderdrucke und Rezensionsexemplare nach Paris, aber eine Publikation von Aufsätzen deutscher Professoren kam fortan nicht mehr in Frage. Statt dessen entwickelten die Annales eine vergleichsweise enge Zusammenarbeit mit Historikern und Sozialwissenschaftlern, die Deutschland oder Österreich aus politischen bzw. »rassischen« Gründen verlassen mußten, wie ζ. B. Richard Koebner, Franz Borkenau und Lucie Varga. Ihren Höhepunkt erreichte diese Kooperation mit dem 6. Heft des Jahrgangs 1937, das vollständig deutschen Fragen gewidmet war. Es wurde durch einen Beitrag Lucie Vargas eröffnet, der nicht bloß eine sozial-geschichtliche, sondern eine sozial-anthropologische Analyse der nationalsozialistischen Massenbewegung bot und insofern eine Pionierstudie besonderer Art darstellte.43

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Vgl. Karl Ferdinand Werner: Marc Bloch et la recherche historique allemande. In: Atsma/Burguifere [Anm. 8], S. 125-133. S. auch Anm. 39. Carl Brinkmann: Les nouvelles sources de la statistique dans PAllemagne d'aprfesguerre. In: AHES 1 (1929), S. 576-581; Waither Vogel: Les plans parcellaires. In: AHES 1 (1929), S. 225-229; Fritz Rörig: Les raisons intellectuelles d'une Suprematie commerciale: la Hanse. In: AHES 2 (1930), S. 481-498. La genese du national-socialisme. Notes d'analyse sociale. In: AHES 9 (1937), S. 529-546; dt. in: Varga [Anm. 10], S. 115-137.

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Überhaupt spielte die Wiener Historikerin Lucie Varga einige Jahre lang - zwischen 1934 und 1937 - eine entscheidende Vermittlerrolle zwischen deutschsprachiger Historiographie und Annales-Gruppe, da sie ständig präsent war und als Mitarbeiterin und Freundin Luden Febvres nicht nur Manuskripte übersetzte, sondern auch Autoren vorschlug, Bücher rezensierte (oder zur Rezension vorbereitete) und schließlich auch selbst innovative Aufsätze beisteuerte.44 Ihr Oeuvre, dessen schmaler Umfang sich nur aus den Zeitumständen und ihrem frühen Tod erklärt, kann als eines der besten Beispiele für einen gelungenen deutsch-französischen Transfer gelten: Als Schülerin des Mediävisten Alphons Dopsch, der stark an sozialgeschichtlichen und volkskundlichen Fragestellungen interessiert war, kam sie in den interdisziplinären Arbeitszusammenhang der Annales. Durch Febvre, aber auch durch ihren zeitweiligen Ehemann Franz Borkenau sowie Bronislaw Malinowski gefördert und gefordert, entwickelte sie in ihren Texten eine eigentümliche Mischung aus komparativer Landesgeschichte deutsch-österreichischen Ursprungs und sozialwissenschaftlich-funktionalistischen Fragestellungen im Sinne Malinowskis (bzw. der Annales). Es ist zu vermuten, daß die Zeitschrift, wenn Lucie Varga ihre Mitarbeit über einen längeren Zeitraum hätte fortsetzen können, ein anderes, stärker deutsch-französisches Profil entwickelt hätte. Zu einer unkritischen Übernahme oder gar Imitation der in Deutschland und Österreich dominanten Fragestellungen und Methoden kam es allerdings nicht. Weder die deutsche »historistische« Tradition noch das Paradigma der »Landesgeschichte« - sofern man darunter nicht bloß eine akademische Disziplin, sondern ein systematisches Konzept versteht - ließen sich nämlich im historiographischen Kontext der Annales reproduzieren. Man könnte dies an einer Reihe von Beispielen vorführen und begründen: etwa an Febvres bahnbrechender Habilitationsschrift von 1911 über die Freigrafschaft Burgund,45 an Blochs Studien zur Ile-de-France und zur französischen Agrargeschichte46 oder auch an einzelnen Aufsätzen aus den Annales und ihrem Umkreis. Gleichsam stellvertretend möchte ich hier jedoch eine Arbeit herausgreifen, die zwar wenig bekannt, aber besonders interessant ist, weil sie eine direkte Auseinandersetzung mit der deutschen Landesgeschichte enthält. Ich

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S. meine in Anm. 10 zit. Arbeit, die auch eine vollständige Bibliographie der Veröffentlichungen Lucie Vargas enthält, sowie ergänzend: Vf.: Lucie Vargas Bücher. Erfahrungen mit einer unabgeschlossenen Biographie. In: Werkstatt Geschichte 3 (1994), H. 7, S. 63-67. Lucien Febvre: Philippe II et la Franche Comte. Etude d'histoire politique, religieuse et sociale (zuerst 1911). Paris 1985. Vgl. dazu Bertrand Müller: Lucien Febvre et l'histoire regionale. In: AnnalesFribourgeoises 59 (1990/91), S. 89-103. Marc Bloch: L'Ile-de-France. Paris 1913; ders. [ Anm. 9].

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meine das von Febvre gemeinsam mit dem Geographen Albert Demangeon veröffentlichte Buch über den Rhein.47 Dieses Buch entstand im Auftrag der Straßburger »Societe Generale Alsacienne de Banque« und wurde 1931 als private Firmenfestschrift publiziert.48 Später nahm Febvre eine gründliche Überarbeitung vor, die 1935 bei Armand Colin, dem Verlag der Annales, herauskam.49 Die Frage des Rheins oder vielmehr der Rheingrenze war in den zwanziger und dreißiger Jahren natürlich von großer politischer Brisanz. Die Abtrennung Eupen-Malmedys, die Saar-Frage und die französische, belgische und englische Besetzung des linken Rheinufers aufgrund der Beschlüsse der Versailler Friedenskonferenz bedeuteten eine eklatante Herausforderung deutscher Interessen und Gefühle. Dementsprechend wurde vor allem im Rheinland ein sogenannter »Abwehrkampf« organisiert, in dessen Rahmen auch die historische Lehre und Forschung eine gewisse Rolle spielten, da sie die 1925 dann pompös gefeierte »tausendjährige« Zugehörigkeit der Rheinlande zum deutschen Sprach- und Kulturraum wissenschaftlich belegen sollten.50 Gefördert unter anderem vom Reichsministerium für die besetzten Gebiete und unter ausdrücklichem Hinweis auf ähnliche französische Forschungen, entstand 1920 ein spezielles »Institut für die geschichtliche Landeskunde der Rheinlande« an der Universität Bonn, das die vor und während des Krieges geleistete heimatkundliche Forschung und Propaganda akademisch verankern, neue Grundlagenforschungen initiieren und durch Vorlesungen und Fortbildungsveranstaltungen bekannt machen sollte.51 Es stand unter der Leitung des Historikers Hermann Aubin und des Germanisten Theodor Frings. Dieser interdisziplinäre Arbeitszusammenhang, der auch Volkskundler, Archäologen, Kunsthistoriker und Geographen umfaßte, erwies sich als sehr produktiv: Bereits 1922 konnte eine zweibändige Geschichte des Rheinlandes erscheinen, und vier Jahre später wurden zwei Werke vorgelegt, die konzeptionell Neuland

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Zum Folgenden s. inzwischen ausführlicher: Vf.: Der Rhein als Konfliktthema zwischen deutschen und französischen Historikern in der Zwischenkriegszeit. In: 1999 9 (1994), H.2, S. 46-67; ders.: Lucien Febvres Beitrag zur Entmythologisierung der rheinischen Geschichte. In: Lucien Febvre: Der Rhein und seine Geschichte. Frankfurt a.M./New York 1994, S. 217-263. Societe Generale Alsacienne de Banque (Hg.): Le Rhin. Straßburg 1931. Albert Demangeon/Lucien Febvre: Le Rhin. Problimes d'histoire et d'economie. Paris 1935. Das Buch ist in Frankreich bis heute nicht wieder aufgelegt worden. Zur seiner genauen Entstehungsgeschichte und Situierung s. das in Anm 47 zit. Nachwort zu der von mir herausgegebenen deutschen Ausgabe. (Diese enthält wohlgemerkt nur die von Febvre verfaßten Teile des Buches). Vgl. zuletzt: Franziska Wein: Deutschlands Strom - Frankreichs Grenze. Geschichte und Propaganda am Rhein 1919-1930. Essen 1992. Vgl. Edith Ennen: Hermann Aubin und die geschichtliche Landeskunde der Rheinlande. In: Rheinische Vierteljahrsblätter 34 (1970), S. 9-42 (bes. S. 35ff.).

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erschlossen und große fachwissenschaftliche Resonanz fanden: der Geschichtliche Handatlas der Rheinlande sowie das erwähnte Buch von Aubin, Frings und Müller: Kulturströmungen und Kulturprovinzen in den Rheinlanden. Geschichte-Sprache-Volkskunde. Gestützt auf siedlungsgeschichtliche, sprachgeographische und volkskundliche Erhebungen, die teilweise kartographisch umgesetzt wurden, ging es den Autoren darum, den germanisch-deutschen Charakter der Rheinlande im Sinne eines schon im frühen Mittelalter fixierten »Kulturraums« nachzuweisen und diachronisch zu verfolgen. Zu einer diskursiven Verknüpfung der drei Einzelbeiträge aus Geschichte, Linguistik und Volkskunde in einem gemeinsamen Text kam es allerdings nicht. Das Ganze blieb ein etwas esoterisches Experiment, bei dem Grundbegriffe einer »umfassend-deutschen Kulturmorphologie in geschichtlicher Betrachtung«52 ausprobiert wurden. Auch eine direkte politische Zuspitzung unterblieb. Sie war in diesem Kontext aber auch überflüssig, weil die aktuellen Schlußfolgerungen von denselben Autoren an anderer Stelle öffentlichkeitswirksamer vertreten werden konnten.53 Der kulturmorphologische Ansatz des Buches machte jedoch Schule und führte nicht nur im Rheinland, sondern auch in Westfalen und vor allem in den östlichen Provinzen zu ähnlich angelegten Arbeiten.54 Alle diese Projekte erhielten außerdem einen überregionalen Rahmen und eine gemeinsame politische Perspektive durch Institutionen wie die Leipziger »Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung« 55 oder - in dreißiger Jahren - die verschiedenen »volks-

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Aubin/Frings/Müller [Anm. 7],S. 27. Als Beispiele für die direkte propagandistische Nutzung der rheinischen Landesgeschichte seien nur zwei einschlägige Arbeiten Franz Steinbachs genannt: Schicksalsfragen der rheinischen Geschichte. In: Otto Brües (Hg.): Der Rhein in Vergangenheit und Gegenwart. Stuttgart u. a. o.J. (1925), S. 107-178; Martin Herold/Josef Niessen/Franz Steinbach: Geschichte der französischen Saarpolitik. Bonn 1934. Eine weitere ideologische Zuspitzung unter Weglassung aller sozialhistorischen Aspekte erfolgte dann ζ. B. bei Ernst Anrieh: Die Geschichte der deutschen West grenze. Leipzig 1940. Vgl. dazu jetzt auch Karen Schönwälder: Historiker und Politik. Geschichtswissenschaft und Nationalsozialismus. Frankfurt a.M./New York 1992, S. 38ff., 105ff., 171 ff. S. bes. Hermann Aubin et al. (Hg.): Der Raum Westfalen. Bd.1-3. Berlin 1931/1932/ 1934; Wolfgang Ebert et al.: Kulturräume und Kulturströmungen im mitteldeutschen Osten. 2 Bde., Halle 1936. Zum westfälischen »Raumwerk« vgl. Karl Ditt: Raum und Volkstum. Die Kulturpolitik des Provinzialverbandes Westfalen 1923-1945. Münster 1988, S. 80ff. und 24Iff. Zur »Ostforschung« vgl. Michael Burleigh: Germany turns Eastwards. A Study of »Ostforschung« in the Third Reich. Cambridge 1988, S. 30ff. S. ζ. B. das Protokoll der Tagung vom 5.-7.10. 1924 in Heppenheim, auf der Aubin u. a. über Fragen des »westdeutschen Volksbodens« diskutierten (Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung Leipzig. Die Tagungen der Jahre 1923-1929. o.O. O.J., S. 77ff.). Zur Leipziger Stiftung s. Burleigh [Anm. 54], S. 25ff., sowie (mit geographischem Schwerpunkt): Michael Fahlbusch: Die Volks- und Kulturbodenfor-

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deutschen Forschungsgemeinschaften«, unter denen es auch eine »rheinische« bzw. »westdeutsche« gab, die zahlreiche interdisziplinäre Tagungen über die westlichen Grenzräume abhielt.56 So ging der kulturmorphologische Ansatz der »Bonner Schule« beinahe nahtlos in die sogenannte »Volksgeschichte« über, und einige »Bonner« wie Aubin oder Franz Petri waren auch während des Krieges an den östlichen und westlichen Grenzen als Berater der nationalsozialistischen »Volkstumspolitik« tätig.57 Die von den Anna/es-Historikern praktizierte Interdisziplinarität war anderer Art. Man mag Febvre, Bloch und ihren Mitarbeitern im Nachhinein einen gewissen Positivismus, Soziologismus oder gar Funktionalismus vorwerfen, in den Dienst einer nationalistischen oder völkischen Ideologie stellten sie sich nie. Ihre »histoire totale« operierte zwar mit einigen erkenntnisleitenden Allgemeinbegriffen, die sie vor allem aus der Soziologie und Ethnologie bezog - eben darin unterschied sie sich ja von der Ereignisgeschichte der alten Sorbonne sowie auch vom Historismus ä la Meinecke - , aber diese Begriffe waren ungeeignet für totalitäre Mystifizierungen: Für ethnisch oder rassisch gebundene Konzepte wie »Volks- und Kulturboden« oder eine vage »Volksgeschichte« gab es in der französischen Historie kein Äquivalent. Bei aller Bewunderung für den Aufwand von Unternehmungen wie dem Bonner Handatlas, für sprachgeographische oder archäologische Erhebungen usw., die Febvre und Bloch wie selbstverständlich rezipierten und meist auch wohlwollend rezensierten,58 standen sie nie in der Versuchung, den Ansatz der deutschen Landesgeschichte nach Frankreich zu importieren. Febvres Rheinbuch,59 das natürlich alle einschlä-

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schung im Deutschen Reich von 1920-33. Phil. Diss. Osnabrück 1993. Die intellektuellen und institutionellen Zusammenhänge zwischen rheinischer Landesgeschichte und nationalistisch-revisionistischer »Volksforschung« hat jetzt Willi Oberkrome erhellt: Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945. Göttingen 1993, S. 61ff. Die als »vertraulich« eingestuften Tagungsprotokolle sind im Bundesarchiv in Koblenz sowie im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Bonn zugänglich. Für eine erste Auswertung vgl. Burleigh [Anm. 54], S. 43ff.; Oberkrome [Anm. 55], S. 15 Iff. Vgl. Burleigh [Anm. 54], S.253ff.; Schönwälder [Anm. 53], S. 171ff.; Oberkrome [Anm. 55], S. 203ff. Vgl. ζ. B. Marc Bloch: Histoire d'Allemagne. In: RH 158 (1928), S. 137 [zu: Franz Steinbach: Studien zur westdeutschen Stammes- und Volksgeschichte. 1926]; ders.: Histoire d'Allemagne. In: RH 163 (1930), S. 366f. [zu: Hermann Aubin/Joseph Niessen: Geschichtlicher Handatlas der Rheinprovinz. 1926]; Lucien Febvre: Geographie historique et geopolitique: ouvrages recents. In: Revue critique d'histoire et de litterature 96 (1929), S. 401-408 [ebenfalls zu Aubin/Niessen] (erneut in: ders.: Pour une histoire ά part entiere. Paris 1962, S. 135ff.). Gemeint ist hier nur Febvres Beitrag zu Demangeon/Febvre [Anm. 49]: Er umfaßt das Vorwort, den historischen Teil sowie die Zusammenfassung.

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gigen deutschen Publikationen einbezog, demonstriert diese Inkompatibilität. Auch dieses Buch konnte und wollte dem politischen Kontext der Rheinfrage nicht ausweichen. Indem Febvre den Begriff der »natürlichen Grenze« historisch relativiert und den Rhein statt dessen als »europäischen Fluß«, als »Bindestrich« zwischen Norden und Süden, zwischen West- und Mitteleuropa definiert, kritisiert er sowohl die deutsche wie die französische Politik. In der Hauptsache geht es ihm jedoch um die historischen und historiographischen Mythen, die sich um den Rhein ranken und die Parolen der Politiker legitimieren sollen. Daher schreibt er ausdrücklich keine »Geschichte des Rheins«, sondern skizziert »Probleme«, schneidet sich, wie er sagt, nur ein »Stück aus der Gesamtgeschichte des Rheins« heraus.60 Auf diese Weise entwickelt er vier Grundthemen, die allesamt das überlieferte Bild in Frage stellen und zwar sowohl auf deutscher wie französischer Seite. Erstens: Der Rhein, wie wir ihn erleben, ist keine Naturgegebenheit, sondern ein Produkt der menschlichen Geschichte. Zweitens: Als Grenze spielte er erst seit dem 16. Jahrhundert eine Rolle; jede retrospektive Identifikation von Deutschen und Germanen, von Deutschland und Reich usw. ist unzulässig. Drittens: Die Geschichte des Rheins ist in erster Linie eine Geschichte der Städte und der stadtbürgerlichen Kultur; der damit verbundene Stadt-Land-Dualismus wirkte destabilierend. Viertens: Die Tragik der Rheinlande liegt darin, daß sie zwischen Frankreich und Preußen-Deutschland, zwischen Ost und West zerrieben und immer wieder zum Gegenstand von Kriegen und Gebietsschachern wurden — wie etwa 1815 in Wien. Jeder Leser konnte sich hier »Versailles« hinzudenken. Überhaupt geht Febvre in seinem Essay nie direkt auf die Situation der Nachkriegsjahre ein, und auch die Kontroversen des 19. Jahrhunderts werden nur beiläufig erwähnt. Umso ausführlicher behandelt er die jahrhundertelange Vorgeschichte des Konflikts oder vielmehr die nachträgliche Interpretation dieser angeblichen Vorgeschichte durch die Historiker. Er schreibt: Es ist kaum verwunderlich, daß die Historiker [ihre] nahe Vergangenheit und aktuelle Gegenwart auf die zurückliegenden Jahrhunderte projizieren. In aller Naivität unterstellen sie, daß die Tragödie, die sie selber durchleben, schon seit Ewigkeiten existierte. Aus einer weitgehend menschlichen Geschichte von intellektuellen, religiösen oder künstlerischen Kontakten, von Austausch und Transfer (ganz zu Schweigen von wirtschaftlichen Aspekten), wird auf diese Weise - oft unbewußt - eine unmenschliche Geschichte voller Mord und Krieg. Mehr noch: Die Geschichte des Rheins erhält einen zwangsläufigen und fatalen Charakter, während menschlicher Wille [...] unter das Joch eines blinden und zielgerichteten Schicksals gepreßt wird.61

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Febvre: Der Rhein l Anm. 47 ], S. 95. Ebd., S. 12.

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Diese vermeintliche Schicksalhaftigkeit sucht Febvre zu durchkreuzen, indem er die ideologischen Denkschemata herausarbeitet, die das traditionelle Rheinbild konstituieren. Er beginnt mit der pseudo-geographischen Evidenz eines unveränderlichen Stroms, handelt dann von dem angeblichen Gegensatz zwischen germanischer und keltischer »Rasse«, spricht über die fragwürdige archäologische und siedlungsgeschichtliche Herleitung einer frühzeitig fixierten deutsch-französischen Grenze und denunziert schließlich die pseudo-historische Rückführung etwa der Schlacht von Verdun 1917 auf den Vertrag von Verdun 843. Nicht nur die Parteilichkeit der traditionellen Politik- und Diplomatiegeschichte, auch der Determinismus und die Statik der »morphologischen« Landesgeschichte werden in Frage gestellt.62 Statt dessen entwirft Febvre eine lange Liste von Forschungsdesideraten, d. h. von Problemen und Fragen, die für ihn eine Geschichte des Rheintales überhaupt erst ermöglichen. Gemeint ist vor allem eine komparative Geschichte des deutschfranzösischen Grenzraums, die sich weder an fragwürdigen Langzeitdeterminanten wie Rasse, Volk oder auch Sprache noch an den kurzfristigen politischen Verfeindungen des 19. und 20. Jahrhunderts orientieren darf. Vielmehr geht es um die Erforschung von Lebensweisen und Lebenswelten, von Gefühlen und Mentalitäten, die sich meist nur langsam, in Zeiten des Umbruchs aber auch plötzlich verändern und den nationale Zugehörigkeitswillen einer Bevölkerung bestimmen. Gegen diesen Willen aber, das wußte Febvre, der in Nancy aufgewachsen war und nun (also 1931) in Straßburg lebte, waren alle militärstrategischen, geographischen oder auch sprachgeschichtlichen Argumente am Ende machtlos. Für dieses von Febvre mit essayistischer Brillanz und vielen ausdrücklichen Fragezeichen63 skizzierte Konzept einer komparativen So-

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Febvre führt hier Gedanken weiter, die er schon vor dem Ersten Weltkrieg und dann erneut in seinem Buch: La terre et Involution humaine. Paris 1970 (zuerst 1922) entwickelt hat. Er kritisiert darin einerseits einen gewissen Determinismus und Fatalismus bei Friedrich Ratzel (dem er einen geographischen »Possibilismus« entgegensetzt) und andererseits den theoretischen Dogmatismus einiger Vertreter der Durkheim-Schule (v.a. Francois Simiands), die die Humangeographie (und mit ähnlichen Argumenten auch die Geschichtsschreibung) als unwissenschaftlich ablehnen und durch »Sozialmorphologie« ersetzen wollen. Eines der Themenfelder, an denen Febvre seine Alternativkonzeption entwickelt, sind dabei die »Grenzen« und speziell die »Frage des Rheins« (ebd., S. 323ff.). Febvre wußte natürlich, daß die konkrete historische und ethnologische Rheinlandforschung auf französischer Seite weit geringer entwickelt war als auf deutscher. Deshalb regte er 1935 als Vorsitzender der »Commission de recherches collectives« der »Encyclopedic Frangaise« entsprechende Untersuchungen an. S. den Bericht von Andre Varagnac: Quelques resultats de la recherche collective en France. La route du Rhin et les paysans rhenans. In: Revue de synthese 11 (1936), S. 83-87. Zum Kontext dieser Enqueten vgl. Tiphaine Barthelemy/Florence Weber (Hg.): Les campagnes ά

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zial- und Mentalitätsgeschichte der deutsch-französischen Grenze und des Grenzverhaltens in den Rheinlanden gab es auf Seiten der deutschen Landesgeschichte in den zwanziger und dreißiger Jahren kein Äquivalent.64 Diese Art der historischen Betrachtung und argumentativen Dekonstruktion eines hochbrisanten politischen Problems basierte nicht auf einer Umkehrung deutscher Anregungen, sondern war eigenständig und neu, ja sie hätte selbst ein Vorbild sein können, wenn man sie auf deutscher Seite anders zur Kenntnis genommen hätte als nur unter apologetischen Gesichtspunkten.65 Als dieses Buch jedoch 1935 im Handel erschien, waren rationale Diskussionen über »nationale Fragen« in Deutschland kaum mehr möglich. Um die Problematik der Beziehungen zwischen den frühen Annales und Deutschland zusammenzufassen, gibt es keine bessere Formulierung als das Editorial der Zeitschrift vom Oktober 1939. Darin brachte Febvre seine ganze Resignation gegenüber dem nun unvermeidlichen Waffengang zum Ausdruck und betonte gleichzeitig die Entschlossenheit der Annales weiterzumachen, so als ob auch die wissenschaftliche »Front« nicht unwichtig sei. Er schrieb: »Laßt uns weiterarbeiten. Und falls wir eines Tages bereit sein sollten, auch nur einen Millimeter unserer Objektivität aufzugeben, so sollten wir uns [...] an der Vorlesung wiederaufrichten, die unserer verehrter Henri Pirenne nach seiner Rückkehr aus deutscher Gefangenschaft in Gent gehalten hat: [...] >Was wir von Deutschland verlernen müssenWhat is to be done?< as a statement of social Utopia. In: Rocky Mountains Social Science Journal 9 (1972) H.3, S . 3 5 4 4 .

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Diese Gesellschaft und die entsprechende Intelligenz sollte es in Rußland so und auf lange Zeit nicht geben, sie entstanden erst spät und nur bruchstückhaft. 2 Das Moskauer Reich hatte die entsprechenden Voraussetzungen nicht schaffen können. Peter der Große, der das Land von 1689 bis 1725 regierte, versuchte dann, seinem Staat eine Gesellschaft westlichen Zuschnitts aufzuzwingen. 3 Er gliederte die Bevölkerung neu, schuf neue Stände und Ränge, er berief Wissenschaftler, Philosophen, Administratoren, Techniker in seinen Dienst, zum großen Teil aus dem Ausland, er versuchte, mit der Gründung der Akademie der Wissenschaften sozusagen eine professionelle Intelligenz zu schaffen - aber eines übersah er, oder er konnte oder wollte es nicht: dieser Intelligenz und dieser Gesellschaft, die zu seiner Vision eines modernen Rußland gehörten, auch den nötigen Spielraum zu geben, die Voraussetzungen, um sich zu einem autonomen Gebilde zu entwickeln. Zwar kannten die absolutistischen Staaten Europas auch noch keine in diesem Sinne autonomen Gesellschaften, aber dafür waren dort die historischen Voraussetzungen völlig andere als in Rußland. In dem Teil Europas, in dem die Auseinandersetzungen des lateinischen Christentums stattgefunden hatten, bis hin zur Reformation, Gegenreformation und beginnenden Aufklärung, wo die politik- und sozialgeschichtlichen Voraussetzungen andere waren, hatte sich eine Gesellschaft herangebildet, die sich auf die Revolutionen am Ende des 18. und während des 19. Jahrhunderts zu entwickelte, die keine »staatliche Veranstaltung« war, wie sie Dietrich Geyer für Rußland bezeichnet hat.4 Die Dinge änderten sich nicht wesentlich unter den Nachfolgerinnen und Nachfolgern des großen Zaren und Kaisers. An Reformprojekten fehlte es nicht, aber die große Reform, die Änderung des Staatsprinzips, blieb aus. Das Russische Reich blieb der autokratische Machtstaat nach

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Die Geschichte der russischen Gesellschaft kann hier weder dargestellt noch bibliographisch dokumentiert werden. Es sei nur auf einige grundlegende Titel hingewiesen: Manfred Hellmann/Klaus Zemack/Gottfried Schramm (Hg.): Handbuch der Geschichte Rußlands. 3 Bde. Stuttgart 1981ff.; Günther Stökl: Russische Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 5 1990; Dietrich Geyer (Hg.): Wirtschaft und Gesellschaft im vorrevolutionären Rußland. Köln 1975; Richard Pipes: Die Russische Intelligencija. Stuttgart 1962; Marc Raeff: Origins of the Russian Intelligentsia. The Eighteenth-Century Nobility. New York 1966; Klaus von Beyme: Politische Soziologie im zaristischen Rußland. Wiesbaden 1965; K.E. Bailes: Technology and Society under Lenin and Stalin. Origins of the Soviet Technical Intelligentsia, 1917-1941. Princeton (N.J.) 1978; Sovetskaja intelligencija. Kratkij oierk istorii (1917-1975gg.). Moskva 1977. Reinhard Wittram: Peter I. Czar und Kaiser. Zur Geschichte Peters des Großen und seinerzeit. 2 Bde. Göttingen 1964. Dietrich Geyer: »Gesellschaft« als staatliche Veranstaltung. Sozialgeschichtliche Aspekte des russischen Behördenstaats im 18.Jahrhundert. In: Ders. (Hg.) [Anm. 2], S. 20-52.

»Was tun?«

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außen, vor allem aber auch nach innen. Das eindrucksvollste Beispiel dafür gab die - was ihre eigenen Interessen anging - an den Ideen der Aufklärung orientierte Kaiserin Katharina Π. Der Schriftsteller und als Beamter in Staatsdiensten stehende Aleksandr NikolaeviC RadiSöev (1749-1802), ein Schüler Herders, Mendelssohns, Klopstocks, Gellerts und anderer Vertreter der deutschen Philosophie und Literatur seiner Zeit wie auch ein Anhänger der französischen Aufklärung wie seine Kaiserin, der aus einer Moskauer Adelsfamilie stammte, hatte in seinem berühmten Reisebericht Die Reise von Petersburg nach Moskau5 die verheerenden sozialen und rechtlichen Verhältnisse in Rußland kritisiert. Die Kaiserin fürchtete ein Übergreifen aufklärerischer Ideen und Einrichtungen - wie ζ. B. Verfassungen auf ihr Reich. Deswegen ließ sie RadiSSev zum Tode verurteilen, begnadigte ihn zu sibirischer Verbannung, und erst ihr Sohn und Nachfolger Paul I. entließ ihn in eine Freiheit, in der er sich nicht mehr zurechtfand, so daß er schließlich durch Selbstmord endete. RadiSöevs Werk und Schicksal sind von der russischen Intelligenz als vorbildhaft, als vorläuferhaft verstanden worden. Dies geschah gewiß mit Recht, denn RadiSöev ist für die ganze weitere Geschichte der russischen Intelligenz symptomatisch gewesen. Er hatte nach dem Motto des »Was tun?« gehandelt - mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung standen: denen des Schreibens. Einen weiteren Schritt - mit ihren Mitteln - unternahmen die adeligen Offiziere des Dezemberaufstandes von 1825, die Dekabristen. 6 Sie versuchten, den zeitweise unklaren Thronwechsel von Alexander I. zu Nikolaus I. zu nutzen, um durch einen Putsch eine Änderung der russischen Politik zu erreichen. Sie hatten im Feldzug gegen Napoleon, quer durch Europa, eine andere Welt kennengelernt. Dabei war ihnen der ungeheure Entwicklungsrückstand Rußlands bewußt geworden. Ihr Handeln kam aus einer zweifelsfrei patriotischen Grundhaltung. Ihnen ging es um eine grundlegende Neugestaltung Rußlands auf dem politischen und philosophischen Niveau, das Europa mit der Französischen Revolution erreicht hatte. Die Dekabristen vertraten die progressive Form des russischen Patriotismus, die sich stets in dem zielsetzenden Gedanken der Europäisierung Rußlands manifestiert hat. Progressiver Patriotismus äußerte sich in Rußland als Bestreben, die Abgrenzung, ja womöglich die Abkapselung gegen oder die Abkehr von Europa zu überwinden - zugunsten

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Das Buch erschien 1790. Letzte deutsche Ausgabe Leipzig 1982. S. auch: AU. Radisiev und Deutschland. Beiträge zur russischen Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Berlin 1969. Anatole G. Mazour: The First Russian Revolution 1825. The Decembrist Movement. Stanford 1961; M.V. Neckina: Dvizenie dekabristov. 2 Bde. Moskva 1955.

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einer Öffnung gegenüber dem übrigen Europa und einer Aufnahme und Umsetzung seiner Standards. Nikolaus I. konnte in diesen Bestrebungen nichts anderes als den revolutionären Bruch mit dem von Gott und den Ahnen gezogenen Bahnen der russischen Geschichte erkennen. Das autokratische Selbstverständnis der russischen Monarchie blieb bis zu ihrem Ende 1917 dabei, auf der unbefragbaren Legitimität und allumfassenden Autorität des Herrschers zu beharren. Unter den verschiedenen Zaren konnte die Außenwirkung dieser Autokratie unterschiedliche Färbungen annehmen. Oft hat man auch im Ausland geglaubt, substantielle Änderungen zu erleben, etwa in den Jahren der Großen Reformen unter Alexander Π. (1860er und 1870er Jahre). Aber auch die Reformen bedeuteten keine Änderung des autokratischen Prinzips,7 sondern sie hatten nur seine Bekräftigung und Stabilisierung zum Ziel. Dabei waren die autokratischen Herrscher Rußlands keineswegs antieuropäisch. Vielmehr blieben sie darauf bedacht, die Rolle einer europäischen Groß- und Vormacht zu spielen. Aber im Innern sollten die Verhältnisse die einer Autokratie bleiben. Deren Ideale betrachteten sie durchaus als allgemeingültig, wenn sie auch keinen Messianismus im eigentlichen Sinne damit verbanden. Der russische Unterrichtsminister Uvarov, ein mit europäischer Philosophie und Wissenschaft vertrauter, höchst gebildeter Mann, formulierte Anfang der 1830er Jahre drei Ideale, in denen sich das Selbstverständnis der russischen Autokratie konzentrierte: pravoslavie (Orthodoxie), samoderzavie (Autokratie, Selbstherrschaft) und narodnost', was etwas anderes als Nationalismus bedeutetet und am ehesten in der Deutung Günther Stökls als »ein volksverbundener Patriotismus«8 zu verstehen ist. Die autokratische Monarchie des Vielvölkerreiches kam zwar aus dem russischen Volk, sie stützte sich auf dieses und pflegte seine Kultur und Tradition, aber sie reduzierte sich nicht selbst im Sinne des modernen Nationalismus auf eine rein russische Institution. Autokratie war übernational, erst recht mehr als nationalistisch. Deswegen verlangte sie von den Untertanen ein Bekenntnis zur Bindung an den Gesamtstaat und an die monarchische Herrschaftsform, die diesen Gesamtstaat nicht nur repräsentierte, sondern ihn ausmachte. Der volksverbundene oder auf die Bevölkerung bezogene Patriotismus orientierte sich auf den russischen Staat, und das bedeutete zugleich, daß er die auf Europa gerichtete politische Linie, wie sie Peter der Große installiert hatte und wie sie von seinen Nachfolgerinnen und 7

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»Autokrat« und »Autokratie« (sowie die dort genannten weiteren Stichwörter) in: Hans-Joachim Torke (Hg.): Lexikon der Geschichte Rußlands. Von den Anfängen bis zur Oktober-Revolution. München 1985, S. 47ff. Stökl [ Anm. 2], S. 483.

»Was tun?«

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Nachfolgern auf die eine oder andere Weise fortgeführt worden war, einschloß. Dazu gehörte auch am Anfang des 19. Jahrhunderts die Politik Alexander I., der mit seiner erfolgreichen Führung im Kampf gegen Napoleon die europäische Vorherrschaft Rußlands in Europa ausgebaut hatte. Hierdurch und dank der wenigstens bis zur Jahrhundertmitte effektiven Durchsetzung der Prinzipien der Heiligen Allianz sicherte sich die Autokratie innerhalb der Grenzen des Russischen Reiches ab, indem sie also gleichzeitig außen- und machtpolitisch die Grenzen gegenüber dem übrigen Europa überwand.9 Sie versuchte, sich den wissenschaftlichen Fortschritt in Europa und seine ökonomischen und sozialen Ergebnisse zunutze zu machen, ohne indessen die politischen Voraussetzungen und gesellschaftlichen Umstände, die ihn ermöglichten, mit allen Konsequenzen in das eigene Land zu übernehmen.10 Dies waren der Hintergrund und die generelle Aufgabenstellung für die russischen Geschichtsforscher und Geschichtsschreiber seit dem frühen 18. Jahrhundert, für die Historiker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.11 Wenn Peter der Große für seine Akademie der Wissenschaften - von G.F. Leibniz ließ er sich deren Konzeption entwerfen - ausländische Geschichtswissenschaftler in sein Reich berief, überschritt er hier in ähnlich unbekümmerter Weise die Grenzen Rußlands und des russischen Sprachraums, wie er es für die Entwicklung der Technik, der Rotte oder des Bergbaus tat.12 Für ihn galten keinerlei Grenzen, wenn 9

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Hildegard Schaeder: Autokratie und Heilige Allianz. Darmstadt 1963; Ulrike Eich: Rußland und Europa. Studien zur russischen Deutschlandpolitik in der Zeit des Wiener Kongresses. Köln/Wien 1986. A. McConnell: Tsar Alexander I. Paternalistic Reformer. North Brook 1970; Marc Raeff: Michael Speransky. Statesman of Imperial Russia, 1772-1839. Den Haag 1957. Allgemeine Darstellungen zur Geschichte der russischen Geschichtsschreibung: Oöerki istorii istoriCeskoj nauki ν SSSR. 4 Bde., Moskva 1955-1966; N.L.Rubinätejn: Russkaja istoriografija. Moskva 1941; A.M.Sacharov: Istoriografija istorii SSSR. Dosovetskijperiod. Moskva 1978; Anatole G. Mazour: Modern Russian Historiography. A revised edition. Westport, Conn./London 1975; Klaus-Detlev Grothusen: Die Historische Rechtsschule Rußlands. Ein Beitrag zur russischen Geistesgeschichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Gießen 1962; Hans Hecker: Russische Universalgeschichtsschreibung. Von den »Vierziger Jahren« des 19. Jahrhunderts bis zur sowjetischen »Weltgeschichte« (1955-1965). München/Wien 1983. Für die Beziehungen Peters d.Gr. (und Rußlands während des 18. Jahrhunderts) zu Westeuropa, insbesondere zu Deutschland, sei hier nur verwiesen auf Lew Kopelew (Hg.): West-östliche Spiegelungen. Reihe A, Bd. 2: Russen und Rußland aus deutscher Sicht. 18. Jahrhundert: Aufklärung, hg. von Mechthild Keller. München 1987, und Reihe B, Bd. 2: Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht. 18. Jahrhundert: Aufklärung, hg. von Dagmar Herrmann unter Mitarb. von Karl-Heinz Korn. München 1992; dort wird eine Fülle weiterführender Literatur genannt. Generell zur Geschichte der Beziehungen des historischen Denkens zu Westeuropa M.A. Alpatov: Russkaja istoriöeskaja mysl' iZapadnaja Evropa. bisher 3 Bde. Moskva 1973ff.

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er Fachleute bekommen konnte, um seinem Ziel der Modernisierung Rußlands näherzukommen. Die Abgrenzungen zwischen den Tätigkeitsfeldern und Disziplinen waren damals nicht so strikt, wie wir sie heute kennen. In Rußland verschwammen sie auch später, noch im 19. Jahrhundert, was am Lande und seiner Natur lag: geographische und landeskundliche Expeditionen, die das ständig wachsende Riesenreich erkundeten, brachten Ergebnisse und Erkenntnisse aller Fachrichtungen mit, und die leitenden Wissenschaftler waren noch in vielen Disziplinen zuhause.13 Unter den deutschen Geschichtsforschern, die Peter der Große noch selbst nach Rußland geholt hatte, gewann Gottlieb Siegfried Bayer (1694-1738)14 größere und weiterreichende Bedeutung, als bei seiner Ankunft in St. Petersburg Anfang 1726 zu erkennen war. Bayer, von Hause aus Orientalist, Historiker und Geograph, konnte als ein Mann gelten, der den neuesten Stand der europäischen Wissenschaft repräsentierte, und den sollte er der im Aufbau befindlichen Akademie der Wissenschaften in die Wiege legen. Er entwickelte - wie viele seiner Kollegen, auch der ausländischen - wachsende Neigung zum Sammeln und Studium von Quellen zur russischen Geschichte. Seine Untersuchungen zur ältesten russischen Chronik, der Erzählung von den vergangenen Jahren oder Nestor-Chronik, wie sie auch nach ihrem ersten bekannten Redaktor heißt, brachten ihn zu der Erkenntnis, daß die dort gemachten Angaben ernst, ja recht wörtlich zu nehmen seien. Dies bezog sich insbesondere auf den Bericht über die Entstehung des russischen Staates. Die Chronik erzählt davon, wie die ostslavische Bevölkerung im weiteren Einzugsbereich des Dnjepr die Waräger, d. h. Normannen (russ. »varjagi«), eingeladen habe, zu ihnen zu kommen und über sie zu herrschen. Historische und sprachwissenschaftliche Forschungen bestätigten diesen Bericht insofern, als eine starke normannische Beteiligung am Aufbau eines Handelssystems über die innerrussischen Flußsysteme des Dnjepr und der Wolga, mit dazugehörigen militärischen Sicherungsmaßnahmen, schließlich mit der Errichtung von herrschaftlichen Strukturen und ethnischer Vermischung zwischen diesen Normannen und den ansässigen Ostslaven, als sehr wahrscheinlich gelten mußte.

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Eduard Winter (Hg.): Lomonossow, Schlözer, Pallas. Deutsch-russische Wissenschaftsbeziehungen im 18. Jahrhundert. Berlin 1962; der Herausgeber hat in der früheren DDR eine Schule begründet, die vor allem in Berlin und Halle beheimatet war und sich eingehend mit der Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen insbesondere auf den Feldern der Geistes- und Wissenschaftsgeschichte befaßte. Mazour [ Anm. 11 ], S. 32ff.

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Sein Kollege Gerhard Friedrich Müller (1705-1783),15 der übrigens eine auch aus eigener Anschauung gespeiste Geschichte Sibiriens veröffentlichte, kam zu denselben Ergebnissen, die er noch vertiefte und in Veröffentlichungen vertrat. Die beiden deutschen Wissenschaftler lösten mit ihren Forschungsergebnissen eine der schärfsten und anhaltendsten wissenschaftlich-politischen Kontroversen überhaupt aus,16 da sie in empfindlicher Weise eine Grenze verletzt hatten: die Grenze, die ein großer Teil seiner russischen Kollegen und der russischen Intelligenz um ihre patriotischen Gefühle gezogen hatte. In einer Zeit, als Deutsche im russischen Staat weithin den Ton angaben, und das nicht immer auf die geschickteste und erträglichste Weise, in den 1730er Jahren unter Anna Ivanovna, wirkte die »Normannen-Theorie« provokativ, gewissermaßen wie ein germanisch-normannischer Anspruch auf den russischen Staat von Anfang an. Es kam zu scharfen Debatten um die skandinavische oder slavische Herkunft der Russen und ihres Staates, in denen die Vertreter des »anti-normannistischen« Standpunktes die historische Bedeutung und damit das politisch-nationale Selbstverständnis der Russen in Frage gestellt sahen. Von daher erklärt sich die bittere Vehemenz, mit der ganze Generationen russischer Historiker von Michail V. Lomonosov (17111765),17 dem großen Universalgelehrten Rußlands, einem europäischen Genie, das seine akademische Ausbildung in Marburg erhalten hatte, bis zu sowjetischen Historikern der Mitte des 20. Jahrhunderts gegen die »Normannisten« zu Felde zogen. Die Fronten verliefen in dieser Debatte nicht immer eindeutig, die Grenzen der Meinungen waren nicht hermetisch. Setzte sich ein so bedeutender Historiker wie August Ludwig von Schlözer, der für viele Jahre von Göttingen nach St. Petersburg gewechselt war, für die Echtheit der Geschichte von der Warägerberufung ein, so wandte sich sein deutscher Zeitgenosse Gustav Ewers entschieden dagegen.18 Mehr als ein Jahrhundert später, in seiner 1941 erschienenen Geschichte der russischen Historiographie, äußerte sich Nikolaj LeonidoviC RubinStejn zwar allgemein, aber differenzierter zu dem Problem.19 Das widersprach der unter Stalin so scharf wie nie geltenden Doktrin

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Ebd., S. 35ff. Einen Überblick auch über den aktuellen Forschungsstand gibt Carsten Goehrke: Frühzeit des Ostslaventums. Darmstadt 1992, S. 157ff. Lew Kopelew: Lomonosov - ein streitbarer Kollege. In: ders. (Hg.) [ Anm. 12], Reihe Β Bd. 2, S. 155ff. Robert Stupperich: Gustav Ewers und A.L. Schlözer. Verpflichtung und Konflikt. In: Carsten Goehrke et al. (Hg.): Östliches Europa. Spiegel der Geschichte. Festschrift für Manfred Hellmann zum 65. Geburtstag. Wiesbaden 1977, S.201ff.; V.I.Sevcov: Gustav Evers i russkaja istoriografija. In: Voprosy istorii (1975) H.3, S. 55ff. RubinStejn [Anm. 11], S. 97.

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des offiziellen Sowjetpatriotismus. Der Sowjetpatriotismus übersteigerte die Bedeutung und Originalität der russischen Geschichte. Daher ließ er keinerlei Zweifel an dem rein russischen Ursprung des russischen Staates zu, und daher kam eine auch nur andeutungsweise Differenzierung in der Frage der Normannen-Theorie nicht in Frage. So schrieb Michail N. Tichomirov, der ein bedeutender Historiker werden sollte, in seiner Kritik: Bekanntlich konnte Bayer kein Russisch, obwohl er, laut N.L. Rubinstein, ein »eminenter Linguist* war, ein Meister der antiken und orientalischen Sprachen, der Griechisch, Latein, Sanskrit und Chinesisch konnte. Die Frage ist dann, warum ein so großer Philologe keinerlei Absicht hegte, nur eine einzige Sprache zu lernen, die Sprache des Landes, das ihn eingeladen hatte, zu seiner Aufklärung beizutragen? Mit einem Wort: Warum lernte er nicht Russisch? Antwort: Weil er ein unbegabter, wenig kultivierter, militanter Deutscher war, ohne genuines Interesse an der Wissenschaft und ihren Problemen außerhalb dieser engen, übelriechenden »akademischem Zelle, wo die Wissenschaft nicht herrscht wie eine stolze Göttin, sondern wie eine gewöhnliche Allerweltsköchin.20

Das war der Tenor der offiziellen Kritik, wie er in der Sowjetunion üblich war. Für unser Thema von Bedeutung ist jedoch die große Zeitspanne, über die sich diese Debatte erstreckte, und die unmittelbare Betroffenheit, mit der sie geführt wurde. Sie zeigt zum einen ein unmittelbar wirksames Geschichtsbild an, wie es die Russen - oder auch die Polen - im Gegensatz zu uns Deutschen hegen. Die Kiever Rus' oder das Schicksal des Protopopen Avvakum, eines bedeutenden Führers der Altgläubigen, bleibt aktuell, und eine Kritik an längst vergangenen Begebenheiten kann durchaus wie eine Kritik an der aktuellen Gegenwart wirken. In Deutschland haben wir eine viel schärfere Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit gezogen, zumindest seit dem Zweiten Weltkrieg. Zum anderen wird aus unserem Beispiel erkennbar: Die patriotische Forderung an die Historiker, ein bestimmtes politisches Selbstverständnis zu befördern, blieb nicht nur bestehen, sondern konnte sich, wie wir an diesem Beispiel der »Normannen-Theorie« gesehen haben, an dasselbe historische Problem knüpfen. Die Grenze zwischen einem bestimmten politischen Verständnis von Patriotismus und wissenschaftlicher Problembewältigung war verwischt. Nur waren die Grenzen der Argumentation in der Sowjetzeit wesentlich enger gezogen als im zaristischen Rußland, wenigstens seit den 1860er Jahren, als sich die Praxis der Zensur in gewissem Maße lockerte. Das »Was tun?« erfuhr in der Sowjetzeit geradezu eine Umkehrung, die Initiative der Frage und das autonome Finden einer Antwort wurden aufgehoben. Die Frage »Was tun?« wurde ersetzt durch die Aufforderung: »Das tun!«

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Nicht immer und in jeder Beziehung ging es im Bereich der historischen Wissenschaften so harsch zu. Die beiden großen Historiographen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts Vasilij N. TatiSöev (1686-1750) und Nikolaj M. Karamzin (1766-1826) waren nicht gezwungen worden, in ihren Gesamtdarstellungen der russischen Geschichte den Staat in den Mittelpunkt zu rücken. Ihnen ging es um die historische Begründung der Größe des nachpetrinischen Staates, in dem und für den sie schrieben. Karamzin erhielt nicht zufällig den Titel eines Hofhistoriographen. Mit ihren Staatsgeschichten stellten beide Geschichtsschreiber eine historiographische Verbindung zum übrigen Europa her, repräsentierten sie das Russische Reich außerhalb seiner Grenzen im Kreise der anderen großen und bedeutenden Staaten. Für TatiSöevs Werk gilt das nur in einem eher theoretischen Sinne, weil es postum erschien und die Publikation der fünf Bände sich bis Mitte des 19. Jahrhunderts hinzog21 und weil es auch nicht übersetzt worden ist. Dieses Werk, das seine Herkunft aus der primären Tätigkeit des Quellensammelns nicht verleugnen kann, ließ sich wohl auch kaum übersetzen. Immerhin rief es in Rußland das Gefühl hervor, nun endlich auch eine große Geschichte des eigenen Staates zu besitzen wie die anderen Nationen. Karamzins Werk hingegen erschien im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts,22 die deutsche Ausgabe kam konsekutiv Band für Band heraus. Karamzin hatte sich bereits als Erzähler, als Novellist und Reiseschriftsteller, nicht nur in Rußland einen Namen gemacht.23 So entbehrt seine Darstellung durchaus nicht literarischer Qualitäten, zumal es die Quellen nicht so unmittelbar wiedergibt wie die TatiSCevs, sondern sie stärker verarbeitet. An Karamzins doppelte Eigenschaft als Literat und Geschichtsschreiber24 sei noch ein allgemeiner Hinweis geknüpft. Auch bei vielen weiteren Schriftstellern im russischen 19. und 20. Jahrhundert verfließen die Grenzen, sind sie nicht eindeutig als Historiker oder Literaten einzustufen. Nikolaj Gogol, der mit seinen Novellen und vor allem mit seiner Komödie Revisor zu Weltruhm gelangte, war als Historiker ausgebildet, hatte auch eine Zeitlang als Dozent an der Universität Petersburg gearbeitet. Herder, der bereits erwähnte G.E Müller und

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V.N. TatiSöev: Istorija Rossijskaja s samych drevnejiich vremen. 5 Bde. Moskva 1768-1848 (Neuausgabe in 7 Bänden Moskva 1962-1968). N.M. Karamzin: Istorija gosudarstva Rossijskago. 12 Bde. St. Petersburg 1816-1829. N.M. Karamzin: Briefe eines reisenden Russen. Aus d. Russ. von J. Richter. Wien u. a. 1922 (die Erstausgabe stammt von 1798); Hans Rothe: Karamzins europäische Reise. Der Beginn des russischen Romans. Bad Homburg v. d. H. u. a. 1968. Rudolf Bächtold: Karamzins Weg zur Geschichte. Phil. Diss. Basel 1946; Konrad Bittner: Herdersche Gedanken in Karamzins Geschichtsschau. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas N.F.7 (1959) H.3, S. 237ff.

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A.L. Schlözer waren seine großen Vorbilder.25 Andere Beispiele ließen sich nennen. Einen gewissermaßen umgekehrten Fall stellt Leo Tolstoj dar. Dieser große Dichter, Pädagoge und Denker, der mit seinen Romanen, Novellen und Dramen in die Weltliteratur eingegangen ist, lieferte mit seinem wohl bedeutendsten Roman Krieg und Frieden ein Werk, das auch viele Historiker noch heute für die eindrucksvollste Darstellung des russischen Kampfes gegen Napoleon und seine grande armee im Rußlandfeldzug halten. In diesem Zusammenhang sei nur auf Theodor Mommsen hingewiesen, der für seine Römische Geschichte den Nobelpreis für Literatur erhielt.26 Die Grenzen zwischen Geschichtsschreibung und Literatur waren stets fließend, und es gab es eben auch in Rußland Autoren und Wissenschaftler, die in dieser Hinsicht europäisches Niveau repräsentierten. Wenden wir uns noch einmal der russischen Intelligenz des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg zu, die sich die Frage »Was tun?« zum Lebensmotto gemacht hatte. Sie hatte zum großen Teil im Westen studiert, überwiegend in Deutschland. Der Auftrag an diese Studenten hatte gelautet, praktische Fertigkeiten der Verwaltung, der Naturwissenschaften usw. mitzubringen, mit denen sie dem Bedarf des Staates an Fachkräften dienen sollten, der aus eigenen Mitteln nicht zu decken war. Sie brachten aber - was ihnen und anderen viel wichtiger war - die Philosophie des Westens mit nach Rußland: Fichte, Schelling und vor allem der geradezu zum Abgott erhobene Hegel27 fanden auf diese Weise ihren Weg in die »kruzki«, die Diskussionskreise, zu denen junge, aufgeschlossene Adelige sowie - in wachsender Anzahl - »raznoiincy« gehörten; diese waren Angehörige quasi- oder frühbürgerlicher Schichten, die dank Begabung und Bildung einen Aufstieg nahmen, wie er bis dahin in der Regel dem Adel vorbehalten geblieben war. Das Zentrum dieser Einflüsse und des Gedankenaustausches bildete der Kreis, den der junge Nikolaj Vladimiroviö StankeviC im Moskau der 1830er Jahre um sich sammelte.28 Aus ihm gingen die beiden großen

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Hecker [Anm. 11], S.48f. Es gab und gibt keinen Nobelpreis für Geschichtsschreibung. Aber daß man keine Bedenken trug, für ein historiographisches Meisterwerk den Literaturnobelpreis zu verleihen, ist doch signifikant. Dmitrij Tschizewskij: Hegel in Rußland. In: Ders.: Hegel bei den Slaven. 2.,verb. Aufl. Darmstadt 1962, S. 145-396; ders.: Rußland zwischen Ost und West. Russische Geistesgeschichte. 2 Bde. Reinbek 1961, hier: Bd. 2, passim; S.V. Utechin: Geschichte der politischen Ideen in Rußland. Stuttgart u. a. 1966; Sergei A. Levitzky: Russisches Denken. Gestalten und Strömungen. Ubersetzt und hg. von Dietrich Kegler. 2 Bde. Frankfurt a.M. u. a. 1984, passim. Dort auch zum Folgenden. Edward J. Brown: Stankevich and his Moscow Circle, 1830-1840. Stanford, Calif. 1966.

