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German Pages 308 [310] Year 2023
Zeitgeschichte transnational Politik – Gesellschaft – Kultur – Sport in Deutschland, Frankreich und Europa Herausgegeben von Philipp Didion, Sarah Alyssa May, Jasmin Nicklas
Geschichte
Schriftenreihe des Deutsch-Französischen Historikerkomitees
Franz Steiner Verlag
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Schriftenreihe des deutsch-französischen Historikerkomitees Herausgegeben im Auftrag des Vorstands des Deutsch-Französischen Komitees für die Erforschung der deutschen und französischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts von Emmanuel Droit und Anne Kwaschik Band 21
ZEITGESCHICHTE TRANSNATIONAL
Politik – Gesellschaft – Kultur – Sport in Deutschland, Frankreich und Europa Festschrift für Dietmar Hüser Herausgegeben von Philipp Didion, Sarah Alyssa May, Jasmin Nicklas
Franz Steiner Verlag
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Inhaltsverzeichnis
RAINER HUDEMANN
Geleitwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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PHILIPP DIDION / SARAH ALYSSA MAY / JASMIN NICKLAS
Einleitung – „Europa Endlos“?
Überlegungen zur transnationalen Zeitgeschichtsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 I. Politik & Gesellschaft GWENDOLIN LÜBBECKE
Das Museum als Quelle – der Palais de la Porte Dorée als lieu de mémoire
Vom Kolonialpalast zum Immigrationsmuseum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 MELANIE BARDIAN
„The Key to a United Europe“
Deutsch-französische Aussöhnung und amerikanische Kulturdiplomatie an der Saar (1945–1964) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 JÜRGEN DIERKES / KATRIN ANNINA GROSS
Ost und West im Kontrast
Die verschiedenen Ebenen in deutsch-französischen Städtepartnerschaften auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 SARAH ALYSSA MAY
(K)eine Stimme für Europa
Euroskeptische Einstellungen im Kontext der ersten Direktwahl zum Europäischen Parlament 1979 im deutsch-französischen Pressespiegel . . . . . . . . . . . . . . 99 ÉTIENNE DUBSLAFF
Die Sozialdemokratische Partei in der DDR (SDP / SPD)
Eine Partei im Spannungsverhältnis zwischen ‚friedlicher Revolution‘ in der DDR und Anpassung an die Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
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INHALT
II. Populärkultur JASMIN NICKLAS
Kult als historisch-kulturwissenschaftliches Analysekonzept
Ein Forschungsansatz zwischen gesellschaftlichem Wandel, kultureller Veränderung und fortwährender Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 LUKAS SCHAEFER
Europas Neue Wellen
Französische Einflüsse in der westdeutschen Filmkultur der 1950er- und 1960er-Jahre 157 MAUDE WILLIAMS
„Ein bisschen Goethe, ein bisschen Bonaparte“
Deutsch-französischer Transfer populärer Musik in den langen 1960er-Jahren . . . . . . . 175 ANN-KRISTIN KURBERG
Fernsehen im Dienst der Völkerverständigung
Europäische Koproduktionen in der Fernsehunterhaltung der 1960er-Jahre . . . . . . . . . 193 III. Sport BERND REICHELT
Zwischen Vaterland, Heimat und Internationalität
Der Fußballsport im saarländisch-lothringischen Grenzraum am Vorabend des Ersten Weltkrieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 DANIEL KAZMAIER
Transmission / Übersetzung
Wie den Radsport schreiben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 ANSBERT BAUMANN
Le Coq sportif – Edmond Haan
Wie ein schwäbischer Gockel zum französischen Fußballstar wurde . . . . . . . . . . . . . . . . 243 ALEXANDER FRIEDMAN
„In Luxemburg kann man nur verlieren, wenn es in der eigenen Mannschaft nicht stimmt.“
Fußballbeziehungen zwischen Luxemburg und den Ostblockstaaten im Kalten Krieg .267 PHILIPP DIDION
Sport denken – gestalten – praktizieren
Adolf Müller-Emmert und die westdeutsche Sportpolitik der 1960er- und 1970er-Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
Geleitwort
RAINER HUDEMANN
Dietmar Hüsers Mitarbeiter:innen und Doktorand:innen haben zu seinem 60. Geburtstag die diesem Buch zugrundeliegende Überraschungstagung konzipiert und gestaltet. Zu den Nachwuchswissenschaftler:innen gesellten sich während der Tagung Kolleginnen und Kollegen aus Universitäten in Deutschland, Frankreich und Luxemburg, mit denen er besonders eng und häufig zusammenarbeitet. Hélène Miard-Delacroix, Sorbonne Université, hielt den Festvortrag. Die Organisator:innen baten mich um ein Streiflicht aus der Perspektive unserer persönlichen Zusammenarbeit. Universität Heidelberg 1985. Nach meiner Vorlesung, die ich in Vertretung eines dortigen Professors halte, steht ein mir unbekannter Student vor mir: Er habe in seiner Heimatuniversität Bochum erfahren, ich hätte einen Ruf an die Universität des Saarlandes erhalten auf eine international orientierte Professur mit einem Frankreich- und Westeuropa-Schwerpunkt. Auf diesem Feld wolle er forschen. So begann eine lange Zusammenarbeit in vielfältigen Formen und Etappen. 1985 trafen Dietmar Hüser und ich in Saarbrücken auf eine in ihrem Alltag vielfältig international und interdisziplinär geprägte Universität: ideale Rahmenbedingungen, um neue Initiativen, Strukturen und Inhalte zu entwickeln. Für sie hat der heutige Jubilar sich sofort kreativ engagiert und traf auch in der Lehre auf großen Widerhall: als studentische Hilfskraft, bald als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Hochschulassistent und Hochschuldozent, bis ihn 2004 die Universität Kassel auf ihre Professur für Geschichte Westeuropas im 19. und 20. Jahrhundert berief. 2013 kehrte er nach Saarbrücken zurück auf den Lehrstuhl für Europäische Zeitgeschichte. Neue Akzente in seiner eigenen wissenschaftlichen Arbeit setzte er seit 1985 bald auch auf unseren gemeinsamen Interessengebieten. In meinen Arbeiten hatte sich erwiesen, dass die weithin als ‚Ausbeutungskolonie‘ qualifizierte französische Besatzungszone in Deutschland nach 1945 tatsächlich auch Ort einer vielfältigen Wiederaufbau- und Rekonstruktionspolitik war. Diese legte seit Juli 1945 – auch auf Befehl
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Rainer Hudemann
von Regierungschef de Gaulle – erste Grundlagen für eine facettenreiche Entwicklung, welche im Élysée-Vertrag 1962 eine markante Etappe erreichen sollte. Für das Nachkriegselend machte und macht man aber weithin Frankreich verantwortlich – tatsächlich wurde es wesentlich durch die dilettantische nationalsozialistische Wirtschafts- und Finanzpolitik verursacht, die jetzt kollabierte. Hier wurde die frühe Innovationskraft von Dietmar Hüser besonders deutlich: Er setzte in seiner Dissertation auf der französischen Regierungsebene an mit einem eigenständigen, methodisch und inhaltlich weit über die Diplomatie-Geschichte hinausführenden Zugang. Innen- und außenpolitische Faktoren, mentalitätsgeschicht liche Quellen bis zu den Präfekten-Berichten über die Stimmung in der Bevölkerung, finanz-, politik- und wirtschaftsgeschichtliche Zwänge und die vielen Schichten der weltweiten Vernetzungen gehören zu den von ihm hier umfassend analysierten Rahmenbedingungen und Komponenten der Einflüsse, Konzepte und Realisierungschancen dieser Politik. Sie führten maßgeblich weiter in der Erklärung der Fehlperzeptionen. Denn die öffentliche Regierungsrhetorik blieb gegenüber Deutschland zwar nicht durchgehend, aber vielfach hart. Doch beruhte sie auf zwei Komponenten: Erstens war es ausgeschlossen, der französischen Bevölkerung nach den Jahren des Krieges und der nationalsozialistischen Terrorherrschaft öffentlich eine Versöhnung und Kooperation mit einem neuen Deutschland zuzumuten. Zweitens stellte man gegenüber den anderen Alliierten Maximalforderungen, um angestrebte Ergebnisse als Kompromissangebote darstellen und damit durchsetzen zu können. Daraus folgte bald nach Kriegsende eine „doppelte Deutschlandpolitik“ sowohl nach innen wie nach außen: eine auf Kerngebieten konstruktive Politik, welche öffentlich und international aber noch nicht als solche kommuniziert werden konnte. Doch diese Rhetorik nahmen – und nehmen – manche Zeitgenoss:innen und Forscher:innen irrtümlich für bare Münze. Die Forschung zur französischen Außenpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg hat Hüser mit diesem Markstein dauerhaft mitgeprägt. Sein erstes Buch bleibt inhaltlich und methodisch auch nach bald drei Jahrzehnten aktuell. Die bisweilen hohe Komplexität deutsch-französischer Kooperation lernte Dietmar Hüser in den frühen Jahren zugleich aus nächster Nähe in der Praxis kennen: während der Gründungszeit des Deutsch-Französischen Historikerkomitees, das Raymond Poidevin von Strasbourg aus mit Kolleg:innen vor allem in Paris, Augsburg, Hamburg und Saarbrücken seit 1986/87 aufbaute. Jahrzehntelang blieb dieses Komitee die einzige auch juristisch integrierte deutsch-französische Organisation von Fachwissenschaftler:innen. Denn die Gegensätze in den wissenschaftspolitischen und wissenschaftlichen Kulturen beider Länder erwiesen sich als überraschend tiefgreifend. Letztlich gelang dem Komitee ihre konstruktive und strukturbildende Überwindung – in seiner Publikationsreihe erscheint auch dieses Buch. Auch insofern bot Saarbrücken damals viel nützlichen Lernstoff. Dietmar Hüser war 2004 bis 2012 Vorstandsmitglied und 2008 bis 2010 Vorsitzender des Komitees.
Geleitwort
Seine wissenschaftliche Innovationskraft bewies Hüser im Anschluss an seine Dissertation erneut. Und das in einer Form, aus der sich die Dynamik seines weiteren Wirkens unmittelbar ergab. Der Rap, damals – und oft bis heute – in der Regel irrtümlich perzipiert als gewaltbereite Subkultur des Protestes gegen Gesellschaft und politisches System, wurde seinerzeit vorwiegend von Sozialwissenschaftler:innen untersucht, wobei auch dort die Forschung noch in ihren Anfängen stand. Hüser wies dagegen auf der Grundlage eines erneut vielschichtigen Quellenmaterials und in einem wieder weltweiten methodischen Zugriff am französischen Beispiel nach, dass sowohl Inhalte als auch politische und gesellschaftliche Funktionen des Rap nur durch seine Einordnung in die langfristige politische und gesellschaftliche Entwicklung seit der Französischen Revolution adäquat verortet werden können: Ganz im Gegensatz zu dem in der Öffentlichkeit verbreiteten Bild greift der Rap, bei aller Spannbreite seiner Ausdrucksformen, insgesamt alte republikanische Werte, Zielsetzungen und Verhaltensweisen auf. Der Vergleich mit dem Rap in den USA, der Schweiz, Algerien, Québec und Deutschland bestätigte die Ergiebigkeit dieses wissenschaftlichen Zugangs weit über Frankreich hinaus. Renommierte Positionen wie der Alfred Grosser-Gastlehrstuhl an Sciences Po Paris und weitere internationale Lehrtätigkeiten beispielsweise in Strasbourg oder Nancy zeugten schon früh von Hüsers Anerkennung auf internationaler Ebene. Nach seiner Berufung nach Kassel 2004 setzte er diese Initiativen verstärkt fort und baute zahlreiche internationale Kooperationsprogramme auf. 2013 ‚zurück‘ in Saarbrücken wurde auch eine große Spannbreite deutsch-französischer und französischer Publikationsreihen, Fördergremien und weiterer Institutionen zu Feldern, auf denen er als Gutachter oder Gremienmitglied seine große Erfahrung einbringt und wiederum neue Impulse gibt. Seine breiten Forschungsansätze hat Dietmar Hüser seitdem inhaltlich und methodisch in viele Richtungen wissenschaftlich weiter ausgestaltet. Dazu gehören die internationalen Beziehungen ebenso wie Migrationsbewegungen unterschiedlichsten Charakters und ein seit langem verfolgter Spanien-Schwerpunkt. Besonders tiefgreifend entwickelte und entwickelt er die beiden großen und besonders innovativen Felder der Populärkultur und des Sports weiter. Diese hatten in den Geschichtswissenschaften der Bundesrepublik lange Zeit wenig Interesse gefunden. Das änderte Hüser nun. Die Themen reichen von Musik, Film und Fernsehen bis zu Frauenfußball oder Fußballstadien. Das vorliegende Werk zeigt exemplarisch die Breite und die Attraktivität der Erforschung dieser neuen Themenfelder, auf denen sich Gesellschaft, Politik, Kultur, Wirtschaft, Kunst, Alltag, Gesundheit mit unterschiedlichsten weiteren Gebieten vernetzen. Hüser initiiert und prägt auch auf diesem Feld internationale Graduiertenkollegs und Forschungsgruppen ebenso maßgeblich mit wie große Forschungsprojekte, welche zugleich dem Nachwuchs Berufschancen eröffnen. Hoch renommierte Institutionen unterschiedlichen Profils fördern sie. Bisher über zwölf Dutzend seiner eigenen wissenschaftlichen Aufsätze und Miszellen vertiefen oder synthetisieren Hüsers große Interessengebiete und eröffnen weitere neue Perspektiven. Über ein Dutzend Herausgeberschaften, stets in Kooperationen, zeugen
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Rainer Hudemann
auf diesen und weiteren Ebenen von dem internationalen Wirkungspotenzial seiner Engagements. Er nimmt ebenso die Verpflichtung besonders ernst, der Wissenschaft und der Öffentlichkeit Einblicke in die wissenschaftliche Arbeit zu geben, so etwa in zahlreichen Rundfunk- und Fernsehsendungen. Dieses Buch ist Zeugnis und Ergebnis der zentralen Stellung, welche in Dietmar Hüsers Wirken die Förderung von eigenständigen Nachwuchswissenschaftler:innen einnimmt. Im Gespräch mit ihnen fallen nebenbei Stichworte wie: „flache Hierarchien“, „stets ein offenes Ohr“, „viel von ihm und mit ihm lernen“, „Vorbild, an dem man sich so manches abschauen kann“, „sehr nahbarer Betreuer und Vorgesetzter ohne Standesdünkel“. Hüser legt in den von ihm (mit-)organisierten internationalen Tagungen Wert darauf, Nachwuchswissenschaftler:innen stets eigene Präsentations- und damit Trainingschancen zu eröffnen. Wie effizient eine solche Ausstrahlung wirken kann, beweist exemplarisch dieses von ihnen völlig eigenständig initiierte und gestaltete Buch ebenso wie die große Zahl der abgeschlossenen oder laufenden Dissertationen – zu erheblichem Anteil in internationaler Cotutelle-Betreuung.
Paris und Saarbrücken, im Januar 2023
Einleitung – „Europa Endlos“? Überlegungen zur transnationalen Zeitgeschichtsforschung
PHILIPP DIDION / SARAH ALYSSA MAY / JASMIN NICKLAS
Im Februar 2022 kamen anlässlich des 60. Geburtstags von Dietmar Hüser aktuelle wie ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Lehrstuhls für Europäische Zeitgeschichte der Universität des Saarlandes sowie Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler aus dessen näheren Forschungsumfeld zusammen. Sie präsentierten ihre Projekte, die zum Großteil an von Dietmar Hüser betreute Abschluss- und Qualifikationsarbeiten anknüpften. Die in dieser Festschrift zusammengestellten Beiträge stehen daher exemplarisch für die Forschungsinteressen von Dietmar Hüser. Der einleitende Text der Festschrift soll Perspektiven einer transnationalen Zeitgeschichte aufzeigen, die auch das wissenschaftliche Profil von Dietmar Hüser kennzeichnen, und die Beiträge dieses Bandes damit thematisch einordnen. Dabei folgen die Ausführungen bewährten Pfaden der zeithistorischen Forschung. 1.
Einblicke in die Zeitgeschichte
1.1.
Begriffliches & Periodisierungen
Seit Hans Rothfels die Zeitgeschichte in der ersten Ausgabe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte als „Epoche der Mitlebenden und ihre wissenschaftliche Behandlung“1 definiert und der Begriff sich seit Anfang der 1950er-Jahre sukzessive in der Bundesrepublik etabliert hat, ist einige Zeit vergangen.2 Nichtsdestotrotz ist das Rothfels’sche 1 Rothfels: Zeitgeschichte als Aufgabe (1953), S. 2. 2 Als Einführungen in die Zeitgeschichte vgl. zum
Beispiel Bösch / Danyel (Hg.): Zeitgeschichte (2012); Goschler / Graf: Europäische Zeitgeschichte (2010); Metzler: Einführung in das Studium der Zeitgeschichte (2004); dies.: Zeitgeschichte (07.04.2014); Sabrow: Zeitgeschichte schreiben (2014).
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Philipp Didion / Sarah Alyssa May / Jasmin Nicklas
Verständnis von Zeitgeschichte sowohl als Bezeichnung einer historischen, wissenschaftlich aufzuarbeitenden Epoche als auch als Erlebens- wie Erfahrungsraum der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen noch immer grundlegend. Auch wenn die Traditionen der Zeitgeschichte länger zurückreichen,3 erlangte sie als universitäre Subdisziplin erst nach 1945 akademische Würde. So begann 1947 eine erste Phase der Institutionalisierung des Faches mit der Gründung des Deutschen Instituts für die Geschichte der nationalsozialistischen Zeit in München, das 1952 den heutigen Namen Institut für Zeitgeschichte erhielt. In einer zweiten Phase kam es dann zur Etablierung zeitgeschichtlicher Lehrstühle und Forschungseinrichtungen. 1962 erschien schließlich die erste Überblicksdarstellung zur Einführung in die Zeitgeschichte.4 Verstärkt seit 1989 haben Historiker Periodisierungsversuche vorgenommen: In Erweiterung der von Karl-Dietrich Bracher vorgeschlagenen „doppelten Zeitgeschichte“5, die zwischen der Erforschung der Weimarer Republik und der NS-Zeit einerseits und der Geschichte Westdeutschlands seit 1945 andererseits unterscheidet, hat Hans Günter Hockerts Überlegungen zu einer „dreifachen Zeitgeschichte“6 angestellt. Hockerts differenziert zwischen den Weimarer Jahren, der NS-Diktatur und der Geschichte der Bundesrepublik bzw. der DDR und bezieht letztere – im Gegensatz zu Bracher – somit explizit ein. In eine ähnliche Richtung weist die Einteilung von HansPeter Schwarz. Dieser gliedert die Epoche in eine „ältere Zeitgeschichte“ (1918–1945), eine „jüngere Zeitgeschichte“ (1945–1989) und die „neueste Zeitgeschichte“ (seit 1989).7 Schließlich ist in diesem Zusammenhang noch das Plädoyer von Christoph Kleßmann zu nennen, die deutsch-deutsche Nachkriegsgeschichte als „asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte“8 zu erforschen. Die Zeitgeschichte ist allerdings nicht nur Epochenbegriff, wissenschaftliche Subdisziplin und Erkenntnisverfahren, sondern lässt sich auch als Auftrag verstehen: als „eine Forschungsaufgabe […], eine staatsbürgerliche Erziehungsaufgabe und eine politische Aufgabe“9. Sie steht insbesondere für die notwendige kritische Selbstinspektion nach dem Zivilisationsbruch der NS-Zeit. Im Spannungsfeld von Primärerfahrung – also der selbst erlebten Vergangenheit –, Erinnerungskultur und Geschichtswissenschaft verbindet Zeitgeschichte Vergangenheitsdeutung mit Gegenwartsorientierung und Zukunftsfähigkeit.10 Die Zeitgeschichtsforschung sieht sich aber auch mit einigen Herausforderungen konfrontiert: Da wäre zum einen die geringe Distanz zu den historischen Ereignissen, die eine ständige Reflexion der eigenen Standortgebundenheit noch unabdingbarer 3 Vgl. dazu Beer: Hans Rothfels (2005). 4 Vgl. Scheurig: Einführung in die Zeitgeschichte (1962). 5 Bracher: Doppelte Zeitgeschichte (1981), S. 57. 6 Hockerts: Zeitgeschichte in Deutschland (1993), S. 127. 7 Vgl. Schwarz: Die neueste Zeitgeschichte (2003). 8 Kleßmann: Konturen einer integrierten Nachkriegsgeschichte (2005), S. 10. 9 Beer: Hans Rothfels (2005), S. 184. 10 Vgl. Hockerts: Zugänge zur Zeitgeschichte (2002).
Einleitung – „Europa Endlos“?
macht. Damit ist zum zweiten die Bedeutsamkeit archivgesetzlicher Sperrfristen verbunden, die unter Umständen zu sehr zum Taktgeber zeithistorischer Forschung werden können – sowohl was die Themen- als auch die Quellenauswahl betrifft. Zum dritten steht die Zeitgeschichte stärker im Zentrum geschichts- wie identitätspolitischer Debatten, in denen sie – trotz der Deutungskonkurrenz durch die Medien – eine wichtige (De-)Legitimationsfunktion hat. Darüber hinaus sehen sich zeithistorisch Forschende viertens mit der Hausforderung einer regelrechten ‚Quellenflut‘ konfrontiert, die es gerade im Hinblick auf das digitale Zeitalter stärker einzugrenzen gilt. Schließlich muss fünftens zwischen länderspezifischen ‚Zeitgeschichtskulturen‘ unterschieden werden.11 An französischen Universitäten beispielsweise dominiert bis heute der Begriff der histoire contemporaine, der die Zeit von der Französischen Revolution 1789 bis in die jüngste Vergangenheit umfasst und auch aktuell noch bei der Benennung von entsprechenden Lehrstühlen geläufiger ist.12 Erst in den 1970er-Jahren bildete sich mit der histoire du temps présent eine Bezeichnung heraus, die sich explizit auf die Erforschung des Zweiten Weltkriegs, des Vichy-Regimes und der Zeit nach 1945 bezieht und die mit dem westdeutschen Begriff der Zeitgeschichte weitestgehend übereinstimmt. Dies schlug sich zudem in der Gründung des Institut d’histoire du temps présent im Jahr 1978 nieder, das an die Stelle des Comité d’histoire de la D euxième Guerre mondiale trat. 1.2.
Dimensionen einer europäischen, transnationalen Zeitgeschichte
Lange Zeit drehte sich zeithistorische Forschung in erster Linie um ereignisgeschichtliche Fragestellungen politik- und wirtschaftsgeschichtlicher Art.13 Erst in den 1970erJahren öffnete sich die Disziplin für sozial- und strukturhistorische Ansätze, bis sich im Zuge der cultural turns seit den 1980er- und 1990er-Jahren schließlich der Wandel hin zur modernen Kulturgeschichte vollzog.14 Eingerahmt von innerfachlichen wie politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen begannen Historiker:innen vermehrt, auch länderübergreifend nach soziokulturellen Transfers sowie Amerikanisierungs-, Westernisierungs- und Europäisierungseffekten zu fragen. Die zeithistorische Forschung, die lange von nationalen Paradigmen geleitet war, verstand sich nunmehr als dezidiert grenzüberschreitende Fachdisziplin, die weniger auf nationale Reflexe setzte,
11 Vgl. Gehler: Zeitgeschichte (2002); Nützenadel / Schieder (Hg.): Zeitgeschichte als Problem (2004). 12 Vgl. Hudemann: Histoire du Temps présent in Frankreich (2004); Martens: Frankreich zwischen „His-
toire contemporaine“ und „Histoire du temps présent“ (2007). 13 Einen detaillierten Überblick zu den zentralen Entwicklungslinien bietet Doering-Manteuffel: Deutsche Zeitgeschichte (1993). 14 Vgl. Raphael: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme (2010), S. 228–246; Bachmann-Medick: Cultural Turns (17.06.2019).
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Philipp Didion / Sarah Alyssa May / Jasmin Nicklas
sondern sich für wechselseitige Wahrnehmungs- wie Austauschprozesse interessierte und nicht zuletzt die Entmythologisierung nationaler Geschichtsbilder anvisierte. Konzepte von Transnationalität sind in der historischen Forschung also keineswegs neu. Doch gewannen sie mit den Globalisierungsschüben15 seit den 1980er-Jahren und speziell seit dem Ende des Kalten Krieges sowie dem Aufkommen neuer Ansätze – allen voran der Globalgeschichte und der postcolonial studies – zunehmend an Bedeutung.16 Zeithistorische Forschung spielte sich von da an verstärkt jenseits der etablierten nationalen Rahmungen ab und wurde als internationale, als europäische, als transnationale, als integrative Geschichte Gegenstand methodologischer Ausdifferenzierungen. Inzwischen haben Historiker:innen zahlreiche Definitionsangebote vorgelegt. Unter anderem liest sich transnationale Forschung bisweilen als Geschichte „über Grenzen hinweg in allen ihren Dimensionen“17 oder – auf eine Minimalformel gebracht – als „set of links and flows“ und meint damit „people, ideas, products, processes and patterns that operate over, across, through, beyond, above, under, or in- between polities and societies“18. Bei aller begrifflichen Variabilität definiert sich der Ansatz jedoch im Kern „primär über das jeweilige wissenschaftliche erkenntnisleitende Interesse“19. In den frühen 1990er-Jahren etablierte sich ‚Europa‘ als Bezugsgröße transnationaler Studien. Europäische Zeitgeschichte bedeutete dabei stets mehr als die reine „Addition von Geschichten, die in Europa spielen“20 und versprach so komplexere Erklärungsmuster zu grenzüberschreitenden Transfer- und Austauschprozessen jenseits nationaler Einzelfallbetrachtungen und über eurozentrische Denkmuster hinaus.21 Seit jeher stand und steht die transnationale, europäische Zeitgeschichtsforschung vor der Herausforderung, dass Europa je nach Perspektive verschiedene räumliche und konzeptuelle Grenzen hat und mitunter ganz Verschiedenes meint. Allen Bestimmungsversuchen zum Trotz ist Europa kein fixer Begriff, sondern bleibt eine wandelbare Raumkonstruktion, die in den vergangenen Jahren zahlreiche Bedeutungsveränderungen und -erweiterungen erfahren hat. Jenseits von erdachten geografischen Trennlinien
15 Für den deutsch-französischen Fall vgl. Hüser / Eck (Hg.): Deutschland und Frankreich in der Globali-
sierung (2012). 16 Vgl. Gassert: Transnationale Geschichte (29.10.2012); Metzler: Zeitgeschichte (07.04.2014); Pernau: Transnationale Geschichte (2011). Siehe auch Conrad: Globalgeschichte (2013); Lindner: Neuere Kolonialgeschichte und Postcolonial Studies (15.04.2011). 17 Kaiser: Transnationale Weltgeschichte (2004), S. 65. 18 Iriye / Saunier: The Professor and the Madman (2009), S. XVIII. 19 Patel: Transnationale Geschichte (03.12.2010). Dass sich der Ansatz für verschiedenste Untersuchungsfragen nutzbar machen lässt, zeigt beispielsweise der Sammelband Gallus / Schildt / Siegfried (Hg.): Deutsche Zeitgeschichte – transnational (2015). 20 Goschler / Graf: Europäische Zeitgeschichte (2010), S. 222. 21 Auf diese Problematik und andere Herausforderungen einer europäischen Zeitgeschichte wurde in der Forschung immer wieder hingewiesen, vgl. beispielsweise Greiner: Die Pluralisierung eines imaginierten Raums (2016); Nützenadel / Schieder (Hg.): Zeitgeschichte als Problem (2004).
Einleitung – „Europa Endlos“?
und politischen Grenzverläufen der Europäischen Union interessieren sich Forschende hier also für Gemeinsames und Unterschiedliches, Verbindendes und Trennendes, Austausch und Ablehnung. Dabei greift die europäische, transnationale Zeitgeschichte auf bewährte Methoden zurück, darunter beziehungsgeschichtliche Ansätze wie den historischen Vergleich22 oder den interkulturellen Transfer23 sowie verflechtungsgeschichtliche Konzepte wie die histoire croisée24 und den Kultur-Transfer-Vergleich25. Dietmar Hüser, dem diese Festschrift gewidmet ist, hat sich bei der Ausrichtung seines Saarbrücker Lehrstuhls, den er seit dem Wintersemester 2013/14 innehat, einer konsequent transnationalen Erforschung der Zeitgeschichte verschrieben. Mit Ländern wie Frankreich, der Bundesrepublik und Spanien, aber auch Luxemburg, Belgien und Italien liegt der geografische Fokus des Lehrstuhls ausdrücklich auf Westeuropa als Subsystem. Neben Europäischem geht es jedoch stets auch um globale Verflechtungen und transatlantische Bezüge. Die Forschungsschwerpunkte des Jubilars kreisen primär um drei große Themenfelder, die bildlich gesprochen den drei Säulen dieses Bandes entsprechen: Politik & Gesellschaft, Populärkultur sowie Sport und speziell Fußball. Konkret lassen sich darunter beispielsweise die Untersuchung politischer Kulturen und parteipolitischer Strukturen, der internationalen Politik und der europäischen Integration fassen. Darüber hinaus stehen die Themen Geschichtspolitik und Erinnerungskultur, aber auch das wechselseitige Rezipieren, Aneignen und Zirkulieren von (Populär-)Kulturellem aller Art – vor allem mit Blick auf die langen 1960er-Jahre – im Fokus.
22 Vgl. Kaelble: Der historische Vergleich (1999); ders. / Schriewer (Hg.): Vergleich und Transfer (2003). 23 Vgl. Espagne: Les transferts culturels franco-allemands (1999); siehe auch Paulmann: Internationaler
Vergleich und interkultureller Transfer (1998). 24 Vgl. Werner / Zimmermann: Vergleich, Transfer, Verflechtung (2002). 25 Vgl. Hüser: Kultur-Transfer-Vergleich (2005).
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Philipp Didion / Sarah Alyssa May / Jasmin Nicklas
2.
Themenfelder & Beiträge
Auf die Minimalformel ‚Zeitgeschichte transnational‘ gebracht soll es im Folgenden nun darum gehen, einige Schlaglichter auf die genannten Themenfelder zu werfen und die Beiträge des Bandes innerhalb dieser Felder kurz und prägnant zu verorten.26 2.1.
Politik und Gesellschaft – von der Ambivalenz der deutsch-französischen Beziehungen
Als die Zeitgeschichte noch in den Kinderschuhen steckte, behandelten Historiker:innen, die sich für die neue Epoche begeisterten, nahezu ausschließlich politische Themenfelder. Dies gilt umso mehr für die westdeutsche Zeitgeschichte, die sich neben der Auseinandersetzung mit der Weimarer Republik insbesondere die Aufarbeitung des Nationalsozialismus zum Ziel gesetzt hatte. Daher überrascht es nicht, dass das ursprüngliche Interesse zunächst auf den nationalen Raum begrenzt blieb. Inzwischen wird Politik- und Sozialgeschichte jedoch transnational perspektiviert und stets unter dem Paradigma kulturwissenschaftlicher Fragestellungen behandelt. Die deutschfranzösischen Beziehungen – samt ihren Ambivalenzen – sind dabei ein Kernthema der transnationalen, europäischen Zeitgeschichte. Neben den großen politischen, sozialen bzw. ökonomischen Fragestellungen fallen hierunter auch Amerikanisierungs-, Westernisierungs-, Europäisierungs- und Globalisierungsprozesse.27 In der klassischen Diplomatie- bzw. Politikgeschichte bewegt sich Dietmar Hüsers wegweisende Dissertation zur doppelten Deutschlandpolitik.28 Dabei gelang es ihm nachzuweisen, dass Frankreich gegenüber den Alliierten Maximalforderungen stellte, um in der Deutschlandpolitik zumindest realistische Ziele im eigenen Interesse durchsetzen zu können. Diese Strategie nutzten die verschiedenen Regierungen der IV. Republik ab 1944/45 und trugen dennoch zur Integration der westlichen Besatzungszonen in ein europäisches Bündnissystem bei.29 Neben dieser nationalstaatlichen Ebene interessiert sich Hüser ebenso stark für eine regionalhistorische Perspektive, die vorrangig das heutige Saarland und dessen wechselhafte Geschichte zwischen Frankreich
26 Dabei
werden die drei Themenfelder jeweils unter Einbezug vornehmlich deutsch- und französischsprachiger Literatur und unter besonderer Berücksichtigung der Beiträge von Dietmar Hüser skizziert. 27 Vgl. Hüser: Im Westen viel Populäres (2020); ders.: Kultur-Transfer-Vergleich (2005). 28 Vgl. ders.: Frankreichs „doppelte Deutschlandpolitik“ (1996). 29 Zur Entwicklung der deutsch-französischen Beziehungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit vgl. Miard-Delacroix / Wirsching: Von Erbfeinden zu guten Nachbarn (2019); Miard-Delacroix: Im Zeichen der europäischen Einigung (2011); dies. / Großmann (Hg.): Deutschland, Frankreich und die USA (2018); Miard-Delacroix / Marcowitz (Hg.): 50 ans de relations franco-allemandes (2013); Defrance / Pfeil: Entre guerre froide et intégration européenne (2012); Lappenküper: Die deutsch-französischen Beziehungen (2001).
Einleitung – „Europa Endlos“?
und Deutschland als Untersuchungsraum in den Fokus rückt.30 In diesem Band greift MELANIE BARDIAN diesen Forschungsfaden der deutsch-französischen Beziehungen einerseits aus einem regionalen und andererseits aus einem internationalen Blickwinkel auf, indem sie die deutsch-französische Aussöhnung am Beispiel des Saarlandes analysiert und sich dabei speziell auf die aktive Rolle der US-amerikanischen Kulturdiplomatie konzentriert. Die Kulturwissenschaftlerin kommt zum Schluss, dass die Vereinigten Staaten bei ihrer Diplomatie- und Kulturarbeit die deutsch-französische Annäherung als wichtigste Prämisse stets mitdachten. Ebenfalls im Zeichen der Annäherung – allerdings weniger auf politischer als vielmehr auf zivilgesellschaftlicher Ebene – steht der Beitrag von JÜRGEN DIERKES und KATRIN ANNINA GROSS, die sich mit deutsch-französischen Städtepartnerschaften dies- und jenseits des Eisernen Vorhangs auseinandersetzen.31 Dierkes und Groß gelangen in ihrer gesellschaftshistorischen Studie zum Ergebnis, dass ostdeutsch-französische Städtepartnerschaften aufgrund der Durchdringung außenpolitischer Zielsetzungen des SED-Regimes – allen voran die diplomatische Anerkennung durch westliche Staaten – viel stärker von tagespolitischen Ereignissen abhängig waren als die westdeutschen Verbindungen. Aber auch die bundesdeutsch-französischen Städtepartnerschaften bewerten sie als immanent politisch – jedoch vor einem völlig anderen Hintergrund: Die Verbindungen zwischen den Städten sollten im Sinne des Kulturkontakts genutzt werden, um ein konkretes wie nachhaltiges Zusammenrücken der Menschen zu erzielen. Die deutsche Teilung sorgte nicht nur auf zivilgesellschaftlicher Ebene im Kontext des (west-)europäischen Einigungsprozesses immer wieder für Missstimmungen zwischen Frankreich und der Bundesrepublik. Besonders Willy Brandts Neue Ostpolitik löste auf französischer Seite Irritationen aus: Einerseits war die Befürchtung groß, die politische Vormachtstellung innerhalb der EWG einzubüßen, nachdem die Bundesrepublik die Grande Nation bereits frühzeitig als führende Wirtschaftsmacht abgelöst hatte. Andererseits trieben Pompidou, seine Regierung sowie die französische Presselandschaft die Sorge vor einem engen Schulterschluss zwischen Bundesrepublik und UDSSR zum Nachteil Frankreichs um. Die Angst vor einem zweiten Rapallo war allgegenwärtig.32 Als ähnlich herausfordernd für die deutsch-französischen Beziehungen entpuppte sich die deutsche Wiedervereinigung 1989/90, da der Quai d’Orsay und François
30 Vgl. zum Beispiel Hüser: Die Saar-Politik (2017); ders.: Saarland – eine europäische Geschichte? (2015). 31 Anhand der Städtepartnerschaften lassen sich zivilgesellschaftliche Entwicklungen abseits der ‚großen
Politik‘ besonders gut ablesen, vgl. beispielhaft Defrance / Herrmann / Nordblom (Hg.): Städtepartnerschaften in Europa im 20. Jahrhundert (2020); Defrance / Pfeil: Verständigung und Versöhnung (2016). 32 Vgl. Miard-Delacroix: Im Zeichen der europäischen Einigung (2011), S. 43; Petter: Auf dem Weg zur Normalität (2014), S. 101; Wilkens: Der unstete Nachbar (1990), S. 41.
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Mitterrand das westeuropäische Kräftegleichgewicht in Gefahr sahen.33 Vor dem Hintergrund dieser abermaligen Hürde im Freundschaftsverhältnis zwischen der Bundesrepublik und Frankreich widmet sich ÉTIENNE DUBSLAFF in diesem Band in einer deutsch-deutschen Perspektive der Frage des Zusammenschlusses der Sozialdemokratischen Partei der DDR (SDP) mit der SPD. Dubslaff, der 2015 zu diesem Themenkomplex bei Dietmar Hüser und Hélène Miard-Delacroix promovierte,34 führt aus, dass die ostdeutsche SDP bei der Zusammenführung mit der westdeutschen SPD von letzterer übervorteilt wurde. Mit Hilfe eines juristischen Winkelzuges verhinderten die Granden der West-SPD eine Fusion, die eine Neuwahl von Vorstand und Präsidium erforderlich gemacht hätte, indem sie behaupteten, es handle sich bei dem Zusammenschluss lediglich um die Wiederherstellung des ursprünglichen Parteizustandes. Das daraus entstandene Ungleichgewicht führte dazu – so die zentrale These Dubslaffs –, dass in den sogenannten neuen Bundesländern die SPD erhebliche Schwierigkeiten hatte und weiterhin hat, sich als Volkspartei zu etablieren. Ein weiteres zentrales Themenfeld in der europäisch orientierten Zeitgeschichte sind die Integrationsprozesse auf politischer, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher wie kultureller Ebene.35 Im Sinne dieses Schwerpunktes widmete Dietmar Hüser der deutschen, französischen und europäischen Zivilgesellschaft als Herausgeber des Frankreich-Jahrbuchs des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg einen eigenen Band.36 Abseits der gesamteuropäischen Darstellungen sind stets zwei oder drei Länderstudien von großer Bedeutung – beispielsweise mit Blick auf spanische Flüchtlinge, die aus der Franco-Diktatur nach Frankreich flohen.37 In den Fokus der historischen Auseinandersetzungen rücken besonders häufig die verschiedenen Parteien- und Wahlsysteme der heutigen EU-Mitgliedsstaaten.38 Von herausragender Bedeutung sind dabei insbesondere die Wahlen für das Europäische Parlament, mit denen sich SARAH ALYSSA MAY in diesem Band aus einer französisch-deutschen Perspektive auseinandersetzt. Sie fragt danach, inwiefern sich euroskeptische Positionen in der westdeutschen respektive der französischen Presseberichterstattung im Zuge der ersten Direktwahl zum Europaparlament im Jahr 1979 nachweisen lassen. May stellt 33 Vgl.
Wenkel: Frankreich und die deutsche Einheit (2015); Miard-Delacroix: François Mitterrand, la France et l’unification allemande (2011); Hudemann: Von alten Stereotypen zum neuen Europa (2009); Bozo: La France face à l’unification allemande (2004); Brand-Crémieux: Les Français face à la réunification allemande (2004). 34 Vgl. Dubslaff: „Oser plus de social-démocratie“ (2019). 35 Der europäische Integrationsprozess ist mittlerweile besonders gut untersucht; die Breite der Literatur hier wiederzugeben ist daher nicht möglich. Vgl. beispielhaft Thiemeyer: Geschichte der europäischen Integration (2023); Loth: Europas Einigung (2020); Defrance / Pfeil: Eine europäische Nachkriegsgeschichte (2011); Hudemann / Kaelble / Schwabe (Hg.): Europa im Blick der Historiker (2015). 36 Vgl. Hüser u. a. (Hg.): Zivilgesellschaft in Frankreich, Deutschland und Europa (2015). 37 Vgl. ders.: Auf der Flucht vor Diktatur und Armut (2020). 38 Vgl. ders. u. a. (Hg.): Sprache und Politik im Wahlkampf (2017); ders.: Französische Parteien zwischen dem 19. und 21. Jahrhundert (2000).
Einleitung – „Europa Endlos“?
bei ihrer Analyse fest, dass sich deutliche Asymmetrien zwischen der medialen Aufbereitung in der Bundesrepublik und Frankreich ergaben. Während auf französischer Seite Spielarten eines weichen Euroskeptizismus zu erkennen sind, die sich durch alle Parteien zogen, nahmen die bundesdeutschen Parteien mehrheitlich einen proeuropäischen Standpunkt ein. Abgesehen von der Ebene der primären politischen Ereignisse spielt in der Zeitgeschichte die Erinnerung als Geschichte zweiten Grades eine herausragende Rolle. Dies gilt nicht nur für die deutsch-französischen Beziehungen, wie jüngst Rainer Hudemann in einem Beitrag für das Jahrbuch des Saarbrücker Frankreichzentrums hervorhob,39 sondern ebenso für politische Ereignisse und Phänomene wie den Algerienkrieg, die stärker national-kolonial zu verorten sind.40 In unmittelbarem Zusammenhang zum Algerienkrieg stehen die erinnerungshistorischen Debatten um Migrationsbewegungen in Frankreich: zum einen im Kontext der Fluchtbewegung der pieds noirs und harkis;41 zum anderen aber weil im Zuge dieser Aufarbeitung in der europäischen, insbesondere aber in der französischen Historiografie die Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit und der durch sie ausgelösten – und zum Teil in Form von Sklavenhandel erzwungenen – Migrationsströme begann. Daran anknüpfend untersucht GWENDOLIN LÜBBECKE das Musée de la Porte Dorée als lieu de mémoire und stellt die Frage, inwiefern ein Museum – das zuvor als Kolonialpalast erbaut und mittlerweile vom französischen Staat zum Immigrationsmuseum umgewidmet wurde – als (kunst-)historische Quelle dienen kann. Lübbecke, die 2018 bei Dietmar Hüser zu diesem Thema promovierte,42 resümiert, dass sich die materielle Beschaffenheit des lieu de mémoire in seiner weiterhin erhaltenen und unveränderten Architektur widerspiegelt, die zahlreiche koloniale Reminiszenzen und Kontinuitäten enthält. Der immaterielle Teil wiederum zeigt sich durch die im Kolonialpalast untergebrachte Dauerausstellung zur Immigration. Lübbecke hebt hervor, dass im Palais zwischen 1931 und 2017 unentwegt Museen untergebracht waren, die das nationale ‚Wir‘ in Bezug zum ‚Fremden‘ setzten. Dabei weisen diese Ausstellungen eine erhebliche Kontinuität auf, was einerseits die nationale Selbstdarstellung und andererseits die Hierarchisierung anbelangt: Die Grande Nation wurde stets als höherwertiges Orientierungsmodell präsentiert, auch wenn sich die Darstellung des ‚Anderen‘ durchaus anpasste.