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geistig-politischen Bewegungen des russischen 19. Jahrhunderts hervor, die »Westler« und die Slavophilen, die sich, bei aller Unterschiedlichkeit in ihren Ansichten und Zielsetzungen, aus denselben geistigen Wurzeln nährten. Die ersten suchten das Heil Rußlands in der weitestgehenden Anpassung an den Westen, in der Übernahme seiner staatlichen und gesellschaftlichen Formen, die zweiten hingegen wollten Rußland durch die Rückbesinnung auf die eigenen Werte, die originären Formen des vorpetrinischen Rußland retten.29 Die Slavophile Skepsis gegenüber dem westeuropäischen Modell bedeutete nicht zwangsläufig die vollständige Ablehnung Westeuropas in jeglicher Beziehung. Einer der größten Führer der Slavophilen, Aleksej Stepanoviö Chomjakov (1804-1860), hatte nicht nur im westlichen Europa studiert, machte nicht nur die westliche Philosophie, vor allem die Romantiker, für seine Ideen fruchtbar, sondern er sah auch in der englischen Verfassungsstruktur ein Modell für Rußland. Dies war ihm nur möglich, weil er die englische Monarchie und ihre - gerade nicht durch eine geschriebene Verfassung sanktionierte - tiefe Verbindung mit dem Volk genügend mißverstand, um sie zu einem historischen Mythos zu stilisieren.30 Die Westler gliederten sich viel diffuser in zahlreiche Strömungen und Gruppierungen. Etliche von ihnen, wie etwa der demokratische Revolutionär Alexander Herzen (1812-1870),31 der die deutschen Idealisten und dann auch Feuerbach studiert hatte, fanden mit der Zeit zu einer Annäherung an slavophiles Gedankengut. Bei Herzen vollzog sich dieser Prozeß im westeuropäischen, überwiegend englischen Exil, wo er zahlreiche Kontakte zu anderen Sozialisten und Revolutionären pflegte, ζ. B. Proudhon oder Mazzini, und von wo aus er seine Zeitschrift »Kolokol« (Glocke) auch nach Rußland schmuggelte. Dort übte sie längere Zeit großen Einfluß aus, sogar die Staatsführung bis zum Kaiser informierte sich aus ihr. Den Anlaß für Herzens Wandel bewirkten sowohl eine gewisse Enttäuschung über den Westen, als er ihn aus eigener Anschauung kennenlernte, als auch seine hohe Wertschätzung russischer Einrichtungen wie die Dorfgemeinde (obSöina, mir), die er hoffnungsvoll mit sozialistischen Ideen verband. Die revolutionäre Bewegung der Narodniki (Volkstümler) sollte darauf zurückkommen. 32 29 30 31

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Andrzej Walicki: The Slavophile Controversy. Oxford 1975. Hecker [Anm. 11], S. 105ff„ 271. Alexander Herzen: Mein Leben. Memoiren und Reflexionen. 3 Bde. Berlin 19621963. Vera Zasuliö führte mit Karl Marx ihren berühmten Briefwechsel über die Frage, ob sich aus den genossenschaftlichen Formen der russischen Bauerngemeinde heraus der Sozialismus ohne den Umweg über den Kapitalismus westlicher Prägung aufbauen lasse: Wolfgang Geierhos: Vera Zasuliö und die russische revolutionäre Bewegung. München/Wien 1977, v.a. S. 170ff.

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Herzen, der so viele Liberale, Demokraten, Sozialisten und Revolutionäre seiner und späterer Zeit beeinflußt hat und von der sowjetischen Historiographie als Vorläufer des Sowjetkommunismus in Anspruch genommen worden ist, war ein Grenzgänger in mehrfacher Hinsicht: biographisch in seinem Wechsel von Rußland ins westliche Exil, von dort in seiner publizistisch-revolutionären Tätigkeit wieder nach Rußland hinein zurückwirkend, und gedanklich dadurch, daß er sich nicht in ein bestimmtes ideologisches Klischee pressen läßt, daß er bei aller Eindeutigkeit in der Vorstellung von der notwendigen Veränderung Rußlands differenzierend und integrierend dachte. Beide Namen, Chomjakov und Herzen, stehen für eine ganze Reihe von Publizisten, die sowohl historische Betrachtungen als auch literarische Beiträge schrieben, stets aber mit Bezug auf die politische Gegenwart und Zukunft Rußlands. Sie alle standen unter dem Eindruck, auf ihre Weise handeln zu müssen. Der Ansatz dazu kam nicht aus einem vordergründigen Aktivismus, sondern aus dem hegelschen Kerngedanken von der Vernunft des Existierenden. Sie verstanden ihn als eine unmittelbare Aufforderung, ihre russische Gegenwart, den Zustand ihres Staates in diesem Sinne zu überprüfen. Der Vergleich mit dem westlichen Europa ließ den Zustand ihres Staates, seiner autokratischen Strukturen und seines wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungsrückstandes dürftig genug erscheinen. Etliche Intellektuellenkreise beließen es bei Diskussionen, die im Polizeistaat Nikolaus' I. gefährlich genug sein konnten. Das zeigt das erbarmungslose Vorgehen gegen den Kreis um M.V. ButaSevi£-PetraSevskij, der zwar sozialistischen Ideen anhing und sich einigermaßen konspirativ verhielt, tatsächlich aber nicht viel mehr als eine Art lockeren Debattierklubs gewesen war.33 Andere fanden den Weg in die konspirativ-revolutionäre Tätigkeit, wie sie seit den 1870er Jahren immer aktiver wurde. Die Historiker hatten ihre historische Arbeit.34 Ob sie sich als Vertreter der »vaterländischen« Geschichte mit Rußland beschäftigten oder als »UniVersalhistoriker« mit Themen der europäischen oder Weltgeschichte35 - im Ausland studiert hatten sie alle. Sergej Michajloviö So-

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Zu diesem Kreis, der sich in den Jahren 1845 bis 1849 in Petersburg traf, gehörte u. a. auch Fedor M. Dostoevskij; J.L. Evans: The Petrashevskij Circle, 1845-1849. Den Haag 1974; Manfred Alexander: Der PetraHevskij-Prozeß. Wiesbaden 1979. Generell sei auf die in Anm. 11 genannte Literatur verwiesen, weiterhin auch auf die zahlreichen Arbeiten zur Geschichte der russischen Geschichtsschreibung, die laufend in den großen Geschichtszeitschriften wie Voprosy istorii, Istorija i istoriki, Novaja i novejSaja istorija, Srednie veka usw. publiziert worden sind. Zur Unterscheidung und Begriffsklärung Hecker [Anm. 11 ], S. Xllf.

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lov'ev (1820-1879),36 der eine große Geschichte Rußlands37 schrieb sie wird noch heute wegen ihres Quellenreichtums stark benutzt hörte auf seiner Auslandsreise 1842-1844 in Paris Jules Michelet, Edgar Quinet, Charles Lenormant - den Nachfolger von Guizot - und Victor Chasles; dort lernte er auch den polnischen Nationaldichter Adam Mickiewicz kennen, der eine slavistische Professur innehatte. In Prag bekam er Verbindung zu dem tschechischen Slavophilen und Sprachwissenschaftler Pavel Josef Safafik; in Berlin hörte er bei Ranke, Karl Ritter und dem Kirchenhistoriker Johann August Wilhelm Neander. Zugleich studierte er die Werke von Henry T. Buckle, Giambattista Vico und Francis Guizot. Damit sind nur die wichtigsten Wissenschaftler genannt, deren Denkweise und Methode er aufnahm und nach Rußland weitertrug. Manch einem mag die Fülle der Lehrer zweifelhaft erscheinen. Aber man muß dabei bedenken, daß die Literatur damals noch nicht die immensen Dimensionen erreicht hatte wie heutzutage, und daß außerdem die jungen Russen, wenn sie endlich nach Westen kamen, sich mit einem wahren Heißhunger und mit einer frischen, aufnahmefähigen Intelligenz auf das Angebot stürzten. Schließlich wußten sie auch, daß sie nach ihrer Rückkehr sehr viel abzuliefern haben würden. Auf noch subtilere, die Mittel der modernen Philosophie und Geschichtswissenschaft noch umfassender und zugleich intuitiver einsetzende Weise schrieb Vasilij Osipoviö KljuSevskij (1841-1911)38 seine Arbeiten zur russischen Geschichte. Geschichte der Institutionen wie der Bojarenduma, wirtschafts- und sozialgeschichtliche Themen standen im Vordergrund. Die geradezu zeitlose Gültigkeit seiner Untersuchungen wird schon allein daraus evident, daß sie seit ihrem Erscheinen stets zitiert worden sind und ihnen auch heute noch höchste Autorität zugemessen wird.39 KljuCevskijs Kurs russischer Geschichte gelangte auch durch Übersetzungen ins Ausland.40

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Klaus-Detlev Grothusen: S.M. Solov'evs Stellung in der russischen Historiographie. In: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 4 (1956), S.7-102. S.M.Solov'ev: Istorija Rossii s drevneßich vremen. Neuausgabe: 15 Bde. Moskva 1960-1966. Oierki [Anm. 11], Bde. 2 und 3. Ein Beispiel dafür ist der Artikel, den einer der renommiertesten sowjetischen Historiker, das Akademiemitglied M.N. Tichomirov, zum Erscheinen der ersten drei Bände der Gesamtausgabe von Kljucevskijs Werken, die den »Kurs russkoj istorii« (Darstellung der russischen Geschichte) enthalten, in: Voprosy istorii (1958), H. 8, S.154159, veröffentlicht hat. Deutsche Ausgabe: W.O. Kljutschewski: Russische Geschichte von Peter dem Grossen bis Nikolaus l. 2 Bde. in einem Band. Zürich o.J.

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Große Bedeutung kommt der Historischen Rechtsschule zu.41 Historiker wie Boris CiCerin oder Konstantin Dmitrieviö Kavelin hatten bei den großen Juristen und Rechtshistorikern wie Savigny und Eichhorn ihr Rüstzeug geholt, um die rechtsgeschichtlichen Grundlagen des russischen Staates, darüber hinaus aber auch der nichtrussischen Völkerschaften des Russischen Reiches zu erforschen und darzustellen. Expeditionen wurden ausgerüstet, um beispielsweise im Kaukasusgebiet mit Hilfe anthropologischer, ethnologischer und soziologischer Forschungen Material zu beschaffen. Damit folgte die russische historische Wissenschaft dem aktuellen Stand der europäischen Wissenschaft. Schließlich seien noch die russischen Universalhistoriker genannt. Ihr Stammvater war Timofej NikolaeviC Granovskij (1813-1855),42 auf ihn beriefen sich seine Schüler bis in die dritte und vierte Generation, und zwar sowohl in wissenschaftlicher Hinsicht als auch im Hinblick auf seine liberal-westliche Einstellung, die er ihnen mit auf den Weg gab. Granovskij galt nach Übernahme des Lehrstuhls für Universalgeschichte an der Universität Moskau im Jahre 1839 geradezu als Ereignis, und die mehr oder minder aufgeklärte oder auch latent oppositionelle Gesellschaft traf sich in seinen Vorlesungen. War Granovskijs Programm in der Forschung sehr schmal und in der Lehre recht allgemein auf die Weltgeschichte gerichtet, so brachte er doch gerade in seinem öffentlichen Wirken die Ideen zu Gehör und in die breitere Diskussion, die er in seinen deutschen, vor allem Berliner Studienjahren aufgenommen hatte, und die seine Hörer mitunter in skandalträchtige Erregung versetzten. Man muß sich einmal vergegenwärtigen, was es in diesem abgesperrten, von der Zensur und Geheimpolizei unter Verschluß gehaltenen Land bedeutete, wenn erstmals in der Öffentlichkeit das Wort »Revolution« ausgesprochen und dann noch die Geschichte der Französischen Revolution wenigstens in Umrissen abgehandelt wurde. Das Angehen gegen die geistigen und politischen Grenzen provozierte immer wieder die Festschreibung von Grenzen durch eine Obrigkeit, die in sich kaum Abgrenzungen kannte, da ihre Zweige sich durchdrangen, einander legitimierten und schützten. So etwa, wenn Granovskij zum Metropoliten von Moskau bestellt wurde, der die Oberaufsicht über die Universität ausübte. Er drohte dem Professor und forderte ihn u. a. auf, die Geschichte der Reformation nur noch vom »katholischen Standpunkt« aus darzustellen, wenn ihm nicht das ganze Thema entzogen werden solle. Die Ablehnung jeglicher Häresie, jeder Abwei-

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Grothusen [Anm. 11]. Hecker [Anm. 11], S. 55-73; Priscilla R. Roosevelt: Granovskii at the Lectern: A Conservative Liberal's Vision of History. In: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 29 (1981), S. 61-192; A.A. Levandovskij: TN. Granovskij ν russkom obiüestvennom dvizenii. Moskva 1989.

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chung beherrschte die Kirche und den Staat. Deswegen war ein Luther zu verurteilen.43 Der europäische Bezug dieser Historiker ist evident. Was war ihre patriotische Aufgabe? Um die Beantwortung dieser Frage gab es Streit unter ihnen. Sollten sie ihre Kräfte darauf konzentrieren - sie waren ja nicht viele - , die historische Forschung auf europäisches Niveau zu bringen, oder sollten sie sich der historischen Bildung breiter Schichten widmen, ihnen Lehrbücher schreiben und für sie Historiker ausbilden? Eine eindeutige Antwort gab es nicht, Granovskij wies auf die Bedeutung beider Aufgaben hin, meinte aber in bezeichnender Weise, letztlich müsse doch für jedermann geschrieben werden. Die hohe Spezialisierung sei vielleicht eine Sache der zu esoterischer Spitzfindigkeit neigenden Deutschen, nicht aber der Russen - »sie paßt nicht zum russischen Verstand, der Licht und Weite liebt«.44 Wenn es eben hieß, der europäische Bezug dieser russischen Historiker sei evident, so bedarf das noch einer Erläuterung: Zu Granovskijs Zeit und noch einige Zeit danach war dieser Bezug vor allem rezeptiv. Man nahm auf, setzte um, lieferte aber noch nicht zurück, nahm noch nicht an der europäischen Debatte teil. Gewiß hatte Granovskij sich einmal zu der Rolle der russischen Geschichtswissenschaft auf der europäischen Bühne geäußert: Klar von Natur und nicht verwirrt durch den Einfluß der komplizierten, aus dem Kampfe feindlicher gesellschaftlicher Elemente entstandenen historischen Entwicklung, geht der Verstand des russischen Menschen an die Entwirrung der Überlieferungen, mit denen jeder Europäer ganz persönlich verbunden ist. Ich spreche in diesem Falle nicht von dieser schändlichen und unwürdigen Objektivität des Historikers, in der sich nur der Mangel an Begeisterung für den Gegenstand der Darstellung ausdrückt, sondern von einer Betrachtung der historischen Streitfragen, die jeglicher Vorurteile entbehrt.45

Diese Vorstellung einer Art Schiedsrichterrolle der Russen im historisch argumentierenden Meinungskampf konnte damals, gegen Mitte des 19. Jahrhunderts, nichts anderes als eine Vision sein. Sie sollte aber noch Wirklichkeit werden. Unter seinen >Schülerschülern< trat immer deutlicher die Neigung hervor, in der außerrussischen Geschichte Anhaltspunkte und Maßstäbe für die russische Geschichte zu finden, ja die aktuellen Verhältnisse Rußlands historisch einzuordnen. Die Bauernfrage war das soziale Problem, das Rußland am stärksten bedrängte. Der fragende Blick der russischen Universalhistoriker richtete sich auf die Bauern in Deutschland,

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Hecker [Anm. 11 ], S. 57,248ff. Zitiert nach ebd., S. 69. Zitiert nach ebd.

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in England, vor allem aber in Frankreich. Nachdem die Zensur es zuließ, stellten sie immer deutlicher die Frage: Inwieweit hat die Entwicklung auf dem Lande zu den historischen Ursachen der Französischen Revolution beigetragen? Eine Reihe von ihnen betrieben intensive Quellenforschung in französischen Archiven, veranstalteten Editionen und legten - v.a. in Petersburg - Sammlungen an, die sie weiter bearbeiteten. Diese Historiker gehörten zu den ersten, die ihren europäischen Bezug auch produktiv unter Beweis stellten. Die französischen Historiker erkannten sie als »ecole russe« an, als wertvolle und gleichberechtigte Mitarbeiter an der Erforschung ihrer großen Revolution.46 Als ein glänzendes Beispiel könnte man Ivan Vasil'eviC Luiickij (1845-1918)47 nennen, der als Nachfolger von V.A. Bil'basov - in Deutschland bekannt durch sein Buch über Katharina Π.48 - den Lehrstuhl für Universalgeschichte an der Universität Kiev übernahm. Theoretisch und methodisch schulte er sich außer an den modernen zeitgenössischen Historikern auch an Philosophen und Begründern der Soziologie wie Ferguson, Comte, John Stuart Mill, Spencer, über die er, was nicht ohne Schwierigkeiten mit den Behörden abging, Kollegs abhielt. Auf seinen ausgedehnten Archivreisen durch Frankreich, Spanien, Italien und Deutschland sammelte er das Material für seine Veröffentlichungen, in denen er sich zunächst mit der Sozialgeschichte der Frühen Neuzeit Frankreichs auseinandersetzte, um sich dann intensiv der Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Französischen Revolution zuzuwenden. Wenn LuCickij in seinen Arbeiten, die auch auf französisch publiziert wurden, dem Zusammenhang zwischen Bauerntum, Landbesitz und Revolution besondere Aufmerksamkeit schenkte, hatte er die Verhältnisse in seinem Heimatland im Auge. Diesen widmete er sich auch als politischer Praktiker, indem er in die Partei der liberalen Konstitutionellen Demokraten eintrat und sich in eine Reihe von Ämtern, auch zum Mitglied der Duma, wählen ließ. LuCickij war also - typisch für die russischen Historiker seiner Zeit - ein Grenzgänger in mehrfacher Hinsicht. Im Bereich der Wissenschaft ging er methodisch wie thematisch weit über die Begrenzung der eigenen Nation, des Staates, der Politik, der Geschichte hinaus, er bereiste Westeuropa; dabei verblieb er in der patriotischen Motivation seiner gesamten Arbeit, auch dort, wo er die Grenze zwischen Wissenschaft und Politik überschritt. Die Forschungen anderer Universalhistoriker blieben weitgehend unbekannt, wie ζ. B. die großen und zum Teil noch nicht überholten 46 47 48

Ebd., Kap. X. Ebd., S. 123ff., 301 f., 309f. u. a. B. von Bilbassoff: Katharina II., Kaiserin von Russland, im Urtheile der Weltliteratur. Berlin 1897.

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Arbeiten Michail Sergeeviö Korelins (1855-1899)49 über die italienische Renaissance. Hier wirkte sich die Sprachbarriere hindernd aus, eine Grenze, die die russische Wissenschaft bis heute in großen Teilen isoliert. Immerhin kann man von den russischen Historikern des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts sagen, daß sie - zumindest von ihrer Produktion und ihrem Angebot her - durchaus in der Lage waren, ihre Wissenschaft auf internationalem Niveau zu repräsentieren. Dies gilt auch und besonders für fächerübergreifende Disziplinen wie Byzantinistik, Alte Geschichte/Altertumskunde oder die Wissenschaften von den Völkern des Ostens (vostokovedenie).50 Sie waren wegen ihres historischen Bezuges zur russischen Geschichte relevant, wie die Byzantinistik, oder sie wurden es in dem Maße, in dem Rußland durch seine Expansion nach Süden und Osten Gebiete gewann, die eine entsprechende wissenschaftliche Befassung sinnvoll machten. Der Bezug zum oströmischen Reich förderte nicht nur die Byzantinistik, sondern lenkte den Blick darüber hinaus auf die griechische Antike, während die Eroberung der Küstengebiete des Schwarzen Meeres, die zum Römischen Reich gehört hatten, das historische Interesse an der römischen Antike stärkte. Auch hier fehlte die aktuelle Motivation keineswegs: Wenn etwa der Moskauer Altphilologe und Althistoriker D.L. Krjukov (1809-1845)51 - zur Zeit der strengen Zensur unter Nikolaus I. - über das Regime des Tiberius und den sittlichen Verfall des römischen Volkes aus Tacitus' Sicht sprach, dann nahm sein Publikum nicht nur die akademische Belehrung zur Kenntnis, sondern hörte auch die in äsopischer Sprache vorgetragene Kritik an den gegenwärtigen russischen Verhältnissen heraus. Und wenn sein Petersburger Fachkollege M.S. Kutorga (18091886)52 Ende der 1850er Jahre intensiv über die soziale Lage der Sklaven und der Freigelassenen in der athenischen Republik forschte und publizierte, dann wirkte sich hier auch der Geist der Bauernbefreiung von 1861 aus, die damals vorbereitet wurde. Den höchsten Stand, die Verwirklichung der Vision Granovskijs finden wir in Historikerpersönlichkeiten wie dem Mediävisten Pavel GavriΙονίδ Vinogradov (1854-1925), der sich mit seinen Forschungen vor allem zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte des englischen Mittelalters einen so großen Ruf erwarb, daß Henri Pirenne ihn in seinem Nachruf

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Hecker [Anm. 11 ], S. 218ff., 230f. u. a. Hierzu u. a. die 4 Bände der Oierki [Anm. 11 ]; außerdem gibt es eine Reihe von Spezialarbeiter die aufzuzählen hier aber zu weit führen würde. Über die vorrevolutionären russischen Althistoriker habe ich einen Aufsatz in Arbeit, der die Einzelnachweise enthalten wird. Hecker [Anm. 11 ], S. 82ff. u. a.

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mit dem Titel der »bekanntesten Figur in der gelehrten Welt des Kontinents« ehrte. 53 Seine Moskauer Universitätsausbildung, während deren er sich bereits mit den Werken Rankes und Tocquevilles vertraut gemacht hatte, ergänzte er durch Studien u. a. bei Th. Mommsen, H. Brunner und H.v. Treitschke. In Moskau erhielt er einen Lehrstuhl für Universalgeschichte, weilte aber zeitweise zu Forschungszwecken oder als Gastprofessor in England. Daß er sowohl wegen der Bildungspolitik der zaristischen Regierung seine Moskauer Lehrtätigkeit mehrfach unterbrach und 1911 schließlich aufgab, als auch nach der Oktoberrevolution vor dem bolschewistischen Regime ins englische Exil auswich, zeigt an, wie stark er sich - aus seinem umfassenden Wissenschaftsverständnis heraus - einer freiheitlichen Politik verpflichtet fühlte. Maksim Maksimoviö Kovalevskij (1851-1916) 54 erreichte mit seinen rechts- und sozialgeschichtlichen Forschungen in jeder Beziehung die Spitze der damaligen historischen, rechtsgeschichtlichen und soziologischen Wissenschaften. Davon zeugen seine Berufungen an zahlreiche Universitäten und in wissenschaftliche Gesellschaften der europäischen Länder und der USA. Als Herausgeber der westlich-liberalen Zeitschrift Vestnik Evropy (Europäischer Bote) stellte er eine maßgebliche publizistische Stimme Europas in Rußland dar. Er nutzte seinen wissenschaftlichen Ruf, um auch als moralische Autorität aufzutreten, etwa in der Friedensbewegung vor dem Ersten Weltkrieg oder als Schlichter in großen Streitfragen. Kovalevskij erweiterte im übrigen seine patriotische Aufgabe, ein demokratisches, liberales Rußland und die russische Wissenschaft in der Welt zu repräsentieren, mit dem politischen Engagement zu Hause, nachdem das Oktobermanifest 1905 gewisse Möglichkeiten zugelassen hatte. Er saß eine Reihe von Jahren für seine Heimatstadt Char'kov und für die Akademie der Wissenschaften in der Duma. Damit waren die russischen Historiker dem Ideal einer Verbindung zwischen europäischem Bezug und patriotischer Aufgabe sehr nahe gekommen. Es sei noch einmal nachdrücklich herausgestellt, daß die patriotische Aufgabe weniger dem zaristisch-autokratischen Rußland galt als dem Ziel eines modernen, »europäisierten«, d. h. zunächst einmal demokratischen, liberalen Rußland. Vieles von dem, was die russischen Wissenschaftler an Leistung und Anerkennung erarbeitet hatten, überdauerte zunächst die Zeit des Ersten

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Ebd., v.a. S. 149f.; V.E. Gutnova: Istoriografija istorii srednich vekov. Moskva 1974, u. a. S. 288-295; G.P. Gooch: Geschichte und Geschichtsschreiber im 19. Jahrhundert. Vom Vf. neubearb. deutsche Ausgabe mit einem Ergänzungskapitel. Frankfurt a.M. 1964, S. 417f. u. a.; V.P. Buzeskul: VseobUaja istorija i eepredstaviteli ν Rossii ν X I X i n a ö a l e X X v e k a . 2 Bde. Leningrad 1929-1931, hier: Bd.l, S.168-187. N.Ja. Kupriö: Kovalevskij. Moskva 1978; Hecker [Anm. 11], S. 131ff.

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Weltkrieges und die Wirren der Revolution und des Bürgerkrieges. Die Werke der »bürgerlichen« Historiker wurden in der ersten Hälfte der 1920er Jahre schon allein deswegen zum Teil neu aufgelegt, weil man keine anderen hatte, die womöglich auch noch eine marxistische Orientierung aufzuweisen gehabt hätten. Während etliche Wissenschaftler den Weg in die Emigration wählten,55 überdauerten andere den Umbruch, wenn auch mit z.T. sehr großen Schwierigkeiten und Nachteilen. N.I. Kareev (1850-1931), der als Universitätsprofessor in Warschau und Petersburg und als Autor einer gewaltigen Anzahl von Arbeiten zur westeuropäischen Geschichte eine große Schar von Historikern beeinflußt und sich vor allem in Frankreich großes Ansehen erworben hatte, konnte, wenn auch kaltgestellt, so doch einigermaßen unbehelligt die letzten Jahre seines erfolgreichen Lebens verbringen.56 Wohl in Anbetracht seines hohen Alters bezog man ihn auch nicht mehr in die große Kampagne gegen die »bürgerlichen« Historiker ein, die 1928 entfesselt wurde und seine Kollegen wie den Englandhistoriker D.M. PetruSevskij (1863-1942) oder den Historiker Napoleons und seiner Zeit E.V. Tarle (1874-1955), beide international hochrenommierte Wissenschaftler, hart traf.57 Die Aufgabe, die Umstellung der russischen Historiographie auf die neue ideologische Doktrin voranzutreiben, oblag der Wissenschaftspolitik und einer Reihe neuer Institutionen.58 Die wissenschaftliche Betreuung und propagandistische Leitung übernahm der Historiker Michail N. Pokrovskij (1868-1932),59 der ein solide ausgebildeter Schüler

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Einige Beispiele wurden hier erwähnt. Einen Einblick in die Tätigkeit der russischen Exilhistoriker, über die es noch keine zusammenfassende Untersuchung gibt, gewährt Elizabeth Beyerly: The Europecentric Historiography of Russia. An Analysis of the Contribution by Russian Emigre Historians in the USA, 1925-1955, Concerning 19th Century Russian History. Den Haag/Paris 1973. Hecker [Anm. 11], S. 153ff. u. a.; V.P. Zolotarev: Istorileskaja koncepcija N.I. Kareeva. Soderzanie i evoljucija. Leningrad 1988. Hecker [Anm. 11], S.153ff., 172ff. u.a.; John Barber: Soviet Historians in Crisis, 1928-1932. Birmingham 1981. Hecker [Anm. 11], Kap.II; Ilse Heller: Die Entstehung und Entwicklung der neuen geschichtswissenschaftlichen Institutionen in der Sowjetunion (von 1917 bis zur Mitte der dreißiger Jahre). Halle (Saale) 1986 (=Martin-Luther-Universität HalleWittenberg. Beiträge zur Geschichte der UdSSR. Nr. 14); Konstantin F. Shteppa: Russian Historians and the Soviet State. New Brunswick, N.J. 1962; Nancy Whittier Heer: Politics and History in the Soviet Union. Cambridge, Mass./London 1973. Pokrovskij wurde mit der Einführung des Sowjetpatriotismus verdammt, zur »Unperson« und erst seit den sechziger Jahren wieder vorsichtig berücksichtigt; insofern ist die Auseinandersetzung mit ihm für die sowjetische Geschichtswissenschaft immer auch Teil ihrer Diskussion um ihr Selbstverständnis gewesen. Zu diesem Komplex gehört auch die Veröffentlichung seiner ausgewählten Werke: M.N. Pokrovskij: Izbrannye proizvedenija. 4 Bde. Moskva 1965-1967; s. weiterhin O.D. Sokolov: M.N. Pokrovskij i sovetskaja istoriieskaja nauka. Moskva 1970; George M. Enteen:

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»bürgerlicher« Historiker war. Er verfolgte das Ziel, den angestrebten Durchbruch der russischen Revolution zur sozialistischen Weltrevolution historiographisch umzusetzen. In diesem Sinne legte er seine Russische Geschichte nicht als National- oder Staatsgeschichte an, sondern als Teil einer Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Menschheit. Pokrovskij erzielte mit Übersetzungen dieses Werks auch im Ausland höhere Auflagen,60 insbesondere bei den an den kommunistischen Parteien orientierten Verlagen, und überwand somit die russische Sprachbarriere. Jedoch trug er mit seinen Kampagnen gegen die »bürgerliche« Geschichtswissenschaft gleichzeitig maßgeblich dazu bei, die Verbindungen zur weltweiten Wissenschaft, die die nunmehr verfemten Historiker aufgebaut hatten, zu kappen und die sowjetmarxistische Geschichtsschreibung in das Ghetto der ideologischen Fixierung zu stecken. Der Versuch der revolutionären Überwindung nationaler, politischer und methodologischer Grenzen endete mit dem zweifelhaften Erfolg, bei der Einengung der Wissenschaft durch ideologische Grenzen mitgeholfen zu haben. Seit Beginn der dreißiger Jahre förderte Stalin die Tendenzen des Sowjetpatriotismus und machte ihn 1934 als Grundlage aller Geschichtsbetrachtung in der Sowjetunion für das folgende halbe Jahrhundert verbindlich.61 Er rückte die Helden und Heiligen der russischen Geschichte in den Blickpunkt, betonte also deren nationale Grund- und Grenzlinien, ohne indessen dabei die weltrevolutionäre Perspektive aufzugeben. Im Kern bedeutete dies den Versuch, die sowjetische Geschichtswissenschaft noch weiter einzuengen, um sie konzentriert und gezielt zur ideologischen, politischen und propagandistischen Unterstützung des stalinistischen Systems und Persönlichkeitskultes heranzuziehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Leitfunktion der russischen Geschichte und der sowjetischen Geschichtswissenschaft über die Grenzen der Sowjetunion hinaus auch gegenüber den Ländern und Völkern des »sozialistischen Lagers« geltend gemacht.62 Im wesentlichen blieb es über die antistalinsche Kampagne, die N.S. ChruSöev mit dem XX. Parteikongreß 1956 entfesselte, und alle weiteren Wendungen der par-

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The Soviet Scholar-Bureaucrat. Μ Ν. Pokrovskij and the Society of Marxist Historians. London 1979; Hecker [Anm. 11], S. 180ff. u. a. Als Beispiel sei hier die deutsche Ausgabe genannt: M. Pokrowski: Russische Geschichte. Von den ältesten Zeiten bis zum Jahre 1917. Ins Deutsche übertragen von A. Maslow. Berlin 1930 (die russische Originalausgabe erschien 1920 in Moskau, sie wurde im Band 3 seiner Werkauswahl wiederabgedruckt). Erwin Oberländer: Sowjetpatriotismus und Geschichte. Dokumentation. Köln 1967. Günther Stökl (Hg.): Die Interdependenz von Geschichte und Politik in Osteuropa seit 1945. Historiker-Fachtagung der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde e.V., Berlin, vom 9.-11.6.1976 in Bad Wiessee. Protokoll. Stuttgart 1977.

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teilichen »Generallinie« hinweg bei dieser Aufgabenzuweisung für die Geschichtswissenschaft.63 Die sowjetischen Historiker hatten sich den Bedingungen anzupassen, die ihnen von politischer Seite auferlegt wurden. Ihre bereits erwähnten Aufgaben hatten sie in einer Atmosphäre der Abkapselung und mißtrauischen Abwehr außersowjetischer Einflüsse zu erfüllen, die wissenschaftliche Literatur wurde ihnen in minimalen, kontrollierten Dosen zugeteilt, und unmittelbare Kontakte kamen in der Regel auch nur im offiziell-zeremoniösen Rahmen und unter scharfer Beobachtung zustande. Kam ein Historiker auf die Idee, einen politischen Schwenk, der ein gewisses Mehr an kritischer Offenheit zuzulassen schien, ernster zu nehmen und für dauerhafter zu halten, als er sich dann herausstellte, warteten strenge Strafen auf ihn. Eines der bekanntesten Beispiele ist der Fall des Historikers Alexander M. Nekriö. Ihm gelang es, im Herbst 1965 ein langgeplantes Buch über den Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges zu veröffentlichen, in dem er harte Kritik an Stalin übte, weil dieser die zahlreichen Warnungen vor dem bevorstehenden deutschen Angriff in unglaublicher Verblendung abgewiesen und damit das Desaster verschuldet habe, das die Rote Armee nach dem Überfall erlitten hatte.64 Nekrii, ein bekannter und mit höchsten wissenschaftlichen Auszeichnungen dekorierter Historiker - immerhin war er Mitglied der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften - , mußte erleben, daß die Nomenklatura nach ChruSCevs Absetzung (Oktober 1964) eine solche Demontage Stalins und damit auch ihres eigenen Selbstverständnisses nicht mehr zuließ, daß sie ihn aus ihren Reihen verstieß und in kleinlicher Weise verfolgte, bis er schließlich 1976 in den Westen emigrierte. Das anstößige Buch wurde eingezogen. Nomenklatura und Bürokratie, die tragenden Pfeiler des Breznev-Regimes, sollten auch weiterhin derartige Grenzüberschreitungen nicht zulassen.65

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Kurt Marko: Sowjethistoriker zwischen Ideologie und Wissenschaft. Aspekte der sowjetrussischen Wissenschaftspolitik seit Stalins Tod, 1953-1963. Köln 1964; Cyril Ε. Black (Hg.): Rewriting Russian History. Soviet Interpretations of Russia's Past. 2nd rev. edition New York 1962; Dietrich Geyer: Klio in Moskau und die sowjetische Geschichte. Heidelberg 1985. Es versteht sich, daß die gewaltige Masse einschlägiger Literatur aus der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern über die bisher genannten Hinweise hinaus hier nicht aufgeführt werden kann. A.M. Nekriö: 22 ijunja 1941g. Moskva 1965 (deutsche Ausg.: Alexander Nekritsch/ Pjotr Grigorenko: Genickschuß. Die Rote Armee am 22. Juni 1941, hg. und eingel. von G. Haupt. Wien u. a. 1969). S.dazu N.'s Autobiographie Otreiis' ot stracha. Vospominanija istorika. London 1979 (deutsche Ausg.: Alexander Nekritsch: Entsage der Angst. Frankfurt a.M. u. a. 1983).

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Was sie allerdings auch nicht verhinderten, war die ernsthafte wissenschaftliche Bemühung, die sich hinter einem kaum durchdring- und durchschaubaren Geflecht von Gehorsam, Mitmachen, Zwang, Verrat, Lüge, Verantwortung, Anpassung und Camouflage fortsetzte. Es ist nicht sehr erstaunlich, daß die Historiker, die sich in der Sowjetzeit als erste und zweite Garnitur etablierten, sich mehrheitlich schwer taten und noch tun, die Möglichkeiten wirklich wahrzunehmen, die ihnen zuerst Perestrojka und Glasnost', die Grundelemente der Gorbaiev-Reformen, dann der Zerfall der Sowjetunion und die Bemühungen um die Aufrichtung eines demokratisch fundierten Rußland eröffneten. Die Vorbehalte und das Mißtrauen, die Angst um die erworbenen Positionen, vielleicht auch das schlechte Gewissen - Gedrucktes ist jederzeit nachlesbar - , mögen in etlichen Fällen die Haltung bestimmen. Teils sind es jüngere, noch nicht etablierte Historiker, teils nichtprofessionelle Geschichtsinteressenten, zum gewissen Teil auch Historiker, die schon früher als kritisch galten, die die Wende in der russischen Geschichtswissenschaft herbeiführen können. Sie treiben die Tätigkeit von Vereinigungen wie Memorial voran, die sich der Aufarbeitung der Stalinära und der Erforschung ihrer Opfer widmen. In ihrem »Was tun?« verbindet diese kritische Intelligenz historische Forschung mit politischer Pädagogik für ihr Volk, das in den Wirren und Widersprüchen des gegenwärtigen revolutionären Wandels die Orientierung nicht verlieren darf. Die Revolution in der ehemaligen Sowjetunion hat viele Grenzen beseitigt, die der Tabuisierung von Informationen und Meinungen dienten. Sie hat jedoch noch viel zu tun, bis diejenigen Träger des sowjetischen ancien regime, die sich an diese Grenzen klammern, die immer noch vitale Nomenklatura und die - unumgängliche - Bürokratie, aufgelöst, gewandelt und ersetzt worden sind. 66

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Gert Meyer (Hg.): Wir brauchen die Wahrheit. Geschichtsdiskussion in der Sowjetunion. 2., erweiterte und überarbeitete Auflage Köln 1989; Robert W. Davies: Perestroika und Geschichte. Die Wende in der sowjetischen Historiographie. Aus dem Englischen übers, von F. Griese, München 1991; Dietrich Geyer (Hg.): Die Umwertung der sowjetischen Geschichte. Göttingen 1991 (=Geschichte und Gesellschaft. Sonderheft 14).

III. Wissenschaft Nationale Faktoren und universaler Anspruch

Renato G. Mazzolini

Nationale Wissenschaftsakademien im Europa des 19. Jahrhunderts

I. In einem Entwurf für das akademische Reglement, der im späten 18. Jahrhundert abgefaßt wurde, charakterisiert der savoische Kardinal Hyacinthe-Sigismond Gerdil die Beziehungen von Wissenschaftsakademien und Universitäten wie folgt: »Ce η'est pas qu'il y ait aucune veritable opposition entre l'esprit des Academies et celui des Universites; ce sont seulement des vues differentes. Les Universites sont etablies pour enseigner les sciences aux eleves qui veulent s'y former; les Academies se proposent de nouvelles recherches ä faire dans la carriere des sciences.«1 Im Vorwort des 1852 erschienenen On the Scope and Nature of University Education, das später in The Idea of a University umbenannt werden sollte, zitierte John Henry Newman zustimmend diese Textstelle des Kardinals. Seiner Meinung nach war die Unterscheidung von Akademien und Universitäten eine notwendige intellektuelle Arbeitsteilung zwischen Entdeckung {discovery) und Unterricht {teaching), und er Schloß mit folgenden Worten: »while teaching involves external engagements, the natural home for experiment and speculation is retirement«.2 Dennoch, wenn die beiden Bilder - die Universität als Ort passiver, disziplinierter und kontrollierter Vermittlung von Wissen und die Akademie als Ort der isolierten wissenschaftlichen Kreativität, wo das Wissen nur von Kompetenten an andere Kompetente weitergegeben wird vielleicht einige lokale Gegebenheiten des 18. Jahrhunderts approximativ adäquat beschreiben, so sind sie für das 19. Jahrhundert inadäquat und irreführend. Ich glaube sogar, daß diese Bilder schon damals, zu Zeiten von Gerdil und Newman, die zeitgenössische Situation nicht zutreffend beschrieben haben. 1

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Hyacinthe-Sigismond Gerdil: Opere edite ed inedite. 20 Bde. Rom 1806-1821, Bd. 3, S. 353. John Henry Newman: The Idea of a University. Hg. von I.T. Ker. Oxford 1976, S. 8.

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Schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatte das persönliche Forschen von Dozenten an Universitäten wie Göttingen, Edinburgh und Pavia ihre Unterrichtspraxis beeinflußt. In der Folge veränderten in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die Neuorganisation des höheren Schulwesens in Frankreich und in den Satellitenstaaten, sowie Wilhelm von Humboldts Ideen und deren teilweise Verwirklichung an einigen deutschen Universitäten aufs entschiedenste die Funktion von Universitäten, die Rolle der Dozenten und die didaktische Beziehung zwischen Dozenten und Studenten. Jetzt ist es die Universität, die mit ihren Labors und Instituten, mit ihren Universitätskliniken und naturhistorischen Sammlungen und Kunstsammlungen der privilegierte Standort der wissenschaftlichen Forschung wird. Das Neue und die Entdeckung sind nicht länger Vorrecht der Akademien: sie werden zum legitimen Betätigungsfeld der Universitäten. So können wir sagen, daß sich in einem gewissen Sinn mit allen fallspezifischen Unterscheidungen - eine analoge Situation zu einigen italienischen Universitäten in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts ergibt. Es ist die Unterrichtsmethode selbst - also die Darstellungstechnik die sich verändert. Sie unterliegt im Verlauf des Jahrhunderts einer wahrhaftigen Revolution, der die Historiker nur sehr wenig Aufmerksamkeit geschenkt haben. In den Naturwissenschaften wird der Kommentar zugunsten des direkten Beweises aufgegeben. Zum Teil wird die mündliche Ausführung von nicht-verbalen Kommunikationstechniken unterstützt, die die Vermittlung des Wissens direkter gestalten und das Erlernen aktiver. Dann werden wiederum Ausführungen von Praktika begleitet. In den besten Fällen spiegeln die im Unterricht diskutierten Argumente das fortgeschrittenste Stadium der damaligen Forschung wieder. Oft tragen die Gelehrten ihren Studenten die noch unveröffentlichten Ergebnisse ihrer Arbeiten vor. Ein einziges Beispiel dürfte ausreichen, diesen Punkt zu illustrieren. In einem Brief vom 17. Mai 1855 aus Würzburg an seine Eltern lieferte Ernst Haeckel die folgende Beschreibung des Unterrichts bei Rudolf Virchow: Für jetzt kann ich Euch nur sagen, dass mir die rein wissenschaftliche Richtung (zunächst in der pathologischen Anatomie), in der Virchow, auf das Mikroskop gestützt, die Medizin verfolgt, die eigentümliche Zellularpathologie, die er jetzt geschaffen hat (und in der er alle krankhaften Prozesse des Organismus, ebenso wie es die normalen Naturforscher tun, auf das Leben der Zellen [für mich das mächtigste Wort!] zurückführt), für mich im höchsten Grade anziehend ist, wie ich es nie nur im geringsten geahndet hatte; denn als ich damals ein theoretisches Kolleg bei ihm hörte, verstand ich ihn noch gar nicht. Diesen höchst geistreichen VirchowKollegien verdanke ich es hauptsächlich, dass es mir möglich geworden ist, mich von meinen botanisch-zoologischen Studien jetzt eine zeitlang loszureissen und

Nationale Wissenschaftsakademien im Europa des 19. Jahrhunderts

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mich mit aller mir zu Gebote stehenden Kraft auf die Medizin zu werfen [...]. Von 11-1 Uhr dreimal wöchentlich ist das Kolleg, welches mich vollkommen für alle praktischen Qualen entschädigt, und das ich zu den besten und lehrreichsten zählen muss, die ich je gehört habe. Dies ist das berühmte Privatissimum bei Virchow: demonstrativer Kursus der pathologischen Anatomie und Mikroskopie - wir sitzen zu 30-40 an zwei langen Tischen, in deren Mitte in einer Rinne eine kleine Eisenbahn verläuft, auf der die Mikroskope auf Rädern rollen und von einem zum andern fortgeschoben werden. Da bekommt man denn oft in einer Stunde die merkwürdigsten und seltensten, sorgfältig für das Mikroskop zurechtgemachten pathologischen Präparate in Menge zu sehen, während Virchow dabei ganz ausgezeichnete Vorträge (natürlich dem grade in die Hände kommenden Material von der Klinik angepasst) hält. Diese setzen dann meist die Fälle, die man vorher auf der Klinik lebend beobachtete, ins klarste Licht, wie dies auch die abwechselnd mit dem Kursus von Virchow gehaltenen Lektionen tun, bei denen er zuweilen auch seine Schüler selbst die Obduktion ausführen lässt. Grade dieser Zusammenhang zwischen dem klinisch-pathologischen, anatomischen und mikroskopischen Befund, wie man ihn so auf die klarste und bequemste Weise als ein ganzes, einheitliches Krankheitsbild erhält, ist äusserst interessant, lehrreich und wichtig.3

II. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts werden die Universitäten also zu den treibenden Kräften der wissenschaftlichen Forschung. Was passiert nun in diesem neuen Kontext an den Wissenschaftsakademien? Auf den ersten Blick könnte es so scheinen, als sei ihnen ihre Legitimität abhanden gekommen und als hätten sie ihre Funktion verloren, als würden sie sozusagen aus der Geschichte austreten und eine rein rhetorische und ornamentale Funktion gegenüber der Wissenschaft annehmen.4 Lassen Sie uns nun diese Frage etwas präziser angehen. Eine erste Feststellung ist - glaube ich - unanfechtbar. In den Jahren von 1790 bis 1830 befinden sich die Wissenschaftsakademien Europas, wenn sie nicht sogar geschlossen wurden, in einer Krise oder einer Phase des Umbruchs. Die »Academie des Sciences« in Paris wurde 1793, die »Academie Imperiale et Royale des Sciences et Belles-Lettres« in Brüssel 1794 geschlossen. Zwischen 1791 und 1818 stellte die »Leopoldina«, also die »Sacri Romani Imperii Academia Caesarea LeopoldinaCarolina Naturae Curiosorum« ihre verlegerische Tätigkeit ein. Die »Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin« erhielt

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Luigi Belloni: Haeckel als Schüler und Assistent von Virchow und sein Atlas der pathologischen Histologie bei Prof. Rudolf Virchow. Würzburg, Winter 1855/56. In: Physis 15 (1973), S. 5-39, hier S. 8. Während es für das 18. Jahrhundert zahlreiche Untersuchungen sowohl zu den einzelnen Wissenschaftsakademien als auch zur akademischen Bewegung im Ganzen gibt, ist mir über eine allgemeine Studie für das 19. Jahrhundert nichts bekannt, und es fehlt auch an bedeutenden Einzeluntersuchungen. Eine gute Bibliographie des Vorhandenen liefert Conrad Grau: Berühmte Wissenschaftsakademien. Leipzig 1988.

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1812 und 1838 neue Statuten, die »St. Petersburger Akademie der Wissenschaften« 1830 und 1836. Es ist klar, daß die Krise der für das ancien rigime typischen Akademien von der Französischen Revolution und der napoleonischen Reform der höheren Bildung heraufbeschworen worden war. Jedoch hatte meiner Meinung nach - die Krise jener Einrichtungen neben rein politischen Gründen tiefere Wurzeln, auf die ich später eingehen werde, die das napoleonische Eingreifen durchaus rechtfertigten. Betrachten wir ζ. B. die Geschichte der Wissenschaftsakademien des ancien rigime, die hier nach ihren Gründungsjahren aufgelistet sind: 1652 1660 1666 1700 1714 1724 1739 1742 1751 1759 1772 1779 1780 1783 1783 1784 1785

(Schweinfurt): Academia Naturae Curiosum London: Royal Society Paris: Academie Royale des Sciences (1711) Berlin: K. Preußische Sozietät der Wissenschaften Bologna: Accademia dell'Istituto delle Scienze St. Petersburg: Akademie der Wissenschaften und Künste Stockholm: Svenska Vetenskapsakademien Kopenhagen: K. Danske Videnskabernes Selskab Göttingen: K. Gesellschaft der Wissenschaften München: Kurbayerische Akademie Brüssel: Academie I. et R. des Sciences et Belles-Lettres Lissabon: Academia das Ciencias Neapel: R. Accademia delle Scienze e Belle Arti Turin: R. Accademia delle Scienze Edinburgh: Royal Society Prag: Böhmische Gesellschaft der Wissenschaften Dublin: Royal Irish Academy

Von Bedeutung ist die Tatsache, daß von diesen 17 Wissenschaftsakademien nur zwei keine erkennbare institutionelle Krise durchliefen: die »Royal Society« in London und die »Svenska Vetenskapsakademien« in Stockholm. Aber obwohl sie ihre Arbeit fortsetzten, waren auch diese beiden Akademien eine Zeitlang vom Untergang bedroht. Berühmt sind die Seiten, die Charles Babbage 1830 über den Niedergang der »Royal Society« geschrieben hat,5 während die Bemühungen des Chemikers Jakob Berzelius - zwischen 1818 und 1848 Sekretär der schwedischen Akademie - um die Neuorganisation seiner Einrichtung und seine wegweisenden Anregungen denkwürdig sind.6

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Charles Babbage: Reflections on the Decline of Science in England, and on some of its Causes. London 1830. Wilhelm Odelberg: Berzelius as Permanent Secretary. In: Tore Frängsmyr (Hg.): Science in Sweden: The Royal Swedish Academy of Sciences 1739-1989. Canton 1989, S. 124-147.

Nationale Wissenschaftsakademien

im Europa des 19. Jahrhunderts

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Es gibt eine zweite Feststellung, die mir unanfechtbar scheint. Alle 17 oben genannten Akademien nahmen im Verlauf des 19. Jahrhunderts - wenn auch mit neuen Statuten und einer erneuerten inneren Organisation - ihre intensive Arbeit wieder auf: regelmäßige Mitgliederversammlungen, die periodische Veröffentlichung wissenschaftlicher Beiträge, Preisausschreibungen und -Verleihungen, die Wahl neuer Mitglieder, Gedächtnisfeiern für die verstorbenen Mitglieder und, als letztes, die Verwirklichung einiger großangelegter mehrjähriger oder besonders kostspieliger Projekte standen auf dem Programm. Aber das ist noch nicht alles. Zu diesen 17 Akademien, die immer mehr zu richtiggehenden nationalen Wissenschaftsakademien wurden, gesellten sich andere, die im Verlauf des Jahrhunderts in allen europäischen Ländern gegründet wurden. Ich möchte in chronologischer Folge einige aufführen:

1808 1815 1825 1838 1846 1847 1847 1847 1857 1866 1866 1868 1869 1870 1871 1886

Amsterdam: Koninklijke Akademie van Wetenschappen (Zürich): Schweizerische Naturforschende Gesellschaft Buda: Magyar Tudomänyos Akademia Helsinki: Societas scientiarum Fennica Leipzig: Königlich Sächsische Gesellschaft der Wissenschaften Rom: Accademia pontifica dei nuovi Lincei Madrid: Real Academia de Ciencias exactas, fisicas y naturales Wien: Kaiserliche Akademie der Wissenschaften Christiania (Oslo): Videnskabs-Selskabet Zagreb: Jugoslavenska Akademija znanosti i umjetnosti Bukarest: Societatea academica Romänä Luxemburg: Institut Grand-Ducal de Luxembourg Sofia: Bulgärska Akademija na naukite Rom: Reale Accademia dei Lincei Krakau: Akademia Umiej?tnosci Belgrad: Srpska Akademija nauk i umetnosti

Die 16 Akademien auf dieser Liste können, zusammen mit den vor 1800 gegründeten, als eine relativ homogene Gruppe wissenschaftlicher Einrichtungen betrachtet werden. Was sie homogen werden läßt, ist, daß sie - sowohl auf staatlichem Niveau als auch als nationale Gruppe - eine Auswahl von Mitgliedern der wissenschaftlichen Gemeinschaft eines bestimmten Staates oder einer Sprachgruppe darstellen. Was sie hingegen unterscheidet, ist das unterschiedliche Gewicht, das den jeweiligen historischen Traditionen und damit dem in der Vergangenheit erworbenen Prestige beigemessen wird. Aber es gibt noch tief ergehende

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Unterschiede. Sie betreffen sowohl die innere Struktur und Organisation, als auch die Beziehung mit anderen lokalen wissenschaftlichen Einrichtungen. So ist ζ. B. die außerordentliche Qualität vieler Veröffentlichungen der Wissenschaftsakademien von Berlin und Wien auf die Tatsache zurückzuführen, daß deren Autoren Professoren der Universitäten in Berlin und Wien waren, wo sie über erstklassige Institute, Labors und Assistenten verfügen konnten. An diesen Instituten forschten sie. Hier ist es die Verbindung von Akademie und Universität, welche die Akademie augenscheinlich so bedeutsam macht. Hätte es in Berlin und Wien keine Universitäten gegeben, so wären wahrscheinlich die Akademien in diesen Städten von relativ geringer Bedeutung geblieben. Analoges läßt sich von den Akademien in Turin und Bologna sagen, wo - wenigstens für Italien - bedeutende Universitäten existierten. Außerdem gibt es wissenschaftliche Einrichtungen ohne festen Wohnsitz wie ζ. B. die »Schweizerische Naturforschende Gesellschaft« oder, bis 1874, die »Leopoldina« oder aber Akademien wie die von St. Petersburg, deren Museen, Sternwarten, zoologische Institute und Stationen einen weiträumigen Komplex bildeten. Andere Unterschiede betreffen die von jeder Einrichtung kultivierten Disziplinen. Die »Royal Society« und die »Academie des Sciences« widmeten sich nur naturwissenschaftlichen Disziplinen, andere Akademien hingegen können auch andere Sektionen besitzen: Kunst, Geschichtsforschung, Archäologie, Philologie, und abgesehen von den exakten Naturwissenschaften, Naturgeschichte und Medizin.

III. Ich bin mir darüber im klaren, daß die Liste der 33 von mir ausgewählten Akademien bis zu einem gewissen Grad beliebig ist und daß man über etwaige Veränderungen dieser Auswahl lange diskutieren könnte. So habe ich ζ. B. die »Hollandsche Maatschappij der Wetenschappen« in Haarlem trotz ihrer nationalen Rolle Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts nicht berücksichtigt, da diese Rolle 1808 von der in Amsterdam von König Louis Napoleon gegründeten »Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen« übernommen wurde. Auch habe ich das »Imperiale e Reale Istituto Veneto di Scienze Lettere ed Arti« oder das »Reale Istituto Lombardo di Scienze e Lettere« weggelassen, da sie trotz ihrer wichtigen Rolle meiner Meinung nach eher von lokaler Bedeutung waren. Die Anzahl der Vereine für Naturkunde, Naturwissenschaftlichen Gesellschaften, Gesellschaften von Freunden der Naturwissenschaften und Physikalisch-medizinischen Gesellschaften nimmt in ganz Europa ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf lokaler Ebene exponential zu. Diese lokalen Vereine sind der schla-

Nationale Wissenschaftsakademien

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gende Beweis für die Ausdehnung der wissenschaftlichen Kultur, das Anwachsen ihres Publikums und ihrer Akteure sowie ihrer kapilaren Verbreitung über die traditionellen Zentren des Wissens hinaus. An dieser Stelle ist es mir aber nicht möglich, auf diese Form der wissenschaftlichen Vereinsbildung näher einzugehen und auch nicht auf andere, im Verlauf des 19. Jahrhunderts sehr wichtig werdende wie die nationalen und internationalen Tagungen der Naturwissenschaftler und Mediziner oder die Vereine der Kenner und Liebhaber der einzelnen Disziplinen. Hier beschäftige ich mich nur mit der zahlenmäßig beschränkten Gruppe der nationalen Wissenschaftsakademien. Sie ähneln den nationalen Naturwissenschaftsmuseen, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts in fast allen europäischen Staaten eingerichtet werden. Auch die Akademien spiegeln - genau wie jene Museen - das veränderte Verhältnis von wissenschaftlicher Gemeinschaft und Staat wieder. Die Akademien öffnen sich wie die Museen der Neugierde des Publikums. Sie sind nicht länger ein abgeschlossener, privater Ort, wo - für eine beschränkte Elite - das Prestige eines Herrscherhauses herausgestellt wird, sondern sie sind der Ort, an dem das wissenschaftliche Prestige einer Nation öffentlich gemacht wird. Heine schrieb am 21. Juni 1843 über die »Academie Fransaise«: »Alle Jahre besuche ich regelmäßig die feierliche Sitzung in der Rotunde des Palais Mazarin, wo man sich stundenlang vorher einfinden muß, um Platz zu finden, unter der Elite der Geistesaristokratie, wozu glücklicherweise die schönsten Damen gehören.«7 Trotzdem wäre es banal und würde das historische Verständnis stark einschränken, die Rolle der Wissenschaftskademien des 19. Jahrhunderts auf eine reine Darstellung des nationalen Prestiges reduzieren zu wollen. Mit Sicherheit hat es diese Darstellung gegeben, mit ihr eigenen Riten, einem eigenen Bühnenbild und einer eigenen Rhetorik. Außerdem läßt sich die Gründung so vieler nationaler Wissenschaftsakademien im Verlauf des 19. Jahrhunderts nicht verstehen, ohne das Nationalgefühl und die Interessen zu berücksichtigen, die dieses mitbestimmten. Es gibt dennoch tiefer liegende Motive, die das Wiedererstarken der Akademien im 19. Jahrhundert erhellen und es vielleicht zulassen, einige ihrer veränderten Funktionen auszumachen.

7

Heinrich Heine: Werke. Bd. 3: Schriften über Frankreich. Hg. von Eberhard Galley. Frankfurt a.M. 1968, S. 550.

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IV. Noch 1809 machte sich Wilhelm von Humboldt Gedanken zur Berliner Situation und verteidigte die - sicherlich nicht neue — Idee, daß die Universität »zur Verbreitung der Wissenschaften« bestimmt sei, während die Akademie der »Erweiterung der Wissenschaften« zu dienen habe.8 In einer Denkschrift - wahrscheinlich aus dem Jahre 1810 - hatte er dann seine Meinung geändert und schrieb: »sicherlich könnte man [...] die Erweiterung der Wissenschaften den blossen Universitäten, wenn diese nur gehörig angeordnet wären, anvertrauen, und zu diesem Endzweck der Akademien entrathen«.9 Aber Humboldt wollte die Akademien nicht abschaffen. Er wußte, daß sie auch ohne finanzielle Unterstützung durch den Staat existieren konnten, während die Universitäten sowohl wirtschaftlich als auch praktisch stark vom Staat abhängig waren. Humboldt meinte, die Akademie sei »eine Gesellschaft, wahrhaft dazu bestimmt, die Arbeit eines Jeden der Beurtheilung aller zu unterwerfen«, und fügte hinzu, daß »die Idee einer Akademie als die höchste und letzte Freistätte der Wissenschaft und die vom Staat am meisten unabhängige Corporation festgehalten werden« sollte.10 Ich glaube, daß das Urteil und die Betrachtungen Humboldts - obwohl sie sich am Modell Göttingens inspirierten und an den Fall Berlin gebunden waren - einen so allgemeinen Wert besitzen, daß sie es erlauben, sowohl einige der tieferliegenden Motive des erneuten Aufschwungs der Akademien im 19. Jahrhundert auszumachen, als auch ihre zum Teil veränderte Funktion zu beschreiben. Die wichtigsten Ausdrücke sind »Beurtheilung«, »Freistätte der Wissenschaft« (»Zufluchtsort der Wissenschaft« hatte er ursprünglich geschrieben) und »unabhängige Corporation«. Die letzten beiden Ausdrücke machen deutlich, daß Humboldt keine historisches Faktum beschreibt, sondern ein desideratum. Es handelt sich um ein altes Ideal, vielleicht eine Utopie, nämlich die Konstruktion eines Zufluchtsortes, wo eine aus Gelehrten bestehende Körperschaft, nicht nur unabhängig vom Staat, sondern auch außerhalb jeder staatlichen Form, der Wissenschaft nachgehen kann. Dieses Ideal hat zahlreiche Naturforscher des 17. und 18. Jahrhunderts inspiriert und wurde sowohl in die kosmopolitische, wenn auch immaterielle Res publica litterarum umgesetzt, als auch in die weitaus sichtbareren und greifbareren Wissenschaftsakademien der Territorial8

9 10

Wilhelm von Humboldt: Politische Denkschriften. Hg. von Bruno Gebhardt. Berlin 1903, Bd. 1,S. 31. Ebd., S. 257. Ebd. S. 258.

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Staaten, die immer einige berühmte Gelehrte anderer Länder zu ihren korrespondierenden Mitgliedern zählten. Noch im frühen 19. Jahrhundert beeinflußte dieses Ideal die kosmopolitische Gruppe von Naturforschern, darunter Alexander von Humboldt und Joseph Louis Gay-Lussac, die sich um Claude-Louis Berthollet und Pierre Simon de Laplace in der »Societe d'Arcueil« versammelten,11 oder den unruhigen und erfinderischen Charles Babbage, der 1828 eine »Academie Europeenne pour l'avancement des sciences physiques« plante.12 Doch demjenigen, der nicht nur den Utopien, sondern auch den realen Beziehungen Aufmerksamkeit geschenkt hat, die sich historisch zwischen Naturwissenschaftlern und Regierenden, zwischen Naturwissenschaft und Macht oder - wie man heute allgemein sagt - zwischen Naturwissenschaft und Politik entwickelt haben, wird nicht entgangen sein, wie zweideutig diese Beziehungen gewesen sind. Die Geschichte der Wissenschaftsakademien stellt - meiner Meinung nach - die eklatanteste historische Manifestation dieser Zweideutigkeit dar. Ihr Ursprung, ihr Scheitern und ihre historische Entwicklung sind tatsächlich das Ergebnis von oft kontrastierenden, wenn nicht sogar theoretisch unversöhnlichen desiderata. Die Naturforscher träumten im 17. und 18. Jahrhundert von einem Zufluchtsort für die Wissenschaften, strebten aber gleichzeitig soziale Legitimierung ihrer Tätigkeit, grundlegende Unabhängigkeit und totale Forschungsfreiheit an. Dagegen schwankten die Herrschenden - mit wenigen Ausnahmen - zwischen desinteressierter Toleranz und mäßiger patronage, boten eine eher bescheidene Legitimierung an und erwarteten als Gegenleistung praktische, möglichst rasche und aufsehenerregende Ergebnisse. Wie schematisch und persönlich diese Rekonstruktion auch sein mag, so glaube ich, daß auch andere Historiker zumindest der Behauptung zustimmen werden, daß die Wissenschaftsakademien nicht nur Teil der Wissenschaftsgeschichte sind, sondern auch der politischen Geschichte, da ihr Ursprung, ihre Entwicklung und - in einigen Fällen ihr Ende von politischen Handlungen abhingen. Tatsächlich führen die inneren und so menschlichen Widersprüchlichkeiten der Naturforscher und die differenzierte Disponibilität der Regierenden zur Einrichtung von Institutionen, die weit davon entfernt waren, unabhängig vom Staat zu sein - wie es sich Wilhelm von Hum-

11

12

Maurice Crosland: The Society of Arcueil: A View of French Science at the Time of Napoleon 1. London 1967. Giuliano Pancaldi: Nuove fonti per la storia dei congress». Scritti inediti di Charles Babbage, Carlo Luciano Bonaparte e Lorenzo Oken. In: Giuliano Pancaldi (Hg.): / congressi degli scienziati italiani nelf etä delpositivismo. Bologna 1983, S. 181-201.

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boldt gewünscht hatte sondern im Gegenteil politisch an ihn gebunden blieben. Aber es ist genau die Art der Bindung, die sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts an vielen europäischen Wissenschaftsakademien wandelt. Bevor wir diesen Punkt näher betrachten, erlauben Sie mir bitte eine kurze, sehr allgemeine Abschweifung zum Verhältnis Wissenschaftsakademien/Staat. Daß diese Bindung bestanden hat, läßt sich an einer Reihe banaler und oberflächlicher Gegebenheiten ablesen. Man nehme ζ. B. die Benennung der Akademien und deren Änderung, je nach der Staatsform, in welcher sie sich befanden. 1759 wurde in München die »Churfürstlich-Baierische Akademie« gegründet, von 1806-1918 hieß sie »Königlich Bayerische Akademie der Wissenschaften« und dann einfach »Bayerische Akademie der Wissenschaften«. Es gibt natürlich noch weit komplexere Beispiele. Die Bindung der Wissenschaftsakademien an den Staat hatte auch andere weitreichende Folgen. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts gibt es zahlreiche Fälle von Naturwissenschaftlern, die nicht zu Akademiemitgliedern ernannt wurden, da ihre politische Einstellung für gefährlich oder von der staatlichen Linie abweichend erachtet wurde. Hier wirkten die Akademien im Sinne von Selbstdisziplinierung und Selbstzensur, um Konflikten mit den politischen Machthabern auszuweichen. Als Folge hatte einige von ihnen eine weniger qualifizierte und politisch konservativere wissenschaftliche Vertretung. Als letztes erscheinen mir diejenigen Bindungen bedeutsam, die einige Akademien mit einem inexistenten Nationalstaat herstellten. Es handelt sich nicht um ein Paradox, sondern um eine politische Handlung, um einen Bruch mit der Vergangenheit und eine Vorwegnahme der Zukunft. Im Jahre 1782, als Italien als Nationalstaat noch nicht existierte, gründete Anton Maria Lorgna mit dem Ziel, die Italiener »in un corpo die Scienziati nazionale« zu vereinen, die »Societä italiana delle scienze«, und verlangte von den Mitgliedern, daß sie ihre Beiträge nicht auf Lateinisch oder Französisch - den internationalen Sprachen der Epoc h e - , sondern auf Italienisch schrieben.13 Als Polen dreigeteilt und fremder Herrschaft unterstellt war, wurde 1871 in Krakau die »Akademia Umiej?tnosci« gegründet, die 1873 zu arbeiten begann. Mitglieder konnten polnische Gelehrte sein, die in allen Gebieten des alten Polens lebten; die offizielle Sprache war Polnisch. Die Akademie unterstützte wichtige Forschungsmissionen nach

13

Renato G. Mazzolini: La questione del latino in una lettera di L. Spallanzani a GirolamoFerri. In: Episteme 10 (1976), S. 313-326.

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Schweden und Ungarn, mit dem Ziel, die altpolnische Geschichte zu recherchieren. Analoge Nationalinteressen animierten die Akademien der Balkanländer. V. Während des 19. Jahrhunderts ändert sich das Verhältnis zwischen Wissenschaftsakademien und Staat je nach Art des politischen Regimes und der Stärke des in einem Staat bestehenden Bürgertums. Sicherlich kann man nicht behaupten, daß die »Kaiserliche St. Petersburger Akademie der Wissenschaften« keine bedeutende wissenschaftliche Produktion hervorgebracht habe und an ihr keine weltberühmten Wissenschaftler gearbeitet hätten. Tatsache ist jedoch, daß die Akademie noch nach einem Modell des Ancien Regime ausgerichtet war und daß die an ihr tätigen Wissenschaftler eine Art Kaste darstellten, die zur öffentlichen Meinung und den im damaligen Rußland herrschenden praktischen Problemen keinen festen Bezug hatten. Dies ist wahrscheinlich einer der Gründe, weshalb die wissenschaftliche Produktion der Akademie eher das theoretische Gebiet der Naturwissenschaften als die angewandten Wissenschaften bereichert hat. Ganz anders war die Lage in anderen Ländern, wo die Wissenschaftsakademien gegen Ende des 18. und in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in eine Krise geraten waren. Ihr Wiedererstehen war ausschließlich dem Engagement, dem Enthusiasmus, dem Organisationstalent, dem persönlichen Prestige, dem gesellschaftlichen und politischen Interesse und dem Nacheiferungssinn einiger dem Bürgertum entstammender Wissenschaftler zu verdanken, die in der Akademie eine Institution sahen, die einerseits dem Leben des Staates dienlich sein und andererseits das für jedes zivilisierte Land unerläßliche Phänomen Wissenschaft regulieren und planen konnte. Die Zukunft der Wissenschaftsakademien hing fast ausschließlich von ihnen ab, d. h. von denjenigen, die an ihre Funktion glaubten und ihre Leitung übernehmen wollten. In England wurde die Krise der »Royal Society« durch das hervorragende Wirken von Wissenschaftlern wie dem Chemiker Humphry Davy und dem Physiker Michael Faraday, die der Royal Institution angehörten,14 und von der 1831 erfolgten Gründung der »British Association for the Advancement of Science« ausgeglichen. Auch die »Danske Videnskabernes Selskab« in Kopenhagen verdankte ihre Erneuerung zum großen Teil ihrem von 1815 bis 1851

14

Gwendy Caroe: The Royal Institution: An Informal History. London 1985.

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amtierenden ständigen Geschäftsführer Hans Christian 0rsted, der nicht nur ein glänzender Physiker mit großem Interesse an der Philosophie, sondern auch ein ausgezeichneter Lehrer war und mit Begeisterung versuchte, dem Volk die Wissenschaften näher zu bringen. Sein Bruder, Ader Sand0e, war im übrigen Ministerpräsident Dänemarks.15 In Irland war der Mathematiker William Rowan Hamilton, der 1835 in Dublin die Tagung der »British Association« organisierte, von 1837 bis 1845 Präsident der »Royal Irish Academy«, der er, auch aufgrund des durch ihren guten Ruf und das Prestige ausgelösten Eifers der Wissenschaftler, neuen Schwung verlieh.16 Den belgischen Historikern gemäß beginnt mit dem Jahr 1832 für die »Academie Royale des Sciences, des Lettres et des Beaux-Arts« in Brüssel der dritte Zeitabschnitt ihrer Geschichte, d. h. die nationale Periode. Von 1834 bis 1874 war Adolphe Quetelet, Erneuerer der Statistik und Verbreiter der >physique sociale*, Secretaire perpetuel der Akademie. Während der 40 Jahre seiner Geschäftsführung lösten sich an der Akademie 22 Präsidenten und 87 Abteilungsleiter ab. Der institutionelle Neuaufbau der Akademie, der dann endgültig werden sollte, wurde von den Verbindungen Quetelets zur Regierung abgesichert, während ihre Ausbreitung durch die lebhafte Industrieentwicklung Belgiens begünstigt wurde.17 Der Astrophysiker Dominique Arago war von 1830 bis 1853 Secretaire perpetuel der »Academie des Sciences« in Paris. Er war Liberaler und ein energischer Verfechter der Pressefreiheit, sozialer Reformen sowie von Reformen im Bereich des Unterrichtswesens. Er vertrat die Idee, daß die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Nutzen des technologischen Fortschritts eingesetzt werden sollten. Er war auch politisch sehr aktiv und bekleidete in den Jahren zwischen 1830 und 1848 bedeutende Ämter. Er war es, der als Minister der provisorischen Regierung von 1848 das Gesetz zur Abschaffung der Sklaverei in den französischen Kolonien unterzeichnete. Nicht zuletzt kommt ihm das Verdienst zu, die »Academie des Sciences« der Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu haben.18 Durch Männer wie Babbage, Berzelius, 0rsted, Hamilton, Quetelet und Arago erwarben die Wissenschaftsakademien in der ersten Hälfte

15

16

17

18

Hans Christian 0rsted: Scientific Papers. Hg. von K. Meyer. 3 Bde. Kopenhagen 1920, Bd. 3, S. XLIII-XCII. Robert Perceval Graves: Life of Sir William Rowan Hamilton. 3 Bde. Dublin 18821889, Bd. 2, S. 221-253, S. 361f. L'Academie Royale de Belgique depuis sa fondation (1772-1922). Brüssel 1922, S. 24f., sowie Jacques Lavalleye: L'Academie Royale des Sciences, des Lettres et des Beaux-Arts de Belgique 1772-1972. Brüssel 1973, S. 59-63. Maurice Daumas: Arago. Paris 1943.

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des 19. Jahrhunderts eine neue politische Funktion im Bereich der Gesamtorganisation des Staates. Es handelte sich jedoch um eine eroberte Funktion, der die Botschaft zugrunde lag, daß die gesellschaftliche und intellektuelle Entwicklung nicht mehr ohne das Phänomen Wissenschaft, ohne ein Kommunikationssystem zwischen denjenigen, die Wissenschaft erzeugten, und ohne eine Organisation der Wissenschaft selbst auskommen konnte. Ich glaube, daß in diesem Zusammenhang der Tatsache, daß im Jahre 1847 drei neue nationale Wissenschaftsakademien in Madrid, Wien und, unter der Schirmherrschaft des Papstes, in Rom gegründet wurden, besondere Bedeutung zukommt. Nirgendwo in Europa konnte man mehr auf eine höhere Form der Wissenschaftsorganisation verzichten. Seit dem Jahre 1817 hatte Fürst Metternich mit dem Gedanken einer Wissenschaftsakademie gespielt. In Wien mangelte es nicht an Universitätsprofessoren, die sich eine solche wünschten. Aber ihn lahmte die Furcht vor dem freien Gedankenaustausch und der Pressefreiheit. Eine Anekdote berichtet, daß er anläßlich der Verleihung des preußischen Ordens pour le mirite gesagt haben soll: »Nun müssen wir aber doch unsererseits etwas für die Wissenschaft und namentlich für eine Akademie tun.« Die Vorverhandlungen waren endlos. Sollten die Akademiker den Zensurbehörden unterstellt werden, oder genügte es, daß sie eine Selbstzensur übten? Die Ereignisse des Jahres 1848 brachten schließlich den Durchbruch, und die »Kaiserliche Akademie der Wissenschaften« in Wien wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine der bedeutendsten Akademien Europas.19 In den Ländern, in denen das Bürgertum eine führende Stellung einnimmt, erhalten die Wissenschaftsakademien vorschlagende und beratende Funktionen. Dies ist ζ. B. für die »Royal Society« sehr gut dokumentiert.20 Es ist außerdem von Bedeutung, daß einige große Wissenschaftsakademien des 19. Jahrhunderts die Durchführung wissenschaftlicher Untersuchungen von nationalem Interesse zu ihrem Thema gemacht haben. So schrieb ζ. B. Sir Aubrey De Vere am 30. Dezember 1837 an Hamilton, der erst kürzlich zum Präsidenten der »Royal Irish Academy« gewählt worden war: »I think that an Irish Academy ought to make National subjects prominent. They should effect for their own country, as respects its ancient history, institutions, popular traditions, literature, manners, and language, what cannot be looked for elsewhere: not by 19

20

Richard Meister: Geschichte der Akademie der Wissenschaften in Wien 1847-1947. Wien 1947. Marie Boas Hall: All Scientists Now: The Royal Society in the Nineteenth Century. Cambridge 1984, S. 162-181.

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any means neglecting those general subjects of interest and utility which no men are more capable of treating than our own, but choosing as a peculiar province what is nationally theirs.«21 Wenn ein Staat keine entsprechenden spezifischen Einrichtungen besitzt, betrachtet es die Wissenschaftsakademie als eine ihrer Hauptaufgaben, die nationale Kultur zu pflegen, sie durch die Edition von Geschichtsquellen, biographischen Lexika und nationalen Großwörterbüchern zu dokumentieren und zu einer erschöpfenden Kenntnis der Geographie sowie der Pflanzen- und Tierwelt des Landes beizutragen. All dies wurde jedoch nicht nur auf höhere Veranlassung und mittels staatlicher Zuschüsse verwirklicht. Die Arbeit zahlreicher Gelehrter, die neue Forschungsgebiete erschlossen und sie ins Blickfeld des öffentlichen Interesses rückten, brachte den Mechanismus der Stiftungen seitens privater Bürger in Gang. Die Gründung von Stern- und Wetterwarten sowie von meeresbiologischen Beobachtungsstellen wurde in vielen Fällen durch Stiftungen ermöglicht.

VI. Die bedeutendste historische Funktion der Wissenschaftsakademien des 19. Jahrhunderts lag meiner Ansicht nach allerdings weder in der unabhängigen (d. h. völlig von der Akademie finanzierten) wissenschaftlichen Forschung, noch in der wissenschaftlichen Aneigung des Territoriums oder in der Organisation der Wissenschaft eines Landes, sondern vielmehr in der Organisation des wissenschaftlichen Informationsaustauschs sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene. Zur Klärung dieses Punktes ist es angebracht, ein wenig zurückzublicken. Wie ich eingangs bereits feststellte, hatte die Krise, in die die Wissenschaftsakademien am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts gerieten, nicht nur politische, sondern tiefere Ursachen. Persönlich bin ich der Auffassung, daß sie mit der Krise der Res publica litterarum zusammenfällt, die bereits im Jahrzehnt vor der Französischen Revolution begann, und daß ihre Ursache auf einem WachstumsprobJem, genauer: auf der außergewöhnlichen Entwicklung der Wissenschaften beruht. Die Spezialisierung auf einzelne Fachgebiete, die starke Ausbreitung von Akademien in den Provinzen, und zwar nicht nur in Frankreich und Deutschland, sondern auch in Holland, in der Schweiz, in England und in Italien, die teilweise spektakuläre Weise, in der die Wissenschaftler das Interesse der Öffentlichkeit auf sich zogen und damit einerseits ein

21

Graves [Anm. 16], Bd. 2, S. 234.

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breites Publikum und andererseits eine neue Legitimation für ihre Zunft gewannen, sowie schließlich auch das wachsende Interesse an einer Forschung, die praktische Anwendung bei der Lösung lokaler Probleme finden konnte, - all dies führte zu einer Krise sowohl der traditionellen Akademien, die sich als Organisationssysteme der Wissenschaft verstanden, als auch des Ideals einer kosmopolitischen Res publica litterarum. Charles Babbage schrieb 1830: »The Royal Institution was founded for the cultivation of the more popular and elementary branches of scientific knowledge, and has risen, partly from the splendid discoveries of Davy, and partly from the decline of the Royal Society, to a more prominent station than it would otherwise have occupied in the science of England. Its general effects in diffusing knowledge among more educated classes of the metropolis have been, and continue to be, valuable.«22 An dieser Stelle muß man einfach die humoristischen Presse-Karikaturen der public lectures der »Royal Institution« erwähnen. Die Wissenschaft wird auch zum Spektakel, aber sie sichert sich so das Interesse der öffentlichen Meinung. Ein Symptom der Krise der Res publica litterarum war die Aufgabe der gemeinsamen Sprache, also zuerst des Lateins und später des Französischen. Im 19. Jahrhundert wurden die Verhandlungen der nationalen Wissenschaftsakademien in den jeweiligen Nationalsprachen veröffentlicht; in diesem Jahrhundert bildeten sich die nationalen naturwissenschaftlichen Traditionen und vielleicht auch nationale naturwissenschaftliche Stile heraus. Indem sie Arbeiten zur Veröffentlichung akzeptierten, Kommissionen zur Begutachtung bestimmter Theorien einrichteten, Preise und Orden vergaben, ordentliche, korrespondierende oder auswärtige Mitglieder wählten, stellten sich die Wissenschaftsakademien an die Spitze der nationalen wissenschaftlichen Korporationen. Sie schlugen eine Hierarchie wissenschaftlicher Werte auf nationaler Ebene vor und legten sie im Inneren und auch im Ausland der Öffentlichkeit vor. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, erscheint die Tatsache verständlich, daß Alphonse de Candolle 1873 seine statistische Rekonstruktion der Geschichte der Naturwissenschaft eben auf den Listen auswärtiger Mitglieder der Wissenschaftsakademien aufbaut.23 Trotzdem wäre es naiv zu glauben, daß die Wissenschaftsakademie des 19. Jahrhunderts angesichts des Spezialisierungsprozesses der Dis22 23

Babbage [Anm. 5], S. 188f. Alphonse de Candolle: Histoire des sciences et des savants depuis deux siecles, d'apres I'opinion des principales acadimies ou sociales scientifiques. Paris 1987 (1. Ausg. Genf 1873).

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ziplinen noch »eine Gesellschaft, wahrhaft dazu bestimmt, die Arbeit eines Jeden der Beurtheilung Aller zu unterwerfen«, darzustellen in der Lage war, wie Wilhelm von Humboldt meinte. Wer konnten diese »Alle« sein, kompetent genug, die Arbeit anderer zu beurteilen und zu diskutieren? Vielleicht Alexander von Humboldt in der ersten Hälfte des Jahrhunderts und Hermann von Helmholtz in der zweiten, aber wer sonst? Ende des Jahrhunderts liefen auch für die Disziplin bedeutsame Vorträge Gefahr, vor tauben Ohren stattzufinden. Nur Fragen allgemeiner Natur und Trauerreden konnten noch allgemeines Interesse wecken. Was die direkte Kommunikation und die Diskussion betrifft, so waren die Wissenschaftsakademien dabei, in inhaltslose Riten zu verfallen. Neue wissenschaftliche Assoziationsformen - nämlich jene der einzelnen Disziplinen - übernahmen die Aufgabe, die wissenschaftliche Diskussion auf nationaler und internationaler Ebene zu neuem Leben zu erwecken. Ja, auf der internationalen! Das Ideal der Res publica litterarurn verwandelt sich nun in das Prinzip oder gar das Dogma des wissenschaftlichen Internationalismus. So schrieb Alphonse de Candolle 1873: »Quant aux hommes de sciences [...] la vanite nationale est tout simplement un ecueil. Leur role est d'etre cosmopolites. Une science n'est ni d'une nation ni d'un autre.«24 Wie stark das Ideal des wissenschaftlichen Internationalismus wirklich gefühlt wurde, darauf weiß ich - ehrlich gesagt - keine Antwort zu geben. Sicherlich wurde es wiederholt von zahlreichen Naturwissenschaftlern heraufbeschworen und stand bei der Gründung der »Internationalen Assoziation der Akademien« 1899 in Wiesbaden auf dem Programm. 1910 gehörten 21 Akademien der Assoziation an; davon 19 europäische, die »National Academy of Sciences« in Washington und die »Kaiserliche Akademie der Wissenschaften« in Tokio. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges löste sich die Assoziation auf. (Aus dem Italienischen von Karin Krieg und Friederike C. Oursin)

24

Ebd., S. 254.

Willem Frijhoff

Universität und Ausbildung Historische Bemerkungen zu einem europäischen Vergleich

Einleitung Ein Vergleich der europäischen Universitätssysteme unter dem Aspekt der in ihnen möglichen und geleisteten Ausbildung - wie die mir vorgelegte Fragestellung formuliert war - ist wohl das komplizierteste Thema dieser Sektion unsrer Tagung, und zudem, mit Ausnahme vielleicht der bildungspolitischen Aspekte, kaum aufgearbeitet.1 Über Forschung und Wissenschaft sind wir uns ziemlich einig, weil die Forschungsgemeinschaft schon seit über zwei Jahrhunderten zu einer neuen, internationalen Res publica literaria - oder vielleicht besser: einer Res publica scientiae dedicata - tendiert. Die alte Res publica literaria, ein parallel an den Universitäten entstandenes Netzwerk, das auf individuelle Gelehrsamkeit gegründet war, wurde im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts durch eine Organisation der Wissenschaften ersetzt, die über Fakultäten und Universitäten hinaus auch die disziplinäre Ebene erfaßte.2

1

2

Vgl. aber Detlev K. Müller/Fritz K. Ringer/Brian Simon (Hg.): The Rise of the Modern Educational System. Structural Change and Social Reproduction 1870-1920. Cambridge 1987; P. Windolf: Die Expansion der Universitäten 1870-1985. Ein internationaler Vergleich. Stuttgart 1990, und die betreffenden Artikel in: Burton R. Clark/Guy Neave (Hg.): The Encyclopaedia of Higher Education. 4 Bde. Oxford 1992. Zum Beispiel, mit wertvoller Bibliographie: Rudolf Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 17401890. Frankfurt a.M. 1984; ders.: Der frühmoderne Staat und die europäische Universität. Zur Interaktion von Politik und Erziehungssystem im Prozeß ihrer Ausdifferenzierung (16.-18. Jahrhundert). Frankfurt a.M. 1991. Für Medizin und Jurisprudenz in den Niederlanden des 19. Jahrhunderts ist Stichwehs Modell ausgewertet von Joseph C.M. Wachelder: Universiteit tussen vorming en opleiding. De modernisering van de Nederlandse universiteiten in de negentiende eeuw. Hilversum 1992. - Über die »Res publica literaria« jetzt: Hans Bots/Frangoise Waquet (Hg.): Commercium litterarium, 1600 - 1750. La communication dans la Republique des lettres!Interchange of Ideas in the Republic of Letters. Amsterdam/Maarssen 1994.

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Gerade im Ausbildungsbereich haben die Nationalstaaten in den vergangenen zwei Jahrhunderten aber unterschiedliche Systeme entwickelt, die einander kaum noch decken. Die Erfahrungen des neuen ERASMUS-Programms zur Förderung der Mobilität europäischer Studenten zeigen das ja überdeutlich: nicht die Wissenschaft ist von Land zu Land unverständlich geworden, sondern die Wege der Ausbildung und die Erfordernisse für die universitären Abschlußpriifungen sind jetzt so ausdifferenziert, daß die Studenten sich wohl noch in den einzelnen Fächern als Elementen des Wissenschaftssystems zurecht finden können, aber kaum mehr in der Ausbildung im ganzen, die in jedem Land anderen Wertorientierungen folgt. Selbstverständlich können hier nur einige Grundlinien der Problematik skizziert werden. Meine Betrachtung wird vom zweifachen Ziel dieser Tagung ausgehen: die Entgrenzung der europäischen Nationalstaaten fordern und zu gleicher Zeit angeben, inwiefern Begrenzung der nationalen Systeme notwendig ist, damit die soziokulturellen Gruppenordnungen, die wir Nationen nennen, ihre Identität nicht verlieren. Zunächst werde ich ziemlich tief in die Geschichte eintauchen, um die historische Dimension der Problematik zu zeigen und einige Wurzeln der Ausdifferenzierung der Universitätssysteme zu finden, soweit es die Ausbildung betrifft. Mit Absicht führe ich weit in die Geschichte zurück, weil es falsch wäre zu meinen - wie man es in den Sozialwissenschaften des öfteren hören kann - , daß die heutigen Universitätssysteme erst im 19. Jahrhundert ihre jetzige Gestalt bekommen haben und daß ein riesiger Bruch sie von der frühmodernen Universität trennt. Daß gilt vielleicht für die Universität als Gesamtsystem, ist aber sicher nicht zutreffend für die einzelnen Elemente des Systems. Auch innerhalb des neuen Systems folgen diese Elemente teilweise ihrer eigenen Dynamik und >pervertierensupranationale< Modernität des neuen Universitätssystems ein >nationales< Gesicht erhält und auch tatsächlich als ein nationales System funktioniert. Ich werde deshalb in einem zweiten Schritt zur Reflexion auf die Gegenwart zurückkehren.

Ausbildung, Staat und Gesellschaft in der Geschichte Zuerst möchte ich darauf hinweisen, daß Ausbildung vielmehr und viel unmittelbarer als Forschung auf gesellschaftliche Forderungen antwortet. Überall im Westen hat die Universität von ihrem Anfang her Gruppen von Gebildeten produziert, deren Sachkompetenz, Gruppenansehen und gesellschaftliche Qualifikationen auf ihrem akademi-

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sehen Wissen aufbauten. 3 Schon im Mittelalter haben die Doktoren der Jurisprudenz die Fiktion ihres gesellschaftlichen Adels (comes legum) mit Erfolg verteidigt und damit die dem Adel in der damaligen Ständegesellschaft entsprechenden Privilegien erhalten und bis zum Ende des Ancien Regime behauptet. Gleicherweise haben die Ärzte (doctores medicinae) schon früh von den Fürsten das Recht zugesprochen bekommen, eine Berufsorganisation zu begründen, wie ζ. B. das protomedicato in Spanien oder die Ärztekollegien in Italien und später überall in Europa. In Italien konnten manchmal sogar die Prüfung und die Verleihung der Doktorwürde in den Händen solcher Kollegien liegen, wie in Venedig, wo die medizinische >Universität< nur ein examining body war. Die Doktoren der Theologie hatten schon sehr früh ihres Doktorats wegen eine Sonderstellung im ideologischen Leben der Kirche(n) inne. Das Trienter Konzil hat diese Sonderstellung für die katholische Kirche formal bestätigt: Bischöfe und sonstige Prälaten sollten in Zukunft nur aus den Reihen der Doktoren der Theologie oder des kirchlichen Rechts gewählt werden. In den lutherischen Ländern stand der Theologieprofessor über den sonstigen Universitätsprofessoren, und Johannes Calvin betonte ausdrücklich die Präeminenz des theologischen Doktors: als Spezialist des göttlichen Wortes stand der doctor S. Theologiae weit über der alten, ungelehrten, ritualisierten Priesterschaft. Solche berufsspezifischen Sonderregelungen deuten schon früh das Dilemma der universitären Ausbildung an. Während die Universität auf dem Prinzip der übernationalen Wissensförderung gegründet ist, bildet sie die Studenten aus für die Arbeit in beschränkten intellektuellen oder fachspezifischen Bereichen, denen außerdem von den Produzenten oder Lieferanten des Wissens in der Gesellschaft (den Berufsgruppen) und dazu noch von den Konsumenten (der Gesellschaft selbst, den unterschiedlichen Interessengruppen und Individuen) bestimmte Bedingungen gestellt werden. So lange die Universität an sich als eine übernationale Struktur betrachtet wurde, das heißt bis weit ins 18. Jahrhundert hinein, haben die Fürsten und die Behörden es kaum oder überhaupt nicht gewagt, in ihre Ausbildungsstruktur einzugreifen. Die Reform der Pariser Jurisprudenz durch Colbert im Jahre 1679 war wohl einer der ersten curricularen Eingriffe von oben, weil jetzt vom König verordnet wurde, daß nicht nur das Kirchenrecht, sondern die

3

Vgl. hierzu die einschlägigen Kapitel im der neuen europäischen Universitätsgeschichte von Walter Rüegg (Hg.): A History of the University in Europe. Cambridge 1992ff„ besonders Peter Moraw: Careers of Graduates. Bd. 1, S. 244-279; Willem Frijhoff: Graduation and Careers: Intellectuals, Scientists and Professionals. Bd. 2, im Druck; Konrad Η. Jarausch: The Transformation of Higher Learning and the Rise of the Professions. Bd. 3, in Vorbereitung.

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Willem Frijhoff

beiden Rechte im Interesse des Staates an der Pariser Universität gelehrt werden sollten.4 Grenzen wurden zuerst am Ausgang der Universität errichtet: entweder protektiv, durch den Schutz landeseigener universitärer Ausbildung, oder restriktiv, um die Diplomiertenströme zu hemmen. Wenn im Jahre 1555 die neue Reichskammergerichtsordnung festlegte, daß künftige Assessoren fünf Jahre an einer vom Kaiser anerkannten Universität studiert haben sollten; oder wenn seit 1610-14 in Brandenburg die öffentlichen Ämter den Einsassen vorbehalten blieben; in den südlichen Niederlanden seit dem 17. Jahrhundert nur noch Studien in Ländern der spanischen Krone anerkannt wurden; oder der Zar Paul I. 1798 seinen Staatsangehörigen den Besuch aller ausländischen Universitäten verbot, so waren dies protektive Maßnahmen. Der Staat hat aber auch restriktiv eingegriffen. Wesentlich für die Universität als Studium generale war von alters her die licentia ubique docendi (oder medendi, soweit es die

Medizin betrifft). Gerade durch die wirklich universelle Gültigkeit der Diplome über die Grenzen von Gruppen und Staaten hinaus unterschied sie sich von den studia particularia bestimmter Berufsgruppen, ζ. B. der religiösen Orden oder sonstiger Korporationen, auch wenn die Wirklichkeit manchmal anders aussah. Formal handelte es sich um eine zweifache Universalität: territorial und personal. Diplome hatten eine transnationale Gültigkeit und waren auch nicht an die unterschiedlichen personalen Fähigkeiten gebunden. Ihr Effekt war etwa wie in der Theologie: ex opere operato, kraft der Verleihung durch die Universität. Ob er ein guter oder ein schlechter Arzt war, jeder, der sich ein Diplom verdient, erworben oder sogar gekauft hatte, konnte sich auf Grund dieses Diploms, kraft universitärer Autorität, frei niederlassen. Die Satiren eines Moliere gegen die Ärzte sind nur vor dem Hintergrund einer solchen freien Berufspraxis ohne jede wirkliche individuelle Qualitätskontrolle zu verstehen. Tatsächlich hat das alte Universitätssystem kein eigentliches examination system gekannt. Prüfungen waren meistens ritualisiert: Sie dienten nicht zur Eliminierung unfähiger Kandidaten, sondern sie qualifizierten standesgemäß. Sie konfirmierten die schon auf Grund vorheriger Riten anerkannte Zugehörigkeit des Kandidaten zum gebildeten Stand. Nur die Mediziner knüpften die Verleihung ihrer Diplome gelegentlich an bestimmte Bedingungen. Aber schon vom 17. Jahrhundert an wurden den Diplomierten von Instanzen außerhalb der Universität beim Eintritt in Berufe innerhalb von Lehre und Verwaltung Auflagen gemacht. Solche Auflagen hatten einen dreifachen Zweck:

4

L.W.B. Brockliss: French Higher Education in the Seventeenth and Eighteenth Centuries. A Cultural History. Oxford 1987, S. 277-334.

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- Kenntnisse prüfen, also faktisch das herkömmliche Ständesystem (iascription) durch eine (minimales) Leistungssystem ( a c h i e v e m e n t ) zu ersetzen; - ausfindig machen, inwiefern der Graduierte die mit der Berufspraxis verbundenen, also nicht an der Universität zu erwerbenden Fähigkeiten besaß; - den Zutritt zu den öffentlichen oder privaten Stellen zu regulieren, mit dem Erfolg, daß auch für intellektuelle Berufe und den öffentlichen Dienst so etwas wie ein Arbeitsmarkt entstand. Es ist bemerkenswert, daß nicht die staatlichen Verwaltungen, sondern die kirchlichen Behörden solche Auflagen als erste praktiziert haben, als im 16. Jahrhundert nicht nur die Verwaltung der Universitäten aus den Händen der Kirche geriet, sondern auch die Orthodoxie des von ihr vermittelten Wissens nicht mehr garantiert werden konnte. Kandidaten für eine lutherische Pfarrei mußten schon früh eine Prüfung vor dem Superintendenten oder dem Kirchenrat bestehen. In England ist seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Prüfung der anglikanischen Pfarrer ganz der Kirche überlassen worden. In Holland mißtraute die reformierte Kirche den Universitäten so gründlich, daß man die Kandidaten für das Pfarramt verpflichtete, vor den kirchlichen Behörden eine zweifache Prüfung abzulegen, wobei nur ausnahmsweise ein Universitätsprofessor zugelassen wurde.5

Universität und Staat: drei Beziehungsmuster Der Staat hat die Kirchen bald nachgeahmt. Aber schon hier kann man sehen, wie die Wechselwirkung zwischen der transnationalen Universität und den landesspezifischen staatlichen Eingriffen das Bildungssystem beeinflußte und staatsspezifische Systeme generierte. Schon während des Ancien Regime bildeten sich drei unterschiedliche Verhaltensweisen des Staates - besser: drei Muster der Beziehungen zwischen Staat und Universität-, die zum größten Teil noch heute erkennbar sind. Im ersten Falle verläßt der Staat sich auf die Fähigkeit der Universität zur Selbstreform. Sie wird entweder kritisch vom Staat begleitet oder weitgehend verordnet, ist aber schließlich Aufgabe der Universität selbst. Das war der Fall im frühneuzeitlichen habsburgischen und bourbonischen Spanien, wo der Staat nur eingriff, um den Mißständen Gren-

5

Willem Frijhoff: Inspiration, instruction, competence? Questions autour de la selection des pasteurs reformes aux Pays-Bas, XVIe - XVIIe siecles. In: Paedagogica historica 30 (1994), S. 13-38.

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Willem Frijhoff

zen zu setzen, aber immer unter Respektierung der universitären Autonomie. Im zweiten Falle mißtraut der Staat den Universitäten grundsätzlich oder versucht von außen, die Mißstände zu korrigieren bzw. Probleme zu lösen. Man sieht das ganz deutlich im frühneuzeitlichen Frankreich, wo 1766 die vom Staat eingerichtete agrigation ein öffentlich anerkanntes, meritokratisches Prinzip einführt: sechzig Lehrerstellen in Philosophie, Literatur und Grammatik werden jährlich den besten, durch ein concours (Wettbewerb) selektierten Magistern vorbehalten. Eine staatlich verordnete Kapazitätsprüfung komplettierte also das von der Universität sanktionierte Diplom und brachte dazu noch eine malthusianische Einschränkung der besten Arbeitsstellen mit. Schließlich führte das Selektionsprinzip zu einer Lehrerhierarchie, die der grundsätzlichen Gleichheit der alten Diplome ganz entgegenstand, den Bedürfnissen des entstehenden Arbeitsmarktes der akademischen Berufe und der Staatsführung aber entsprach. In den deutschen Ländern wurden bereits vom Ende des 17. Jahrhunderts an Kapazitätsprüfungen durchgeführt: Friedrich I. hatte eine solche Prüfung schon 1693 für die preußischen Juristen eingeführt. Mit der Entwicklung der Kameralwissenschaften als akademischer Disziplin (Halle und Frankfurt/Oder, 1727), welche die Mängel in der bisherigen universitären Ausbildung aus Verwaltungssicht korrigieren sollten, ging der Staat noch einen Schritt weiter. Diese preußische Reform und diejenige Colberts sind wohl als die ersten Schritte anzusehen, das Universitätssystem auch von innen her zu reformieren und dabei den Staatsinteressen anzupassen, d. h. eine staatsspezifische Universitätsausbildung zu begründen. Schließlich ist Preußen noch einen letzten Schritt weiter gegangen mit der Einführung des Immatrikulationspatents (1708) und des Abiturs (1788), zwei Maßnahmen, die den Zugang zur Universität regulieren sollten. Im dritten Fall wird die Universität für so total reformunfähig gehalten, daß der Staat sie ganz zu vereinnahmen sucht und sein eigenes Ausbildungsmodell den alten, herkömmlichen, transnationalen Universitätsstrukturen überstülpt. Das klarste, nie so vollständig wiederholte Beispiel ist hier die Reform der Universität in Piemont in den Jahren 1719-1729.6 Zuerst ist es Victor Amadeus II. von Savoyen gelungen, die Korporationen, welche die universitäre Ausbildung beherrschten, auszuschalten: den Berufskollegien von Ärzten und Juristen wurde die Kontrolle der Medizin und Jura genommen, den religiösen Orden und Kongregationen jene der Philosophie und Theologie. Im so entstandenen Vakuum konnte ein neues Ausbildungssystem gestaltet werden, das

6

Marina Roggero: II sapere e la virtu. Stato, universita eprofessioni Settecento ed. Ottocento. Turin 1987.

nel Piemonte tra

Universität

und

Ausbildung

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eine genaue Äquivalenz zwischen drei universitären und gesellschaftlichen Parametern erstrebte: die universitären Vorlesungen, die Diplome und die Karriereperspektiven sollten genau aneinander anschließen. Weil die Wissenschaft ja in Akademien untergebracht war, garantierte Staatskontrolle so eine vollständig professionalisierte Universität. Diese hatte einerseits meritokratische Tendenzen, weil eine gewisse Zirkulation der Eliten absichtlich einkalkuliert und vorgesehen war, andererseits malthusianische Neigungen, weil nicht mehr Studenten zugelassen werden sollten als es amtliche Arbeitsstellen gab oder als Mitglieder der intellektuellen Berufe erforderlich waren. Dieser antikorporatistische Durchbruch der herkömmlichen Universitätsstruktur öffnete schließlich den Weg für die Eingliederung von einer Reihe bisher nicht für universitätsfähig gehaltener Berufe und ihrer Ausbildung in die Universität: Ingenieur, Architekt, Wundarzt, Geometer usw. Der Fall Piemonts ist aufschlußreich, weil er in einem einzigen Reformversuch alle Probleme des Verhältnisses zwischen Staat und Universität zu lösen versucht hat: -

durch Einschränkung und Regulierung des Akademikerstroms; durch eine bestimmte Marktorientierung der Ausbildung; durch einmalige Kontrolle der Berufsfähigkeit, um einen unnötigen Akademikerverlust oder das Entstehen eines akademischen Proletariats zu vermeiden; - durch Meritokratie statt Herkunftsprivilegien, achievement statt ascription; - letzten Endes durch prinzipielle Aufhebung des binären Systems, d. h. des seit dem 18. Jahrhundert in den meisten europäischen Ländern mehr oder weniger eindeutig entwickelten Systems, in welchem die Universität sich den >reinenNationalsystem< verstehen, weil die Nation emotional in die Universität investiert und sich von dieser Ausbildung neue Impulse zur Stärkung des nationalen Zusammenhalts, des >Nationalgefühls< und der nationalen Integration verspricht.

Ausdifferenzierung in der Neuzeit Im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts haben sich die europäische Universitäten als >Nationalsysteme< gegliedert und auskristallisiert.8 Während die Wissenschaft (international umgestaltet wurde, hat sich die Ausbildung immer mehr auf gesellschaftliche oder staatliche Bedürfnisse hin orientieren müssen. Im wesentlichen schließen die unterschiedlichen Systeme ziemlich genau an die oben skizzierte Entwicklung an. Die Tendenzen haben sich mit mehr oder weniger Verspätung in allen europäischen Ländern weitgehend uniform durchgesetzt. Nur ist das Ergebnis schließlich je nach landesspezifischen Bedingungen ausgefallen: Forschung und Ausbildung sind nicht überall auf dieselbe Weise verkoppelt, genau so wenig wie Universität und Hochschule. Auch hat der Staat das Universitätssystem in unterschiedlichem Maße als ein zentrales Verwaltungsanliegen und ein Verwaltungsproblem definiert. Es ist wichtig, hier näher auf solche Wahlelemente einzugehen. Obwohl die Varianten selbstverständlich zahllos sind und jedes Land einen eigenen Fall bildet, ist es für unser Thema am besten, die Unterschiede auf einige einfache Begriffspaare zu reduzieren, wie es faktisch denn auch von den Zentralverwaltungen und den Politikern getan wird, um die Alternativen besser in den Blick zu bekommen. Tatsächlich kann jeder nationale Sonderfall als eine spezifische Kombination mehrerer solchen Alternativen analysiert werden. Folgende Begriffspaare kommen dann jedenfalls zum Zuge: 1. Gesamtsystem vs. binäres System: Entweder die Universität umfaßt alle Wissenschaften und Künsten, einschließlich technische Forschung und Berufs- oder angewandte Ausbildung, oder Wissenschaft und Technik/Berufsausbildung fahren in Universität bzw. Fachhochschule auf unterschiedlichen, manchmal auch vollständig verschiedenen Gleisen. Man muß dabei bedenken, daß die >Verschulung< der Ausbildung in mehreren hochqualifizierten Berufen ein sehr langer Prozeß

Vgl. hierzu noch immer: Fritz K. Ringer: Education and Society in Modern Europe. Bloomington/London 1979; Konrad H. Jarausch (Hg.): The Transformation of Higher Learning, 1860-1930. Chicago 1983.

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gewesen ist.9 In den Niederlanden ζ. B. gilt das binäre System. Das hängt sicher damit zusammen, daß die technischen Berufsausbildungen dort erst sehr spät >verschult< wurden, im 19. Jahrhundert, als die neuhumanistische Universität schon nicht mehr imstande war, sie aufzunehmen, ohne sich selbst grundsätzlich im Frage zu stellen. Aber von der Seite der staatlichen Obrigkeit her ist nicht Ausbildung, sondern Forschung das entscheidende Motiv der heutigen Zweigleisigkeit. Universitäten sind da immer Forschungsinstitutionen, Fachhochschulen in keinem Fall. An den Universitäten wird aber die Mehrzahl der Studenten faktisch ja überhaupt nicht zu Forschern ausgebildet. Es stellt sich also die Frage, inwiefern das binäre System bloß historische Ursachen hat und sich selbst nur durch didaktisch überholte, aber gesellschaftlich starke Legitimationen am Leben hält: es schafft soziale und finanzielle Unterschiede zwischen Berufs- und Karriereperspektiven und garantiert eine gewisse Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt. Außerdem wird es von den professionalisierten Akademikerständen mit ihren korporatistischen Interessen (Ärzte, Tierärzte, Notare, Anwälte, Ingenieure usw.) gestützt. 2. Ausbildung vs. Forschung: Die Universität sieht sich selbst als eine Forschungsgemeinschaft, ist aber immer auch eine Ausbildungsstätte. Je nach den europäischen Ländern sind Wissenschaft und Forschung mehr oder weniger integral im Universitätssystem Inbegriffen und, zweitens, mehr oder weniger organisch mit der Ausbildung verbunden. Dieses Begriffspaar führt zur Unterscheidung zwischen praktischer (oder markt-)orientierter, d. h. problemdefinierender und problemlösender Ausbildung und mehr theoretisch orientierter, d. h. disziplingerichteter Ausbildung (oder Bildung). England bietet das Beispiel eines Staates, wo die Ausbildung auf der ersten Stufe so generell ist, daß sie fast keine Anknüpfungspunkte für einen Forschungsauftrag der Dozenten bietet, welcher aber gleichwohl im universitären Raum erledigt werden soll. In Frankreich dagegen, wo die meiste Forschung in Sonderinstituten und grandes ecoles untergebracht wurde, bleibt die übrige universitäre Forschung eng verbunden mit der Ausbildung der Studenten, die eine mehr spezialisierte und wissenschaftsgerichtete Prägung hat, trotz der Verschulungstendenzen der letzten Jahrzehnte. 3. Grundwissen vs. Fachwissen: Das bringt uns zum Unterschied zwischen generellem und spezialisiertem Studium, einfacher: zwischen

9

Robert R. Locke: The End of the Practical Man. Entrepreneurship and Higher Education in Germany, France and Great Britain, 1880-1940. Greenwich, Conn./London 1984; Peter Lundgreen: Engineering Education in Europe and the USA, 17501930. The Rise to Dominance of School Culture and the Engineering Profession. In: Annals of Science 47 (1990), S. 33-75.