39 Vgl. Hudemann: Geteilte Erinnerung? (2020). 40 Vgl. Morin: Leur guerre d’Algérie (2022); Stora / Jenni: Les mémoires dangereuses (2016); Hüser: Vom
schwierigen Umgang mit den „schwarzen Jahren“ (1997); ders.: Vergangenheitspolitik und Erinnerungskulturen in Frankreich (2000); ders.: Vom „Un-Skandal“ des Algerienkrieges (2014). 41 Vgl. Borutta / Jansen (Hg.): Vertriebene and Pieds-Noirs (2016). 42 Vgl. Lübbecke: Die „Cité nationale de l’histoire de l’immigration“ (2020).
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2.2.
Populärkultur – ‚Licht aus, Spot an‘ für ein vernachlässigtes Forschungsfeld
Unterhaltendes, Massenmediales und Populärkulturelles ist aus dem Alltag kaum noch wegzudenken. Die Präsenz populärkultureller Angebote und Nutzungspraktiken sowie deren Relevanz für politische und sozioökonomische Verhältnisse ist mittlerweile offenkundig. Dennoch blieb die wissenschaftliche Beschäftigung mit populärkulturellen Phänomenen lange aus. Bezugspunkt gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Debatten war bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein ein kollektives Verständnis von Kultur als „the best which has been thought and said in the world“43. Vor dem Hintergrund der traditionellen Vorherrschaft einer solchen, nach Superlativen strebenden Hochkultur erschienen die Unterhaltungsbedürfnisse der breiten Massen den meinungsführenden Eliten lange Zeit als „inauthentic, uninteresting or even dangerously corrosive“44. Dabei waren und sind Hochkultur und Populärkultur nicht trennscharf voneinander abzugrenzen. Ungeachtet der immer länger werdenden Liste an Definitionsangeboten,45 bleibt das, was Populärkultur konkret meint, je nach Kontext variabel und als Ergebnis ständigen Aushandelns einem permanenten Wandel unterworfen.46 Eine Geschichte der Populärkultur untersucht – so eine gängige Definition – Produkte, Phänomene und Aktivitäten, die unter industriegesellschaftlichen Vorzeichen entstanden sind, sich meist über massenmediale Kanäle verbreitet haben und durch zahlreiche Menschen angeeignet und als lebensweltlich bedeutsam empfunden wurden.47 Vor dem Hintergrund beschleunigter Veränderungsdynamiken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts trugen populärkulturelle Ausdrucksformen und Praktiken das Potenzial in sich, bestehende gesellschaftliche Verhältnisse herauszufordern und so bei den herrschenden Eliten Ängste vor Machtverlusten zu schüren. Mit einiger Verspätung gegenüber anderen, insbesondere angloamerikanischen Ländern hat sich die Populärkultur inzwischen auch in Deutschland und Frankreich den Weg in die Geschichtswissenschaft erkämpft.48 Die Anzahl an Studien, die sich in verschiedensten Forschungsdesigns mit Massenhaftem, Unterhaltendem und Populärem – von Musik, Film und Fernsehen über Rundfunk, Bücher und Zeitschriften, bis hin zu graphic novels – auseinanderset-
43 Arnold: Culture and Anarchy (1869), S. 6. Siehe auch Hüser: Zur kulturellen Dimension (2008). 44 Atia / Houlden: Introduction (2018), S. 1. 45 Vgl. exemplarisch Storey: Discourses of the Popular (2009). 46 Vgl. auch Maase: Populärkultur – Unterhaltung – Vergnügung (2013), S. 25. 47 Vgl. Hüser: Einleitung (2017), S. 10. 48 Zu anglophonen Beiträgen siehe beispielsweise Ashby: With Amusement for All (2012); Cullen (Hg.):
Popular Culture in American History (2013); Betts / Bly (Hg.): A History of Popular Culture (2013); Storey (Hg.): The Making of English Popular Culture (2016). Für die Bundesrepublik vgl. exemplarisch Maase: Grenzenloses Vergnügen (2007); Mrozek / Geisthövel / Danyel (Hg.): Popgeschichte (2014). Für den französischen Fall vgl. Kalifa: La culture de masse en France (2001); Rioux / Sirinelli (Hg.): La culture de masse en France (2002).
Einleitung – „Europa Endlos“?
zen, ist inzwischen beträchtlich. Besonders die wegweisende Grundlagenforschung hat in den letzten 20 Jahren starken Auftrieb erhalten.49 Im Kontext von Wirtschaftsboom und Massenkonsum markierten die langen 1960er-Jahre als Zeit des wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen und technologischen Wandels einen zentralen Einschnitt.50 Charakteristisch für diese Scharnierzeit waren unter anderem eine sich verbreiternde Palette an populärkulturellen Angeboten und eine leichtere Zugänglichkeit für größere Kreise. Den entsprechenden Nährboden für diese demokratisierenden Wirkungstendenzen boten unter anderem die Jugend- und Protestkulturen dieser Zeit.51 Die langen 1960er-Jahre lesen sich vor diesem Hintergrund als Zeitraum, von dem ausgehend populärkulturelle Produkte und Praktiken sich sukzessive über nationale Grenzen hinaus ausbreiteten und ausdifferenzierten. Bei allen lokalen, regionalen und nationalen Verschiedenheiten lässt sich für den Zeitraum eine Transnationalisierung bzw. Europäisierung populärkultureller Phänomene ausmachen. Hier verortet sich das seit 2018 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem luxemburgischen Fonds national de recherche geförderte Verbundprojekt „Populärkultur transnational – Europa in den langen 1960er Jahren“. Die Forschungsgruppe hat zum Ziel, das Zusammenspiel verschiedener Medienensembles – zwar unter Einbezug transatlantischer Einflüsse, aber mit klarem Fokus auf binneneuropäischen Transfer- und Aneignungsprozesse – in den Blick zu nehmen und empirisch zu unterfüttern. Teil dieses Projekts ist auch die Erforschung populärer Musikkulturen, die seit Jahren im Zentrum des wissenschaftlichen Wirkens von Dietmar Hüser steht.52 Dabei wird besonders Fragen zur Rezeption und Aneignung von Musik(genres) in Westeuropa ein hoher Stellenwert beigemessen – vor allem auf bundesdeutscher und französischer Vergleichs- und Verflechtungsebene.53 Hier knüpft der Beitrag von MAUDE WILLIAMS an, die im Rahmen ihres in der Forschungsgruppe verankerten Post-DocProjekts Musiktransfers zwischen Frankreich und der Bundesrepublik untersucht. Entgegen der lange Zeit vorherrschenden Fokussierung auf einzelne herausragende Mittlerfiguren thematisiert Williams deutsch-französische populärmusikalische Netzwerke und Akteurskonstellationen und fragt dabei nach Interaktionen und Interdependenzen zwischen privaten und kommerziellen Akteur:innen.54 Im Fokus stehen darüber hinaus sozioökonomische Veränderungsdynamiken und länderübergreifende Einflüsse auf die jeweiligen Musikmärkte. 49 Vgl. Siegfried: Time Is on My Side (2008); Maase: Was macht Populärkultur politisch? (2010). 50 Vgl. Kaelble: Kalter Krieg und Wohlfahrtsstaat (2011), S. 81. 51 Vgl. Hüser: Jugend- und Protestkulturen (2015). 52 Vgl. die Habilitation ders.: RAPublikanische Synthese (2004). Siehe auch ders.: „Rock around
the clock“ (2006). 53 Vgl. ders.: Im Westen viel Populäres (2020). Siehe auch ders.: Le rock ’n’ roll américain (2008); ders.: Amerikanisches in Deutschland und Frankreich (2008); ders.: Black-blanc-beur (1997). 54 Vgl. Bonnermaier: „Paris besingt man immer wieder, von Göttingen gibt’s keine Lieder“ (2003).
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Deutsch-französische Akteursnetzwerke analysiert auch LUKAS SCHAEFER. Er präsentiert in seinem Artikel einen Ausschnitt aus seinem von Dietmar Hüser betreuten Dissertationsprojekt.55 Er fragt einerseits nach der Rolle der Zeitschrift Filmkritik für die Kulturgeschichte der Bundesrepublik, andererseits nach deutsch-französischen Verflechtungsdimensionen und geht hier konkret populärkulturellen Einflüssen aus Frankreich vor allem aus dem Kreis um die Zeitschrift Positif nach. Indem er transnationale Bezüge anhand persönlicher Kontakte untersucht, zeigt Schaefer, dass sich die genannten Zeitschriften mit der Zeit zu Plattformen des internationalen Austauschs sozialkritischer Filmkritik verstetigten und so auch die Europäisierung der Filmkultur vorantrieben. JASMIN NICKLAS hebt in ihrem Artikel auf den Kultbegriff ab, der im Medienensemble häufig dazu dient, populärkulturelle Phänomene, Produkte und Praktiken herauszustellen und als etwas Besonderes zu etikettieren. Auf der Grundlage eines Kriterienkatalogs unter vergleichs-, verflechtungs- und zirkulationshistorischen Prämissen macht Nicklas ein Konzeptangebot für die historisch-kulturwissenschaftliche Analyse von transnationalen Kultphänomenen. Mit einer Offenheit für neue Erkenntnispotenziale jenseits erprobter Methoden präsentiert sie einen innovativen multidimensionalen Ansatz, mit dem sich perspektivisch Fragestellungen der (Populär-) Kultur-, Gesellschafts-, Wirtschafts-, Konsum-, Technik- und Sportgeschichte zusammenführen und -denken lassen. Im Fokus der Forschung von Dietmar Hüser standen und stehen nicht nur populärkulturelle Phänomene selbst, sondern auch ihre Bedeutung als „gesellschafts- und auch politikrelevante Faktoren, deren Erklärungsmacht weit über die kulturellen Artikulationen als solche hinausreichen“56. Besonders die Erforschung des Politischen im Populärkulturellen hat der Jubilar maßgeblich vorangebracht.57 Dass sich politische Verhältnisse in populärkulturellen Ausdrucksformen widerspiegeln können, weist auch ANN-KRISTIN KURBERG nach, die während der ersten Förderphase ebenfalls Mitglied der Forschungsgruppe war und im Oktober 2022 erfolgreich ihre Dissertation verteidigte. Am Beispiel der deutsch-französischen Sendereihen Rendez-vous am Rhein (1964–1966), später Europarty (1967–1970) und Spiel ohne Grenzen / Jeux sans frontières (1965–1999) untersucht sie transnationale Kooperationen im Bereich der Fernsehunterhaltung und fragt nach deren Bedeutung für interkulturelle Kommunikationswege und speziell für die deutsch-französische Aussöhnung. Kurberg zeigt, dass es sich bei den 1960er-Jahren um eine Umbruchphase handelte, in der einerseits zwar Fernsehschaffende das vermittelnde Potenzial grenzüberschreitender populärkultureller Produkte und somit die Wirkmacht transnationaler Unterhaltungsformate für
55 Vgl. Schaefer: Kritik ohne Grenzen (2018). 56 Hüser: Einleitung (2017), S. 12. 57 Vgl. ders.: Westdeutsches ‚Demokratiewunder‘ (2017).
Einleitung – „Europa Endlos“?
die interkulturelle Verständigung erkannten, andererseits nationale Denkmuster aber nach wie vor eine Rolle spielten.58 2.3.
Sport – auch in der Geschichtswissenschaft ist der Ball rund
Ähnlich wie die Populärkultur waren auch der Sport im Allgemeinen und der Fußball im Besonderen jahrzehntelang durch eine fast vollständige Nicht-Beachtung der Geschichtswissenschaft gekennzeichnet und fristeten ein Nischen-Dasein.59 Im Gegensatz zu Großbritannien, dem „Mutterland der modernen [Sport- und] Fußballgeschichtsschreibung“60 dauerte es in Deutschland und Frankreich – trotz der Pionierleistung einiger Historiker in den 1980er-Jahren61 – bis zur Jahrtausendwende bis sich forschungsgeschichtlich ein Trendwechsel abzeichnete. Dieser Weg, der im Falle des Fußballs vom „‚Proletensport‘ zum ‚Kulturgut‘“62 verlief, hing akademisch einerseits vor allem mit den cultural turns zusammen, die eine moderne Kulturgeschichte mit sich brachten, in der auch Sport und Fußball einen Platz hatten. Andererseits zog allmählich eine neue Generation von Historiker:innen in die Universitäten ein, die solchen Themenfeldern vorbehaltsfreier gegenüberstand. In der Bundesrepublik stellten die Habilitationsschrift von Christiane Eisenberg zu english sports und deutschem Bürgertum63 sowie die fußballhistorische Sektion „‚Kinder der Bundesliga‘. Kultur- und sozialgeschichtliche Aspekte des Fußballs in Deutschland 1900 bis 1980“ unter der Leitung von Wolfram Pyta anlässlich des 43. Historikertages in Aachen im Jahr 2000 wichtige Meilensteine dar. Sowohl dies- als auch jenseits des Rheins fungierten darüber hinaus die Fußball-Weltmeisterschaften 1998 und 2006 als Anlässe für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Sport.64 Ebenso wichtig war auf internationaler Ebene der Jubiläumsband zum 100-jährigen Bestehen der FIFA, für den der Weltverband ausgewiesenen Sporthistoriker:innen aus vier Ländern erstmals
58 Vgl. ders. / Pfeil (Hg.): Populärkultur und deutsch-französische Mittler (2015). 59 In diesem Teil geht es vor allem um die Fußballgeschichte in Frankreich und der Bundesrepublik. Für
einen breiter angelegten Überblick vgl. Stieglitz / Martschukat: Sportgeschichte (08.07.2016). 60 Dazu Gehrmann: Fußballsport und Gesellschaft (1993), S. 7 f. 61 Für die Bundesrepublik vgl. Gehrmann: Fußball – Vereine – Politik (1988); für Frankreich vgl. Wahl: Les archives du football (1989). 62 Gebauer: Vom „Proletensport“ zum „Kulturgut“ (2013). 63 Vgl. Eisenberg: „English Sports“ und deutsche Bürger (1999). 64 Zur WM 1998 vgl. Dauncey / Hare (Hg.): Les Français et la Coupe du monde (2002); zum geschichtswissenschaftlichen Schub durch die WM 2006 vgl. Hüser: Moderner Sport und Geschichte als Wissenschaft (2006). Darüber hinaus war in Deutschland die kritische Auseinandersetzung mit dem sogenannten Wunder von Bern im 50. Jubiläumsjahr 2004 von großer Bedeutung, vgl. Jordan: Der deutsche Sieg bei der Weltmeisterschaft 1954 (2005); Brüggemeier: Zurück auf dem Platz (2004); zuletzt Hüser: Wankdorf II (2022).
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seine Archivbestände öffnete.65 Die 2000er-Jahre standen in Deutschland besonders im Zeichen der Aufarbeitung der ‚dunklen Jahre‘ von Verbänden und Vereinen zwischen 1933 und 1945.66 Auf der anderen Seite der Grenze setzte wiederum in Kooperation mit den STAPS (Sciences et techniques des activités physiques et sportives) frühzeitig eine thematische Ausdifferenzierung ein;67 diese erfolgte in Deutschland erst etwas später.68 Von Anfang an verfassten historisch Forschende Studien zum Zusammenhang zwischen Sport- / Fußball- und Regionalgeschichte.69 So entstanden Arbeiten zu verschiedenen Regionen sowohl in Deutschland – beispielsweise zum ‚Sonderfall‘ des Saarfußballs70 – als auch in Frankreich – zum Beispiel zum Norden des Landes.71 Mittlerweile liegen mehrere Analysen vor, die den Nexus zwischen Region und Sport vergleichs- wie transfergeschichtlich in deutsch-französischer Perspektive in den Blick nehmen.72 In seinem Beitrag im vorliegenden Band widmet sich BERND REICHELT daran anknüpfend dem Fußball im saarländisch-lothringischen Grenzraum am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Reichelt, der 2013 in Kassel bei Dietmar Hüser promovierte,73 geht auf die Entstehungsgeschichte der sogenannten bürgerlichen Vereine an der Saar und in Lothringen ein und zeigt Gründe dafür auf, warum diese Fußballclubs eine so attraktive Freizeitbeschäftigung für junge Männer darstellten. Darüber hinaus ordnet er die Anfänge des Fußballs am Beispiel der Spielreise des englischen Vereins Queen Park Rangers an die Saar im Jahr 1912 in das Spannungsfeld zwischen sportlichem Nationalismus und Internationalität ein. Auf internationaler Ebene ging es immer wieder um die Bedeutung von Sport im Allgemeinen und Fußball im Speziellen für die Beziehungen zwischen einzelnen Staaten. Damit verbunden war die Frage, ob der Sport bei transnationalen wie transkulturellen Annäherungs- und Aussöhnungsprozessen zwischen ehemals verfeindeten
65 Vgl. Eisenberg u. a.: FIFA 1904–2004 (2004). 66 Vgl. Havemann: Fußball unterm Hakenkreuz
(2005); für einen prägnanten Überblick vgl. Hofmann: Mitspieler der „Volksgemeinschaft“ (2022), S. 11–15. Zuletzt erschienen ist eine Studie von Gregor Hofmann zur Geschichte des FC Bayern München während des Nationalsozialismus, die am Institut für Zeitgeschichte in München entstanden ist und ein breites Medienecho erfahren hat, vgl. ebd. 67 Einen Einblick bietet Tétart (Hg.): Histoire du sport en France (2007); siehe auch Dietschy: Histoire du football (2010). 68 Vgl. Becker / Schäfer (Hg.): Die Spiele gehen weiter (2014); siehe auch Havemann: Samstags um halb 4 (2013). 69 So beispielsweise im Sammelband, der aus der Fußball-Sektion des 43. Historikertags hervorgegangen ist, vgl. Pyta (Hg.): Der lange Weg zur Bundesliga (2004). 70 Vgl. Hüser: Sport et politique (2010); ders.: Sport als symbolische Arena (2017); ders. / Reichelt: Sport und Politik (2022). 71 Exemplarisch Chovaux: 50 ans de football dans le Pas-de-Calais (2001); Fontaine: Le Racing Club de Lens (2008). 72 Vgl. zum Beispiel Reichelt: Fußball im deutsch-französischen Grenzraum Saarland / Moselle (2014); Didion: Fußballstadien in der französischen und der westdeutschen Provinz (2022). 73 Vgl. Reichelt: Fußball im deutsch-französischen Grenzraum Saarland / Moselle (2014).
Einleitung – „Europa Endlos“?
Nationen eine positive Rolle gespielt habe. Insbesondere in der letzten Zeit sind in diesem Kontext die französisch-(west-)deutschen Fußballbeziehungen sukzessive in den Fokus gerückt.74 ANSBERT BAUMANN geht hier auf die wechselvolle transnationale Biografie des Fußballspielers Edmond Haan ein. Der 1924 im schwäbischen Schorndorf geborene Haan wurde durch den Versailler Vertrag zum französischen Staatsangehörigen und avancierte in der Nachkriegszeit zum Spitzenspieler des Racing Club de Strasbourg sowie zu einem festen Mitglied der Équipe tricolore. Der Zeithistoriker, der aktuell ein Projekt zu westeuropäischen Fankulturen im Fußball der langen 1960erJahre unter der Leitung von Dietmar Hüser bearbeitet,75 macht am Beispiel von Haan auf das besondere Problem der nationalen Herkunft in den deutsch-französischen Beziehungen und die Fragwürdigkeit nationaler Kategorisierungen aufmerksam. Mit Blick auf die Rolle des Sports im Rahmen multi- und bilateraler Beziehungen stellt sich unvermeidlich die Frage nach dem Verhältnis von Sport und Politik. Trotz immer wiederkehrender Fremd- wie Selbstpolitisierungen hält sich das viel rezitierte Mantra des vermeintlich unpolitischen Sports hartnäckig – gegenwärtig beispielsweise im Hinblick auf die zurückliegende Fußball-Weltmeisterschaft 2022 in Katar. Die meisten Historiker:innen – darunter auch Dietmar Hüser – bemühen sich daher, diesen Politisierungstrends nachzuspüren und den pseudo-apolitischen Charakter des Sports kritisch zu hinterfragen.76 Damit drängen sich Untersuchungen zum sogenannten „Kalten Krieg auf der Aschenbahn“77 geradezu auf. Diesem Feld widmet sich auch ALEXANDER FRIEDMAN. Der Osteuropa-Experte untersucht die Bemühungen der UdSSR sowie der DDR, den Fußball als politischen und propagandistischen Faktor im Kontakt mit Luxemburg zu nutzen. Dies funktionierte unter anderem deshalb, weil das kleine westeuropäische Land ebenfalls versuchte, über den Fußball eine größere internationale Sichtbarkeit zu erlangen. So fand sogar das erste Länderspiel zwischen der DDR und einem westlichen Gegner im März 1957 gegen Luxemburg in Ost-Berlin statt. Während die DDR-Presse bei weiteren Spielen das luxemburgische Team im Vorfeld stets aufwertete, entstand in der UdSSR das verächtliche Bild vom ‚Fußballzwerg‘ Luxemburg. PHILIPP DIDION nutzt in seinem Artikel die Biografie des SPD-Bundestagsabgeordneten Adolf Müller-Emmert als Sonde zur Erforschung der westdeutschen Sportpolitik in den 1960er- und 1970er-Jahren. Diesen Zeitraum
74 Vgl. Didion: „Gute Deutsche in Paris“ (2019); ders.: Emotionen im Stadion (2022); Grun / Terret: Les
représentations de l’Allemagne (2011); Meyer: La réconciliation franco-allemande (2016); Pfeil (Hg.): Football et identité (2010); Sonntag / Ranc: Entre indifférence mutuelle et inspiration réciproque (2015). 75 Siehe das Teilprojekt „‚Alte Fans‘ und ‚Neue Fans‘? – Fankulturen im westeuropäischen Fußball der langen 1960er Jahre. Ein transnationaler Vergleich der Strukturen und Trends in Westdeutschland, Frankreich und Italien“ der DFG-FNR-Forschungsgruppe 2475 „Populärkultur transnational – Europa in den langen 1960er Jahren“. Vgl. zudem Tétart (Hg.): Côté tribunes (2019). 76 Vgl. Hüser: Moderner Sport und Geschichte als Wissenschaft (2006), S. 237–249; ders.: Neutralitätsdiskurs und Politisierungstrends (2006); Jacob / Friedman: Fußball (2020). 77 Balbier: Kalter Krieg auf der Aschenbahn (2007).
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bezeichnet Didion, der aktuell zur Geschichte von französischen und westdeutschen Fußballstadien promoviert,78 als Phase der sportkulturellen Durchdringung der Bundesrepublik, in der der organisierte Sport einen mächtigen Schub erhielt. Weiter thematisiert er exemplarisch die normativen Sportvorstellungen von Müller-Emmert, dessen Arbeit im 1969 institutionalisierten Sportausschuss des Bundestags sowie dessen eigene sportliche Betätigungen. Seit seiner Entstehung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war der Sport zudem Gegenstand literarischer Produktionen. Unter Sportliteratur im engeren Sinne werden gemeinhin alle Formen der Fiktionalisierung der sportlichen Praxis verstanden (Romane, Essays, Lyrik, Kurzgeschichten, Film, Theater usw.).79 Eine literaturwissenschaftliche Analyse der Sportliteratur kann unter anderem einen wichtigen Beitrag zur Sportgeschichte leisten. In Frankreich war und ist es insbesondere die Tour de France, die immer wieder Autor:innen zu literarischen Werken inspiriert (hat).80 In diesem Band setzt sich der Literaturwissenschaftler DANIEL KAZMAIER mit der französischen Radrundfahrt auseinander. Er geht in einem Dreischritt der Frage nach, wie sich der Radsport – konkret die Tour de France – schreiben lässt bzw. wie dieser in eine literarische Erzählung ‚übersetzt‘ werden kann. Kazmaier untersucht zum ersten die Texte des Schriftstellers Alfred Jarry, zum zweiten die bekannte Reportage Les forçats de la route (1924) von Albert Londres und zum dritten die Werke zweier schreibender Radsportler (Peter Winnen und Guillaume Martin). Sein Fazit lautet, dass der mediale Kontext bzw. die jeweilige Mediosphäre zentral für die Überwindung der Kluft zwischen ausübenden Radsportlern und rezipierendem Publikum ist. Zu den Forschungsinteressen von Dietmar Hüser zählt auch die Untersuchung der Verbindung von Sport und Diversität (age, class, gender, race usw.). In den letzten Jahren sind beispielsweise zum Zusammenhang von Sport und Inklusion / Exklusion81 einerseits sowie von Sport und Geschlecht82 andererseits zentrale Studien erschienen, die wichtige Impulse für künftige Analysen geliefert haben. Alles in allem veranschaulichen die in dieser Festschrift versammelten Artikel zum Themenfeld Sport die enormen Potenziale einer (deutsch-französischen) Sportgeschichte im langen 20. Jahrhun78 Hierzu
vgl. Hüser / Dietschy / Didion (Hg.): Sport-Arenen – Sport-Kulturen – Sport-Welten (2022). Im Dezember 2022 haben die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die französische Agence nationale de recherche die Finanzierung eines deutsch-französischen Verbundprojekts mit dem Titel „Sport-Arenen – Szenen und (Werk)Stätten des Sport-Events“ für drei Jahre bewilligt. Im Rahmen dieses Projekts werden Geschichts- und Literaturwissenschaftler:innen aus Besançon, Freiburg, Limoges, Paris, Rouen und Saarbrücken gemeinsam Sport-Stadien im langen 20. Jahrhundert in den Blick nehmen. 79 Vgl. Charreton: Les fêtes du corps (1985); Leis: Sport in der Literatur (2000). 80 Zur Tour de France in der französische Literatur vgl. Gelz: Helden der Landstraße? (2019); Grevisse: Les miroirs du Tour de France (1993). 81 Vgl. Hüser / Meyer / Weiss (Hg.): Fußball und Diversität (2016); ders. / Baumann (Hg.): Migration – Integration – Exklusion (2020); Gasparini (Hg.): France et Allemagne (2012). 82 Vgl. Hüser (Hg.): Frauen am Ball (2022); Breuil: Histoire du football féminin (2011); Herzog (Hg.): Frauenfußball in Deutschland (2013); Linne: Freigespielt (2011).
Einleitung – „Europa Endlos“?
dert – nicht nur für sporthistorische Thematiken im engeren Sinne, sondern auch für die deutsch-französische bzw. europäische Politik- und Kultur-, Gesellschafts- und Wirtschafts-, Beziehungs- und Perzeptionsgeschichte insgesamt. 3. Danksagungen
Unser größter Dank gilt dem Jubilar Dietmar Hüser selbst. Er prägte und unterstützte alle Autor:innen dieses Bandes maßgeblich in ihrer wissenschaftlichen bzw. beruf lichen Karriere. Wir alle konnten und können viel mit und von ihm lernen; Fähigkeiten, die vielen von uns in der täglichen Arbeit von unschätzbarem Wert sind und uns auf unserem Werdegang vorangebracht haben und weiterhin voranbringen. An zweiter Stelle gebührt der Deutsch-Französischen Hochschule sowie dem Internationalisierungsfonds der Universität des Saarlandes ein großes Dankeschön. Dank der Finanzierung durch diese beiden Institutionen konnten wir nicht nur die vorliegende Festschrift, sondern ebenso eine Tagung anlässlich Dietmar Hüsers 60. Geburtstag realisieren, die vom 17. bis 19. Februar 2022 als Online-Veranstaltung stattfand.83 Geplant war die Zusammenkunft ursprünglich als Präsenzveranstaltung in Saarbrücken, allerdings erlaubte die pandemische Situation zu diesem Zeitpunkt kein Treffen vor Ort. Ebenso danken wir dem Deutsch-Französischen Historikerkomitee, das uns die Veröffentlichung der Festschrift in seiner Schriftenreihe anbot. Ein weiterer Dank geht an alle Autorinnen und Autoren sowie an die zahlreichen Tagungsteilnehmenden, die trotz der coronabedingten Widrigkeiten vortreffliche Vorträge gehalten, sich aktiv an den thematischen Diskussionen beteiligt und verschriftlichte Versionen für die vorliegende Festschrift zur Verfügung gestellt haben. Darüber hinaus gilt unser Dank Wolfgang Behringer, Katharina Böhmer, Gabriele Clemens, Andreas Fickers, Andreas Gelz, Arminen Heinen, Rainer Hudemann, Malte König, Hélène Miard-Delacroix und Clemens Zimmermann für ihre tatkräftige Beteiligung an der Tagung und ihre luziden Panelmoderationen. Für die unentwegte Unterstützung bei der Antragsstellung, Planung und Geheimhaltung sowohl im Rahmen der Tagung als auch der Festschrift möchten wir uns darüber hinaus von Herzen bei Rainer Hudemann und Hélène Miard-Delacroix bedanken – ohne ihr Wissen und Zutun wäre beides weit weniger ertragreich geworden. Des Weiteren geht ein großes Dankeschön an das Team des Lehrstuhls für Europäische Zeitgeschichte für den tatkräftigen Einsatz während der Tagung. Schließlich sei Katharina Stüdemann vom Franz Steiner Verlag für die stets freundliche wie professionelle redaktionelle Betreuung sowie Lisa Flöser für ihr Mitwirken bei der Endredaktion gedankt.
83 Vgl. Siebler / Didion: Tagungsbericht (14.06.2022).
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Philipp Didion / Sarah Alyssa May / Jasmin Nicklas
Philipp Didion, Studium der Fächer Geschichte und Französisch an den Universitäten Metz und
Saarbrücken, 2017–2019 studentischer Mitarbeiter am Lehrstuhl für Europäische Zeitgeschichte der Universität des Saarlandes (Prof. Dr. Dietmar Hüser), seit 2020 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Europäische Zeitgeschichte sowie am Frankreichzentrum der Universität des Saarlandes, seit 2020 Promotionsprojekt mit dem Arbeitstitel Fußball jenseits der Metropolen – Eine vergleichende Stadion-Kultur-Geschichte in französisch-westdeutscher Perspektive von den 1950er- bis zu den 1980er-Jahren (Betreuung: Prof. Dr. Dietmar Hüser / Prof. Dr. Paul Dietschy), seit 2022 Koordinator der DFG-FNR-Forschungsgruppe 2475 „Populärkultur transnational – Europa in den langen 1960er Jahren“. Forschungsschwerpunkte: deutsch-französische Geschichte; Sportgeschichte, speziell Fußballgeschichte; Geschichte der Populärkultur; Lokal- und Regionalgeschichte. Sarah Alyssa May, Studium der Fächer Historisch orientierte Kulturwissenschaften (BA) und Ge-
schichtswissenschaften in europäischer Perspektive (MA) an der Universität des Saarlandes, seit 2018 studentische Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Europäische Zeitgeschichte (Prof. Dr. Dietmar Hüser), 2021 BA-Arbeit mit dem Titel (K)eine Stimme für Europa – Euroskeptische Einstellungen im Kontext der ersten Direktwahl zum Europäischen Parlament 1979 im deutsch-französischen Pressespiegel. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen; Geschichte der europäischen Integration; Gender und Frauengeschichte. Jasmin Nicklas, Studium der Fächer Geschichte, Romanistik (Französisch), Interkulturelle Kom-
munikation an den Universitäten Saarbrücken und Paris, 2010–2015 studentische / wissenschaft liche Hilfskraft an den Lehrstühlen für Neuere und Neueste Geschichte (Prof. Dr. Dr. h. c. Rainer Hudemann) bzw. Europäische Zeitgeschichte (Prof. Dr. Dietmar Hüser), seit 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Europäische Zeitgeschichte an der Universität des Saarlandes, seit 2016 Promotionsprojekt „Baby you can drive my car“ – Citroën 2 CV und VW Käfer auf dem Weg vom Konsumprodukt zum Kultobjekt. Eine deutsch-französische Zirkulationsgeschichte [Arbeitstitel] (Betreuung: Prof. Dr. Dietmar Hüser / Prof. Dr. Hélène Miard-Delacroix), 2019–2020 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Frankreichzentrum der Universität des Saarlandes. Forschungsschwerpunkte: Kultur-, Sozial- und Konsumgeschichte; Automobilgeschichte; historische Populärkulturforschung; Emotionsgeschichte; Geschichte des Nationalsozialismus.
I. Politik & Gesellschaft
Das Museum als Quelle – der Palais de la Porte Dorée als lieu de mémoire Vom Kolonialpalast zum Immigrationsmuseum
GWENDOLIN LÜBBECKE
Ich möchte meinen Beitrag mit zwei persönlichen Beobachtungen beginnen, auch wenn das in der Geschichtswissenschaft ein eher unübliches Vorgehen ist. Bei Themen, wie der kolonialen Vergangenheit, die zum einen als ‚düster‘ gelten und zum anderen als thèmes d’histoire mal digérés gesehen werden können, spielt diese subjektive Perspektive immer eine Rolle. So spiegeln die beiden Eingangsbeobachtungen eine Erfahrung, die für mich, als ich meine Arbeit zum Palais de la Porte Dorée1 begann, schmerzlich, aber essenziell war. Es handelt sich um zwei aktuelle und rein subjektiv gewählte Eindrücke zum öffentlichen Umgang mit unangenehmen, weil schuldbehafteten Kapiteln der europäischen Geschichte. Das erste Beispiel stammt aus dem Dezember 2021 und betrifft das Verschwinden des Stolpersteins vor der Villa vom Leinpfad in Hamburg.2 Der ursprüngliche, jüdische Besitzer der Villa wurde vom NS-Regime gezwungen, sie zu verkaufen. Sie diente dann unter anderem als Dienstsitz des SS- und Polizeigerichts XII.3 Der Stolperstein für Paula Jacobson, der vor der Villa verlegt worden war, weil sie hier den Freitod gewählt hatte, wurde im Dezember 2021 säuberlich entfernt und an seiner statt eine ebene Bodenplatte eingesetzt. Auch wenn bis heute nicht geklärt ist, wer für das Verschwinden des Steins verantwortlich war, scheint sich hier doch sehr direkt und offensichtlich der Wunsch nach dem Glätten und Zum-Schweigen-bringen der düsteren Geschichte
Gebäude im 12. Arrondissement an der Porte Dorée in der Nähe des Bois de Vincennes, das von Albert Laprade anlässlich der Exposition coloniale internationale entworfen wurde. Im Text wird daher teilweise auch die Bezeichnung ‚Kolonialpalast‘ verwendet. 2 Vgl. Wunder: Skandal in Winterhude (21.11.2021). 3 Vgl. ebd. 1
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zu artikulieren: Gedenken an die Opfer des Terrors des Nationalsozialismus mag anderswo stattfinden, aber bitte nicht vor der eigenen Haustür.4 Ein ähnliches Bedürfnis manifestierte sich im Rahmen des Symposiums „DenkmalKontroversen über umstrittene Gedenkorte in Kassel“ im Oktober 2021 in der Sektion zum Dorf Mulang (oft auch ‚Moulang‘).5 Dieses Dorf war ein Zierdorf im Bergpark Wilhelmshöhe mit chinesischem Einschlag, das aus verschiedenen Gebäuden bestand, in denen unter bisher nicht geklärten Umständen auch Schwarze Menschen6 arbeiteten, die aus Nordamerika und Kamerun nach Kassel verbracht worden waren.7 In der betreffenden Sektion sollte die Möglichkeit diskutiert werden, dieser Vergangenheit zu gedenken bzw. sie zur Sprache zu bringen. Dazu war unter anderem Prof. Friedrich Forssman, seines Zeichens renommierter Buchgestalter und Typograf, als Liebhaber und Experte der Villen-Kolonie Mulang eingeladen worden. Er trat damit sozusagen als Vertreter und Fürsprecher der Villenbesitzer:innen auf, die ‚ihr‘ Dorf Mulang gerne geschützt wissen wollten. In der Diskussion wurde schnell klar, dass Forssman diesen Teil der Kasseler Vergangenheit zwar nicht grundsätzlich in Frage stellte, aber zum einen gerne die unklare Quellenlage zur Relativierung des Grades an ‚Missbräuchlichkeit‘ der Situation, der dort lebenden und arbeitenden Schwarzen Menschen nutzen wollte. Zum anderen machte er klar, dass es natürlich ein Gedenken an diese Vergangenheit geben könne, nur bitte nicht direkt im Dorf Mulang, gerne anderswo in Kassel. Es gibt sicherlich zahlreiche weitere Beispiele, die man hier anführen könnte. Sie zeigen, mit welcher Vehemenz sich große Teile der Gesellschaft sowohl in Frankreich als auch in Deutschland immer noch gegen ‚dunkle‘ Kapitel der Vergangenheit wie den Kolonialismus oder den Nationalsozialismus öffentlichkeitswirksam wehren. Natürlich gibt es deutliche Unterschiede zwischen der erinnerungskulturellen Verarbeitung in beiden Ländern – der Reflex der Abwehr und der Versuch der Glättung bleiben die gleichen.
Vgl. N.N.: Hauseigentümer will „Stolpersteine“ entfernen (25.11.2014); N. N.: Stolperstein professionell entfernt (24.11.2021). 5 Vgl. Universität Kassel: Denkmal Kontroversen Kassel (21.–23.10.2021). 6 ‚Schwarz‘ wird hier bewusst als Begrifflichkeit gewählt und durchgängig großgeschrieben, da sie der selbstgewählten Bezeichnung von Schwarzen Menschen entspricht, vgl. Sow: Deutschland schwarz weiß (2018), S. 26. 7 Vgl. Kassel postkolonial: Schwarze Menschen als Arbeiter*innen im „chinesischen Dorf “ (09.05.2021). 4
Das Museum als Quelle
1.
Der Palais de la Porte Dorée als vielschichtiger Erinnerungsort
Dies bekam ich auch gleich zu Beginn meiner Forschungsarbeit zu spüren: Ich wollte mich mit der Kontinuität des Palais de la Porte Dorée, der vom Kolonialpalast zum heutigen nationalen Immigrationsmuseum8 avanciert war, beschäftigen. Kaum kontaktierte ich die betreffende Institution und schilderte mein Vorhaben, wurde mir klar gemacht, dass es da kein Thema gebe. Es sei ein Irrtum, das so untersuchen zu wollen; das habe nichts miteinander zu tun: […] je me permets de vous redire que faire remonter, comme semble l’indiquer votre titre, le projet de la Cité à 1931 ne me paraît pas judicieux, car c’est s’appuyer sur l’apparence – une continuité liée au bâtiment – et non sur l’objet historique qui vous intéresse, à savoir un musée de l’immigration.9
Hiermit zu unterstellen, dass es keine Verbindung zwischen der Geschichte des Ortes bzw. des Gebäudes und dem sich heute dort befindenden Museum gäbe, also das Immigrationsmuseum hier mehr oder weniger zufällig ‚gelandet‘ sei, erschien mir schon damals merkwürdig kurz argumentiert. Zu einem späteren Zeitpunkt konnte ich feststellen, dass es sich einerseits um eine institutionell verankerte Naivität handelte, die zu einer systematischen Unterschätzung der Präsenz des Gebäudes des Palais führte. Andererseits verbarg sich hierin auch ein beliebtes Argumentationsmuster, das die koloniale Vergangenheit für abgeschlossen und damit als irrelevant für die Gegenwart einstufte. Gerade diese sehr abweisende Reaktion bestärkte mich langfristig in meinem Vorhaben. Damit wird aber auch sehr deutlich, dass auch unter Bemühung um größtmögliche Objektivität und wissenschaftliche Gütekriterien gerade bei Themen, die die Erinnerungskultur betreffen, auch immer eine stark subjektive, persönliche Seite mitschwingt, die sowohl die Person der oder des Forschenden, die Recherchearbeit, als auch die beteiligten Akteur:innen beeinflusst und daher nicht ignoriert werden kann. Zum zehnjährigen Jubiläum des Immigrationsmuseums 2017 konnte man schließlich diese Schlagzeile in der Fernsehzeitschrift Télérama lesen: „Installer le musée de l’immigration dans le Palais des colonies, il fallait oser! L’anniversaire de ses 10 ans, les 14 et 15 octobre, sera l’occasion de voir si la greffe a pris…“10 – hier wird konstatiert, dass es ein Wagnis gewesen sei, das erste und einzige nationale Immigrationsmuseum im ehemaligen Kolonialpalast / Palais de la Porte Dorée von 1931 unterzubringen. Der
Der ursprüngliche Name lautet Cité nationale de l’histoire de l’immigration (CNHI), mittlerweile wurde es aber in Musée nationale de l’histoire de l’immigration (MNHI) umbenannt. Der Einfachheit halber wird im Text der ursprüngliche Name verwendet. 9 Auszug aus einer E-Mail, die ich als Antwort auf mein Forschungsvorhaben von einer Mitarbeiterin der CNHI bekam. 10 „Musée de l’histoire de l’immigration. 10 ans de discrétion“, in: Télérama, 14.10.2017. 8
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Autor vergleicht dieses in dem Zusammenhang bedeutungsschwer mit einer Transplantation, die wie die Organtransplantation ihre Risiken birgt. Damit weist das Zitat auf den zentralen Ausgangspunkt der Arbeit hin: dieses Museum insgesamt als historische Quelle zu begreifen und damit als Kristallisationskern französischer Erinnerungskultur in Bezug auf Kolonialismus und Immigration zu deuten. Es stellt mit seiner erstaunlichen Kontinuität und seinen verschiedenen institutionellen Schichten einen einmaligen lieu de mémoire / Erinnerungsort im Nora’schen Sinne dar.11 Schließlich befanden sich hier nacheinander zuerst das nationale Kolonial-, dann Überseemuseum, das Museum für afrikanische und ozeanische Kunst und schließlich ab den 2000er-Jahren das heutige Immigrationsmuseum.12 Damit stehen sich an diesem Ort aktuell der primär materielle lieu de mémoire des Kolonialismus und der vorrangig immaterielle lieu de mémoire der Immigration gegenüber. Die koloniale Vergangenheit des Ortes wird vor allem über die Architektur repräsentiert, die als denkmalgeschützter ‚Palast der Republik‘ in seinem Urzustand von 1931 erhalten ist.13 Nicht nur das Gebäude an sich, sondern auch seine imposante Frontfassade mit dem 1.130 m2 großen Steinrelief,14 das Alfred Janniot anfertigte, ist vollständig erhalten. Es zeigt die verschiedenen von Frankreich kolonialisierten ‚Völker‘, mit ihrer Flora und Fauna und den Produkten, die sie an Frankreich abführen mussten. Die hier dargestellten Menschen richten sich alle an Frankreich – symbolisiert durch eine nackte Frau über dem Eingang des Museums – aus. Das übergreifende Thema ist der wirtschaftliche Beitrag der Kolonien zum französischen Wohlstand. Ergänzt wird dieses Bildprogramm, das die Besucher:innen monumental begrüßt, von den großen Fresken Pierre-Henri Ducos de la Hailles, die sich im Atrium im Erdgeschoss befinden. Sie stellen den vermeintlichen Fortschritt dar, den Frankreich im Austausch für die Produkte in die Kolonien gebracht habe.15 Neben Hygiene und Bildung werden weitere Werte und zivilisatorische Errungenschaften in kleinen Szenen zwischen Kolonisatoren und indigener Bevölkerung veranschaulicht, die den angeblich positiven Einfluss Frankreichs und damit die Legitimität der Kolonisation belegen sollen. Gekrönt werden diese kleineren Darstellungen von einem monumentalen Hauptfresko, das Frankreich inmitten der verschiedenen Kontinente zeigt. Auch hier wird Frankreich als Frau dargestellt, die eine Friedenstaube in der einen Hand hält und mit der anderen die Hand ‚Europas‘ ergreift. Um diese beiden Hauptfiguren herum werden dann Amerika, Afrika, Asien und Ozeanien gezeigt, die auch als Frauen dargestellt sind.16
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Vgl. Nora (Hg.): Les lieux de mémoire (1984–1992); Ageron: L’Exposition coloniale de 1931 (1984). Vgl. Viatte / François (Hg.): Le palais des colonies (2002). Vgl. Jarrassé: Le décor du palais des colonies (2002). Vgl. Palais de la Porte Dorée: Le bas-relief; Murphy: Un palais pour une cité (2007), S. 29–31. Vgl. Bouché: Le décor peint (1985). Vgl. ebd.