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Grundwissen oder Fachwissen als Hauptziel der Ausbildung. 10 Obwohl es für englische Studenten sicher nicht unmöglich ist, ihre Ausbildung in Frankreich fortzusetzen, stellt sich immerhin die Frage, ob Engländer und Franzosen wohl auf gleiche Weise mit demselben Lehrstoff umgehen. Der Unterschied zwischen generellem Grundwissen und spezialistischem Fachwissen trifft nicht nur auf die heutigen Nationalsysteme zu, sondern ist auch auf allen Stufen und in allen Formen der Universität in der Vergangenheit anzutreffen. Überall und immer hatten und haben bestimmte Ausbildungsfelder einen generellen Wert, andere einen mehr spezialistischen. Diese Bewertungen verschieben zusammen mit den gesellschaftlichen Voraussetzungen den Ausbildungsauftrag der Universität: Manchmal schafft die Jurisprudenz das von der Gesellschaft für wesentlich gehaltene Grundwissen, manchmal die Mathematik, die Sozial- oder die Geisteswissenschaften. So kann man auch in der Universitätsgeschichte Perioden erkennen, in denen die Akzente wechselten: ganz grob gesehen war im Mittelalter die Theologie die am meisten generelle Wissenschaft, später waren es die Philologie (16. Jh.), die Medizin und die Naturwissenschaften (17. Jh.), die Jurisprudenz (18. Jh.), die Philosophie (19. Jh.). Das Curriculum einer solchen Hauptdisziplin des universitären Gebäudes wird häufig durch Hinzufügung von Elementen anderer Disziplinen im Sinne eines gesellschaftlichen Grundwissens umgestaltet. Gerade in solchen als generell angesehenen Wissenschaftsbereichen werden die Grenzen der Ausbildung unklar: weil jede Gesellschaft ihre eigenen Ansichten und Prioritäten einbringt, können solche Fächer am Ende der Entwicklung von Land zu Land außerordentlich verschieden sein. So kann in Frankreich Geschichte als eine Sozialwissenschaft wahrgenommen werden, während das im Benelux fast nie der Fall ist, obwohl sie in allen jenen Ländern weitgehend als eine generalistische Ausbildungseinheit funktioniert, mit zahlreichen Verbindungen zu den Literatur-, Kultur- und Sozialwissenschaften. Dort wo die Universitätsausbildung generell ist, soll die Berufsausbildung (Forschungsausbildung Inbegriffen) entweder auf einer zweiten Stufe innerhalb der Universität, in Fach(hoch)schulen oder am Arbeitsplatz außerhalb der Universität stattfinden. Dagegen tendieren spezialistische Studien dazu, die ganze Ausbildung in einem einzigen Studiengang unterzubringen und innerhalb der Universität zu monopolisieren. Die Spannung zwischen diesen beiden Lösungen äußert sich schon innerhalb der Universität, aber noch mehr zwischen nationalen Ausbildungssystemen. Sie macht Studiengänge aus verschiedenen Ländern

10

Für Frankreich ζ. B.: Fritz K. Ringer: Fields of Knowledge. French Academic in Comparative Perspective, 1890-1920. Cambridge 1991.

Culture

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Frijhoff

weitgehend unvergleichbar, zwar nicht immer inhaltlich, wohl aber nach Zielsetzung und Tonalität. 4. Zentralverwaltung vs. universitäre Autonomie: Das vierte Begriffspaar betrifft die Rolle des Staates, hier zu verstehen als die zentrale Obrigkeit und Verwaltung. Es gibt riesige (nicht nur finanzielle) Unterschiede in Gestaltung und Flexibilität der Universitätssysteme zwischen Ländern, wo die zentrale Staatsgewalt zielsetzend wirkt und weitgehend in die Ausgestaltung der Einzelheiten der Ausbildung eingreift, wie in Frankreich, Deutschland und den Niederlanden, und jenen Ländern, wo die Universität vor allem lokal verwaltet wird und ihr eine bestimmte, mehr oder weniger hohe, manchmal sogar vollständige Autonomie oder Selbstverwaltung gewährt wird, wie in Großbritannien oder in den Vereinigten Staaten. Manche Universitäten sind dort wie Privatunternehmen organisiert, und Marktorientierung des Studiums ist eher die Regel als die Ausnahme. Damit ist auch die Hauptbedingung geschaffen für die Entstehung von Elite-Universitäten gegenüber billigerem Massenunterricht. Hinzu kommen zwei weitere Unterschiede, die gerade für die Ausbildung sehr wichtig sind. Erstens die Frage, ob die Mehrzahl der Arbeitsstellen für Akademiker in staatlichen (oder sonstwie öffentlichen) Händen ist, oder aber zum halböffentlichen oder sogar privaten Sektor gehört. Wo der Staat nicht nur am Anfang, sondern auch am Ende des Universitätssystems steht (wie im allgemeinen auf dem europäischen Kontinent der Fall), ist ein staatliches Regulierungsbedürfnis zu erwarten und oft auch tatsächlich unvermeidlich. In anderen Ländern kann der Staat weitgehend zurücktreten und den Arbeitsmarkt wirken lassen. Er tut das aber nicht immer, weil Ausbildung manchmal auch als ein Staatsanliegen von allgemeinem Wert gesehen wird, also aus politischen und ideologischen Gründen gefördert werden soll. Zweitens werden die Universitätssysteme weiter differenziert durch die jeweils herrschende Qualifikationsinstanz. Dabei ist die Frage, ob die Qualifikationskriterien der Ausbildung von den öffentlichen Behörden festgesetzt werden, von der Universität (als Ausbildungsmakler) oder vom Arbeitsmarkt (also korporativ)? Im ersten Falle ist normalerweise eine nationale Gültigkeit der Diplome das Endziel und wird tatsächlich ein nationaler credential market geschaffen, der dann aber von zusätzlichen Kriterien weiter unterteilt wird. Man sieht das ganz deutlich in Frankreich, wo auf der ersten Stufe von der Universität Nationalzertifikate ausgestellt werden, die aber erst auf einer zweiten Stufe durch concours, also weitere Formen der sozio-kulturellen Selektion und gesellschaftlichen Stufung, ihren wirklichen Marktwert erhalten. Anderswo fängt man von unten her mit der Selektion an, durch Zulassungskriterien beim Eintritt ins Universitätssystem, ζ. B. durch einen numerus clausus oder numerus fixus und entsprechende zusätzliche Forderungen.

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5. Institutionelle Unizität vs. Multiplizität: Ein fünftes Begriffspaar betrifft die institutionelle Unizität oder Multiplizität des ganzen Ausbildungssystems oder sogar des einzelnen Ausbildungsstranges. Ist die Ausbildung innerhalb eines bestimmten Faches oder für einen bestimmten Beruf immer an einem einzigen Schultypus orientiert, oder gibt es mehrere Ausbildungsgänge oder -instanzen? Der deutlichste Fall ist auch hier wieder Frankreich. Seit genau zwei Jahrhunderten funktioniert dort neben dem Universitätssystem eine Reihe von grandes έcoles, wo universitäre Wissenschaften gelehrt werden, aber mit unterschiedlicher Zielsetzung und verschiedenen Berufsperspektiven. Jetzt werden überall in Europa solche grandes icoles-aitigen, para-universitären Schulen gegründet. Es ist kaum verwunderlich, daß sie, genau wie vor 200 Jahren, dort ansetzen, wo das herkömmliche Universitätssystem sich als zu unflexibel erwiesen hat. Vor zwei Jahrhunderten waren das die Technik und die Naturwissenschaften. Jetzt, im Kontext einer ganz vom Staat im Anspruch genommenen Universität, sind es die Betriebswissenschaften, business administration, in oft direkter Konkurrenz mit dem universitären Wirtschaftswissen. Es wäre leicht möglich, weitere solcher Begriffspaare zu definieren. Was im Zusammenhang unserer Problematik wichtiger erscheint, ist aber die Erkenntnis, daß durch alle Reformen hindurch gewisse Grundkennzeichen und Grundoptionen der Nationalsysteme weitgehend intakt bleiben und sich nur sehr langsam ändern, gerade weil sie die Jahrhunderte hindurch von bestimmten regional oder national bedingten Umständen und einem bestimmten Verhältnis zwischen Ausbildungssystem, gesellschaftlicher Umwelt und staatlichem Auftreten geschaffen und ausgeprägt worden sind. Modernisierung, Demokratisierung usw. ändern schließlich nur sehr langsam das System an sich als Gesamtsystem. Sie machen eher die Problemfelder kenntlich, enthüllen die Spannungen innerhalb des Systems und zeigen, wo eingegriffen werden soll. Gegenkräfte verhindern dann aber manchmal eine tatsächliche Umgestaltung. Dabei darf man nicht vergessen, daß das Selbstbild der Universitäten nicht nur die sichere Gewähr für Kontinuität, sondern öfter auch der größte Feind jeder Wandlung sein kann. Was unsere Problematik angeht, so muß man feststellen, daß die Universitätsdozenten sich überall viel mehr einer Forschungs- als einer Ausbildungsgemeinschaft zugehörig fühlen. Und weil die Forschung viel internationaler wirkt als die Ausbildung, glauben sie leicht, daß auch ihr Ausbildungssystem ohne weiteres auf internationaler Ebene funktionieren kann - daß es tatsächlich also nur noch ein kleiner Schritt zum gesamteuropäischen Universitätssystem, zur europäischen Universität ist. Obwohl das sicher ein lobenswertes Ideal ist, sollten gerade die Akademiker hier ihren kritischen Habitus nicht verlieren.

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Willem Frijhoff

Zur europäischen Universität? Muß es wirklich unbedingt eine europäische Universität geben? Die heutige Lage kennzeichnet sich m.E. durch viel Nostalgie, manchmal gegründet auf Pseudo-Wissenschaft. Nehmen wir das Beispiel der Studentenmobilität, das ERASMUS-Programm. Politiker und Intellektuelle träumen von einem grenzenlosen Europa und meinen sein Vorbild in der ungeteilten, präreformatorischen Christenheit zu erkennen. Sie vergessen, daß es auch im Mittelalter Grenzen, Reiche und Nationen gab, und daß die Studenten sicher nicht immer freiwillig, frisch und fröhlich quer durch Europa zogen, sondern in den meisten Fällen weit weggehen mußten, weil es keine Universität in der Nähe gab. Die Universitätsgeschichtsforschung der letzten Jahrzehnte zeigt ganz klar, daß es nie so etwas wie ein irdisches Paradies der Studentenmobilität gegeben hat: sobald es eine Universität im eigenen Lande gab, blieben die Studenten in großer Mehrzahl zuhause. Die Ausnahmen sind ganz spezifisch: Jurisprudenz im mittelalterlichen Bologna, Theologie im damaligen Paris, Medizin in Padua und später in Leiden (16.-18. Jh.), Naturwissenschaften in Deutschland im 19. Jh. Im übrigen sind die Studenten aus den südeuropäischen Ländern mit einer alten Universitätstradition (Frankreich, Italien, Spanien) in der Vergangenheit kaum auf Reisen gegangen. Erasmus selbst hat erst als Wissenschaftler Europa durchquert; als Student ist er einfach dem Hauptstrom gefolgt und nicht weit von zuhause weggegangen. Die jetzigen Probleme des ERASMUS-Programms zeigen ganz klar, wie schwierig es ist, von einem europäischen Universitätsraum zu reden. Abgesehen vom Fehlen einer gemeinsamen Sprache sind die Studiengänge und -programme so verschieden, die Grenzen zwischen den Disziplinen von Land zu Land so unklar, die Qualifikationstypen so wechselnd, daß ein kurzer Aufenthalt an einer ausländischen Universität zwar inhaltlich interessant sein kann, aber ohne eine mehr eingreifende und längere Anteilnahme am Programm einer solchen Universität kaum einen didaktischen Zweck hat und die meisten Studenten auch tatsächlich enttäuscht oder sogar desorientiert. Selbstverständlich soll man diese Erkenntnis nicht als ein Plädoyer gegen die Studentenmobilität auffassen - ganz im Gegenteil. Massenaustausch hat m.E. aber nur wirklich Sinn, wenn der Student das Fragment der Ausbildung, das er im Ausland erwirbt, nicht als ein verdinglichtes Stückchen Wissenschaftstranfer konsumiert, sondern es als Teil eines institutionellen Systems und eines personalen Netzwerks verstehen kann und außerdem lernt, zweckmäßig damit umzugehen, um tatsächlich Europa weiter aufzubauen. Selbstverständlich werden die Universitätssysteme sich in der Zukunft weiterentwickeln. Es ist durchaus möglich, daß auch die Ausbil-

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dungssysteme immer näher zueinander kommen werden, weil die (über-)staatlichen Impulse es so wollen. Und wenn eine europäische Instanz die Verantwortung übernehmen würde, wird die Tendenz sich beschleunigt fortsetzen. Die heutigen Ausbildungssysteme zeigen aber ein heikles Gleichgewicht zwischen historisch geprägter universitärer Ausbildungskapazität, staatlichen Erfordernissen und gesellschaftlichen Bedürfnissen - die letzten nicht nur in Hinsicht auf Beruf und Arbeitsmarkt, sondern auch auf intellektuelle Prägung. Wenn eine dieser Komponenten das Gleichgewicht übereilt zerstört, entfalten sich alternative Möglichkeiten. Wo heute die staatlichen Behörden die Universität überregulieren und dem System seine Flexibilität nehmen, tauchen private Initiativen auf: amerikanische (Webster, Newport) und japanische U n i versitäten^ corporate colleges, aber auch konfessionell oder ideologisch geprägte Ausbildungsinstitutionen wachsen überall schnell, auch wenn die staatliche Verwaltung es manchmal vorzieht, die Augen davor zu schließen. Es ist sicher nicht unmöglich, daß öffentliche und private Universitäten in den nächsten Jahrzehnten in jedem europäischen Staat ein neues Begriffspaar bilden werden. Erst dann wird das Qualifikationsproblem der Ausbildung sich wirklich stellen. Entgrenzung oder Begrenzung? Wird es je eine total entgrenzte europäische Universität geben? Ich glaube es nicht, eben weil Ausbildung mit konkreten Bedingungen zu tun hat und bis zu einem gewissen Punkt in der gesellschaftlichen Wirklichkeit verwurzelt ist. Wir müssen aber daran arbeiten, daß die Universitätssysteme gerade als Systeme für jedermann klar erkennbar und unterscheidbar werden. Erst dann werden Migration, Austausch und Wechsel nicht nur auf der Ebene der Forschung, sondern auch auf jener der Ausbildung wirklich Resultate erzielen. Und dann wird Europa einen Schritt näher gekommen sein.

R. Steven Turner

Unterschiedliche Formen der Universitätsorganisation und der Forschungsförderung Der merkwürdige Fall der Physik um 1900

Am Ende des 19. Jahrhunderts bestanden zwischen den verschiedenen nationalen Universitätssystemen bedeutende Unterschiede in Organisation, Denkrichtung und Verwaltung. Allen gemeinsam war zu dieser Zeit jedoch die Unterstützung und Förderung der Forschung und der Ausbildung für die Forschung. Als institutionelle Zentren naturwissenschaftlicher Forschung erlebten die Universitäten wohl kurz nach 1900 einen Höhepunkt ihrer Bedeutung: danach wurden zunehmend andere Institutionen wichtig für die Forschung. Angesichts der unterschiedlichen staatlichen Universitätssysteme stellt sich die Frage, ob es uns der nachträgliche Blick auf die Geschichte erlaubt, das jeweilige Potential und die Errungenschaften dieser verschiedenen Universitätsmodelle in der Forschungsförderung zu beurteilen. Für die akademische Forschung im allgemeinen ist das sicherlich nicht sinnvoll. Doch zumindest in einer naturwissenschaftlichen Disziplin, in der Physik, könnte die vorhandene historische Literatur diese Einschätzung möglich machen. 1975 schlossen sich drei führende amerikanische Physikhistoriker, Paul Forman, John L. Heilbron und Spencer Weart zusammen, um eine detaillierte vergleichende Studie über Personal, finanzielle Grundlagen und Forschungsproduktivität der Physik in akademischen Systemen auf der ganzen Welt um 1900 zu erstellen, mit besonderem Augenmerk auf Frankreich, Deutschland, das Vereinigte Königreich und die USA. Sie stellten fest, daß »akademische Physiker« aus den untersuchten Institutionen ungefähr 75 Prozent aller um 1900 erschienenen Veröffentlichungen aus der Physik herausbrachten, mit überraschend geringen Abweichungen unter den einzelnen nationalen Gemeinschaften.

Unterschiedliche Formen der

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Daraus folgerten sie, daß man »Physik« um 1900 annähernd mit »akademischer Physik« gleichsetzen könne.1 Die wichtigsten Schlußfolgerungen der Studie zeigt Tabelle I (s. Anhang zu diesem Aufsatz). Die Ergebnisse machen deutlich, daß um 1900 sowohl die Pro-KopfZahl der Physiker als auch die Ausgaben für die Physik pro Einheit des Bruttosozialprodukts in den »großen vier« Ländern Frankreich, Deutschland, Vereinigtes Königreich und USA faktisch gleich waren. Die Ergebnisse schwankten lediglich von einem Höchststand von 2,9 akademischen Physikern auf eine Million Menschen der Gesamtbevölkerung in Deutschland und im Vereinigten Königreich bis zu einem Tiefststand von 2,8 auf eine Million Menschen in Frankreich und in den Vereinigten Staaten. Sie unterschieden sich nur in einem Höchststand von 4,8 Physikern auf 108 Mark des staatlichen Einkommens in den USA und einem Tiefststand von 4,3 in Frankreich. Bei den Bruttoproduktivitätsraten (siehe dazu Tabelle Ε 3 im Anhang zu diesem Aufsatz) ergaben sich größere Unterschiede, im großen und ganzen jedoch zeigte sich eine bemerkenswerte Gleichheit. Veröffentlichungen pro Jahr pro Physiker schwankten nur von 1,7 bis 2,0 wissenschaftlichen Aufsätzen pro Jahr in Frankreich, Deutschland und Großbritannien; Veröffentlichungen pro Einheit der unmittelbaren Ausgaben für Laboratorien unterschieden sich in diesen Ländern kaum. Die Produktivität in Italien und in den Vereinigten Staaten lag deutlicher zurück, trotzdem aber befand

1

Paul Forman/John L. Heilbron/Spencer Weart: Physics circa 1900. Personnel, Funding and Productivity of the Academic Establishments. In: Historical Studies in the Physical Sciences 5 (1975), S. 1-185. In »akademische Einrichtungen« waren auch die deutschen und österreichisch-ungarischen Technischen Hochschulen und die Zürcher ΕΤΗ eingeschlossen, obwohl die Autoren bemerken, daß viele dieser Institutionen keine eigenen Forschungseinrichtungen in der Physik besaßen und kein fortgeschrittenes Studium ermöglichen konnten; selbst an der Zürcher ΕΤΗ sollen 1900 nur wenige fortgeschrittene Studenten eingeschrieben gewesen sein (S. 10f.). Die meisten französischen grandes ecoles sind miteinbezogen worden (jedoch nicht die Ecole Superieure d'Electricite); nur vereinzelte andere technische Ausbildungsanstalten wurden als bedeutsam für die akademische Physik berücksichtigt. Die Studie drückte Ausgaben in Deutsche Mark nach den Wechselkursen von 1900 aus, mit der Ausnahme, daß amerikanische Ausgaben mit einem konstanten Faktor multipliziert wurden, um die von den Autoren so beschriebene »geringere Forschungskaufkraft« des Dollars gegenüber der Mark zu berücksichtigen. Die Autoren stellten bedeutende Unterschiede in der Qualität der Daten fest. So basierten ihre Angaben für Amerika auf Informationen von einundzwanzig führenden Institutionen, die mit einem festen Faktor multipliziert wurden, um den Stand der Physik und die Ausgaben für die Physik in den vielen anderen amerikanischen Colleges und Universitäten abzudecken. Den Produktionsraten lagen kombinierte Zählungen von Physik-Veröffentlichungen aus den Registern des Royal Society Catalogue of Scientific Literature, der Science Abstracts, der Fortschritte der Physik und der Beiblätter zu den Annalen der Physik zugrunde.

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auch sie sich immer noch überraschend nahe an den führenden Nationen. Die Autoren nutzen diese Daten, um ihre eher bescheidene Schlußfolgerung zu belegen, daß »das wissenschaftliche Leben in der Physik um 1900 zumindest in Nordeuropa einen internationalen Charakter angenommen hatte.«2 Obwohl die Autoren den »unbestimmten Charakter und die fragwürdige Deutung« der numerischen Ergebnisse freimütig eingestehen, verleiht ihr eigener Sachverstand und das historische »Gefühl« für den Stand der Physik um die Jahrhundertwende ihren Schlußfolgerungen einen hohen Grad an Glaubwürdigkeit.3 Die Studie an sich wirft interessante Fragen auf, die über die Geschichte der Physik im engeren Sinne hinausgehen und zu den Hauptanliegen dieser Tagung führen. Können auch andere Disziplinen als die Physik eine ähnliche multinationale Konvergenz in ihren Produktivitätsraten aufweisen? Oder stellt das Ergebnis sogar in der Physik nur eine zeitweilige Übereinstimmung verschiedener statistischer Maßstäbe dar, die sich mit unterschiedlicher Schnelligkeit verändern? In einigen Punkten übernehmen die Autoren diese Interpretation und präsentieren abweichende Daten, die diese Deutung untermauern könnten.4 Die interessanteste Frage, die sich aus der Studie ergibt, ist folgende: Sind die Ergebnisse für uns überhaupt erstaunlich und bedürfen sie einer weiteren Erklärung? Schließlich erwarten wir doch, daß ausgereifte Naturwissenschaften wie die Physik »international« sind; wir glauben vorhersagen zu können, daß die Bildung und das Wachstum von Disziplinen die nationalen Unterschiede nach und nach beseitigen werden. 5 Dennoch muß ich zugeben, daß ich die zentrale Schlußfolge2

3

4 5

Ebd., S. 6, 19, 128. Tatsächlich gehen die Autoren noch weiter und versuchen, die Anzahl der »Arbeitsjahre«, welche allein der Physikforschung gewidmet waren und das Verhältnis von Gesamtausgaben, die sich allein auf die Forschung bezogen, abzuleiten. Die Ergebnisse, dargestellt in Tabelle Ε 5 (nicht beigefügt), zeigen, daß die »Netto«-Produktivitätsraten für Frankreich, Deutschland und Großbritannien sich noch ähnlicher sind als die Brutto-Raten, wobei die USA etwas zurückliegen. Wenn man die gleichen Reduktionskoeffizienten auf die italienischen Brutto-Zahlen anwendet, welche die Autoren für Frankreich annehmen, so weist die italienische Netto-Produktivität eine starke Ähnlichkeit mit den Raten auf, die in den Vereinigten Staaten erzielt wurden; sie übersteigt die Zahlen der USA leicht in Veröffentlichungen pro Einheit der Gesamtausgaben und liegt in den Zahlen für Veröffentlichungen pro Arbeitsjahr in der Physikforschung leicht zurück (ebd., S. 120-127). Vgl. die Vorbehalte geäußert von Silvana Galdabini/Giuseppe Giuliani: Physics in Italy between 1900 and 1940: The Universities, Physicists, Funds, and Research. In: Historical Studies in the Physical and Biological Sciences 19/1 (1988), S. 115-136. Formanetal. [Anm. 1] S. 8,116. Meines Wissens wurde die Forman-Heilbron-Weart-Studie nicht mit anderen Studien über Wissenschaftsindikatoren verglichen. Derek J. de Solla Price stellte fest, daß das Verhältnis der meisten Wissenschaftsindikatoren (wie etwa Veröffentlichungen pro

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rung der Studie immer als höchst überraschend und gleichzeitig äußerst wichtig eingeschätzt habe. Was vom Standpunkt der Wissenschaftsgeschichte oder der Geschichte der Physik als vorhersagbar eingeschätzt werden könnte, erscheint vom Standpunkt der komparativen Universitätsgeschichte als sehr unwahrscheinlich. Es waren zumindest drei Faktoren, die zu dieser unerwarteten Übereinstimmung der Raten in der Forschungsförderung und Produktivität in den unterschiedlichen nationalen Universitätssystemen geführt haben, Systemen, die sich um 1900 noch so gründlich in Organisation, Auftrag und Verwaltung unterschieden. Ein Faktor war sicherlich eine allmähliche Entwicklung der verschiedenen Volkswirtschaften hin zu einem Zustand der allgemeinen technologischen Abhängigkeit von der Physik und von der Ausbildung in Physik. Am Ende des 19. Jahrhunderts näherten sich einerseits Systeme der technologischen Ausbildung und andererseits Systeme der akademisch-wissenschaftlichen Ausbildung aneinander an und verschmolzen; neue Studentengruppen von Ingenieuren und Technikern lösten eine steigende Nachfrage nach praxisbezogener Ausbildung und grundlegenden Laborkursen in Physik aus, die im späten 19. Jahrhundert dann überall verbreitet waren.6 Physiker zogen fortgeschrittene Studenten aus den Reihen dieser Praktiker an sich und nutzten die große Nachfrage, um höhere Etats (von denen ein Teil auch Forschungszwecken zugeführt werden konnte), ausgedehntere Laboratorien und wissenschaftliche Assistenten zu fordern. Dieser allgemeine Aufwärtstrend bei den verfügbaren finanziellen Mitteln trug sicherlich dazu bei, daß die Pro-Kopf-Raten in der Forschung übereinstimmten, wie es bei Forman et al. gezeigt wird. Die Voraussetzungen, um diese Forderungen zu begründen, können hier nur angedeutet werden.

6

Jahr) zum Bruttosozialprodukt in allen Staaten während der späten 1960er Jahre annähernd gleich war, doch konnte er keine solche Konstanz für das Verhältnis von Wissenschaftsindikatoren zur Bevölkerung erkennen. Forman et al. bemerkten, daß das Verhältnis von Ausgaben für die Physik zum Bruttosozialprodukt und das Verhältnis von Physikern zur Bevölkerung in westlichen Nationen um 1900 relativ konstant waren. Price beobachtete außerdem »eine deutliche Tendenz hin zu relativ ansteigenden Raten [in Wissenschaftsindikatoren], die mit steigender [wissenschaftlicher] Bedeutung der Nation wieder abnahmen.« Ein solcher Zusammenhang mußte die Ubereinstimmung zur Folge haben, welche Forman et al. beobachteten. (Derek J. de Solla Price: Little Science, Big Science... and Beyond. New York 1986, S. 142f„ 197f.). Vgl. Peter Lundgreen: The Organization of Science and Technology in France: A German Perspective. In: Robert Fox/George Weisz (Hg.): The Organization of Science and Technology in France 1808-1914. Cambridge 1980, S. 311-332; Alan Beyerchen: On the Stimulation of Excellence in Wilhelmian Science. In: Jack R. Dukes/Joachim Remak (Hg.): Another Germany: A Reconsideration of the Imperial Era. Boulder, Colorado 1988, S. 139-168.

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So war die Gründung der frühesten englischen Ausbildungslaboratorien in der Physik eng mit der Entwicklung und steigenden Nachfrage nach Telegraphie und Elektrotechnik verbunden, und auch in Kanada waren unter den ersten Forschungsstudenten in der Physik Ingenieure. Studien haben gezeigt, daß um 1900 Studenten der Ingenieurwissenschaften die Hälfte der eingeschriebenen Studenten der Physik in den naturwissenschaftlichen Fakultäten Frankreichs und Italiens stellten.7 Dennoch ist die Bedeutung dieser Gruppen technischer Studenten nicht selbstverständlich. In Deutschland entfernten sich Elemente des Ingenieurstudiums eher von den akademischen und wissenschaftlich fundierten Formen der Ausbildung.8 Andere Gruppen, wie etwa Lehrer für Naturwissenschaften an höheren Schulen oder Ärzte, mögen wichtiger gewesen sein für die Erwartung einer stärker pädagogisch orientierten Ausbildung.9 Eine solche konnte aber nicht unbedingt mit der Nachfrage nach spezialisierten Physikern und ihrer Forschungstätigkeit gleichgesetzt werden. Obwohl die Gruppe der praktisch orientierten Studenten rasch anwuchs, gab es bei der tatsächlichen Zahl der fortgeschrittenen Studenten, die sich auf Physik spezialisierten, um 1900 entweder eine Stagnation oder einen leichten Rückgang in fast allen akademischen Systemen.10 Die internationale Übereinstimmung im Bereich der Forschung kann auch durch einen zweiten Faktor, die Entstehung einer Disziplin, erklärt 7

Romualdas Sviedrys: The Rise of Physics Laboratories in Britain. In: Historical Studies in the Physical Sciences 7 (1976), S. 405-436; ders.: The Rise of Physical Science in Victorian Cambridge. In: Ebd. 2 (1970), S. 127-145; Yves Gingras: Physics and the Rise of Scientific Research in Canada. Ü. von Peter Keating. Montreal 1991, S. 11-36; J. Rodney Millard: The MasterSpirit of the Age: Canadian Engineers and the Politics of Professionalization 1887-1922. Toronto 1988 (über den Übergang von der Lehre zur akademischen Ausbildung für Ingenieure); Peter Borscheid: Naturwissenschaft, Staat und Industrie in Baden (1848-1914). Stuttgart 1976, S. 162; Barbara J. Reeves: Italian Physicists and their Institutions, 1861-1911. Diss, masch., Harvard University 1980, S. 625; Terry Shinn: The French Faculty System, 18081914: Institutional Change and Research Potential in Mathematics and the Physical Sciences. In: Historical Studies in the Physical Sciences 10 (1979), S. 320. Während der 1890er Jahre übernahmen in Frankreich die naturwissenschaftlichen Fakultäten schnell eine neue Verantwortung für die Ausbildung von Technikern und Ingenieuren, oft in Instituten für angewandte Naturwissenschaften, die von den Städten oder der Industrie gefördert wurden. S. dazu Harry W. Paul: From Knowledge to Power. The Rise of the Science Empire in France, 1860-1939. Cambridge 1985, S. 134-179, und George Weisz: The Emergence of Modern Universities in France, 1863-1914. Princeton 1983, S. 236f., über vergleichbare Zahlen von Abschlüssen, die an diesen Instituten gemacht wurden.

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Kees Gispen: New Profession, Old Order. Engineers and German Society, 18151914. Cambridge 1989, S. 160-186. Forman et al. [Anm. 1], S. 29; über die Bedeutung des französischen PCN siehe Weisz [Anm. 7], S. 178, und vgl. Paul [Anm. 7], S. 164-167. Forman et al. [Anm. 1], Tabelle A.3.S. 16; Gingras [Anm. 7], S. 34f.

9

10

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werden. Um 1900 war die disziplinare Identität jener Wissenschaftler, die man »Physiker« nannte, fest verankert, mochte auch die Vorstellung über sie in vielen Zusammenhängen noch so ungenau wie um 1840 sein. Wir könnten vermuten, daß die internationale Gemeinschaft der Physiker, die einen Konsens festgelegt hatten über das, was Physiker sein und tun sollten, erfolgreich war bei der Umgestaltung der Institutionen des jeweiligen Landes, so daß die so definierte Funktion der Physik in der Praxis oft auch verwirklicht werden konnte.11 Die »Internationalisierung« der Physik um 1900 war, so betrachtet, ursprünglich die Festigung und internationale Akzeptanz einer einheitlichen disziplinären Rolle und ihrer institutionellen Anforderungen. Die Herausbildung der Disziplin der modernen Physik kann nicht von der geistigen Geschichte dieses Bereiches getrennt gesehen werden. Im frühen 19. Jahrhundert wurde eine komplexe mathematische Theorie zunächst für Licht, Wärme, Elektrizität und Magnetismus entwickelt, Phänomene, die früher nur empirisch oder mit Hilfe von Experimenten erforscht worden waren. Diese Errungenschaft Schloß die intellektuelle Lücke zwischen den empirischen, experimentellen Elementen der neu geschaffenen Disziplin und ihren klassischen, mathematischen Elementen (Mechanik, Dioptrik, Hydrodynamik). Sie schuf in der Rolle des Physikers den Mann mit dem Werkzeug und der Ausbildung, um an den Grenzflächen beider Seiten der Disziplin effektiv zu arbeiten.12 Nicht weniger wichtig waren die institutionelle und intellektuelle Abspaltung der Chemie von der Physik sowie eine Verlagerung in der experimentellen Physik hin zu exakter Messung und Fehleranalyse. Diese Veränderung setzte neue Maßstäbe für die Ausbildung in experimentellen Techniken und machte neue Konzeptionen für die Interaktion zwischen Theorie und Experiment erforderlich.13

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S. dazu die ausgezeichnete Diskussion über die Entstehung von Disziplinen in Gingras [Anm. 7], S 1-8, 117-119, 127-137, die seine These beinhaltet, daß die Entstehung einer Disziplin streng von der Entstehung eines Berufes unterschieden werden muß. Thomas S. Kuhn: Mathematical versus Experimental Traditions in the Development of Physical Science. In: ders.: The Essential Tension. Selected Studies in Scientific Tradition and Change. Chicago 1977, S. 3-65; Rudolf Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 17401890. Frankfurt a.M. 1984, S. 94-99 und passim; Robert H. Silliman: Fresnel and the Emergence of Physics as a Discipline. In: Historical Studies in the Physical Sciences 4 (1974), S. 137-162; Robert Fox: The Rise and Fall of Laplacian Physics. In: Ebd. 4 (1974), S. 89-136; J.L. Heilbron: Elements of Early Modern Physics. Berkeley 1982, S. 1-10,90-158,207-240. Stichweh [Anm. 12], S. 94-172; Kathryn M. Olesko: Physics as a Calling. Discipline and Practice in the Königsberg Seminar for Physics. Ithaca 1991, S. 128-171 und passim; Jed Z. Buchwald: The Rise of the Wave Theory of Light: Optical Theory and Experiment in the Early Nineteenth Century. Chicago 1989, S. 12, 18-21; Kenneth L.

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Um 1900 hatten diese Entwicklungen weder nationale Eigenheiten in der Physik ausgelöscht, noch Klarheit in die Weltanschauungsdebatten jener Tage gebracht. Es war ihnen jedoch gelungen, die disziplinare Identität der Physik und der Physiker in moderner Gestalt zu erschaffen.14 Verschiedene Formen des internationalen Austausches dienten dazu, diese disziplinare Rolle zu festigen: die Intensivierung von wissenschaftlicher Kommunikation, internationale Kooperation von Physikern bei Projekten wie der Magnetic Union und den großen elektrischen Kongressen und die Festlegung von elektrischen Standards. Deutschen Physikern kam eine besondere Bedeutung zu bei der Festigung und Verbreitung dieses Rollenbildes, denn es war am frühesten und am gründlichsten in Deutschland institutionalisiert worden, und eine beträchtliche Anzahl ausländischer Studenten kam zum Studium dorthin.15 Auch das Cavendish Laboratory in Cambridge zog ausländische Studenten an wie ein Magnet. Die internationale Verankerung der Rolle des Physikers war gekennzeichnet durch die Gründung von nationalen Berufsverbänden, die »Britische Physikalische Gesellschaft (1874), die »Italienische Physikalische Gesellschaft (1897), die »Amerikanische Physikalische Gesellschaft (1899), und die Ausdehnung der »Berliner Physikalischen Gesellschaft zur »Deutschen Physikalischen Gesellschaft.

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Caneva: From Galvanism to Electrodynamics: The Transformation of German Physics and Its Social Context. In: Historical Studies in the Physical Sciences 9 (1978), S. 63-160; ders.: Conceptual and Generational Change in German Physics: The Case of Electricity, 1800-1846. Diss, masch., Princeton University 1974. Christa Jungnickel/Russell McCormmach: The Intellectual Mastery of Nature. Theoretical Physics from Ohm to Einstein. 2 Bde. Chicago 1986, bes. Bd. 2, S. 33-48,254303 und passim; P.M. Harman: Energy, Force, and Matter. The Conceptual Development of Nineteenth-Century Physics. Cambridge 1982). Die Herauskristallisierung von nationalen Eigenheiten könnte auch eine Synthese von verschiedenen Schulen oder Ansätzen repräsentieren; ein Anspruch, der manchmal für den »Cambridge style« vorgebracht wird, welcher die britische Physik am Ende des neunzehnten Jahrhunderts charakterisierte; vgl. David B. Wilson: The Educational Matrix: Physics Education at Early Victorian Cambridge, Edinburgh and Glasgow Universities. In: P. M. Harman (Hg.): Wranglers and Physicists. Studies on Cambridge Physics in the Nineteenth Century. Manchester 1985, S. 12-48. Die Zahl der ausländischen Studenten, die zwischen 1870 und 1900 Physik in Deutschland studierten, kann bei zwei- oder dreihundert gelegen haben. Diese Schätzung setzt voraus, daß a) Johannes Conrads Daten über ausländische Studenten und ihre Studienfächer im Jahr 1880 auf den gesamten Zeitraum übertragen werden können, b) einer von zehn Studenten der Naturwissenschaften Physik studierte und c) die durchschnittliche Aufenthaltsdauer pro Student in Deutschland zwei Jahre betrug. Studenten aus nicht-deutschsprachigen Ländern stellten wahrscheinlich 65% der Gesamtanzahl. Vgl. Johannes Conrad: The German Universities for the Last Fifty Years. Ü. von John Hutchison. Glasgow 1885, S. 41-43; Forman et al. [Anm. 1], S. 31. Um die Bedeutung dieser Zahlen zu unterstreichen, führen Forman et al. den Stand von 522 Fakultäten auf der ganzen Welt im Jahre 1900 an.

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Aber die Festigung einer gemeinsamen disziplinaren Identität von Berufsphysikern kann nicht erklären, warum die Vertreter dieser Identität um 1900 überall so erfolgreich beim Umbau von lokalen akademischen Institutionen sein und ihr Rollenbild in der institutionellen Praxis auch verwirklichen konnten. Ihre Leistung weist über die Gemeinschaft der Physiker hinaus hin auf die breitere vergleichende Geschichte der akademischen Systeme im späten 19. Jahrhundert, wo sich allmählich die Anerkennung einer institutionellen Verantwortung für die Forschungsförderung und für die Ausbildung zur Forschung vollzog. Dieser überall zu beobachtende »Imperativ der Forschung« besaß oft einheimische Wurzeln: er stützte sich auf bestehende akademische Traditionen und Formen, wurde von lokalen akademischen Eliten vorangetrieben und örtlichen Gegebenheiten und Möglichkeiten angepaßt. Die Verbreitung des Imperativs der Forschung entsprang jedoch auch dem Versuch verschiedener Länder, den deutschen Universitäten in ihrem sagenhaften Erfolg - real oder eingebildet, immer aber rhetorisch ausgeschmückt - bei der systematischen Förderung von Wissenschaft nachzueifern.16 Dieser Prozeß läßt sich unmittelbar auf die Anliegen dieser Tagung beziehen, liefert er doch ein lebendiges Beispiel für kulturellen Transfer. Andere Staaten sahen sich durch eben jene Beweggründe, die jeden Modernisierungsprozeß in Gang bringen, dazu veranlaßt, in unterschiedlicher Weise auf das deutsche Universitätsmodell zu reagieren: mit Nationalstolz, Erhaltung der kulturellen Souveränität und Sorge um die technologische Autonomie, Wettbewerbsfähigkeit und Bemühungen um ein ausreichendes eigenes Bildungssystem. Wie üblich wurde dieses Bestreben von kleinen elitären Gruppen vorangetrieben, die persönliche Interessen an seinen Erfolg knüpften. Die Befürworter der Forschung sahen in ihr einen Weg zu einer neuen und vielversprechenden Identität mit Modellen und Zielen für die Disziplin; die Forschung versprach Akademikern einen höheren beruflichen Status, den Professoren größere Autonomie, Befreiung von institutionellen Restriktionen und eine zunehmende soziale und moralische Bedeutung der Universitäten. Die Forschung und ihre Fürsprecher konnten möglicherweise eine mächtige 16

Charles E. McClelland: State, Society, and University in Germany 1700-1914. Cambridge 1980, S. 151-232; Vf.: The Growth of Professorial Research in Prussia, 18181848. Causes and Context. In: Historical Studies in the Physical Sciences 3 (1971), S. 137-182; ders.: The Prussian Universities and the Concept of Research. In: Internationales Archiv für Sozi algeschichte der deutschen Literatur 5 (1980), S. 68-93; ders.: German Science, German Universities: Historiographical Perspectives from the 1980s. In: Gert Schubring (Hg.): »Einsamkeit und Freiheit« neu besichtigt. Universitätsreformen und Disziplinenbildung in Preußen als Modell für Wissenschaftspolitik im Europa des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1991, S. 24-36.

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Waffe in harten institutionellen Kämpfen sein. In der langwierigen und manchmal bitteren Reform der englischen Oxbridge-Universitäten, in denen die Professorenschaft der Universitäten (die eigentlich das Banner der Forschung hochhielt) oft den Fellows und Tutors der Colleges, die andere akademische Ideale vertraten, feindlich gegenüberstand, zeigte sich das so deutlich wie sonst nirgendwo. Die Nachahmer nahmen gewöhnlich das, was ihren lokalen Bedürfnissen entsprach, und paßten es an. Manchmal waren das Institutionen. Im späten 19. Jahrhundert experimentierten die meisten Länder mit einer oder mehreren institutionellen Formen, die als ausschlaggebend für den deutschen Erfolg angesehen wurden: Lehr- und Lernfreiheit, Privatdozentur, Dr.philJPh.D.-Grad, Forschungsseminar, wissenschaftliches Institut und Lehrlaboratorium, sowie mit Prinzipien des Wettbewerbs und der Dezentralisation. Besonders im angelsächsischen Bereich war das, was man nachahmte, manchmal auch Philosophie und Terminologie, durch welche die Forschung verteidigt und mit anderen Idealen der Universität in Einklang gebracht werden konnte: gelegentlich war es notwendig zu lernen, wie man wirkungsvoll über Forschung sprach.17 Von Deutschland ging oft nur eine Atmosphäre der Bedrohung und ein Druck aus, die auf die Reform und Entwicklung eigener akademischer Formen hinwirkten. Schauen wir uns kurz das Bild des deutschen Forschungsmodelles in drei anderen akademischen Systemen an und beachten wir die Faktoren, die den Prozeß der Nachahmung bestimmten und eingrenzten. In Frankreich waren die Universitäten in ihrer traditionellen Gestalt durch den napoleonischen Staat abgeschafft worden, und es wurde der Versuch unternommen, Forschungsaktivitäten auf spezialisierte (hauptsächlich Pariser) Institutionen zu konzentrieren, wie etwa im Institut und College de France und in einem geringeren Ausmaße in den grandes icoles,18 Während der längsten Zeit des 19. Jahrhunderts fristeten die philosophischen und naturwissenschaftlichen Fakultäten ein isoliertes und unbedeutendes Dasein, sie waren personell unterbesetzt und verfügten über nur geringe finanzielle Mittel. Sie hatten wenige Studen-

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Ein faszinierendes Beispiel dafür ist die Rhetorik, welche in dem einflußreichen Traktat zu finden ist, der als Essays on the Endowment of Research (London 1876) bekannt ist. Unverkennbar schimmert durch einige dieser Essays die zögernde Suche nach einer Form des englischsprachigen Diskurses über Forschung, Entdeckungen und wissenschaftliches Leben durch, der die affektive und normative Kraft, die in vergleichbaren Diskursen zu Beginn des 19. Jahrhunderts bei Humboldt und anderen zu finden war, in ähnlicher Weise aufnehmen und abbilden konnte. S. dazu bes. Charles Edward Appleton: The Endowment of Research as a Productive Form of Expenditure^. 145-179. Weisz [Anm. 7], S. 18-54; Robert Fox/George Weisz: The Institutional Basis of French Science in the Nineteenth Century. In: dies. (Hg.) [Anm. 6], S. 1-28.

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ten, lehrten wenig und dienten hauptsächlich den örtlichen Lycies und ihren Βaccalaureat-Absolventen als Prüfungsgremien. Um einen Posten an der Fakultät zu erhalten, war es erforderlich, seine wissenschaftliche Befähigung in Forschung und Veröffentlichungen kundzutun, doch Forschung war keine anerkannte Funktion der Position an sich.19 Ein zentrales Ministerium kontrollierte streng die Berufungen an die Fakultäten, den Lehrplan und die Voraussetzungen zur Erlangung eines Abschlusses. In der Dritten Republik erlaubte die französische Regierung den Fakultäten dann jedoch, Funktionen zu übernehmen, die auch anderswo mit Universitäten in Verbindung gebracht wurden. Die Fakultäten erlebten daraufhin einen rapiden Anstieg der Einschreibungen, sie zogen neue Studentengruppen an, schlossen neue Bündnisse mit lokalen industriellen Interessen und erhöhten ihr wissenschaftliches Prestige.20 Das Ministerium übertrug die administrative und finanzielle Verantwortung auf lokale Fakultätsräte und unterstützte den Bau von wissenschaftlichen Laboratorien und Instituten (wenn es ihn auch nur selten finanzierte) und erkannte dadurch die Verantwortung der Fakultäten für die Forschung und für eine spezialisierte Ausbildung in der Forschung an. Die Entwicklung erreichte ihren symbolischen Höhepunkt 1896, als »Universitäten« zumindest dem Namen nach neu geschaffen wurden, indem örtliche Fakultäten gemeinsamen Verwaltungsräten unterstellt wurden.21 Der Druck hin zu diesen Änderungen ging von einer Handvoll reformbewegter Minister und Akademiker aus. Letztere nutzten das deutsche Phantom mit bewußt propagandistischer Wirkung: der Moloch seiner »Wissenschaft«, die technologischen Fähigkeiten, die dem Vernehmen nach von ihr ausgehen sollten, seine florierenden Universitäten, seine Überlegenheit in der Anziehungskraft auf ausländische Studenten und die Macht, die Freiheit, der Status seiner Professoren. 22 Der Historiker George Weisz hat gezeigt, daß die Vorkämpfer der Reformbewegung hauptsächlich Naturwissenschaftler aus der Provinz waren, Männer, die sich mit dem traditionell unbedeutenden Forschungssektor im akademischen Leben identifizierten und die - was unter französischen Akademikern höchst ungewöhnlich war - enge Kontakte zu deutschen Universitäten und deutschen Gelehrten besaßen.23 Während französi-

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21 22

23

Weisz [Anm. 7], S. 77. Weisz [Anm. 7], S. 162-224; Shinn [Anm. 7], S. 271-332; Paul [Anm. 7], S. 15-60, 251-287; Mary Joe Nye: Science in the Provinces. Scientific Communities and Provincial Leadership in France, 1860-1930. Berkeley 1986, S. 1 -32,224-242. Weisz [Anm. 7], S. 134-161. Harry W. Paul: The Sorcerer's Apprentice. The French Scientist's Image of German Science 1840-1919. Gainesville 1972, S. 129; Weisz [Anm. 7] S. 61-81; Nye [Anm. 20], S. 14-21. Weisz [Anm. 7], S. 65.

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sehe Reformer ständig auf den deutschen Konkurrenten verwiesen, traten sie für nur wenige seiner spezifischen akademischen Praktiken ein. Was sie zum Nachahmen reizte, war der Grad an materieller Unterstützung, den deutsche Universitäten genossen, eine Unterstützung, die Laboratorien, Forschungsassistenten, Studenten höherer Semester und ein gesundes wissenschaftliches Leben ermöglichte. Manchmal bewunderten sie widersprüchliche Elemente im deutschen Modell. Einige Reformer betonten die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Universitäten: den Konkurrenzkampf um Studenten und wissenschaftliches Prestige unter den Universitäten, Instituten und verschiedenen Fakultäten. Sie setzten diesen gesunden Konkurrenzkampf in Opposition zum französischen bürokratischen Zentralismus, bei dem - wie sie es darstellten jede Initiative unter einem Berg von Vorschriften zu ersticken drohe. Andere Reformer sahen die deutschen Universitäten als Modell für korporative Solidarität, die ihren Erfolg der Fähigkeit von Professoren verdankte, engstirnige Eifersucht der Erhaltung von kollektiver Autonomie unterzuordnen, die eigenen Angelegenheiten klug zu verwalten und den Übergriffen von habgierigen und tyrannischen zentralen Ministerien zu widerstehen. 24 Französische Gleichgültigkeit oder Widerstandsfähigkeit gegenüber einigen deutschen Praktiken spiegeln tiefverwurzelte intellektuelle und persönliche Werte wider. Französische Akademiker kritisierten oft die finanziellen Ungerechtigkeiten des deutschen Systems: die unsichere Stellung des Privatdozenten (die seine vielgepriesene Freiheit wieder zunichte machte) und die willkürlichen Unterschiede bei den Einkommen der Professoren. Dagegen schlugen sie meistens vor, freie Lehrer in das französische Fakultätssystem einzuführen oder Vorlesungshonorare den Dozenten direkt zufließen zu lassen; sie verteidigten ihr eigenes System der festen und bürokratisch geregelten Gehaltsstufen. Auf dem Spiel stand mehr als Sicherheit: sie sahen die Autonomie, Würde und Gleichheit der Professoren als notwendige Voraussetzungen für klares und unabhängiges Denken und wirklich überzeugende Wissenschaft an.25 Aus denselben Gründen mißbilligten sie die erniedrigende personelle Abhängigkeit, die durch das deutsche Institutssystem gefördert wurde. In diesem System waren nach ihrer Überzeugung Doktoranden, Assistenten und sogar Professorenkollegen nur wenig mehr als Sklaven des Ordinarius, dazu gezwungen, dessen persönliches Forschungsprogramm fortzuführen, ungeachtet ihrer eigenen Interessen und Ziele. Während dieses System wohl zu den teutonischen Großbetrieben paßte, konnte man es nicht mit der Individualität und dem Elan des französischen Akademikers in Einklang bringen,

24 25

Ebd., S. 69-81. Ebd., S. 75; Forman et al. [ Anm. 1 ], S. 52.

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ganz zu schweigen von der ausgeprägten Unabhängigkeit französischer Studenten.26 Universitätssysteme, die eher an der wissenschaftlichen Peripherie lagen, trafen auf andere Schwierigkeiten bei der Nachahmung des deutschen Modells. Ab 1859 besaß Italien wie Frankreich ein nationales Universitätssystem, in dem Examensanforderungen und -prüfungen, Fakultätsgehälter und andere Aspekte des akademischen Lebens von einem zentralen Ministerium strikt kontrolliert wurden. Ein System der öffentlichen Konkurrenz regelte die Berufung von Professoren, doch zumindest in der Physik Schloß dieses eine starke regionale und kollegiale Gönnerschaft nicht aus.27 Wie Frankreich besaß auch Italien ab 1870 eine Universität in der Hauptstadt, die Institutionen aus der Provinz an Kapazitäten, finanzieller Ausstattung und Ansehen bei weitem übertraf. Jedoch scheint Rom niemals die magnetische Anziehungskraft auf Akademiker ausgeübt zu haben, wie sie von Paris ausging, und Italien besaß nichts, das dem französischen System der grandes äcoles völlig vergleichbar wäre. Italienische Physiker hatten, wie andere italienische Gelehrte auch, enge persönliche und intellektuelle Beziehungen zur französischen Wissenschaft, und oft stützten sie sich auf Methoden und Forschungsprogramme, die französische Gelehrte entwickelt hatten.28 Aber Italiener gingen - wie viele andere - in zunehmendem Maße »in Deutschland (und Österreich) zur Schule« und kamen zurück, um eine begrenzte Übernahme deutscher akademischer Institutionen und Praktiken zu verlangen. Die Historikerin Barbara Reeves identifizierte den Physiker Pietro Blasema, der in Wien und Paris studiert hatte, als den Anführer der italienischen Bewegung für einen solchen kulturellen Transfer. 1868 griff Blaserna das italienische Universitätssystem wegen der starren Lehrpläne und Prüfungssysteme an, vor allem aber, weil man es versäumt habe, fortgeschrittene Laborübungen als Kern der modernen naturwissenschaftlichen Lehre und Schlüssel zur disziplinaren Kontinuität anzuerkennen. Blaserna lehnte französische wissenschaftliche Institutionen als Modelle zur Nachahmung entschieden ab und pries die wissenschaftlichen Institute der deutschen Universitäten, in denen sogar mittelmäßige Männer so gut ausgebildet worden waren, daß sie ihren 26

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Paul [Anm. 22], S. 9. Siehe auch Fritz Ringer: Comparing Two Academic Cultures: The University in Germany and in France around 1900. In: History of Education 16/3 (1978),S. 181-188. Reeves [Anm. 7], S. 202. Ich bin Dr. Reeves zu Dank dafür verpflichtet, daß sie mir erlaubte, dieses unveröffentlichte Manuskript zu benutzen; die Darstellung der italienischen Universitäten stützt sich hier in vielen Passagen auf ihre Arbeit. Barbara J. Reeves: Pensieri sulla decadenza dellafisica in Italia, 1861-1911. In: Atti delIV congresso nazionale di storia della fisica (Como, 3.-5. Nov. 1983). S. 147-154; dies. [Anm. 7], S. 278-471 und passim.

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Beitrag leisteten zum »guten wissenschaftlichen Klima, das die deutsche Gesellschaft so sehr auszeichnet.«29 Als Italien 1871 begann, eine neue, säkularisierte Universität in Rom aufzubauen, in der Blaserna den Lehrstuhl für Physik erhielt, forderte er, die Anstalt möge eine wahre Forschungsuniversität nach deutschem Modell sein, ein Vorbild für andere italienische Universitäten und ein Bollwerk gegen den - wie er es nannte - päpstlichen Dogmatismus. Er und seine Verbündeten empfahlen, Seminare und wissenschaftliche Institute zu errichten, Vorlesungen soweit wie möglich durch Laborübungen zu ersetzen, die Anforderungen des Lehrplans zu lockern, um den Studenten Handlungs- und Wahlfreiheiten zu gewähren, Einschreibegebühren durch Kursgebühren zu ersetzen, die dem Dozenten bezahlt würden und einen privaten Lehrkörper anzuerkennen, der mit den berufenen Professoren um diese Gebühren konkurrierte. Blasernas Hauptgegner war der große italienische Physiker Carlo Matteuci. So groß die Verdienste des deutschen Systems auch seien, antwortete Matteuci, Italien fehle es am lebendigen und verbreiteten System der höheren Schulen, die es möglich machten, deren wichtigste Elemente erfolgreich zu übertragen. Verglichen mit Deutschland hätten zu wenig italienische Studenten höhere Schulen besucht. Wenn sie dann an die Universität kamen, seien sie nicht darauf vorbereitet, von fortgeschrittenen Laborübungen oder dem in Deutschland vorherrschenden relativ unstrukturierten System der Lehre zu profitieren. Matteuci war davon überzeugt, daß die lebendige und weitverbreitete wissenschaftliche Kultur, die das deutsche Universitätsmodell möglich machte, in Italien nur ganz allmählich eingeführt werden könne. Da das deutsche »gute wissenschaftliche Klima« in Italien nicht anzutreffen sei, müsse nach seiner Meinung die Lockerung der zentralen staatlichen Kontrolle über Abschlüsse, Prüfungen und Lehrplan eine unvermeidliche Rückkehr zu laxen wissenschaftlichen Standards und regionalen Ungerechtigkeiten bedeuten. Mit diesen Argumenten verteidigte Matteuci ein System der akademischen naturwissenschaftlichen Lehre, das er selbst als einer der führenden italienischen Staatsmänner und als staatlicher Verwaltungsbeamte für Bildung eingeführt hatte. Seine Ansichten setzten sich auch in den Regierungskreisen durch, in denen die Struktur der neuen Universität letztendlich beschlossen wurde. Die neue Universität war reich ausgestattet mit Laboratorien und einer hervorragenden Fakultät, doch sie war gezwungen, traditionelle italienische akademische Strukturen und Praktiken zu übernehmen.30 Dennoch erlebten Blaserna und die Reformer 1876 einen Teilsieg, als in Italien wieder freie Hochschullehrer (seit

29 30

Reeves [Anm. 7], S. 136-164. Ebd., S. 165-209.

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1862 verboten) und auch Gebühren für private Vorlesungen innerhalb des Hochschulsystems zugelassen wurden. Privatkurse, für die Gebühren erhoben wurden, entwickelten sich zu dem Mittel, durch das neue Felder, wie etwa Höhere Physik, Geophysik und physikalische Chemie Aufnahme in den Lehrplan fanden. Auch die finanziellen Mittel für Physiklaboratorien stiegen während der 1890er Jahre beträchtlich an, manchmal mit städtischer und industrieller Hilfe. Trotz alledem schätzte Barbara Reeves nur Pisa, Rom, Padua und Turin um 1900 als wirkliche »Forschungsuniversitäten« für Physik ein, die mit den weltweit besten Universitäten vergleichbar waren.31 Der komplizierteste Fall von Anpassung liegt in den Vereinigten Staaten vor. Der Imperativ der Forschung wurde dorthin übertragen, indem man das amerikanische College nicht etwa reformierte, sondern ihm eine gesonderte Graduiertenschule aufsetzte.32 Die Bildung einer »gegliederten Universität« berücksichtigte nicht nur die relativ schwache akademische Vorbereitung von amerikanischen Studenten, sondern sie reduzierte auch (beseitigte aber nicht) die philosophische Konfrontation der deutschen »Idee der Universität« mit den traditionellen Idealen des amerikanischen College-Systems. Zudem lief die deutsche »Vorstellung von Universität« mit ihrer besonderen Betonung der Forschung zumindest zwei konkurrierenden Programmen für Universitätsreformen zuwider, die Amerika in jenen Jahren beschäftigten: zum einen die Befürwortung des gesellschaftlichen Nutzens als Leitfaden für eine Universitätsreform und zum anderen die Rückkehr zu einem Ideal, das die akademische Lehre als Erziehung zur Staatsbürgerschaft auf der Basis der Geisteswissenschaften und der Aneignung einer »liberalen Kultur« sah.33 Amerikanische Befürworter des deutschen Forschungs-Ethos, die sensibilisiert waren für diese potentiellen Konflikte, fanden für die amerikanische Öffentlichkeit andere Formulierungen. Ihre Rhetorik vermied die Rede von der Wissenschaft als höchstem Gut oder als Wert an sich; stattdessen betonten sie die Verbindung zwischen Forschung und der Herausbildung eines moralischen Charakters. Die Techniken der wissenschaftlichen Forschung seien mächtig und höchst pragmatisch; bei der Beschäftigung mit ihnen könnten die Tugenden der 31 32

33

Ebd., S. 637; Reeves [Anm. 28], S. 115-128. Lawrence W. Veysey: The Emergence of the American University. Chicago 1965, S. 153-158,164-179 und passim; Edward Shils: The Order of Learning in the United States: The Ascendancy of the University. In: Alexandra Oleson/John Voss (Hg.): The Organization of Knowledge in Modern America, 1860-1920. Baltimore 1979, S. 19-50. Veysey [Anm. 32], S. 57-120, 180-263; Hugh Hawkins: University Identity: The Teaching and Research Functions. In: Oleson/Voss (Hg.) [Anm. 32], S. 285-312, bes. 303-305.

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Gründlichkeit, der Selbstlosigkeit und der Unbestechlichkeit vor der Wahrheit gefördert werden. Sie benutzten auch typisch deutsche Formulierungen für das Forschungsideal, in der Hoffnung, daß die Amerikaner eine breitere soziale Veränderung durch Wissenschaft in Betracht ziehen könnten. Die stärksten amerikanischen Verfechter des Wissenschaftsparadigmas rechtfertigten ihre Mission öffentlich mit der kulturellen Erneuerung der amerikanischen Gesellschaft. Die Forschung und ihre Werte könnten Amerika von seinem beschränkten Sektierertum und dem Brandmal des vulgären Materialismus befreien.34 So strebten die Reformer implizit auch danach, den Grundsatz der Forschung mit den einheimischen Idealen des College-Systems zu verbinden, zumindest wollten sie ihn mit den konkurrierenden Idealen der utilitaristischen und der liberalen Erziehung in Einklang bringen.35 Die Vereinigten Staaten erwiesen sich als fruchtbarer Boden für die Verpflanzung einer Institution. Der amerikanische Mischmasch von staatlichen und privaten Universitäten und von religiösen und privaten Colleges imitierte das deutsche System von vergleichsweise dezentralen und konkurrierenden Institutionen. Amerikanische Professoren hatten nie die Macht und den Schutz genossen, der mit starken korporativen Traditionen oder mit dem Status des Beamten verbunden war. Sie konnten die neuen Entwicklungen daher bereitwillig akzeptieren, die ihnen die Rolle eines wissenschaftlichen Spezialisten zuwiesen, welcher mehr seiner Disziplin als einer Institution verpflichtet ist. Amerikanische Universitäten zogen das System der Abteilungen dem europäischen System der Lehrstühle und Institute vor. Dieses System soll die Tyrannenherrschaft des Ordinarius verhindert und einen Rahmen geschaffen haben, in dem mehr Innovation möglich war und in dem sich interdisziplinäre Felder gut entwickeln konnten.36 Das akademische Milieu der Vereinigten Staaten war für die Disziplin der Physik nicht sonderlich fruchtbar. Sie konnte weder als »Inventarwissenschaft« in einem unbekannten Kontinent gedeihen, noch vor den 1890er Jahren große praktische Relevanz in Technologie, Landwirtschaft oder Medizin beanspruchen. 1890 gab es in Amerika nur ungefähr zweihundert Physiker, von denen nur wenige regelmäßig veröffentlichten und nur eine Handvoll einen europäischem Ruf hatte (von denen die meisten in Deutschland ausgebildet worden waren).

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Daniel J. Kevles: The Physicists. The History of α Scientific Community in Modern America. New York 1978, S. 15-24. Owen Hannaway: The German Model of Chemical Education in America: Ira Reinsen at Johns Hopkins (1876-1913). In: Ambix 23/3 (1976), S. 145-164; Veysey [Anm. 32], S. 121-179, bes. 133-157. Joseph Ben-David: The Scientist's Role in Society. Englewood Cliffs 1971, S. 139167.

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Universitätsorganisation

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Spitzenphysiker, die dabei nur gewinnen konnten, führten die sogenannte »best science«-Bewegung der 70er und 80er an, welche die Einführung europäischer Berufsstandards und die Ausweitung der gründlichen Ausbildung von graduierten Studenten für die Forschung forderte.37 In den späten 1890er Jahren erlebte diese Entwicklung aber einen Aufschwung, als die Kapazitäten in den Graduiertenschulen ausgedehnt wurden. Um 1900 erhielten amerikanische Physiker dann bereits Gehälter, die an kontinentaleuropäischen Maßstäben gemessen hoch waren. Laboratorien wurden durch Etats unterstützt, die mit denjenigen der besten europäischen Institute vergleichbar waren (zumindest in einigen Elite-Abteilungen), und die Raten der Pro-Kopf-Produktivität stiegen an.38 Zum Schluß wende ich mich eher weniger bekannten historiographischen Fragen aus der Wissenschaftsgeschichte zu. Forman, Heilbron und Weart wiesen eine Bedeutung ihrer Studie für die Beurteilung von Forschungsbeiträgen, Fortschritten in der Physik oder der »Existenz und Bedeutung von besonderen nationalen Talenten oder Eigenheiten« zurück.39 Ihre Ergebnisse stießen jedoch auf die feststehende Ansicht von Historikern, daß tatsächliche Unterschiede in Stärke und Innovationskraft zwischen den nationalen wissenschaftlichen Gemeinschaften bestünden. Man verwies dabei ζ. B. auf den berühmten französischen Fall: Für viele Beobachter stand außer Frage, daß Frankreich als dominierende wissenschaftliche Nation um 1840 zu einer fast peripheren Position um 1900 abgestiegen war. Vertreter dieser Abstiegstheorie hatten seit 1960 die Hauptschuld auf institutionelle Charakteristika des französischen Systems geschoben: Zentralisierung und exzessive bürokratische Kontrolle, die lähmende Wirkung des concours und der agregation und unangemessene finanzielle Förderung der Wissenschaft. 40 Entgegen solchen Vorwürfen zeigte die Forman-Heilbron-Weart-Studie

37

38 39 40

Kevles [Arun. 34], S. 25-48; ders.: The Physics, Mathematics, and Chemistry Communities: A Comparative Analysis. In: Oleson/Voss (Hg.) [Anm. 32], S. 139-172. Kevles [Anm. 34], S. 65-100; Forman et al. [Anm. 1], S. 5,9-14,69-72, 82. Forman et al. [Anm. 1],S. 128. Die wichtigsten Formulierungen der Abstiegs-These sind Robert Gilpin: France in the Age of the Scientific State. Princeton 1968, bes. Kapitel 4: »The Heritage of the Napoleonic System«, S. 77-123 und Joseph Ben-David: The Rise and Decline of France as a Scientific Centre. In: Minerva 8 (1970), S. 160-181; Ben-David [Anm. 36], S. 88-107. Zur weiterführenden Literatur siehe Terry Shinn: Failure or Success? Interpretations of 20th Century French Physics. In: Historical Studies in the Physical and Biological Sciences 16/2 (1986), S. 353-370, bes. 353f. und Weisz [Anm. 7], S. 12-17. Andere Faktoren, die für den Abstieg verantwortlich gemacht wurden, waren Positivismus, Katholizismus und die Dominanz von Paris. Siehe ζ. B. J.W. Herivel: Aspects of French Theoretical Physics in the Nineteenth Century. In: British Journal for the History of Science 3 (1966/67), S. 109-132.

292

R. Steven Turner

nun, daß das französische System die gleichen Pro-Kopf-Raten in der Förderung akademischer Wissenschaft wie andere wissenschaftliche Systeme auch erzeugte und vergleichbare Produktionsraten aufrechterhielt. Wenn die französische Wissenschaft aufgrund ihres Organisationssystems tatsächlich qualitativ unterlegen war, mußte es dann nicht zumindest merkwürdig anmuten, daß diese Unterlegenheit keinen Niederschlag in Förderungs- und Produktivitätsdaten fand? Gegner der Abstiegsthese fanden in der Studie von 1975 eine Bestätigung ihrer Skepsis. Wie die meisten Historiker hegten sie schon lange ein tiefes Mißtrauen gegenüber jenen Messungen von wissenschaftlichem Potential, die auf Listen von Entdeckungen und dergleichen fußten.41 Die neuen Beweise für eine ungefähre Entsprechung von Produktivitätsergebnissen deuteten an, daß Behauptungen über relative nationale »Überlegenheiten« oder »Unterlegenheiten« durch keine verläßlichen numerischen Ergebnisse erhärtet werden konnten. Behauptungen über die französische Unterlegenheit rührten entweder von gehässigen Vergleichen mit der absoluten Größe der deutschen Wissenschaft her oder von dem arrogant-anachronistischen Urteil, daß französische Wissenschaftler sich nicht den »wirklich bedeutenden Zweigen der Wissenschaft« widmeten.42 Die Forman-Heilbron-Weart-Studie besaß deshalb eine große Bedeutung für die komparative institutionelle Wissenschaftsgeschichte im allgemeinen. Sie implizierte, daß institutionelle Erklärungen von vergleichbaren Unterschieden in nationalen Eigenheiten der Forschung oder Veränderungen in einer einzigen Tradition nun über die EingabeAuswurf-Parameter hinausgehen müßten und auf fundiertere Voraussetzungen für die Bestimmung von Innovationskraft und Kreativität 41

42

Diese Gruppe Schloß nicht unbedingt Fomian, Heilbron oder Weart mit ein. Sie schrieben, daß sich die französische Physik in der Dekade nach 1900 »weiterentwickelte« und bei einem »relativen Abstieg« angelangt war; ihre Tafeln mit abweichenden Daten schrieben Frankreich für jene Dekade sehr geringe Anstiegsraten zu ([Anm. 1], S. 115-118, 8). Diese Angaben wiederum werden relativiert durch die Behauptungen einiger Gelehrter, daß die physikalischen Wissenschaften in Frankreich nach 1880 eine »Renaissance« erlebten, die sich nach 1900 nicht fortsetzte. S. Mary Joe Nye: Scientific Decline: Is Quantitative Evaluation Enough? In: Isis 75 (1984), S. 697-708, bes. 700; Nye [Anm. 20], S.238, und bes. Shinn [Anm. 7], S. 315-326. Zu den Uneinigkeiten über das, was nach 1900 geschah, und zu einem Literaturüberblick zur französischen wissenschaftlichen Produktivität siehe Weisz [Anm. 7), S. 96-207,222-224 und Paul [Anm. 7], S. 258f„ 286f. Harry Paul: The Issue of Decline in Nineteenth Century French Science. In: French Historical Studies 7 (1972), S. 416-440; Nye [Anm. 20], S. 235-245; dies.: Recent Sources and Problems in the History of French Science. In: Historical Studies in the Physical Sciences 13/2 (1983), S. 401-415; Fox/Weisz (Hg.) [Anm. 6], »Introduction,« S. 27; Weisz [Anm. 7], S. 224; Terry Shinn: Failure or Success? Interpretation of 20th Century French Physics. In: Historical Studies in the Physical and Biological Sciences 16/2 (1986), S. 353-369, bes. 368.

Unterschiedliche Formen der

Universitätsorganisation

293

aufbauen müßten.43 Die Literatur über akademische Institutionen im 19. und frühen 20. Jahrhundert hat verschiedene vielversprechende Ansätze hervorgebracht, die diesen Kriterien genügten; einige von ihnen nahmen die Studie von Forman et al. vorweg. Die ehrwürdige Arbeit von Joseph Ben-David und Avraham Zloczower verfolgte zum Beispiel die vergleichbare Kraft eines jeden Systems bis zu seiner Fähigkeit, unterdisziplinäre Abspaltungen oder interdisziplinäre Fusionen voranzutreiben und danach die neugebildeten Felder schnell zu institutionalisieren. Entdeckungen, so glaubten sie, sind mit den institutionellen Grundlagen neuer Disziplinen eng verbunden, und sie betrachteten die Fähigkeit, diesen Prozeß voranzutreiben, als eng mit institutionellen Merkmalen verbunden.44 Andere Gelehrte, die sich mit institutionalistischen Ansätzen befaßten, haben die Stärke einer wissenschaftlichen Gemeinschaft mit ihrer Fähigkeit in Verbindung gebracht, wissenschaftliche Schulen zu begründen und lokale Forschungstraditionen zu erhalten.45 Diese Ansätze berufen sich stillschweigend auf eine theoretische Position in den Wissenschaftsstudien, die wissenschaftliche Schulen als zentrale Orte der Innovation betrachtet.46 Was die Physik im besonderen angeht, so vertraten einige Gelehrte den Standpunkt, daß Frankreich und Italien immer weiter ins Hintertreffen gerieten aufgrund ihrer Ablehnung der neuen »Theoretischen Physik«, die um 1900 in Deutschland entstanden war. Diese Ablehnung wurzelte in ehrwürdigen philosophischen und wissenschaftlichen Traditionen, aber teilweise auch in organisatorischen Strukturen der Universitäten.47 Schließlich begannen einige Studien zu untersuchen, wie die akademische Forschung durch finanzielle Mittel aus der Industrie und industriellen Druck im frühen 20. Jahrhundert 43 44

45

46

47

Vgl. Nye [Anm. 41 ], S. 697f. Diese These stützt sich hauptsächlich auf Daten, die auf angeblichen Zahlen von Entdeckungen basieren. S. Joseph Ben-David: Scientific Productivity and Academic Organisation. In: American Sociological Review 25 (1960), S. 828-843; Ben-David und Avraham Zloczower: Universities and Academic Systems in Modern Society. In: European Journal of Sociology 3 (1962), S. 62-84; und ders.: Konjunktur in der Forschung. In: Frank Pfetsch/Avraham Zloczower: Innovation und Widerstände in der Wissenschaft. Düsseldorf 1972. Zum Beispiel Nye [Anm. 20], S. 235-245 und passim; Reeves [Anm. 7], bes. S. 654670. Gerald L. Geison: Scientific Change, Emerging Specialties, and Research Schools. In: History of Science 19 (1981), S. 20-40; s. außerdem Frederic L. Holmes/Gerald L. Geison (Hg.): Research Schools in Modern Science. Chigaco 1993 (Reihe »Osiris« Bd. 8). Dominique Pestre: Physique et physiciens en France 1918-1940. Paris 1984; Reeves [Anm. 7], S. 450-453 und passim; Reeves [Anm. 28], S. 147-154; Galdabini/Giuliani [Anm. 3], S. 132-136. Reeves vertritt den Standpunkt, daß die italienische Ablehnung der neuen Theoretischen Physik auch eine dringend notwendige Wiederbelebung der experimentellen Tradition verhinderte.

294

R. Steven Turner

beeinflußt wurde; im Falle Frankreichs führten sie zu bedeutsamen Uneinigkeiten.48 So wie die Forman-Heilbron-Weart-Studie institutionalistische Ansätze in Frage stellte, was zur Folge hatte, daß diese eine reflektiertere und differenziertere Qualität annahmen, könnte sie auch deren kollektive Ansprüche gezügelt haben. Um die Mitte der 70er Jahre dieses Jahrhunderts waren Studien über die Wissenschaft von der großen Hoffnung getragen, daß die komparative Untersuchung von herkömmlichen und unkonventionellen institutionellen Mechanismen dazu herangezogen werden könnten, makroskopische Muster von wissenschaftlicher Innovation und Veränderung zu begründen. Joseph Ben-Davids Werk The Scientist's Role in Society (1971) lieferte den Locus classicus für diesen Ansatz, und es wurde während der 70er Jahre durch viele exzellente Studien über Professionalisierung, unsichtbare Colleges, finanzielle Grundgerüste und spezielle wissenschaftliche Institutionen bestätigt. Die Forman-Heilbron-Weart-Studie von 1975 war, wie ich meine, einer von mehreren Faktoren, die einen Schatten auf die Ambitionen dieses institutionalistischen Programms warfen. Sie implizierte, daß die interessantere Frage hinsichtlich wissenschaftlicher Veränderungen durch vergleichbare institutionelle Merkmale möglicherweise nicht erhellt werden kann. Die Soziologie wissenschaftlicher Institutionen, die implizit in den Ansätzen Ben-Davids und anderer enthalten war, gab den Weg frei für ein ambitionierteres (wenn auch amorpheres) Programm: für eine Soziologie des wissenschaftlichen Kenntnisstands, für die Analyse von bestimmenden Faktoren in Perioden wissenschaftlicher Kontroversen und (in den späten 80ern) für Konzepte von wissenschaftlicher Aktivität als eine Arbeit und Fähigkeit, die sich auf den unmittelbaren und lokalen Laborkontext bezieht. Die vergleichende Untersuchung wissenschaftlicher Institutionen und nationaler wissenschaftlicher Traditionen bleibt ein aktuelles und lebendiges Element in Untersuchungen über die Wissenschaft, aber sie steht nicht mehr im Mittelpunkt wie kurzzeitig in den 70er Jahren. Der Fall der akademischen Physik in den Universitätssystemen Europas um 1900 wies anschaulich auf die Bedeutung des kulturellen Austausches in den Wissenschaften hin, doch er zeigte auch die Schwierigkeiten und potentiellen Fallen bei Versuchen, vergleichende institutionelle Beurteilungen zu wagen. (Aus dem Englischen von Annegret Claushues) 48

Weisz [Anm. 7], S. 206f.; Paul [Anm. 7], S. 169-179; Galdabini/Giuliani [Anm. 3], S. 132f.; Arturo Russo: Science and Industry in Italy between the Two World Wars. In: Historical Studies in the Physical and Biological Sciences 16/2 (1986), S. 281320.

T A B L E I. C o n s p e c t u s o f A c a d e m i c Physics circa 1 9 0 0 . A. Number of academic physicists'

E. Productivity (physical papers)

D.

560

8.8

8.0

(150/

10

3.8

*

.5 *5 -C Q.

Personal income b

>. S δ s 1 ^ - i *• J 5

Austria-Hungary

64

1.5

305

155

Belgium

15

2.3

75

Britiah Empire U.K. Other

131 114 17

2.9

950 815 35

315 225 90

770 2035 610 1650 160 385

15.5 14.5 22.5

4.6

France

105

2.8

635

290

180

10.5

145

2.9

10.3 9.3 10.6

Faculcy plut assistants

Germany T.H. Univ.

i.

5

0

36 109

Italy

63

1.8

Japan

8

0.2

765 150 615

385

260

180

85 300

Ό 1

J

2

100

1490 340 100 335 240 1155 80

21

4.1

95

Russia

35

0.3

160

Scandinavia

29

2.3

110

27

8.1

115

90

15

215

2.8

1430

660

900

United States*

520

8.3



ι , νο 4c

JL-L

" l· £L 2

Austria-Hungary Belgium

290

2.2

1.4

British Empire U.K. Other

4.3

260

2.5

2.4

France

4.4

460

3.2

3.1

Germany T.H. Univ.

3.4

90

1.4

1.7

Italy Japan

Netherlands

Switzerland

1105

Μ Total (annual)

i

per 10* marks national incomec

ο e ο e -C .2 J a ä.

C.

Total: Β + C • D

_ ®

Expenditure (annual, 1000's of marks)

90

90

20

7.1

205

9.8

(300) f

8.5

1.5

Russia

245

8.5

4.1

Scandinavia

220

8.2

8.1

2990

14.0

4.8

45

(55)

2.6

1.1

Productivities of Academic Physicists, circa 1 9 0 0 Papers p e r

of papers*

physicist''

Percent of GNP British E m p i r e

69

Number

25

Manchester U.e

10 2

Toronto U.f

Papers per 104 marks o f : '

All

Lab.

Total

Post-

affili-

expen-

expen-

holding

ated

diture

diture

9.2

1.4

2.2

290

Cambridge U.d

1.7 0.9

10

1.4

0.9

14

0.7

0.4

2.5

France

72

260

2.5

1.8

9.0

2.4

Germany

79

460

3.2

2.0

11.9

3.1

B e r l i n U.g Italy Netherlands

22

0.7

5.6

75

90

1.4

1.2

5.0

1.7

(70)

55

2.6

1.8

6.1

2.7

Leiden U > United States'

2.2

10 67

160

1.3 1.1

0.8 0.8

Netherlands

Switzerland 240

TABLE E.3

Annual output

2.7

5.3 1.2

5.5 3

California U J

3.6

0.5

Columbia U.k

10

0.8

0.7

10

H a r v a r d U.l

14

2.0

1.1

5

1.2 h

United States'

Peter Alter

Bewunderung und Ablehnung Deutsch-britische Wissenschaftsbeziehungen von Liebig bis Rutherford

Großbritannien und Deutschland waren seit dem späten 19. Jahrhundert zwei Staaten mit sehr ähnlichen sozialen, wirtschaftlichen und in mancher Hinsicht auch politischen Strukturen. Sicher: Großbritannien war damals immer noch das Modell für ein parlamentarisches System und das Pionierland der industriellen Revolution. Es konnte seinen ökonomischen Vorsprung bis weit über die Jahrhundertmitte hinaus halten. Seine politische und wirtschaftliche Modernität wurde von den kontinentaleuropäischen Staaten gern als Vorbild für die eigene Entwicklung genommen. Großbritannien, oder genauer: das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Irland, bildete auch schon seit langem einen vergleichsweise einheitlichen Staat, während etwa Deutschland seine nationalstaatliche Einigung erst spät mit der Gründung des Reiches gewann. Doch schon vor der deutschen Einigung in den Jahren 1866-71 waren die Kontakte zwischen den deutschen Staaten und dem Inselreich, der Welt- und Kolonialmacht am Rande der eurasischen Landmasse, vielfältig und intensiv auf verschiedenen Ebenen. Die engen verwandtschaftlichen Verbindungen des britischen Königshauses zu deutschen Fürstenfamilien sind dafür nur das herausragendste und bekannteste Beispiel.1 Angesichts der Vielzahl von Kontakten zwischen Großbritannien und Deutschland seit dem frühen 19. Jahrhundert liegt die Vermutung Als knappe Überblicke zu den deutsch-britischen Beziehungen in den letzten beiden Jahrhunderten siehe Wolfgang J. Mommsen: Two Centuries of Anglo-German Relations. A Reappraisal. London 1984; Günter Hollenberg: Englisches Interesse am Kaiserreich. Die Attraktivität Preußen-Deutschlands auf konservative und liberale Kreise in Großbritannien 1860-1914. Wiesbaden 1974. Immer noch lesenswert ist Percy Emst Schramm: Englands Verhältnis zur deutschen Kultur zwischen der Reichsgründung und der Jahrhundertwende. In: Werner Conze (Hg.): Deutschland und Europa. Historische Studien zur Völker- und Staatenordnung des Abendlandes. Festschriftfär Hans Rothfels. Düsseldorf 1951, S. 135-175.

Bewunderung und Ablehnung

297

nahe, daß in dieser Zeit sich dramatisch verbessernder Verkehrs- und Kommunikationsverhältnisse auch die Verbindungen zwischen deutschen und britischen Wissenschaftlern eng waren und zwischen Großbritannien und den deutschen Einzelstaaten bzw. dann dem Deutschen Reich ein reger wissenschaftlicher Austausch stattfand. Nun, die Vermutung scheint in ihrer Pauschalität nicht zuzutreffen; allenfalls im 19. Jahrhundert hat es Perioden gegeben, in denen die Beziehungen zwischen britischen und deutschen Wissenschaftlern eine ungewöhnliche Qualität annahmen. Im 20. Jahrhundert sind sie durch die beiden Weltkriege, in denen sich Großbritannien und Deutschland als Feinde gegenüberstanden, zweimal abrupt unterbrochen worden und mußten danach wieder mühsam aufgebaut werden. Die Gründe für die relativ geringe Intensität der Wissenschaftsbeziehungen zwischen Großbritannien und Deutschland seit dem frühen 19. Jahrhundert bis in unsere Tage sind vielfältig. Zum Teil wurzeln sie ganz allgemein im Charakter wissenschaftlicher Kommunikation. Ohne Zweifel hat es seit dem frühen 19. Jahrhundert aufgrund gemeinsamer Forschungsinteressen informelle, private Beziehungen auf bilateraler Ebene zwischen einzelnen Wissenschaftlern in den beiden Ländern gegeben. Doch diese Kontakte sind für den Historiker im nachhinein nur außerordentlich schwer zu fassen. Sie schlagen sich gewöhnlich nieder in privaten Korrespondenzen, Memoiren oder Autobiographien von Wissenschaftlern, und der Historiker stößt auf sie eher zufällig. Eine systematische Auswertung dieser Quellen unter der Perspektive deutsch-britischer Wissenschaftskontakte in den letzten 200 Jahren steht noch aus. Natürlich war der britische oder deutsche Wissenschaftler, egal welcher Fachdisziplin, durch die wissenschaftliche Literatur und die Fachzeitschriften über Entwicklungen auf seinem Forschungsgebiet im jeweils anderen Land informiert. Der zunehmende Informationsfluß und -austausch wurde dadurch erleichtert, daß Deutsch und Englisch im Laufe des 19. Jahrhunderts Französisch als Wissenschaftssprache weitgehend in den Hintergrund drängten. Die sprachliche Verständigung bildete also zwischen Briten und Deutschen kein Problem. Was es auf der bilateralen Ebene neben den Beziehungen über die Fachliteratur und Fachzeitschriften hinaus gab, waren die üblichen Aktivitäten des wissenschaftlichen Betriebes wie Studienreisen ins andere Land, Vorträge und Studienaufenthalte an Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen, die im Falle der Briten in Deutschland häufig mit dem Erwerb eines deutschen akademischen Grades abschlossen. Die bilateralen Beziehungen wurden ergänzt durch Kontakte, die sich bei den Veranstaltungen auf der internationalen Ebene ergaben. Internationale Kongresse und internationale Zusammenschlüsse von Wissenschaftlern wurden im 19. Jahrhundert wichtiger als Elemente im

298

Peter Alter

sich verdichtenden Kommunikationsgeflecht aller Wissenschaftsdisziplinen.2 Was es auf der bilateralen Ebene zwischen Großbritannien und Deutschland im 19. Jahrhundert und später nicht gab, waren nennenswerte institutionalisierte Kontakte zwischen britischen und deutschen Wissenschaftlern, das heißt: eine Zusammenarbeit von Wissenschaftlern beider Länder in gemeinsam finanzierten und organisierten Forschungsinstitutionen. Dieser Befund steht nicht im Widerspruch dazu, daß seit dem frühen 19. Jahrhundert häufig Deutsche an britischen Universitäten als Professoren tätig waren. Das war gewissermaßen ein früher »brain drain«, der nicht zuletzt durch die damals höheren Gehälter in Großbritannien verursacht wurde. Bekannte Beispiele dafür sind aus dem 19. Jahrhundert der berühmte Sprachwissenschaftler und Indologe Friedrich Max Müller (1823-1900), der seit 1854 in Oxford lehrte, oder der Chemiker August Wilhelm von Hofmann (1818-92), der 1845 auf Vorschlag Justus von Liebigs zum Direktor des neugegründeten Royal College of Chemistry in London ernannt wurde. Hofmann war zum Zeitpunkt der Ernennung 27 Jahre alt. Nach zwanzigjähriger Tätigkeit in London übernahm er einen Lehrstuhl an der Berliner Universität. Bekannte Beispiele für deutsche Gelehrte an britischen Universitäten im 20. Jahrhundert sind der Altphilologe Eduard Fraenkel (1888-1970), der seit den dreißiger Jahren in Oxford lehrte, oder der Soziologe Ralf Dahrendorf (geb. 1929), der von 1974 bis 1984 die London School of Economics and Political Science leitete und seit 1987 dem St. Antony's College in Oxford als »warden« vorsteht. Der umgekehrte Fall, daß britische Wissenschaftler in Deutschland tätig sind, scheint seltener zu sein, obwohl sich auch dafür Beispiele gerade aus jüngster Zeit zitieren lassen. Bis zum Ersten Weltkrieg war Deutschland in den bilateralen Wissenschaftsbeziehungen augenscheinlich das gebende Land, in dem sich zahlreiche junge britische Wissenschaftler zu Studienzwecken aufhielten, dessen Organisation und Förderung der Wissenschaft studiert wurde, dessen wissenschaftliche Einrichtungen häufig als Folie bzw. Modell für wissenschaftsorganisatorische Innovationen in Großbritannien dienten und das Wissenschaftler an britische Universitäten und Forschungseinrichtungen »exportierte«. Deutschland galt bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein nicht nur für die damals relativ kleine »scientific community« Großbritanniens, son-

2

Vgl. W.H.G. Army tage: The Rise of the Technocrats. A Social History. London/Toronto 1965, S. 351; F.S.L. Lyons: Internationalism in Europe, 1815-1914. Leiden 1963, S. 223-229; Peter Alter: Internationale Wissenschaft und nationale Politik. Zur Zusammenarbeit der wissenschaftlichen Akademien im frühen 20. Jahrhundert. In: Lothar Kettenacker et al. (Hg.): Studien zur Geschichte Englands und der deutschbritischen Beziehungen. München 1981, S. 201-221.

Bewunderung und Ablehnung

299

dem auch für große Teile der britischen Öffentlichkeit weithin als das »Land der Wissenschaft«. 3 Die führende Stellung der deutschen Geistes· und Naturwissenschaften, der deutschen Medizin und Technik war in Großbritannien, der imperialen Macht im Zenit ihres weltpolitischen Einflusses, nahezu unbestritten. Was in Preußen oder später im Deutschen Reich für die Förderung der Wissenschaft geschah, welche Ergebnisse sie erzielte, wie die Wissenschaft mit der Industrie zusammenarbeitete - alles dies stieß in Großbritannien auf großes Interesse und nur allzu häufig auf kritiklose Bewunderung. Mit dem Verweis auf die deutschen Universitäten nannte ζ. B. Richard B. Haidane, der liberale Abgeordnete und spätere Kriegsminister, das britische Erziehungssystem kurz nach der Jahrhundertwende im Unterhaus »rückständig«.4 Die Kombination von wissenschaftlicher Forschung und Geschäftssinn werde in Deutschland mit »marvellous success« praktiziert, schrieb 1906 die britische Wissenschaftszeitschrift Nature mit Blick auf den rasanten wirtschaftlichen Aufstieg des Reiches seit 1871.5 Die deutsche Nation, erklärte wenige Jahre später ein Redner auf einer Veranstaltung der British Science Guild, einer einflußreichen Organisation britischer Wissenschaftler und Wissenschaftsreformer, verdiene, was die Wissenschaft angehe, alle Hochachtung. Die Deutschen hätten die Bedeutung der Wissenschaft nicht nur für die Industrie erkannt, sondern auch für die Verwaltung des Staates und die Ausbildung der Bevölkerung.6 Noch wenige Tage vor Beginn des Ersten Weltkrieges hieß es in einer öffentlichen Erklärung bekannter britischer Gelehrter und Wissenschaftler: »We regard Germany as a nation leading the way in the Arts and Sciences, and we have all learnt and are learning from German scholars.« Ein militärischer Konflikt »with a nation so near akin to our own, and with whom we have so much in common« sei »a sin against civilization.«7

3

4 5 6 7

Bei den folgenden Ausführungen stütze ich mich auf einige meiner früheren Arbeiten zu dem Thema, vor allem auf: Deutschland als Vorbild britischer Wissenschaftsplanung um die Jahrhundertwende. In: Adolf M. Birke/Lothar Kettenacker (Hg.): Wettlauf in die Moderne. England und Deutschland seit der industriellen Revolution. München 1988, S. 51-69; Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in den deutsch-britischen Wissenschaftsbeziehungen. In: Rudolf Vierhaus/Bernhard vom Brocke (Hg.): Forschung im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft. Geschichte und Struktur der Kaiser-Wilhelm-IMax-Planck-Gesellschaft. Stuttgart 1990, S. 726-746; Wissenschaft, Staat, Mäzene. Anfänge moderner Wissenschaftspolitik in Großbritannien 1850-1920. Stuttgart 1982. Hansard, Pari. Deb., H.C.,4. Serie, Bd. 107, Sp. 708 (5.5.1902). Nature 74(1906), S. 319. Ebd. 83 (1910), S. 350. The Times, 1.8. 1914 (»Scholars' Protest Against War With Germany«). Vgl. dazu Lawrence Badash: British and American Views of the German Menace in World War I. In: Notes and Records of the Royal Society of London 34 (1979-80), S. 91-121, und

300

Peter Alter

Die Zahl ähnlicher Urteile von Seiten britischer Beobachter über den Status der Wissenschaft in Deutschland und ihre Bedeutung in der deutschen Gesellschaft seit dem frühen 19. Jahrhundert ließe sich unschwer vergrößern. Das enorme Prestige der deutschen Universitäten, deutscher Forschungseinrichtungen und später auch der Technischen Hochschulen hatte zwei ganz praktische Auswirkungen: Zum einen wurde für britische Gelehrte und hier insbesondere für britische Naturwissenschaftler ein Studienaufenthalt in Deutschland seit dem frühen 19. Jahrhundert geradezu obligatorisch. Häufig erwarben sie in Deutschland den Doktortitel, der an den britischen Universitäten erst seit dem Ersten Weltkrieg eingeführt wurde. Zum anderen wurde Deutschland vielfach zum Modell für britische Wissenschaftsplaner. Eine noch laufende Untersuchung, welche die Matrikel einiger führender deutscher Universitäten und Technika auswertet, hat allein für den Zeitraum 1800-1851 665 britische Studenten in Deutschland nachgewiesen. Die Gesamtzahl britischer Studenten in Deutschland wird für dieses halbe Jahrhundert auf ca. 1000 geschätzt.8 Andere Erhebungen haben für den späteren Zeitraum 1850-1914 nicht weniger als 9000 Briten an deutschen Universitäten und Technischen Hochschulen ermittelt.9 Das sind angesichts der damals kleinen Studentenpopulation bemerkenswerte Zahlen. Für angehende britische Naturwissenschaftler, vor allem für Chemiker, war ein Studium in Deutschland seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts geradezu obligatorisch. Allein bei Justus von Liebig in Gießen sollen zwischen 1836 und 1850 fast sechzig Briten studiert haben, bei Wilhelm Ostwald in Leipzig zwischen 1887 und 1906 vierzig Briten. Vor 1914 hatte praktisch jeder Chemieprofessor an einer britischen Universität in Deutschland promoviert.10 Der Historiker Herbert Fisher, der zwischen 1916 und 1922 Erziehungsminister im Kabinett Lloyd George war, hatte gegen Ende des 19.

8

9

10

Stuart Wallace: War and the Image of Germany. British Academics 1914-1918. Edinburgh 1988, bes. S. 24f. Jörg Mense (Universität Rostock): Der Wissenstransfer von Deutschland nach Großbritannien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und seine Wirkungen auf die Entwicklung in Großbritannien. Rainald von Gizycki: Centre and Periphery in the International Scientific Community: Germany, France and Great Britain in the Nineteenth Century. In: Minerva 11 (1973), S. 483. Ebd. und D.S.L. Cardwell: Technology, Science and History. London 1972, S. 192. Zum Einfluß Liebigs in Großbritannien: Robert F. Bud/Gerrylyn K. Roberts: Science versus Practice. Chemistry in Victorian Britain. Manchester 1984. Hollenberg ([Anm. 1], S. 297ff.) gibt ein Verzeichnis britischer Professoren, die einen Teil ihrer Studienzeit in Deutschland verbracht hatten; vgl. auch George Haines: Essays on German Influence upon English Education and Science, 1850-1919. Hamden (Conn.) 1969, und W.H.G. Armytage: The German Influence on English Education. London 1969.

Bewunderung und Ablehnung

301

Jahrhunderts in Göttingen studiert. In seiner Autobiographie skizzierte er die Vorzüge der deutschen Universitäten in der Zeit vor 1914: During the last two decades of the nineteenth century the German universities enjoyed a wide reputation for freedom, courage, and learning. To sit at the feet of some great German Professor, absorbing his publications, listening to his lectures, working in his seminary, was regarded as a valuable, perhaps as a necessary passport to the highest kind of academic career. Every year young graduates from our universities would repair to Berlin and Heidelberg, to Göttingen and Bonn, to Jena and Tübingen. The names of the German giants, of Ranke and Mommsen, of Wilamowitz and Lotze, were sounded again and again by their admiring disciples in British lecture-rooms. We learned that the great figures of the Augustan period of German literature had been followed by two generations of perhaps even more remarkable men, who had given new life to every branch of human knowledge."

Studienaufenthalte junger deutscher Wissenschaftler in Großbritannien scheinen hingegen vor 1914 vergleichsweise selten gewesen zu sein. Nur wenige Fälle sind bekannt. Bedeutsam wegen der Anstöße, die er dort erhielt, war der Londoner Forschungsaufenthalt von Otto Hahn, einem der Entdecker der Kernspaltung, in den Jahren 1904 und 1905. Hahn arbeitete damals im Labor des berühmten Chemikers Sir William Ramsay. Die zweite praktische Auswirkung des deutschen Wissenschaftsprestiges in Großbritannien war die, daß wissenschaftliche Institutionen wie auch Methoden und Grundsätze wissenschaftlichen Arbeitens in Deutschland12 spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts für britische Planungen hinsichtlich der Förderung von Wissenschaft häufig zum Vorbild wurden. Die meisten britischen Wissenschaftsplaner oder »Wissenschaftspolitiker« am Ende des 19. Jahrhunderts billigten dem Deutschen Reich im Hinblick auf seine Wissenschaftsorganisation und im Hinblick auf die Voraussetzungen, unter denen dort Wissenschaft betrieben wurde, einen beträchtlichen Modernisierungsvorsprung zu. Dieser angebliche Modernisierungsvorsprung Deutschlands und die vermeintliche Rückständigkeit Großbritanniens bzw. das oft beklagte relative Zurückfallen Großbritanniens in den Wissenschaften lassen sich empirisch nicht leicht belegen. So ist es selbst noch aus heutiger Sicht unter den Historikern durchaus umstritten, ob überhaupt und, wenn ja, in welchem Ausmaß Großbritannien im späten 19. Jahrhundert im Bereich der Wissenschaft gegenüber Deutschland oder anderen westlichen Industriestaaten ins Hintertreffen geraten war. Unabhängig von der Klärung dieser Probleme ist indes nicht zu übersehen, daß seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Orien-

11 12

H.A.L. Fisher: An Unfinished Autobiography. London 1940, S. 79. Für die Geschichtswissenschaft s . z . B . Klaus Dockhorn: Der deutsche Historismus in England. Göttingen 1950; Manfred Messerschmidt: Deutschland in englischer Sicht. Die Wandlungen des Deutschlandbildes in der englischen Geschichtsschreibung. Düsseldorf 1955, und Hollenberg [ Anm. 1 ].

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tierung zahlreicher britischer Wissenschaftler und Wissenschaftsplaner an den deutschen Verhältnissen, an der Entwicklung und den Lehrmethoden bestimmter wissenschaftlicher Disziplinen, an der finanziellen und ideellen Förderung von Wissenschaft und an ihrer Organisation in Deutschland quasi zur Regel wurde. In die Bewunderung für das »Land der Wissenschaft« mischte sich dabei seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zunehmend die Furcht vor dem schnell wachsenden wissenschaftlichen und industriellen Potential der erstarkenden Kontinentalmacht, die mit ihren kolonialen Ambitionen und dem Bau einer Hochseeflotte zur Weltmacht Großbritannien in ein politisches Konkurrenzverhältnis trat.13 Das Fazit, das sich aus der hier angedeuteten Perzeption der deutschen Wissenschaft und des deutschen »Wissenschaftssystems« im Großbritannien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ziehen läßt, liegt auf der Hand. In idealisierender Überhöhung der tatsächlichen Verhältnisse war Deutschland für die große Mehrheit britischer Wissenschaftler das Land, dessen Einstellung zur Wissenschaft häufig in geradezu hymnischen Formulierungen gefeiert wurde. Institutionelle Voraussetzungen, Organisationsstruktur und Effizienz der Wissenschaft in Deutschland legten aus britischer Perspektive eine Nachahmung nahe. Ein Modellcharakter wurde dem »Wissenschaftssystem« des Deutschen Reiches besonders in den Jahren um die Jahrhundertwende aus britischer Sicht vor allem aus vier Gründen zugesprochen. Erstens verfügte das Reich nach Meinung britischer Beobachter, welche die deutschen Verhältnisse zum Teil eingehend studiert hatten, über ein leistungsfähiges und sozial offenes Ausbildungswesen im sekundären und tertiären Sektor. Dabei wurde vor allem die gleiche Gewichtung von Forschung und Lehre in den deutschen Universitäten und Technischen Hochschulen hervorgehoben. Zweitens genoß die Wissenschaft in Deutschland angeblich die großzügige finanzielle Förderung des Staates. Drittens fiel den Briten auf, daß sich das deutsche »Wissenschaftssystem« durch eine große Vielfalt von Institutionen für die wissenschaftliche Forschung auszeichnete, sowohl im Rahmen der Universitäten und Technischen Hochschulen als auch auf dem Gebiet der außeruniversitären Forschungseinrichtungen, deren Zahl gegen Ende des Jahrhunderts rasch anstieg. Unter ihnen war die 1887 gegründete Physikalisch-Technische Reichsanstalt in Charlottenburg bei Berlin nur die bekannteste. Schließlich, viertens, fand nach Meinung der Briten zwischen Wissenschaft und Industrie in Deutschland ein fruchtbarer Aus-

13

Dazu vor allem Paul M. Kennedy: The Rise of the Anglo-German Antagonism 18601914. London 1980, und Robert K. Massie: Die Schalen des Zorns. Großbritannien, Deutschland und das Heraufziehen des Ersten Weltkriegs. Frankfurt a.M. 1993.

Bewunderung und Ablehnung

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tausch von Anregungen und Erfahrungen statt, der die schnelle Verwertung wissenschaftlicher Erkenntnisse durch die deutsche Industrie ermöglichte und der ihr gewaltige Vorteile gegenüber der internationalen Konkurrenz verschaffte. Gern verwiesen wurde in diesem Zusammenhang auf die deutsche chemische, pharmazeutische, optische und elektrotechnische Industrie. Die Frage, die sich der britischen Politik um die Jahrhundertwende stellte, war daher einfach und kompliziert zugleich: Wie sollte Großbritannien auf die wirtschaftliche, politische und wissenschaftliche Herausforderung des neuen Rivalen auf dem europäischen Kontinent reagieren? Wie sollte Großbritannien im »Existenzkampf der Völker«, von dem in diesen Jahren unter Anlehnung an die Theorien Charles Darwins so viel die Rede war,14 in naher und ferner Zukunft bestehen? Im »great struggle for life, not merely amongst individuals, but amongst nations«15 schien Großbritannien, nicht zuletzt wegen seiner angeblich mangelhaften Wissenschaftsorganisation und unzureichenden finanziellen Förderung der Wissenschaft, seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert den kürzeren zu ziehen. Das, was zu tun war, ergab sich beinahe von selbst: In den Jahren zwischen 1890 und 1914 entstand in Großbritannien als Reaktion auf die deutsche Wissenschafts- und Wirtschaftsdynamik mit der finanziellen Hilfe des Staates eine Reihe neuer Forschungsinstitute, Laboratorien und wissenschaftlicher Hochschulen. Aber wie bereits anklang, geschah die Gründung dieser neuen wissenschaftlichen Institutionen nicht in geistiger Isolierung von der Außenwelt. Sie geschah vielmehr in einem Prozeß intensiven Studiums von Vorbildern und Modellen. Diese wurden in den Jahren um die Jahrhundertwende vor allem in Deutschland gefunden. Anhand von zwei Beispielen kann dies in aller Kürze aufgezeigt werden. Das erste Beispiel ist das National Physical Laboratory, das im Jahre 1900 seine Arbeit in Teddington südwestlich von London aufnahm.16 Der Errichtung des heute noch bestehenden Laboratoriums, das 14

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16

Hansjoachim W. Koch: Der Sozialdarwinismus. Seine Genese und sein Einfluß auf das imperialistische Denken. München 1973; G.R. Searle: The Quest for National Efficiency. Α Study in British Politics and British Political Thought, 1899-1914. Berkeley/Los Angeles 1971. So der spätere Premierminister David Lloyd George in einer Rede in Newcastle am 4.4.1903 (Nachlaß David Lloyd George All/1/26, The House of Lords Record Office). Über die Entstehungsgeschichte des National Physical Laboratory, die hier nur skizziert wird, s. Russell Moseley: The Origins and Early Years of the National Physical Laboratory: A Chapter in the Pre-History of British Science Policy. In: Minerva 16 (1978), S. 222-250; Peter Alter: Staat und Wissenschaft in Großbritannien vor 1914. In: Helmut Berding et al. (Hg.): Vom Staat des Ancien Regime zum modernen Parteienstaat. Festschrift für Theodor Schieder zu seinem 70. Geburtstag. München/Wien 1978, S. 369383, u. Edward Pyatt: The National Physical Laboratory: A History. Bristol 1983.

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durch seine Untersuchungen und Entwicklungsarbeiten für die britische Industrie und dann besonders im Ersten Weltkrieg für die britische Kriegführung schnell eine eminente Bedeutung gewann, war eine längere Planungsphase vorausgegangen, in der Zweck und Finanzierung eines solchen Instituts erörtert wurden. Bereits 1871 hatte der berühmte Physiker Lord Kelvin (William Thomson) den Bau eines großen staatlichen Laboratoriums für die physikalische Grundlagenforschung, die Durchführung von Routineuntersuchungen und die Festlegung von Maßeinheiten angeregt.17 Dieser Vorschlag, der damals nur ein geringes Echo gefunden hatte, wurde zwanzig Jahre später von mehreren bedeutenden britischen Naturwissenschaftlern erneut aufgegriffen. Als ein Spezialinstitut außerhalb der Universitäten sollte das aus öffentlichen Mitteln finanzierte Laboratorium sowohl der »reinen« als auch der »angewandten« Forschung, sowohl der Wissenschaft als auch der Wirtschaft dienen. Bemerkenswert an der Gründungsgeschichte des National Physical Laboratory ist, daß das seit langem geforderte Laboratorium erst in dem Augenblick Gestalt anzunehmen begann, als von einflußreichen britischen Wissenschaftlern seit Mitte der neunziger Jahre das deutsche Vorbild, die Physikalisch-Technische Reichsanstalt, immer stärker als Bezugsgröße in die öffentliche Diskussion eingebracht wurde. Das National Physical Laboratory entstand dann auch in überaus enger Anlehnung an die Charlottenburger Reichsanstalt - »probably the most complete institute in Europe for physical research«.18 Sie wurde immer wieder als Modell für die einschlägigen britischen Bedürfnisse bezeichnet. Auch nachdem das National Physical Laboratory seine Arbeit aufgenommen hatte, riß der Kontakt zwischen beiden Instituten nicht ab. So werden in den Tätigkeitsberichten der Reichsanstalt in den Jahren nach 1900 neben Besuchern aus Frankreich und den Vereinigten Staaten immer wieder Besuche von Vertretern des National Physical Laboratory vermerkt.19 Die Tätigkeitsfelder beider Institute blieben in den Jahren nach der Jahrhundertwende weitgehend identisch. Unterschiede bestanden hingegen in der Zuordnung beider Institute zum jeweiligen finanziellen Träger, dem Staat. Beim zweiten Beispiel geht es um die Gründung des Imperial College of Science and Technology in London, das bis heute die bedeutendste Technische Hochschule Großbritanniens ist. Seine Gründung im

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19

D.S.L. Cardwell: The Organisation of Science in England. London 2 1972, S. 177. Philip Magnus et al.: Report on α Visit to Germany, with a View of Ascertaining the Recent Progress of Technical Education in that Country. London 1896, S. 8f.; David Cahan: An Institute for an Empire. The Physikalisch-Technische Reichsanstalt 18711918. Cambridge 1989. S. Aller: Deutschland als Vorbild [Anm. 3], S. 58.