Das Museum als Quelle
In diesem kolonialen Palast und materiellen lieu de mémoire befindet sich der immaterielle lieu de mémoire der Immigrationsgeschichte Frankreichs: Vor allem durch eine Dauerausstellung17 und eine sogenannte Galerie des dons wird in diesem Teil des Hauses – vorrangig im Obergeschoss – die Geschichte der Immigration repräsentiert.18 Hier wird im weitesten Sinne mit audiovisuellem Material gearbeitet: Berichte von Zeitzeug:innen, Filme, aber auch einzelne, ausgewählte Objekte. Das Primat audiovisueller Quellen erklärt sich dadurch, dass Immigration als Thema nur schwer durch Objekte repräsentierbar scheint. Schließlich handelt es sich einerseits vor allem um eine Erfahrung, andererseits konnten viele Migrant:innen durch die Bedingungen ihrer Migration kaum Objekte bzw. Habseligkeiten mitnehmen. Immaterielles Erbe und materieller Ort prallen so aufeinander und gehen eine neue Beziehung ein und das, nachdem der Ort lange ausschließlich der kolonialen Propaganda gewidmet war. Das ist in einem Land wie Frankreich, in dem anlässlich der Unruhen von 2005 in den Pariser Banlieues, in denen mehrheitlich Französinnen und Franzosen mit Migrationserfahrungen leben, von den indigènes de la République 19 zu lesen war, ein bemerkenswerter Vorgang. Diese Gemengelage macht die CNHI zu einem komplexen Untersuchungsgegenstand, in dem sich mehrere Erinnerungsschichten treffen und überschneiden. Aus diesen Vorüberlegungen ergibt sich die Leitfrage der Arbeit, inwiefern sich die hier sichtbaren verschiedenen historischen Diskursschichten auf den öffentlichen Umgang mit Kolonialismus und Immigration ausgewirkt haben und welche Strategien im Umgang mit den beiden Themen an diesem konkreten Ort beobachtet werden können. Um auf diese Fragen eine befriedigende Antwort zu finden, bedarf es einer konzeptionellen Neudefinition des Museums als historischer Quelle. In Anknüpfung an Jan und Aleida Assmann wurde daher das Museum als Teil des kulturellen Gedächtnisses gedeutet:20 Es bildet in diesem Sinne eine Schnittstelle zwischen Speicher- und Funktionsgedächtnis.21 Hier werden Informationen, Wissen, Artefakte bewahrt, umgedeutet, ausgewählt, aktualisiert und in ein Narrativ gesetzt, das die jeweilige Perspektive auf die Welt, Gesellschaft, das nationale Wir, wie auch das von diesem abzugrenzende Andere spiegelt.22
Die Dauerausstellung wurde nach dreijähriger Überarbeitung im Juni 2023 neu eröffnet. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die Zeit vor der Überarbeitung. 18 Vgl. Cité nationale de l’histoire de l’immigration (Hg.): Guide de l’exposition permanente (2009); Musée national de l’histoire de l’immigration: Repères. Exposition permanente; MNHI (Hg.): Guide de la Galerie des dons (2014). 19 Vgl. u. a. Boissieu: Parti des Indigènes de la République; Parti des Indigènes de la République: Homepage. 20 Vgl. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis (2007), S. 56–58. 21 Vgl. Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit (2007), S. 51–58. 22 Vgl. Korff / Roth (Hg.): Das historische Museum (1990). 17
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Es handelt sich in einer konstruktivistischen Perspektive um Orte der Repräsentation, der Inszenierung, der Argumentation und – wie es Barbara Kirshenblatt-Gimblett formuliert – der Welterzeugung.23 Um das Museum als Quelle lesen zu können, wurden die beiden Analysekategorien der Politik und der Poetik nach Thomas Thiemeyer bemüht, der sich dabei auf Jörn Rüsen bezieht.24 Die Ebene der Politik betrifft die institutionelle Entstehungsgeschichte des Ortes, die Rolle von Rahmenbedingungen, die Beteiligung anderer Institutionen und Akteur:innen an seiner Geschichte und Entwicklung. Die Poetik meint hingegen die Erscheinungsform, die visuelle Vermitteltheit des Museums. Das Potenzial in dieser Betrachtungsweise des Museums liegt darin, es als komplexen Untersuchungsgegenstand zu fassen, der nicht nur Aufschluss über die Geschichte des Hauses selbst gibt, sondern öffentliche, erinnerungskulturelle und -politische Diskurse aufzudecken und zu verstehen hilft. Dies zeigt sich ganz konkret im Fall des Kolonialpalastes anhand von vier Spannungsfeldern, in die dieser Ort eingebunden war und ist: – der öffentliche Umgang mit dem baulichen lieu de mémoire der Kolonialzeit, – der erinnerungspolitische Umgang mit der kolonialen Vergangenheit Frankreichs, – der umfassende Wandel der Pariser Museumslandschaft, der seit den 1990er- und 2000er-Jahren die Museen außereuropäischer Kulturen betraf, – die Debatten um Immigration und ihre Repräsentation ab den 2000er-Jahren. 2. Im Spannungsfeld von kollektiver Erinnerung, Politik und Öffentlichkeit
Der Kolonialpalast war ursprünglich 1931 anlässlich der Exposition coloniale internationale erbaut worden, der größten Kolonialschau, die Frankreich jemals ausgerichtet hat. Von da an war er bis in die 1950er-Jahre durchgängig als Kolonial- bzw. Überseemuseum genutzt worden: An diesem Ort sollte die Relevanz des Empire, seine Strahlkraft und Einmaligkeit repräsentiert und den Französinnen und Franzosen vermittelt werden. Erst mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, den ‚Kolonialkriegen‘ in Vietnam und Algerien geriet das Museum zunehmend in eine Relevanzkrise. Die ersten beiden aufgeführten Spannungsfelder beeinflussten die Entwicklung des Ortes daher spätestens seit den 1960er-Jahren. Bereits in den 1950er-Jahren wurde das Haus zunehmend vernachlässigt und galt als Abstellgleis für unliebsam gewordene Kurator:innen.25 So konstatiert Sherman für diesen Zeitraum: „To this essentially willed heterogeneity [of the museum], the 1950 appointment of Marcel Lucain, a jourVgl. Kirshenblatt-Gimblett: The Museum (2004). Vgl. Thiemeyer: Das Museum als Quelle (2009). Vgl. Poisson: La grande histoire du Louvre (2013), S. 1968 f.; „Des musées exposés“, in: Le Monde, 09.01.1992. 23 24 25
Das Museum als Quelle
nalist lacking any museum experience or relevant expertise, as curator added nearly a decade of confusion and neglect.“26 Aber das Haus konnte sich über Wasser halten und wurde zumindest nicht geschlossen. Mit der Ernennung von André Malraux zum ersten Kulturminister der V. Republik änderten sich dann die Dinge für das Museum deutlich. Malraux’ Interesse für außereuropäische Kulturen und ihre Kunst führte schließlich dazu, dass der Palais 1960 in das Musée des arts africains et océaniens (MAAO27) umgewandelt wurde.28 Mit dieser neuen Ausrichtung und Funktion begab sich das Kunstmuseum im Kolonialplast fast automatisch in einen Kampf um Distanz zur kolonialen Vergangenheit. Einen ersten Schritt in diese Richtung stellte die inhaltliche Umwidmung selbst dar und die damit einhergehende Glättung der Innenarchitektur, die sich nun als White Cube gab.29 Diese Strategie funktionierte allerdings nur sehr bedingt, wie der langjährige Leiter des Hauses, Henri Marchal, immer wieder resigniert feststellte: Es schien schlichtweg unmöglich, die Wahrnehmung als Kolonialpalast loszuwerden.30 Dieser Kampf um Distanz war bis 2003, dem Zeitpunkt der Schließung und erneuten Umwidmung, sicht- und spürbar. Daher erscheint die schnelle Übergabe in die Hände der Planer:innen eines Immigrationsmuseums sehr überraschend. Bis 2003 hatten in einer letzten Phase die beiden bekannten Kuratoren Jean-Hubert Martin und Germain Viatte versucht, das Haus über eine Integration zeitgenössischer, westlicher Künstler:innen zu aktualisieren.31 Mit seiner Schließung kamen verschiedene Vorstellungen auf, was mit dem Ort passieren sollte. So wurde unter anderem ein Museum für die arts décoratifs vorgeschlagen.32 Doch sehr schnell war das 2004 angekündigte Museum für Immigration für diesen Ort vorgesehen. Erneut überraschen mag in diesem Zusammenhang, dass die beteiligten Expert:innen, die das Immigrationsmuseum planten, in der Folge davon ausgingen, dass sich der Ort mehr oder weniger von selbst umdeuten lassen und die koloniale Vergangenheit des Ortes nicht weiter relevant sein würde: […] maintenant dix ans après je peux un peu faire une autocritique et celle de la mission Toubon, je pense qu’on avait été un peu naïf parce que […] l’ombre porté de la colonisation est beaucoup plus fort de ce qu’on avait pensé c’est-à-dire en fait, […] c’est un peu facile de dire on va [le] détourner parce que la symbolique coloniale est tellement forte, c’est exactement quand vous rentrez dans une église même si vous ne croyez pas en dieu, Sherman: French Primitivism (2011), S. 89. Das Haus wurde erst später offiziell zum ‚nationalen‘ Museum und hieß dann Musée national des arts d’Afrique et d’Océanie (MNAOO). Im Artikel finden sich dementsprechend beide Abkürzungen. 28 Vgl. Frapier: Pierre Meauzé et l’élaboration de la section „Arts Africains“ (1995/1996). 29 Vgl. Fotografie Nr. 283, in: Viatte / François (Hg.): Le palais des colonies (2002), S. 210. 30 Vgl. Marchal: L’avenir d’un musée (1990), S. 87. 31 Vgl. u. a. Martin: Préface (1995); „Germain Viatte aux Arts premiers?“, in: Libération, 06.02.1997. 32 Vgl. Archives du Musée du Quai Branly, Fonds MNAAO, Série B, DA003200/67176: Rapport d’activité, 2002, S. 6–8. 26 27
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les pierres expriment une spiritualité à laquelle on est sensible quel que soit sa croyance personnelle, […] et je pense qu’ici on a sous-estimé le fait que les lycéens qui viennent voir l’exposition sur la mode quand il montent les marches de ce palais […] ce palais il est quand même fait pour intimider […] et ça marche comme ça parce qu’il est un peu écrasant et donc je pense que la dimension coloniale on n’a pas assez problématisée dans notre projet au départ, on a été un peu naïf […].33
Diese Naivität, die hier im Umgang mit dem Ort und seiner Vergangenheit benannt wird, erstaunt auch deshalb, weil eine Reihe von Historiker:innen beteiligt waren, die sich mit der Kolonialgeschichte Frankreichs auskannten und die eine stärkere Reflexion zur Wirkung eines solchen Ortes versprachen. Offenbar verdeckte das primäre akademische Vorhaben, Immigration und ihre Geschichte endlich aufwerten zu wollen und zu können, die Komplexität und Widersprüchlichkeit, die ein Ort wie der Palais de la Porte Dorée von sich aus mitbrachte. Seine Vergangenheit erschien vor dem Hintergrund des einmaligen und herausragenden zivilgesellschaftlichen und akademischen Projekts vernachlässigbar.34 Gleichzeitig geschah diese schlichte und naive Umdeutung des Palais vor dem Hintergrund wieder aufkommender Debatten um Frankreichs koloniale Vergangenheit in den 2000er-Jahren. Dazu lässt sich emblematisch der Artikel 4 von 2005 – auch als ‚Kolonialismusgesetz‘ bekannt – anführen,35 der maßgeblich die Debatten um den Kolonialismus während der Planung des Immigrationsmuseums beeinflusst hat. Ursprünglich ging es in diesem Artikel um die gesetzliche Festlegung der Betonung der positiven Aspekte der Kolonisation im schulischen Geschichtsunterricht und in der universitären Lehre.36 Dieses potenzielle loi mémorielle wurde zwar schließlich gekippt,37 aber allein der Versuch, eine solche Vorgabe gesetzlich verankern zu wollen, sorgte für eine große, kontrovers geführte Debatte. Im Zuge der Planung des Immigrationsmuseums, das 2004 beschlossen und 2007 eröffnet werden sollte, beförderte es die Ver- bzw. Zurückdrängung des Themas Kolonialismus im Museum deutlich. Gleichzeitig wurde der Palais damit dauerhaft und unfreiwillig zum Austragungsort des Ringens um ein öffentliches und erinnerungspolitisches Verhältnis zur eigenen kolonialen Vergangenheit. Diese war ganz offensichtlich viel weniger abgeschlossen und ‚verarbeitet‘ als gedacht und produzierte als kollektives Unbewusstes immer wieder unliebsame Symptome.
Interview mit C. C., 18.05.2015. Vgl. Poinsot: Le rôle central de l’historien (2007), S. 99. Vgl. u. a. „Colonisation. Non à l’enseignement d’une histoire officielle“, in: Le Monde, 25.03.2005; „Liberté pour l’histoire“, in: Libération, 13.12.2005; Ebert: Frankreichs Umgang mit belasteter Vergangenheit (2010), S. 192–204. 36 Vgl. „Colonisation. Non à l’enseignement d’une histoire officielle“, in: Le Monde, 25.03.2005. 37 Vgl. Ebert: Frankreichs Umgang mit belasteter Vergangenheit (2010), S. 192–204. 33 34 35
Das Museum als Quelle
Mit der Präsidentschaft Jacques Chiracs und seinen Vorstellungen einer veränderten Museumslandschaft ab den 1990er-Jahren geriet der Palais in ein neues Spannungsfeld. Die Schließung der beiden emblematischen Orte der Repräsentation fremder, außereuropäischer Kulturen, des Musée de l’Homme (MH) und des MAAO, mündete in den beiden zentralen Neugründungen des Musée du Quai Branly (MQB) und des Immigrationsmuseums (CNHI).38 Die Pariser Museumslandschaft wurde damit grundlegend neu strukturiert: Mit drei völligen Neugründungen, dem MQB, der CNHI und 2013 schließlich auch noch dem Mucem (Musée des civilisations de l’Europe et de la Méditerranée) und der Schließung traditionsreicher Häuser wie dem MH, dem MAAO und dem MNATP (Musée national des arts et traditions populaires) gab es eine deutliche Zäsur. Diese Entwicklung blieb nicht ohne Reaktion: Insbesondere das Personal des MH wehrte sich heftig. Es wurde monatelang gestreikt, Unterschriften gesammelt und Protestbriefe verfasst.39 Im Fall des MAAO gab es keine Proteste, hier ließ sich eher ein melancholischer, nostalgischer Abschied beobachten, der einen bitteren Beigeschmack hatte: „[…] Frankreich verliert wegen der Eitelkeit [eines] Präsidenten, einen Ort, wo ein wichtiger und bei weitem nicht nur ruhmvoller Teil der nationalen Vergangenheit hätte aufgearbeitet werden können“40, so die Neue Zürcher Zeitung. Offenbar war die Chance, die dieser Ort in Bezug auf eine kritische Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit bot, durchaus von einigen erkannt worden: Auch Nicolas Bancel und Pascal Blanchard plädierten immer wieder dafür, aus diesem Ort ein Museum zu machen, das eine differenzierte Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit erlaubt.41 Doch das war kein Ziel von Chirac, der vor allem seine Grands Travaux, das MQB voranbringen und damit die Aufwertung der arts premiers repräsentativ umsetzen wollte.42 Chirac lotete damit das museal gedachte Verhältnis Frankreichs zu ‚fremden‘ Kulturen insgesamt neu aus. Teil dieser neuen Auslotung waren die Aufwertung der arts premiers im MQB (sowie zuvor im Louvre) und die Integration der Immigration in den nationalen Geschichtskanon über ein eigenes nationales Museum in einem ‚Palast der Republik‘. Dieser Aspekt führt zum letzten erwähnten Spannungsfeld, in das die CNHI eingebunden war und ist. Sie rückte vor allem deshalb auf die politische Agenda Chiracs, weil er nach dem Sieg über Jean-Marie Le Pen und den Front national bei den Präsidentschaftswahlen 2002 seine Wende in Sachen Immigrationspolitik repräsentativ verdeutlichen wollte. Chirac war nicht unbedingt für eine wohlwollende Haltung Vgl. Raizon: Musée du Quai Branly (27.04.2006); „Lionel Jospin annonce la création d’un musée de l’immigration“, in: Le Monde, 24.11.2001. 39 Vgl. u. a. „Le Musée de l’Homme est en crise, sur fond de ‚guerre civile‘“, in: Le Monde, 13.12.2001. 40 „Karneval der Kolonien“, in: Neue Zürcher Zeitung, 31.01.2003. 41 Vgl. u. a. „Un musée pour la France coloniale“, in: Libération, 17.06.2000; „Musée des immigrations ou Musée des colonies?“, in: L’Humanité, 03.12.2003. 42 Vgl. u. a. „Jacques Chirac rend hommage aux ‚peuples humilités et méprisés‘“, in: Le Monde, 21.06.2006; Raizon: Musée du Quai Branly (27.04.2006). 38
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gegenüber Immigration bekannt, wie seine unter dem Schlagwort „Le bruit et l’odeur“ bekannt gewordene Ansprache aus den 1990er-Jahren verdeutlicht.43 Daher brauchte es vermutlich die Bedrohung von rechts, um das Projekt der CNHI für Chirac attraktiv zu machen, der dann seinen langjährigen Vertrauten Jacques Toubon darauf ansetzte.44 Das persönliche Engagement Toubons, das für die Mehrzahl der Beteiligten überraschend kam, war ein wesentlicher Gelingensfaktor für das Projekt. Auch deshalb, weil nicht nur von politischer Seite die Skepsis gegenüber dem Thema Immigration groß war. Auch von Seiten des Kulturministeriums und anderer beteiligter Akteur:innen gab es große Vorbehalte: Jacques Toubon […] avait choisi de travailler […] avec des conservateurs des monuments historiques […] et donc ils ont une conception très stricte de leur éthique professionnel et dans un musée [d’après eux] il faut montrer d’une part des œuvres originales et d’autres part des belles choses et certains [entre eux] ont [demandé]: comment est-ce qu’on va pouvoir faire un musée avec toutes ces choses moches qui concernent l’histoire de l’immigration qui sont le paysage des bidonvilles, des banlieues, des usines, il n’y a aucun objet […].45
Nachdem Chirac das Museum 2003 bzw. 2004 in die Wege geleitet und Toubon es gegen alle Widerstände verteidigt und zur Umsetzung gebracht hatte, tat Chiracs Nachfolger Nicolas Sarkozy allerdings nach der Wahl von 2007 alles, um das Projekt zu delegitimieren. Sarkozy vertrat einen anderen politischen Kurs in Sachen Immigration, der sich vor allem durch Beschränkung, Regulierung und Selektivität auszeichnete. So kündigte er noch während des Wahlkampfes an, ein Ministerium für Immigration und nationale Identität gründen zu wollen, das dann 2007 aus der Taufe gehoben wurde.46 Das wirkte wie ein Frontalangriff auf alles, wofür das Museum stand. Es bildete sich aus dem Planungskomitee des Museums heraus eine Protestgruppe von Akademiker:innen, die in den folgenden Monaten großen Zuspruch erlebte.47 Der Konflikt endete schließlich unter anderem damit, dass ein Teil der Akademiker:innen das Planungskomitee des Museums verließ. Das Museum war damit von Beginn an direkt in politische Debatten und gesellschaftliche Konfliktfelder eingebunden.48 Für Sarkozy machte vor dem Hintergrund seiner eigenen Immigrationspolitik, ein nationales
Ausschnitte aus der Originalrede: Institut national de l’audovisuel: Chirac et l’immigration (20.06.1991). Vgl. Schreiben von Jean-Pierre Raffarin an Jacques Toubon, 10.03.2003, abgedruckt in: Toubon: Rapport au premier ministre (2004), S. 5. 45 Interview mit P. C., 04.02.2015. 46 Vgl. Décret n° 2007–999 du 31 mai 2007 (01.06.2007). 47 Vgl. „‚Nous protestons contre la dénomination et les pouvoirs dévolus à ce ministère‘“, in: Libération, 22.06.2007; „Immigration et identité nationale. Une ‚confusion‘ et une ‚régression‘“, in: Libération, 18.05.2007; „Tentative de subordination des universitaires démissionnaires“, in: L’Humanité, 21.05.2007; Valluy: Quelles sont les origines (2008). 48 Vgl. „La Cité de l’immigration naît dans la douleur“, in: Le Figaro, 08.10.2007. 43 44
Das Museum als Quelle
Museum für Immigration keinen Sinn. Weder er noch eine seiner Ministerinnen oder einer seiner Minister eröffnete daher das Museum 2007 offiziell: Nicolas Sarkozy est en Russie, Brice Hortefeux, le ministre de l’Immigration, en Espagne. Les agendas de François Fillon et de Valérie Pécresse, la ministre de l’Enseignement supérieure et de la Recherche, ne prévoient rien, et chez Xavier Darcos, ministre de l’Éducation nationale, la question suscite l’incompréhension: ‚La Cité de quoi?‘ ‚De l’immigration?‘ ‚Il se passe quelque chose de particulier cette semaine?‘ Oui, La Cité nationale de l’histoire de l’immigration (CNHI), musée national s’il vous plaît, premier du genre en France voire en Europe, ouvre ses portes au public ce matin. Côté inauguration officielle, en revanche, on attendra. Des quatre ministres en tutelle, seule Christine Albanel, la ministre de la Culture, s’y rendra ce soir, à 19 heures, non pas pour l’inaugurer, mais pour le visiter.49
Die politische Missachtung und offene Infragestellung der Institution führte zu einer „blessure“50, wie es eine Mitarbeiterin des Museums formulierte, die nur sehr langsam heilen würde. Das Gefühl im Stich gelassen zu werden, verstärkte sich konkret durch den politischen Umgang mit der Besetzung des Museums 2010 durch sans-papiers.51 Die Demonstrant:innen wollten erreichen, dass die Bearbeitung ihrer Anträge und damit ihre Legalisierung deutlich beschleunigt wird. Sie erkannten die CNHI als den Ort, den sie für sich beanspruchen konnten, da er sich ihrer Geschichte widmete.52 Sie besetzten das Museum über mehrere Monate, was den Betrieb des Hauses massiv einschränkte und zu heiklen Situationen führte.53 Die Politik hielt sich dabei weitestgehend zurück und ließ die Institution mit dem Problem lange allein. Das führte in der Folge von Seiten des Museums zu einem Abwehr- bzw. Schutzreflex: Man wollte in keinerlei Hinsicht mehr Ort der Kontroverse sein, obwohl man doch genau das aufgrund der eigenen Aufgabe sein musste.54 Dieses Dilemma löste sich im Laufe der Zeit nur sehr langsam mit der Präsidentschaft François Hollandes und seiner offiziellen Eröffnung des Museums, die unter Sarkozy ausgeblieben war. Hollande hatte bereits während der Nicht-Eröffnung des Museums 2007 die Gunst der Stunde genutzt und versichert, dass falls er Präsident werden würde, er das Museum gebührend eröffnen werde.55 Mit der Einlösung des Versprechens wurde das Selbstbe-
„Pas de flonflons pour la Cité de l’immigration“, in: Libération, 10.10.2007. Interview mit K. I., 10.02.2015. Vgl. u. a. „Les sans-papiers inaugurent la cité de l’immigration“, in: Libération, 15.10.2010. Vgl. u. a. „L’histoire de Mody par lui-même“, in: Musée national de l’histoire de l’immigration (Hg.): Guide de la Galerie des dons (2014), S. 185. 53 Die sans-papiers schliefen u. a. in dem Gebäude, was die Sicherheit der Exponate, aber auch des Personals beeinträchtigte. So kam es zu aggressiven Auseinandersetzungen zwischen sans-papiers und Personal, vgl. u. a. „Des sans-papiers délogés du musée de l’immigration“, in: L’Express, 28.01.2011. 54 Siehe den Wortbeitrag Jacques Hainards anlässlich der Konferenz „1931, Les étrangers au temps de l’Exposition coloniale“, vgl. Musée national de l’histoire de l’immigration: À écouter (17.06.2008). 55 Vgl. „La gauche s’invite à l’ouverture de la Cité de l’immigration“, in: Le Figaro, 11.10.2007. 49 50 51 52
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wusstsein der Institution gestärkt und sie konnte das Image eines „musée fantôme“56, wie es noch 2010 ein Journalist in Le Monde bezeichnet hatte, ablegen. 3.
Fazit und Ausblick
Insgesamt lässt sich anhand der vier Spannungsfelder und den dazu gehörigen Thesen für die Geschichte des Palais zwischen 1931 und 2017 Folgendes konstatieren: Der Palais hat durchgängig Museen beherbergt, die in irgendeiner Form das nationale ‚Wir’ in Relation zu einem ‚kulturell bzw. ethnisch Anderen’ gesetzt haben.57 Dabei blieb das ‚Wir’ erstaunlich stabil, während das ‚Fremde / Andere’ sich durchaus signifikant wandelte: vom fernen, exotischen, kolonialen ‚Anderen’, das sowohl Faszination wie Abscheu hervorrief, bis hin zum ‚migrantischen Fremden’, das es nun in die Nation und ihre Geschichte zu integrieren galt. Über alle musealen Schichten des Ortes hinweg erwies sich dabei das Narrativ des Beitrags / Austauschs als wesentlich für die ‚Erzählung des Anderen / Fremden’: von der anfänglichen Idee eines wirtschaftlichen Beitrags an die Metropole, im Austausch mit Zivilisation, Werten usw. bis hin zur Bewahrung der arts premiers / primitifs als Teil der Weltkunst. Selbst mit der Hinwendung zur Immigration, die nun ein deutlich verändertes ‚Fremdes / Anderes’ meinte, vor allem weil in der Nation präsent, änderte sich dies nicht. Integration wird hier primär über den kulturellen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen usw. Beitrag der Immigrant:innen zur Entwicklung der Nation gedacht. Im Sinne Tony Bennetts hat sich damit am Machtgefüge, das sich in der Inszenierung und Repräsentation spiegelt, nicht viel geändert.58 Dazu trug durchaus auch das beachtliche und ungewöhnliche zivilgesellschaftliche Engagement verschiedener Akademiker:innen seit den 1980er-Jahren bei, die meist zugleich einen großen Anteil an der Etablierung des Forschungsfeldes Immigrationsgeschichte hatten.59 Ihr Wille, die Bedeutung von Immigration für die französische Nation über eine Hervorhebung der Leistungen und Beiträge der Immigrant:innen zur französischen Gesellschaft zu verdeutlichen und dabei eine miserabilistische Vision des Phänomens abzulehnen,60 hat sich in das Narrativ der CNHI eingeschrieben. Zwar entsprach es sicherlich nicht ihrer Absicht, das koloniale Narrativ des Beitrags fortzuschreiben, gleichzeitig vollzieht sich dieser Prozess aber automatisch und unbewusst über den Willen der Anerkennung dieses Teils missachteter französischer Geschichte. „Le musée fantôme“, in: Le Monde, 20.03.2010. Vgl. L’Estoile: Le goût des Autres (2010). Vgl. Bennett: Exhibition, Difference, and the Logic of Culture (2006), S. 58 f. Eine ganze Generation von Historiker:innen, die zum Thema Immigration promoviert hat, taucht bei den Planungen zu dem Museum für Immigration wieder auf. Allen voran Gérard Noiriel, aber auch Ralph Schor, Janine Ponty, Nancy Green, Catherine Wihtol de Wenden sowie Patrick Weil. Siehe dazu Lübbecke: Die Cité nationale de l’histoire de l’immigration (2020), S. 178–183. 60 Vgl. Toubon: Rapport au premier ministre (2004), S. 149–151. 56 57 58 59
Das Museum als Quelle
Diese Missachtung zeigt sich auch in dem äußerst kleinen politischen Zeitfenster, in dem die CNHI nur mit der massiven Unterstützung einer politischen Figur wie Jacques Toubon zustande kommen konnte. Immigration war zu Beginn der 2000er-Jahre öffentlich und politisch immer noch wenig konsensfähig. Mit ihrer Eröffnung hatte die Institution mit starkem politischen Gegenwind zu kämpfen, was bis hin zu einer Art institutioneller Verletzung durch ausbleibende Unterstützung führte. Die Folge war eine vermehrte Weigerung, sich als Ort der Debatte zu verstehen. Diese Verweigerung der Kontroverse trat zunehmend in Konflikt zu der Zielsetzung im Hinblick auf Immigration, Wahrnehmung verändern und Stereotype aufbrechen zu wollen. Die Wahl des Ortes für das Immigrationsmuseum zeigt eine erstaunliche Naivität und Abwehrhaltung im Umgang mit der kolonialen Vergangenheit, selbst bei den am Planungsprozess beteiligten Expert:innen. Neben der anfänglichen Annahme, die Umnutzung werde auch zu einer Umdeutung führen, herrschte die Meinung vor, dieser ‚Tempel der Republik‘ könnte die Immigration aufwerten helfen und ihr einen würdigen Platz in der Pariser Museumslandschaft zugestehen.61 Parallel und konsequent fand eine Ausgrenzung des Themas Kolonialgeschichte im Laufe der Planungen statt. Seitdem versucht man, das Thema Kolonialismus in mittlerer Distanz und temporärer Toleranz zu halten. Bisher wird die koloniale Vergangenheit des Ortes abseits der Dauerausstellung in Bereichen verhandelt, die nicht auf den ersten Blick ersichtlich sind. Einerseits werden über den Parcours, der durch eine Beschilderung im und am Gebäude sichtbar wird, dezente Hinweise zur Entstehungsgeschichte und dem ursprünglichen Konzept des Ortes gegeben. So werden die ehemaligen Büros von Maréchal Lyautey und Paul Reynaud62 im Erdgeschoss oder auch die Fresken im Atrium auf diese Art kurz (re-)kontextualisiert. Andererseits gibt es seit Ende 2013 eine kleine historische Ausstellung im Zwischengeschoss um das Atrium herum.63 Auf sie wird allerdings kaum hingewiesen, sodass sich hier nur selten Besucher:innen hin verirren; zumal sie recht kurzgehalten ist und lediglich überblicksartig die verschiedenen Phasen des Museums resümierend darstellt. Eine weitere Strategie besteht darin, das Thema Kolonialismus in Wechselausstellungen zu behandeln,64 was den Vorteil der temporären Präsenz hat – so konnte man dieser Thematik einen Platz ohne ‚zu stören‘ geben.
Vgl. Interview mit P. C., 04.02.2015. Sie hatten hier im Zuge der Exposition coloniale internationale von 1931 repräsentative Büros erhalten, da Lyautey von Reynaud, dem damaligen Kolonialminister, als organisatorischer und kuratorischer Leiter der Schau eingesetzt worden war. 63 Vgl. Établissement public du Palais de la Porte Dorée: Rapport d’activités (2012), S. 11–14; Lübbecke: Die Cité nationale de l’histoire de l’immigration (2020), S. 382–385. 64 Angefangen bei einer der ersten Ausstellungen 2008 „1931, les étrangers au temps de l’exposition coloniale“ über „Générations, un siècle d’histoire culturelle des Maghrébins en France“ von 2009/10 oder „Vies d’exil – 1954–1962. Des Algériens en France pendant la guerre d’Algérie“ von 2012. 61 62
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Mit der Übernahme der Leitung des Hauses durch Benjamin Stora 2014 hat sich der Ort strukturell in einen belebten, vom Publikum frequentierten Ort gewandelt, der auch mit ‚Blockbuster‘-Ausstellungen wie „Fashion Mix“ 2014/15 aufwarten konnte.65 Doch erst in jüngerer Vergangenheit und unter anderem unter der Leitung des Historikers Pap Ndiaye seit 2021 beginnt sich das Museum auch inhaltlich zu verändern. So wurde 2019/20 der Historiker Patrick Boucheron mit einer Überarbeitung der Dauerausstellung beauftragt.66 Es stellt sich nun erneut die Frage, ob mit dieser Überarbeitung eine deutlichere und fruchtbarere Verbindung der Themen Kolonialismus und Immigration an diesem Ort stattfinden wird. Schließlich hatte Laurent Gervereau bereits in den 1990er-Jahren einen Vorschlag in diese Richtung ausgearbeitet,67 der aber weitestgehend unberücksichtigt blieb. Daher ist dieser Ort bis auf Weiteres vor allem deshalb bedeutsam, weil er in erstaunlichem Ausmaß die blinden Flecken der öffentlichen Debatte um Immigration und Kolonialismus zum Vorschein bringt und wie eine alte Narbe immer wieder zu schmerzen scheint. Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen
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Vgl. Saillard (Hg.): Fashion Mix (2014). Vgl. Musée national de l’histoire de l’immigration: Faire musée d’une histoire commune (12.02.2020). Vgl. Gervereau: Projet / Rapport „Palais de l’Image“ (1999).
Das Museum als Quelle
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Gwendolin Lübbecke
Interviews Interview mit C. C., 18.05.2015 (Dauer: 01 Std. 29 min. 45 sec.). Interview mit K. I., 10.02.2015 (Dauer: 01 Std. 03 min. 33 sec.). Interview mit P. C., 04.02.2015 (Dauer: 40 min. 01 sec.).
Periodika Le Figaro, Paris: 08.10.2007, 11.10.2007. Le Monde, Paris: 09.01.1992, 24.11.2001, 13.12.2001, 25.03.2005, 21.06.2006, 20.03.2010. Libération, Paris: 06.02.1997, 17.06.2000, 13.12.2005, 18.05.2007, 22.06.2007, 10.10.2007, 15.10.2010. L’Express, Paris: 28.01.2011. L’Humanité, Paris: 03.12.2003, 21.05.2007. Neue Zürcher Zeitung, Zürich: 31.01.2003. Télérama, Paris: 14.10.2017.
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Das Museum als Quelle
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Gwendolin Lübbecke, Studium der Fächer Kunst und Französisch für das Lehramt an Gymnasien an den Universitäten Kassel und Amiens, 2012–2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Geschichte Westeuropas im 19. und 20. Jahrhundert, 2017–2019 Referendariat am Studienseminar in Fulda, 2018 Promotion im Fach Neuere Geschichte an der Universität Kassel mit dem Titel Die Cité nationale de l’histoire de l’immigration im Palais de la Porte Dorée. Transformationen eines Kolonialpalastes von 1931 bis heute, seit 2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin (Postdoc) am Lehrstuhl für Kunstpädagogik an der Kunsthochschule Kassel und Lehrerin an einem Kasseler Gymnasium. Forschungsschwerpunkte: Erinnerungskultur in Westeuropa; koloniale Vergangenheit Frankreichs; Museumsgeschichte; postkoloniale Perspektiven auf Schule; Macht- und Hierarchiegefüge in der Kunstvermittlung; die Rolle des Kanons im Kunstunterricht; außereuropäische Kulturen im schulischen Kunstunterricht.
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„The Key to a United Europe“ Deutsch-französische Aussöhnung und amerikanische Kulturdiplomatie an der Saar (1945–1964)
MELANIE BARDIAN
1. Einführung
Die Geschichte der deutsch-amerikanischen Beziehungen allgemein1 und das Feld der offiziellen kulturellen Beziehungen – hier als Kulturdiplomatie2 umschrieben – ist bereits breit erforscht. Diverse Publikationen beschäftigen sich zum Beispiel mit der Rolle der zuständigen US-Auslandsbehörde, der United States Information Agency (USIA),3 oder auch mit den Institutionen und Programmen speziell in Deutschland;4 auch die Amerika Häuser und späteren Deutsch-Amerikanischen Institute (DAI) waren bereits Gegenstand etlicher Forschungsarbeiten.5 Im Gegensatz dazu weist die Historiografie der saarländisch-amerikanischen Beziehungen noch etliche Lücken auf, wenn auch die hiesige Deutsch-Amerikanische Bücherei (DAB) sowie das Saarbrücker Amerika Haus, das 1961 aus dieser hervorging, bereits Beachtung fanden.6
Zum Beispiel aktuell Junker: Deutschland und die USA (2021). Zum Konzept der cultural diplomacy siehe z. B. Gienow-Hecht / Donfried: The Model of Cultural Diplomacy (2013), S. 13–25. 3 Beispielhaft Arndt: The First Resort of Kings (2005); Cull: The Cold War and the United States Information Agency (2008); zur Zeit nach dem Boom der US-Kulturdiplomatie siehe Notaker / Snyder / ScottSmith (Hg.): Reasserting America in the 1970s (2016). 4 Vgl. insbesondere Klöckner: Public Diplomacy (1992); Ohmstedt: Von der Propaganda zur Public Diplomacy (1993); Aguilar: Cultural Diplomacy and Foreign Policy (1996); Metzinger: Hegemonie und Kultur (2005); Hartmann: Kalter Krieg der Ideen (2015). 5 Zum Beispiel Bungenstab: Entstehung, Bedeutungs- und Funktionswandel der Amerikahäuser (1971); Doering-Manteuffel: Dimensionen von Amerikanisierung (1995); Schildt: Die USA als Kulturnation (1996); ders.: Zwischen Abendland und Amerika (1999); Hein-Kremer: Die Amerikanische Kulturoffensive (1996); Kreis: Orte für Amerika (2012); Hooper: Designing Democracy (2014). 6 Bisher zu diesem Themenkomplex erschienen sind lediglich Hein-Kremer: Die Amerikanische Kulturoffensive (1996); Busemann: Il était une fois (2013); Wernet: 50 Jahre DAI Saarbrücken (2007). 1 2
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Ein Desiderat ist unter anderem die Frage, weshalb die amerikanische Kulturdiplomatie an der Saar erst nach der Lösung der Saarfrage aktiv wurde. Marita Hein-Kremer konstatiert, dass es „bemerkenswert“7 erscheine, dass die USA nach der Rückgliederung des Saarlandes eine hiesige kulturelle Betreuung als notwendig erachteten. Dies insbesondere vor dem Hintergrund der damaligen Reorganisation und finanziellen Einbußen des Amerika-Haus-Programms in der Bundesrepublik.8 Laut Juliane Wernet erfolgte die Eröffnung der ersten kulturellen Präsenz der USA an der Saar erst zwölf Jahre nach Kriegsende „aufgrund der saarländischen Sondersituation“9. Wilfried Busemann vermutet, dass der Grund für die Absenz in einer Rücksichtnahme Amerikas gegenüber dem französischen Alliierten zu suchen sei.10 Genauere quellenbasierte Erklärungsversuche fehlen indes. Hier möchte dieser Beitrag ansetzen: Es soll diskutiert werden, ob die amerikanische kulturdiplomatische Zurückhaltung an der Saar tatsächlich auf eine Rücksichtnahme gegenüber Frankreich fußte und wie sie mit der saarländischen Sondersituation interferierte. Galt die Saar in Teilen der US-Regierung und -Medienlandschaft gar als Schlüssel zur deutsch-französischen Verständigung und somit zur europäischen Einigung, mit dem es vorsichtig umzugehen galt? Um sich dieser Frage anzunähern, werden im Folgenden die offiziellen saarländisch-amerikanischen Kulturbeziehungen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges vor dem Hintergrund der deutsch-französischen Einigung betrachtet. Auf diese Weise sollen die Interdependenzen zwischen der amerikanischen Kultur- und Informationspolitik einerseits und der Förderung der deutsch-französischen Annäherung an der Saar andererseits aufgezeigt werden. Diese lassen sich grob in drei Thesen herunterbrechen: 1. Teile der amerikanischen medialen und politischen Öffentlichkeit sahen im Saarland einen Schlüssel zur deutsch-französischen Aussöhnung und somit zur europäischen Verständigung. 2. Sowohl bei der zögerlichen Haltung der USA zu Saarstaatszeiten als auch bei den Entscheidungen, die DAB zu gründen und auszubauen, spielte diese Sichtweise eine Rolle. 3. Einige Programme der DAB und des Amerika Hauses sowie öffentliche Verlautbarungen rund um diese zeugen davon, dass diese Institutionen der USKulturdiplomatie pro-europäische Strömungen und den saarländisch-französischen Austausch fördern sollten.
Hein-Kremer: Die Amerikanische Kulturoffensive (1996), S. 533. Nach dem Höhepunkt des Amerika-Haus-Programms 1950/51 wurden viele Amerika Häuser sukzessive geschlossen, vgl. Schumacher: Kalter Krieg und Propaganda (2000); Kreis: Orte für Amerika (2012), S. 29 f. 9 Wernet: 50 Jahre DAI Saarbrücken (2007), S. 14. 10 Vgl. Busemann: Il était une fois (2013), S. 168. 7 8
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Die Ausführungen gliedern sich in drei Teile – entsprechend den organisatorischen Etappen der US-Kulturarbeit an der Saar: von der kulturdiplomatischen Absenz nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur Gründung der DAB und deren Umwandlung in ein Amerika Haus. Fokussiert werden hierbei die Wechselwirkungen zwischen der USKulturarbeit und der deutsch-französischen Aussöhnung sowie der europäischen Integration. Da all dies mit der Sonderrolle des Saarlandes interferierte, startet der Beitrag mit einer kurzen Erörterung der Saarfrage aus US-amerikanischer Sicht. Als Schlusspunkt wird der Botschaftsbesuch in Saarbrücken im Jahr 1964 gewählt. Bei diesem Ereignis wird der Nexus zwischen amerikanischem Werben für die deutschamerikanische Partnerschaft und der Förderung der deutsch-französischen sowie europäischen Verständigung durch die USA besonders augenscheinlich. Auch wurden die Verlautbarungen McGhees medial breit rezipiert, weshalb seine Stippvisite wohl zumindest als vorläufiger Höhepunkt dieser Bestrebungen der amerikanischen Kulturdiplomatie an der Saar gedeutet werden kann. Die Bedeutung des Zusammenhangs zwischen Reeducation, Reorientation und Ame rikanisierung im Zuge des Amerika-Haus-Programms,11 der verfolgten hegemonialen Absichten der USA12 oder auch wirtschaftspolitischer Motive13 soll hier keinesfalls geschmälert oder gar negiert werden. Durch diesen speziellen Blickwinkel soll die Vielschichtigkeit der amerikanischen Deutschland- und Kulturpolitik veranschaulicht sowie die Besonderheit der US-Kulturdiplomatie an der Saar reflektiert werden. Gleichzeitig bettet sich die Untersuchung in die Forschungslandschaft zur amerikanischen Europapolitik nach dem Zweiten Weltkrieg ein, in der der amerikanische Beitrag zur europäischen Integration verstärkt betont wird.14 2.
Die USA und der Saarstaat
2.1.
Die US-Regierung und die Saarfrage
Das Gebiet des heutigen Saarlandes nahm nach dem Zweiten Weltkrieg eine Sonderrolle ein: Im August 1945 wurde es einem Sonderregime der französischen Militärverwaltung unterstellt und im darauffolgenden Jahr durch eine Zollgrenze von der
Vgl. u. a. Doering-Manteuffel: Dimensionen von Amerikanisierung (1995); Hooper: Designing Democracy (2014). 12 Zum Beispiel Schumacher: Kalter Krieg und Propaganda (2000). 13 Dass bei der Etablierung des Amerika Hauses in Saarbrücken 1961 wirtschaftliche Motive eine Rolle spielten, verdeutlicht nicht zuletzt die Rede des US-Gesandten Brewster Morris anlässlich der feierlichen Eröffnung der Einrichtung, vgl. StASB, V 40–252: „Deutsch-Amerikanisches Institut Saarbrücken: Demonstration gemeinsamen Lebensstils“, in: Saarbrücker Allgemeine Zeitung, 28.11.1961. 14 Vgl. u. a. Doering-Manteuffel: Amerikanisierung und Westernisierung (19.09.2019); Clemens (Hg.): Werben für Europa (2016); Schwabe: Weltmacht und Weltordnung (2011). 11
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restlichen französischen Besatzungszone abgetrennt. Im Dezember 1947 trat die saarländische Verfassung in Kraft. Prägend für den teilautonomen Saarstaat waren neben der Präambel der Verfassung zusätzliche saarländisch-französische Konventionen, die den wirtschaftlichen Anschluss an Frankreich sowie die Möglichkeit französischer Einflussnahme fixierten. Nachdem die saarländische Bevölkerung 1955 das Saarstatut und somit die Europäisierung des Saarlandes abgelehnt hatte, fand 1957 die „kleine Wiedervereinigung“15 statt und das Saarland wurde politisch Teil der Bundesrepublik. Perfekt wurde die Rückkehr des Saarlandes mit dem wirtschaftlichen Anschluss zum „Tag X“ am 6. Juli 1959.16 Zuvor aber avancierte die ungelöste Saarfrage zu einem Stolperstein der deutschfranzösischen Annäherung, der auch die europäische Integration zu behindern drohte.17 Dies war den USA zunehmend ein Dorn im Auge, die schon früh für die Lösung im Rahmen eines Friedensvertrags plädierten und die Forderungen Frankreichs teilweise als überhöht betrachteten.18 Als „vorläufigen Höhepunkt“19 der französischen Saarpolitik bezeichnet Rolf Steininger die zähen Verhandlungen zur Mitgliedschaft der Saar im Europarat, bei denen Außenminister Robert Schuman auf die Aufnahme des Saarlandes als assoziiertes Mitglied pochte. Spätestens hier zeigte sich das große Konfliktpotenzial der Saarfrage, die den europäischen Integrationsprozess verlangsamte und die USA und Großbritannien als Vermittler zwischen Frankreich und Deutschland auf den Plan riefen.20 Aus Sicht der USA galt es zu vermeiden, den völkerrechtlichen und politischen Status der Saar vor einem Friedensvertrag zu präjudizieren und das prioritäre Ziel der erfolgreichen Westintegration der Bundesrepublik zu gefährden.21 Zur Überwindung der Saarfrage, die als „source of difficulty in Europe, and a major obstacle to FranceGerman rapprochement“22 galt, wurde spätestens ab 1951 die Internationalisierung der Saar innerhalb des Nachrichtendienstes des State Department diskutiert. 1952 empfahlen Stellen des US-Außenministeriums einen internationalen Status der Saar unter Verwaltung des Europarats, wobei auch hier endgültige Regelungen für einen Friedensvertrag aufgespart werden sollten.23 Gleichzeitig wurde auf Paris und Saarbrücken Der Begriff geht angeblich auf das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen zurück, vgl. Elzer: Die deutsche Wiedervereinigung an der Saar (2007), S. 21. 16 Für einen prägnanten Abriss der saarländischen Geschichte siehe Gestier: Das älteste der neuen Bundesländer (2006). 17 Vgl. z. B. Steininger: Deutschland und die USA (2014), S. 97–101. 18 Vgl. Cahn: Bonn und die Saarfrage (2007), S. 138. 19 Steininger: Deutschland und die USA (2014), S. 97. 20 Vgl. zur Thematik der französischen Deutschlandpolitik Hüser: Frankreichs „doppelte Deutschlandpolitik“ (1996); zum Kontext der Saarfrage ders.: Die Saar in den internationalen Beziehungen (1997). 21 Vgl. Heinen: Die Saarfrage (2005), S. 129; Steininger: Deutschland und die USA (2014), S. 98. 22 RIAS, OSS, State Department Reports, Europe, 1945–1961, Part 10: Office of Intelligence Research, Report No. 5577, The Status of the Saar, 13.09.1951, S. 13. 23 Vgl. Kerkhoff: Großbritannien, die Vereinigten Staaten und die Saarfrage (1996), S. 162. 15
„The Key to a United Europe“
eingewirkt, um keine unabgestimmten Schritte zur Stärkung der saarländischen Autonomie zu unternehmen.24 Laut Martin Kerkhoff zeichnete sich bei der Außenministerkonferenz der EGKS in Paris 1952 „ein erster Erfolg der anglo-amerikanischen Vermittlungsbemühungen ab“25, als der französische Außenminister Robert Schuman anregte, Saarbrücken zum ständigen Sitz der Montanunion zu machen, sollte man sich auf eine Europäisierung der Saar einigen können. Die Saarproblematik interferierte jedoch nicht nur mit außenpolitischen Fragen, sondern stets auch mit französischen und bundesdeutschen innenpolitischen Zwängen.26 Im Kontext der schwierigen Verhandlungen um die Europäische Verteidigungsgemeinschaft gab James Conant, Hoher Kommissar der USA in der Bundesrepublik, zu verstehen, dass auch die Popularität Adenauers bedacht werden müsse. 1954 schrieb er dem US-Außenministerium: „We must point out that Saar solution, which cost Chancellor and integration policy too much in popularity would be real disservice to Franco-German relations.“27 Dass die USA Rücksicht auf die deutschen Positionen nahmen, erklärt sich zudem vor dem Hintergrund des Ost-West-Konfliktes.28 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass für die USA die Westintegration der Bundesrepublik und der deutsch-französische Ausgleich im Fokus standen und die Lösung der Saarfrage diesen Prioritäten nachstand.29 Trotz der Vermittlerrolle hielt sich Washington allerdings merklich zurück. In diesem Sinne bilanziert Martin Kerkhoff, dass Amerika gutnachbarschaftliche Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Frankreich als unabdingbare Voraussetzung für die angestrebte gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik Westeuropas ansah und dies nach der Logik der US-Regierung nur erreicht werden konnte, „wenn sich Deutsche und Franzosen zu einer einvernehmlichen Regelung der Saarfrage durchrangen und nicht, wenn ihnen die Regelung von außen aufgezwungen wurde“30. Die Zurückhaltung der USA charakterisiert er als roten Faden, der sich nicht nur durch die Saarfrage gezogen habe.31
Vgl. ebd., S. 164. Ebd., S. 165. Vgl. ebd.: S. 86 f.; Hüser: Frankreichs „doppelte Deutschlandpolitik“ (1996). The United States High Commissioner for Germany (Conant) to the Department of State, 26.01.1954, No. 665, in: Baehler / Bernbaum / Sampson (Hg.): FRUS, 1952–1954, Volume VII, Part 2 (1986), S. 1488– 1490, hier S. 1489. Zur Unterstützung Adenauers durch die USA vgl. Schumacher: Kalter Krieg und Propaganda (2000), S. 250–258. 28 Vgl. The United States High Commissioner for Germany (Conant) to the Department of State, 25.03.1954, No. 675, in: Baehler / Bernbaum / Sampson (Hg.): FRUS, 1952–1954, Volume VII, Part 2 (1986), S. 1505 f. 29 Vgl. Heinen: Die Saarfrage (2005), S. 129. 30 Kerkhoff: Großbritannien, die Vereinigten Staaten und die Saarfrage (1996), S. 11. 31 Vgl. ebd. 24 25 26 27
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2.2.
Amerikanische Kulturdiplomatie nach dem Zweiten Weltkrieg
Wie einleitend erwähnt, hielten sich die USA auch auf kulturellem Gebiet an der Saar zurück; amerikanische Aktivitäten zur Zeit des Saarstaates lassen sich kaum detektieren.32 Die Problematik wird mit Betrachtung eines geplanten saarländisch-amerikanischen Studierendenaustauschs mit der Saarbrücker Schule für Kunst und Handwerk deutlich. Dem damaligen Leiter Hermann ‚Henry‘ Gowa teilte die zuständige US-Behörde für Austauschprogramme in Wiesbaden mit: Was den Austausch von Studenten aus dem Saarland betrifft, so ist damit eine Reihe von sehr komplizierten politischen Fragen verknüpft, die ich selbst nicht beantworten kann. Das Problem wäre gelöst, wenn das Saarland entweder Teil Frankreichs oder Deutschlands wäre.33
Die ungelöste Saarfrage wirkte sich also auf die saarländisch-amerikanischen Kulturbeziehungen aus und mündete auch auf diesem Feld in amerikanische Zurückhaltung. Dass diese kulturelle Absenz der USA auch durch eine Rücksichtnahme gegenüber Bonn motiviert war, verdeutlich eine weitere Episode. 1953 wurde eine USA-Studienreise der saarländischen Industrie- und Handelskammer (IHK) verschoben. Über die Hintergründe schrieb der Gesandte des Saarlandes in Paris dem Auswärtigen Amt der Saarregierung: Wie mir vertraulich erklärt wurde, habe sich die diplomatische Vertretung der Bundes republik in Washington entschieden gegen die Abreise der saarländischen Mannschaft nach den USA vor den Bundestagswahlen ausgesprochen. Die zuständige MSA-Dienststelle habe daraufhin von höchster Stelle, nämlich von State Department und von ihrem obersten Chef, Mr. Harold Stassen, Anweisung erhalten, die saarländische Mannschaft erst im Herbst in den USA zu empfangen. Dagegen waren weitere Vorstellungen aussichtslos, da die Reise von den USA finanziert und in den USA organisiert wird, sodass ihr infolgedessen letztlich die Entscheidung über den Zeitpunkt der Abreise zusteht.34
Ob dieser Grund tatsächlich für das Verschieben der Reise verantwortlich gemacht werden kann, bleibt unklar. Fest steht, dass die Reise der IHK-Delegation erst im Frühjahr 1954 – also nach den Bundestagswahlen – stattfand.35
Recherchen im Landesarchiv des Saarlandes blieben fast ohne Ergebnis. Kulturelle Aktivitäten scheinen sich auf Austauschprogramme im Rahmen der Mutual Security Agency (MSA = Amt zur Verwaltung der Mittel des European Recovery Program) beschränkt zu haben. 33 LASB, Sf KuH 30: Exchange Branch Wiesbaden an Henry Gowa, 31.03.1950. 34 LASB, AA 622: Straus (Gesandter des Saarlandes) an das Auswärtige Amt des Saarlandes, 14.09.1953. 35 Der Generalsekretär der Industrie- und Handelskammer des Saarlandes Dietrich dankte dem Ministerpräsidenten für die Unterstützung der Reise, die vom 24.03. bis zum 30.04.1954 stattgefunden habe, vgl. LASB, StK 3165: Dietrich (IHK) an Johannes Hoffmann, 11.12.1954. 32
„The Key to a United Europe“
Beide Begebenheiten verdeutlichen, wie verwoben Politik und Kulturdiplomatie waren und dass sich die USA aus politischen Zwängen heraus kulturell an der Saar zurückhielten. Dies könnte auch mit dem kritischen Blick auf die Stabilität der bundesrepublikanischen Demokratie zu erklären sein.36 Ein zu großes Engagement an der Saar hätte gewisse Teile der bundesrepublikanischen Regierung und Öffentlichkeit wohl brüskieren können – hätte man doch kulturdiplomatische Beziehungen zur Saar als offizielles amerikanisches Bekenntnis zum saarländischen Status quo deuten können. Dies galt es zu vermeiden, wollte man doch durch eine Schwächung Adenauers der deutsch-französischen Verständigung keinen Bärendienst erweisen.37 Problematisch war auch die administrative Struktur der saarländisch-amerikanischen Beziehungen. Diplomatisch und wirtschaftlich ‚gehörte‘ der Saarstaat zu Frankreich: das Saarbrücker US-Konsulat war an das Generalkonsulat in Strasbourg angegliedert,38 die Verteilung der Mittel des European Recovery Program lief über Paris.39 Dass die USA saarländische Waren mit ‚Made in the France-Sarre Economic Union‘ deklarierten,40 scheint symptomatisch: Die USA vermieden es auf kulturellem wie ökonomischem Gebiet, die Saar offiziell als eigenständig oder Teil Frankreichs zu bezeichnen. Schließlich galt es – grade hinsichtlich der Sowjetunion – zu demonstrieren, dass alle endgültigen Grenzziehungen durch gemeinsame Abkommen und freie Wahlen zu legitimieren sind. Die Saar durch kulturelle Programme als eigenständigen Staat oder als Teil Frankreichs zu hofieren, hätte dieses Ziel wohl genauso unterminiert, wie saarländischen Produkten explizitere Herkunftsbezeichnungen zuzuschreiben. Es zeigt sich, dass die US-Kulturdiplomatie an der Saar ebenso den deutschland- und europapolitischen Zwängen im Zeichen des Kalten Krieges unterworfen war wie die politischen Beziehungen. 2.3.
US-Medien und die Saarfrage
In den USA scheint es gewisse öffentliche Kreise gegeben zu haben, die sich für die Saarproblematik interessierten und die Idee der Europäisierung der Saar mit Sehnsüchten nach einem geeinten Europa verknüpften. Die Korrespondenzen zwischen der International Herald Tribune und der Saarregierung deuten darauf hin, dass der Saarstaat einen mächtigen Medienvertreter an seiner Seite hatte. Laut Gunter Kundruhn, Advertising Representative for the Saar der europäischen Ausgabe der Herald Tribune, habe die Zeitung „[i]n der Erkenntnis, welche Bedeutung das Saarland als versöhnendes und aus-
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Vgl. u. a. Rupieper: Peacemaking with Germany (2005), S. 46. Siehe Anm. 27. Siehe hierzu z. B. LASB, InfA 456. Vgl. Heinen: Saarjahre (1996), S. 175. Vgl. ebd.
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gleichendes Bindeglied zwischen Frankreich und Deutschland für die so notwendige Einigung ganz Europas gewinnen würde“41, bereits 1950 ein ständiges Büro in Saarbrücken eingerichtet. Die saarländischen Bemühungen zur Europäisierung der Saar sah die Herald Tribune als „vielleicht sogar letzte Möglichkeit, eine deutsch-französische Verständigung und so die Einheit Europas zu erreichen“ und versprach „dieser Idee zum Erfolg zu verhelfen“42. Konkret waren damit Werbemaßnahmen gemeint. In diesem Sinne korrespondierte Gunter Kundruhn 1953 auch mit dem saarländischen Ministerpräsidenten: Im Hinblick auf die zwingende Notwendigkeit, das sogenannte ‚Saar-Problem‘ zu lösen, ehe an eine echte französisch-deutsche Freundschaft gedacht werden kann, und auf die Möglichkeiten einer Europäisierung des Saarlandes als Sitz der Montan-Behörden begann die Herald Tribune im Sommer dieses Jahres mit der Vorbereitung einer Saar-Sonderbeilage in beiden Ausgaben.43
Im Januar 1954 erschien diese 15-seitige Saarbeilage. Links auf dem Titelblatt ist eine Erklärung von Johannes Hoffmann zu sehen.44 Rechts befinden sich mehrere Einführungen von Artikeln zum Beispiel zu „Saarlands Favor of Being Europeanized“45 und „Bonn For ‚European‘ Solution“46. Besonders augenfällig wurde zudem die „European University of the Saar“47 beworben, deren Anzeige fast eine volle Seite umfasst. Kurz darauf teilte Kundruhn dem Saarbrücker Informationsamt mit, dass die Zeitung den Entwurf einer Anzeige für den „Welt-Reiseführer“ der New York Herald Tribune ausgearbeitet habe, „der dem Wesen und den Zielen des Saarlandes würdigen Ausdruck zu verliehen sucht, und der gleichzeitig seiner Wirkung besonders auf der amerikanischen Öffentlichkeit sicher ist“48. Blickt man auf die Illustration, sticht zunächst der große Schriftzug – „the Key to a United Europe. THE SAAR“ – ins Auge. Darüber befindet sich ein Schlüssel: Der Griff stellt die Saar-Flagge dar, der Bart zeigt auf das Wort Saar, das sich inmitten einer westeuropäischen Landkarte befindet, auf der keine Grenzlinien zu finden sind. Links neben dem Schlüssel ist ein Banner dargestellt, das sich aus Flaggen verschiedener europäischer Staaten zusammensetzt. Unter dem Banner – am linken unteren Bildrand – ist Platz für eine Botschaft des saarländischen Informationsamtes angedeutet mit der Überschrift „Come and See History LASB, AA 791: Gunter Kundruhn (Advertising Representative for the Saar der Herald Tribune, European Edition) an Ministerpräsident Johannes Hoffmann, 07.12.1953. 42 Ebd.: Gunter Kundruhn an Justizminister Heinz Braun, 11.08.1953, S. 3. 43 Ebd.: Gunter Kundruhn an Johannes Hoffmann, 07.12.1953, S. 2. Gemeint sind die europäische und die US-amerikanische Ausgabe. 44 Vgl. „Hoffmann Statement“, in: The Saar, Special Section, in: The New York Herald Tribune. European Edition, 18.01.1954, S. 1. 45 „Saarlanders Favor Being ‚Europeanized‘“, in: ebd. 46 „Bonn For ‚European‘ Solution“, in: ebd. 47 „The European University of the Saar,“, in: ebd., S. 11. 48 LASB, AA 791: Gunter Kundruhn an Karl Hoppe (Leiter des Informationsamtes), 23.01.1954. Er unterbreitete auch ein Angebot für das Werben in der europäischen Ausgabe. 41
„The Key to a United Europe“
Being Made“. Rechts daneben ist eine schematische Saarlandkarte zu sehen. Die handschriftliche Ergänzung offenbart den Urheber der Abbildung: „Entwurf und Copyright ‚New York Herald Tribune‘“49. Wie die Saarregierung auf die Illustration sowie den ergänzenden Text50 reagierte, bleibt unklar. Gedruckt wurde diese Illustration wohl nie.51 Dies scheint aber nicht darauf zurückzuführen zu sein, dass das Bild der Saar als Schlüssel für die europäische Einigung nicht der Selbstzuschreibung des Saarstaats entsprach. Die Veröffentlichung des saarländischen Informationsamtes von 1953 – „The Saar. Key to European Unity“52 – verdeutlicht, dass sich Saarregierung und US-Presse hinsichtlich des zu verbreitenden Images einig waren. Die Vermutung liegt nahe, dass die Saarregierung den Vorschlag aufgrund monetärer Bedenken ablehnte.53 Für den „Welt-Reiseführer“ der New York Herald Tribune wurde eine Anzeige aus der Saarbeilage54 wiederverwertet, ergänzt wird die Überschrift hier durch den Zusatz „Europe’s Keystone“ und im Text heißt es, dass an der Saar „the key to the prosperity and growing economy of Europe“55 liege. Zumindest fand also das Bild des Schlüssels verbal den Weg in die New York Times. Ob das Blatt tatsächlich als „die einflussreichste Zeitung der amerikanischen Presse und als Sprachrohr der amerikanischen Regierung“56 bezeichnet werden kann, wie es Kundruhn schreibt – sie vielleicht offen für das ‚Europa-Projekt-Saar‘ warb, was die US-Regierung nicht konnte –, kann in diesem Rahmen nicht näher beleuchtet werden. Betrachtet man die US-Haltung gegenüber der Saar und die hiesigen kulturellen Aktivitäten, scheint das Bild von der Saar als Schlüssel zur deutsch-französischen Verständigung und zur europäischen Integration ein zu beachtendes Motiv für die kulturdiplomatischen Aktivitäten. Dies soll im Folgenden näher beleuchtet werden. Aufgrund mangelnder US-Quellen muss hier allerdings induktiv vorgegangen werden, um Hypothesen zu den Motiven der US-Kulturdiplomatie aufzustellen.
Ebd.: „The Key to a United Europe“, Illustration der New York Herald Tribune, undatiert; vermutlich als Anlage zum Schreiben von Gunter Kundruhn an Karl Hoppe. 50 Vgl. ebd.: „Der Schlüssel zu einem Vereinten Europa – Das Saarland“, Übersetzung der New York Herald Tribune, undatiert; vermutlich handelt es sich hier um den Text zur Illustration „The Key to a United Europe“ (Anm. 49); vermutlich wurde der Text dem Schreiben von Gunter Kundruhn an Oberregierungsrätin Maria Schweitzer (Amt für Europäische und Auswärtige Angelegenheiten) vom 02.02.1954 (LASB, AA 791) beigefügt. 51 Es finden sich auch im Onlinearchiv der New York Times keine Hinweise. 52 Die 66 Seiten umfassende Informationsbroschüre startet mit einem Vorwort von Johannes Hoffman zu „The Saar wants the European Union“. Eines der fünf Kapitel lautet „The Saar as a Center of European Productions“, vgl. Informationsamt der Saarländischen Regierung (Hg.): The Saar. Key to European Unity (1953). 53 Über die recht hohen Kosten für PR-Maßnahmen in den USA wurde innerhalb der saarländischen Regierung kritisch diskutiert, vgl. LASB, AA 791. 54 Vgl. „The Saar“, in: The Saar, Special Section, in: New York Herald Tribune. European Edition, 18.01.1954, S. 19. 55 „See the Saar and you will see Europe’s Keystone“, in: The New York Times, 14.03.1954, S. 31. 56 LASB, AA 791: Gunter Kundruhn an Johannes Hoffmann, 07.12.1953, S. 2. 49
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3.1.
Die Eröffnung der DAB 1957
Wenn auch das Projekt der Internationalisierung der Saar gescheitert war, zeigten Umfragen der US-Regierung, dass die Saarländerinnen und Saarländer gegenüber der europäischen Integration positiver eingestellt waren als die Bundesdeutschen.57 Die Rückkehr nach Deutschland sollte aus Sicht der USA wohl keinesfalls dazu führen, dass sich erneut deutsch-französische Spannungen entwickelten und als positiv erachtete europäische Projekte zum Erliegen kamen. Blickt man auf die zuvor skizzierte amerikanische Haltung in der Saarfrage sowie die deutschland- und europapolitischen Ziele zurück, erscheint es konsequent, dass Washington – nun da die Saarfrage gelöst war – eine erste kulturdiplomatische Dependenz in Saarbrücken etablierte. Nachdem das Saarland in den Zuständigkeitsbereich des US-Generalkonsulats in Frankfurt am Main übergegangen war,58 eröffnete im Februar 1957 die Deutsch-Amerikanische Bücherei in Saarbrücken. Bei dieser Institution handelte es sich um eine Außenstelle des Amerika Hauses Kaiserslautern, die von der Amerikanischen Kulturabteilung für das Saarland betrieben wurde. Die US-Kulturdiplomatie an der Saar konzentrierte sich stark auf die ‚Europa Universität‘.59 Wie wichtig die Universität des Saarlandes (UdS) für die Programmarbeit war, zeigt sich darin, dass sie – neben der Pfalz und dem Saarland – als eines der drei „Aktionsgebiete“60 des Kaiserslauterer Amerika Hauses definiert wurde. 1959 wurde unter anderem festgehalten, dass an der UdS ein amerikanisches Seminar entstehen und man eng mit dem Europäischen Forschungsinstitut zusammenarbeiten solle.61 Laut Maritta Hein-Kremer gestaltete sich die Kooperation mit der Saar-Uni bis 1962 so intensiv, dass zahlreiche Veranstaltungen fast ausschließlich auf die Interessen der Universitätsangehörigen und Studierenden zugeschnitten gewesen seien.62 Ein starkes Indiz für einen gewichtigen Konnex zwischen der Arbeit der DAB und den amerikanischen europapolitischen Zielvorstellungen ist insbesondere die erste Vortragsveranstaltung der US-Kulturdiplomatie an der Saar: Ernest B. Steffan, Mit-
Vgl. American Embassy in Germany, Office of Public Affairs (Hg.): Public Opinion in the Saar (19.03.1956). 58 Bereits zum 01.01.1957 war das Saarland in den Zuständigkeitsbereich des US-Generalkonsulats in Frankfurt am Main übergegangen, vgl. StASB, Dep. SZ 1380: „Vom amerikanischen Generalkonsulat Frankfurt“, in: Saarbrücker Zeitung, 10.01.1957. 59 Siehe hierzu zum Beispiel Linsmayer: Die erste europäische Universität (2007), S. 46–73; „The European University of the Saar,“ in: The Saar, Special Section, in: New York Herald Tribune. European Edition, 18.01.1954, S. 11. 60 Nach Hein-Kremer: Die Amerikanische Kulturoffensive (1996), S. 534. 61 Vgl. ebd., S. 535. 62 Vgl. ebd., S. 536. 57
„The Key to a United Europe“
begründer und Generalsekretär der Pan-Europa-Bewegung und schweizerischer Delegierter, referierte im Oktober 1957 in Saarbrücken und Homburg zu „Die deutschfranzösische Verständigung – Kernstück der Einigung Europas“.63 Axel Schildt stellt fest, dass die Amerika Häuser in den 1950er-Jahren eine Vielzahl von Vorträgen über die Idee eines vereinigten Europas und die europäische Integration darboten.64 Dies war kein Zufall, sondern korrespondierte mit den Vorgaben, die die zuständige Länderabteilung der USIA (United States Information Service Germany) in Form von sogenannten country plans den Amerika Häusern und DAI machte.65 Laut Agnes Hartmann lassen sich in sämtlichen country plans der Jahre 1950 bis 1963 Maßgaben zur Unterstützung der europäischen Integration finden.66 Somit sei davon auszugehen, dass die Thematik der europäischen Integration – „auch in Analogie zur amerikanischen Deutschland- und Europapolitik – für den US Information Service grundsätzlich von hoher Signifikanz“67 gewesen sei. Dass die Amerikanische Kulturabteilung für das Saarland mit einem Vortrag zu den deutsch-französischen Beziehungen und der europäischen Integration ihr Veranstaltungsprogramm einläutete, scheint allerdings eminent. Hiermit setzte man ein starkes Zeichen, dass auch retrospektiv gewürdigt wurde. Ein Artikel von 1983 zeigt dies exemplarisch: Die Saarbrücker Zeitung würdigte die langjährige Arbeit des scheidenden Programmdirektors Herbert Schröter, indem sie hervorhob, dass es ihm ein besonderes Anliegen gewesen sei, „mit dieser Abteilung keinen ‚Störfaktor‘ in der deutschfranzösischen Freundschaft zu bilden“. Und ergänzte, dass es nicht wundere, dass die erste von Schröter durchgeführte Veranstaltung im Saarland „keineswegs ein deutschamerikanisches Thema zum Gegenstand hatte, sondern unter dem Titel ‚deutsch-französische Verständigung – Kernstück der Einigung Europas’ lief “68. Besonders gelobt wird hier auch das Engagement der DAB bei der Eröffnung des Deutsch-Französischen Gartens (DFG) in Saarbrücken.
Vgl. DAI SB: Außenprogramm des Amerika Hauses Kaiserslautern, hier Programm der Deutsch-Amerikanischen Bücherei, Oktober 1957. 64 Vgl. Schildt: Die USA als Kulturnation (1996), S. 266. 65 Zu Definition und Rolle der country plans vgl. Aguilar: Cultural Diplomacy and Foreign Policy (1996), S. 112 f. 66 Vgl. Hartmann: Kalter Krieg der Ideen (2015), S. 155. 67 Ebd. Laut Reinhild Kreis verschwand diese Thematik in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre aus den Anweisungen, vgl. Kreis: Orte für Amerika (2012), S. 179. 68 StASB, Dep. SZ 1372: „Herbert Schröter: 25 Jahre lang Mittler zwischen Saar und USA. Vom DeutschAmerikanischen Institut in den Ruhestand“, in: Saarbrücker Zeitung, 31.01.1983. 63
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3.2.
Die Eröffnung des Deutsch-Französischen Gartens 1960
Im Rahmen der Deutsch-Französischen Gartenschau im Sommer 1960, die anlässlich der Eröffnung des DFG stattfand, gingen das Werben für Amerika und die deutschfranzösische Verständigung Hand in Hand. Die USA präsentierten sich als Land der modernen – transparent-demokratischen – Architektur und standen in Saarbrücken Pate für die saarländisch-französische Aussöhnung, die als wichtige Etappe auf dem Weg zur Besserung des deutsch-französischen Verhältnisses angesehen wurde. Auch zeigt sich, wie sich ‚klassische‘ Diplomatie und US-Kulturarbeit an der Saar miteinander verbanden. Gabriele Paulix konstatiert, dass nach dem Zweiten Weltkrieg Architektur zunehmend zum „Vehikel der amerikanischen Selbstdarstellung einer modernen und fortschrittlichen Weltmacht“69 geworden sei. Gerade hinsichtlich des sich zuspitzenden Ost-West-Konflikts müsse die zunehmende Politisierung gegensätzlicher Architekturvorstellungen beachtet werden.70 So rief die USIA rund um Jack Masey ein informelles Architektenteam ins Leben. Gemeinsam mit Buckminster Fuller schuf er den Fuller Dome, eine halbkugelförmige Zeltkonstruktion.71 Dieser wurde im Rahmen der Deutsch-Französischen Gartenschau zum ersten Mal in Deutschland ausgestellt.72 Dass man mit diesem Beitrag nicht nur der modernen US-Architektur huldigte, sondern auch für die europäische Verständigung warb, zeigt die Ansprache des US-Botschafters Walter Dowling. Dieser weilte zur Eröffnung der Gartenschau in Saarbrücken und ihm zu Ehren wurde in der saarländischen Staatskanzlei ein Empfang gegeben. Dort bemerkte er: Nach meiner vierjährigen Abwesenheit bin ich nach meiner Rückkehr nach Deutschland tief beeindruckt von den Veränderungen, die sich in der Zwischenzeit getan haben, von dem Fortschritt der engen Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland sowie von den allgemeinen Bemühungen um die Erreichung der europäischen Integration. Die Westeuropäische Integration ist von großer Bedeutung, wenn wir alle die uns gestellten Aufgaben erfüllen wollen. Ich versichere Sie meines Willens zur Zusammenarbeit, solange ich mich hier in Europa aufhalte. Mein Wunsch ist es auch, dass wir alle noch enger und besser zusammenleben und zusammenarbeiten.73
Paulix, Das Amerika Haus als Bauaufgabe (2012), S. 179. Vgl. ebd. Vgl. Arndt: The First Resort of Kings (2005), S. 148. Vgl. Loch: Der Deutsch-Französische Garten (2000), S. 41. LASB, StK 7313: Deutscher Text der Ansprache des amerikanischen Botschafters Walter Dowling beim Empfang in der Staatskanzlei durch Justizminister Julius von Lautz, 28.04.1960. 69 70 71 72 73
„The Key to a United Europe“
Der Justizminister und vorherige Landtagspräsident Julius von Lautz, der bei diesem Anlass den Ministerpräsidenten vertrat, dankte den USA für die Unterstützung bei den Bemühungen zur europäischen Annäherung und sprach dem Fuller Dome einen hohen symbolischen Wert zu: Die Idee der Freiheit, die das Bild Amerikas seit George Washington bestimmt, gibt jener Welt, die die ‚westliche‘ zu nennen wir uns gewöhnt haben, sittliche Würde und eigentümliche Dynamik. Sie trifft Europa in einer geschichtlichen Stunde, die auf die Überwindung heftiger Gegensätze hinzielt, und die hoffen lässt, dass sich die dunkle Erfahrung enttäuschter Generationen am Ende zu jener Einsicht läutert, der wir den Namen ‚Europäische Verständigung‘ geben. Mir scheint es ein freundliches Zeichen, dass Sie, Exzellenz, das Saarland zu einem Zeitpunkt besuchen, in dem die Deutsch-Französische Gartenschau die Wandlung deutlich macht, die sich im Denken europäischer Menschen seit 1945 vollzogen hat. Ich darf Ihnen meine und der Regierung des Saarlandes tiefe Genugtuung dafür aussprechen, dass Ihr Land seine Sympathie für den Geist dieser Veranstaltung bekundet, indem es ein Zeugnis seiner technischen und künstlerischen Möglichkeiten hier in Saarbrücken aufstellt: den Fuller-Dom, den Sie, Exzellenz, einzuweihen die Freundlichkeit haben. An die Kette lebhafter Beziehungen, die das Amerika-Haus in Saarbrücken und der kulturelle Austausch zwischen den Städten Saarbrücken und Pittsburgh geknüpft haben, wird sich damit ein neues schönes Glied fügen.74
Die transparente geodätische Kuppel stellte den Mittelpunkt einer 10.000 m2 großen Industrieschau dar, bei der vor allem Gartenbauprodukte ausgestellt wurden.75 In dem halbkugelförmigen Bau war eine Bibliothek untergebracht, in der ein vielfältiges Film-, Konzert- und Ausstellungsprogramm dargeboten wurde, das von der saarländischen US-Kulturabteilung durchgeführt wurde.76 Im Juni-Programm der DAB, auf dem eine Abbildung der Kuppel abgedruckt ist, beschreibt man den Fuller Dome als „freitragende[n] Kuppelbau aus Aluminium und einer Kunststoffhaut, der eine Fläche von ca. 1000 qm bei einem Durchmesser von 35 m überspannt“ und eine maximalen Höhe von 12 Metern messe. „Um dieses Wunderwerk der Technik in seiner heutigen Vollkommenheit zu erstellen“, so der Text weiter, „bedurfte es 20 Jahre mühevoller Forschungsarbeit des zur Zeit bekanntesten amerikanischen Industriebaumeisters Buckminster Fuller“77.
LASB, StK 7313: Begrüßungsansprache von Justizminister Julius von Lautz anlässlich des Besuchs des Botschafters Walter Dowling in der Staatskanzlei in Saarbrücken, 28.04.1960. 75 Vgl. Loch: Der Deutsch-Französische Garten (2000), S. 41. 76 Vgl. DAI SB: Amerikanische Kulturabteilung für das Saarland, Programm Juni / Juli 1960. 77 DAI SB: Amerikanische Kulturabteilung für das Saarland, Sonderseite „Besuchen Sie den Fuller Dom“, in: Programm Juni / Juli 1960. 74
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Laut Tätigkeitsbericht besuchten während des Sommers 1960 über eine Million Gäste den Fuller Dome.78 Wie lange die Konstruktion dem DFG erhalten blieb, ist nicht überliefert. Die Vermutung liegt nahe, dass ein Konzert der Seventeenth Air Force Band am 9. Oktober die letzte Veranstaltung war, die dort durchgeführt wurde. Als Ausklang der Deutsch-Französischen Gartenschau wurde von Seiten der amerikanischen Kulturarbeit wohl ein Klavierabend genutzt, der auf den 12. Oktober terminiert war.79 Ins Bild passt, dass eben nicht nur bei der Einweihung des Fuller Dome als Auftakt der Gartenschau, sondern auch im Rahmen der Finissage der Frankreich- Bezug stark gemacht wurde: Das Konzert wurde von der DAB als Gemeinschaftsveranstaltung mit dem französischen Generalkonsulat und der Stadt Saarbrücken im Rahmen der Deutsch-Französischen Gartenschau beworben und fand im Centre culturel français statt.80 4.
Das Amerika Haus
4.1.
Die Gründung des Amerika Hauses 1961
Aus Sicht der US-Verantwortlichen war die DAB 1961 zu klein geworden und sollte räumlich sowie institutionell vergrößert werden, was jedoch ohne finanzielle Unterstützung durch die Stadt Saarbrücken nicht zu realisieren gewesen wäre.81 Im Kontext der diesbezüglichen Stadtratssitzung wurde laut Medienbericht an erster Stelle an den Fuller Dome erinnert, „der in der Gartenschau ein Geschenk der Amerikaner gewesen sei“82. Ebenfalls hätten die ‚Stadtväter‘ darauf hingewiesen, dass auch die Universität ein Interesse daran habe, dass die amerikanische Kultureinrichtung erhalten bleibe, weshalb man sich für einen finanziellen Beitrag ausgesprochen habe.83 Dass man sich von amerikanischer Seite mit der Umwandlung der DAB in ein Amerika Haus wohl vor allem eine Intensivierung der Kooperationstätigkeit erhoffte, verdeutlicht ein im Oktober 1961 geführtes Zeitungsinterview mit dem damaligen Leiter der Amerikanischen Kulturabteilung für das Saarland, Thomas Mulvehill. Dieser erläuterte, dass man mit Umwandlung der Saarbrücker Einrichtung in engeren Kontakt
Vgl. DAI SB: Kurzbericht über die Tätigkeit des Deutsch-Amerikanischen Instituts seit 1957, undatiert. Die Übersicht stammt vermutlich aus dem Jahr 1972. 79 Vgl. DAI SB: Amerikanische Kulturabteilung für das Saarland, Programm Oktober 1960. 80 Vgl. ebd. Danach finden sich keine Veranstaltungen mehr mit Bezug zur Deutsch-Französischen Gartenschau. 81 Vgl. StASB, D I – 140: James E. Hoofnagle (Botschaftsrat für öffentliche Angelegenheiten, U. S. Information Service) an Fritz Schuster (Oberbürgermeister der Stadt Saarbrücken), 14.11.1960. 82 StASB, V 40–252: „Einsichtige Stadtväter halfen sofort. Deutsch-Amerikanische Buchhandlung erhält Zuschuß“, in: Saarbrücker Landeszeitung, 18.02.1961. 83 Vgl. ebd. 78
„The Key to a United Europe“
mit der hiesigen Universität, Schulen und verschiedenen kulturellen Einrichtungen treten wolle.84 Die Zusammenarbeit mit der UdS wurde im Vertrag zur Umwandlung der Deutsch-Amerikanischen Bücherei in ein Deutsch-Amerikanisches Institut85 sogar institutionalisiert. Dieser hielt fest, dass eines der fünf deutschen Vorstandsmitglieder der Rektor der Universität und einer der fünf amerikanischen Repräsentanten dortiger Fulbright-Professor sein solle.86 Reinhild Kreis weist darauf hin, dass eine enge Kooperation sowie eine solche Institutionalisierung bei der Kooperationstätigkeit der amerikanischen Kulturinstitute Usus war.87 Eine umfassende Analyse der Veranstaltungen und Kooperationen des Saarbrücker Amerika Hauses zeigt, dass die Zusammenarbeit nicht nur schriftlich fixiert, sondern insbesondere praktisch manifestiert wurde.88 Durch den besonderen Zuschnitt der Universität konnte sie für die amerikanische Kulturdiplomatie gleich zwei wichtige Felder der Kooperationstätigkeit abdecken: Ziel der amerikanischen Kulturarbeit war es, mit Bildungsinstitutionen sowie mit europäisch ausgerichteten Organisationen zusammenzuarbeiten.89 Dass sich mit der kulturdiplomatischen Ansprache der Universität in Saarbrücken ‚europäische‘ Zuschreibungen der USA verbanden, zeigt exemplarisch der Besuch des US-Botschafters McGhee in Saarbrücken. 4.2.