Bewunderung und Ablehnung

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Jahre 1907 auf der Grundlage von drei kleineren, bereits bestehenden Einrichtungen stellt in der Geschichte des britischen Hochschulwesens einen wichtigen Einschnitt dar. Denn damit war in der britischen Hauptstadt, der damals größten Stadt der Erde, eine Einrichtung der Forschung und Lehre für die Natur- und Ingenieurwissenschaften entstanden, wie es sie in dieser Form und mit dieser spezifischen Aufgabenstellung bis dahin in Großbritannien noch nicht gab.20 Was Technische Hochschulen anging, war Großbritannien zu Beginn dieses Jahrhunderts im internationalen Vergleich ein Nachzügler, der sich bemühte, den immer deutlicher erkennbaren Rückstand gegenüber anderen Industriestaaten auf diesem Gebiet aufzuholen. Daß sich die britischen Hochschulplaner dabei an ausländischen Vorbildern orientierten, lag nahe und wurde von ihnen auch freimütig eingestanden. Das Vorbild war in diesem Falle die Technische Hochschule in Charlottenburg bei Berlin, die nach Meinung der britischen Wissenschaftsplaner an der Spitze wissenschaftlich-technischer Ausbildung und Forschung in der Welt stand. Das Schlagwort »Charlottenburg« bürgerte sich in Großbritannien seit Jahrhundertbeginn als Markenzeichen für das gesamte Technische Hochschulwesen in Deutschland ein, so daß in der britischen Öffentlichkeit und auf Seiten britischer Ingenieure gelegentlich schon kritisch von einer verbreiteten »Charlottenburgitis« der Bildungsreformer und Wissenschaftsplaner die Rede war.21 Ganz generell läßt eine Prüfung der britischen Diskussion über das Technische Hochschulwesen in Deutschland, wie sie nach der Jahrhundertwende einsetzte, aber den Eindruck entstehen, daß vom realen deutschen Vorbild im Grunde nur verhältnismäßig wenig vermittelt wurde. In ihren großen Zügen waren Verfassung, Aufgaben und Lehrangebot der deutschen Technischen Hochschulen durch Berichte und Besuche führender Bildungsreformer in Großbritannien bekannt. Aber an eine simple Kopie der deutschen Hochschulen und speziell der Charlottenburger Hochschule war ungeachtet aller Bezugnahmen auf »Charlottenburg« bei der Planung des Londoner Imperial College von Anfang an nicht gedacht worden. Das Problem, inwieweit die britischen Planungen in die von Deutschland vorgezeichneten Bahnen technischer Bildung und Ausbildung einmünden bzw. sich an ihnen orientieren könnten, 20

21

Vgl. zur Gründungsgeschichte des Imperial College Michael Argles: South Kensington to Robbins: An Account of English Technical and Scientific Education since 1851. London 1964; Α. Rupert Hall: Science for Industry: Α Short History of the Imperial College of Science and Technology and its Antecedents. London 1982, und Alter: Wissenschaft, Staat, Mäzene [Anm. 3], S. 169-192. S. Manfred Späth: Die Technische Hochschule Berlin-Charlottenburg und die internationale Diskussion des technischen Hochschulwesens 1900-1914. In: Reinhard Rürup (Hg.): Wissenschaft und Gesellschaft. Beiträge zur Geschichte der Technischen Universität Berlin 1879-1979. Bd. 1. Berlin 1979, S. 194 und S. 197f.

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beschäftigte auch einen Untersuchungsausschuß, den die britische Regierung 1904 zur Reorganisation des technischen Ausbildungswesens in London eingesetzt hatte. Den Vorsitz des Ausschusses hatte der schon genannte Richard Haidane übernommen, der selbst in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts ein paar Monate in Göttingen studiert und seither Deutschland häufig besucht hatte. Nach einem Überblick über die Technischen Hochschulen in Deutschland, Westeuropa und in den Vereinigten Staaten gelangte der Ausschuß zu differenzierten Schlußfolgerungen für die anstehende britische Gründung. Eine pauschale Übernahme des deutschen Modells technischer Ausbildung lehnte der Ausschuß unter Hinweis auf die spezifischen historischen und sozialen Bedingungen seiner Entstehung ab. Ein intensives Studium des deutschen Vorbildes sei zwar von Nutzen, so lautete das Fazit des Ausschusses, doch eine Technische Hochschule in London könne sinnvollerweise nur entstehen, wenn sie sich unter partieller Anlehnung an das deutsche Modell in den britischen Kontext und in das spezifische Aufgabenfeld einfüge, das ihr aus britischer Sicht zukommen sollte, nämlich als Hochschule dem ganzen Empire zu dienen.22 Haidane hatte bei seinen Besuchen in Deutschland, so berichtete er später in seiner Autobiographie, das deutsche System technischer Ausbildung als unbefriedigend empfunden. Er war zu dem Urteil gelangt, daß nur in »the larger atmosphere of a University [...] technical education of the finest kind can be attained.«23 Geisteswissenschaften, Naturwissenschaften und die Ingenieurwissenschaften sollten unter einem akademischen Dach angesiedelt sein. Die später oft bedauerte Spaltung der Wissenschaften in »two cultures« (C.R Snow) lehnte er entschieden ab. Die beiden hier skizzierten Beispiele neuer wissenschaftlicher Institutionen in Großbritannien zeigen sehr deutlich, daß das vieldiskutierte deutsche Vorbild für die britische Wissenschaftsplanung um die Jahrhundertwende eine unterschiedliche Funktion haben konnte. Im Falle des National Physical Laboratory diente das deutsche Vorbild, die Physikalisch-Technische Reichsanstalt, dazu, in Großbritannien eine nahezu identische Institution mit nahezu identischen Aufgaben zu gründen. Das heißt: das deutsche Vorbild einer erfolgreichen wissenschaftlichen Institution wurde mehr oder weniger kopiert. Im Falle des Imperial College of Science and Technology waren die Dinge anders und komplizierter gelagert. In diesem Falle diente das deutsche Vorbild, die Technische Hochschule in Charlottenburg, nicht als Blaupause für die britische Gründung, sondern es diente den britischen Wissenschaftsplanern als

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23

Final Report of the Departmental Committee on the Royal College of Science. London 1906, S. 22. Richard B. Haldane: An Autobiography. London 1929, S. 9 If.

Bewunderung

und Ablehnung

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Anregung, ja als Herausforderung für eine weitgehend eigenständige Entwicklung, die eingebunden wurde in bestehende universitäre Traditionen des Landes. Das angelsächsische Prinzip einer wie auch immer gearteten Verklammerung von Technik-, Natur- und Geisteswissenschaften blieb bei der Gründung des Imperial College im großen und ganzen unbestritten. So erhielt das College nicht den Status einer unabhängigen Technischen Hochschule, sondern es wurde ein Teil der Universität London. Für beide hier skizzierten Fälle von Neugründungen wissenschaftlicher Institutionen in Großbritannien gilt gleichermaßen, daß der ausdrückliche Bezug auf vergleichbare Einrichtungen in Deutschland die britische Gründung erleichterte, wenn nicht überhaupt erst ermöglichte. Durch den permanenten, oft idealisierenden Verweis auf das deutsche »Wissenschaftssystem« und den angeblich engen Zusammenhang zwischen großzügiger Wissenschaftsförderung und wirtschaftlicher Macht schufen sich die britischen Wissenschaftsplaner der Jahrhundertwende ein Druckmittel, um in Großbritannien wissenschaftsorganisatorische Innovationen zu verwirklichen. Der hartnäckige Vergleich mit dem wirtschaftlichen und politischen Rivalen Deutschland diente den britischen Wissenschaftsplanern und Bildungsreformern dazu, einen in dieser Hinsicht traditionell eher passiven Staat stärker als bis dahin üblich für die Förderung von Wissenschaft zu engagieren. 24 Im August 1914 trat dann der militärische Konflikt an die Stelle der wirtschaftlichen und politischen Rivalität zwischen dem Deutschen Reich und Großbritannien. Was waren die Folgen? Sie waren tiefgreifend und langfristig. Der Krieg war die Ursache dafür, daß Deutschland seinen Rang als »Mekka« für britische Wissenschaftler und seinen Modellcharakter für wissenschaftsorganisatorische Planungen in Großbritannien von einem Tag auf den anderen einbüßte. Der berüchtigte Aufruf »An die Kulturwelt!« vom 4. Oktober 1914, in dem 93 führende deutsche Hochschullehrer, Schriftsteller und Künstler die Politik der Reichsregierung bedingungslos rechtfertigten, 25 verursachte »immense damage to the reputation of German scholarship, in neutral as well as Allied states.« 26 Die Orientierung an der deutschen Wissenschaft, an den deutschen Uni-

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25

26

Hierzu Vf.: Science and the Anglo-German Antagonism. In: T.R. Gourvish/Alan Ο'Day (Hg.): Later Victorian Britain 1867-1900. London 1988, S. 271-290. Der Aufruf wurde schließlich von über 3000 deutschen Professoren unterschrieben, praktisch der gesamten deutschen Hochschullehrerschaft. Dazu im einzelnen: Bernhard vom Brocke: >Wissenschaft und Militarismus^ Der Aufruf der 93 >An die Kulturwelt!< und der Zusammenbruch der internationalen Gelehrtenrepublik im Ersten Weltkrieg. In: William M. Calder/Hellmut Flashar/Theodor Lindken (Hg.): Wilamowitz nach 50 Jahren. Darmstadt 1985, S. 649-719, und Klaus Schwabe: Wissenschaft und Kriegsmoral. Die deutschen Hochschullehrer und die politischen Grundfragen des Ersten Weltkrieges. Göttingen 1969. Wallace [Anm. 7], S. 34.

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versitäten und Technischen Hochschulen galt seit Kriegsbeginn als ein Irrweg. Sie wurde nun in einer Vielzahl von Publikationen und in öffentlichen Reden diskreditiert. Die wissenschaftliche Kommunikation zwischen den Kriegsgegnern kam völlig zum Erliegen. Der deutschen Wissenschaft und Wissenschaftsorganisation wurde fortan in Großbritannien jegliche Originalität abgesprochen, ihre in den Jahren und Jahrzehnten zuvor behauptete Überlegenheit als eine allgemeine Täuschung bezeichnet.27 Die Fähigkeit der deutschen Wissenschaftler, so hieß es jetzt, bestehe nicht in der kreativen Erforschung des Unbekannten, sondern sie erschöpfe sich in der geschickten Aneignung und ökonomischen Auswertung von Entdeckungen, die anderswo gemacht wurden. Wenige Tage vor Kriegsende notierte die Schriftstellerin Virginia Woolf ein Gespräch mit dem schon genannten Herbert Fisher, das den Umschwung von Bewunderung zu Abneigung im Verhältnis der britischen Gelehrten und Wissenschaftler zu Deutschland anschaulich spiegelt. »I was a great admirer of the Germans in the beginning,« sagte Fisher bei dieser Gelegenheit. »I was educated there, and I've many friends there, but I've lost my belief in them. The proportion of brutes is greater with them than with us. They have been taught to be brutes.«28 Während sich in der britischen Tagespresse und in den wissenschaftlichen Zeitschriften die negativen Bezüge auf die deutschen Wissenschaftsinstitutionen und die Qualität der deutschen Forschung während des Krieges häuften, wurden die Vorbildlichkeit und Leistungsfähigkeit der öffentlichen wie auch privaten amerikanischen Wissenschaftsinstitutionen hervorgehoben. Die nunmehr geradezu stürmisch einsetzende Popularisierung der amerikanischen Wissenschaft, ihrer Leistungen und ihres Forschungspotentials, ging mit dem eingehenden Studium ihrer institutionellen Voraussetzungen in der Öffentlichkeit Großbritanniens und in Regierungskreisen Hand in Hand. Dies macht aus deutscher Sicht in geradezu bestürzender Weise deutlich, daß der Erste Weltkrieg die internationalen Wissenschaftsbeziehungen, wie sie sich im 19. Jahrhundert in einem längeren Prozeß herausgebildet hatten, binnen weniger Jahre, ja Wochen, nachhaltig veränderte. Deutschland verlor seine bis dahin nahezu unbestrittene Vorrangstellung in der Wissenschaft, seine Schrittmacherrolle und Vorbildfunktion bei der Organisation wissenschaftlicher 17

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Symptomatisch für den abrupten Stimmungswandel in Großbritannien war das politische Schicksal Haldanes, dessen bekannte Bewunderung für deutsche Bildung und Wissenschaft ihn nach Kriegsbeginn als Freund Deutschlands abstempelte. 1915 gab er sein Amt als Lordkanzler ab. Zu den Anfeindungen und Verleumdungen, denen er seit August 1914 ausgesetzt war, vgl. Dudley Sommer: Haidane ofCloan. His Life and Times 1856-1928. London 1960, S. 309-329, und J.G. Crowther: Statesmen of Science. London 1965, S. 271-300. Allgemein auch Badash [ Anm. 7], bes. S. 98-104. H.A.L. Fisher am 15.10.1918, in: Olivier Bell (Hg.): The Diary of Virginia Woolf. Bd. 1:1915-1919. London 1977, S. 204.

Bewunderung und Ablehnung

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Forschung - und das nicht nur in Großbritannien. Dies ist ζ. B. ein Grund, warum eine der wichtigsten wissenschaftsorganisatorischen Neugründungen im kaiserlichen Deutschland von den britischen Wissenschaftlern nach Kriegsende kaum wahrgenommen wurde. Die seit 1911 bestehende Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, die Vorläuferin der heutigen Max-Planck-Gesellschaft, wurde in Großbritannien nie zu einem Modell für die Wissenschaftsförderung im modernen Industriestaat. Die kulturellen und wissenschaftlichen Beziehungen, welche die intellektuellen Eliten beider Länder bis 1914 pflegten, konnten in den zwanziger und dreißiger Jahren nicht wiederhergestellt werden. Studienaufenthalte von britischen Wissenschaftlern an deutschen Universitäten wurden ersetzt durch Aufenthalte an amerikanischen Universitäten und Forschungsinstituten. Ausnahmen waren die Sprach- und Literaturwissenschaftler und auch die Physiker, für die vor allem Göttingen in den zwanziger Jahren weiterhin eine große Anziehungskraft besaß. Der »Boykott« der deutschen Wissenschaftler durch ihre Kollegen in den vormals alliierten Staaten und der deutsche »Gegen-Boykott« bis Mitte der zwanziger Jahre29 trugen zudem noch dazu bei, daß die deutsch-britischen Wissenschaftsbeziehungen weitgehend zum Erliegen kamen. Die Tatsache, daß der Chemiker Fritz Haber während des Krieges an der Giftgasforschung führend beteiligt war, und zwar als Leiter eines Instituts der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, war in den zwanziger Jahren selbst einer breiteren Öffentlichkeit in Großbritannien bekannt.30 Zu Kongressen, die Anfang der zwanziger Jahre in Großbritannien stattfanden, wurden deutsche Gelehrte nicht eingeladen. Albert Einsteins Vorlesung über die Relativitätstheorie, gehalten 1921 an der Universität Manchester als Dank für die Verleihung der Ehrendoktorwürde, war eine bemerkenswerte Durchbrechung der psychologischen Schranken. Nach dem Ende des gegenseitigen Boykotts Mitte der zwanziger Jahre trafen sich deutsche und britische Wissenschaftler wieder auf internationalen Konferenzen und lebten auch die Besuche im jeweils anderen Land wieder auf. Max Planck war schon im April 1926 zusammen mit Arnold Sommerfeld zum ausländischen Mitglied der Royal Society of London gewählt worden, der angesehensten wissenschaftlichen Akademie des Landes. 1931 nahm Planck an der Maxwell-Feier in Cambridge teil. Der Biochemiker Otto Warburg wurde 1934 in die Royal Society aufgenommen und nahm in

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30

Vgl. dazu Brigitte Schroeder-Gudehus: Internationale Wissenschaftsbeziehungen und auswärtige Kulturpolitik 1919-1933. Vom Boykott und Gegenboykott zu ihrer Wiederaufnahme. In: Vierhaus/vom Brocke (Hg.) [Anm. 3], S. 858-885; auch dies.: Deutsche Wissenschaft und internationale Zusammenarbeit, 1914-1928. Genf 1966. Lutz F. Haber: The Poisonous Cloud. Chemical Warfare in the First World War. Oxford 1986, bes. das Kapitel »The Aftermath«, S. 285-319; Dietrich Stoltzenberg: Fritz Haber. Chemiker, Nobelpreisträger, Deutscher, Jude. Weinheim 1994, S. 604f.

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den folgenden Jahren regelmäßig an ihren Sitzungen teil - das ungeachtet der nationalsozialistischen Maßnahmen, welche die Auslandsreisen deutscher Wissenschaftler mit fadenscheinigen Argumenten drastisch einschränkten. Aufgrund der politischen Situation in Deutschland lehnten es die britischen Universitäten daher im Juni 1936 ab, an der 550-Jahr-Feier der Universität Heidelberg teilzunehmen.31 Der Direktor des National Physical Laboratory hielt sich jedoch 1937 aus Anlaß der 50-Jahr-Feier der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt in Berlin auf. Im Spätsommer 1938, als sich die Gewitterwolken in der europäischen Politik drohend zusammenzogen, vereinbarten die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und die Royal Society einen regelmäßigen Besucheraustausch zwischen deutschen und britischen Wissenschaftlern.32 Der letzte deutsche Besucher in London im Rahmen dieser Vereinbarung war im Juni 1939 Otto Hahn. Er sprach vor britischen Kollegen, unter ihnen der berühmte Ernest Rutherford, in der Royal Institution über die von ihm, Lise Meitner und Fritz Straßmann gerade entdeckte Uranspaltung. Der für den Herbst vorgesehene Vortrag des Physikers George P. Thomson in Deutschland konnte wegen des Kriegsausbruchs nicht mehr stattfinden. Am Ende dieser wenigen Bemerkungen sollte wenigstens erwähnt werden, daß für viele deutsche Wissenschaftler Großbritannien in den dreißiger Jahren eine ganz neue, existentielle Bedeutung gewann. Vielen von denen, die aus dem nationalsozialistischen Deutschland flohen, gab Großbritannien vorübergehend oder auf Dauer Asyl und sehr häufig auch eine neue berufliche Chance.33 Der bekannteste Wissenschaftler unter den Emigranten war ironischerweise der schon erwähnte Fritz Haber, der 1933 einer Einladung der Universität Cambridge folgte, aber dann schon im Januar 1934 während einer Reise in der Schweiz starb.34 Insgesamt fanden etwa 500 deutschsprachige Wissenschaftler aller Fachrichtungen in Großbritannien Zuflucht. 35 Und schließlich noch eine kurze Bemerkung, die den Kreis der deutsch-britischen Wissenschaftsbeziehungen seit dem frühen 19. Jahr31 32

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34

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Wallace [Anm. 7], S. 198. Nature 143 (1939), S. 1035 (»The Royal Society and the Kaiser Wilhelm Society. Exchange of Visits«). Peter Kröner: Vor fünfzig Jahren. Die Emigration deutschsprachiger Wissenschaftler 1933-1939. Wolfenbüttel 1983; Werner Röder/Herbert A. Strauss (Hg.): Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933. Bd. 2: The Arts, Sciences, and Literature. München 1983; Gerhard Hirschfeld (Hg.): Exil in Großbritannien. Zur Emigration aus dem nationalsozialistischen Deutschland. Stuttgart 1983. Die Royal Society hatte Haber 1932 mit einer ihrer höchsten Auszeichnungen, der Rumford-Medaille, geehrt. Gustav Born: The Effect of the Scientific Environment in Britain on Refugee Scientists from Germany and their Effect on Science in Britain. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 7 (1984), S. 130.

Bewunderung und Ablehnung

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hundert gewissermaßen schließt. Unmittelbar nach dem Ende des zweiten großen Krieges in unserem Jahrhundert, in dem sich die beiden Länder erneut als Feinde gegenüberstanden, hatte sich das Verhältnis zwischen der Wissenschaft und den Wissenschaftlern in Deutschland und Großbritannien umgekehrt. Nun war auf einmal nicht mehr Deutschland, sondern Großbritannien das gebende Land. Die Umwandlung der Technischen Hochschule Berlin, des alten »Charlottenburg« der britischen Wissenschaftsplaner um die Jahrhundertwende, in die Technische Universität Berlin geschah im April 1946 unter maßgeblicher Hilfestellung von Vertretern der britischen Militärregierung in Deutschland. Sie drängten darauf, daß die berühmteste deutsche Technische Hochschule nach britischem Vorbild eine Technische Universität unter Einschluß der Geisteswissenschaften wurde.36 In großzügiger Weise gestatteten die Briten in ihrer Besatzungszone die Neuorganisation der Wissenschaft. Universitäten und Forschungseinrichtungen konnten schon bald nach Kriegsende ihre Tätigkeit wiederaufnehmen. Britischer Initiative war es auch zu verdanken, daß die Kaiser-WilhelmGesellschaft nicht aufgelöst wurde, wie es die Amerikaner wünschten. Im September 1946 wurde sie in Bad Driburg als »Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften« unter der Präsidentschaft Otto Hahns quasi neugegründet.37 Die Gründung der Max-Planck-Gesellschaft als Auffangbecken für die gefährdeten Institute der alten Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft war ganz wesentlich ein Verdienst des Obersten Bertie Blount, des für den Wiederaufbau der deutschen Forschung zuständigen Offiziers der britischen Militärregierung. Dieser für den Neuaufbau der Wissenschaft im Nachkriegsdeutschland so wichtige Oberst Blount war ein Chemiker. Er hatte 1931 in Frankfurt promoviert.

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Peter Brandt: Wiederaufbau und Reform. Die Technische Universität Berlin 19451950. In: Rürup (Hg.) [Anm. 21] Bd. 1, S. 500; David Philipps: Lindsay and the German Universities: an Oxford Contribution to the Post-War Reform Debate. In: Oxford Review of Education 6 (1980), S. 91-105. S. dazu im einzelnen Vf.: Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft [Anm. 3], S. 743-746; Jürgen Brautmeier: Forschungspolitik in Nordrhein-Westfalen 1945-1961. Düsseldorf 1983; Maria Osietzki: Wissenschaftsorganisation und Restauration. Der Aufbau außeruniversitärer Forschungseinrichtungen und die Gründung des westdeutschen Staates 1945-1952. Köln 1984, bes. S. 108-132.

Jean Dhombres

Nationale Bedingungen mathematischer Kultur in Deutschland und Frankreich in den Jahren um 1900

Mathematik ist eine der grundlegenden Facetten der Kultur - in ihren Ausdrucksweisen, Aufgabenbereichen und Darstellungen. Dies ist nur selten in aller Deutlichkeit gesagt worden, vielleicht weil es selbstverständlich scheint. Die Wissenschaft Euklids ist jedoch nur in dem Maße Bestandteil der Kultur, als sie selber eine Kultur bildet. Dies sei kurz vorangestellt, um der Versuchung, der Historiker gern erliegen, entgegenzuwirken, Mathematik mit einer technischen Sprache gleichzusetzen, so als wolle man Musik auf das einfache Notenlesen reduzieren. Will man die Mathematik in den kulturellen Bereich eingliedern, so stößt man unvermeidlich auf eine historische Spur, eine Gegenwart in der Zeit, in den Zeiten. Diese Last der Vergangenheit ist schon seit den Anfängen der Geometrie höchst umstritten: Die Verfechter der These, Mathematik sei ein historischer Prozeß der Enthüllung, stehen den Anhängern der Auffassung gegenüber, es handele sich um ein selbstverständlich soziales - Konstrukt des Menschen, welches auch völlig anders hätte ausfallen können. Dies um so mehr, als jedes Zeitalter den Gegensatz zwischen Piaton und Aristoteles in Hinblick auf Zielsetzung und Klassifikation in eine ganz eigene Fragestellung faßt, die ihrerseits im Gleichklang mit vielen anderen Fragen steht. Der ikonoklastischen Frage Giordano Brunos - ist der Raum außerhalb von Gott - entspricht die materielle Bedingtheit des Raumes bei Descartes, seither in dieser Metaphysik dem Denken an Gott untergeordnet. Im 18. Jahrhundert hat sich unter dem Einfluß von Leibniz und der Rückführung der Bewegungsvorgänge auf einige einfache Gesetze die Fragestellung verschoben. Haben diese Gesetze auf dem Planeten Sirius1 noch Geltung? Anders gefragt: sind die Einsichten der Mecha-

1

Dort wohnt Micromegas, Held in Voltaires gleichnamiger Erzählung, in der verschiedene philosophische Systeme satirisch kritisiert werden (Anm. d. Übers.).

Nationale Bedingungen mathematischer

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nik zufällig oder zwingend? So etwa lautet der Titel einer Preisaufgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin im Jahre 1757. Jean d'Alembert verfaßte eine lange Antwort - ein unveröffentlichtes Schriftstück, auf dessen Existenz ich hinweisen möchte. Leonhard Euler sorgte dann dafür, daß der Preis nicht verliehen wurde. Damit sind wir schon mitten im Thema: Paris und Berlin stehen in Opposition. Stets den Gegensatz zwischen Deutschland und Frankreich im Blick fällt es nicht schwer, unterschiedliche Entwicklungen, ja intellektuelle Ahnenreihen in der Mathematik nachzuzeichnen. Dem empirischen Genetismus des Franzosen Condillac mit seiner Langue des calculs,2 für den Mathematik eine wohlgeordnete Ansammlung von Zeichen ist, die bestehende klare, da analytische Sprache wie auch die noch zu entwickelnde, steht das Konstrukt Kants gegenüber, das auf synthetischen Λρποπ-Urteilen gründet, die den >reinen Formen der Anschauungspontanen Ideologie< des Mathematikers (um einen alten, von Louis Althusser inspirierten Ausdruck zu verwenden) sollte man jedoch ebenfalls mißtrauen und vielmehr versuchen, die mathematische Ideologie einer anderen Zeit zu rekonstruieren (eine Ideologie, die natürlich nicht mehr >spontan< wäre). Eine der Besonderheiten dieser intellektuellen Disziplin ist es, zugleich die Zeit- und die geographische Raumgebundenheit zu leugnen, die Chronologie zu negieren zugunsten der Logik des Diskurses, die nationalen Grenzen aufzulösen in der Universalität. »Die Mathematik«, pflegt man zu sagen, nicht »die mathematischen Wissenschaften«. 5 Der Ausdruck »chinesische« Mathematik wirkt befremdend, etwas weniger als »jesuitische« Mathematik, schlimmer noch »Nazi«-Mathematik, und Spezialisten versuchen derzeit noch, die auf islamischem Boden entstandenen mathematischen Varianten zu klassifizieren, die sich bislang hinter der Bezeichnung »Mathematik des arabischen Sprachraums« verbergen. Wenn wir die Mathematik als Entfaltung einer bestimmten Weltauffassung verstehen, dann kommen wir nicht umhin, sie der Kultur zuzuordnen. Doch damit sind wir noch mitten in unserer Vorrede, denn Thema dieses Beitrags sind die »nationalen« Bedingungen von mathematischer Kultur. Auf den ersten Blick könnten wir uns darauf beschränken, das Äußere zu analysieren, die Oberfläche, und nicht den Kern der jeweiligen Mathematik. Wir würden uns mit einer äußerlichen Geschichte begnügen, würden die innere Geschichte, die des zeitgebundenen Abenteuers der Konzepte und ihrer Wandlungen, übergehen. Selbst wenn man eine solche Nachlässigkeit hinnehmen wollte, entstünde doch ein augenfälliger Widerspruch zu dem kulturellen Ziel, das wir uns gesteckt haben. Wie könnte eine Kultur auf Äußerlichem aufbauen? Wenn der Begriff Kultur auch sehr allgemein ist, so darf er doch nicht ungenau werden. Diesem Dilemma können wir nur entkommen, indem wir uns um Genauigkeit bemühen und hohe Anforderungen stellen. So gilt es zunächst zu zeigen, was mathematische Kultur - jenes Gemisch aus Konzepten, Gewohnheiten und Optionen - umfaßt, auch wenn sie nur in beschränktem Rahmen und für eine beschränkte Epoche beschrieben wird: Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts - die Belle Epoque - und für den französischen und deutschen Kulturraum. Schon dies ist eigentlich eine Herausforderung.

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In Frankreich sagt man gewöhnlich »la mathematique« oder »les mathematiques«.

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Zusammenarbeit für eine Kultur Glücklicherweise ist der Gegenstand unserer vergleichenden Analyse das Paar Frankreich/Deutschland im Hinblick auf die Mathematik nicht auf die Rekonstruktion eines Historikers oder Philosophen angewiesen: Kurz nach 1900 arbeiten gerade deutsche und französische Mathematiker - die Elite beider Länder - gemeinsam an einer Encyclopedic des sciences mathematiques pures et appliqudes, die auf Deutsch in Leipzig6 und nahezu gleichzeitig in Paris auf Französisch7 erschienen ist. Letztere ist keine Übersetzung der ersteren, wie es ein Hinweis in jeder Folge der Encyclopedic betont: Diese französische Ausgabe erhält durch die Zusammenarbeit deutscher und französischer Mathematiker einen besonderen Charakter. Die Autoren der deutschen Ausgabe haben Änderungen, die in ihre Artikel eingefügt werden sollten, angegeben, und zudem hat die französische Redaktion eines jeden Artikels einem breiten Meinungsaustausch unter Beteiligung aller Interessierten Raum gegeben; die Zusätze durch französische Mitarbeiter stehen zwischen Sternchen.

So unterstreicht ein kleiner Satz in Form einer Litotes beschwörend das Besondere dieses Unternehmens (eine Premiere), das die beiden nationalen Traditionen auf einen Nenner bringt und sich zugleich vereinheitlichend auf die gesamte mathematische Kultur auswirkt, während der weltweite Konflikt sich vorbereitet: »Die französische Ausgabe der Encyklopädie ist das erste Beispiel einer Zusammenarbeit, deren Wichtigkeit niemand übersehen kann.«8 Jede Folge veranschaulicht die Etappen dieser Zusammenarbeit. Band IV, Mechanik, beispielsweise ist in der deutschen Ausgabe von F. Klein (damals in Göttingen) und C.H. Müller (Hannover) verfaßt. Für die französische Ausgabe jedoch zeichnen Jules Molk (Nancy) sowie Paul Appel (Paris) als Haupt verantwortliche.9 Der Unterabschnitt über

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Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften mit Einschluß ihrer Anwendungen. Leipzig 1908ff.; das Werk erschien unter der Schirmherrschaft der Akademien der Wissenschaft zu Göttingen, Leipzig, München und Wien und unter Mitwirkung zahlreicher Wissenschaftler, wurde aber erst 1935 unter anderer Leitung fertiggestellt. Encyclopedic des sciences mathematiques pures et appliquees. Französische Ausgabe redigiert anhand der deutschen Ausgabe und hg. unter der Leitung von Jules Molk. Paris/Leipzig 1904-1916. Diese Zusammenarbeit folgt dem Vorbild der 1899 gegründeten Internationalen Assoziation der Akademien. Dazu B. Schroeder-Gudehus: Les congres scientifiques et la politique de cooperation internationale des academies des sciences. In: Relations internationales 62 (1990), S. 135-148. Die Mechanik bildet den vierten Band der Encyklopädie; die einzelnen Teilbände erscheinen nicht in der richtigen Reihenfolge. So kommt Bd. IV,1 erst im März 1915, während Bd. IV,2 auf den 22. Mai 1912 datiert ist. Diese chronologische Unordnung macht die gemeinsamen Merkmale aller Bände der Encyklopädie um so deutlicher diese Einheitlichkeit ist Gegenstand unserer Untersuchung.

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Kinematik ist auf Deutsch von A. Schönflies (Frankfurt a.M.) verfaßt, auf Französisch von G. Koenigs aus Paris. Sieht man die eben erschienene Neuauflage durch, so kann man sich einer gewissen Betroffenheit nicht entziehen angesichts der knappen Worte, die sich auf S. 305 brutal in die Beschreibung von Bewegungen bei Freiheit zweiter Stufe einschieben: »Das Ende des vorliegenden Artikels konnte wegen des Krieges nicht publiziert werden.«10 Tatsächlich wurde das Erscheinen nicht mit dem Beginn der Feindseligkeiten eingestellt, sondern erst im Jahre 1916. Allerdings hatte der beinahe symbolisch eingetretene, plötzliche Tod von Jules Molk im Jahre 1914 den Erscheinungsrhythmus der Folgen bereits deutlich verlangsamt. Der auf dem Gebiet der Mathematik ab 1904 angestrebte deutschfranzösische Konsens kontrastiert mit den politischen Deklarationen vor 1914, war aber für beide Länder nicht selbstverständlich zu erreichen, denn ihre Erziehungstraditionen11 hatten zumindest nicht immer dieselben Wege eingeschlagen. Im Ausbildungswesen liegen fest verankerte Denkgewohnheiten begründet, die mit regionalen, wenn nicht nationalen Eigenheiten in Zusammenhang stehen: Diese Eigenheiten sind es, die eine Kultur bedingen oder gar das Hauptgewicht daran tragen. Unbestreitbar schätzen französische Mathematiker die Geometrie, wenn nicht wegen der ihr eigenen Technik, so wenigstens als repräsentativste Form mathematischen Vorgehens, und sie haben nahezu das Monopol für darstellende Geometrie, eine Disziplin, deren Lehrgebäude gegen Ende des 18. Jahrhunderts von Gaspard Monge erstellt wurde, und die — ein typischer Fall - erst mit der Ankunft Felix Kleins im Jahre 1875 ins Curriculum der Technischen Hochschule München aufgenommen wurde. Nach der Statistik ist die Geometrie das Thema, über welches zwischen 1872 und 1914 die meisten Publikationen12 von Mitgliedern der »Societe mathematique de France« herauskommen, auch wenn dann die Analysis nach 1910 deutlich überwiegt. Zwar sichern die weitschweifigsten Autoren in den Mathematischen Annalen13 von 10

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Encyclopedic des Sciences Mathematiques pures et appliquees. Nachdruck von Jacques Gabay. Paris 1991, Band IV,2. Einen Eindruck von der deutschen Denkart, als allgemeine mathematische Denkart dargestellt, vermittelt H. Mehrtens: Moderne Sprache Mathematik. Frankfurt a.M. 1990. Zum soziologischen Aspekt des Lehrkörpers vor 1870 vgl. G. Schubring: Die Entstehung des Mathematiklehrerberufes im 19. Jahrhundert. Weinheim 1983. Der von H. Gispert berechnete Anteil liegt bei 32%, mehr als das Vierfache im Vergleich zur Algebra oder Zahlentheorie im selben Zeitraum, jedenfalls um fünf Stellen höher als die Produktion in der Analysis; vgl. H. Gispert: La France mathematique; la societe mathematique de France (1870-1914). In: Cahiers d'Histoire et de Philosophie des Sciences 34 (1991), Schaubild S. 173. Die Mathematischen Annalen wurden 1868 von Clebsch und Neumann in Göttingen gegründet und konkurrierten mit dem seit 1826 von Crelle in Berlin vertriebenen Journal für die reine und angewandte Mathematik, dem deutschen Pendant zum

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1869 bis 1901 der linearen Algebra einen Anteil von 29%, doppelt soviel wie der Analysis der reellen Größen, doch wenn man die Publikationen über Analysis der komplexen Größen hinzunimmt, so wird der Anteil der Geometrie in Wahrheit überholt.14 Als dagegen Michel Chasles 1870 seinen Rapport sur les progres de la gäomätrie vorlegt, der vom Erziehungsminister des Second Empire, Victor Duruy, im Rahmen einer allgemeinen Untersuchung über den Stand der Wissenschaft bezuschußt wurde, bezeichnet er die Geometrie als wichtigsten Teil und Basis der Mathematik.15 Doch offensichtlich läßt er dieser Basis nur eine phänomenologische Definition zukommen: »Das Studium von Figuren, das heißt von Linien und Rächen, die apriori durch bestimmte Gesetze vorgegeben sind.« So war es ihm möglich, auch mechanischoder physikalisch-mathematische Probleme in diesen Bereich mit einzubeziehen und die Mathematik kurzerhand in Geometrie und Analysis zu unterteilen - diese Dichotomie birgt die Gefahr einer Spaltung der Lehrerschaft in zwei Lager. Anders dagegen die Klassifizierung des jungen Felix Klein; er definierte im Jahre 1872 in seinem sogenannten Erlanger Programm Geometrie als das Studium der Invarianten einer Gruppe von Transformationen einer Variablen; so nennt er Euklids Geometrie die der Bewegungen:16 dadurch erhält Geometrie bei ihm eine stark konzeptuelle Einheit, ohne übermächtig zu werden und unter Betonung der erforderlichen algebraischen Basis. Doch darf man die Bedeutung von Kleins Arbeit nicht überschätzen; erst einige Jahrzehnte später wurde ihr Anerkennung zuteil.17 Wichtiger sind intellektuelle Meilensteine wie die kontinuierlichen Gruppen 18 des Norwegers Sophus Lie (Christiania; ab 1886 München, nachdem Klein nach Göttingen gegangen war), oder die geometrische Anwendung der Gruppen durch den Franzosen Camille Jordan, dessen Traitd des Substitutions 1870 erschien, und ebenso die von Henri Poincare eingeschlagene Rich-

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Journal de mathematiques pures et appliquees von J.D. Gergonne, das seit 1810 existierte. Nach den Angaben von David E. Rowe: Klein, Hilbert and the Göttingen Mathematical Tradition. In: Osiris 5 (1989), S. 186-213, Schaubild S. 193. Da sie sich weder auf dieselben Bereiche noch auf denselben Zeitraum - letzterer überdies nur teilweise erfaßt - beziehen, sind die Statistiken von Gispert und Rowe nicht vergleichbar und dienen nur einer allgemeinen Orientierung. Dennoch sind die Analysen beider Autoren sehr aufschlußreich. Vgl. M. Chasles: Rapport sur les progres de la geometrie. Paris 1870, S. 2. F. Klein: Vergleichende Betrachtungen über neuere geometrische Forschungen. In: ders.: Gesammelte mathematische Abhandlungen. Berlin 1921, S. 460-497. Siehe hierzu die aufschlußreiche Untersuchung von T. Hawkins: The >Erlanger Programm< of Felix Klein: Reflections on its Place in the History of Mathematics. In: Historia Mathematica 11 (1984), S. 442-470. Dazu Τ. Hawkins: Non-Euclidean Geometry and Weierstrassian Mathematics: the Background in Killing's Work on Lie Algebras. Boston 1979.

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tung, der 1880 den auf Klein zurückgehenden Standpunkt übernahm. Zur Beurteilung der Strömungen in beiden Ländern muß berücksichtigt werden, wie wenig präzise der Begriff Geometrie in Deutschland war, wo andere neue Bereiche dazugezählt wurden, während es in Frankreich so etwas gab wie ein philosophisches Substrat der Geometrie: Ihr figuraler Bezug band sie an das Reelle und bewahrte sie vor unerwünschten Abstraktionen ebenso wie vor der Grundlagenkritik ausgehend von Überlegungen zum ontologischen Status mathematischer Objekte, wie sie mit der Mengenlehre heranreifte. Treibt man die Analyse der Mentalitäten noch weiter, so kommt man zu der Feststellung, daß im Westen die Allgemeingültigkeit der Geometrie punktuelle Spezialisierungen hinsichtlich der untersuchten Probleme erlaubte (oder kaschierte), während im Osten das Bestreben nach präzisen Definitionen der Disziplinen paradoxerweise das Bedürfnis nach einer breitgefächerten mathematischen Kultur und den Transfer von einem Gebiet in das andere verstärkte. In der gemeinsamen Encyklopädie werden beide Standpunkte um so deutlicher, als sie nicht vereinheitlicht werden mußten. Ein Beispiel aus der Encyclopedie wird dies verdeutlichen; es geht dabei um den Begriff des Vektors, an dem wir die Grenzen des Einflusses von Kultur aufzeigen werden. In der französischen Version des Teils über Mechanik geht Paul Appel über die vorsichtig formulierte Einleitung der Enzyklopädie hinaus: »In der französischen Ausgabe wurde versucht, die Beiträge der deutschen Ausgabe in ihren Grundzügen wiederzugeben; die Darstellungsweise trägt jedoch den französischen Traditionen und Gewohnheiten Rechnung«. Er hatte über die Grundlagen der Statik zu sprechen, und sein Vorgehen sensibilisiert uns für die Bedeutung von Kultur: Warum trägt er die gleichen Theoreme zwar nicht mit anderen Worten, aber doch in anderer Reihenfolge vor, also in einer anderen Logik der Abfolge? Der Begriff des Vektors war erst vor kurzem aufgetaucht, und so wurde nicht nur das Zeichen noch nicht einheitlich verwendet, es gab auch verschiedene Theorien zur Reduktion eines Vektorsystems bei Anwendung auf Festkörper eigentlich Gegenstand der Mechanik der starren Körper. Hier wird deutlich, daß das Problem weder zur reinen Geometrie noch zur reinen Analysis gehört. Die Franzosen bevorzugen die Reduktion auf eine Kraft und ein Drehmoment und führen dies auf die Arbeiten von Louis Poinsot um 1804 und seine Kräftepaartheorie zurück. Aber es gibt auch andere differenzierte Reduktionsmodelle, ζ. B. das eines Bivektors nach R.S. Ball19 (ein freier polarer Vektor und ein axialer Vektor mit Festpunkt) oder die neuen »Figuren« (ein typisch französischer Ausdruck)

Vgl. R.S. Ball: A Treatise on the Theory of Screws. Cambridge 2 1900.

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aus den auf deutsch publizierten Studien von E. Study, die eine ganze Reihe neuer Wörter hervorbringen, für welche die Franzosen bildhafte Übersetzungen verwenden, als wollten sie dadurch dem hohen Abstraktionsgrad dieser Betrachtungen aus dem Wege gehen: »biplans« (auf Deutsch »Keil«), aber auch »croix«, »moteurs« und »moulinets« (»Quirl« bei Study). Diese Neuheiten, die Vektoren eingeschlossen, sind in der Praxis noch nicht etabliert, in Deutschland aber sehr viel weiter entwickelt. Das Übernahmekriterium ist in den Augen der Franzosen nicht klar: Geht es um die Effizienz für die Lösung praktischer Probleme, den analytischen Charakter einer Schrift, oder genügt die abstrakte Überzeugungskraft einer Theorie? Vergessen wir nicht, daß von Mechanik die Rede ist! Ein französischer Kommentar ist zunächst überaus vorsichtig und läßt absichtsvoll geometrisches Vokabular einfließen: »So allgemein vorgestellt wie im vorliegenden Fall scheinen die neuen Figuren zunächst ein wenig seltsam und die Operationen, die definiert werden, wirken reichlich künstlich.«21 Das ist nicht als Kompliment gemeint. Dennoch muß die Nützlichkeit einiger Notationen als Trägerfunktion analytischer Entwicklungen eingeräumt werden. Ihr Automatismus verführt: »Doch dem, der erst beginnt, sich mit Mechanik zu beschäftigen, erscheint die Vektorgeometrie ohne jeglichen praktischen Nutzen; erst wenn man sich eingehender mit dieser Wissenschaft befaßt, erkennt man ihre Leistungsfähigkeit in der Anwendung auf Kräfte, Geschwindigkeiten, Beschleunigungen, Rotationen.« Dieser intellektuelle Umweg erhebt den geometrischen Charakter, der die Einfachheit und mehr noch die ontologische Rechtfertigung des Untersuchungsobjektes betont, zum ausschlaggebenden Kriterium. Es ist also der faßbare Begriff Kraft, der den des Vektors nach sich zieht oder vielmehr rechtfertigt, genauer gesagt: legalisiert. In Frankreich müssen die Dinge sozusagen erst »sinnlich« gerechtfertigt werden. In Deutschland ist die geometrische Mechanik mit einer Baustatik, die einzig auf dem Kräfteparallelogramm basiert, zwar hoch entwickelt, doch nur ein Gebiet unter anderen. Aus der Vielfalt der Gesichtspunkte oder Theorien entstehen solange keine Probleme, als auf dieser speziellen Ebene keine alleingültige Erklärung angestrebt wird. Dies impliziert keine weitere Verbreitung des Vektorbegriffes in Deutschland um 1900, jedoch hatte er bei seiner Ausbreitung wenigstens keine Hindernisse zu überwinden. Auf diesem zugegebenermaßen elementaren Niveau der vektoriellen Darstellung entwickelt Felix Klein eine eher praktische Erklärung der Schwierigkeiten und sieht dort, wo die Franzosen ihre Geometrie weitertreiben, keine grundlegenden Fragen. Zu seiner Enttäuschung jedoch

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E. Study: Geometrie der Dynamen. Leipzig 1903. Encyclopedic [Anm. 7], Bd. IV, 2, S. 53.

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gingen die 1903 in Kassel versammelten Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen statt mit der erhofften einheitlichen mit drei neuen Schreibweisen für Vektoren ausgerüstet auseinander. Darin kommt die Vielzahl an überspezialisierten Interessen zum Ausdruck. Klein zieht den Vergleich zur Durchsetzung einer genau definierten internationalen Maß- und Gewichtsnorm im Jahre 1881, entwickelt aus dem metrischen Dezimalsystem, das die französische Revolution eingeführt hatte. Seiner Meinung nach entstand diese Vereinheitlichung unter dem Druck der Industrie: »[...] hinter der Vektorrechnung stehen jedoch keine so mächtigen materiellen Interessen, und daraus folgt wohl oder übel, daß es jedem Mathematiker freigestellt ist, die Schreibweise zu wählen, die ihm als die angemessenste erscheint, oder, wenn er Dogmatiker ist, als einzig richtige.«22 Beiden Ländern gemeinsam - wenn auch aus unterschiedlichen Beweggründen - sind Anleihen für die Vektorschreibweise bei anderen Disziplinen. In Frankreich, und immer noch in der Encyclopedie, ist es kein Mathematiker, sondern der schon berühmte Physiker Paul Langevin, der sich dem weitverbreiteten und traditionell geometrischen Standpunkt radikal entgegenstellt. Dies ist um so bemerkenswerter, als er mit einer Abhandlung beauftragt wurde, deren Titel eben diesen Standpunkt ankündigt: »Grundlegende Begriffe der Geometrie«, eine Abhandlung, die als Vorwort eines Bandes über Mechanik erscheint, der den deformierbaren Körpern vorbehalten ist. Langevin legt eine Schreibweise fest, einen Formalismus, der uns vertraut geworden ist: »Wir schreiben für die Klasse um die es hier geht, einen beliebigen Buchstaben mit einem Pfeil darüber: Derselbe Buchstabe dient dazu, die Länge des Vektors zu beschreiben; seine Projektionen auf die Achsen des Koordinatensystems sind: ax, ay, a2«. Um diese Position noch zu verdeutlichen, schreibt Langevin: »Notationen wie PQ oder Q-P, wie in der Geometrie verwendet, kommen zur Repräsentation eines Vektors nicht in Frage.« So geraten sowohl die etwas archaischen Vorschläge von W.R. Hamilton in den Lectures on Quaternious (2. Auflage, hg. von C.J. Joly. London 1899, deutsche Übersetzung von P. Glan. Leipzig 1882), als auch die sehr detaillierten von H.G. Grassmann in seinem skeptisch aufgenommenen Buch Die lineale Ausdehnungslehre23 (Leipzig 1844) zunächst ins Abseits. Selbst Langevin, der sich von einer allzu figurgebundenen Geometrie freimacht, läßt sich also nicht ganz auf die Formalisierung ein, die zur Struktur des Vektorraumes führt. Dabei war diese bereits in axiomatischer Form von dem Italiener

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F. Klein: Elementarmathematik von höherem Standpunkte aus. Göttingen 1908: Erster Teil: Arithmetik, die komplexen Zahlen. Grassmanns Werke wurden von F. Engel herausgegeben (Gesammelte mathematische und physikalische Werke. 3 Bde. Leipzig 1894-1911).

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G. Peano vorgegeben, der sie aus Grassmanns Arbeiten abgeleitet hatte,24 während der Deutsche Toeplitz gerade die Rolle der Determinantentheorie zur Demonstration der wichtigsten Theoreme der linearen Algebra in finiter und infiniter Dimension dargestellt hatte.25 Weder dem >geometrischen< Frankreich noch dem >mechanistischen< Deutschland gelingt es, den Status der Vektorrechnung zu etablieren. So taucht die Struktur des Vektorraumes - die den Pfeil des Vektors verschwinden läßt und so eine Größe daraus macht, auf die algebraische Gesetze anwendbar sind - in der Encyclopädie weder in den Faszikeln über Geometrie auf, noch in jenen über Algebra oder lineare Algebra (dort wird sie nur erwähnt zur Lösung linearer Systeme oder im Zusammenhang mit der Formentheorie), noch bei der Mechanik. Bezeichnenderweise gelingt es gerade einem Italiener, innerhalb der Analysis in dem zumindest überraschenden Rahmen eines Bandes der Encyklopädie über Reihenentwicklung, »die linearen Operationen in einem endlichdimensionalen Raum«26 unterzubringen. Pincherle von der Universität Bologna führt also lineare Algebra - die erste vektorielle Algebra - auf die Funktionstheorie hin und bereitet vor, was durch die gemeinsamen Anstrengungen der Franzosen Hadamard und Frechet, des Italieners Volterra, der Deutschen Hilbert und Fischer und des Ungarn F. Riesz zur funktionellen Analysis wird. Die französische Abhandlung, im Band Analysis erschienen, ist ganz durchdrungen von den neuen Gedanken, die David Hilbert27 vor kurzem entwickelt hatte; in einem wahrscheinlich von Maurice Frechet stammenden Zusatz ist der Raum l2 von Hilbert definiert und in Bezug zur Theorie der Integralgleichungen gesetzt. Eine neue mathematische Vision entwickelt sich, sie steckt sowohl in Deutschland als auch in Frankreich noch in den Kinderschuhen; aber die unumstrittene Führungsrolle Hilberts (er war seiner Professur in Göttingen so treu, daß er sogar einen Ruf nach Berlin ausschlug) begünstigt die Aufnahme in Deutschland. In Frankreich dagegen bleibt trotz eines Henri Lebesgue die Geometrie konkreter Objekte vorherrschend. Dies überrascht um so mehr, als funktionelles Verfahren die geometrischen Metaphern ausdrücklich benutzt: Eines der Haupttheoreme dieser Theorie ist doch das der Dualität, ein Begriff, der den Fachleuten der Geometrie seit Anfang des 19. Jahrhunderts vertraut ist. Vergeblich 24

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G. Peano: Calcolo geometrico secondo 1'Ausdehnungslehre di Grassmann, preceduto dalle operazioni delta logica deduttiva. Torino 1888. Ο. Toeplitz: Über die Auflösung unendlichvieler linearer Gleichungen mit unendlichvielen Unbekannten. In: Rend. Cir. Mat. 28 (1909), S.88-96. So lautet der Titel eines Kapitelanfangs in dem von Pincherle verfaßten Abschnitt »Equations et operations fonctionnelles«: Encyclopedie [ Anni. 7], Bd. II, 5, S. 20. Expliziter Bezug zu D. Hilbert: Wesen und Ziele einer Analysis der unendlichvielen unabhängigen Variablen. In: Rendiconti del Circolo Matematico di Palermo 27 (1909), S. 59-74.

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kehrt Pincherle das der Geometrie zugeschriebene Argument der Einfachheit um, indem er zeigt, daß der algebraische Formalismus, der die Objekte in einen strukturellen Rahmen stellt, ihnen so einen neuen Grad an Verständlichkeit eröffnet: »Die Berechnung linearer Operationen mit Symbolen zusammen mit der Behandlung der Objekte als geometrische Elemente eines linearen Raumes geben der distributiven Operationstheorie einen hohen Grad an Einfachheit, solange man im Feld der Algebra, d. h. im endlichdimensionalen Raum bleibt.« Vergeblich, weil gerade dieses Argument ihm erlaubt, den Übergang zur unendlichen Dimensionenzahl zu rechtfertigen, die er dennoch »transzendent« nennt; so schockiert er abermals die Anhänger der Geometrie wie die der Mechanik: »Es stellt sich die Frage, ob vergleichbare Betrachtungen sich auch auf den transzendenten Fall übertragen lassen, wo die Operationen eine unendlichdimensionale Menge betreffen, wie ζ. B. im Falle einer linearen Funktionsmenge, die von einer unendlichen Anzahl von Parametern abhängt (funktionaler Raum).«28 Ein klassisches Paradoxon der Wissenschaftsgeschichte: der - gewissermaßen transzendente - Umweg über das Unendliche war nötig, um die Vektoren endlich überall zu etablieren, auch in der einfachen Geometrie. Für diesen Umweg sind die kulturellen Unterschiede also nicht verantwortlich - was nicht bedeutet, daß unsere kulturelle Fragestellung verfehlt wäre, sondern eher, daß man nicht jede begriffliche Neuerung als aus dem Nährboden von Traditionen oder Gewohnheiten erwachsen ansehen sollte. Von der gegenwärtigen Mathematik anerkannt, nicht jedoch von den damaligen Mathematikern beiderseits des Rheins, läßt uns diese bemerkenswerte Entwicklung (oder dieser Umweg) hin zu abstrakten Strukturen die unterschiedlichen Wertschätzungen der Anwendungen der Mathematik erfassen. Diskussionen gibt es in beiden Ländern, doch ihr Verlauf ist einmal mehr völlig unterschiedlich.