Das Amerika Haus, die ‚Europa-Universität‘ und die deutsch-französische Verständigung
Im Februar 1964 besuchte der damalige US-Botschafter George C. McGhee das Saarland. Auch bei diesem Botschaftsbesuch war das Amerika Haus eingebunden: Man nutzte die Räumlichkeiten des Amerika Hauses und der Direktor der Einrichtung, Gerard L. Buckhout, begleitete den Diplomaten.90
Vgl. ebd.: „OB-Stellvertreter ein Amerikaner. Aus der Amerikanischen Kulturabteilung wird ein Deutsch-Amerikanisches Institut“, in: Deutsche Saar, 27.10.1961. 85 Es gilt zu beachten, dass trotz des Titels des Vertrags ein Amerika Haus gegründet wurde, siehe hierzu: Bardian: Amerika an der Saar (2015), S. 60–68. 86 Vgl. StASB, V 40–252/DAI SB, interne Dokumentation: Vertrag zur Umwandlung der Deutsch-Amerikanischen Bücherei in ein Deutsch-Amerikanisches Institut, 01.06.1961. 87 Vgl. Kreis: Orte für Amerika (2012), S. 300 f. 88 Zur Kooperationstätigkeit des Amerika Hauses Saarbrücken vgl. Bardian: Amerika an der Saar (2015), S. 128–139. 89 Vgl. Kreis: Orte für Amerika (2012), S. 318. 90 Vgl. z. B. LASB, NL Röder 683: „US-Botschafter in Saarbrücken. Morgen Empfang durch Ministerpräsidenten Dr. Röder“, in: Saarbrücker Landeszeitung, 04.02.1964; „Saarländer haben Amerikas Unterstützung nicht vergessen. Botschafter McGhee für großzügigen Austausch von Studenten“, in: Saarbrücker Zeitung, 06.02.1964. 84
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Das Presseecho war enorm – sowohl die Printmedien als auch der Saarländische Rundfunk berichteten.91 McGhee besuchte zunächst die Saarbrücker Staatskanzlei und gab dort Ministerpräsident Röder seine Aufwartung, danach fuhr er zu einer Pressekonferenz ins Amerika Haus, bevor er abschließend die Universität besichtigte. Innerhalb der Zeitungsberichterstattung wird vor allem betont, wie sehr der Botschafter in seiner Ansprache die Rolle des Saarlandes für die deutsch-französische Einigung würdigte.92 McGhee „begrüßte die Leistungen des Saarlandes zur Pflege der deutschfranzösischen Freundschaft und der kulturellen Kontakte mit den USA“93. Für den Botschafter sei die Universität ein Beispiel einer guten deutsch-französischen Zusammenarbeit und sie solle sich bewusst machen, „dass ihr die europäische Konzeption viele Chancen böte“94. Die Saarbrücker Zeitung hob hervor, dass der Ministerpräsident in seiner Ansprache McGhee dafür dankte, dass die USA das Amerika Haus weiter ausbauen wollten.95 Augenscheinlich wird all dies in einem Fernsehbericht von Hüben und Drüben96 vom 5. Februar 1964, in dem rund sieben Minuten über den Besuch des US-Botschafters unter „europäischen Vorzeichen“97 berichtet wurde. Auch hier geht man zunächst auf die erwähnten Festreden ein, informiert dann über die Pressekonferenz im Amerika Haus. Während man den Botschafter dabei beobachtet, wie er aus seinem Auto steigt und vor der Einrichtung begrüßt wird, erklärt der Sprecher: „Erst vor Kurzem hatte ja dieses Institut die Aufgaben des Amerika Hauses Kaiserslautern mit übernommen. Und so kommt ihm nahe der französischen Grenze und im gesamten südwestdeutschen Raum besondere Bedeutung zu.“98 Im Zuge der dort stattfindenden Pressekonferenz kam unter anderem die europäische Verständigung zur Sprache. Hierzu habe McGhee erklärt, dass „alle Entscheidungen in dieser Hinsicht von den europäischen Auch in der Pfalz wurde berichtet, vgl. ebd.: „Erster offizieller Besuch des amerikanischen Botschafters McGhee in Saarbrücken“, in: Westpfälzische Rundschau, 06.02.1964. Bereits im Untertitel wird auf McGhees Lob hinsichtlich der deutsch-französischen Verständigung hingewiesen: „Botschafter würdigte Leistungen des Saarlandes auf dem Gebiet der deutsch-französischen Freundschaft und Kontakte zu den USA“. 92 Vgl. ebd.: „McGhee besuchte gestern Saarbrücken. Der US-Botschafter würdigte den deutschen Bundesbeitrag“, in: Saarbrücker Landezeitung, 06.02.1964. 93 Ebd. Ähnlich auch in der Westpfälzischen Rundschau vom 06.02.1964 (Anm. 91), wobei dort zudem ein besonderer Fokus auf den Schluss der Rede gelegt wird: „Zum Schluss seiner Rede behandelte Botschafter McGhee die Bedeutung der atlantischen Gemeinschaft im Bereich der Wirtschaft, der gemeinsamen Verteidigung und der Entwicklungshilfe“. 94 LASB, NL Röder 683: „Saarländer haben Amerikas Unterstützung nicht vergessen. Botschafter McGhee für großzügigen Austausch von Studenten“, in: Saarbrücker Zeitung, 06.02.1964. 95 Vgl. ebd. 96 Bei Hüben und Drüben handelte es sich um ein Kulturmagazin, das zusammen mit anderen Formaten 1966 im Aktuellen Bericht aufging, der von Barbara Duttenhöfer als „Flaggschiff des SR-Fernsehens“ bezeichnet wird, siehe Duttenhöfer: Ein Land – ein Sender (2010), S. 133. 97 Saarländischer Rundfunk: Botschafter der USA George C. McGhee zu Gast in Saarbrücken (05.02.1964). 98 Ebd., 00:04.44 91
„The Key to a United Europe“
Ländern selbst getroffen werden sollten. Die Vereinigten Staaten würden diese Einigungsbestrebungen allerdings begrüßen“99. Auch in dieser Begebenheit kommt also die eingangs erwähnte positive und zugleich zurückhaltende amerikanische Positionierung in puncto europäische Integration zum Ausdruck. Abschluss des Botschaftsbesuchs und des Berichts stellte die Stippvisite bei der Universität dar, die McGhee laut Kommentar als „Beispiel deutsch-französischer Freundschaft betrachtete“100. Dass während dieses hohen Besuchs die verschiedenen diskursiven Fäden von der Saar als Schlüssel zur europäischen Verständigung zusammengeführt wurden, scheint kein Zufall zu sein: Der Botschaftsbesuch war die perfekte Gelegenheit, die Rolle des Saarlandes im Herzen Europas zu würdigen, die zentrale Rolle der deutsch-französischen Verständigung – als dessen Symbol die Saar-Uni gehandelt wurde – hervorzuheben, den amerikanischen Zuspruch zur europäischen Integration zu bekräftigen und für engere saarländisch-amerikanische Bande zu werben. 5.
Fazit und Ausblick
Die Ausführungen sollten verdeutlicht haben, dass die anfängliche amerikanische kulturdiplomatische Zurückhaltung nicht auf ein Desinteresse der Regierung oder der medialen Öffentlichkeit oder gar eine einseitige Rücksichtnahme schließen lässt. Vielmehr resultierte dieses Verhalten aus Strategien und Zwängen der amerikanischen Deutschland- und Europapolitik. Außerdem wurde gezeigt, dass bei der Etablierung der US-Kulturdiplomatie an der Saar der Blick Richtung Frankreich immanent war. Nach der ‚Franzosenzeit‘ sollte wohl kein bloßes Kontrastprogramm geliefert werden. Vielmehr galt es auch den proeuropäischen Kräften Zuspruch und geeignete Foren zu geben. Unter diesem Blickwinkel erscheinen die erste offizielle Veranstaltung der amerikanischen Kulturdiplomatie an der Saar, die Zusammenarbeit mit der hiesigen Universität und das Antlitz des Fuller Dome in Saarbrücken in einem ‚europäischen Licht‘. Im Jahr 1982 – zum 25-jährigen Jubiläum der amerikanischen Kulturarbeit an der Saar – wies die Presse darauf hin, dass sich das „programmatische Alphabet, bestehend aus EU und USA für Europa und die Vereinigten Staaten von Amerika“101 erhalten habe. Festgeschrieben habe man dies im „Oktober 1957 nicht etwa mit einer amerikanischen Selbstdarstellung […], sondern mit dem Thema ‚Die deutsch-französische Verständigung – Kernstück der Einigung Europas‘“102. So wie die Hinwendung zu Frankreich aufgrund der Geschichte und Geografie des Saarlandes zum Alltag der Saarländerin-
Ebd., 00:05.22. Ebd., 00:06.18. LASB, MK 5265: „Seit 25 Jahren: Viele Fäden von der Saar nach Amerika“, in: Saarbrücker Zeitung, 13.10.1982. 102 Ebd. 99 100 101
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nen und Saarländer gehört,103 scheint sich dies in die amerikanische Kulturarbeit an der Saar eingespeist zu haben. Die Idee, dass die Saar ein Schlüssel zur deutsch-französischen Aussöhnung und somit zur erfolgreichen westeuropäischen Integration darstellt, scheint in die DNA der amerikanischen Saarpolitik implementiert zu sein. Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen
Archivalien Deutsch-Amerikanisches Institut Saarbrücken e. V. (DAI SB) – Interne Dokumentation. – Programme der Amerikanischen Kulturabteilung für das Saarland / der Deutsch-Amerikanischen Bücherei Saarbrücken. Landesarchiv Saarland (LASB) – AA (Auswärtiges Amt) – AA 622 (Studienreisen von saarländischen und ausländischen Wirtschaftsvertretern nach: USA, Paris, Saarland und Burma). – AA 791 (Saarländische Öffentlichkeitsarbeit in den Vereinigten Staaten, USA). – InfA (Presse- und Informationsamt) – InfA 456 (Mitteilungen des Informationsamtes an die Presse betr. amerikanisches Konsulat im Saarland). – MK (Kultusministerium) – MK 5265 (Kulturabteilung, Deutsch-Amerikanisches Institut: Haushalt). – NL Röder (Nachlass Franz-Josef Röder) – NL Röder 683 (USA-Botschafter im Saarland – Botschafter George C. McGhee in der Staatskanzlei). – Sf KuH (Schule für Kunst und Handwerk) – Sf KuH 30 (Versuch eines Schüleraustausches in die USA, Abgangszeugnisse, Hospitanten). – StK (Staatskanzlei) – StK 3165 (Angelegenheiten der Industrie- und Handelskammer). – StK 7313 (Reden, allgemein, Band I). Roosevelt Institute for American Studies, Middelburg (RIAS) – Office of Strategic Services (OSS), State Department Reports, Europe, 1945–1961, Part 10. Stadtarchiv Saarbrücken (StASB) – Dep SZ (Depositum der Saarbrücker Zeitung, 1764–2016) – Dep. SZ 1372 (Deutsch-Amerikanisches Institut, 1957–1988). – Dep. SZ 1380 (Beziehungen zwischen dem Saarland und den USA, 1950–2000). – D (Dezernate nach 1945) – D I – 140 (Stadttheater, Saarlandmuseum, 1960–1962). – V 40 (Kultur- und Schulverwaltungsamt, 1881–2001) – V 40–252 (Deutsch-Amerikanisches Institut mit Programmheften und Pressespiegel, 1961–1970). 103
Zum französischen savoir vivre im Saarland siehe beispielhaft Burgard: Nein oder nicht Nein (2007), S. 183.
„The Key to a United Europe“
Gedruckte Quellen Baehler, David M. / Bernbaum, John A. / Sampson, Charles S. (Hg.): Foreign Relations of the United States (FRUS), 1952–1954, Germany and Austria, Volume VII, Part 2, Washington, D. C., 1986. Informationsamt der Saarländischen Regierung (Hg.): The Saar. Key to European Unity. Paris (Imprimerie Mazarine) 1953. Loch, Bernd: Der Deutsch-Französische Garten in Saarbrücken. Geschichte und Führer. Saarbrücken (Staden) 2000. Wernet, Juliane: 50 Jahre DAI Saarbrücken 1957–2007. Eine Chronik der deutsch-amerikanischen Freundschaft. Unveröffentlichte Broschüre des DAI Saarbrücken, Saarbrücken, 2007.
Internet-Quellen American Embassy in Germany, Office of Public Affairs (Hg.): Public Opinion in the Saar (February 1956), Report No. 229, Bonn, 19.03.1956, http://hdl.handle.net/10111/UIUCOCA:publicopinionins229unit (Stand: 12.08.2022). Saarländischer Rundfunk: Botschafter der USA George C. McGhee zu Gast in Saarbrücken, in: SR-Retro: Hüben und Drüben, 05.02.1964, https://www.ardmediathek.de/video/sr-retro-hueben-und-drueben/botschafter-der-usa-george-c-mcghee-zu-gast-in-saarbruecken/sr/ Y3JpZDovL3NyLW9ubGluZS5kZS9SRVRSTy1IRF85MzQ3Mg/ (Stand: 12.08.2022).
Periodika New York Herald Tribune. European Edition, Paris: 18.01.1954. The New York Times, New York: 14.03.1954.
Literatur
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turwissenschaften mit den Ergänzungsfächern Betriebswirtschaftslehre und Medienpsychologie an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken, seit 2016 Promotionsprojekt im Fach Neuere Geschichte mit dem Arbeitstitel Amerika an der Saar: Institutionen, Debatten, Perspektiven (1957–1983) (Betreuung: Prof. Dr. Dietmar Hüser), seit 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Europäische Zeitgeschichte an der Universität des Saarlandes und Koordinatorin des von der DeutschFranzösischen Hochschule geförderten deutsch-französisch-luxemburgischen Doktorandenkollegs
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„Internationale Geschichte interdisziplinär – Deutsch-französisch-europäische Perspektiven im 20. Jahrhundert“ (Universität des Saarlandes / Sorbonne Université / Universität Luxemburg). Forschungsschwerpunkte: Geschichte der deutsch-amerikanischen Beziehungen; Geschichte der Saargegend.
Ost und West im Kontrast Die verschiedenen Ebenen in deutsch-französischen Städtepartnerschaften auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs
JÜRGEN DIERKES / KATRIN ANNINA GROSS
Städtepartnerschaften zwischen deutschen und französischen Städten sind zu einer bedeutenden Größe der Nachkriegsgeschichte beider Länder geworden: Nach schwierigen Anfängen, in denen aufgrund der noch sehr präsenten belasteten Vergangenheit nur wenige Bündnisse geknüpft werden konnten, entstanden im Lauf der 1950er-Jahre, vor allem ab 1957, die ersten westdeutsch-französischen Städtepartnerschaften. Nur wenige Jahre später sprang auch die DDR auf den Zug auf: 1959 wurden die ersten ostdeutsch-französischen Städtepartnerschaften geschlossen. Im Lauf der Jahre entstanden weit über 2.000 Verbindungen zwischen deutschen und französischen Kommunen; schon bis zum Fall der Mauer waren es rund 1.500 Partnerschaften. Der quantitative Schwerpunkt lag eindeutig auf den westdeutsch-französischen Partnerschaften, aber auch die ostdeutsch-französischen Bündnisse waren mit etwa 100 bis 200 Verbindungen alles andere als nur eine marginale Größe.1 Bei einer Städtepartnerschaft handelt es sich gemäß der Definition der Deutschen Sektion des Rates der Gemeinden und Regionen Europas (RGRE) um eine „förmliche, zeitlich und sachlich nicht begrenzte Partnerschaft, beruhend auf einem Partnerschaftsvertrag (Partnerschaftsurkunde)“2. Ulrich Krotz charakterisiert Städtepartnerschaften als parapublic underpinnings, die sich durch einen halbstaatlichen Charakter auszeichnen und sich zwischen dem öffentlich-staatlichen und dem privatgesellschaft1 Ausführlicher
zur Statistik Herrmann: Der zweite deutsch-französische Städtepartnerschaftsboom (2019), S. 55–66. Die Zahlen zu den französisch-ostdeutschen Bündnissen weichen je nach Quelle erheblich voneinander ab, siehe dazu Dierkes: „Ménage à trois“ im Ost-West-Konflikt (2024), S. 98–100.. 2 Deutsche Sektion des RGRE: Datenbank der kommunalen Partnerschaften. In Abgrenzung zur Partnerschaft werden zwei weitere Kategorien unterschieden: die Freundschaft und der Kontakt. Eine Freundschaft ist laut RGRE „eine Verbindung, die auf einer Vereinbarung beruht, aber zeitlich begrenzt ist und / oder genau spezifizierte Projekte der Beziehung benennt“, ein Kontakt dagegen „eine Verbindung ohne förmliche Festlegung“.
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lichen Bereich einordnen lassen.3 Das breite Spektrum reicht von einer kommunal- offiziellen Ebene der Bürgermeister und Rathäuser über die Beziehungen im Bildungsbereich (vor allem Schulen und Hochschulen), der gemeinsam mit den vielfältigen Aktivitäten auf zivilgesellschaftlicher Ebene das Herzstück der Städtepartnerschaftsarbeit ausmacht, bis hin zu Kontakten zwischen Privatpersonen. Während sich die allgemeine Definition des RGRE sowohl auf die westdeutschfranzösischen wie auf die ostdeutsch-französischen Partnerschaften anwenden lässt, ist bei dem von Krotz skizzierten Mehrebenenmodell ein genauerer Blick erforderlich: Westdeutsch-französische und ostdeutsch-französische Partnerschaften unterscheiden sich hinsichtlich ihres Charakters maßgeblich voneinander. Zwar lassen sich in beiden Fällen die verschiedenen Ebenen ausmachen, dies jedoch in sehr unterschiedlicher Ausgestaltung: Der eher gleichberechtigten Anordnung der Ebenen im Westen steht eine hierarchische Anordnung bei den ostdeutsch-französischen Partnerschaften gegenüber. Daraus leitet sich zunächst die Frage ab, wie sich das mehrschichtige Modell in der Realität westdeutsch-französischer und ostdeutsch-französischer Städtepartnerschaften darstellt. Die Idee des Mehrebenenmodells bezieht sich aber nicht nur auf das ‚Innenleben‘ der Partnerschaft, sondern auch auf das Zusammenspiel zwischen der Mikroebene der Städtepartnerschaften und der Makroebene der ‚großen Politik’. Es ist unstrittig, dass politische Weichenstellungen, wie etwa die Initiierung des europäischen Integrationsprozesses in den 1950er-Jahren oder die Schaffung des Deutsch-Französischen Jugendwerks im Jahr 1963, wichtige Impulse für den Abschluss von Städtepartnerschaften gaben.4 Deutlich umstrittener ist die Frage, inwieweit die Ebene der Städtepartnerschaften mit ihren vielfältigen Aktivitäten ihrerseits auf die intergouvernementale Ebene zurückwirken und Einfluss nehmen konnte. Die möglichen Interdependenzen sollen am Beispiel westdeutsch-französischer und ostdeutsch-französischer Städtepartnerschaften untersucht werden. 1. Westdeutsch-französische Städtepartnerschaften – Verständigung ‚von unten‘
Westdeutsch-französische Städtepartnerschaften lassen sich unter das Konzept des erweiterten Kulturbegriffs subsumieren. Dieser umfasst nicht nur die kulturellen Eliten, sondern schließt „breitere Kreise der Bevölkerung und weiter gefaßte Manifestationen kulturellen Schaffens ein […]“5. Die autonome Zivilgesellschaft, für die Demokratie, 3 Vgl. Krotz: Parapublic Underpinnings of International Relations (2007). 4 Vgl. Bautz: Die Auslandsbeziehungen der deutschen Kommunen (2002),
kungen von Städte-Partnerschaften (1981), S. 74. 5 Bock: Private Verständigungs-Initiativen (2003), S. 26.
S. 77; Grunert: Langzeitwir-
Ost und West im Kontrast
Versammlungs- und Meinungsfreiheit grundlegende Fundamente sind, stellt in diesem Verständnis die Basis der westdeutsch-französischen Städtepartnerschaften dar.6 Der Ansatz der Verständigung ‚von unten‘ sah genau diese Einbindung der Zivilgesellschaft als essenziellen Teil des Konzepts vor und war gleichzeitig Gradmesser für das Gelingen des Unterfangens.7 Aufgrund ihrer aktiven Förderung und Vermittlung waren internationale Organisationen von Bedeutung für den Abschuss zahlreicher Partnerschaften zwischen der Bundesrepublik und Frankreich.8 Ebenso muss die besondere Rolle des in Folge des Elysée-Vertrags ins Leben gerufenen Deutsch-Französischen Jugendwerks hervorgehoben werden, das alleine schon einen finanziellen Anreiz für die Kommunen zum Abschluss von Partnerschaften bot.9 Anhand zweier ausgewählter Beispiele soll im Folgenden aufgezeigt werden, inwieweit Interdependenzen zwischen der (kommunal-)politischen Ebene, der (Zivil-)Gesellschaft und der privaten Ebene das ‚Innenleben‘ und die Entwicklung der Bündnisse prägten. 1.1.
Die Rendsburger HIAG-Jahrestreffen als schwere Belastungsprobe
Das erste Beispiel nimmt die Städtepartnerschaft zwischen dem schleswig-holsteinischen Rendsburg und Vierzon im Department Cher in den Blick. Diese Verbindung, bereits 1955 etabliert, hatte nicht nur mit der zusätzlich eingegangenen Partnerschaft Vierzons mit dem ostdeutschen Bitterfeld zu kämpfen. Fundamentaler Bestandteil im Konflikt der ‚Schwesterstädte‘ waren vor allem die regelmäßig in Rendsburg stattfindenden Jahrestreffen der HIAG, der Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS e. V.10 Vor dem Hintergrund der Debatte um das Wiedererstarken der extremen Rechten, der ‚braunen‘ Eliten in der Bundesrepublik und des Aufstiegs der NPD in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre führten diese, zeitweise von starker medialer Aufmerksamkeit begleiteten Treffen beinah zur Auflösung der Partnerschaft. Diese Entwicklung wurde verstärkt durch die ungeschickte Kommunikation zwischen den beiden Rathäusern: Über mehrere Jahre herrschte de facto Funkstille.11 Die jeweiligen Offiziellen auf beiden Seiten klammerten sich an die vielen 6 Corine Defrance konkretisiert dies im Hinblick auf die transnationalen Beziehungen: „Dans les relations
transnationales, on peut considérer que la société civile est constituée par l’ensemble des associations ou régionales de coopération ou comités de jumelage poursuivant des objectifs de connaissance de l’Autre, d’échanges culturels ou socio-culturels (erweiterter Kulturbegriff)“, siehe Defrance: Société civile et relations franco-allemandes (2010), S. 23. Dazu ausführlicher auch Defrance / Pfeil: Eine Nachkriegsgeschichte in Europa (2011), S. 161–166. 7 Vgl. Bock: Europa von unten (1994), S. 25. 8 Vgl. Bock: Wiederbeginn und Neuanfang (1996), S. 61. 9 Vgl. Baumann: Die Gründung des Deutsch-Französischen Jugendwerks (2003), S. 60. 10 Dazu ausführlich Dierkes: Wie Rendsburgs Ruf in der Welt Schaden nahm (2023). 11 Dazu ausführlich Pfeil: Rendsburg – Vierzon – Bitterfeld (2004), S. 149–155; Dierkes: „Ménage à trois“ im Ost-West-Konflikt (2024), S. 168–187.
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privaten und zivilgesellschaftlichen Kontakte, wegen derer die Städtepartnerschaft nicht aufgegeben werden dürfe.12 Letztlich waren es genau diese, die das Überleben der Städtepartnerschaft sicherten. Insbesondere der erfolgreiche Jugendaustausch stellte in dieser Zeit eine stabile Säule der Verbindung dar, dessen Erfolg die Stadt Rendsburg gegenüber dem DeutschFranzösischen Jugendwerk regelmäßig unterstrich.13 Auch als zwischen den beiden Rathäusern absolute Funkstille herrschte, fand der Jugendaustausch ohne Unterbrechung Jahr für Jahr statt.14 Ebenso nahmen die originär zivilgesellschaftlichen Begegnungen zwischen Vereinen der beiden Städte durch den HIAG-Konflikt anscheinend keinen Schaden.15 Dies zeigt: Vorrangig die starke zivilgesellschaftliche Verankerung der Städtepartnerschaft konnte letztlich das völlige Scheitern der Beziehung verhindern und war für die Wiederaufnahme des Kontaktes zwischen den Rathäusern von Rendsburg und Vierzon ab 1971 ein maßgeblicher Faktor. Dies unterstreicht die Bedeutung der intensiven Kontakte jenseits der offiziellen Ebene für die Partnerschaft. 1.2.
Die Auflösung der Verbindung von Wangen und Châtillon
Anders gelagert war dies im Beispiel der Partnerschaftsbeziehungen von Wangen im Allgäu und Châtillon bei Paris.16 Nachdem es schon 1955 zum ersten Schüleraustausch zwischen den beiden Städten gekommen war,17 wurde die Verbindung 1959 durch die Unterzeichnung eines Partnerschaftsvertrags offiziell besiegelt.18 Allerdings kam es in den folgenden Jahren abgesehen von besagtem Schüleraustausch und einigen vereinzelten Besuchen von Kindern und Eltern in Wangen zu keinerlei Aktivitäten: Weitere zivilgesellschaftliche Kontakte konnten nicht etabliert werden. Als es kurz nach Unterzeichnung des Freundschaftsvertrags zu einem politischen Wechsel im Rathaus von Châtillon kam, in dessen Folge die Kommunisten die Führung der Kommune
12 „Une ombre dans nos relations avec nos villes jumelées. La montée du nazisme en Allemagne fédérale“,
in: Bulletin Municipal de Vierzon, Mai 1968. Wörtlich: „Il n’est pas question de remettre en cause nos relations avec notre ville sœur de Rendsburg […].“ 13 Exemplarisch StARD, F 315: Bericht der Stadt Rendsburg über den Aufenthalt der Rendsburger Gruppe in Vierzon in der Zeit vom 30.06. bis 22.07.1969; Bericht der Stadt Rendsburg über den Aufenthalt der Rendsburger Gruppe in Vierzon in der Zeit vom 13.07. bis 04.08.1970; Bericht der Stadt Rendsburg über den Aufenthalt der Rendsburger Gruppe in Vierzon in der Zeit vom 12.07. bis 03.08.1971. 14 Lückenlos dokumentiert in StARD, F 315. 15 Im Jahr 1971 fanden insgesamt vier, 1969 sogar sieben Begegnungen statt, vgl. StARD, F 231 und StARD, F 636, Bd. 13. 16 Siehe dazu Groß: „Nimm zwei“ (2017), S. 13–23. 17 Dokumentiert durch diverse Quellen in StAWG, A II 1145. 18 Vgl. „Die Städtefreundschaft Wangen – Châtillon“, in: Schwäbische Zeitung, 23.03.1963.
Ost und West im Kontrast
übernahmen und den Bürgermeister stellten,19 kamen die Beziehungen zwischen den offiziellen Vertreter:innen beider Städte zum Erliegen. Versuche, die abgebrochenen Kontakte wieder aufzunehmen, gab es von beiden Seiten, blieben aber ohne Erfolg. Erschwerend kam hinzu, dass Châtillon den Kontakt über den Eisernen Vorhang hinweg suchte und 1963 eine Partnerschaft mit dem ostdeutschen Merseburg einging. Der Wangener Bürgermeister Wilhelm Uhl wertete den Vorschlag aus Châtillon, die bestehende westdeutsch-französische Partnerschaft mit Wangen zu einer um Merseburg erweiterten Dreieckspartnerschaft auszubauen,20 in einer Hochphase des Kalten Krieges als vergiftetes Angebot.21 In der Folge kam es bei der spärlichen Korrespondenz auch aufgrund der bestehenden politisch-ideologischen Differenzen zwischen den Offiziellen statt zur Förderung zum Ausbremsen angefragter zivilgesellschaftlicher Kontakte durch die beiden Rathäuser. Ein erneuter Versuch der Kontaktaufnahme durch den neuen Wangener Bürgermeister Jörg Leist war 1969 ebenfalls nicht von Erfolg gekrönt.22 Zu diesem Zeitpunkt waren die partnerschaftlichen Aktivitäten bereits in Agonie erstarrt. Letztlich kam es 1974 zur Auflösung der Städtepartnerschaft zwischen Wangen und Châtillon, die zu diesem Zeitpunkt ohnehin nur noch auf dem Papier bestand.23 Anders als das Bündnis von Rendsburg und Vierzon konnten sich die Beziehungen in diesem Fall nicht auf eine breite zivilgesellschaftliche Basis stützen, für die sich ein Kampf für den Erhalt der Städtepartnerschaft gelohnt hätte. Die beiden kontrastiven Beispiele zeigen für die Mikroebene, was Ansbert Baumann bereits für die Makroebene herausgestellt hat: Wenn die Gesellschaftsbeziehungen gut etabliert sind und auf einem stabilen Fundament basieren, erlangen sie eine eigene Dynamik und entfalten sich weitgehend unabhängig von Auseinandersetzungen auf der politischen Ebene. Das war in der Partnerschaft zwischen Rendsburg und Vierzon im Gegensatz zum Bündnis zwischen Wangen und Châtillon der Fall. Ebenso können die gesellschaftlichen Kontakte für eine „Klimaverbesserung“24 auf politischer Ebene sorgen, was Baumann für die Mitte der 1970er-Jahre auf der Makroebene konstatiert.
19 Vgl. StAWG, A II 1145: Schreiben von Lucien Bailleux (Bürgermeister von Châtillon) an Wilhelm Uhl
(Bürgermeister von Wangen), 16.06.1959. 20 Zur Dreieckskonstellation Wangen – Châtillon – Merseburg siehe ausführlich die entsprechende Fallstudie in Dierkes: „Ménage à trois“ im Ost-West-Konflikt (2024), S. 242–342. 21 Vgl. AMC, 3 R 2: Schreiben von Wilhelm Uhl (Bürgermeister von Wangen) an verschiedene Persönlichkeiten der Stadt Châtillon, 18.03.1964. 22 Vgl. StAWG, A II 1145: Schreiben von Jörg Leist (Bürgermeister von Wangen) an Lucien Bailleux (Bürgermeister von Châtillon), 27.10.1969. 23 Vgl. AMC, 3 R 3: Schreiben von Jörg Leist (Bürgermeister von Wangen) an Lucien Bailleux (Bürgermeister von Châtillon), 11.12.1974. 24 Vgl. Baumann: Begegnung der Völker? (2003), S. 297.
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1.3.
Die Rheinisch-Westfälische Auslandsgesellschaft in Dortmund – Interdependenzen zwischen intergouvernementaler und zivilgesellschaftlicher Ebene
Neben dem Blick auf den Stellenwert der Zivilgesellschaft für den Erfolg von Städtepartnerschaften ist es von Interesse, die Interdependenzen zwischen den Städtepartnerschaften und der ‚großen Politik’ zu betrachten. Von Politiker:innen aller Ebenen wird der 1963 geschlossene Elysée-Vertrag gern als Beginn der deutsch-französischen Aussöhnung dargestellt, den handelnden Staatsmännern Charles de Gaulle und Konrad Adenauer eine Schlüsselrolle zugewiesen.25 Dabei handelt es sich um einen Mythos, der sowohl die Vorgeschichte als auch die Zeit danach völlig ausblendet. In der Forschung lassen sich bezüglich der Bedeutung der unterschiedlichen Ebenen im westdeutsch-französischen Annäherungs- und Aussöhnungsprozess verschiedene Positionen festmachen. So ist der Erfolg Ulrich Lappenküper zufolge ausschließlich der politischen Ebene beizumessen.26 Claus W. Schäfer ist der Ansicht, dass die staatliche Außen- und Europapolitik durch Städtepartnerschaften bis in die 1980erJahre nur bedingt beeinflusst wurde.27 Im Gegensatz dazu hält Corine Defrance das aktive Zutun der Zivilgesellschaft für absolut notwendig, allein ‚von oben‘ lasse sich ein neuer politischer Kurs nicht verordnen. Besonders hervorzuheben sei die intensive Vorarbeit deutsch-französischer Mittler:innen als Voraussetzung für den Erfolg des Aussöhnungsprojekts von de Gaulle und Adenauer.28 Diese Forschungskontroverse soll anhand des folgenden Beispiels untersucht werden. Die Ruhrgebietsmetropole Dortmund steht exemplarisch für die wichtige Pionierarbeit, die für die deutsch-französische Verständigung geleistet wurde, und die nicht zu unterschätzende Rolle der Zivilgesellschaft in diesem Prozess.29 Schon einige Monate vor Gründung der Bundesrepublik wurde am 8. Dezember 1948 auf Betreiben des Studienrates Stefan Albring ein Auslandsinstitut gegründet, das die Intention hatte, die Basis für freundschaftliche Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich zu schaffen.30 Auf lokaler wie regionaler Ebene wurde Stefan Albring zu einer wichtigen Mittlerfigur der Nachkriegszeit. Solche Mittler:innen gründeten aus einem Versöhnungsimpetus heraus Mittlerorganisationen, um ihr Wirken auf eine solide Grundlage zu stellen.31 Nach diesem Muster schuf auch Albring das Dortmunder Auslandsinsti-
25 Anlässlich des 40. Jahrestages der Unterzeichnung des Elysée-Vertrags beispielsweise von Jacques Chi-
rac, vgl. Defrance: Un „mythe“ de la réconciliation? (2012), S. 49. Auf Seite 52 des Beitrags ist ferner eine Passage der Chirac-Rede in deutscher Übersetzung abgedruckt. 26 Vgl. Lappenküper: Primat der Außenpolitik! (2004), S. 46. 27 Dazu ausführlich Schäfer: Zum „soliden Unterbau“ des „europäischen Gebäudes“ (2020). 28 Vgl. Defrance: Société civile et relations franco-allemandes (2010), S. 24. 29 Dierkes: „Ménage à trois“ im Ost-West-Konflikt (2024), S. 408f. 30 Vgl. „Schon früh warb er in Paris um Vertrauen“, in: WAZ, 16.09.1989. 31 Vgl. Hüser / Pfeil: Populärkulturelle Mittler und deutsch-französisches Verhältnis nach 1945 (2015), S. 35.
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tut. Innerhalb einiger Jahre entwickelte sich die Einrichtung zu einer bekannten Größe, die unterschiedliche Länder in den Blick nahm.32 Ergänzend wurde die RheinischWestfälische Auslandsgesellschaft (RWAG) geschaffen,33 die ab den ausgehenden 1950er-Jahren ihre Tätigkeit aufnahm. Anlässlich des 25-jährigen Jubiläums der Gesellschaft würdigte NRW-Ministerpräsident Heinz Kühn, „daß die ‚Bürgerinitiative’ als die man die Rheinisch-Westfälische Auslandsgesellschaft bezeichnen könne, in vielen Fällen als Wegbereiter regierungsentscheidender internationaler Vereinbarungen aufgetreten sei“34. Das Beispiel belegt die von Corine Defrance und Pia Nordblom aufgestellte These, die Zivilgesellschaft habe im Prozess der deutsch-französischen Verständigung eine überaus wichtige Rolle gespielt.35 Sowohl Ansbert Baumann als auch Hartmut Kaelble bescheinigen der Zivilgesellschaft nicht nur die Fähigkeit, Spannungen auf höchster politischer Ebene abzumildern, sondern sogar positiven Einfluss auf die Regierungsbeziehungen nehmen zu können.36 Essenziell wichtig für den westdeutsch-französischen Aussöhnungsprozess waren der Wille zu Versöhnung und Freundschaft sowie das Engagement der Mittler:innen, Austauschdienste und privaten Verständigungsorganisationen, die die Beziehungen der Menschen beider Länder mit Leben füllten. Im Sinne des eingangs erläuterten erweiterten Kulturbegriffs sollten weite Teile der Bevölkerung in die westdeutsch-französischen Städtepartnerschaften einbezogen werden, was – wie die ausgewählten Beispiele deutlich zeigen – auch zu einem Stabilitätsfaktor werden konnte. Per Anordnung ‚von oben‘ hätte sich die deutsch-französische Verständigung nicht durchsetzen lassen.37 Nur auf die skizzierte Weise konnte „eine ‚Luftveränderung’ in den beiden Gesellschaften“38 entstehen, die nicht allein mit der ‚politischen Großwetterlage’ zusammenhing. Eine hohe Bedeutung hatte die ‚großen Politik‘ aber dennoch. Dies zeigt insbesondere die Initiative, ein Deutsch-Französi-
32 Vgl.
StADO, Bestand 478, Nr. 148: Rheinisch-Westfälische Auslandsgesellschaft e. V., Welche Länderkreise gibt es? Wer leitet sie? Wann kommen sie zusammen?, Dezember 1957. 1974 existierten 22 Arbeitskreise, vgl. „Rheinisch-Westfälische Auslandsgesellschaft beging 25-jähriges Jubiläum mit vielen Gästen“, in: Dortmunder Bekanntmachungen, Nr. 44, 31.10.1974. 33 Ursprünglich aus der 1949 von Stefan Albring gegründeten Gesellschaft der Freunde des Auslandsinstituts hervorgegangen, wurde diese 1957 zur Rheinisch-Westfälische Auslandsgesellschaft (RWAG), die dann 1993 in Auslandsgesellschaft Nordrhein-Westfalen (agNRW) umbenannt wurde; vgl. „Schon früh warb er in Paris um Vertrauen“, in: WAZ, 16.09.1989; „Länderkreise stellen sich zum Jubiläum vor“, in: WAZ, 16.09.1989; StADO, Bestand 478, Nr. 149: Helmut Hirsch, Auslandsinstitut Dortmund, Tätigkeitsbericht 1958/59; siehe auch Auslandsgesellschaft NRW: Über 70 Jahre Auslandsgesellschaft. 34 „Rheinisch-Westfälische Auslandsgesellschaft beging 25-jähriges Jubiläum mit vielen Gästen“, in: Dortmunder Bekanntmachungen, Nr. 44, 31.10.1974. 35 Vgl. Defrance: Société civile et relations franco-allemandes (2010), S. 24; Nordblom: Die deutsch-französischen Beziehungen seit 1945 (2005), S. 19. 36 Vgl. Baumann: Begegnung der Völker? (2003), S. 297; Kaelble: Die sozialen und kulturellen Beziehungen Frankreichs und Deutschlands (2003), S. 46. 37 Vgl. Nordblom: Die deutsch-französischen Beziehungen seit 1945 (2005), S. 19. 38 Bock / Pfeil: Kulturelle Akteure und die deutsch-französische Zusammenarbeit (2005), S. 226.
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sches Jugendwerk zu gründen, das für die westdeutsch-französischen Städtepartnerschaften eine wichtige Rolle spielt(e).39 2. Ostdeutsch-französische Städtepartnerschaften – „instrumentalisierte transnationale Beziehungen“40
Die ostdeutsch-französischen Städtepartnerschaften waren durch die politischen Rahmenbedingungen des Ost-West-Konflikts und den „totalen Anspruch auf die Führung von Staat und Gesellschaft“41 der SED in ein enges Korsett geschnürt. Sie wurden üblicherweise über die Rathäuser koordiniert und konnten im Kontext der Diktatur keine autonomen Strukturen zwischen Gruppierungen mit denselben Freizeitinteressen – analog den zivilgesellschaftlichen Aktivitäten im Westen – und nur in überschaubarem Umfang Privatkontakte entwickeln.42 Ostdeutsche Kommunalpolitiker:innen waren die Hauptakteur:innen bei Abschluss und Pflege bestehender Städtepartnerschaften, doch im streng hierarchischen Staatsaufbau fehlte ihnen die kommunalpolitische Selbstbestimmung und damit die Befugnis, weitreichende Entscheidungen zu treffen. Sie erhielten im Rahmen des „Führungs- und Kontrollanspruchs“43 klare Vorgaben von der Regierung: Die Kommunen agierten als verlängerter Arm der DDR-Regierung im Rahmen der „auslandsinformatorischen Arbeit“44, denn der SED-Staat verband mit den Städtepartnerschaften zum kapitalistischen Ausland handfeste außenpolitische Ziele.45 Dementsprechend wurden die gewählten Begegnungsformen und die Zielgruppen der Städtepartnerschaftsarbeit im Ausland nicht willkürlich ausgewählt oder gar den Kommunen überlassen. Sie zielten vielmehr darauf ab, wichtige Multiplikator:innen
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Jahr 1963, als das Deutsch-Französische Jugendwerk (DFJW) gegründet wurde, setzte ein regelrechter Städtepartnerschaftsboom ein: Bis 1975 wurden 648 neue westdeutsch-französische Städtepartnerschaften geschlossen, vgl. Grunert: Langzeitwirkungen von Städte-Partnerschaften (1981), S. 73. Noch heute ist das DFJW mit seinen Förderprogrammen für Begegnungsaktivitäten eine wichtige Größe für die deutsch-französischen Städtepartnerschaften. So nahmen in diesem Rahmen im Jahr 2018 knapp 7.200 junge Menschen an rund 360 Projekten teil, vgl. Deutsch-Französisches Jugendwerk: Europa in der Mitte der Gesellschaft stärken (08.10.2019). 40 Höpel: Zwischen nationaler Außenpolitik und interurbaner Kommunikation (2007), S. 125. 41 Malycha / Winters: Geschichte der SED (2009), S. 78. Zur Umgestaltung der SED zwischen 1947 und 1952 zu einer Partei nach sowjetischem Vorbild und dem damit einhergehenden neu definierten Herrschafts- und Machtanspruch siehe S. 52–102. 42 Laut Ulrich Pfeil blieben die ostdeutsch-französischen Städtepartnerschaften „weitgehend ohne gesellschaftliche Verankerung“, siehe Pfeil: Ostdeutsch-französische Städtepartnerschaften (2004), S. 159. 43 Ebd. 44 Dazu beispielsweise Abraham: Die politische Auslandsarbeit der DDR in Schweden (2007), S. 43–69. 45 Ausführlicher bei Pfeil: Die „anderen“ deutsch-französischen Beziehungen (2004), S. 389–393; ebenfalls thematisiert bei Höpel: Zwischen nationaler Außenpolitik und interurbaner Kommunikation (2007), insbesondere S. 121, 125–128.