Reine und angewandte Mathematik: Die Last der Realität Die beiden Großen jener Zeit, Henri Poincare (geb. 1854) und David Hilbert (acht Jahre jünger), gestehen den Anwendungen der Mathematik die gleiche konzeptuelle Bedeutung zu, und dennoch scheinen sie sich in diesem Punkt zu widersprechen; dies wird deutlich bei verschiedenen

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Pincherle [ Anm. 26], S. 22. - Pincherle vollbringt eine Meisterleistung: Er zeigt, daß Lagranges Adjunkte, die in linearen Differentialgleichungen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts verwendet wurde, als Vorgang einer Transposition interpretiert werden kann, wenn man von linearen Transformationen spricht, ein Vorgang, dessen Transkription naheliegt, wenn man geometrisch denkt und den Begriff der Ebene im Vektorraum einführt.

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Reden in Form eines geographischen Hin und Her - etwa der berühmte Beitrag von Hilbert in Paris beim zweiten Internationalen Kongreß der Mathematiker im Jahre 1900 oder jener Poincares drei Jahre zuvor in Zürich beim ersten Internationalen Kongreß und im Jahre 1908 auf dem Kongreß in Rom.29 Hilbert plädiert für die Unabhängigkeit der mathematischen Disziplin, die er beinahe als natürliche Kategorie des menschlichen Geistes ansieht, welche »selbständig und aufs Glücklichste neue und fruchtbare Probleme formuliert, ohne äußere Einwirkung und allein durch logische Kombination, durch Verallgemeinerung und Spezialisierung, durch Zerlegung und Zusammenführung von Gedanken«.30 Die reale Welt liefert wohl Anregungen, doch müssen die Fragestellungen stets erst geläutert werden: Solange die schöpferische Kraft der reinen Vernunft am Werke ist, läßt die außermathematische Welt immer wieder ihren Einfluß spüren. Ihre Gegebenheiten leiten uns zu neuen Fragen, sie eröffnet uns neue Bezirke innerhalb der Mathematik; indem wir uns bemühen, diese neuen Gebiete in den Bereich der reinen Vernunft einzugliedern, finden wir oft die Antwort auf alte, ungelöste Probleme und treiben die alten Theorien auf bereichernde Weise voran.31

So wenig nominalistisch wie irgend möglich, wendet Poincare bevorzugt Fragenkomplexe an: »Die Möglichkeit selbst - >mathematische Wissenschaft - scheint ein unlösbarer Widerspruch«32 - mit dieser Bemerkung leitet er La science et l'hypothese ein, um zu verdeutlichen, daß die Abschottung der Mathematik ins Paradox führt. Wenn er der mathematischen Physik entscheidende Bedeutung zuschreibt,33 dann gerade weil dieser Bereich in seinen Augen nicht allein von der Mathematik abhängt, sondern seine eigene Logik und Dynamik besitzt. Ebensowenig ist er von der Experimentalphysik abhängig. Poincare verwirft die Auffassung der Geometrie als »experimentelle Wissenschaft« (»auch nicht ansatzweise«)34 und setzt dagegen, das ideale Feld der

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H. Poincare: Sur 1 'avenir des mathematiques. In: Atti del IV Congresso Internazionaledeimatematici. Rom 1909, S. 167-182. D. Hilbert: Mathematische Probleme. Göttingen o.J., S. 190; auch ders.: Gesammelte Abhandlungen. Bd.3. Berlin o.J., S. 290-329. Eine französische Übersetzung von L. Laugel erschien in: Compte-Rendu du lerne Congres International des Mathematiques tenu ά Paris du 6 au 12 aout 1900. Paris 1902: Neuauflage hg. von J. Gabay, 1990: Sur lesproblemes futurs des mathematiques, S. 5. Poincare [Anm. 29], H. Poincare: La Science et l'hypothese. Paris 1902, S. 9. Deutsche Übersetzung F. und L. Lindemann. Leipzig/Berlin 1903. Bezeichnenderweise hält er in St. Louis, USA, eine Vorlesung mit dem Titel: L'etat et 1'avenir de la physique mathematique. Poincare [Anm. 32], S. 90.

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Geometrie seien abstrakte Konstruktionen, dabei sei »die Erfahrung [...] nur Anstoß, sie weiterzuführen«. Er erklärt sogar, daß die »Untergruppe« als »Gegenstand der Geometrie« ein Sonderfall des allgemeinen Gruppenbegriffs ist, der in unserer Vorstellung zumindest als Möglichkeit bereits existiert: »Er drängt sich uns auf, nicht als Kategorie unserer Wahrnehmung, sondern als Kategorie unseres Begreifens.« 35 Er räumt lediglich ein, man müsse aus allen möglichen Gruppen die Normalgruppe wählen, »zu der wir die natürlichen Phänomene in Beziehung setzen«, und bei dieser Wahl könne die Erfahrung leiten, wenn auch nicht den Ausschlag geben: »Sie führt uns vor Augen, welche Geometrie nicht die richtigste, sondern die bequemste ist.« Wo Hilbert von Abgrenzung spricht, ja sogar von drastischer Spaltung, äußert sich Poincare zwar nicht amalgamierend, doch weist er den verschiedenen Wissensformen Rollen zu, so daß sukzessive Kontinuitäten erkennbar werden. Diese Kontinuitäten manifestieren sich innerhalb der Gemeinschaft der französischen Mathematiker so stark, daß der Anschein von Eintönigkeit entsteht,36 wohingegen in der deutschen Gemeinschaft eher Bruchstellen als Bezugspunkte dienen.37 So mußte Klein bei der Gründung der »Deutschen Mathematischen Vereinigung« im Jahre 1890 einige Mühe aufwenden, um zu verhindern, daß sich diese neue - von Korporationsgeist nicht ganz freie - Gesellschaft von den anderen wissenschaftlichen Gesellschaften abschottete. Die ältere »Societe mathematique de France« dagegen steht ohne Weiteres all jenen offen, die in irgendeiner Form auf die Anwendungen der Mathematik angewiesen sind. Anders gesagt, die französische Mathematikkultur wirkt einheitlich, weil sie - nach positivistischem Maßstab - lediglich Abstufungen aufweist, während die deutsche Mathematikkultur angestrengt nach Einheitlichkeit strebt. Doch darf man diese >Außendarstellungen< nicht mit der Realität verwechseln. Beiderseits des Rheins vermitteln die Mathematiker ein Bild ihrer selbst, das nicht unbedingt aus objektiven Tatsachen konstru35 36

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Ebd., S. 91. Dazu ζ. B. C. Bourlet: La penetration reciproque des mathematiques pures et des mathematiques appliquees dans l'enseignement secondaire. In: L'Enseignement mathematique 12 (1910), S. 372-386. Die Etappen der Diskussion sind dargestellt in H.E. Timmerding: Die Verbreitung mathematischen Wissens und mathematischer Auffassung. In: F. Klein (Hg.): Die mathematischen Wissenschaften. Leipzig 1914; R. Schimmack: Die Entwicklung der mathematischen Unterrichts-Reform in Deutschland. Leipzig 1911 und W. Lorey: Das Studium der Mathematik an den deutschen Universitäten seit Anfang des 19. Jahrhunderts. Leipzig 1916. In G. Schubring: Pure and Applied Mathematics in Divergent Institutional Settings in Germany: The Role and Impact of Felix Klein. In: D.E. Rowe, J. McCleary (Hg.): The History of Modern Mathematics. Academic Press 1989, Bd.2, S. 171-220, ist Kleins Standpunkt zwar etwas forciert dargestellt, der Rahmen ist jedoch getroffen.

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iert ist. In Frankreich sind im Jahrzehnt vor dem 1870er Krieg zweimal mehr Arbeiten über angewandte Mathematik als über Analysis verzeichnet, aber im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts kehrt sich dieses Verhältnis um: auf drei Arbeiten über angewandte Mathematik kommen vier über Analysis.38 In beiden Ländern deckt sich die Welt der Ingenieure nicht mit jener der Mathematiker. Es werden nicht nur häufig Eigeninteressen geltend gemacht,39 die Beziehungen unterliegen überdies einer Entwicklung: der Vorwurf der Nutzlosigkeit an die reine Mathematik ist ebenso häufig wie der explizite Wunsch nach Autonomie der Ingenieurwissenschaft. In Deutschland hat ein Disput zwischen dem Mathematiker F. Klein und dem Repräsentanten der Ingenieure, A. Riedler, Berühmtheit erlangt.40 Der gleiche Disput schwelt jedoch ununterbrochen im »Conseil de perfectionnement« der Ecole Polytechnique unter Repräsentanten der zivilen oder militärischen Staatsorgane (Ponts-et-Chaussees, Mines, Genie maritime etc.) und Professoren. 41 Ebenso bekannt sind die Seitenhiebe eines schreibfreudigen Physikers wie H. Bouasse gegen die Mathematiker. In beiden Ländern stehen sich aber auch - und dies ist eine ganz andersartige Kluft als jene zwischen reiner und angewandter Mathematik - formale Mathematik und Mathematik der Formen gegenüber, eine Logik algebraischen Ursprungs rivalisiert mit einer intuitiven Auffassung. Ebenso ist in beiden Ländern die Intuition ein Konzept, das sich jeder Situation anpassen läßt, je nachdem, ob es sich um figürliche Geometrie, die Form analytischer Berechnungen oder um die Strukturen selbst handelt.42 Bei einer Analyse dieser Gegensätze kann die nationa-

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Vgl. Bild 5.5 in Gispert [Aiun. 12]. Für die deutsche Seite: R. Tobies: Zu Veränderungen im deutschen mathematischen Zeitschriftenwesen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Iii: NTM. Schriftenreihe für Geschichte der Naturwissenschaften, Technik und Medizin 23/2 (1986), S. 19-33:24/1 (1987), S. 31-49. Ein Beispiel für solche divergierende Interessen über den Gegensatz zwischen reiner und angewandter Mathematik hinaus ist dargestellt in E. Mach: Der relative Bildungswert der philologischen und der mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichtsfächer der höheren Schulen. Leipzig 1886. L. Pyenson: Neohumanism and the Persistence of Pure Mathematics in Wilhelmian Germany. In: American Philosophical Society Memoirs 150 (1983). Dazu ζ. Β. J. Dhombres: Einleitung zur Neuauflage von A. Fourcy: Histoire de 1'Ecole poly technique. Paris/Berlin 1987, S. 1-90. Die möglichen Vergleichspunkte dieser Intuitionsformen in der Mathematik werden deutlich in der Gegenüberstellung von F. Klein: On the Mathematical Character of Space-Intuition and the Relation of pure Mathematics to the applied Sciences. In: The Evanston Colloquium. Lectures on Mathematics. New York 1893; E. Borel: Elements de la theorie des ensembles et applications. In: Legons sur la theorie des fonctions. Paris 1898 und dem bereits erwähnten Werk von H. Poincare: La science et l'hypothdse [Atun. 32]. Ein Vergleich der Urteile wäre interessant, dazu der ausgezeichnet dokumentierte Text von J. Cassinet/M. Guillemot: L'axiome du choix dans les mathematiques de Cauchy ά Gödel. Toulouse 1983.

326

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le Kategorie kaum aufrechterhalten werden, sie ist viel zu grob. Man müßte die jeweilige Mathematik in den beiden Gesellschaften symbolisch darstellen und weit über den professionellen Bereich hinausgehen. Bezeichnenderweise stellt Robert Musil die Mathematik ganz anders dar - sei es in den Verwirrungen des Zöglings Törleß angesichts der imaginären Zahlen oder mit der praktischen Logik des Helden aus Der Mann ohne Eigenschaften - als Marcel Proust, dessen Metaphern wesentlich häufiger aus dem naturwissenschaftlichen Bereich stammen. Bekanntlich spielen beide Romane vor dem Krieg. Die Architekturen der Romankonstruktionen beider Autoren sind vollkommen verschieden - bei Proust mathematische Logik, bei Musil barocke Üppigkeit. Eine Analyse dieser Architekturen wäre höchst interessant, doch unmöglich durchzuführen, nicht nur aus Mangel an Zeit, sondern vor allem aus Mangel an geeigneten konzeptuellen Hilfsmitteln: Die Wissenschaftsgeschichte muß die Instrumente erst noch herstellen, mit denen die Einbettung der Wissenschaft in eine Gesellschaft beschrieben werden kann.

Kultur innerhalb der Geschichte oder die Geschichte als Gegenmittel? Im Gegensatz zur positivistischen und wissenschaftszentrierten Grande Encyclopedie, die zehn Jahre zuvor unter der Leitung von Marcelin Berthelot entstanden war und die sich auf die Gegenwart beschränkt, untersucht die französische Version der Encyclopedie des sciences mathimatiques pures et appliquees detailliert Entwicklungszusammenhänge und arbeitet bekannte und weniger bekannte alte Texte ein; so entsteht ein Diskurs, dem die Geschichte als Leitfaden dient. Es ist ein Anliegen dieses Unternehmens, den Streit um einen konzeptuellen Gegensatz zwischen deutscher Wissenschaft und »französischer Wissenschaft zu entkräften. Die Mathematik gehört also nicht zu den Bereichen, in denen wie mit den mörderischen Gräben des großen Krieges auch voller Absicht antagonistische Nationalismen konstruiert werden.43 Dieser Bezug auf die Geschichte ist nicht das einzig Ungewöhnliche an dem gemeinsamen Projekt; zumindest was die reine Mathematik betrifft, wäre die Behauptung nicht verfehlt, der Enzyklopädie komme wegen ihres historischen Rasters mehr Verdienst zu als aufgrund ihrer rein mathematischen Leistung, denn diese war zum Zeitpunkt des Erscheinens bereits veraltet. Eine solche historische Einbindung entsteht

43

Der Widerspruch zwischen dem zur Schau getragenen Internationalismus und der Leichtigkeit, mit der sich wissenschaftlicher Nationalismus ab 1914 etablierte, ist Gegenstand einer Untersuchung von E. Crawford: The universe of international science 1880-1930. In: Τ. Frängsmyr (Hg.): Solomon's House Revisited. 1991.

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327

nicht zufällig. Liest man dagegen die Vorlesungen über die Entwicklung der Mathematik im 19. Jahrhundert von Klein, dem Baumeister der deutschen Enzyklopädie, oder, besser noch, weil zeitgenössisch, eine sehr vielschichtige Arbeit von Hilbert aus dem Jahre 1897, Die Theorie der algebraischen Zahlkörper, so erkennt man, in welchem Maße beide Autoren die Geschichte verbiegen, um sie ihren eigenen Thesen dienstbar zu machen, wie geschickt sie die Arbeiten ihrer Vorgänger uminterpretieren, um sie auf das auszurichten, worin sie die Zukunft der Mathematik sehen. Die Frage stellt sich hier, ob die gelehrte Geschichte nicht überhaupt das einzige mögliche Gebiet für Verständigung war, da hier zumindest Interpretationen und Erwägungen zu der einen oder anderen Lehrmeinung möglich waren. Die Geschichte war Garant für die enzyklopädische Perspektive, welche der Titel des Gemeinschaftswerkes versprach, während sich das Nahen unterschiedlich beurteilter Umwälzungen bereits abzeichnete. Heute haben wir sie zu akzeptieren gelernt, und auch um 1910 wurden sie durchaus nicht übersehen: Mengenlehre und Topologie, Geometrisierung der Analysis, neue Integrationstheorie, strukturelle Algebra. Im Gegensatz zur Encyclopedic von Diderot und d'Alembert, die beinahe schon anderthalb Jahrhunderte alt war und deren Einheit ganz auf ihrer Militanz beruhte,44 erhielt die spezialisierte deutsch-französische kleine Schwester durch ihre gründliche Berücksichtigung der Geschichte einen barocken Charakter. Dem Übermaß an Länge und Umfang des Werkes entsprach das grundlegende Ungleichgewicht der Konstruktion, von der mit großer Sicherheit vorherzusagen war, daß sie nicht Einsatzbereich der künftigen Mathematik sein würde. Deutsche und Franzosen haben sich auf eine gelehrte Geschichte geeinigt, die. sich gewissenhaft an Texte, Konzepte und Ideen hält, und sie haben die Geschichte der Menschen, den Anspruch auf verschiedene Stile, so weit als möglich außer Acht gelassen. Durch dieses ungewöhnliche, wenn auch in seiner Spannweite begrenzte Verfahren gelingt ihnen eine Bestandsaufnahme der philologischen Bildung des 19. Jahrhunderts und schließlich sogar die Darstellung eines professionalisierten Bereiches, der Wissenschaftsgeschichte.45 Es ist sozusagen der zweite Akt der Mathematikgeschichte des 19. Jahrhunderts, den ersten bilden große Verlagsprojekte der Gesamtausgaben von Mathematikern. Die Motive

44

45

Eine Einheit, die mit einer gewissen Verachtung der Mathematik einhergehen kann; vgl. J. Dhombres: La fin des mathematiques: un theme encyclopedique. In: Sciences, Techniques et Encyclopedies. Paradigme 1993, S. 95-145. Die deutsche Ausgabe verdankt vieles dem Historiker G. Eneström - er organisierte den Eulerschen Korpus - , der die rein mathematischen Texte mit Anmerkungen aufgelockert zu haben scheint. Es wäre interessant zu erfahren, wie diese Zusammenarbeit zwischen Mathematikern und einem Historiker abgelaufen ist.

328

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für diese Unternehmungen waren jedoch durchaus nicht frei von Nationalismus, und beide Länder wachten darüber, den kritischen Apparat nur Landsleuten zu übertragen: 1878 beginnt die Herausgabe der Werke von Laplace (vierzehn Bände bis 1914), elf Jahre zuvor war die Herausgabe von Lagrange eingeleitet worden (ebenfalls vierzehn Bände bis 1892), und wiederum vier Jahre zuvor die von Gauss (zwölf Bände, anfangs unter der Leitung der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen; der letzte Band erschien jedoch erst 1933). Die Herausgabe von Cauchy begann 1882, mit siebenundzwanzig Bänden, deren letzter mit großer Verspätung erst 1974 erschien, während Leibniz' mathematische Schriften schon ab 1850 erstmals verlegt wurden. Internationale Koordination kam erst 1911 auf, als es um das umfangreiche Werk Leonhard Eulers ging, dessen Baseler Herkunft sowie seine Aufenthalte in Berlin wie in St. Petersburg Zusammenarbeit unumgänglich machten. Die historische Ausrichtung der Encyclop0die beschränkt sich jedoch keineswegs auf die reine Mathematik, sondern ist ebenso augenfällig im ersten Band zur Mechanik, der betitelt ist: Allgemeines - Geschichtliches. Die Autoren haben die positivistische Perspektive aufgegeben zugunsten der Auffassung von H. Hertz in Die Prinzipien der Mechanik in neuem Zusammenhange dargestellt (mit einem Vorwort von H. Helmholtz46) oder auch H. Poincare in La science et Γ Hypothese.47 Es ist unmöglich, sich in der Darstellung eines wissenschaftlichen Korpus, der der Wirklichkeit Rechnung tragen soll, auf Fakten zu beschränken. Mit der Absicht, »die Grundsätze der Mechanik mit ihren zeitgenössischen Entwicklungen«48 darzustellen und die logischen Schwierigkeiten nicht zu verschweigen, bieten sie eher »ein Schaubild aller Standpunkte, auch wenn sie einander zum Teil völlig widersprechen«. Doch die Enzyklopädie ist nicht das eigentliche Ziel, denn kritisches Vorgehen wird angestrebt, gerade um eine Vereinheitlichung der Prinzipien der Mechanik zu ermöglichen. Dieses Ziel war jedoch nicht kurzfristig zu erreichen, denn die Encyclopidie erschien unmittelbar nach dem Aufkommen der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik, welche einer konzeptuellen Revolution gleichkamen. So war das Ziel einer einheitlichen Konstruktion nicht aufrechtzuerhalten - eine rationelle Mechanik stricto sensu kam nicht in Frage - , und es wurde erneut der historische Weg gewählt, ein wissenschaftliches und detailliert belegtes Vorgehen, wie es die zahlreichen Anmerkungen von A. Voss (München),49 E. Cosserat (Toulouse) und F. Cosserat (Paris) zeigen.

46 47 48 49

Leipzig 1894. [Anm.32]. Principes de la mecanique rationnelle. In: Encyclopedic [Anm. 7], Bd. IV, 1, S. 2. Eine traurige Erinnerung an den Krieg, der Band erscheint März 1915, ist die pflichtschuldige Anmerkung: »A. Voss hat an der Fahnenkorrektur nicht mitgearbeitet.«

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329

Nach dieser Feststellung läge es nahe, von deutsch-französischen Übereinstimmungen zu sprechen. Dies erweist sich jedoch als illusorisch, sobald man sich auf eine andere Beschreibungsebene begibt. So findet in der Mechanik, ganz im Gegensatz zum Bereich der reinen Mathematik, die Epistemologie - jedenfalls eine gewisse Epistemologie - ihren Eingang und scheint der Geschichte zur Seite zu stehen. Diese Rolle der Philosophie kontrastierte in Frankreich mit einer »positivistischem Vergangenheit und scheint in beiden Ländern gleichermaßen neu, wenngleich in Deutschland der kantische Bezug meistens präsent war, sogar in solchem Maße, daß oft Andeutungen genügten. Unbestreitbar inspirierte das Buch von E. Mach: Die Mechanik in ihrer Entwicklung historisch-kritisch dargestellt,50 welchem, mehr noch als dem Text von E. Diihring aus dem Jahre 187351 die epistemologischen Arbeiten von P. Duhem nahestehen, besonders das 1906 entstandene La theorie physique, son objet et sa structure.52 Die Autoren der Deutsche wie der Franzose - teilen nicht dieselben Ansichten, tragen jedoch durch ihre historische Lesart maßgeblich zum Nachdenken über Mechanik in beiden Ländern bei. Dennoch bleiben die Franzosen von Auguste Comte geprägt, und sie unterscheiden klar zwischen einer »deskriptiven Definition«, welche erfahrungsbedingt ist, Tag für Tag an Genauigkeit zunimmt, jedoch »ihren Gegenstand niemals vollkommen erfaßt und stets Gefahr läuft, fehlerbehaftet zu sein«, und einer »konstruktiven Definition«, die aus dem Entstehungsgesetz der Phänomene hervorgeht und »endgültig und unwandelbar« ist, da sie als absolutes Erkenntnisprinzip aufgefaßt wird, obwohl oder gerade weil sie einem Denkmodell entspringt.53 So ersetzen die Franzosen den Rückgriff auf J. C. Maxwells Gedanken über die Zustände der Materie durch die Erwähnung Fouriers als »wahren Wegbereiter«, den gerade Auguste Comte aufgrund seiner bereits älteren Theorie analytique de la chaleur (1822) als den »positiven« Wissenschaftler par excellence betrachtet. Bei gleichem Bestreben nach Einbindung der Epistemologie und zu einem Zeitpunkt, als die Vereinheitlichung der Mechanik problematisch scheint, ist die Praxis bei Deutschen und Franzosen nicht in Übereinstimmung.

50

51

52 53

Leipzig '1883 und Leipzig "1912. Zu diesem Zeitpunkt liegt bereits eine französische Übersetzung von E. Bertrand vor: La mecanique, expose historique et critique de son developpement. Paris 1904. E. Dühring: Kritische Geschichte der allgemeinen Principien der Mechanik. Berlin 1873. Paris 1906; vgl. auch P. Duhem: Les origines de la statique. 2 Bde. Paris 1905f. Die Franzosen verweisen auf Louis Liard: Des definitions geometriques et des definitions empiriques. Paris 1873 ( 2 1888) und E. Le Roy: La science positive et les philosophies de la liberte. In: Bull. Congres Internat, de Philosophie 1900, Bd. 1, S. 313.

330

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So ist es wiederum die Geschichte und nicht die Philosophie, die das »öffentliche Podium« belebt, das Jules Molk eingerichtet hat, um die Bände der Enzyklopädie aufzulockern: jedem Faszikel ist ein kleines Heft auf braunem Papier eingefügt, in dem Briefe an die Redaktion beantwortet werden. So wird beispielsweise im Podium Nr. 19 erwähnt, daß Evariste Galois den Begriff »Gruppe« in die Mathematik eingeführt hat,54 lange vor A. Cayley und E. Betti. Dieser Ausdruck prägt die neue strukturelle Algebra. Folgerung: »Der Vermerk in der Encyclopaedia Britannica (11. Auflage), 22, London, 1910, S. 626, das Wort >Gruppe< werde in seiner heutigen Bedeutung erst seit 1870 benutzt, ist also mit Sicherheit ungenau.« Im Podium 21 protestieren H. Burckhardt und A. Rosenthal gegen die Zuschreibung eines Beweises, nach dem die Mächtigkeit des Kontinuums mindestens gleich derjenigen der Menge transfiniter Zahlen zweiter Ordnung ist, an den Franzosen Henri Lebesgue, da dies »selbstverständlich« dem deutschen Entdecker der Mengenlehre Georg Cantor zukomme, nämlich als Folgerung aus seinem Beweis der Nicht-Zählbarkeit des Kontinuums, wo die Mächtigkeit der Zahlenmengen zweiter Ordnung als erste nach jener der rationalen Zahlen erscheint. Es ist also die Geschichte, nicht die kritische Philosophie, die Neuerungen aufzeigt.

Die institutionellen Rahmenbedingungen Was die Institutionen betrifft, ist zwischen Frankreich und Deutschland ein besonders deutlicher Unterschied festzustellen. Während in Deutschland die Technischen Hochschulen seit 1899 zur Vergabe von akademischen Graden berechtigt sind, was eine grundlegend universitäre, in viele unterschiedliche Einflußbereiche gegliederte Struktur verstärkt,55 ist das französische System zumindest für den Bereich der exakten Wissenschaften als monolithischer Block außerhalb der Univer-

54

55

E. Galois in: Bulletin des Sciences mathematiques, astronomiques, physiques et chimiques 13 (1930), S . 4 3 5 . Der ungenannte V e r f a s s e r - w o h l M o l k - b e t o n t , Galois gebrauche das Wort Gruppe zwar mitunter in nichtmathematischem Sinn, sei aber dennoch der Schöpfer dieses Wortes und der Begründer dieser Theorie. Eine ausführliche Beschreibung des deutschen Systems gibt F. Ringer: The Decline of the German Mandarins. Cambridge 1969. Zur Ergänzung empfiehlt sich W. Scholen Geschichte des naturwissenschaftlichen Unterrichts im 17. bis 19. Jahrhundert: Erziehungstheoretische Grundlegung und schulgeschichtliche Entwicklung. Berlin 1970. Für Frankreich ist aufschlußreich: R. Fox/G. Weisz: The Organization of Science and Technology in Universities in France, 1808-1914. Paris 1980; G. Weisz: The Emergence of Modern Universities in France, 1863-1914. Princeton 1983; dazu ergänzend der »provinzielle« Blickwinkel von H. W. Paul: From Knowledge to Power: The Rise of the Science Empire in France, 1860-1939. Cambridge 1985.

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331

sität organisiert. Es basiert auf den Grandes Ecoles und blickt durch sein mehr als hundertjähriges Bestehen auf eine reiche Tradition zurück, in der die Mathematik dominiert. Im September 1794 wurden zugleich die Ecole Polytechnique und die Ecole Normale eingerichtet; die Mathematiker nahmen sofort einen bevorzugten Platz ein. An der letztgenannten stehen zur Ausbildung der zukünftigen Großen der Republik drei Lehraufträge für Mathematik jeweils einem einzigen für Geschichte und Literatur gegenüber. Im überfüllten Amphitheater des Naturkundemuseums, das die aus allen Departements herbeigereisten 1400 Schüler der Ecole Normale beherbergte, wurde im Januar 1795 ein neues Verhältnis zur Wissenschaft begründet, das den Namen »revolutionäre Methode« durchaus verdient.56 Einige Monate zuvor waren noch Prüfer ausschließlich Mathematiker - von Stadt zu Stadt gezogen, um rund 400 Schüler für die Ecole Centrale des Travaux Publics zu werben, die bald darauf in Ecole Polytechnique umgetauft wurde. Die Benennung ist naheliegend: es ist eine polyvalente, eine nicht spezialisierte Schule. Also eine Schule für die Theorie, die jeder technischen Forschung zugrundeliegt. Diese wird erst in der Anwendung gelehrt, an anderen Schulen, die ihrerseits wiederum über die Corps mit den Berufen verbunden sind. Die Theorie wird dominiert von der Mathematik, die gleichermaßen als Grundlage wie auch als Maßstab für jede wissenschaftliche Methode dient. Die institutionellen Rahmenbedingungen bestimmen die Art und Weise, wie eine Kultur sich entfaltet: die Lehrbücher der Ecole Polytechnique gestalten - nach dem Programm einer offiziellen Kommission - nicht nur die mathematische und wissenschaftliche Welt Frankreichs, sondern auch die Welt der Ingenieure auf höchster Ebene. Dies um so stärker, als es keine Konkurrenz zwischen zwei Lehrbüchern, zwei Denkschulen gibt, sondern ein Lehrbuch das andere abgelöst hat: Cours d' analyse de Γ Ecole royale polytechnique von Cauchy im Jahre 1821, Traite d'analyse von Jordan vierzig Jahre später, Cours d'analyse von Picard danach. Bezeichnenderweise ist es ein Mitglied der Ecole Polytechnique, Marie FranQois Carnot, der bei der Feier der revolutionären Gründung der Republik die Asche seines Großvaters ins Pantheon trägt: Lazare Carnot, Mathematiker und Staatsmann ... gestorben im deutschen Exil in Magdeburg. Über die Wissenschaftler hinaus haben französische Kader während des gesamten 19. und auch des 20. Jahrhunderts eine gleiche, grundlegend mathematisch orientierte Ausbildung genossen, die zwar allgemein gehalten ist, aber zu der juristischen oder literarischen und weit vielfältigeren Ausbildung ihrer deutschen Kollegen in erheblichem Kontrast steht.

56

J. Dhombres (Hg.): Une ecole revolutionnaire. Les legons de Laplace, Lagrange et Monge ä Γ Ecole normale de Γ an HI. Paris 1992.

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Das System der Grandes Ecoles verstärkt die Zentralisierung in Paris, und es hat Modellcharakter: Die Spitze der Pyramide - die Ecole Polytechnique für den größten Teil des 19. Jahrhunderts, dann die Ecole Normale - hat den gesamten Apparat unter sich. Der Vielfalt der Lehrjahre eines Dirichlet, eines Riemann, Steiner, Klein oder Kronecker steht die Einheit jener eines Cauchy, Poisson, Liouville, Jordan oder Poincare gegenüber, die alle die Ecole Polytechnique durchlaufen haben. In diesem Rahmen ist die Mathematik in Frankreich geradezu ein unerläßlicher Passierschein zur Wissenschaft. Sie ist dabei jedoch keine problematisierende oder um einheitliches Vorgehen bemühte, sondern eine normative Wissenschaft: Sie regelt die Wissenschaftlichkeit und wird zur Auswahl der Elite herangezogen, ist eines der sozialen Werkzeuge einer Gesellschaft, die den einzelnen nach seinen Verdiensten einstuft. Ein bezeichnendes Beispiel liefert der Werdegang von JeanBaptiste Biot, der einem elektrodynamischen Gesetz seinen Namen gegeben hat. Bevor er sich mit Physik beschäftigen konnte, mußte er sein mathematisches Können unter Beweis stellen und zu Beginn des Jahres 1799 die Fahnen der ersten zwei Bände der Mecanique celeste von Laplace korrigieren - das sind vertrackte Rechenvorgänge. Danach sah er sich gezwungen, eine Abhandlung über Kurven und Flächen zweiter Ordnung zu redigieren, und erst dann konnte er sich endlich der Physik zuwenden.57 Anders in Deutschland: Im gesamten 19. Jahrhundert werden die jungen, von wissenschaftlichem Eifer beseelten Geister nicht systematisch von der Mathematik geformt, und es lassen sich leicht von einer Universität zur anderen unterschiedliche Traditionen erkennen, wobei Berlin durchaus nicht dominiert. So haben die institutionellen Rahmenbedingungen in beiden Ländern ihre Spuren hinterlassen: Akademien, Schulen, Lehrkörper, selbst wenn wir hier nur einen Aspekt herausgegriffen haben, der uns maßgeblich scheint, das Ritual mathematischer Ausbildung in Frankreich. Auch dieser Aspekt ist nicht als determinierender Faktor anzusehen, sondern eher als Ausdruck einer Kultur, vielleicht als Reaktion auf die soziale Praxis.58 Er ist nicht zweitrangig, wohl aber sekundär. Die institutionellen Rahmenbedingungen sind hier viel mehr eine Folge der unterschiedlichen kulturellen Gegebenheiten, als daß sie diese bestimmen. Die historischen Grundlagen rechtfertigen eine solche Einschätzung. Beide Regierungen investieren einiges in wissenschaftliche Einrichtun-

57

58

J. und N. Dhombres: Naissance d'un pouvoir, sciences ei savants en France (17931824). Paris 1989. J. Dhombres: L'histoire des sciences mise en question par les approches sociologiques: le cas de la communaute scientifique fransaise (1789-1815). Li: M. Clavelin/P. Boudon (Hg.): Le relativisme est-il resistible? Regards sur la sociologie des sciences. Paris 1994, S. 159-205.

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Kultur

333

gen. Sie tun dies aus dem Streben nach Symbolen der Modernität ebenso wie aus nationalistischem Konkurrenzdenken, aber doch viel mehr noch aus Überzeugung. Dabei sind es zumeist Wissenschaftler, die solche gesamtgesellschaftlichen Entscheidungen mitgestalten: Sie beeinflussen die Politik und prägen die wissenschaftlichen Institutionen, die deshalb weder notwendiger Ausdruck noch unverrückbare Bedingungen der unterschiedlichen Kulturen sind, denen unsere Aufmerksamkeit galt.

Schlußbemerkung Der Vergleich zwischen zwei Ländern vermag den schwer faßbaren, >flüchtigen< Charakter der Beschreibung wissenschaftlicher Kultur zu vertiefen. Dabei läuft man jedoch Gefahr, die Unterschiede zu überzeichnen, die in den Augen eines Japaners oder eines Chinesen vom Anfang dieses Jahrhunderts eher klein erschienen sein mögen. Die Einheitlichkeit war immerhin so groß, daß die um 1900 festzustellenden Unterschiede eine weitgehend übereinstimmende Weiterentwicklung der Mathematik nicht behindert haben. Zwar scheint der große Rückgriff auf die Epistemologie nicht durch dieselben Bestrebungen motiviert, doch taucht gleichermaßen in den 20er und 30er Jahren die Strukturforschung auf, und architektonische Betrachtungen liegen nahe (weitaus mehr als solche, die sich auf die logischen Grundlagen beziehen). Es muß betont werden, daß nationalistische Standpunkte nicht nur engstirnig, sondern auch unergiebig sind und ungeeignet zur Untersuchung kultureller Gegebenheiten. Im Grunde ermöglichen Unterschiede wie die, um deren Abgrenzung wir uns bemüht haben, vor allem zu ermessen, was es jedes wissenschaftliche Arbeiten kostet, Universalität zu erreichen. Es ist der Ehrgeiz der Wissenschaftsgeschichte, über diese unablässigen Bemühungen Rechenschaft abzulegen, insbesondere weil ihnen ja fortwährend neue Fragestellungen entgegentreten. (Aus dem Französischen von Riek Walther)

Joachim Fischer

»Nationale Wissenschaften« in den europäischen Naturwissenschaften

Als ich - möglicherweise etwas leichtfertig - die Zusage zu diesem Vortrag gab, hatte ich Beispiele vor Augen, die mir so etwas wie »nationale Wissenschaft« zu sein schienen; insbesondere dachte ich aber auch an nationalistische Formen wie die »Deutsche Mathematik«, die »Deutsche Physik« und ähnliches. Beim näheren Hinsehen erschien mir das Gemeinsame meiner vermeintlichen Beispiele zu gering, oder anders formuliert: jedes Beispiel schien seiner eigenen Gesetzmäßigkeit verpflichtet, ohne mögliche Konsequenzen und Bedeutung für die anderen. Auf der anderen Seite wiederum schien es mir, als läge den Beispielen doch ein tiefer liegendes Muster zugrunde; und das allmähliche Verfertigen der Gedanken beim Schreiben (um ein bekanntes Wort abzuwandeln) nahm seinen Lauf. Was folgt, hat sehr tentativen Charakter; als mögliche Ausgangsbasis aber, denke ich, könnte es brauchbar sein. 1939 legte der damals 36jährige Mitarbeiter (und spätere Leiter) der Bibliothek des Science Museum zu London, Humphrey Thomas Pledge, erstmals sein ebenso fulminantes wie knappes Buch Science since 1500 vor. 1959 in New York, 1966 nochmals in London fast unverändert wieder aufgelegt, gehört dieses Werk zu den wenigen gelungenen Versuchen, die Entwicklung der neuzeitlichen (Natur-)Wissenschaft auf knappstem Raum und dennoch informativ zu schildern. Die auch in der sprachlichen Diktion eingehaltene Knappheit wird nur selten durchbrochen: nämlich dann, wenn Pledge seinen imaginären Beobachter auftreten läßt. Dies geschieht dreimal: beim ersten Mal handelt es sich um einen Engländer, der gegen Ende der elisabethanischen Herrschaft (1603) geboren sein soll;1 das nächste Mal um einen - nicht ausdrücklich landsmannschaftlich festgelegten, wohl aber auch englischen Beobachter, dessen Geburt in das beginnende 18. Jahrhundert fallen

1

Vgl. Humphrey Thomas Pledge: Science since 1500. London 1966, S. 51.

»Nationale Wissenschaften« in den europäischen

Naturwissenschaften

335

soll;2 und schließlich um einen dritten Beobachter - auch er vermutlich als Engländer zu sehen der um 1800 geboren wird.3 Diese »Begleiter ihres Jahrhunderts« (entsprechende Langlebigkeit unterstellt) machen die »große Tour« auf dem europäischen Festland und sind an Fortschritten und Zentren der jeweils zeitgenössischen Wissenschaft interessiert. Sie sehen diese Zentren entstehen, blühen, vergehen: der Erste - er begleitet das 17. Jahrhundert - findet die Niederlande und Skandinavien (zwei Handelszentren) auch auf wissenschaftlichem Gebiet zu Beginn des Jahrhunderts führend; Teile der Niederlande strahlen nach Südengland aus. In fortgeschrittenem Alter würde er Frankreich als Zentrum Europas vorgefunden haben, wo ihm Reisende in gleicher Mission begegnet wären, ζ. B. Leibniz und Huyghens. Am Ende seines Lebens erführe er, daß England Newton hervorgebracht hätte. Der Zweite - er begleitet das 18. Jahrhundert - findet auf seiner »Grand Tour« erst spät Vergleichbares; er landet und bleibt schließlich in Lavoisiers (und anderer) Paris. Der Dritte - er begleitet das 19. Jahrhundert — muß seinerseits bereits mehr Voraussetzungen mitbringen als seine Vorreisenden: der Status eines wohlmeinenden Amateurs (»Dilettant« im ursprünglichen Wortsinn) reicht nicht mehr aus. Sich in die Wissenschaft, in ihre Literatur einzulesen, erfordert nicht nur mehr, sondern auch schwierigere Lektüre, größere Vorkenntnisse - insbesondere auf mathematischem Gebiet. Bis 1850 würde dieser Beobachter sein Hauptquartier noch in Paris belassen;4 sicher wäre er - wegen Darwin und Maxwell - dann nach England gekommen.5 Doch es sei wahrscheinlich, daß er das Ende seines Lebens - seines Jahrhunderts - in Deutschland verbringen und beschließen würde... Die in diesen Skizzen - die, wohlverstanden, nur Interludien in Pledges Werk darstellen - sich zeigenden wechselnden Schwerpunkte lassen Fragen entstehen: Welche Gründe könnten für die Wechsel ausschlaggebend sein? Sind nationale Eigenheiten oder -Schäften dabei beteiligt? Entsteht dabei - oder gibt es überhaupt - so etwas wie »nationale Wissenschaften)«? Falls ja, sind sie wirklich nationalspezifisch? Sind sie unveränderlich in einem oder mehreren ihrer Grundzüge? Sind sie zeitlich gebunden? Sind sie - ihre Existenz vorausgesetzt - wesentlich voneinander unterschieden? Ist »nationale« Wissenschaft möglicherweise effizienter als »internationale«? Und bei jeder dieser Fragen stellen sich - so hoffe ich - mehr oder minder leise Zweifel ein, die sich ruhig auf die Fragen, lieber aber noch auf die möglichen oder denkbaren Antworten beziehen sollten. 2 3 4 5

Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S.

100. 149. 149. 151.

336

Joachim Fischer

Naturwissenschaft befaßt sich mit »Tatsachen«. Zu diesem Begriff hat Ludwik Fleck mit seiner Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache (1935) Bahnbrechendes gesagt. Hier wird, zum ersten Mal in aller Deutlichkeit, darauf hingewiesen, daß selbst eine Tatsache im Gegensatz zur landläufigen Auffassung eine Entstehung und Entwicklung besitzt, und nicht nur eine einfache Feststellungsgeschichte. Eine Tatsache ist von der Art ihrer Beobachtung, ihrer Interpretation, ihrer Einordnung in einen größeren Gesamtzusammenhang abhängig und keineswegs unverrückbar. Eine besondere Rolle kommt bei diesem Prozeß denjenigen zu, die sich über diese Tatsache Gedanken machen. Handelt es sich um eine wissenschaftliche Tatsache (ohne daß ich diesen Begriff im Augenblick näher bestimmen möchte), so sind dies die Wissenschaftler in Ausübung ihrer Tätigkeit. Eine Wissenschaft als Denksystem (als »Denkstil« ä la Fleck) wird von einer Personengemeinschaft betrieben, die in weiten Bereichen gleiche Vorstellungen über ihre Tätigkeit, über die Grundlagen ihres jeweiligen Gebietes sowie über die Aufgaben (bei Kuhn: Probleme, Rätsel)6 hat. Die Größe dieser Personengemeinschaft ist übrigens nicht nur für ihre oder ihrer Arbeit Qualität entscheidend, obwohl es heutzutage meist diesen Anschein erweckt. Von Nationalitäten ist ebenfalls nicht die Rede; trotzdem können sie eine Rolle spielen. Fleck verweist einerseits bereits darauf, daß, je enger ein Denkstil/Denksystem gefaßt ist, umso weiter die daran Teilhabenden individuell voneinander verschieden sein können (bei ihm heißt das: »[...] je spezieller, je inhaltlich begrenzter eine Denkgemeinschaft« ist, um so mehr »sprengt [sie] die Grenzen der Nation und des Staates, der Klasse und des Alters«7). Andererseits liegt das Problem eher darin - und auch dies wurde von Fleck zutreffend festgehalten - , daß die einzelnen Mitglieder eines bestimmten Denkkollektivs natürlich auch Teilnehmer an anderen Denkkollektiven sind. Ein solches Denkkollektiv könnte eine Religionsgemeinschaft, wieder ein anderes ein »Nationalbewußtsein« sein. Fleck hält fest, daß weit auseinanderliegende Denkweisen in geringem Gedankenverkehr stehen,8 daß sie aber - eben deshalb - in einem Individuum zeitgleich koexistieren können, selbst wenn sie divergent sind oder sich gar widersprechen: »[...] sie gelangen gar nicht zum psychischen Widerspruch, denn sie werden voneinander getrennt« (schärfer noch dazu Enzensberger: »Mit dem logischen Status von Wahnvorstellungen ist es

6

7

8

Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt a.M. 1981 (=stw 25). Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt a.M. 1980, S. 141 (=stw312). Ebd., S. 142.

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Naturwissenschaften

337

so bestellt, daß zwei Phobien, die einander ausschließen, ohne weiteres in ein und demselben Gehirn Platz finden.«9) Dieser in einer Person dennoch bestehende Widerspruch läßt sich, gleich auf unser Thema »national« bezogen, sogar glänzend und einsichtig formulieren. Meine unerschöpfliche Quelle dazu ist Napoleon Bonaparte, dem als 27jährigem General während des ersten Italienfeldzuges die Formulierung glückte: »Alle Menschen von Genie, alle, die eine herausragende Position in der Gelehrtenrepublik einnehmen, sind Franzosen - ungeachtet des Landes, in dem sie geboren wurden.« (Bonaparte an Oriani, 24.5. 1796)10 Hier hat »Franzose« natürlich eine den üblichen Sinn transzendierende Bedeutung. Wissenschaft (insbesondere Naturwissenschaft; Mathematik und Logik hier mitinbegriffen) hat einen extra-nationalen Charakter. Die mehr oder minder starke Zugehörigkeit zu einem wie auch immer gearteten »National-Denkstil« kann in einem Individuum zu einer Verknüpfung führen, die nicht einmal unmittelbar bewußt ist - ja sogar dies in der Regel nicht sein wird. Eine in diesem Sinne »nationale«, d. h. auf ein Nationalbewußtsein ausgerichtete Denkgemeinschaft ist eng und diffus zugleich: die »enge« Definition der nationalen Zugehörigkeit, als ja/nein-Entscheidung in den allermeisten Fällen durch Betrachtung des Geburtsorts oder der Eltern zu treffen, ist zugleich eine reine Zufälligkeit (dies ist es, was Bonaparte mit seinem Diktum meinte; solche Zufälligkeit kann nicht entscheidend sein). Ihre Erfüllung mit einem über diese Zufälligkeit hinausgehenden Inhalt ist das Ziel von Attributen, die »Nationalbewußtsein« schaffen sollen, aber notwendig schwammig und prinzipiell zwischen allen Nationen austauschbar sind (ζ. B. der »Stolz, Deutscher [Franzose, Amerikaner, Türke...] zu sein«; ζ. B., sich als Bewohner von »God's own country« zu wissen; »einem auserwählten Volk anzugehören«; Mitglied des »Volks der Dichter und Denker« zu sein - und dergleichen Beliebigkeiten mehr; vgl. hierzu auch Enzensbergers [Anm. 9], S. 15ff., vorzügliche Beobachtungen zu »Nation« und »Nationalgefühl« - wobei letzteres Wort gelegentlich dem von mir verwendeten »Nationalbewußtsein« vorzuziehen wäre). Je »härter« eine Wissenschaft ist, um so weniger scheint sie sich auf den ersten Blick einer »nationalen« Interpretation oder gar Nutzung leihen zu können - wenn man »von innen« auf die Wissenschaft blickt. Recks Ansatz zeigt jedoch, daß die Möglichkeit, einerseits einem wissenschaftlichen, andererseits ζ. B. einem »nationalen« Denkstil anzuhängen bzw. den zugehörigen Denkkollektiven anzugehören, durchaus 9

10

Hans Magnus Enzensberger: Die Große Wanderung. 33 Markierungen. a.M. 1992, S. 30. Zitiert nach: Joachim Fischer: Napoleon und die Naturwissenschaften. 1988.

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gegeben ist - und wie um ihn zu bestätigen (er schreibt 1935!), entstehen im nationalsozialistischen Deutschland die »Deutsche Mathematik«, »Deutsche Physik«, »Deutsche Chemie« und ähnliche Verbindungen.11 Typisch ist jedoch, wie ζ. B. Lindner für die Mathematik festhält: »Eine klare Definition der >Deutschen Mathematik* leisteten ihre Vertreter nicht.«12 Bieberbach, einer der führenden dieser Vertreter, fand in einem Vortrag Felix Kleins aus dem Jahr 1893 eine Art Begründung, zwar vorsichtig formuliert, aber bereits in eine bestimmte Richtung weisend: [...] es muß festgehalten werden, daß der Genauigkeitsgrad räumlicher Vorstellung von Individuum zu Individuum differiert, vielleicht sogar von Rasse zu Rasse. Es scheint, als habe die deutsche Rasse vorwiegend eine starke, zugleich naive Raumauffassung, während die lateinischen und hebräischen Rassen über einen entwickelteren Sinn für kritische, rein logische Auffassung verfügten.13

Die in der Zeit des Nationalsozialismus aufkommenden Entwicklungen gerieten »in eine Sackgasse«;14 daß der Schaden nicht wesentlich größer wurde, als er ohnehin war - von der Austreibung der bedeutendsten Köpfe hier ganz zu schweigen - , ist nach meiner Ansicht jedoch allein der insgesamt nur knapp zehnjährigen Dauer und »Anwendung« derartigen »Denkens« zu verdanken. Jeder kann sich ausmalen, was die Folgen gewesen wären, hätte dieses »Denken« eine zeitliche Ausbreitung erfahren dürfen wie etwa der Lyssenkoismus in der Sowjetunion, der Biologie, Biochemie und Genetik Jahrzehnte zurückwarf. Doch nun wieder zeitlich etwas zurück, zunächst ins 17. Jahrhundert, und zwar zur wissenschaftlichen Sprache und ihrer nationalen Ausdifferenzierung. Ist sie ein Grund für »nationale« Wissenschaft? Zwar begann sich damals die jeweilige Nationalsprache über das Lateinische als einheitliche Wissenschaftssprache zu erheben; doch auch hier gibt es bereits signifikante Unterschiede. Dieser Wechsel konnte ζ. B. im deutschen Sprachraum nicht so leicht hergestellt oder bewerkstelligt werden. Schon länger als einheitliches Gebiet bestehende Nationen, wie die Engländer und Franzosen, taten sich damit viel leichter als die Deutschen mit ihren vielen Duodezfürstentümern (das »Heilige Römische Reich Deutscher Nation« hatte niemals eine national-bindende oder Nation-bildende Wirkung). Ich halte es für bezeichnend, daß auf dem Gebiet der wissenschaftlichen

11

12 13 14

Vgl. Herbert Mehrtens/Steffen Richter (Hg.): Naturwissenschaft, Technik und NSIdeologie. Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte des Dritten Reiches. Frankfurt a.M. 1980 (=stw 303). Ebd., S. 90. Ebd., S. 99 (Zitat dort englisch). Ebd., S. 116.

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Zeitschriften in Frankreich ein französischsprachiges Journal des Sgavans (1665), in England (englische) Philosophical Transactions (1666), in Deutschland aber ein (lateinisches) Collegium Curiosum (1672) und die (lateinischen) Acta Eruditorum (1682) entstanden. Die (italienischen) Saggi (1667) der Accademia del Cimento bestätigen, wiewohl für Italien eine eher Deutschland als Frankreich oder England vergleichbare staatlich-politische Situation vorherrschte, durch ihre Ausnahme die Regel; sie wurden von Galilei-Schülern gegründet, der seinerseits zu den Ersten und Bedeutendsten gehörte, die ihre wissenschaftlichen Hauptwerke in der Landessprache schrieben und veröffentlichten. Damit waren ab diesem Zeitpunkt die intra-nationalen Kommunikationsstrukturen der Wissenschaft mit einem Vorteil für den jeweiligen »native speaker« ausgerüstet; noch aber war Wissenschaft im wesentlichen eine inter-nationale Angelegenheit, doch der Boden für eine gewisse Ausdifferenzierung war bereitet. Diese Ausdifferenzierung fand im 18. Jahrhundert statt: ein Anzeichen, daß dafür Arbeit aufgewendet wurde, die an anderer Stelle fehlte, ist das Negativ-Erlebnis von Pledges zweitem Beobachter: er »would have been an old man before he came across, in the Paris of Lavoisier, anyone worthy of Newton«.15 Nun ist Sprache allein - so hinderlich für den Einzelnen das Erlernen und Beherrschen von drei, vier, fünf oder mehr »wichtigen« Sprachen sein mag - kein ausreichendes Kriterium für Nationalisierung der einen oder anderen Wissenschaft (und ist wahrscheinlich auch kein notwendiges Kriterium); andere Faktoren müssen hinzutreten - andere Denkkollektive müssen sich mit dem einer Wissenschaft überschneiden. In Anlehnung an George Kublers Form der Zeit*6 erscheint es mir passend, auch von einer »Form des Orts« zu sprechen. Kunst - mit der sich Kubler vornehmlich beschäftigt - ist mit Wissenschaft in vielen Punkten vergleichbar; in den letzten Jahren mehren sich die Stimmen, die (von Seiten der Wissenschaft) auf diese Vergleichbarkeit hinweisen (Kuhn, Feyerabend - aber auch Kubler sieht diese Parallele bereits). Während es Kubler darum geht, den »Stil«-Begriff der Kunst, d. h. das Herauspräparieren eines zeitlich »invarianten« Merkmals in einem sich wesentlich durch Veränderung bestimmenden Bereich zu untersuchen, stellt er fest, daß die herkömmliche Feststellungsmethode auch von regionalen Gruppierungen Gebrauch macht. Wir kennen eine »Umbrische Schule«, ein »Römisches Barock«. Regionales und Nationales sind eng miteinander verbunden; dies ist jedoch nicht allein eine Frage

15 16

Pledge [Anm. 1],S. 100. George Kubler: Die Form der Zeit. Anmerkungen zur Geschichte der Dinge. Frankfurt a.M. 1982.

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des Größenmaßstabs: Die Abgrenzungen von Regionen untereinander sind schwieriger vorzunehmen, weil auf kleinere Nuancen geachtet werden muß, die sich in kürzeren Entfernungen verändern. Die Grenzen nationalen Bewußtseins oder Gefühls hingegen sind noch ungleich schwieriger zu ziehen; üblicherweise lassen sie sich in der Grenzregion schlecht, aus größerem Abstand scheinbar leichter ausmachen. Jedoch besteht die Gefahr, daß man die so »gefundenen« Entitäten durch Attribute charakterisieren will und damit die Bestandteile eines »Nationalcharakters« etabliert, der - wenn man unterstellt, daß es ihn gibt - durchaus Einflüsse auch auf das Herangehen an (naturwissenschaftliche Dinge haben kann. Die Situation wird heikel, wenn - was gleichfalls, wie die Erfahrung zeigt, unvermeidlich erscheint - diese Charaktere miteinander verglichen, möglicherweise sogar Wertbeziehungen (»besser«, »schlechter«) zwischen ihnen hergestellt werden. Statt unterschiedliche Vorzüge einfach bestehen zu lassen (»ich kann das, Du kannst dies«), wie es zwischen Individuen vielfach der Fall ist, kommt durch Wettstreit eine nicht immer zweifelsfreie oder gar wertneutrale Komponente ins Spiel (»ich kann das besser, also bin ich besser«). Dies ist regelmäßig der Fall, wenn außerwissenschaftliche Konkurrenzsituationen auftreten, die sich durch die Durchdringung der Denkkollektive nach Flecks Beobachtung umso leichter in Individuen »vereinen« lassen, je weiter die Denkstile voneinander entfernt sind. Die erste größere außerwissenschaftliche Konkurrenzsituation mit Konsequenzen für den einzelnen Wissenschaftler begegnet uns im 17./18. Jahrhundert: nämlich der Kampf um die Möglichkeit zur Ausübung von Wissenschaft, der mit der gestiegenen Zahl ihrer »Lehrlinge« einsetzt. Dies führt - ganz im Gegensatz zu den Universitäten der Scholastik, wo ein reger Austausch zumindest der Gelehrten unterschiedlicher Nationalitäten innerhalb Europas eher die Regel denn die Ausnahme war - zu einer Regionalisierung: Denn einerseits entstehen neue Berufsgruppen, die weitgehend ortsgebunden sind (Lehrer, zum Beispiel, an Schulen der »Sekundarstufe«, wie wir heute sagen würden), die anschließend einen beträchtlichen Teil des akademischen, in der Regel Forschungsinhalte »bestimmenden« Teils der Wissenschaftler stellen (man beachte die für das 19. Jahrhundert festzustellende große Zahl von Universitätslehrern, die von einem Gymnasium, einer Gewerbeschule usw. kamen - ganz im Gegensatz zur heute überwiegenden inneruniversitären Laufbahn). Dieser Personenkreis hat Konkurrenz und Wettstreit als quasi »natürliches« Phänomen bereits kennengelernt, und zwar auf einem nicht wissenschaftsinternen Sektor. Es fällt diesem Kreis daher leicht(er), weitere Konkurrenzsituationen, die »von außen« kommen oder vorgegeben werden, zu internalisieren. Die Erweiterung der Gebiete konkreten Wissens, wie sie für die Mathematik des gesamten 18., für die Physik der 2. Hälfte des 18. und für

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die Chemie und die Biologie gegen Ende des 18. bzw. zu Beginn des 19. Jahrhunderts festzustellen sind, führt zudem zu der Aufspaltung in verschiedene Schulen (d. h. sozusagen in Unter-Denkstile) - man könnte dies sogar als eine Art Notwehr-Reaktion gegen das schnelle Anwachsen des Wissens ansehen. Auch diese Schulen konkurrieren untereinander (Anhänger der Infinitesimalrechnung gegen ihre Gegner mehr als ein Jahrhundert Kampf, im wesentlichen sogar bis heute; Mechanisten gegen Wirkungstheoretiker; Phlogiston-Anhänger gegen quantitative Analytiker). Auch dies ist eine, nunmehr nicht mehr rein räumlich aufrechtzuerhaltende Regionalisierung: sie ist allerdings wissenschaftsintern, führt jedoch dazu, daß nicht nur Individuen, sondern auch Kollektive in größerem Umfang daran teilhaben. Dies wiederum bereitet den Boden für eine nochmalige Gruppierung der Denkstile; und das Bestreben, Ordnung in die Vielheit zu bringen, läßt immer auch fatale Nutzungen einer Ordnung oder gar in sich fatale Ordnungsschemata zu. Eines dieser wesentlich fatalen Ordnungsschemata ist Nationalisierung (oder gar Rassen-Typologisierung: das ist es, was die Propagandisten der »deutschen« Wissenschaften machten). Man wird bemerkt haben, daß diese Sicht und ihre Darstellung zweierlei beinhalten: eine Wertung: fatal, und eine Unspezifiziertheit: denn diese Schilderung kann, wenn sie gilt, auch über den naturwissenschaftlichen Bereich hinaus verwendet werden - selbst wenn ich immer wieder einmal das Wort »(natur-)wissenschaftlich« eingestreut habe. In der Tat bin ich der Auffassung, daß auch hier die Wissenschaft sich nicht so sehr von anderen Tätigkeitsgebieten unterscheidet, wie gemeinhin angenommen oder unterstellt wird. Und ebenso bin ich der Auffassung, daß Nationalisierung als Ordnungsschema fatal ist: denn wie ich vorher versuchte zu begründen, sind die Inhalte von Nationalbewußtsein ihrem wesentlichen Charakter nach »diffus«, eben um der Zufälligkeit des Merkmals den Anschein einer anderen Qualität zu verleihen. Diffuse Ordnung aber gruppiert auch diffus. Daß dieser fatale Weg nicht immer beschritten wird, liegt zum einen an der sicher großen Zahl von Ordnungsmöglichkeiten, zum anderen daran, daß - wenn nicht mit äußerstem Nachdruck von außen durchgesetzt - diffuse Ordnungsschemata ihre Ineffektivität für das, was sie »falsch«, mindestens aber »vergebens« zu ordnen versuchen, erweisen; und drittens, daß es ein Ventil gibt, eine weniger »fatale«, wenngleich selten weniger diffuse Ordnungsmethode: die Mode (auf die ich hier nicht weiter eingehen möchte). Als Resume: Der permanente Prozeß der Veränderung, aber auch der Entstehung von weiteren, neuen Denkstilen führt seinerseits zur Notwendigkeit einer Ordnung (der Denkstile bzw. ihrer Inhalte). Ein einfaches, gleichbleibendes Ordnungskriterium hat Vorteile und Nachteile. Wissenschaft wehrt sich, indem sie externen Kriterien keinen Bestand

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einräumt. Ja, um dies auf die Spitze zu treiben, könnte man versuchen, eine Definition von Wissenschaft(ssystemen) aufgrund dieser Haltung zu versuchen. In einer Wissenschaft sind Regionalisierungstendenzen (oder müssen massiv von außen unterstützt werden).

ohne Bestand

Regionalisierung meint hier - wie schon früher - jegliche Gruppierung oder Zusammenfassung, im Sinne eines Ordnungs- oder Strukturierungsprinzips, nach wesentlich außerhalb des so geordneten Systems liegenden Kriterien. Ob dieser Versuch, auf die Frage »Was sind die Wissenschaften?« zu antworten, wirklich tragfähig ist, bliebe zu untersuchen. Trösten wir uns auch hier mit Feyerabend, der feststellt, daß diese Frage »nicht eine Antwort, sondern viele« hat, wir aber »von der Wahrheit nicht zu weit entfernt [sind], wenn wir sagen, daß die Natur der Wissenschaften noch immer in Dunkel gehüllt ist«. Die Resistenz dessen, was Wissenschaft ist (und hier greife ich auf die - zugegeben - nicht immer glückliche Einteilung der Wissenschaften in »harte« und »weniger harte« zurück), ist jedoch unterschiedlich und scheint teilweise meine These zu stützen: Die Inhalte der »Deutschen Mathematik« sind >normale< Mathematik; die mit bestimmten gesellschaftspolitischen Vorgaben versehene mathematische, selbst die mathematik-historische Literatur der DDR ging nach einem obligatorischen Zitat aus den Marx-Engels-Werken zur Tagesordnung über. Physik und Chemie verhielten sich ähnlich, sowohl im Dritten Reich als auch unter anderem »gesellschaftlichen Druck«. Anders die Geschichtswissenschaft (die Vorträge und die Diskussion in der Sektion Π haben dies deutlich gezeigt): sie ist >anfälliger< in ihrer Gesamtstruktur - und sie ist im üblichen Sinne ja auch »weicher«. Volkskunst, Kunsthandwerk - denen man sich ja nach gängiger Auffassung und Ausübung durchaus wissenschaftlich nähern kann - sind noch gefährdeter; übrigens hat hier auf triviale Weise das zunächst außerhalb stehende Ordnungskriterium der geographisch-regionalen Einteilung auch innerwissenschaftlich Bestand. Aber wesentlich über deskriptiv-sammelnden Charakter ist die Unternehmung kaum hinausgewachsen, und wenn schon Gian-Carlo Rota die Biologie (insbesondere in ihrem Klassifizierungsanspruch) als eine eher dem Briefmarken-Sammeln als der Wissenschaft nahestehende Tätigkeit bezeichnet: was gilt dann für das Kunsthandwerk? Dies legt meine zweite Fassung der These nahe: Eine Wissenschaft ist um so härter, je erfolgreicher sie sich gegen Regionalisierungstendenzen zur Wehr setzt.

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Wissenschaft - ich zitierte es oben - ist nur eine bestimmte Form von Denkstil; insofern weisen die voranstehenden Absätze über Wissenschaft im engeren Sinne hinaus. Ideen - und damit schlage ich einen weiten Bogen zum Anfang, aber auch zum Nationalen, zurück - wie die eines Vereinten Europa müssen sich im »Europa der Regionen« (welch idiotisch-bezeichnender Begriff, der seine Herkunft mit sich trägt) gegen eine provinzlerische Grundhaltung wehren. Nur ein Europa, das sich gegen diese Tendenzen zu wehren versteht - und gerade danach sieht es heute nicht aus - bleibt ein wirkliches Europa mit der Chance auf Realisierung.

Mitarbeiterverzeichnis

Prof. Dr. Peter Alter Fachbereich Geschichte Gerhard-Mercator-Universität GH Duisburg Lotharstr. 63 D - 47048 Duisburg KD.H. ΑρχκποΒ HHCTyT MHpoBft DiHTepaTypH hm . A M . T o p t K o r o PoccHftcKoii AKa^eMHH HayK y3i. BopoBCKoro, 25-a ΡΦΡ MocKBa, 121069 (Dr. Jurij I. Archipov Maxim-Gorki-Institut für Weltliteratur ul. Vorovski 25-a RUS - Moskva 121069) Prof. Dr. Francisco Caudet Filologia Espanola Universidad Autonoma de Madrid Ciudad Universitaria de Cantoblanco Ε - 28049 Madrid Prof. Dr. Jean Dhombres Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales CNRS 27, rue Damesme F-75013 Paris

Priv.-Doz. Dr. Joachim Fischer Kulturstiftung der Länder Kurfürstendamm 102 D - 10711 Berlin Prof. Dr. Willem Th. M. Frijhoff Jan van Ghestellaan 25 NL - 3054 CE Rotterdam Prof. Dr. Jean Gaudon 15, rue Sarrette F - 75014 Paris Prof. Dr. Francis Hartog Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales CNRS 54, Boulevard Raspail F - 75270 Paris Prof. Dr. Hans Hecker Historisches Seminar, Abt. Osteuropäische Geschichte Heinrich-Heine-Universität Universitätsstr. 1 D - 40225 Düsseldorf Priv.-Doz. Dr. Lothar Jordan Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaft Universität Osnabrück D - 49069 Osnabrück

346 Dr. Bernd Kortländer Heinrich-Heine-Institut Bilker Str. 12-14 D - 40213 Düsseldorf Prof. Dr. Joseph A. Kruse Heinrich-Heine-Institut Bilker Str. 12-14 D - 40213 Düsseldorf Prof. R.D. Lethbridge, M.A., Ph.D. Department of French Royal Holloway University of London GB - Egham, Surrey TW20 OEX Prof. Dr. Renato G. Mazzolini Universitä degli Studi di Trento Dipartimento di Sociologia Via Verdi 26 1-38100 Trento Prof. Dr. Karol Sauerland ul. Nowogradzka 23 m 6 PL-00-511 Warszawa Prof. Dr. Pierangelo Schiera Istituto Storico Italo-Germanico Via S. Croce 77 1-38100 Trento

Mitarbeiterverzeichnis

Dr. Peter Schöttler Institut des Textes et Manuscrits Modernes CNRS 45, rue d'Ulm F - 75230 Paris Prof. Dr. Hartmut Steinecke Neuere deutsche Literaturwissenschaft Universität - Gesamthochschule Paderborn D - 33095 Paderborn Prof. Dr. R. Steven Turner Department of History University of New Brunswick Post Office Box 4400 Fredericton, N.B. Canada E3B 5A3 Prof. Dr. Michael Werner Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales CNRS 54, Boulevard Raspail F - 75270 Paris Prof. Dr. Susanne Μ. Zantop Dartmouth College Department of German Hanover New Hampshire 03755-3511 U.S.A.

Personenregister Erstellt von Thorsten Gödecker und Erika Vogel

Abb, G. 173 Achmatova, A.A. 85 Alas L. s. Clarin Alembert, J. de 313,327 Alexanderl. 223,225 Alexander II. 86,224 Alexander, M. 232 Alexis, W. 110f„ 114-117, 119 Allemann, B. 53 Alpatov, M.A. 225 Alter, P. 18, 298f„ 303-307, 311 Althusser, L. 314 Al tick, R.D. 142, 148 Arnos 61 Angelet, C. 34 Anglas, B. de 192 Anna, Königin von England 130 Anrieh, E. 215 Appel, P. 315,318 Appleton, Ch.E. 284 Arago, D. 256 Araujo, J. de 98 Archipov, J. 12,90,92 Aregger, A. 96f. Arendt, H. 196 Argles, M. 305 Aristides 187 Aristoteles 312 Armytage, W.H.G. 298, 300 Arndt, K.J.R. 116 Arnold, M. 141,145 Assezat, J. 181 Assmann, S. 184 Atsma, H. 202,207,212 Aubin, H. 26,201,207,211,214-216 Auroux, S. 313 Avvakum 228 Aziza, C. 176 Azouvi, F. 23

Babbage, Ch. 248, 253, 256, 259 Bächthold, R. 229 Backer, K. 178 Badash.L. 299,308 Baguley, D. 139,146 Bailes, K.E. 222 Bakunin, M.A. 83 Ball, R.S. 318 Balmont, K. 84 Balzac, H. de 135-138, 149, 153 Barante, P. de 127 Barber, J. 239 Barbey, H. 203 Barbier, Ε 27 Baroja, P. 105-108 Barthelemy, A. 187 Barthelemy, T. 218 Batteux, Ch. 189 Bauer, R. 34-37 Baumecker, G. 189 Bäumer, M.L. 189 Baumgarten, H. 174 Bayer, G.S. 226,228 Bazän.E.P. 101-103 Becq.A. 181,199 Becquer, G.A. 99 Beethoven, L. van 54 Belinskij, W.G. 80 Bell, O. 308 Belloni, L. 247 Below, G. von 205,207 Ben-David, J. 290f„ 293f. Berding, H. 303 Berendis 187 Berg, D. 203 Bergson, H. 107 Bering, D. 56 Bernhardt, S. 107 Berry, M.C. de 122,124 Berthelot, M. 326

348 Berthollet, C.-L. 253 Bertrand, E. 329 Berzelius, J. 248,256 Betti.E. 330 Beutler, E. 110 Beyerchen, A. 279 Beyerly, E. 239 Beyme, K. von 222 Bieberbach, L. 338 Biemel.W. 313 Bil'basov, V.A. 236 Biot, J.B. 332 Birke, A.M. 299 Bittner, Κ. 229 Black, C.E. 241 Blasema, P. 287f. Bloch, Etienne 207 Bloch,M. 200-213,216 Blok, A. 84f.,92f. Blount, Β. 311 Boas Hall, Μ. 257 Bock, H.-M. 203 Böckenförde, E.-W. 168f. Böckh, A. 164 Boerner, P. 40 Boileau, N. 189 Bonaparte, C.L. 253 Bony, J. 128 Borchmeyer, D. 54 Borel, E. 325 Borkenau, F. 212f. Born, G. 310 Börne, L. 62,75,79 Borries, M. 81 Borscheid, P. 280 Botkin, V.P. 80 Bots.H. 261 Bouasse, H. 325 Boudon, P. 332 Boulanger, N. 176 Bourel, D. 23 Bourlet, C. 324 Brandes, G. 80f. Brandl, K. 173f. Brandt, P. 311 Brandt, R. 189 Braudel, F. 22,202,209 Brautmeier, J. 311 Breal, M. 22,28,33 Breza, E. von 76 Breznev, L.I. 241 Briegleb, K. 75, 109 Brinkmann, C. 21 lf. Brinkmann, G. 44 Brjusov, V. 84

Personenregister Broc, N. 206 Brocke, B. vom 299,307,309 Brockliss, L.W.B. 264 Brosses.de 181 Brown, E.J. 230 Brown, L. 141 Brües, O. 215 Brunetifcre, F. 149 Brunner, H. 238 Brunner, O. 165,168,201 Bruno, G. 312 Brutus 196 Bücher, K. 204 Buchwald, J.Z. 281 Buck, A. 174 Buckle, H.T. 233 Bud, R.F. 300 Burckhardt, Η. 330 Burckhardt, J. 163 Bürger, G.A. 74,91 Burguifcre, A. 202, 207, 209, 212 Burke.P. 200,204 Burleigh, M. 215f. Burns, C. 141,146 ButaäeviC-PetraSeevskij, M.V. 232 Buzeskul, V.P. 238 Byron, G.G. 75 Cahan, D. 304 Calder, W.M. 307 Calvin, J. 263 Candolle, A. de 259f. Caneva, K.L. 281 f. Cantor, G. 330 Carbonel, Ch.-O. 22,206,209 Cardet, F. 153f. Carducci, G. 98 Cardwell, D.S.L. 300,304 Camot, L. 331 Carnot, M.F. 331 Caroe, G. 255 Cassinet, J. 325 Castro, R. de 99 Cato 177 Cauchy, A.L. 325, 328, 33 lf. Caudet, F. 13,153,158 Cavour, C. 172 Cayley, A. 330 Caylus, Ph. de 181-183, 186f„ 189 CemiSevskij, N.G. 79, 221 Öernyj, S. 84 Cervantes Saavedra, M. de 69, 133, 155f. Cervelli, I. 173 Chabod, F. 172

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Personenregister Chamberlain, H.S. 106 Chardin, J.-B.S. 182 Charle, Ch. 29f. Chasles, M. 317 Chasles, V. 233 Chateaubriand, F.-R. de 122, 124f„ 127-129, 179, 197 Chevrel, Y. 41,46, 139 Chiarini, G. 98 Chickering, R. 201 Chladenirs 20 Chomjakov, A.S. 231f. Chouillet, A.M. 313 Chouillet, J. 180 Christ, K. 174 Chruäöev, N.S. 241 Cifcerin, B. 234 Clarin (L.A.) 155,158 Clark, B.R. 261 Clauren, H. 112 Claushues, A. 294 Clavelin, M. 332 Clebsch, A. 316 Cohen, Y. 25 Colbert, J.B. 263,266 Colburn, W.E. 146 Colby, R.A. 148 Coleridge, S.T. 148 Colin, A. 214 Comte.A. 236,313,329 Condillac, E.B. de 313 Condorcet, J.-A.-N. de 176f. Conlon, J.J. 145 Conrad, J. 282 Constant, Β. 178, 196, 198 Conze, W. 200,296 Cooper, J.F. 136 Cornelius, P. von 69 Cort6s, H. 103 Cosserat, E. 328 Cosserat, F. 328 Coulanges, F. de 22, 179 Cousin, V. 4,21,23 Craig, J.E. 206 Crawford, E. 326 Crelle, A.L. 316 Crespo, G. 98 Croce, B. 49,81f.,98, 165 Cromwell, O. 133 Crosland, M. 253 Crossley, C. 145 Crouzet, M. 136 Crowther, J.G. 308 Curtis, S. 142 Curtius, E. 170-172

Curtius, E.R. 38 Custine, A. de 83 Cvetaeva, M. 85 Daffini, C. 199 Dahlmann, F.Ch. 173 Dahrendorf, R. 298 Daiches, D. 132f. Dante, A. 38 Darnton, R. 183 Darwin, Ch. 149,303,335 Daudet, A. 149 Daumas, M. 256 David, J.-L. 181 Davidsohn, R. 174 Davies, G. 152 Davies, R.W. 242 Davilte.L. 206 Davy, Η. 255,259 DeVere, Α. 257 Del Litto, V. 135 Delille, M.M. 96-98 Demangeon, Α. 214,216 Derrida, J. 313 Deriavin, W. 85,91 Descartes, R. 312 Desjardins, R 158 Devulder, C. 204 Dhombres, J. 16, 313, 325, 327, 331f. Dhombres, N. 332 Dickens, Ch. 138, 149 Diderot, D. 181,185,327 Dieckmann, Β. VI Digeon, C. 203 Dilthey, W. 164 Dirichlet, P.G. 332 Ditt.K. 215 Döblin, A. 120 Dockhorn, K. 301 Dopsch, A. 211,213 Dostoevskij, F.M. 79, 87, 142, 158, 232 Douailler, S. 23 Doyen 194 Dreyfus, Α. 24, 140, 159f. Droit, R.-P. 23 Droysen, J.G. 173 Dubos, J.-P. 189 Duhem, P. 329 Dühring, E. 329 Dukes, J.R. 279 Dumas, A. 69, 130, 135, 152f. DumoulinsO. 203 ÖuriSin, D. 36 Dürkheim, E. 218

350 Duruy.V. 317 Dyserinck, H. 40f„ 45,48 Ebert, W. 215 Eggert, H. 114 Eich, U. 225 Eichendorff, J. von 73 Eichhorn, C.F. 234 Eimermacher, K. 48f. Einstein, A. 107,282,309 Eke.N.O. 113,115 Elias, N. 22 Eliot, G. 149 Elisabeth I. 334 Ellis, H. 150 Elze, R. 201 Eneström, G. 327 Engel, F. 320 Engels, F. 36, 342 Ennen, E. 214 Enteen, G.M. 239 Enzensberger, H.M. 336f. Erasmus 274 Erbe, M. 200 Erdmann, K.D. 208f. Erhard, J. 181 Espagne, M. 4f„ 8, 23-25, 27, 29f„ 180 Espina, A. 103 Espina, C. 104 Espronceda, J. de 96 Estermann, A. 60, 70f. Estree, G. de 121 Etiemble, R. 37 Euklid 312,317 Euler, L. 313,327f. Evans, J.L. 232 Ewers, G. 227 Faber, K.G. 202 Fabre.F. 149 Fahlbusch, M. 215 Faraday, Μ. 255 Favreau, Α. 149 Febvre, Η. 203,205 Febvre, L. 200-211, 213f„ 216-219 Feiwel, M. 99 Ferguson, A. 236 Ferragus 153 Ferri.G. 254 Fet, A. 84f., 92 Feuchtwanger, L. 120 Feuerbach, L. 80,231 Feyerabend, P. 339,342 Fichte, J.G. 230 Fiedler Nossing, A. 96f., 99

Personenregister Fielding, H. 131 Fink, C. 203 Fink, G.-L. 48 Fischer 321 Fischer, J. 16,337 Fisher, H.A.L. 300f„ 308 Flashar, H. 307 Flaubert, G. 142,155 Fleck, L. 336f., 340 Fohrmann, J. 40 Fokkema, D. 34-37 Fontane, Th. 116,119 Fontcuberta, A. 96 Fontius, M. 189 Forman, P. 276-280,282,286,291-294 Formey 180 Foucher, A. 129 Foucher, P. 129 Fourcy, A. 325 Fourier, J.B.J. 329 Fox, R. 279,281,284,292,330 Fraenkel, E. 298 Frängsmyr, Τ. 248,326 Frechet, Μ. 321 Freron, L.S. 182, 184f„ 189 Fresnel, A.J. 281 Freud, S. 33, 107 Freyer, H. 164,167 Freytag, G. 119 Fried, P. 201 Friedrich I. 266 Frijhoff, W. 18,263,265 Frings, Th. 201,214f. Fuhrmann, Μ. 187 Gabay.J. 316,323 Gadamer, H.G. 38 Gaehtengs, Th.W. 189 Galdabini, S. 278, 293f. Galilei, G. 339 Galley, E. 53, 60, 70f., 251 Galois, E. 330 Ganivet, B.A. 103, 104-106 Garber, K. 40,42 Gaszynski, K. 77 Gaudon, J. 13,129,134 Gaudon, Sh. 129 Gauss, K.F. 328 Gay-Lussac, J.L. 253 Gebhardt, B. 250 Geierhos, W. 231 Geison, G.L. 293 Geldern, S. von 60 Geliert, Ch.F. 223 George, D.L. 300,303

351

Personenregister Gerdil, H.-S. 245 Gergonne, J.D. 317 Gerhartz, L . K . 59 Gerlich, A. 201 Gervinus, G. 78 Gessner, S. 98, 187 Geyer, D. 222, 241f. Gide, A. 10 Giesebrecht, W. von 173 Giesen, B . 4 , 4 0 Gillespie, G. 3 5 , 4 2 Gilman, S. 9 6 Gilpin, R. 291 Gimenez Caballero, E. 107 Gingras, Y. 280f. Ginzburg, C. 20 Giono, J. 136 Gispen, K. 2 8 0 Gispert, H. 3 1 6 f . , 3 2 5 Gissing, G.R. 150 Giuliani, G. 278, 293f. Gizycki, R . von 300 Glan, P. 320 Glockner, H. 66 Gödde-Baumanns, B. 206 Gödel, K. 325 Goehrke, C. 227 Goethe, J.W. 35f., 53f„ 56, 61, 63, 69, 71, 75, 79f., 92, 95, 98, 102, 110, 116, 118, 163 Goetz, W. 164 Goga, S. 150 Gogol, N. 229 Goguet, A. 186 Gollwitzer, H. 53 Gombrowicz, W. 73 Gooch, G.P. 238 Gorbaöev, M. 242 Gordon, J.I. 7 1 , 7 9 , 8 6 Gosse, E. 146 Gössmann, W. 56 Gourvish, T.R. 307 Grab, W. 57 Grabowska, M. 82f. Granovskij, T.N. 2 3 4 f „ 237 Grassmann, H.G. 320f. Grau, C. 247 Graves, R.P. 2 5 6 , 2 5 8 Gregoire, H. 192 Greiner, W. 139 Greve, EP. 137 Griese, F. 242 Griest.G. 142 Grigor'ev, A. 84 Grigorenko, P. 241

Grimm, J. 34, 164 Grimm, W. 3 4 , 1 6 4 Grimm, R.R. 43 Groddeck, W. 55 Groh, D. 201 Grosser, Th. 27 Grothusen, K.-D. 225, 233f. Grunewald, M. 27 Guerci,L. 177 Guillemot, M. 325 Guizot, F. 233 Gumilev, A. 84 Gurowski, A. 82 Gurowski, I. 83 Gutnova, V.E. 238 Guyard, M. -F. 137 Guy au, J.M. 158 Haber, F. 309f. Haber, L.F. 309 Hadamard, J.S. 321 Haeckel, E. 246f. Hagenmüller 180 Hahn, O. 301, 31 Of. Haines, G. 300 Haidane, R . B . 298, 3 0 6 , 3 0 8 Hall, A.R. 305 Hamilton, W.R. 2 5 6 f „ 320 Hannaway, O. 290 Hansard 299 Hardy, Th. 150 Harich, W. 61 Harman, P.M. 282 Harnack, A. 164 Hartog, F. 1 5 , 2 2 , 3 0 , 1 7 5 , 1 9 8 Haskell, F. 190 Hauff, W. 111, 115f., 119 Haupt, G. 241 Hauptmann, G. 146 Hauptmeyer, C.H. 201f. Hauschild, J.-C. 53 Hauser, Α. 157 Hawkins, H. 289 Hawkins, T. 317 Hecker, H. 14, 225, 2 3 l f „ 234-240 Hegel, G.W.F. 66, 230, 232 Heilbron, J.L. 276-282, 286, 291-294 Heimpel, H. 2 0 0 Heine, Heinrich VI, 2, 12, 28, 53-88, 91-111,251 Heine, Heymann 56 Heine, M. 60 Heine, S. 102 Heinrich IV. 205 Heller,!. 239

352 Hellmann, Μ. 222,227 Heimholte, Η. von 260,328 Helvetius, C. 77 Henri IV. 121 Herder, J.G. von 64, 97, 164, 223, 229 Herivel, J.W. 291 Hermand, J. 73,102, 108 Herodot 194 Herold, M. 215 Herrero, J.J. lOlf. Herrmann, D. 225 Hertz, H. 328 Herzen, A. 80, 23 lf. Hess, J.A. 53 Hessel, A. 174 Hibbs-Lissorgues, S. 154 Hilbert, D. 317, 321-324, 327 Hinrichs, E. 201f. Hintze, O. 174 Hirdt, W. 43 Hirschfeld, G. 310 Hoefert, S. 139 Hoffmann, E.T.A. 122 Hoffmeister, G. 96,99 Hofmann, A.W. von 298 Hohendahl, P.U. 96 Hohenhausen, E. von 60 Hollenberg, G. 296, 300f. Holmes, EL. 293 Homer 134, 137, 181, 183 Houghton, W.E. 145 Hugo, Abel 128 Hugo, Ad£le 135 Hugo, V. 10, 69, 78, 112, 121, 123, 127-138 Humboldt, A. von 163,253,260 Humboldt, W. von 16, 18, 246, 252f„ 260, 267f., 284 Husserl, E. 313 Hutchison, J. 282 Huyghens, Ch. 335 Ibsen, H. 144,146 Iggers, G.G. 202,204 Immermann, K. 118f. Irsigler, F. 202 Iser.W. 48f. Ivanovna, A. 227 Jäger, G. 55 Jäger, H. 202 James, A.W.R. 131 James, H. 144, 147 Jansen, H. 191,193 Jarausch, K.H. 263,269

Personenregister Jarnds, B. 103 Jaruzelski, W. 79 Jaster, B. 43 Jaucourt, L. de 182-186 Jauss, H.R. 189 Jean Paul 58,61 Jeanblanc, H. 27 Jefferson, Th. 189 Jeismann, M. 30 Jeske-Choinski, T. 81 Jesus von Nazareth 61 Joly.C.J. 320 Jordan, C. 317,331f. Jordan, L. 2f„ 38 Julia, D. 313 Jungnickel, Ch. 282 Kaelble, H. 201 Kafka, F. 71 Kaiser, G.F. 35,43 Kant, I. 23,77,313,329 Kanzog, K. 35 Karamzin, N.M. 229 Kareev, N.I. 239 Karl der Kühne 126,130 Karl V. 174 Katharina II. 223,236 Kaufmann, E. 36 Kavelin, K.D. 234 Kawyn, S. 77 Keating, P. 280 Kegler, D. 230 Kellenbenz, H. 200 Keller, M. 225 Kelvin, W. (W. Thomson) 304 Kemp, F. 121 Kennedy, P.M. 302 Ker, I.T. 245 Kettenacker, L. 298f. Kevles, D J . 290f. Kimon 187 Kincaid, J.R. 148 Klaczko, J. 78 Klein, F. 315-320, 324f„ 327, 332, 338 KljuCevskij, V.O. 233 Klobusiczky, P. 138 Kloos, H. 40 Klopstock, F.G. 223 Klüger, R. 57 Koch, H.W. 303 Kocka, J. 204,219 Koebner, R. 212 Koenigs, G. 316 König, F. 38 Konopnicka, M. 80

353

Personenregister Konstantinovid, Ζ. 35,48 Koopmann, Η. 82,98 Kopelcw, L. 225,227 Koppen, E. 35,44, 53 Korelin, M.S. 237 Korn, K.-H. 225 Kortländer, B. 2 , 4 , 2 7 Kosok, H. 41 Kötzschke, R. 205 Kovalevskij, M.M. 238 Krasinski, Z. 74, 76f. Kraus, K. 72,81 Krause, K.Ch.F. 98, 156 Kretschmayr, H. 174 Krieg, K. 260 Krjukov, D.L. 237 Kronecker, L. 332 Kröner, P. 310 Kruse, J.A. VI, 12, 55-57, 59f. Kubler, G. 339 KupriC, N.Ja. 238 Kuhn, A.J. 148 Kuhn, Th.S. 281,336,339 Kuprin, A.I. 84 Kurz, R. 5 Kutorga, M.S. 237 La Bruyere, J. de 188f. La Fayette, M.-M. de 123, 138 Lafarga, F. 154 Lafayette, M.J. de 67, 88 Lafontaine, A. 112 Lagier, F. 27 Lagrange, J.L. 322,328,331 Lamartine, A. de 137 Lambert, J. 34f.,47 Lämmert, E. 115 Lamprecht, K. 22, 174, 20lf., 204f„ 207 Lang, A. 139 Langevin, P. 320 Laplace, P.S. de 253, 328, 33 lf. Larousse, P. 124 Larra, M.J. de 96 Laube, H. 70 Laugel, L. 323 Lavalleye, J. 256 Lavoisier, A.L. de 335, 339 LeGoff.J. 202 Le Roy, E. 329 Lebesgue, H. 321,330 Lehmann, J. 59 Leibniz, G.F. von 225, 312, 328, 335 Leiner, S. 26 Lempicki, S. 82

Lenartowicz, T. 76 Lenin, W.I. 87,222 Lenoir, Α. 193-196 Lenormant, Ch. 233 Lepetit, B. 20,28 Lermontov, Μ J . 74, 81,84f. Lesage, A.R. 133 Lessing, G.E. 64 Lethbridge, R. 13 Leuilliot, B. 129 Leuillot, P. 209 Levaillant, M. 127 Levandovskij, A.A. 234 Levin, J. 85 Levitzky, S.A. 230 Lewald, A. 71,94 Lewik, W. 74 Lewy, R. 152 Lheritier, M. 209 Liard, L. 329 Lie, S. 317 Liebig, J. von 296, 298,300 Lilly, W.S. 148 Lindemann, F. 323 Lindemann, L. 323 Lindken, Th. 307 Lindner 338 Lindsay 311 Linne, C. von 132 Liouville, J. 332 Lipkin, S. 85 Lissorgues, Y. 153f. Liszt, F. 71 Livet, G. 206,209 Locke, R.R. 270 Lomonosov, M.V. 226f. Longinus 189 Lopez Peläez, A. 159 Lorey, W. 324 Lorgna, A.M. 254 Lotze, R.H. 301 Lucian 101, 106 Luöickij, I.V. 236 Ludwig IV. 205 Ludwig XI. 126,130 Luhmann, N. 47 Lukäcs.G. 56, 112, 117, 120 Lundgreen, P. 270,279 Luther, M. 61,235 Lützeler, P.M. 37,54 Lykurk 177, 179, 197 Lyon, B. 204f„ 207-210 Lyon, M. 205,207-210 Lyons, F.S.L. 298 Lyssenko, T.D. 338

354 Maas, A. 26f. Maas, N. 71 Mably, G.B. de 176f., 181 Mach, E. 325,329 Maeztu, R. de 102 Magnus, Ph. 304 Maigron, L. 135 Majkov, A.N. 84 Malinowski, B. 213 Manfrass, K. 25 Mann, G. 167 Mann, H. 120 Mann, Th. 116,138 Manzoni, A. 112 Marcus, L. 58 Marivaux, P. 10 Markiewicz, H. 81 Marko, K. 241 Martino, A. 112 Marx, K. 33, 36, 82f., 87, 107, 231, 342 Maslow, A. 240 Massenbach, S. von 122 Masser, A. 35 Massie, R.K. 302 Massis, H. 23 Matteuci, C. 288 Matuszewski, I. 80 Matvejevic, P. 42 Maximilian II. 173 Maxwell, J.C. 309, 329, 335 Mayer, G. 105 Mayer, H. 54,73,76 Mayer, Th. 165 Mazour, A.G. 223, 225f., 228 Mazzini, G. 231 Mazzolini, R.G. 17,254 McCleary, J. 324 McClelland, Ch.E. 283 McConnell, A. 225 McCormmach, R. 282 Mclnnes, E. 147 Medick, H. 20,26 Mehrtens, H. 316,338 Meinecke, F. 167 Meister, R. 257 Meitner, L. 310 Mendelssohn Bartholdy, F. 59, 107 Mendelssohn, M. 59,223 Menendez Pelayo, M. 101f„ 155 Mengs, A.R. 198 Mense.J. 300 Menzel, W. 110,113,118 Meregalli, F. 34 Merimee, P. 137

Personenregister Merzljakov, A. 92 Messerschmidt, M. 301 Metternich, K.W. von 257 Meyer, G. 242 Meyer, K. 256 Meyer-Kalkus, R. 189,203 Meyerbeer, G. 71, 107 Michajlov, K.N. 84f. Michelet, J. 21, 195,233 Mickiewicz, A. 12,74,76,78,233 Middell, M. 200f. Mill, J.S. 236 Millard, R. 280 Miller, N. 121 Milo, D. 194 Miltiades 187 Minaev, D. 92 Mitteis, H. 165 Mitter, W. 44f. Moltere 264 Molk, J. 315f., 330 Momigliano, A. 174 Mommsen, Th. 172, 230, 238, 301 Mommsen, W.J. 296 Monge, G. 316,331 Monteiro, J.G. 97 Montesquieu, Ch. de 176-178 Moore, A.S. 149 Moore, G. 143f., 147, 149 Moraw, P. 263 Mörike, E. 56 Moseley, R. 303 Moulin, R. 20 Moulinier, G. 127 Mudie, Ch.E. 142f. Müller, Bertrand 209-211,213,215 Müller, Bodo 96, 98 Müller, C.H. 315 Müller, D.K. 261 Müller, F.M. 298 Müller, G.F. 227,229 Müller, J. 201 Münch, R. 5 Mündt, Th. 72 Musil.R. 117,326 Napoleon I. 54, 58, 65, 87f., 127, 130, 192, 223, 225, 230, 239, 253, 337 Napoleon III. 154 Napoleon, L. 250 Neander, J.A.W. 233 Neave, G. 261 Neckina, M.V. 223 Nekrasov, N. 84,91 Nekric, Α. M. 241

355

Personenregister Nerval, G. de 121-124 Nestor (Chronist) 226 Neufchateau, F. de 192f. Neumann, F.E. 316 Newman, J.H. 245 Newton, I. 335,339 Ney, M. 130 Nicolai, C. 118 Niebuhr, B. 164,171 Nies, F. VI, 39,43 Niessen, J. 215f. Nietzsche, F. 54 Nijhoff, M. 313 Nikolaus I. 223f., 232f„ 237 Nivelle, A. 43 Nodier, Ch. 128,131 Noiriel, G. 202 Nora, P. 195 Novalis 68 Numa 179 Nunez, D. 156 Nye, Μ J . 285, 292f. O'Day, A. 307 Oberkrome, W. 216,219 Oberländer, E. 240 Odelberg, W. 248 Oestreich, G. 174 Oexle, O.G. 201,203 Ohm.G.S. 282 Oken, L. 253 Olasz-Eke, D. 113 Olesko, K.M. 281 Oleson, A. 289,291 Oriani, B. 337 0rsted, H.Ch. 256 Ortega y Gasset, J. 103 Osietzki.M. 311 Ostwald, W. 300 Oursin, F.C. 260 Owen, C.R. 96, 102 Pageaux, D.-H. 49 Pages, A. 24 Pallas, P.S. 226 Pancaldi, G. 253 Papst Pius IX. 257 Pardo Bazän, E. 100-102, 153, 157f. Paris, G. 28,33 Parisse, M. 28 Pascal, P. 157 Pasternak, B. 85 Pastor, L. von 174 Pater, W. 145, 149 Pattison, W.T. 159

Pauli. 223,264 Paul, H.W. 280, 285, 287, 292, 294, 330 Pavlova, K.K. 84 Peano, G. 321 Pareira, N.G.O. 221 Penkovskij 85 P6rez de la Dehesa, R. 160 P6rez Galdos, B. 153-158 Perikles 194, 196 Perrault, Ch. 184 Pertz, G.H. 173 Peruzzini, G. 98 Pestre, D. 293 Peter der Große 222, 224-226, 229, 231,233 Peters, P. 72 Petri, F. 216 PetruSevskij, D.M. 239 Pfeifer, G. 219 Pfetsch, F. 293 Philippell. 213 Philipps, D. 311 Picard, C.E. 331 Pincherle, S. 321 f. Pipes, R. 222 Pirenne, H. 205,207-210,219,237 Planche, G. 157f. Planck, M. 309 Platen, Α. von 79 Piaton 312 Pledge, H.Th. 334f„ 339 Plomteux, H. 34 Plutarch 178, 198 Poincare, Η. 317,322-325,328,332 Poinsot, L. 318 Poisson, S.D. 332 Pokrovskij, M.N. 239f. Pommereul, F.R.J. 198f. Pommier, E. 180,190-194,198 Ponson du Terrail, P.A. de 153 Poulot, D. 194 Prinz, M. 219 Proudhon, P.J. 231 Proust, M. 326 Pryme, E.E. 147 Pseudo-Longinus 189 PuSkin, A.F. 84f. Pyatt, E. 303 Pyenson, L. 325 Queiros, E. de 97 Quental, A. de 97 Quetelet, A. 256 Quincey, Th. de 111

356 Quincy, Q. de 196 Quinet, E. 233 Rachel Felix, E. 107 RadiSöev, A.N. 223 Raeff.M. 222,225 Raffael 127, 197 Rahner, K. 38 Ramos-Gascön, A. 158 Ramsay, W. 301 Randall, F.B. 221 Ranke, L. von 167,173,233,238,301 Raphael, L. 22,204 Rathenau, W. 106f. Ratzel, F. 218 Raulet, G. 189 Reade, Ch. 146f. Reeves, B.J. 280, 287-289, 393 Regnier, P. 6 Rehm.W. 180,184 Reich-Ranicki, Μ. 82 Reim, Η. 167 Remak, Η. 34 Remak, J. 279 Reinsen, I. 290 Renan, Ε. 158 Requate, J. 27 Revel, J. 20,200 Richard Löwenherz 130 Richter, J. 229 Richter, S. 338 Riedel, V. 26 Riedler, Α. 324 Riek, W. 332 Riemann, G.F.B. 332 Riesz, F. 321 Riesz.J. 34,38,44,47,49 Ringer, F.K. 261,269,271,287,330 Ritter, G. 200 Ritter, G.A. 202 Ritter, K. 233 Roberts, G.K. 300 Robespierre, M. 196 Röder, W. 310 Roggero, M. 266 Romero, I.G. 96 Roosevelt, RR. 234 Rörig, F. 212 Rosa, A.M. de 99 Rosenthal, A. 330 Rosenthal, L. 60 Rota, G.-C. 342 Roth, K.H. 219 Rothe, H. 229 Rothfels, H. 296

Personenregister Rousseau, J.B. 60 Rousseau, J.-J. 176-179,181 Rowe, D.E. 317,324 Rubens, RP. 69 Rubinäteyn, N.L. 225, 227f. Rüdiger, H. 53 Rüegg.W. 263 Rukser, U. 96,98,101 Rumer, O. 85 Rürup.R. 305,311 Russo, A. 294 Rutherford, E. 296,310 Sacharov, A.M. 225 Sade, D. de 132 Safaiik, RJ. 233 Said, E. 141 Saige, G.-J. 177f. Saint-Just, L.-A. de 191, 196f. Sainte-Beuve, Ch.-A. 123, 127 Saltykov-Söedrin, M. 84 Sammler, S. 200f. Sammons, J.L. 62 Sand, G. 136 Sandkühler, H J . 40 Sand0e, A. 256 Santen Kolff, J. van 140 Sauerland, K. 12 Savigny, F.C. von 164,234 Savine, A. 159 Schaeder, H. 225 Schaeffer, M. 146 Schanze, H. 57 Scheffel, J.V. von 119 Scheible, J. 60 Schelling, F.W.J. 230 Schieder, Th. 31,167,303 Schiera, P.V. 14 Schiller, F. 64, 109 Schimmack, R. 324 Schlegel, A.W. 60, 98, 165 Schlobach, J. 27 Schlözer, A.L. von 226f., 230 Schmeling, M. 43 Schmidt, A. 167 Schnabel, F. 163 Schödlbauer, U. 37 Schöler, W. 330 Schönert, J. 55 Schönflies, A. 316 Schönwälder, Κ. 215f. Schopenhauer, A. 54, 149 Schorn-Schütte, L. 202 Schüttler, P. 15, 26, 201-203, 208, 211, 213f.

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Personenregister Schramm, G. 222 Schramm, P.E. 296 Schrimpf, H.J. 35 Schröder, S. 43 Schröder-Gudehus, B. 25, 208, 309, 315 Schubring, G. 22,268,283,316,324 Schulze, W. 20,200,202,219 Schüren, R. 110 Schwabe, K. 307 Schwarz, E. 96, 102 Schwarzenbach, O. 61 Scott, W. 8,13,58,109-138 Sealsfield, Ch. 116,119 Searle, G.R. 303 Seifert, S. 53,95 Sella, Q. 172 Sengle, F. 116 Senkovskij, O.I. 79 Sevcov, V.l. 227 Seznec, J. 181 Shakespeare, W. 10,65,69 Shaw, G.B. 147 Sherard, R. 146 Seybel 167 Shils, E. 289 Shinn.T. 280, 285, 291f. Shteppa, K.F. 239 Siebenmann, G. 45 Silliman, R.H. 281 Simiands, F. 218 Simon, B. 261 Singer, F.K. 261 Slowacki, J. 74,77 Small, I. 145 Smith, W.H. 148 Smollett, T. 133 Snow, C.R 306 Sobejano, G. 155 Söhn, G. 54 Sokolov, O.D. 239 Solla Price, D.J. de 278f. Solon 179 Solov'ev, S.M. 232f. Sommer, D. 308 Sommerfeld, A. 309 Soulie, F. 153 Soumet, L.A. 129 Späth, M. 305 Spallanzoni, L. 254 Spencer, H. 236 Speransky, M. 225 Sproemberg, H. 207 Stael, G. de 60,98, 128,144 Stalin, W.I. 82,222,227, 240-242

StankeviC, N.V. 230 Stein, E. 58 Stein, H. 57 Steinbach, F. 215f. Steinecke, H. 13,111, 114f„ 119 Steiner, J. 332 Steinmetz, H. 35 Steinsdorff, S. von 111 Stendhal 54,112, 118, 135, 137, 152 Stichweh, R. 261,281 Stifter, A. 73 Stilz.G. 139 Stoianovich, T. 200 Stökl.G. 222,224,240 Stoltzenberg, D. 309 Stoob.H. 202 Straßmann, F. 310 Strauss, H.A. 310 Strich, F. 35, 170 Strindberg, A. 146 Strutz, J. 37,46,48 Study, E. 319 Stupperich, R. 227 Sue, Ε. 152 Sulzer, J.G. 182 Sumarokov, A. 93 Surowska, B.L. 74f. Sviedrys, R. 280 Sybel,H. von 173 Symons, A. 149 Syndram, K.U. 40,45, 48 Tacitus 30,237 Tarde, Α. de 23 Tarle, E.V. 239 TatiSöev, V.N. 229 Tessier, J. 125 Themistokles 187 Thierry, Α. 125-128, 132, 134f. Thiesse, L. 131 Thomas, A. 210 Thomson, G.P. 310 Thukydides 196 Thum, B. 48 Tibal, A. 189 Tiberius 237 Tichomirov, M.N. 228, 233 Tilby, M. 146 Timmerding, H.E. 324 Tjutöev, F. 84,87-89,91 Tobies, R. 325 Tocqueville, A.Ch. de 238 Toeplitz, O. 321 Tolstoj, L. 112, 138,144,158, 230 Tönnies, F. 166

358 Torke, H J . 224 Toubert, P. 202,205 Tourneux, Μ. 181 Trebitsch, M. 203 Treitschke, H. von 238 Trockij, L.D. 107 Troeltsch, E. 164 Trollope, A. 147 Tronskaja, M. 80 Trunz, E. 63, 163 Tschizewskij, D. 230 Turgenev, I.S. 84,92 Turner, R.S. 17,29,283 Tynjanov, J. 87,91 Uhland, L. 98 Ulbrich, C. 26 Ulbricht, O. 20 Unamuno, M. de 103-105 Unger.M. 207 Utechin, S.V. 230 Uvarov, S.S. 224 V.A.L. 186 Vajda, G. 38 Valdes, M.J. 48 Valincour 123 Vallentin, A. 104 van Geldern, S. 56 Varagnac, A. 218 Varga, L. 202,212f. Varnhagen von Ense, Κ.A. 59,63 Vasoli, C. 174 Veit-Brause, I. 202 Vejnberg, P. 85f. Veläzquez, D.R. 155 Vergil, P. 38,183 Vermeren, P. 23 Veysey, L.W. 289f. Vico.G. 233 Victor Amadeus II. 266 Vierhaus, R. 202,299, 309 Vigny, A. de 130,136 Vinogradov, P.G. 237 Virchow, R. 246f. Vivaldi, A. 10 Vizetelly, E. 145f., 148, 150 Vizetelly, H. 141-145 Vogel, W. 212 Vogüe, E.-M. de 30, 141, 157-159 Volgina, A.A. 53,95 Voltaire, F.M.A. de 101, 182, 312 Volterra, D. da 321 Vosmaer, C. 71 Voss, A. 328

Person en reg ister Voss, J. 289,291 Voss, J.H. 98 Voss, J. von 112 Voßkamp, W. VI, 4 0 , 4 8 Wachelder, J.C.M. 261 Wagner, R. 54 Waitz, G. 167, 169, 173 Walicki, A. 231 Wallace, S. 300,307,310 Walther, R. 333 Waquet, F. 261 Warburg, O. 309 Washington, G. 65 Weart.S. 276-280,282,286,291-294 Weber, C.M. von 109 Weber, F. 218 Webster, D. 275 Weierstrass, K.T.W. 317 Wein, F. 214 Weisbrod, Β. 26 Weisstein, U. 41,48 Weisz, G. 22, 279f„ 284f„ 291f., 294, 330 Weitz, H.-J. 35 Weizsäcker, R. von 54 Wentzcke, P. 219 Werner, K.F. 212 Werner, Μ. V, 3-5, 8, 22-25, 27-30, 72 White, H. 120 Whittier Heer, N. 239 Wicar, J.B. 191-193,197 Wieland, Ch.M. 35 Wienbarg, L. 118 Wierlacher, A. 48 Wiese, B. von 53f.,61,69, 118 Wilamowitz, U. von 301,307 Wilde, O. 144, 147 Wilhelm, G. 53 Wille, J.G. 180 Williams, R. 141 Wilson, D.B. 282 Wilson, Th.W. 102 Winau, R. 167 Winckelmann, J.J. 15, 164, 171, 175, 180-198 Windfuhr, M. 53 Windolf, P. 261 Winter, E. 226 Wittram, R. 222 Woesler, W. 42 Woolf, V. 308 Wopfner, H. 211 Wyka, K. 81

Personenregister Zabolockij, N.A. 85 Zach, W. 41 Zagari.L. 96f. Zantop, S. 12 Zasuliö, V. 231 Zcmack, K. 222 Zeromski, S. 80f. Ziegengeist, G. 36 Zima, P.V. 3 7 , 4 1 , 4 6 , 4 8 Zitelmann, R. 219 Zloczower, A. 293 Zola, E. 13f.,23f„ 138-160 Zolotarev, V.P. 239 Zukovskij, V. 91 Zweig, S. 120

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