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zu erreichen, die das positive Bild des ostdeutschen Staates in ihrem Heimatland verbreiteten. Typische Zielgruppen waren neben offiziellen Repräsentant:innen vor allem Pädagog:innen im Rahmen der alljährlichen Ostersymposien, Gewerkschafter:innen anlässlich des Tags der Arbeit, Frauen-Delegationen, die den Internationalen Frauentag am 8. März in der DDR begingen, und antifaschistische Widerstandskämpfer:innen. Auch Kinder und Jugendliche, die ihre Ferien in Ostdeutschland verbrachten, wurden als wichtige Zielgruppe angesehen. Den Gästen aus dem nichtsozialistischen Ausland wurden Teilausschnitte der ostdeutschen Realität präsentiert, wodurch sich ein positives Bild der DDR – in Abgrenzung zu den negativen Auswüchsen des Kapitalismus in Frankreich wie Arbeitslosigkeit und Ungleichheiten – verfestigen sollte: Die ostdeutsch-französischen Städtepartnerschaften folgten einer politisch-ideologischen Mission in eine Richtung, von Ost nach West.46 Dem stand ein weiteres Einbahnstraßensystem in die gegenläufige Richtung, von West nach Ost, gegenüber: Die Reisen im Rahmen der Städtepartnerschaften verliefen fast ausschließlich von Frankreich in Richtung DDR, was bis Ende der 1960er-Jahren den strengen Visaregelungen des Westens und danach stringenten Reisevorgaben des SED-Regimes geschuldet war.47 Der Charakter der ostdeutsch-französischen Städtepartnerschaften kann vereinfacht als ‚Einbahnstraßensystem in zwei Richtungen‘ skizziert werden. Laut Ulrich Pfeil zählten die städtepartnerschaftlichen Aktivitäten „zu den wichtigsten auslandsinformatorischen Aktivitäten der DDR ab Ende der 1950er-Jahre“48: Sie wurden als Instrument verstanden, um der DDR zu einem höheren internationalen Ansehen zu verhelfen, die eigene Überlegenheit nach außen darzustellen und den von der Bundesrepublik definierten Alleinvertretungsanspruch aufzuweichen. Hauptziel der Städtepartnerschaftsarbeit war die diplomatische Anerkennung der DDR durch die westlichen Staaten.49 Thomas Höpel wertet die Verbindungen ostdeutscher Kommunen ins westliche Ausland folglich als „instrumentalisierte transnationale Beziehungen“50. Dazu passt, dass Frankreich aus dem Fokus der ostdeutschen Auslandsarbeit rückte, als das Ziel der diplomatischen Anerkennung erreicht war. Die kostspieligen Aktivitäten sollten keinesfalls ausgeweitet, sondern eher zurückgefahren werden. Das betraf besonders Städtepartnerschaften kleinerer Kommunen.51 Es ist offensichtlich, dass das Interdependenzmodell verschiedener gleichberechtigter Ebenen, wie es bei den westdeutsch-französischen Städtepartnerschaften vorzufinden ist, aufgrund der vorherrschenden hierarchischen Strukturen nicht auf die ostdeutsch-französi46 Dazu ausführlicher Dierkes: „Ménage à trois“ im Ost-West-Konflikt (2024), S. 86–88. 47 Vgl. ebd., S. 88–92. 48 Pfeil: Der Städte- und Gemeindetag der DDR (2020), S. 146. 49 Der Generalsekretär der Deutsch-Französischen Gesellschaft der DDR Heyne bezeichnete die Städte-
partnerschaften im Jahr 1971 etwa als „bedeutende Basen der Anerkennungsbewegung“, vgl. Herrmann: „Bedeutende Basen der Anerkennungsbewegung“ (2004), S. 370. 50 Höpel: Zwischen nationaler Außenpolitik und interurbaner Kommunikation (2007), S. 125. 51 Vgl. Herrmann: „Bedeutende Basen der Anerkennungsbewegung“ (2004), S. 382.
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schen Städtepartnerschaften übertragen werden kann. Anhand von zwei empirischen Beispielen soll im Folgenden daher untersucht werden, wie stark sich der durch die staatspolitische Ebene definierte stringente Rahmen auf die Dynamik privater Kontakte auswirkte und inwieweit Eigendynamiken der unteren Ebene die Vorgaben ‚von oben‘ konterkarieren konnten. 2.1.
Der Jugendaustausch zwischen Görlitz und Amiens
1963 wurde zunächst auf der Ebene der Freundschaftskomitees eine Städtefreundschaft zwischen Görlitz und Amiens vereinbart. Diese wurde 1971, nachdem der Kommunist René Lamps siegreich aus der Kommunalwahl in Amiens hervorgegangen war, in eine offizielle Städtepartnerschaft umgewandelt. In beiden Vertragswerken wurden gegenseitiges Kennenlernen und der Austausch zwischen verschiedenen Bevölkerungs- und Berufsgruppen prominent verankert. Diesem Ziel folgend waren die 1960er-Jahre durch freundschaftliche Kontakte geprägt, die in einigen Fällen – wie etwa dem längeren DDR-Aufenthalt der Germanistikstudentin Michèle Kiintz52 oder den Besuchen französischer Jugendlicher in Görlitzer Gastfamilien zu Weihnachten als interkulturelle Begegnungen – stark an Formate erinnerten, wie sie im Westen ab 1963 durch das Deutsch-Französische Jugendwerk gefördert wurden. Allerdings achtete die Stadt Görlitz von Anfang an streng darauf, die Kontrolle über die Aktivitäten nicht zu verlieren.53 In diese Phase relativer Offenheit fiel auch die Hochzeit von Ellinor Schade aus Görlitz und Daniel Thomas aus Amiens, die sich bei städtepartnerschaftlichen Begegnungen kennengelernt hatten.54 Anfang der 1970er-Jahre schmiedeten die Komitees in Amiens und Görlitz Pläne, ähnlich wie in den westdeutsch-französischen Städtepartnerschaften französischen Kindern und Jugendlichen über mehrere Monate sowie Deutschlehrer:innen für die Dauer eines Monats Aufenthalte in Görlitzer Gastfamilien zu ermöglichen.55 Doch der
52 Michèle Kiintz weilte 1963 zu einem mehrmonatigen Studienaufenthalt in der DDR. Mit dem Görlitzer
Freundschaftskomitee der Stadt schloss sie einen Vertrag, der unter anderem Familienbesuche in Görlitz an den Wochenenden und in den Semesterferien vorsah, „[u]m Mademoiselle Kiintz einen persönlichen Einblick in das Familienleben der Bürger der DDR zu ermöglichen […]“, siehe StAGR, SBZ-DDR 443: Patenschaftsvertrag zwischen dem Freundschaftskomitee der Stadt Görlitz / Amiens und Michèle Kiintz, 30.10.1963. 53 Vgl. StAGR, SBZ-DDR 443: Einschätzung zur französischen Jugenddelegation 07.08.–06.09.1964. 54 Siehe dazu diverse Dokumente in SächsStA-D, Bestand 11430, Nr. 65572 u. a. zu einem längeren Aufenthalt von Daniel Thomas ab Herbst 1965 in Görlitz und zur Frage der Ausreise von Ellinor Schade nach Frankreich. 55 Vgl. StAGR, SBZ-DDR 448: Durchschrift der Antworten eines Fragebogens, undatiert. Fragen und Absender sind auf der Durchschrift nicht enthalten. Aus dem Inhalt ergibt sich, dass es sich um eine Befragung zum Stand der Beziehungen zu Amiens und zu den Aktivitäten des Jahres 1970 handelte, die vermutlich im Dezember 1970 beantwortet wurde.
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Rat des Bezirkes Dresden verfolgte einen ganz anderen Kurs: Nach einer kritischen Bewertung der in Görlitz im Rahmen der internationalen Verbindungen geleisteten Arbeit erhob er die Forderung: „Persönliche Verbindungen hören auf. – vor allem Besuche in Wohnungen.“56 Die Pläne der Partnerschaftskomitees waren damit vom Tisch. In der Städtepartnerschaft machte sich geschäftsmäßige Routine breit. Intensivere persönliche Kontakte beschränkten sich fortan auf bereits befreundete Akteur:innen und die Organisator:innen der Partnerschaftsarbeit, die in den überlieferten Briefen weiterhin einen sehr persönlichen und herzlichen Dialog pflegten. Eine erneute Wende wurde mit dem zwischen Frankreich und der DDR 1980 geschlossenen Konsular- und Kulturabkommen eingeleitet, in dessen Folge die DDR eine gewisse kulturelle Öffnung erlebte. Persönliche Bindungen erfuhren erneut eine Stärkung. Französische Jugendliche wurden wieder in Görlitzer Gastfamilien untergebracht. Vor allem aber werteten die Reisen junger Erwachsener aus Görlitz nach Amiens in den Jahren 1982, 1986 und 1988 – obwohl es sich dabei um eine recht elitäre Angelegenheit handelte – die Partnerschaft auf.57 Das nicht nur, weil sie ihr einen Ansatz von Bilateralität verliehen, sondern weil insbesondere für die reisenden jungen Görlitzer:innen interkulturelle Erfahrungen in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß ermöglicht wurden. Somit ließe sich mit diesem Beispiel prinzipiell die These Christian Wenkels stützen, die 1980er-Jahre seien das „goldene Jahrzehnt“58 ostdeutschfranzösischer Kulturbeziehungen gewesen. Allerdings ist einschränkend anzuführen, dass diese neue Dynamik die auf französischer Seite vorhandene Enttäuschung über die weiterhin überwiegend eindimensional ausgerichtete Verbindung nicht auffangen konnte: Die Partnerschaftsarbeit der 1980er-Jahre war von einem mélange aus neuer Dynamik und fortgesetzten Spannungen geprägt.59 Insgesamt belegt das Beispiel des Jugendaustauschs zwischen Görlitz und Amiens den von Tanja Herrmann und Corine Defrance herausgestellten Zwiespalt des Regimes:60 Auf der einen Seite dienten die ostdeutsch-französischen Städtepartnerschaften als Aushängeschild, um sich in Richtung Westen als weltoffener Staat zu präsentieren; auf der anderen Seite fürchtete die Führung der DDR stets die Einflussnahme des Westens auf die ostdeutsche Bevölkerung und einen damit verbundenen Kontrollverlust.61 Auch wenn Privatkontakte limitiert waren, konnte das Regime dennoch nicht verhindern, dass sich im Rahmen der ostdeutsch-französischen Städtepartnerschaften
56 StAGR, SBZ-DDR 448: Aktennotiz über die Aussprache mit der Genn. Teichmann, Görlitz, 19.06.1970. 57 Vgl. Pfeil: Die „anderen“ deutsch-französischen Beziehungen (2004), S. 509–520. Zu den Jugendbegeg-
nungen zwischen Görlitz und Amiens in den 1980er-Jahren siehe AMCA, 251 W 38–251 W 40; 876 W 106; 876 W 107; 876 W 111; 876 W 118; ferner StAGR, SBZ-DDR 1115. 58 Wenkel: Auf der Suche nach einem „anderen Deutschland“ (2014), S. 479. 59 Dazu ausführlich Dierkes: „Ménage à trois“ im Ost-West-Konflikt (2024), S. 479–495. 60 Vgl. Defrance / Herrmann: Städtepartnerschaften (2016), S. 598. 61 Zur Überwachung und Kontrolle der ostdeutschen-französischen Städtepartnerschaftsarbeit durch das SED-Regime siehe ausführlich Knitter: Ostdeutsch-französische Städtepartnerschaften (2020). Im Hin-
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Freundschaften und sogar Liebesbeziehungen entwickelten.62 Die Intensität der Begegnungen war stark vom politischen Kontext abhängig: Je mehr Öffnung das SEDRegime zuließ, desto intensiver konnten die Begegnungen ausfallen. Dass es aber auch Konstellationen gab, die die stringenten Vorgaben höherer Ebenen zu untergraben vermochten, zeigt das folgende Beispiel. 2.2.
Die Städtepartnerschaft Niesky – Albert
Die Partnerschaft zwischen Niesky (Bezirk Dresden) und Albert (Somme) wurde 1964 geschlossen. Unmittelbar nach der diplomatischen Anerkennung der DDR durch Frankreich legte das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten (MfAA) fest, die Partnerschaft auslaufen zu lassen.63 In einem handschriftlichen Aktenvermerk wurde für den Bezirk Dresden konkret festgehalten, künftig nur noch prestigeträchtige Bündnisse mit bedeutenden Städten wie etwa Strasbourg, Nancy und Amiens in den Fokus zu nehmen. Die Städtepartnerschaftsarbeit in kleineren Städten wie Niesky solle dagegen „beginnend 1973 u wirksam werdend 1974 auf ein absolutes Mindestmaß eingeschränkt werden.“ Als Begründung wurde auf die Kosten rekurriert: „213.000,- Mark sind zuviel (deshalb das Kleinzeug sterben lassen).“64 Niesky hielt sich an diese Vorgabe und stellte die Aktivitäten ein. Doch die Verantwortlichen in Albert, denen dieser Kurs nicht offen kommuniziert wurde, zeigten weiterhin großes Interesse an der Partnerschaft. Die Stadt Niesky erkundigte sich daraufhin beim Rat des Bezirkes Dresden, wie mit Schreiben aus Albert umzugehen sei. Der dortige Referatsleiter für Internationale Arbeit leitete die Frage an die zuständige Arbeitsgruppe im DDR-Außenministerium weiter.65 Einige Jahre später klagte er gegenüber dem Ministerium: „Die zum Sterben verurteilte Partnerschaft Niesky – Albert erfährt immer wieder neue Impulse […]. Die Aktivitäten in Albert veranlassen uns, ständig neues auslandsinformatorisches Material über die DDR über Niesky an den Partner in Albert zu senden.“66
blick auf das MfS und die Liga für Völkerfreundschaft auch Abraham: Die politische Auslandsarbeit der DDR in Schweden (2007), S. 102–107. 62 Vgl. Knitter: Kommunalpartnerschaften zwischen Frankreich und der DDR (2020). 63 Vgl. SächsStA-D, Bestand 11430, Nr. 65531: Schreiben des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten (MfAA), Arbeitsgruppe Parlamentarisch-kommunale Beziehungen (PKB) an den Rat des Bezirkes Dresden, 02.02.1973. 64 Ebd.: N. N. (vermutlich ein Mitarbeiter des MfAA; die Handschrift lässt auf Edith Puschke schließen), handschriftlicher Vermerk „Für Dresden“, undatiert. 65 Vgl. ebd.: Schreiben des Rates des Bezirks Dresden, Ref. Internationale Arbeit an das MfAA, Arbeitsgruppe PKB, 27.09.1973. 66 PA AA, M 1-C/2676: Schreiben des Rates des Bezirks Dresden, Ref. Internationale Arbeit an das MfAA, Arbeitsgruppe PKB, Genn. Puschke, 26.05.1976.
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Letztlich gelang es der DDR-Führung nicht, die Partnerschaft auszusetzen. Dank des großen Interesses der französischen Seite wurden weiterhin Gäste aus Albert, unter anderem Kinder in den Sommerferien, in der DDR empfangen.67 Wiederholt weilten sogar einzelne Vertreter:innen der Stadt Niesky in Albert.68 Trotz der eindeutigen Vorgabe ‚von oben‘ konnte die Städtepartnerschaft weiterbestehen, weil die lokalen Akteur:innen auf französischer Seite dies so wollten.69 Allerdings bleibt zu konstatieren, dass derartig wirkmächtige Eigendynamiken die Ausnahme blieben. Sie führten nicht dazu, dass das SED-Regime seinen politischen Kurs im Hinblick auf die ostdeutschfranzösischen Städtepartnerschaften korrigierte. In den meisten Fällen verfehlten die stringenten Vorgaben des Regimes ihre Wirkung nicht: Initiativen ‚von unten‘ wurden mit aller Regelmäßigkeit ausgebremst, Partnerschaften die Dynamik geraubt70 oder – insbesondere im kleinstädtischen Bereich – vollkommen auf Eis gelegt.71 3. Fazit
Für ostdeutsch-französische Kommunalverbindungen waren politische Ereignisse und Entwicklungen grundsätzlich von deutlich weitreichenderer Bedeutung als für westdeutsch-französische Städtepartnerschaften. Die Ursache liegt bereits in den vollkommen unterschiedlichen Ideen und Zielen, die diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs trotz Verwendung des identischen Begriffs mit dem Konzept der Städtepartnerschaft verbunden wurden. Aus der Perspektive des SED-Staats und ostdeutscher Funktionäre auf lokaler Ebene sollten sie laut Thomas Höpel als „instrumentalisierte transnationale Beziehungen“ dazu beitragen, konkrete außenpolitische Ziele der DDR, vor allem ihre diplomatische Anerkennung im Westen, durchzusetzen. Dem Konzept des Ostens einer politisch-ideologischen Mission zugunsten außenpoliti67 Vgl. etwa SächsStA-D, Bestand 11430, Nr. 65528; 65587; 65596; 65694; 65736. 68 Etwa anlässlich des 30. Jahrestages der DDR, vgl. SächsStA-D, Bestand 11430,
Nr. 65642: Bürgermeister der Stadt Niesky, Jahreseinschätzung der kommunalen Auslandsbeziehungen, 15.11.1979. Bürgermeister Leopold reiste 1981 mit der Freundschaftskarawane nach Albert, vgl. ebd.: Bürgermeister der Stadt Niesky, Bericht zur Erfüllung meines Auftrages als Teilnehmer der Freundschaftskarawane der Liga für Völkerfreundschaft nach Nordfrankreich vom 20. bis 28. September 1981, 08.10.1981. 69 Der französischen Seite blieb der Austausch insgesamt jedoch zu einseitig. Deshalb bahnte das kommunistisch geführte Albert schließlich auch Kontakte zum nordrhein-westfälischen Aldenhoven an, vgl. SächsStA-D, Bestand 11430, Nr. 65642: Bürgermeister der Stadt Niesky, Jahreseinschätzung der kommunalen Auslandsbeziehungen, 15.11.1979. Derartige ostdeutsch-französisch-westdeutsche Dreieckskonstellationen auf kommunaler Ebene bilden den Hauptuntersuchungsgegenstand bei Dierkes: „Ménage à trois“ im Ost-West-Konflikt (2024). 70 So etwa im ebd. untersuchten Beispiel Velten – Grand-Couronne, insbesondere S. 423–431. 71 Dazu exemplarisch der Fall Elbingerode – Bouligny, skizziert ebd., S. 85 f.: Die beiden Städte bahnten 1963 Beziehungen an, die 1964 in einem von den Bürgermeistern beider Kommunen unterzeichneten Freundschaftsvertrag mündeten. Nach einer Phase reger Aktivitäten, die bis ins Jahr 1973 reichten, wurde das Bündnis auf Weisung des Bezirkes Magdeburg aufgegeben.
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scher Ziele stand eine auf Austausch und Begegnung fußende Idee des Kulturkontakts und -transfers im Westen gegenüber. Auch aus westlicher Perspektive waren Städtepartnerschaften keinesfalls unpolitisch, dennoch war der Ansatz ein anderer: Vor allem in den ersten Nachkriegsjahrzehnten ging es darum, durch Annäherung und Aussöhnung zwischen den Menschen in Frankreich und Westdeutschland das Fundament für ein friedliches Europa zu legen. Entsprechend wurde in den westdeutsch-französischen Städtepartnerschaften gemäß der Idee des erweiterten Kulturbegriffs ein breitenwirksamer Ansatz verfolgt, der darauf basierte, weite Teile der Bevölkerung einzubeziehen. Dieser Ansatz fand seinen Niederschlag in einem komplexen Mehrebenensystem, das von den kommunalpolitisch-offiziellen Beziehungen über den Bildungsbereich und die zivilgesellschaftliche Ebene bis hin zu privaten Kontakten reichte. Wenn es gelang, die Städtepartnerschaft jenseits der kommunalpolitisch-offiziellen Ebene zu etablieren und sie insbesondere in der Zivilgesellschaft zu verankern, erlangten die Partnerschaften hohe Stabilität, die häufig zu einer Jahrzehnte andauernden Erfolgsgeschichte führte. Die ostdeutsch-französischen Städtepartnerschaften verfügten dagegen über eine vergleichsweise geringe Reichweite und Breitenwirkung innerhalb der Bevölkerung der beteiligten Städte. Ein stabiles Fundament jenseits der offiziellen Akteur:innen fehlte weitestgehend. Auch aufgrund der vorherrschenden hierarchischen Strukturen lässt sich der Mehrebenenansatz nicht vorbehaltlos auf die ostdeutsch-französischen Städtepartnerschaften übertragen. Prägend blieb hier das enge Handlungskorsett im Kontext von Diktatur und Ost-West-Konflikt sowie die Instrumentalisierung der Partnerschaften für außenpolitische Zwecke. Die Dynamik im städtepartnerschaftlichen Geschehen hing maßgeblich davon ab, welchen Öffnungsgrad das SED-Regime den Bündnissen gerade zubilligte. Dass vorgegebene Marschrouten wie im Fall Niesky – Albert weitgehend konterkariert wurden, kam ausgesprochen selten vor. Dennoch zeigt das Beispiel, dass eine gewisse Eigendynamik auch im Kontext der Diktatur möglich war. Grundsätzlich gilt: Sobald nur ein geringes oder gar kein Fundament jenseits der kommunalpolitisch-offiziellen Ebene vorhanden ist, werden sowohl das Handeln der politisch Verantwortlichen als auch der allgemeine Kontext für die Entwicklung einer Städtepartnerschaft deutlich entscheidender. Umgekehrt ausgedrückt: Je stärker die (zivil-)gesellschaftliche Verankerung und die Autonomie der Akteur:innen jenseits der offiziellen Ebene der Rathäuser, desto geringer der Einfluss externer Faktoren. Gleichzeitig lässt sich schlussfolgern: Je stärker die Verankerung der Städtepartnerschaften in der Zivilgesellschaft, desto größer ist der Einfluss aller Partnerschaften in Summe genommen auf die ‚politische Großwetterlage’ zwischen zwei Staaten. Insbesondere im Hinblick auf die westdeutsch-französischen Städtepartnerschaften lässt sich konstatieren, dass sie mit ihrer großen Anzahl, mit ihren vielfältigen Aktivitäten und der hohen Zahl beteiligter Akteur:innen positiven Einfluss auf die Ebene der ‚großen Politik‘ nehmen konnten.
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Ost und West im Kontrast
Jürgen Dierkes, Studium der Fächer Romanistik / Französisch, Europawissenschaften und Wirt-
schaftswissenschaften (Diplom) an der Universität Kassel und der Université Montpellier III – Paul Valéry, 1993–2010 Tätigkeit im Verlagswesen, 2011–2013 Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Universität Kassel, 2013–2017 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Europäische Zeitgeschichte an der Universität des Saarlandes, seit 2017 zunächst pädagogischer Mitarbeiter, dann geschäftsführender Gesellschafter der Profis – Seminare für Betriebsräte GbR in Detmold, 2021 Promotion in den Fächern Neuere Geschichte an der Universität des Saarlandes und Études germaniques an der Sorbonne Université im Cotutelle-Verfahren mit dem Titel „Ménage à trois“ im Ost-West-Konflikt. Städtepartnerschaften zwischen westdeutschen, französischen und ostdeutschen Kommunen von den 1950er Jahren bis zum Fall der Mauer. Forschungsschwerpunkte: deutsch-französische Beziehungen – Politisches und Gesellschaftliches. Katrin Annina Groß, Studium der Historisch orientierten Kulturwissenschaften an der Universität
des Saarlandes (B. A .) sowie der Global History an der Universität Heidelberg (M. A .), 2016–2017 studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Europäische Zeitgeschichte der Universität des Saarlandes, 2020 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Europäische Zeitgeschichte der Universität des Saarlandes. Forschungsschwerpunkte: europäische Zeitgeschichte; Geschichte des Saarlandes.
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(K)eine Stimme für Europa Euroskeptische Einstellungen im Kontext der ersten Direktwahl zum Europäischen Parlament 1979 im deutsch-französischen Pressespiegel
SARAH ALYSSA MAY
1. Einleitung
So wagten Deutschlands Sozialdemokraten für die Europawahl ein Programm linker Utopie, als ständen sie in Frankreich oder Italien und nicht daheim zur Wahl, wo der Widerspruch zu den handelsüblichen liberalen Schwüren übel vermerkt werden könnte. So leistete sich Frankreichs stärkste Regierungspartei, das gaullistische RPR, einen parteiinternen Guerillakrieg zwischen Europa-Freunden und Europa-Feinden als stehe im Juni die Existenz des geheiligten französischen Zentralstaates auf dem Spiel.1
Am 1. Januar 1979 widmete der Spiegel der nahenden ersten Direktwahl zum Europäischen Parlament einen ausführlichen Beitrag. Der Auszug vermittelt exemplarisch einen Eindruck, wie kritisch die deutsche Presse den ambivalenten europapolitischen Wahlkampf der deutschen und französischen Parteien vor der ersten Europawahl bewertete. Etwa ein halbes Jahr vor der Abstimmung trat nur allzu deutlich eine Konfliktlinie hervor, die Befürwortende der EG2 und der dazugehörigen Institutionen von deren Kritiker:innen und Gegner:innen trennte. Diese spaltete sowohl die EG als Ganzes als auch die einzelnen Mitgliedsstaaten in zwei Lager. Während das Tandem Schmidt-Giscard gemeinsam für Europa warb, waren auf der parteipolitischen Ebene der beiden Länder die europaspezifischen Einstellungen hinsichtlich der anstehenden „Jahrhundertwahl“3 sehr unterschiedlich dimensioniert und reichten von dezidierter Zustimmung bis hin zu offener Kritik. Im Fokus des Artikels steht die Frage, inwiefern sich euroskeptische Positionen der bundesdeutschen und französischen Parteien vor, 1 2 3
„Deine Stimme für Europa“, in: Der Spiegel, 01.01.1979. Zu den im Text verwendeten Abkürzungen siehe das Verzeichnis am Ende des Artikels. „Kommt Europas Einheit nun von selbst?“, in: Der Spiegel, 04.06.1979.
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während und unmittelbar nach der ersten Direktwahl zum EP 1979 in den jeweiligen Pressedokumenten widerspiegeln.4 Was waren jeweils Themen und Argumentationsstrukturen europakritischer Einstellungen? Inwiefern lassen sich zwischen der bundesdeutschen und der französischen Seite Unterschiede ausmachen und wo liegen möglicherweise Gemeinsamkeiten? Was sind mögliche Erklärungsfaktoren für einen mehr oder weniger ausgeprägten Euroskeptizismus? Um das Gros der Äußerungen und Initiativen, die sich gegen die europäische Integration und ihre Institutionen richten, terminlogisch zu fassen, haben Wissenschaftler:innen und Journalist:innen zahlreiche Begrifflichkeiten bemüht, die mitunter Ähnliches, aber auch Grundverschiedenes meinen können.5 Inzwischen hat sich ‚Euroskeptizismus‘ als gängige Terminologie in den meisten Forschungsdisziplinen etabliert. Eingerahmt vom sogennanten „Post-Maastricht-Blues“6, der das Ende des „permissive consensus“7 markierte und den Nährboden für eine zunehmend ambivalente Perzeption von Europa bereitete, fand der Begriff in den 1990er-Jahren Eingang in die Wissenschaft. Auf der Grundlage der Pionierarbeit von Paul Taggart8 haben vor allem Politikwissenschaftler:innen in den letzten beiden Jahrzehnten zahlreiche Konzeptualisierungsangebote vorgelegt.9 Die zentrale Prämisse einer sehr verschieden dimensionierten Opposition gegenüber dem europäischen Integrationsprozess hat in diesem Zusammenhang zahlreiche analytische Erweiterungen und Eingrenzungen erfahren – beispielsweise in Form der Dichotomien eines ‚harten‘ / ‚weichen‘ bzw. ‚diffusen‘ / ‚spezifischen‘ Euroskeptizismus.10 Thematisch waren es vor allem Fragen nach den Ursachen und Hintergründen euroskeptischer Einstellungen, die Forschende zu Beginn des 21. Jahrhunderts umtrieben und zu einer Vielzahl von Einzelländerstudien führten.11 Dabei lag das Augenmerk vor allem auf akteursbezogenen Fragestellungen – besonders hinsichtlich Dissensen
Der vorliegende Beitrag basiert auf einer Bachelorarbeit, die im Wintersemester 2020/2021 mit dem Titel „(K)eine Stimme für Europa – Euroskeptische Einstellungen im Kontext der ersten Direktwahl zum Europäischen Parlament 1979 im deutsch-französischen Pressespiegel“ im Fach Historisch orientierte Kulturwissenschaften an der Universität des Saarlandes eingereicht und von Dietmar Hüser betreut wurde. 5 So ist bisweilen die Rede von Anti-Europäismus, Europaphobie und Europapopulismus. Siehe beispielsweise Klein: Euroskeptizismus (2020). 6 Eichenberg / Dalton: Post-Maastricht Blues (2007). 7 Lindberg / Scheingold: Europe’s Would-Be Polity (1970), S. 121. 8 Vgl. Taggart: A Touchstone of Dissent (1998). 9 Zusammenfassend zuletzt Ketelhut: Euroskeptizismus (2022), S. 71–79. 10 Vgl. Szczerbiak / Taggart: Theorizing Party-Based Euroscepticism (2008); Kopecký / Mudde: The Two Sides of Euroscepticism (2002). Siehe auch Taggart / Szczerbiak (Hg.): Opposing Europe? (2007), insbesondere S. 6. 11 Siehe z. B. den Sammelband Harmsen / Spiering (Hg.): Euroscepticism (2004). Zu Kausalfragen vgl. exemplarisch McLaren: Opposition to European Integration (2004); Hooghe: What drives Euroskepticism? (2007). Für den deutschen Raum vgl. beispielsweise Weßels: Spielarten des Euroskeptizismus (2009). 4
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innerhalb der Parteienlandschaften der europäischen Länder.12 Die meisten dieser vornehmlich politikwissenschaftlichen Studien weisen allerdings einen starken Gegenwartsbezug auf und setzen in ihrem zeitlichen Zuschnitt frühestens in den 1990er-Jahren an. In den geschichtswissenschaftlichen Disziplinen wiederum blieben euroskeptische Grundhaltungen als Bezugspunkt historischer Analysen lange verkannt.13 Dies gilt besonders für die erste Direktwahl zum EP. Jene Arbeiten, die zumindest in Ansätzen europakritische Positionen im Kontext des Urnengangs 1979 in den Blick nehmen, heben häufig nur auf bestimmte Teilaspekte wie beispielsweise die Wahlbeteiligung ab.14 Eine systematische Analyse euroskeptischer Positionen nationaler Parteien bei der ersten Europawahl steht nach wie vor aus. Besonders transnational dimensionierte Studien bleiben ein Forschungsdesiderat. Da es den bisherigen Beiträgen vor allem an Quellenmaterial mangelte,15 stellt der Artikel den Versuch dar, auf der Grundlage eines für den Untersuchungszeitraum bisher wissenschaftlich wenig erschlossenen Presse korpus16 einen Beitrag zur Untersuchung des Phänomens in transnationaler westdeutsch-französischer Perspektive zu leisten. Allen Definitionsbemühungen zum Trotz bleibt Euroskeptizismus ein eher diffuser politikwissenschaftlicher Terminus, unter dem sich in Abhängigkeit vom jeweiligen Vgl. beispielsweise Hooghe / Marks / Wilson: Does Left / Right Structure Party Positions on European Integration? (2004). 13 Den Grundstein für historisch dimensionierte Studien legte der Sammelband Guieu / Dréau (Hg.): Anti-européens, eurosceptiques et souverainistes (2009). Besonders hervorzuheben sind ferner Wassenberg / Clavert / Hamman (Hg.): Contre l’Europe? (2010); Libera / Schirmann / Wassenberg (Hg.): Abstentionnisme, euroscepticisme et anti-européisme (2016). Zuletzt Gilbert / Pasquinucci (Hg.): Euroscepticisms (2020). 14 Vgl. z. B. Marsh: European Parliament Elections (2007); Mattila: Why Bother? (2003). Siehe auch die zeitgenössischen Studien Hrbek: Die EG nach den Direktwahlen (1979); Uterwedde: Europa-Wahl (1979). Eine Ausnahme stellt die Dissertation von Malte Zabel dar, der den 1970er- und 1980er-Jahren ein umfangreiches Kapitel widmet, vgl. Zabel: Euroskeptizismus (2017), S. 155–246. 15 Eine Ausnahme stellt die Arbeit von Hans-Dieter Heumann und Eva Karnofsky dar, die in ihrer politikwissenschaftlich angelegten Presseanalyse auch Zeitungsartikel aus Frankreich und der Bundesrepublik behandeln. Allerdings zeichnet sich die Untersuchung eher durch schlaglichtartige Momentaufnahmen als durch eine systematische Analyse aus, vgl. Heumann / Karnofsky: Der Wahlkampf zum Europa-Parlament (1980). 16 Für beide Länder wurden jeweils drei auflagenstarke, überregionale Tageszeitungen gewählt: auf deutscher Seite die Süddeutsche Zeitung (SZ), die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) und die Frankfurter Rundschau (FR); Le Monde, Le Figaro und L’Humanité auf französischer Seite. Bezugspunkt der deutschfranzösischen Vergleichsebene ist die politische Ausrichtung der Magazine: So steht mit der 1949 gegründeten FAZ ein bürgerlich-konservatives Medium der ältesten französischen Tageszeitung Le Figaro gegenüber, die sich durch ein wirtschaftsliberales und politisch eher rechtes Profil kennzeichnet. Als Zeitungen mit Mitte-Links-Ausrichtung nimmt die Arbeit auf bundesdeutscher Seite die SZ und auf französischer Seite das Leitmedium Le Monde in den Blick. Die französische Tageszeitung L’Humanité lässt sich als zentrales Organ der kommunistischen Partei in Frankreich (PCF) eindeutig als politisch links verorten. Auf deutscher Seite steht ihr – mit einer deutlichen Asymmetrie – die linksliberale FR gegenüber. Zur verwendeten Systematik und zur kritischen Auseinandersetzung mit dem ausgewählten Quellenkorpus vgl. May: (K)eine Stimme für Europa (2021), S. 4.
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Kontext ganz verschiedene Formen kritischer Haltungen gegenüber den europäischen Institutionen mit teilweise erheblichen Unterschieden hinsichtlich der Schwerpunktsetzung, Vehemenz, Intensität und Radikalität der Kritik subsumieren. Für die Untersuchung des Phänomens unter historischen Prämissen ergeben sich daher zwei zentrale Herausforderungen. Erstens birgt der „definitorische Pluralismus“17 die Gefahr eines conceptual stretching.18 Zweitens ist der Begriff in Bezug auf Untersuchungszeiträume vor den 1990er-Jahren durch eine Ahistorizität gekennzeichnet. Um diesen Problematiken methodisch entgegenzuwirken, liegt der Analyse eine Arbeitsdefinition zu Grunde, die auf verschiedenen Begriffsannäherungen der älteren und jüngeren Forschung basiert, zugleich aber phänomenologisch auf den historischen Kontext des Untersuchungszeitraums abhebt: Unter den genannten Prämissen meint Euroskeptizismus alle europapolitischen Einstellungen politischer Parteien, die sich durch eine kritische, ablehnende oder zweifelnde Rhetorik gegenüber den EG-Institutionen und / oder deren spezifischen Machtstrukturen, Kompetenzen und Wirkungsbereichen charakterisieren. Dabei wird unterschieden zwischen solchen Positionen, die der EG und den jeweiligen Organen – und damit auch der Direktwahl – generell kritisch gegenüberstehen (‚harter‘ Euroskeptizismus) und solchen, die die EG als Institution zwar akzeptieren, sich aber gegen mögliche Kompetenzerweiterungen in Richtung einer politischen Union stellen (‚weicher‘ Euroskeptizismus).
Nach einer kurzen historischen Einordnung der ersten Direktwahl nimmt der Artikel zunächst die Parteienlandschaften in Frankreich und der Bundesrepublik in den Blick. Dabei liegt besonderes Augenmerk einerseits auf den länderspezifischen parteipolitischen Konstellationen, anderseits auf den europaspezifischen Einstellungen der zentralen Akteur:innen. Daran anschließend wirft der Artikel im dritten Abschnitt die Frage nach Themen und Argumenten euroskeptischer Einstellungen auf und beschäftigt sich insbesondere mit der Frage nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden hinsichtlich der Argumentationsstrukturen entlang der Links-Rechts-Skala des Parteienspektrums. In einem letzten Schritt wird es darum gehen, das Phänomen Euroskeptizismus im Spannungsfeld zwischen supranationalem Steuerungspotenzial der EG und nationaler Interessenspolitik der Mitgliedsstaaten zu verorten. Dabei wird auch zu klären sein, inwiefern euroskeptische Positionierungen das Potenzial in sich trugen, als Instrument für parteipolitische Strategien auf innenpolitischer Ebene zu fungieren.
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Oberkirch / Schild: Wachsender Euroskeptizismus (2010), S. 13. Vgl. Salvati / Vercesi: Party Euroscepticism (2019), S. 302.
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2.
Die erste Direktwahl zum Europäischen Parlament
2.1.
Historisches Großereignis oder ‚nationale Nebenwahl‘?
Am 20. September 1976 – und damit 25 Jahre nach seiner Festlegung durch den Gründungsvertrag der EGKS – erfolgte der Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen. Erstmals in der Geschichte der EG setzte sich das EP nicht aus Vertreter:innen nationaler Parlamente zusammen, sondern wurde direkt gewählt.19 Vom 7. bis zum 10. Juni 1979 fanden in den neun Mitgliedsstaaten Wahlen nach den jeweiligen nationalspezifischen Wahlgesetzen statt. Innerhalb dieses „polymorphen Wahlsystem[s]“20 konnte sich die Verhältniswahl jedoch in den meisten Ländern als Standard etablieren. Aller Einigungssymbolik zum Trotz blieb die erste europäische Direktwahl in der Umsetzung primär eine nationalstaatliche Angelegenheit. Dies spiegelte sich auch in den Wahlergebnissen wider, die die Mehrheitsverhältnisse im EP zum Teil erheblich verlagerten.21 Nur 67 der 410 neu gewählten Abgeordneten waren bereits vor den Wahlen als Vertreter:innen ins Parlament entsendet worden. Die meisten Erfolge konnte die sozialistische Fraktion verbuchen, die damit zum stärksten Parteienverbund avancierte.22 Generell zeichnete sich allerdings die Tendenz ab, dass vor allem nationale Regierungsparteien Stimmen verloren, wohingegen oppositionelle, kleine sowie neue bzw. bislang nicht etablierte Parteien Gewinne erzielen konnten. Um dieses Phänomen zu fassen, haben Karlheinz Reif und Hermann Schmitt in ihrer Studie die Theorie entwickelt, nach der es sich bei den ersten Direktwahlen 1979 nicht um das hoffnungsvoll ersehnte Großereignis internationaler Tragweite, sondern vielmehr um die Summe mehrerer ‚nationaler Nebenwahlen’ gehandelt habe.23 Dem Erklärungsmodell liegt die Annahme zu Grunde, bei der Abstimmung ‚gehe es um weniger‘ als bei nationalen Parlamentswahlen. Dies drücke sich wiederum in einem bescheideneren Wahlkampf, einer geringeren Wählermobilisierung und einer weniger umfangreichreichen Medienberichterstattung aus. Mit 60,71 % fiel die Wahlbeteiligung in Frankreich gegenüber den Parlamentswahlen 1978 tatsächlich um mehr als
Der lange Weg hin zur ersten Direktwahl des EP gestaltete sich als Wechselspiel verschiedener Phasen, gekennzeichnet durch hoffnungsvolle Initiativen und aktive Impulse auf der einen sowie Verzögerungstaktiken und hemmenden Gesetzesblockaden auf der anderen Seite, vgl. Schreiber / Schrötter: Die Wahl des Europäischen Parlaments (1979). 20 Nohlen: Wie wählt Europa? (2004). 21 Das Machtgefüge veränderte sich vor allem auch deshalb nachhaltig, „da neue Kräfte wie die Abgeordneten der Dänischen Volksbewegung […] und italienische Radikale ins Parlament kamen […] [und so] der quasi ‚familiäre‘ und integrationsfreundliche Charakter der Straßburger Abgeordneten […] verloren [ging]“, vgl. Woyke: Geschichte der Europawahlen (21.03.2019). 22 Zu den europaweiten Wahlergebnissen vgl. Boissieu: Les élections européennes de 1979 en Europe (02.09.2019). 23 Vgl. Reif / Schmitt: Nine Second-Order National Elections (1980). 19
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20 Prozentpunkte niedriger aus.24 „L’Europe ne séduit décidément pas le corps électoral français“25, bilanzierte beispielsweise Raymond Barrillon für Le Monde. Auch in der Bundesrepublik schien die im europäischen Vergleich relativ starke Wahlbeteiligung von circa 63 % nur punktuell zu bescheidenem Optimismus zu ermutigen.26 Das von Reif und Schmitt typisierte schlechte Abschneiden der etablierten Parteien bei gleichzeitigen Zugewinnen für kleinere und neuere Zusammenschlüsse lässt sich für die beiden Länder ebenfalls nachweisen. Auf bundesdeutscher Ebene entzogen die Wähler:innen SPD, Union und FDP zu Gunsten kleinerer Gruppierungen, allen voran den Grünen, ihre Stimmen.27 Obwohl in Frankreich die Liste der UDF die meisten Stimmen auf sich vereinen konnte, blieben doch bei allen Parteien die Ergebnisse hinter den Erwartungen zurück.28 Mit sarkastischem Unterton versehen war in diesem Zusammenhang der Beginn des Leitartikels des Figaro vom 12. Juni 1979: „On peut toujours trouver un verre à moitié plein ou à moitié vide“29. 2.2.
Die Parteienlandschaft in Frankreich und der Bundesrepublik vor der Europawahl
Aufgrund der Fünfprozentklausel schienen die herangezogenen französischen Zeitungen den kleineren Parteien, die sich primär über regionale Themen oder den Umweltschutz definierten, aber auch extrem rechten oder trotzkistischen Parteien kaum Chancen bei der Wahl eingeräumt zu haben.30 Im Fokus der Berichterstattung zum
Für eine detaillierte Übersicht zum Ausgang der Europa-Wahl in Frankreich und speziell zur Stimmverteilung vgl. Boissieu: Les élections européennes de 1979 en France (15.07.2019). Im ersten Wahlgang lag die Wahlbeteiligung bei 83,25 %, im zweiten Wahlgang dann bei 84,86 %. 25 „Le R. P. R. paie le prix de la contradiction“, in: Le Monde, 12.06.1979. 26 Vgl. z. B. „Das Experiment ist geglückt“, in: SZ, 12.06.1979. Wesentlich nüchterner fällt beispielsweise das Urteil der FAZ aus: „Das Gefühl, ein großer historischer Augenblick habe stattgefunden, stellt sich wohl nirgendwo ein“, vgl. „Neunfache Nüchternheit“, in: FAZ, 12.06.1979. 27 So schrieb beispielsweise ein FR-Journalist: „Das Ergebnis der Direktwahlen zum Europaparlament zwingt die Parteien zum Nachdenken“, vgl. „Vor allem junge Bürger blieben den Urnen fern“, in: FR, 12.06.1979. 28 Vgl. „Dans la capitale, le RPR résiste mieux à l’UDF tandis que le PS creuse l’écart avec le PC“, in: Le Monde, 12.06.1979. L’Humanité kommentierte die im Vergleich zu den anderen Parteien leichten Verluste des PCF beschönigend mit den Worten „Le Parti communiste […] maintient ses positions. Les voix qu’il a obtenues l’ont été en toute clarté, et il n’a pas comme tant d’autres, caché ses objectifs derrière un rideau de fumée“, vgl. „L’Europe de l’abstention“, in: L’Humanité, 12.06.1979. Vgl. z. B. auch „Majorité absolue pour les réactionnaires à l’Assemblée européenne“, in: L’Humanité, 12.06.1979. Zu den Stimmverlusten von sowohl PS als auch RPR urteilt beispielsweise die SZ am Folgetag der Wahl: „Weder Gaullisten noch Sozialisten bekennen sich zu einer klaren Europapolitik und bezahlen das mit Stimmverlusten bei der Europawahl“, vgl. „Schwere Schlappe für die Gaullisten“, in: SZ, 12.06.1979. 29 „Demain, l’A ssemblée européenne“, in: Le Figaro, 12.06.1979. 30 Presseberichte über eben diese Parteien und ihre Einstellungen zur EG liegen fast gar nicht vor. Die Artikel, die hierzu existieren, bleiben bewusst unberücksichtigt, da diese Parteien nach der eingangs formulierten Definition keine explizit euroskeptischen Positionen vertraten. 24
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Europawahlkampf stand der sogenannte quadrille bipolaire (Maurice Duverger): RPR und UDF im rechts-konservativen sowie PS und PCF im linken Politikspektrum.31 Auch die deutsche Presse berichtete regelmäßig mit unterschiedlicher Häufigkeit und Intensität über diese vier Parteien und ihre namhaftesten Vertreter:innen, allen voran den französischen Präsidenten Valéry Giscard d’Estaing und seine Parteikollegin Simone Veil (UDF), Jacques Chirac (RPR), François Mitterrand (PS) und Georges Marchais (PCF). Eine ähnliche Fokussierung auf die ‚großen‘ Parteien lässt sich auch für den Wahlkampf in der Bundesrepublik konstatieren, obgleich die Berichterstattung im westdeutschen Fall grundsätzlich weniger personenbezogen ausfiel. Zwar fanden auch die Grünen vermehrt mediale Beachtung, die meisten Artikel – auch bei französischen Berichten über den deutschen Nachbarn – drehten sich aber um die sozialliberale Koalition aus SPD und FDP sowie die Unionsparteien CDU / CSU. Hinsichtlich der parteipolitischen Verhältnisse in Frankreich lassen sich zwei zen trale Beobachtungen machen: Erstens existierten starre Fronten zwischen den großen Parteien, was sich in einer starken Polarisierung in ein bürgerlich-konservatives und ein sozialistisches Lager – quadrille bipolaire – niederschlug. Zweitens kam es auch innerhalb der einzelnen Gruppierungen zum Teil zu erheblichen Spannungen. Zurückzuführen ist diese grundsätzliche Verhärtung der Fronten auf schon länger bestehende politische Konfliktlinien innerhalb des französischen Parteiensystems der V. Repu blik, das sich bis heute durch einen hohen Grad an „Fragmentierung, Polarisierung, Segmentierung, Personalisierung, Asymmetrie und Volatilität“32 auszeichnet. Schon im Vorjahr der ersten Direktwahl hatte sich bei den élections législatives ein bürgerlicher Block auf der einen und ein sozialistischer Block auf der anderen Seite etabliert.33 Der Sieg der Regierungskoalition hatte zwar zu einer Stärkung des Präsidenten geführt, provozierte aber auch Spannungen im Regierungslager. Die Bestrebungen des um eine Stärkung der Mitte bemühten Valéry Giscard d’Estaing, zwischen den Lagern zu vermitteln und gleichzeitig die Regierungsmehrheit zu sichern, gestalteten sich zunehmend als Balanceakt.34 Das parlamentarische Kräfteverhältnis (155 Gaullist:innen
Vgl. „Un quadrille bipolaire“, in: Le Monde, 15.03.1973; Duverger: Les partis politiques (1992). Für eine ausführliche Darstellung zur Lagerbildung im französischen Parteiensystem und zur Kontextualisierung des Begriffs siehe auch Kempf: Das politische System Frankreichs (2007). Zu den französischen ‚Parteifamilien‘ siehe auch Berstein: Histoire du gaullisme (2002); Winock: La gauche en France (2006). 32 Höhne: Das Parteiensystem der V. Republik (2006), S. 57. 33 Vgl. Boissieu: Les élections législatives de 1978 en France (22.12.2021). 34 Die Rede Valéry Giscard d’Estaings anlässlich seines Elsass-Besuchs im April 1979 zeigte deutlich den koalitionsstrategischen Spagat, in dem sich der französische Staatspräsident befand. Zwar hielt Giscard d’Estaing ein Plädoyer für die Vorteile der europäischen Einigung und appellierte an die französische Bevölkerung, sich an der Wahl zu beteiligen, allerdings verzichtete der Präsident auf jegliche weitere Wahlkampfrhetorik und blieb in seinen Stellungnahmen – wohl aus koalitionsstrategischen Erwägungen – eher vage. Vgl. dazu „Des institutions européennes procédant du vote direct des citoyens de l’Europe. Valéry Giscard d’Estaing Estaing en Alsace“, in: Le Figaro, 17.05.1979. Über den Balanceakt Giscard d’Estaings berichtete auch die deutsche Presse, vgl. „In Frankreich ein konfuser Wahlkampf “, in: FAZ, 09.06.1979. 31
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gegenüber 122 Abgeordneten der UDF) gab dem RPR die Möglichkeit, beispielsweise durch Blockaden Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen.35 Die Europäische Direktwahl fiel etwa mit der Halbzeit der Präsidentschaft Giscards zusammen und trug vor diesem Hintergrund das Potenzial in sich, als „Votum über die Regierungspolitik“36 zu fungieren. Im Gegensatz zu den Verhältnissen in Frankreich gestalteten sich die Beziehungen der bundesdeutschen parteipolitischen Akteur:innen untereinander vor der ersten Direktwahl wenig konfliktreich. So klassifizierte beispielsweise der FR-Redakteur Peter Nonnenmacher am 2. Juni 1979 die nahende Direktwahl als „eine Wahl, bei der sich wenig Streit entzündet an politischen Inhalten“37. Hinsichtlich der Einstellungen zur ersten Europawahl herrschte ebenfalls ein breiter Konsens. Wie im französischen Fall waren die europapolitischen Debatten auf der Ebene der deutschen Parteien zwar von Diskursen um den Dualismus von Freiheit und Sozialismus durchzogen.38 In der Bundesrepublik blieben die gegensätzlichen Positionen jedoch mehr auf die thematische Ausrichtung des Europawahlkampfs beschränkt und führten innerhalb des deutschen Parteiensystems selten zu ideologisch motivierten Grundsatz- und Richtungsdiskussionen. Brisanz erhielten die Kampagnen vor der Wahl beispielsweise durch ein Plakat der CDU, auf dem die Partei zum Kampf „gegen ein sozialistisches Europa“ aufrief und damit gezielt auf die Erklärung François Mitterrands, es müsse ein sozialistisches Europa oder keines geben, anspielte.39 Diese transnationale Verflechtung europäischer Wahlkampfführung brachte wiederum die SPD in Zugzwang, Stellung zu ihren europapolitischen Leitlinien zu beziehen.40 So wurde die Debatte um die konkrete Ausgestaltung der EG, die mit der Einführung allgemeiner direkter Wahlen nochmals angeheizt worden war, schließlich doch zum Gegenstand deutscher innerparteilicher Auseinandersetzungen. Sowohl in der Bundesrepublik wie auch in Frankreich waren also vor der ersten Direktwahl – wenn auch zeitlich versetzt und mit unterschiedlicher Intensität – europapolitische Debatten eng mit parteibezogenen Konstellationen
So sei die Situation in Frankreich wenige Monate vor der ersten Direktwahl „deshalb im Wesentlichen durch eine institutionelle wie parteipolitische Blockierung gekennzeichnet [gewesen], die dem Staatschef jedoch eine relativ große Bewegungsfreiheit in der domaine reservé der Außen- und Sicherheitspolitik [ließ]“, vgl. Schütze: Neue Tendenzen der französischen Europa- und Sicherheitspolitik (1978), S. 771. 36 Heumann / Karnofsky: Der Wahlkampf zum Europa-Parlament (1980), S. 69. 37 „Im Hinterhof sammelt sich der Widerstand“, in: FR, 02.06.1979. Vgl. auch Heumann / Karnofsky: Der Wahlkampf zum Europa-Parlament (1980), S. 37: „Im Grunde hatte es seit zwanzig Jahren über die Europäische Gemeinschaft keinen Parteienstreit mehr gegeben“. Einzig am Wahlgesetz schien sich kurz nach dem Beschluss zur Einführung direkter Wahlen zum EP eine Debatte zwischen den bundesdeutschen Parteien zu entzünden, vgl. Hrbek: Das deutsche Wahlgesetz (1978). 38 Vgl. „Der warme Regen versöhnt mit der Flaute“, in: SZ, 01.06.1979. 39 Vgl. z. B. „M. François Mitterrand demande au PS de se mobiliser“, in: Le Monde, 15.05.1979. Auf ihren Wahlplakaten warb die CDU mit dem Slogan „Deutsche wählt das freie und soziale Europa. Gegen ein sozialistisches Europa“, vgl. „Der warme Regen versöhnt mit der Flaute“, in: SZ, 01.06.1979. 40 Vgl. „Der marxistische Pferdefuß. Zum Europa-Wahlprogramm der SPD“, in: FAZ, 07.06.1979. 35
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verwoben. Die europaspezifischen Einstellungen, die die einzelnen Parteien vertraten, konnten allerdings weit auseinandergehen und reichten von proeuropäischen Gesinnungen bis hin zu offener Kritik an den europäischen Institutionen. 3. Die bundesdeutschen und französischen Parteien zwischen Europa-Euphorie und Euroskeptizismus
Politikwissenschaftliche Studien konnten nachweisen, dass sich euroskeptische Einstellungen entlang historischer Links-Rechts-Konfliktlinien thematisch einerseits in ökonomischen und sozialpolitischen Diskursen sowie andererseits in Auseinandersetzungen um supranationale Zuständigkeiten und nationale Souveränitäten manifestier(t)en: On the political right, Euroscepticism is expressed in the criticism that the EU undermines national identity and national independence. On the political left, it is expressed in concerns about the effect of European integration on social protection and the European social model. There are, then, two distinct sources of Euroscepticism.41
Im Folgenden wird es darum gehen, diesem Postulat – entsprechend der länderspezifischen politisch-kulturellen Kontexte mit unterschiedlicher Intensität – im Hinblick auf die Wahlkampfthemen der bundesdeutschen und französischen Parteien nachzugehen. 3.1.
Diskurse um supranationales Steuerungspotenzial und nationale Souveränität
Tatsächlich war der Europawahlkampf des RPR von der Sorge bestimmt, eine Machtzunahme des EP könnte nationale Freiheiten beschneiden und so zu einem Machtverlust der Grande Nation führen.42 Der Betonung des Nationalstaats, mit der die Gaullist:innen die Wahrung staatlicher Souveränität begründeten, lag die politischkulturelle Vorstellung einer französischen Grandeur zugrunde. Diese stand zwangsläufig in einem Spannungsverhältnis zur kooperativen Integrationspolitik der EG. Obgleich führende Politiker:innen der Mitte supranationale Ängste als haltlos abtaten und vielmehr auf das Entwicklungspotenzial der EG verwiesen,43 rekurrierten euroskeptische Äußerungen der Gaullist:innen immer wieder auf das Spannungsfeld
Hooghe / Marks: Sources of Euroscepticism (2007), S. 125. Vgl. auch Kriesi: The Role of European Integration (2007), S. 86 f. Oberkirch / Schild: Wachsender Euroskeptizismus (2010), S. 15 f. 42 Vgl. „Quelle Europe“, in: Le Monde, 07.06.1979. 43 Vgl. „Simone Veil: agir dans l’Europe pour la France“, in: Le Figaro, 03.04.1979. 41
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zwischen Nationalismus und Supranationalismus.44 Interessanterweise formulierte jedoch auch der PCF Forderungen nach einer Beschränkung der Kompetenzen der EG und speziell des EP.45 Zwar war die Betonung nationaler Souveränität bei den beiden Parteien in ideologischer Hinsicht unterschiedlich untermauert, doch ähnelten sich die Argumente von PCF und RPR bisweilen. Die tiefen ideologischen Gräben zwischen den Parteien, die sich durch die Entwicklungen im Kontext des Kalten Krieges noch intensiviert und verstetigt hatten, machten zusätzlich zu den innenpolitischen cleavages einen Schulterschluss zwischen Kommunist:innen und Gaullist:innen – im Gegensatz zur unmittelbaren Nachkriegszeit – jedoch unmöglich.46 Während auf der französischen Seite die euroskeptischen Haltungen der großen Parteien also durch Sorgen vor einer Kompetenzerweiterung der europäischen Institutionen zu Ungunsten der eigenen nationalen Souveränität geprägt waren, herrschte zwischen den deutschen Parteien ein europafreundlicher Grundkonsens.47 Die Einführung direkter Wahlen bedeutete für die bundesdeutschen Parteien in erster Linie eine demokratische Legitimation der europäischen Institutionen, allen voran des EP. Besonders die SPD sah in der Wahl die Chance auf einen Anschub des europäischen Einigungsprozesses.48 Die Direktwahl trug aus der Sicht vieler Zeitgenoss:innen das Potenzial in sich, als dynamisches Instrument einer Stagnation der Europäischen Integration entgegenzuwirken.49 Die Möglichkeit der Bürger:innen zur direkten Partizipation sollte darüber hinaus für eine Demokratisierung der Gemeinschaft selbst sorgen und künftig eine aktivere Mitwirkung an der europäischen Sache gewährleisten.50 Die Diese Beobachtung steht emblematisch für das grundsätzliche Verhältnis Frankreichs zur europäischen Integration, vgl. Ratka: Frankreichs Identität (2009). Entsprechend den für den Integrationsprozess typischen deutsch-französischen Divergenzen sah die bundesdeutsche Presse die Betonung der nationalspezifischen Interessen der französischen Parteien durchaus kritisch. So vermutete zum Beispiel die FAZ in den Direktwahlen einen notwendigen Impuls, um über das EP „Druck auf nationale Regierungen aus[zu]üben“, vgl. „Unbedingt zur Wahl gehen“, in: FAZ, 07.06.1979. 45 Vgl. „Le parti communiste s’oppose à l’engrenage supranational nous déclare M. Georges Marchais“, in: Le Monde, 31.05.1979; „M. Chirac: je veux l’Europe, je défends la France“, in: Le Monde, 02.05.1979. 46 Zu den ideologischen Gräben im französischen Parteiensystem vgl. z. B. Seiler: Les partis politiques (1993). 47 Vgl. „Unbedingt zur Wahl gehen“, in: FAZ, 07.06.1979; „Am Vorabend der Europa-Wahlen“, in: FAZ, 08.06.1979. Der Frage „Die europäische Föderation – große Hoffnung oder große Illusion?“ widmet sich beispielsweise Brill: Abgrenzung und Hoffnung (2014), S. 105–110. 48 So insistierte der SPD-Bundestagsabgeordnete Ludwig Fellermaier auf die „Verpflichtung einen Schritt weiterzukommen auf dem Wege, Europa ein menschlicheres Antlitz zu geben. […] Diese Entscheidungen, die Millionen Menschen betreffen, müssen aus der Dunkelkammer des Ministerrats der Europäischen Gemeinschaft heraus“, vgl. „Die Linke im europäischen Aufwind“, in: FAZ, 07.06.1979. 49 Vgl. z. B. „Europa-Wahlgesetze vor dem Deutschen Bundestag, Rede des Hans-Dietrich Genschers bei der 29. Sitzung des Bundestags (26. Mai 1977)“, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung 56 (1977), zit. nach: Läufer (Hg.): Europa-Wahl pro und contra (1977), S. 84. Vgl. auch Wagner: Die Europäische Direktwahl (1978). 50 Vgl. „Bericht der Kommission der Europäischen Gemeinschaften über die Europäische Union“, in: Bulletin der Europäischen Gemeinschaften 5 (1975), zit. nach: Läufer (Hg.): Europa-Wahl pro und contra (1977), S. 54 f. 44
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bundesdeutschen Parteien sprachen sich dabei sogar in Teilen für eine Stärkung der von französischer Seite gefürchteten supranationalen Kompetenzen aus. Die proeuropäische Haltung der Parteien trug dem historisch begründeten bundesdeutschen Bekenntnis zur europäischen Integration Rechnung. War die Westbindung für den jungen Bundesstaat doch der Weg aus der internationalen Isolierung heraus und zurück in die Staatengemeinschaft gewesen. Eine zustimmende und engagierte Einstellung zu Europa und den westeuropäischen (Nachbar-)Ländern formte zu einem großen Teil die DNA der ‚neuen friedlichen Bundesrepublik‘. Das Vorantreiben der Europäischen Integration war demnach eng mit dem Selbstbild und der Außenwahrnehmung der Bundesrepublik in der internationalen Politik verwoben. Vor diesem Hintergrund war es für die Parteien kaum denkbar, offen euroskeptische Positionen zu beziehen. 3.2.
Diskurse um Auswirkungen auf die nationalen Wirtschafts- und Sozialsysteme
Auch bei den sozioökonomischen Wahlkampfthemen folgten die deutschen Parteien mehrheitlich einem proeuropäischen Kurs. Über die konkreten Inhalte der Wahlprogramme der Parteien berichtete die Bundespresse indes nur wenig.51 Diskurse rund um Arbeitslosigkeit, Energiekrise sowie Reformen der EG-Agrarpolitik wurden vor allem von den Sozialdemokrat:innen vorgebracht. So machte sich die SPD beispielsweise für eine länderübergreifende aktive Beschäftigungspolitik stark.52 Die Jusos unter dem Vorsitz von Heidi Wieczorek-Zeul plädierten angesichts der nach der Ölkrise immer noch prekären Preisentwicklung von Öl und Benzin sogar für die „Gründung einer europäischen Öleinkaufsgesellschaft in öffentlicher Hand“53. Im Gegensatz zum bundesdeutschen Fall kam es im französischen Nachbarland zu weitaus kontroverseren Debatten. Themenschwerpunkte drehten sich vor allem um die Währungspolitik und den europäischen Binnenmarkt. Besonders Georges Marchais und seine kommunistische Partei übten Kritik an dem gemeinsamen Markt und machten mit Slogans wie „l’Europe des travailleurs“54 gegen die Ausbeutung der Agrarwirt:innen und der Arbeiterklasse Stimmung gegen die EG auf der einen und die übrigen französischen Parteien
Die Wahlkampfthemen wurden in den meisten Fällen allenfalls stark verkürzt wiedergegeben, vgl. z. B. „Unbedingt zur Wahl gehen“, in: FAZ, 07.06.1979; „Eine Wahl für Europa“, in: FR, 05.06.1979. Die Frankfurter Rundschau berichtete im Vergleich zu den anderen Zeitungen etwas ausführlicher. Eine detaillierte Übersicht zu den Wahlprogrammen der Parteien bietet Binder / Wüst: Inhalte der Europawahlprogramme (2004). 52 Vgl. „Die Linke im europäischen Aufwind“, in: FAZ, 07.06.1979. 53 Ebd. Ähnlich äußert sich auch Willy Brandt, vgl. „SPD besorgt über Entwicklung der Ölpreise. Brandt: Europa-Parlament soll sich mit der Energiepolitik befassen“, in: FAZ, 07.06.1979. 54 „Georges Marchais: l’Europe des travailleurs, c’est vous, les travailleurs qui la ferez“, in: L’Humanité, 01.06.1979. 51
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auf der anderen Seite.55 Die Zeitung L’Humanité – als zentrales Organ des PCF – fungierte dabei als Sprachrohr der politischen Agenda der Kommunist:innen. Mit reißerischen Titeln wie „Pour vous-mêmes, pour la France votez communiste le 10 juin“56 warb das Blatt gezielt um Stimmen für die kommunistische Partei und polarisierte darüber hinaus beispielsweise im Kontext der innerparteilichen Konflikte im sozialistischen Lager ganz gezielt das linke Spektrum der französischen Parteienlandschaft, was wiederum die andauernden Konflikte zwischen PS und PCF weiter schürte.57 Durch die Erweiterung der EG um die Staaten Griechenland, Portugal und Spanien sah neben den Kommunist:innen und den Sozialist:innen auch der RPR die französische Wirtschaft – vor allem französische Exporte in andere EG-Länder – bedroht.58 Besonders harsche Kritik evozierte das (Miss-)Verhältnis des Franc gegenüber der starken Deutschen Mark.59 Eng damit verknüpft waren auch Ängste vor einer deutschen bzw. sogar einer deutsch-amerikanischen ökonomischen Vorherrschaft in Europa.60 Dies äußerte sich sowohl in rechten und linken Kreisen unter anderem in Ressentiments gegenüber der Bundesrepublik, die bis zu germanophoben Anfeindungen reichten. Beispielsweise widmete L’Humanité den Wahlen am 1. Juni eine Spezialausgabe, in der das Blatt unter dem Untertitel „Ils veulent aller plus loin“ die Europapolitik der EG in eine Linie mit historischen Ereignissen im Kontext des Deutsch-Französischen Krieges stellte.61 Erwägungen zu etwaigen Vorteilen eines gemeinsamen europäischen Vorgehens in der Energiepolitik, wie beispielsweise Raymond Barre sie vorVgl. „M. Marchais appelle les communistes à s’engager massivement aux élections européennes“, in: Le Monde, 15.05.1979; „Convergences Giscard-Parti socialiste“, in: L’Humanité, 30.04.1979. 56 „Pour vous-mêmes, pour la France votez communiste le 10 juin“, in: L’Humanité, 01.06.1979. 57 Vgl. z. B. „De Mauroy en Poher“, in: L’Humanité, 28.03.1979. 58 Vgl. z. B. „M. Marchais demande à M. Giscard d’Estaing de refuser l’adhésion de la Grèce à la C. E. E.“, in: Le Monde, 26.05.1979; „M. Barre réplique aux déclarations de M. Chirac sur l’eurochômage et le S. M. E.“, in: Le Monde, 21.05.1979; „Europe élargie et supranationale“, in: L’Humanité, 22.01.1979. Die FR schrieb in diesem Kontext in einem Spezialartikel zur Europawahl, in dem sie sich explizit auf die wirtschaftlichen Forderungen in Frankreich bezog: „Die EG-Kommission versucht, sich für mehr Weltmarktwirtschaft stark zu machen, scheitert aber allzu oft an dem nationalen Egoismus“, vgl. „Europa-Wahl. Von der Wirtschaftsallianz zur Gemeinschaft der Menschen“, in: FR, 01.06.1979. 59 In diesem Zusammenhang äußerte sogar der proeuropäisch eingestellte französische Premierminister Kritik, vgl. „Barre: On ne joue pas avec le franc“, in: Le Figaro, 23.05.1979; „M. Raymond Barre reproche à M. Jacques Chirac de jeter le doute sur la solidité du franc“, in: Le Monde, 24.05.1979. 60 Der Chef des französischen PS François Mitterrand beklagte beispielsweise, dass Frankreich innerhalb Europas nicht konkurrenzfähig sei, vgl. „M. Mitterrand. Seule la liste socialiste est européenne“, in: Le Monde, 07.06.1979. Das Sprachrohr des PCF ging mit seiner Beurteilung der Situation sogar noch weiter: „L’Europe telle que la veulent MM. Schmidt et Giscard d’Estaing aggraverait encore l’exploitation capitaliste et instaurerait le règne sans entraves des sociétés multinationales“, vgl. „Vœux européens“, in: L’Humanité, 01.01.1979. 61 Vgl. „Georges Marchais: l’Europe des travailleurs, c’est vous, les travailleurs qui la ferez“, in: L’Humanité 01.06.1979: „Par peur du peuple et de la nation, M. Thiers se retira à Versailles afin d’écraser la Commune avec la complicité de Bismarck“. Diese Äußerung setzte die Zeitung in Bezug zur Politik Giscard d’Estaings und zum deutschen Nachbarland. Siehe auch Menudier: Deutschfeindlichkeit im französischen Wahlkampf (1979). 55
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brachte,62 verhallten hinter der Angst, die wirtschaftlich erstarkende Bundesrepublik könne Frankreich langfristig in die Rolle eines Juniorpartners drängen, sowie der Befürchtung, durch die Süderweiterung auf dem europäischen Binnenmarkt zusätzlich ins Hintertreffen zu geraten. Während der parteipolitische Diskurs in der Bundesrepublik durch einen proeuropäischen Grundkonsens gekennzeichnet war, lassen sich mit Blick auf die französische Parteienlandschaft ‚weiche‘ euroskeptische Haltungen erkennen. Während im rechten Lager die europapolitischen Diskurse von nationalen Reflexen und konkret der Sorge vor Souveränitätseinbußen bestimmt waren, dominierten bei PCF und Teilen des PS Szenarien einer scheinbaren ökonomischen Übervorteilung durch potenzielle Marktregulierungen die Europawahlkampfführung. Der angenommene Zusammenhang zwischen ideologischen Positionierungen entlang der Links-Rechts-Skala des Parteienspektrums und bestimmten typisierten Argumentationsstrukturen euroskeptischer Einstellungen lässt sich zumindest für den französischen Fall bestätigen – allerdings keineswegs so schematisch und definitiv wie es Liesbeth Hooghe und Gary Marks für andere Kontexte dokumentieren konnten. Es hat sich gezeigt, dass die parteipolitischen Akteur:innen der beiden Lager zu unterschiedlichen Zeitpunkten des Europawahlkampfes mitunter sehr ähnliche Themen und Argumente vorbrachten. Auch innerhalb parteilicher Rahmungen konnten verschieden begründete euroskeptische Diskurse folglich nebeneinander existieren. Es scheint also geboten, von ‚weichen‘ Spielarten nicht eines Euroskeptizismus, sondern verschiedener Euroskeptizismen zu sprechen. 4.
Parteipolitischer Euroskeptizismus: Programmatik oder (Wahl-)Taktik?
Die Frage nach Ursachen und Motiven hinter etwaigen parteipolitischen Euroskeptizismen lässt sich zurückführen auf die „key question: ideology vs. strategy“63. Dass neben ideologischen Faktoren parteipolitische Konstellationen auf nationaler Ebene sehr wohl eine Rolle für europaspezifische Positionierungen spielen, hat eine Vielzahl an politikwissenschaftlichen Studien zeigen können: „The scope for party-based Euro-scepticism is shaped by a combination of longer term party strategy and shorter term tactical pressures – and these variables are the product of the politics of opposition.“64 Die im vorangegangenen Abschnitt gemachten Beobachtungen werfen wiederum die Frage auf, inwiefern hinter den latent euroskeptischen Rhetoriken, tatsächlich programmatische Überzeugungen standen oder ob es sich vielmehr um taktische Positionierungen handelte.
Vgl. „Un Français peut-il en toute connaissance de cause refuser l’union européenne?“, in: Le Monde, 25.04.1979. 63 Kopecký / Mudde: The Two Sides of Euroscepticism (2002), S. 319. 64 Sitter: Opposing the Centre (2001), S. 21. Siehe auch Taggart / Szczerbiak: Contemporary Euroscepticism (2004), S. 6. 62
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Generell war der Europawahlkampf der westdeutschen Parteien in den Monaten vor der Wahl zunehmend von innenpolitischen Konflikten überschattet. Beispielsweise kam es zwischen CDU und CSU zu Unstimmigkeiten hinsichtlich ihrer programmatischen Ausrichtung, denen die Medienlandschaft phasenweise größere Aufmerksamkeit widmete als dem nahenden Urnengang.65 Die europapolitischen Debatten zeichneten sich auch deshalb durch wenig Brisanz aus.66 Die Parteien schienen die Strategie zu verfolgen, durch eine grundsätzlich proeuropäische Einstellung bei stetiger Abgrenzung gegenüber den politisch (möglicherweise) radikaleren europäischen Parteien eine möglichst breite Wählerbasis zu generieren. Die Frankfurter Rundschau merkte in diesem Zusammenhang kurz vor der Wahl kritisch an: „SPD, CDU / CSU und FDP sind sich in politischen Auffassungen näher als jede von ihnen ihren Bruderund Schwesterparteien in den anderen EG-Staaten.“67 Vor allem für die Unionsparteien dienten angesichts der parteiinternen Spannungen die europaspezifischen Positionierungen ferner als Konsolidierungsinstrument, um die Konflikte in den eigenen Reihen einzudämmen.68 In Frankreich traten die innenpolitischen Konflikte und parteiinternen Spannungen dagegen weitaus stärker zu Tage. Unter der Führung Jacques Chiracs versuchten beispielsweise die Gaullist:innen, durch europakritische Statements Ressentiments zu schüren und so gegen den proeuropäisch gesinnten Präsidenten Stimmung zu machen.69 Als Giscard d’Estaing – bestrebt, das Verhältnis zu kitten – Ende April die RPRParteiführung in den Elysée-Palast lud, überreichten ihm Jacques Chirac und Michel Debré gemeinsam mit dem ehemaligen Premierminister und RPR-Parteigenossen Pierre Messmer ein Memorandum, in dem sie die die Europapolitik der Regierung kritisierten.70 In diesem Dokument gab sich der RPR als zuverlässiger Interessensvertreter Frankreichs, der von den anderen Ländern Garantien forderte, die Kompetenzen des EP nicht weiter auszudehnen. Gleichzeitig übten die Gaullist:innen mit dem Schreiben konkret Kritik am Präsidenten, der es nach Ansicht des RPR versäume, die nationalen Interessen durchzusetzen.71 Chirac, Debré und Messmer nutzten demnach
Vgl. „Für Kohl ist die Trennung nicht mehr aufzuhalten“, in: SZ, 29.04.1979; siehe auch Menke: Germany (1985), S. 67 f. 66 Vgl. beispielsweise „Die Wahlen zum europäischen Parlament. Die Bonner Parteien vertrauen auf die Zugkraft der altgewohnten Parolen“, in: FAZ, 09.06.1979. 67 „Eine Wahl für Europa“, in: FR, 05.06.1979. 68 Siehe zu den parteiinternen Spannungen Reinken: Divergenzen zwischen Partei und Fraktion (2009), S. 31–68. 69 Vgl. z. B. „M. Chirac à Antenne 2: Il appartient au président de la République, s’il est encore temps, de changer la politique de la France“, in: Le Monde, 04.04.1979; „M. Jacques Chirac passe de la critique à la menace et met directement en cause le président de la République“, in: Le Monde, 04.04.1979. 70 Vgl. z. B. „Le RPR exprime ses réserves sur l’Europe tandis que l’Élysée relève des convergences“, in: Le Monde, 21.04.1979. 71 Auch bei vermeintlich europapolitischen Themen fokussierte die RPR-Führung stets innenpolitische Streitpunkte wie beispielsweise Arbeitslosigkeit und angeblich nicht gehaltene Versprechen Giscard 65
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die Kritik an der Europapolitik Giscard d’Estaings als Aufhänger, um sich mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen 1981 klar vom französischen Präsidenten abzugrenzen. Mehr noch als Chirac instrumentalisierte Michel Debré in den Wochen vor der Wahl seinen offen zur Schau gestellten Euroskeptizismus für die innenpolitische Auseinandersetzung.72 Die harte Linie von Chirac und Debré provozierte allerdings auch innerparteilichen Widerstand. So trugen bei Weitem nicht alle Parteimitglieder den radikalen Kurs der Führungsriege mit.73 Angesichts der zunehmenden Auseinandersetzungen innerhalb des gaullistischen Lagers distanzierte sich Chirac sukzessive von seinem Parteigenossen Debré.74 Je näher der Wahltermin rückte und je lauter die Kritik aus den eigenen Reihen wurde, desto gemäßigter und kompromissbereiter waren auch die Stellungnahmen des Parteivorsitzenden zu Europa.75 Der (vordergründige) europapolitische Kurswechsel Chiracs bedeutete allerdings keineswegs ein Aufweichen der Konfliktlinien innerhalb des französischen Parteiensystems. Noch in der Woche vor der Europawahl berichtete die französische Presse in hoher Quantität von den andauernden innenpolitischen Auseinandersetzungen zwischen Jacques Chirac und Raymond Barre, der ersteren 1976 als Premierminister abgelöst hatte.76 Am Beispiel des rechtskonservativen Lagers zeigt sich deutlich, in welchem Maße euroskeptische Haltungen als strategisches Instrument für die nationale Innenpolitik fungieren konnten. Dahinter stand in erster Linie das Kalkül, sich im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen 1981 möglichst aussichtsreich zu positionieren. Gleichzeitig machten sowohl das Abschneiden des RPR bei der europäischen Direktwahl als auch – in längerfristiger Perspektive – das Ergebnis der
d’Estaings in der Finanzpolitik, vgl. „Le mémorandum du RPR: Critique du l’ensemble de la politique de gouvernement“, in: Le Figaro, 21./22.04.1979; „M. Chirac souligne la concentration des pouvoirs à l’Élysée“, in: Le Monde, 30.04.1979. 72 Vgl. „Un entretien avec M. Michel Debré“, in: Le Monde, 30.05.1979. Am 14.02. und am 28.03.1979 druckte die Zeitung Le Monde jeweils einen von Michel Debré verfassten Artikel ab, in denen sich der ehemalige Premierminister zum Teil radikal zur politischen Lage in Frankreich äußerte und dabei neben der Europapolitik auch die Innenpolitik der Regierung – vor allem die Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik – kritisierte, vgl. „La tenaille“, in: Le Monde, 14.02.1979; „Point de vue. La France va craquer“, in: Le Monde, 28.03.1979. 73 Beispielsweise übte der gaullistische Politiker Alain Peyrefitte vermehrt Kritik und verteidigte die Politik Giscard d’Estaings, siehe „Plusieurs députées du RPR contestent l’attitude et les initiatives de M. Chirac“, in: Le Monde, 28.04.1979. Le Monde zufolge gelang es der Opposition gegen Jacques Chirac allerdings nicht, sich zu organisieren, weshalb der Führungsanspruch Chiracs gleichwohl unangetastet blieb, vgl. „L’opposition à M. Chirac n’a pas réussi à s’organiser au sein du RPR“, in: Le Monde, 05.05.1979. 74 Vgl. Heumann / Karnofsky: Der Wahlkampf zum Europa-Parlament (1980), S. 68: „Dem Gaullistenführer Chirac konnte nicht daran gelegen sein, durch einen harten Kurs die Regierungskoalition zu erschüttern.“ 75 Während Chirac noch im Januar 1979 bekundete „Non à l’Europe du renoncement“, führte er im Mai seinen Wahlkampf mit dem Slogan „Je veux l’Europe, je défends la France“, vgl. „Chirac: Non à l’Europe du renoncement“, in: Le Figaro, 24.01.1979. Siehe auch „RPR: Séance d’autocritique“, in: Le Figaro, 10.05.1979. 76 Vgl. z. B. „M. Chirac: je me suis dispensé de répondre aux attaques personnelles de M. Barre“, in: Le Monde, 09.06.1979; „M. Chirac: ce n’est pas par le sourire qu’on fera l’Europe“, in: Le Monde, 07.06.1979.
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Präsidentschaftswahlen deutlich, welche Sprengkraft die Instrumentalisierung europapolitischer Themen in der Innenpolitik haben und wie schnell sich solche parteitaktischen Manöver als Fehlkalkulierungen entpuppen konnten.77 Auch im sozialistischen Lager vertieften sich die parteiinternen Gräben: Zwischen den Fronten stand „der Sozialistenführer François Mitterrand, der zwischen den Europa-Hoffnungen seines rechten und der Europa-Feindlichkeit seines linken Parteiflügels laviert[e]“78. Dabei stand der Chef der sozialistischen Partei vor der Herausforderung, sich einerseits so klar wie möglich vom Parteivorsitzenden des PCF, Georges Marchais, abzugrenzen, um die gemäßigtere Wählerbasis nicht zu verprellen, andererseits aber durch eine radikalere sozialistische Linie auch Wähler:innen mit explizit linker Ausrichtung zu mobilisieren. Wie Michel Debré und Jacques Chirac versuchte offensichtlich auch François Mitterrand, sich auf diese Weise für die anstehenden Präsidentschaftswahlen in Stellung zu bringen. Kurz vor der Direktwahl geriet Mitterrand selbst, dessen Distanzierungsbestrebungen vom ehemaligen Koalitionspartner, mit dem er noch bis 1977 ein programme commun vertreten hatte, zu Unmut im linken Lager geführt hatten, jedoch selbst in die Kritik.79 Auf personeller Ebene kam es in der Folge zu einem Wettstreit zwischen François Mitterrand und seinem innerparteilichen Rivalen Michel Rocard.80 Vor diesem Hintergrund bot der Europawahlkampf die ideale Bühne, um durch taktische europaspezifische Positionierungen gegen Präsident und Regierung Stimmung zu machen und so zumindest vorübergehend von den parteiinternen Spannungen abzulenken: Comment veut-on que le jugement sévère que les Français portent sur le gouvernement Giscard-Barre ne se reporte pas sur l’idée qu’ils ont du devenir de l’Europe? […] Les Français peuvent-ils accorder leurs suffrages à ceux qui les ont acculés à la crise la plus grave? […] Les éléments de politique intérieure seront déterminants dans la mesure où les Français ne voudront pas confier leur sort sur le plan de l’Europe à ceux qui les ont déçus sur le plan de la France.81
Die erste Direktwahl bescherte dem RPR unter der Führung Jacques Chiracs mit nur 16,3 % der Stimmen eine herbe Niederlage, vgl. Boissieu: Les élections européennes de 1979 en France (15.07.2019). Bei der élection présidentielle 1981 landete Jacques Chirac im ersten Durchgang mit 18 % abgeschlagen hinter Valéry Giscard d’Estaing (28,32 %) und François Mitterrand (25,85 %). 78 „In Frankreich ein konfuser Wahlkampf “, in: FAZ, 09.06.1979. Zu den verschiedenen sozialistischen Positionen innerhalb der Partei vgl. Hohl (Hg.): Les socialistes français (2008). 79 Vgl. „Le PS dénonce l’acharnement et la violence antisocialiste du PCF“, in: Le Monde, 02.06.1979. 80 Vgl. „Les militants socialistes attendent que M. Mitterrand arrête sa décision sur sa candidature à l’Élysée“, in: Le Monde, 10.04.1979. Aus dem Artikel geht außerdem hervor, dass sich Mitterrand – angesichts des Verlusts der absoluten Mehrheit auf dem Parteitag des PS am 08.04.1979 in Metz – zunehmend dem radikalen CERES (Centre d’études, de recherches et d’éducation socialiste) annäherte, der unter anderem den linken Flügel der Sozialist:innen umfasste, um so wieder eine Mehrheit zu erreichen. Siehe auch „Un ‚gouvernement de combat‘ autour de M. François Mitterrand“, in: Le Monde, 13.04.1979. 81 „M. Mitterrand: Les éléments de politique intérieure seront déterminants“, in: Le Monde, 25.04.1979. Mit dieser Aussage nahm Mitterrand indirekt auf eine Äußerung des Premierministers Bezug, der Anfang 77
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Obgleich sich die offene Kritik an der Europawahl sukzessive abschwächte, behielt auch die kommunistische Partei unter der Führung von Georges Marchais ihren euroskeptischen Kurs bei.82 Wie stark innenpolitische Erwägungen die kommunistische Europa-Einstellungen formten, zeigt beispielsweise auch das Fehlen transnationaler Initiativen für europäische Kooperationen auf französischer Seite: Trotz des zunehmend erstarkten Eurokommunismus schloss der PCF eine Zusammenarbeit mit seinen Schwesterparteien aus.83 Stattdessen machte auch sie europakritische Positionen gezielt als Vehikel zur Diffamierung politischer Gegner:innen nutzbar.84 Spielarten ‚weicher‘ Euroskeptizismen fungierten also auch im linken bzw. linksextremen Lager in zweierlei Hinsicht als innenpolitisch-strategisches Instrument: Einerseits bot eine offen zur Schau gestellte Euroskepsis die Möglichkeit, europakritische Wähler:innen für die nächsten Parlamentswahlen zu mobilisieren. Andererseits konnte ein mehr oder weniger ausgeprägter Euroskeptizismus für PS und PCF jeweils als parteipolitisches Distinktionsmerkmal im linken Lager dienen. Die Untersuchung konnte eine Asymmetrie zwischen Frankreich und der Bundesrepublik nachweisen, was das Instrumentalisierungspotenzial euroskeptischer Positionierungen für parteipolitische Strategien anbetrifft. Diese Beobachtung erklärt sich zum einen über die bereits skizzierten innenpolitischen Kontextdifferenzen und zum anderen über unterschiedliche nationalhistorische Hintergründe. Für die Bundesrepublik führte nach 1945 der Weg zurück zu einer gleichberechtigten internationalen Stellung ganz zwangsläufig über die europäische Integration. Die Einigung der europäischen Nationen war demnach eng mit der historischen Entwicklung der Bundesrepublik verknüpft: „Europapolitik war und ist also immer auch Deutschlandpolitik.“85 Das Verhältnis Frankreichs zur europäischen Einigung war von Beginn an anders dimensioniert: Ein europäisches Staatenbündnis symbolisierte hier in erster Linie eine
des Monats verkündet hatte: „Les élections européennes ne concernent pas la vie politique intérieure de la France“, vgl. „Barre: Les élections européennes ne concernent pas la vie politique intérieure de la France“, in: Le Monde, 05.04.1979. 82 Vgl. z. B. „M. Marchais: non au moindre abandon de souveraineté. M. Servan-Schreiber: oui à un pouvoir européen“, in: Le Monde, 09.06.1979; zum euroskeptischen Kurs des PCF vgl. auch Moreau: Communisme et postcommunisme (2016). Zwar beginnt die Darstellung erst kurz vor dem Vertrag von Maastricht, doch weist Moreau für die kommunistische Partei Frankreichs einige Charakteristika nach, die auch auf den hier untersuchten Zeitraum zutreffen. Georges Marchais warf beispielsweise den französischen Sozia list:innen vor, sich zu sehr der europäischen Sozialdemokratie anzunähern, vgl. „M. Marchais: une étape décisive du ralliement du P. S. à la droite“, in: Le Monde, 07.06.1979; „Marchais: Die Deutschen sind die Nutznießer Europas“, in: FAZ, 07.06.1979. 83 Vgl. „M. Marchais: patriotes conséquents et internationalistes convaincus“, in: Le Monde, 08.06.1979. 84 Vgl. „Le brouillard de Metz“, in: L’Humanité, 05.04.1979. Der Artikel rechnet mit dem französischen Präsidenten, der Parteiführung der RPR sowie einigen namhaften sozialistischen Politiker:innen ab. Ähnlich positionierte sich das Blatt bereits zu Beginn des Jahres, vgl. exemplarisch „Vœux européens“, in: L’Humanité, 01.01.1979: „L’un des problèmes de l’année qui commence sera incontestablement celui de l’Europe“. 85 Große Hüttmann: Leitbilder deutscher Europapolitik (2021), S. 33. Vgl. auch Loth: Die Europa-Bewegung (1990).
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Rückversicherung gegen eine mögliche Einflussnahme von Seiten des deutschen Nachbarlandes und leistete somit einen entscheidenden Beitrag zur Friedenssicherung.86 Es hat sich gezeigt, dass RPR, PS und PCF gezielt euroskeptische Argumente ins Feld führten, um Diskurse auf nationaler Ebene gewinnbringend für die eigene Position zu gestalten. Dabei wussten die französischen Parteien den Europawahlkampf geschickt als Bühne zu nutzen, auf der sie innenpolitische Konflikte – zumindest in Teilen – ungebremst von Koalitionszwängen austragen konnten. Folge dieses parteipolitischen Kalküls war es, dass das Projekt Europa allerdings sukzessive von der politischen Tagesordnung verschwand, sodass sich unmittelbar vor der Wahl lediglich Vertreter:innen des ganz rechten bzw. ganz linken Endes des parteipolitischen Spek trums offen zu ihrem Euroskeptizismus bekannten. 5. Fazit
Ausgehend von der medialen Berichterstattung wurden die großen Parteien Frankreichs und der Bundesrepublik systematisch auf ihre europaspezifischen Einstellungen hin untersucht. Im Ergebnis hat sich zwischen den beiden Ländern in mehrerlei Hinsicht eine deutliche Asymmetrie gezeigt. Handelte es sich bei den nachgewiesenen ‚weichen‘ euroskeptischen Einstellungen einiger französischer Parteien um ein Phänomen, das sowohl im rechtskonservativen als auch im linken und linksliberalen Spektrum starke Ausschläge verbuchen konnte und demnach bis weit in die parteipolitische Mitte reichte, waren auf deutscher Seite hingegen mehrheitlich proeuropäische Positionen nachzuweisen. Ferner konnte die Analyse Unterschiedlichkeiten hinsichtlich der Berichterstattung selbst aufzeigen. Während sich die Bundespresse eher auf die europapolitischen Wahlkampfthemen fokussierte, fiel die mediale Verhandlung der Debatten in Frankreich personen- bzw. parteibezogener aus. Auf bundesdeutscher Ebene wurden die Kontroversen, die sich im Nachbarland abspielten, breit rezipiert. In Frankreich blieb die bundesdeutsche Wahlkampfführung hingegen weitgehend unberücksichtigt, während die eigenen Diskurse einen hohen Stellenwert einnahmen. Als Ursachen für die genannten Asymmetrien konnten einerseits innenpolitische Kontextdifferenzen und andererseits unterschiedliche nationalhistorische Erfahrungen herausgearbeitet werden. Für den französischen Fall wurde gezeigt, dass sich euroskeptische Grundhaltungen häufig anhand von sozioökonomischen und politisch-kulturellen Diskursen manifestierten. Vor allem im linken Lager des französischen quadrille bipolaire war der Euroskeptizismus breit durch wirtschaftspolitische Themen untermauert. Besonders der gemeinsame Binnenmarkt und dessen Folgen für die französische Wirtschaft stellten in den politischen Debatten einen wiederkehrenden Streitpunkt dar – vor allem
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Vgl. exemplarisch Schwabe: Jean Monnet (2016).
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mit Blick auf die geplante Süderweiterung der Gemeinschaft um die agrarisch geprägten Länder Portugal, Spanien und Griechenland. Zwar begründete auch der RPR seine Europakritik mit wirtschaftlichen Erwägungen, doch trat in den Argumentationsstrukturen der gaullistischen Partei vor allem das Spannungsverhältnis zwischen dem Bekenntnis zur europäischen Einigung und dem Nationalgefühl zu Tage. Geleitet war diese Form des gaullistischen Euroskeptizismus vor allem durch die Sorge, die erstarkende Bundesrepublik könnte die Rolle Frankreichs in Europa auf die eines Juniorpartners beschränken. In beiden Ländern war die erste Direktwahl letztlich nicht mehr als eine ‚nationale Nebenwahl‘. Obgleich auf deutscher Seite die Mehrheit der Parteien der EG und ihren Institutionen positiv gegenüberstand, trug die Abstimmung in der Bundesrepublik vor allem hinsichtlich der Wahlkampfführung und der medialen Berichterstattung Züge einer Test- oder Nebenwahl für die Bundestagswahl 1981. „[D]as faktische Nationalisieren der Wahlen zum Europaparlament durch die ‚Große Politik‘ und die Parteien“87 hatte offensichtlich zu einer Prioritätenverlagerung zugunsten nationalpolitischer Themen und zu einem gewissen Desinteresse an der europaweiten Abstimmung geführt. In Frankreich trat das Phänomen noch deutlicher zu Tage. So fungierte der Urnengang einerseits als Stimmungsbarometer für die Einordnung der élections législatives, die 1978 – im Vorjahr der ersten Europawahl – stattgefunden hatten, sowie für die Halbzeitbilanz der Präsidentschaft Valéry Giscard d’Estaings. Andererseits gestaltete sich das Votum über das EP als Testwahl für die zwei Jahre später anstehenden Präsidentschaftswahlen.88 Insgesamt wurde der Europawahlkampf in der ersten Hälfte des Jahres 1979 von den parteipolitischen Akteur:innen in Frankreich zum Konkurrenzkampf der innenpolitischen Lager stilisiert. Die Parteien konnten ihre Wählerschaft testen, ohne dass dabei die nationalen Machtverhältnisse zur Debatte gestellt werden mussten. Gleichzeitig konnten auch die Wähler:innen mit den Regierungsparteien ‚abrechnen‘, ohne dass die Fortführung der Regierung selbst dabei auf dem Spiel stand. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem eingangs formulierten Erkenntnisinteresse blieben dem vorliegenden Beitrag vom Quellenkorpus wie auch vom methodischen Zuschnitt her Grenzen gesetzt. Somit steht eine historische Untersuchung mit ganzheitlicherem Ansatz unter Diversifizierung des Quellenkorpus noch aus. Zudem kann die in der Analyse bestätigte Asymmetrie zwischen Frankreich und der Bundesrepublik mit Blick auf die historisch gewachsene politische Kultur der beiden Länder kaum überraschen. Eine breiter angelegte transnationale Studie – beispielsweise unter Einbezug Großbritanniens – könnte eine höhere Vergleichbarkeit gewährleisten und so aussichtsreiche Erkenntnisse versprechen. Wünschenswert wäHüser: Auf dem Weg zur Europäisierung Europas? (2010), S. 162. Jean-Louis Burban fragt in diesem Zusammenhang im Titel eines Unterkapitels seiner Monografie: „Troisième tour de législatives ou premier tour des présidentielles?“, vgl. Burban: Le parlement européen et son élection (1979), S. 131. 87 88
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ren weiterhin akteursbezogene Analysen unter soziokulturellen Vorzeichen, die auch die personellen Reihen hinter den parteipolitischen Eliten in den Blick nehmen. Die Untersuchung hat jedoch zeigen können, dass sich die politikwissenschaftliche Terminologie ‚weicher Euroskeptizismus‘ in einer weiten Begriffsdefinition durchaus historisieren und auf Untersuchungszeiträume vor den 1990er-Jahren anwenden lässt. Abkürzungsverzeichnis
CDU CSU EG EGKS EP ER EVG EWG FDP PCF PS RPR SPD UDF
Christlich Demokratische Union Christlich-Soziale Union in Bayern Europäische Gemeinschaft Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Europäisches Parlament Europäischer Rat Europäische Verteidigungsgemeinschaft Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Freie Demokratische Partei Parti communiste français Parti socialiste Rassemblement pour la République Sozialdemokratische Partei Deutschlands Union pour la démocratie française
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Sarah Alyssa May, Studium der Fächer Historisch orientierte Kulturwissenschaften (BA) und Ge-
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Die Sozialdemokratische Partei in der DDR (SDP / SPD) Eine Partei im Spannungsverhältnis zwischen ‚friedlicher Revolution‘ in der DDR und Anpassung an die Bundesrepublik
ÉTIENNE DUBSLAFF
1. Einleitung
Wohl kaum eine andere politische Akteursgruppe war durchweg an allen politischen Wandlungen innerhalb der DDR im Jahr 1989/90 so aktiv beteiligt wie die Sozial demokratische Partei in der DDR (SDP, dann SPD). Gemeinsam mit den Bürgerbewegungen baute sie im Rahmen der ‚friedlichen Revolution‘ vom Sommer-Herbst 1989 Druck auf das durch die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) geführte, als stalinistische Diktatur empfundene Regime auf, war gestaltendendes Mitglied am Zentralen Runden Tisch, der die Demokratisierung der DDR zwischen Dezember 1989 und März 1990 vorantrieb, und arbeitete nach der ersten freien Volkskammerwahl vom 18. März 1990 als Parlamentsfraktion konstruktiv an der Aushandlung der Deutschen Einheit mit der Bundesrepublik Deutschland mit. In der gleichen Zeitspanne wandelte sich die Partei von einer etwa 40 Mann starken, autonom im Untergrund handelnden und homogenen Gruppe zu einer zeitweiligen Regierungspartei mit 30.000 bis 40.000 Mitgliedern, die verschiedene Anliegen, Sozialisierungen und Bezugspunkte aufwiesen. Schließlich stellte sich nach der Maueröffnung vom 9. November 1989 die Frage der deutschen Zweistaatlichkeit neu, wodurch die ostdeutsche Sozialdemokratie immer stärker mit der westdeutschen SPD zusammenarbeiten musste. Dieser Abriss zeugt von den rasanten und tiefgreifenden Entwicklungen, die die Sozialdemokratische Partei in der DDR einerseits selbst durchlief und andererseits auch mit herbeiführte. Dennoch hat sie in der historischen Forschung ungenügend Beachtung gefunden. Die SDP wird gemeinhin entweder als besonderer Teil der Bürgerbewegung oder aber als prowestliche Partei verstanden. Im ersteren Fall tritt ihre besondere revolutionäre Dimension in den Hintergrund und sie gerät als entscheidender Motor der Ereignisse nach dem Herbst 1989 aus dem Fokus. Für die Vertreter:innen der These der prowestlichen Partei stellt sich die spätere SPD-ost als
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relativ normale, aber Bonn-hörige Partei nach der ersten freien Volkskammerwahl vom 18. März 1990 dar. Im Folgenden soll es darum gehen, sowohl die Sonderstellung der ostdeutschen Sozialdemokratie innerhalb der Bürgerbewegung und der ‚friedlichen Revolution‘ als auch ihren inhaltlichen Wandel im Zuge der Entwicklungen zwischen der Gründung am 7. Oktober 1989 und der Fusion mit der westdeutschen SPD am 27. September 1990 herauszuarbeiten. Um dies zu bewerkstelligen, wird der Fokus auf die Gründergeneration gelegt, das heißt, auf jene Personen, die schon im Untergrund – also vor Dezember 1990 – zur Partei gestoßen waren. Neben dem revolutionären Moment, das bisher in der Forschung kaum Beachtung gefunden hat, sollen auch die Konflikte zwischen der Gründergeneration und der aufkommenden Basis in Bezug auf das jeweilige Verhältnis zur DDR und zur Bundesrepublik sowie das Verhältnis zur westdeutschen Sozialdemokratie im Zentrum der Ausführungen stehen.1 Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, wurden Bestände des Archivs der Robert-Havemann-Gesellschaft und des Archivs der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung ausgewertet. Dazu muss hervorgehoben werden, dass Letzteres analog zu den staatlichen Stellen freien Zugang zu den Akten der ostdeutschen Sozialdemokratie gewährt, nicht jedoch zu denen der Bonner SPD, die vor Ablauf der 30-Jahre-Frist unter Verschluss bleiben. Wie Alf Lüdtke, Hélène Camarade und Sybille Goepper aufgezeigt haben, ist die asymmetrische Handhabung des Archivguts darauf ausgerichtet, die DDR als Diktatur zu entlarven, während die bundesdeutschen Dokumente nur ausgewählten Forscher:innen zugänglich gemacht werden.2 Auch aufgrund der nicht zugänglichen westdeutschen Dokumente lassen sich die institutionellen und persönlichen Beziehungen nur ungenügend nachzeichnen. Die Lücken klaffen umso mehr, als die meisten Akteur:innen von damals der Öffentlichkeit ihre persönlichen Dokumente bislang noch nicht zugänglich gemacht haben. Schließlich haben die Gründer:innen in den ersten Monaten, als ihre Partei noch aus der Illegalität heraus arbeitete, aus naheliegenden Gründen kaum Schriftgut verfasst. So wurden in den Jahren 2011 und 2012 im Rahmen der Dissertation des Verfassers 15 qualitative
Der Entwicklung der ostdeutschen Sozialdemokratie sind bisher drei Monografien gewidmet worden: Der westdeutsche konservative Historiker Daniel Friedrich Sturm unterstreicht den Kampf der ostdeutschen Sozialdemokraten gegen die SED-Diktatur, moniert aber den Intellektualismus der Gründergeneration und das Fehlen des nationalen Gendankens in der Enkelgeneration in der SPD-west. Insgesamt betont Sturm vor allem die Konflikte zwischen ost- und westdeutschen Sozialdemokraten, vgl. Sturm: Uneinig in die Einheit (2006). Peter Gohles Werk ist weit ausgeglichener, trägt jedoch der Frage nach der revolutionären Tragweite des Handelns der SDP / SPD-ost keinerlei Rechnung, vgl. Gohle: Von der SDP-Gründung zur gesamtdeutschen SPD (2014). Der vorliegende Beitrag fasst die zentralen Erkenntnisse der Monografie des Verfassers zusammen, vgl. Dubslaff: „Oser plus de social-démocratie“ (2019). 2 Vgl. Lüdtke: La République démocratique allemande comme histoire (1998), S. 3 f.; Camarade / Goepper: État de la recherche (2016), S. 14. 1
Die Sozialdemokratische Partei in der DDR (SDP / SPD)
Zeitzeugengespräche mit Vertreter:innen der Gründergeneration geführt.3 Die Fragen bezogen sich vor allem auf den vormaligen Werdegang der Gründer:innen, ihre Sozialisation, ihre Wünsche und Träume, die Willensbildung innerhalb der Partei und ihre Wahrnehmung der Zusammenarbeit mit der westdeutschen SPD.4 Um die Lücken der Historiografie zur ostdeutschen Sozialdemokratie zu schließen, sollen im Folgenden zwei Punkte besondere Beachtung finden. Die SDP hatte erstens im revolutionären Herbst und Winter eine Sonderrolle in der ‚friedlichen Revolution‘ inne, da sie bei aller Solidarität mit den Bürgerbewegungen nach einem revolutionären Umsturz des SED-Regimes trachtete, die DDR als Staat jedoch reformieren und bewahren wollte. Letzteres unterschied sie von ihrer eigenen Basis, die das Anliegen der Beibehaltung der DDR-Eigenständigkeit der ersten Parteielite nicht teilte. Zweitens verkam die Sozialdemokratische Partei in der DDR niemals zum Spielball der westdeutschen Sozialdemokratie oder der schwarz-gelben Bundesregierung, sondern verstand es, ihre Agenda in Teilen durchzusetzen. 2. Das revolutionäre Moment der Sozialdemokratischen Partei in der DDR und Konflikte mit der Basis
Sigrid Koch-Baumgarten, Katharina Gajdukowa und Eckart Conze definieren eine Revolution folgendermaßen: Eine Revolution ist […] eine abrupte, bruchartige, fundamentale Umwälzung des politischen Herrschaftssystems, die durch Massenmobilisierung herbeigeführt wird, [sic!] und die in der Folge einen alle Gesellschaftsbereiche umfassenden radikalen Systemwandel herbeiführt. Das heisst [sic!] in der Folge einer Revolution werden die Strukturen des Politischen [sic!] Systems komplett umgestaltet, seine normativen, also Verfassungsgrundlagen werden genauso verändert wie die Verfassungswirklichkeit, also die Institutionen und Verfahren der politischen Entscheidungsfindung, die politischen Eliten werden ausgetauscht, ein Wertewandel wird eingeleitet. Gleichzeitig können auch das ökonomische System und die internationalen Bündniskonstellationen verändert werden.5
Revolutionär in diesem Sinne war die SDP, insofern als die Gründung einer sozialdemokratischen Partei an sich die Legitimität des Gründungsmythos der SED, die aus der erzwungenen Fusion von SPD und KPD im Jahre 1946 hervorgegangen war, ganz
Alle in der Folge genannten Gespräche mit Zeitzeug:innen wurden im Rahmen der Dissertation des Verfassers geführt und sind im zweiten Band der Dissertationsschrift transkribiert, vgl. Dubslaff: „Oser plus de social-démocratie“, Bd. 2 (2015). 4 Zur angewandten Methodik vgl. Dubslaff: Faire parler les acteurs de la Révolution pacifique en RDA (2016), S. 37–44. 5 Koch-Baumgarten / Gajdukowa / Conze: „1989“ (2009), S. 16. 3
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bewusst und unmittelbar infrage stellte.6 Damit rüttelten die Sozialdemokrat:innen an dem verfassungsrechtlich verankerten Führungsanspruch der SED über die Geschicke der DDR. Die Wahl des eigenständigen Kürzels SDP war nicht unumstritten. Steffen Reiche und Thomas Krüger hatten im Vorfeld der Gründung am 7. Oktober 1989 für die Reaktivierung der Ost-Berliner SPD-Büros, die bis zum Mauerbau 1961 geöffnet geblieben waren, für taktisch ergiebiger erachtet. Im Gegensatz zu den beiden Initiatoren der Gründung, Markus Meckel und Martin Gutzeit, waren erstere weniger auf die Eigenständigkeit in Bezug auf die Bonner SPD bedacht. Letztere hingegen wollten ganz bewusst eine neue Partei gründen.7 Sie verstanden die SDP nicht als entfernten Enkel der 1946 bzw. 1961 in der DDR verschwundenen SPD, zumal die soziologische Zusammensetzung der Gründergeneration in krassem Widerspruch zu jener der prä-Godesberger Arbeiterpartei SPD von 1946 stand. Hätten die Gründer:innen das Kürzel und den Namen SPD dennoch gewählt, wäre die revolutionäre Abgrenzung gegenüber dem SED-Regime sicherlich noch deutlicher gewesen, das Bekenntnis zur DDR als autonomen Staat wäre hingegen zurückgestellt worden. Die Partei hätte gar als ostdeutscher Ableger der westdeutschen Sozialdemokratie missverstanden werden können. Den Parteigründer:innen ging es jedoch darum, eine DDR-interne Revolution herbeizuführen, wovon auch die Wahl des Gründungsdatums just zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989 zeugte. Gemeinhin gelten die Demonstrant:innen und die Bürgerbewegten, wenn überhaupt, als die eigentlichen Akteur:innen der ‚friedlichen Revolution‘; erstere, weil die Bilder der Massenproteste dem Narrativ der unaufhaltsamen Massenbewegung mit offenem Ausgang am besten entsprachen und der Druck, den sie aufbauten, die revolutionären Umwälzungen erst ermöglichten. Neben den Massenprotesten musste die Wirkmacht von rund 40 Sozialdemokrat:innen bescheiden erscheinen, sodass von einem revolutionären Anspruch der SDP eher in Bezug auf die Gründungsphase gesprochen werden kann. Die Bürgerbewegungen, und insbesondere das Neue Forum, gelten als jene, die es dem Volk ermöglichten, zu reden und in der Folge zu handeln. Dabei setzten sie auf die Form der Bewegung, das heißt auf offene Strukturen, die nicht unbedingt nach Ausübung von staatlicher Macht gierten. Vor diesem Hintergrund stieß in den Kreisen der Bürgerbewegungen die Wahl der Partei als Organisationsform der Sozialdemokratischen Partei in der DDR auf Unverständnis. Die ‚Partei‘ war in den oppositionellen Kreisen verschrien, da für sie jener Begriff einerseits mit ‚demokratischem Zentralismus‘ gleichbedeutend war, sich
„Zweitens ist mit der Gründung einer sozialdemokratischen Partei historisch klar, dass wir eine Hand aus dem Parteiabzeichen der SED zogen“, vgl. Zeitzeugengespräch mit Markus Meckel, in: Dubslaff: „Oser plus de social-démocratie“, Bd. 2 (2015), S. 31. 7 Zu den Debatten im Gründerkreis vgl. die Gespräche mit Markus Meckel, Steffen Reiche, Konrad Elmer-Herzig, Torsten Hilse, Angelika Barbe sowie mit Johannes und Oliver Richter. 6
Die Sozialdemokratische Partei in der DDR (SDP / SPD)
andererseits damit aber auch die Anmeldung eines Machtanspruchs verband. Im Gegensatz zu Bewegungen, die in der Regel kein allgemeines Programm ausarbeiten und eher darauf setzen, die Machthaber in ihrem Sinne zu beeinflussen – im Falle der DDR auf Reformen in dem und durch das Regime –, wollen Parteien ihr Programm selbst durchsetzen und trachten demzufolge nach Macht.8 Letzteres war in der DDR von 1989 illegal, wenn nicht gar verfassungswidrig. Eine Partei zu gründen, bedeutete im Milieu der Bürgerbewegungen die Abkehr von der kirchlichen ‚Nische‘ – so die SDP-Gründer:innen –, um inmitten der Gesellschaft nicht nur das Regime zu stürzen, sondern auch die Reformen selbst herbeizuführen. Ihrerseits setzten die legalistisch agierenden Bürgerbewegungen eher auf eine Öffnung des Regimes durch Reformen. Den Anspruch, das Regime zu stürzen und mittels freier Wahlen an die Macht zu gelangen, hat die Historiografie über die ‚friedliche Revolution‘ dazu veranlasst, in der SDP eine westlich geprägte Partei zu sehen, die – wenn überhaupt – nur am Rande zur ‚friedlichen Revolution‘ gehörte. Tatsächlich wollten die Initiatoren der Parteigründung, Markus Meckel und Martin Gutzeit, von Anfang an einen liberalen Rechtsstaat nach westdeutschem Zuschnitt. Sie hielten die Bundesrepublik indes mitnichten für den legitimeren deutschen Staat.9 Daher auch das Anliegen, die DDR nach dem Sturz des Regimes als Staat selbst zu reformieren bzw. später einen dritten Weg zu wagen, als sich die Vereinigung beider deutscher Staaten nach der Maueröffnung anbahnte. Die Vorstellung von einer Reform der DDR als Staat, die die Gründergeneration einte, führte jedoch immer deutlicher zu einem Missverständnis mit der aufkommenden sozialdemokratischen Basis, für die die Bonner SPD und nicht der Ost-Berliner Parteivorstand die deutsche Sozialdemokratie verkörperte. Durch das Streben nach einem festen Parteiprogramm, einer festen Mitgliedschaft und für die Verhältnisse der DDR-Opposition relativ senkrechten Strukturen handelte es sich bei dem Rückgriff auf die Partei als Organisationsform um eine sozialdemokratische Reaktion zweiten Grades auf die politischen Gegebenheiten des Herbstes 1989.10 Zugleich erwies sich die SDP als solidarisch mit den Bürgerbewegungen, zumal ihre Mitglieder dem gleichen Milieu entsprangen. Ganz wie die Bürgerbewegten bildeten die Sozialdemokrat:innen der Gründergeneration soziologisch gesehen eine Antielite zum Regime, aber auch zur Gesellschaft: Sie waren mit 30 bis 40 Jahren relativ junge „Hineingeborene“11 und hatten einen überdurchschnittlichen, meist in kirchlichen Institutionen erworbenen Hochschulabschluss.12 Anders ausgedrückt, zählt man unter 8 Vgl. Armingeon: Parteien, Verbände und soziale Bewegungen (2003), S. 448 f. 9 Vgl. Gröf: „In der frischen Tradition des Herbstes 1989“ (1996), S. 16. 10 Zu den Statuten vgl. Dubslaff: Quel(s) statut(s) pour les sociaux-démocrates est-allemands (2017). 11 Zu den politischen Generationen in der DDR vgl. Ahbe / Gries / Schüle (Hg.): Die DDR aus genera-
tionengeschichtlicher Perspektive (2006). 12 Die vom Verfasser herausgearbeitete soziologische Zusammensetzung der sozialdemokratischen Gründergeneration entspricht jener der von Thorsten Moritz untersuchten Oppositionsgruppen, vgl. Moritz: Gruppen der DDR-Opposition (2000), S. 136 f.
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den rund 40 Gründungsmitgliedern genauso viele Arbeiter wie Zahnärzte, was auf den Elitenaustausch als Wesenszug des oben definierten Revolutionsbegriffs verweist. Mit dem Mauerfall vom 9. November 1989 wurden in den Massendemonstrationen die Rufe nach einer schnellen Wiedervereinigung lauter. Hatte bisher die SDP-Führung die aus der Geschichte rührende deutsche Zweistaatlichkeit als Sühne für die ‚schuldhafte Vergangenheit‘ der NS-Zeit anerkannt, bekannte sie sich erst einen Monat später – sie beugte sich zu diesem Zeitpunkt schon dem Druck der eigenen Basis – am 3. Dezember zur deutschen Einheit.13 Dabei blieb sie ihrem Modus treu, insofern als die Wiedervereinigung zwischen gleichberechtigten Partnern – DDR und Bundesrepublik – vollzogen werden sollte. Dort, wo einige Bürgerbewegte den Mauerfall als Hiobsbotschaft vernahmen, hüllten sich die Sozialdemokrat:innen in Schweigen.14 Im Nachhinein gaben Markus Meckel, Torsten Hilse und Oliver Richter an, schon immer für die Einheit gewesen zu sein, was sich jedoch durch Quellen nicht belegen lässt.15 Obwohl die Massendemonstrationen und der Mauerfall als Bilder am ehesten dem Narrativ der großen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts entsprachen, ließe sich erwidern, dass die wirklich tiefgreifenden und rapiden Veränderungen der DDR erst nach Abflauen der Massendemonstrationen und nicht durch das Volk, sondern von ausgewählten Vertretern:innen am Zentralen Runden Tisch herbeigeführt wurden. Dessen Zustandekommen bedurfte jedoch des kontinuierlichen Drucks der Straße. Keinesfalls hat das scheidende Regime aus freien Stücken die Demokratisierung zugelassen oder gar gefördert. Erst der Schulterschluss aller Bewegungen und der Massendemonstrationen ließ jenen Druck aufkommen, der zum Sturz des Regimes führte. Diese Solidarität zerbröckelte erst, als ab dem 7. Dezember 1989 am Zentralen Runden Tisch die endgültige Ablösung des gemeinsamen Feindes ausgehandelt wurde und exekutive Macht in greifbare Nähe rückte. Damit zerfiel die Oppositionsseite in konkurrierende Einheiten, die sukzessive auch die Unterstützung der Demonstrant:innen verlor, wie sich während der Volkskammerwahl vom 18. März 1990 herausstellen sollte. Die Streichung des Art. 1 der DDR-Verfassung hatte das Regime noch selbst veranlasst, alle anderen „Systemtransformationen“16 im Sinne der Überwindung des zumindest autoritären Regimes wurden am Zentralen Runden Tisch ausgehandelt: so die Abschaffung des Amtes für Nationale Sicherheit (Af NS) – Nachfolgeinstitution des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) – im Dezember 1989, die Bildung einer ‚Regierung der nationalen Verantwortung‘ am 5. Februar 1990 oder die Vereinbarungen zu den freien Volkskammerwahlen. Der Entwurf für eine neue Verfassung wurde bei einem negativen Votum der SPD-ost an die Volkskammer überwiesen. Genau genom-
Vgl. Meckel / Gutzeit: Aufruf zur Gründung der sozialdemokratischen Partei in der DDR, 24.07.1989 (1994), S. 368; RHG, SDP 02: Parteivorstand der SDP, SDP zur Deutschlandfrage. 14 Vgl. Sturm: Uneinig in die Einheit (2006), S. 140 f. 15 Vgl. die Zeitzeugengespräche mit Markus Meckel, Torsten Hilse und Oliver Richter. 16 Merkel: Systemtransformation (2010). 13
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men haben erst diese Reformen, die im Übrigen nach autoritärem Muster verliefen, da sie formell von der alten Volkskammer in Gesetze gegossen wurden, den profunden Wechsel in der DDR herbeigeführt. Allerdings muten die Bilder des Zentralen Runden Tisches deutlich unspektakulärer an als jene von den Massendemonstrationen in Leipzig im Oktober und November 1989, jene vom Mauerfall oder jene vom Sturm auf das Af NS vom 15. Januar 1990.17 Ungeachtet der nicht zuletzt auf das Handeln der SDP zurückgehenden Erfolge in der Revolutionierung der DDR stieß das Festhalten der Gründergeneration der SDP / SPD-ost an der Eigenständigkeit der DDR parteiintern auf Kritik. Schon während der Delegiertenversammlung im Januar 1990, jener ersten Zusammenkunft von Sozialdemokrat:innen aus der gesamten DDR, kritisierte die Basis die Arbeit des als elitär und realitätsfremd gesehenen Vorstands, der den Belangen, Nöten und Wünschen der Gesamtbevölkerung nur ungenügend Rechnung getragen habe.18 Sie wünschte eine schnelle Wiedervereinigung unter der Schirmherrschaft Bonns. So setzte die Basis bei der Delegiertenkonferenz gegen den Willen der auf Eigenständigkeit bedachten Gründergeneration den symbolträchtigen Wechsel des Kürzels in SPD durch. Aus Sicht der Basis sollte somit sichergestellt werden, dass der Vorstand an einer schnellen staatlichen Vereinigung arbeiten und dass die Zusammenarbeit mit der Bonner SPD zunehmen würde – so wie es auf regionaler Ebene spontan und gegen den Willen der beiden Parteiapparate schon der Fall war. Ganz allgemein kann die Delegiertenversammlung als Wendepunkt in der Parteigeschichte gelten. Zum einen konnte die Gründergeneration nicht mehr allein über die Geschicke ihrer ‚Schöpfung‘ entscheiden, da der Vorstand ausgeweitet wurde. Zum anderen musste die ostdeutsche Partei nach dem programmierten endgültigen Sturz des Regimes beweisen, dass sie mehr als eine reine Oppositionspartei war. Daher die Arbeit am Programm, das auf dem Leipziger Parteitag im Februar 1990 verabschiedet wurde. Gleichzeitig beendete die Delegiertenkonferenz die basisdemokratische Ausarbeitung ebendieses Programms. Im Januar 1990 hatte der SDP-Vorstand eine Publikation herausgegeben, die der programmatischen Arbeit der Basis Rechnung trug und in aller Deutlichkeit zeigte, wie sehr die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Vorstellungen innerhalb der Partei auseinanderklafften.19 Schließich musste die Ostpartei, ob sie es wollte oder nicht, mit der Bonner SPD immer enger zusammenarbeiten.
Zur Rolle der SDP / SPD-ost in der ‚friedlichen Revolution‘ bzw. im Transformationsprozess vgl. Dubslaff: Die ostdeutsche Sozialdemokratie (2019). Zur Arbeit der SDP / SPD-ost am Zentralen Runden Tisch vgl. Gohle: Von der SDP-Gründung zur gesamtdeutschen SPD (2014), S. 141–152. 18 Vgl. Wortmeldungen von Delegierten in Parteivorstand der SDP (Hg.): Protokoll der Delegiertenkonferenz (1990), S. 90, 94, 172 f.; Sturm: Uneinig in die Einheit (2006), S. 136, 280–287, 466. 19 Vgl. Bogisch / Pawliczak (Hg.): Querschnitt (1990) [auffindbar in RHG, CL 12]. 17
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3.
Das komplexe Verhältnis zwischen der SDP / SPD-ost und der Bonner SPD
Bisher war von der SDP / SPD-ost nur als DDR-interner Akteursgruppe die Rede. Es muss nun auf die sich entwickelnde Partnerschaft und die wechselseitigen Einflüsse mit der westdeutschen Partei eingegangen werden. Nachdem diese ihre Paralleldiplomatie zur SED schon im November hatte widerwillig aufgegeben müssen und die – damals noch – SDP zum alleinigen Partner in der DDR gemacht hatte, entsandte sie nun, im Januar 1990, erfahrenes Personal nach Ost-Berlin und in die Zentralen der Kreisverbände der ostdeutschen Sozialdemokratie, um beim Strukturaufbau behilflich zu sein. In den Gesprächen mit Zeitzeug:innen fiel das Urteil – je nach ostdeutschem Gesprächspartner bzw. ostdeutscher Gesprächspartnerin – über diese Hilfe verschieden aus. Viele dankten der Bonner ‚Baracke‘20 für die tatkräftige, auch materielle Unterstützung ganz besonders bei der Planung und Durchführung der Parteitage. Andere empfanden sie aber auch als massive Einflussnahme, insbesondere auf die in Leipzig verabschiedeten Programme. Ganz besonders negativ blieb die im Nachhinein als inoffizielle Mitarbeiterin enttarnte Ulla Vollert, die ehemalige Büroleiterin Hans-Jochen Vogels, in Erinnerung.21 Daraus abzuleiten, dass die SPD-ost zu diesem Zeitpunkt fremdgesteuert gewesen sei, erscheint übertrieben. Der Historiografie zufolge scheint die Bonner SPD der ostdeutschen Schwesterpartei viel mehr Freiräume gewährt zu haben als die Christdemokraten oder die Liberalen ihren jeweiligen Partnerparteien, was Egon Bahr im Nachhinein bedauerte.22 Bei den Sozialdemokrat:innen scheint es eine weitestgehend faire Zusammenarbeit gegeben zu haben, in der die technische Erfahrung der Westpartei durch das zunehmende politische Gewicht der Ostpartei ausgeglichen wurde. Auch die Wahl Willy Brandts, der westdeutschen Identifikationsfigur schlechthin, zum Ehrenvorsitzenden der SPD-ost im Februar 1990 darf nicht als Zeichen für eine Übernahme interpretiert werden. Der nunmehr Ehrenvorsitzende beider deutschen sozialdemokratischen Parteien sollte vielmehr als Garant für diese faire Zusammenarbeit zwischen beiden Parteien fungieren, zumal zwischen den jüngeren Generationen in Bonn und Ost-Berlin durchaus auch ein Konkurrenzdenken einsetzte.23 Den WahlAls ‚Baracke‘ bezeichneten die Sozialdemokrat:innen die offiziell Erich-Ollenhauer-Haus genannte Bundesparteizentrale der SPD. 21 Vgl. die Gespräche mit Johannes Richter und Angelika Barbe; Sturm: Uneinig in die Einheit (2006), S. 273. 22 Vgl. Bahr: Zu meiner Zeit (1996), S. 584. Zu den Beziehungen zwischen west- und ostdeutschen Parteien vgl. die Charakterisierungen in Musiolek / Wuttke: Parteien und politische Bewegungen (1991), S. 27–43, 49–52. 23 „Ich muss sagen, es gab zu diesem Zeitpunkt zwischen der großen SPD mit dem Vorsitzenden Vogel an der Spitze und uns ein Maß an Fairness, das ich nachträglich immer noch bewundere, weil wir waren abgerockte Leute, langbärtig, für einen westlich gestylten Politiker mussten wir wie Chaoten aus dem Osten erscheinen. […] Wenn man sich anschaut, wie das bei der Allianz für Deutschland war, da wurde die Strategie im Westen gemacht […]. Wir hatten faire Gespräche. Danach hatten wir jedoch zunehmend das 20
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kampf zur Volkskammerwahl bestritt die SPD-ost in Eigenregie, setzte aber dennoch auch auf die Auftritte von verdienten westdeutschen Sozialdemokraten. Brandt, Vogel und Rau waren wiederholt in der DDR im Einsatz. Oskar Lafontaine hingegen war in der DDR ob seiner gegen die DDR-Bevölkerung Ressentiments schürenden Rhetorik sehr unbeliebt. Im Vorfeld der Landtagswahlen in der DDR im Oktober und der Bundestagswahl vom Dezember 1990 wurden vom Ost-Berliner Präsidium etwaige Auftritte des SPD-Kanzlerkandidaten in der DDR als kontraproduktiv angesehen.24 Der Ausgang der freien Volkskammerwahl vom 18. März 1990 bedeutete eine herbe Niederlage für die Sozialdemokrat:innen, die sich erhofft hatten, als Sieger aus den Wahlen hervorzugehen und durch die Schaffung neuer demokratischer Institutionen nach westlichem Verständnis die ‚friedliche Revolution‘ zu vollenden. Knapp die Hälfte der Wähler:innen gab ihre Stimme jedoch der im Bonner Kanzleramt geschmiedeten Allianz für Deutschland. Das konservative Wahlbündnis aus gewandelter CDU-ost, der ehemaligen Bürgerbewegung Demokratischer Aufbruch und dem CSUAbleger Deutsche Soziale Union (DSU) hatte seinerseits eine schnelle Übernahme der westdeutschen Institutionen samt Währung und Sozialsystem nach Artikel 23 GG versprochen. Damit traf die Allianz den Nerv der Zeit besser als die SPD-ost. Dass die SPD-ost mit 21,9 % der Wählerstimmen zweitstärkste Kraft vor der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) wurde und als einzige Vertreterin der Bürgerbewegungen zweistellig wurde, war ein schwacher Trost.25 Folglich musste auch die Gründergeneration einräumen, dass ihr Beharren auf Artikel 146 GG26 weder den Wünschen der eigenen Basis noch jenen des Wahlvolks entsprach, die der politischen Experimente überdrüssig waren. Die Forderung nach einem modus operandi nach Artikel 146 GG entsprach dem Kompromiss, der auf dem
Problem mit Oskar Lafontaine und dann auch Auseinandersetzungen.“, vgl. Zeitzeugengespräch mit Markus Meckel, in: Dubslaff: „Oser plus de social-démocratie“, Bd. 2 (2015), S. 34 f. 24 „Obwohl Oskar Lafontaine in der DDR-Bevölkerung kein gutes Immage [sic!] hat, können wir uns im Wahlkampf nicht von ihm abkoppeln. Die Frage ist, ob er bereits während des Landtagswahlkampfes in der DDR präsent sein soll oder erst danach. Das Präsidium empfiehlt, ihn erst danach präsent sein zu lassen. Der Landtagswahlkampf sollte länderspezifisch geführt werden, daher haben die Spitzenkandidaten der Länder die Entscheidung darüber zu fällen.“, vgl. AdsD, 2/SDPA000061: Protokoll der Präsidiumssitzung am 10.09.1990, [Ost-]Berlin, 13.09.1990. 25 „Wenn man uns immer sagt, ihr habt am 18. März [1990] die Wahl verloren, da sage ich immer, bis Ende August [1989] waren wir zwei, Mitte September waren wir 12, in Schwante [am 7. Oktober 1989] haben, glaube ich, 38 unterschrieben, und am 18. März haben wir die Wahl mit 21 %, sagt man, verloren. Wir hatten mehr Stimmen als die damalige PDS. Da würde ich fragen, ob der Ansatz so fehlerhaft war.“, vgl. Zeitzeugengespräch mit Martin Gutzeit, in: Dubslaff: „Oser plus de social-démocratie“, Bd. 2 (2015), S. 16. 26 In der Fassung von 1949 besagte Artikel 146 GG folgendes: „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ Das Pochen auf diesen Artikel zeugt davon, dass die ostdeutschen Sozialdemokrat:innen keinen Beitritt zur bestehenden Bundesrepublik, sondern ein neues gemeinsames staatliches Gebilde mitgestalten wollten.
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Leipziger Parteitag im Februar 1990 gefunden worden war. Die Basis forderte konkrete Schritte zur staatlichen Einheit und die Gründergeneration blieb dem Prinzip der Augenhöhe zwischen DDR und Bundesrepublik treu. Somit ging die Gründergeneration auf die Wünsche ihrer Basis ein. Der Wahlausgang, der einmütig als „Plebiszit für die Einheit“27 gewertet wurde, führte zu einem pragmatischen Umdenken vonseiten der Gründer:innen – besonders jener, die nun ein parlamentarisches Mandat innehatten, ja, wie Meckel Regierungsmitglieder wurden. Während der Gründer, Parteivorsitzende, Spitzenkandidat und kurzzeitige Fraktionsvorsitzende Manfred Ibrahim Böhme sich im Einvernehmen mit mehreren, eher basisdemokratisch orientierten Gründer:innen gegen eine Koalition mit den Konservativen ausgesprochen hatte, widersetzte sich die neu gewählte Fraktion, die in weiten Teilen auch aus später hinzugestoßenen Sozialdemokrat:innen bestand, dem Votum des Parteivorstandes und ging dieses Bündnis ein. Dabei kam ihnen zugute, dass Böhme kurz vor der Wahl vom Magazin Der Spiegel als IM entlarvt wurde und seine Führungsämter abgeben musste.28 Überhaupt wurde die Volkskammerfraktion nach der Wahl am 18. März 1990 zum Machtzentrum der ostdeutschen Partei. Damit knüpfte sie an eine Tradition der SPD an, die schon seit der Zeit der Bismarck’schen Sozialistengesetze zwischen 1878 und 1890 bestanden hatte.29 Andererseits fehlte es der Partei fortan an Köpfen, die deren Belange gegenüber der Fraktion hätten durchsetzen können. Das verschärfte den Konflikt zwischen ostdeutscher sozialdemokratischer Basis und Gründergeneration. Im Gegenzug zu ihrem Verzicht auf Artikel 146 GG vermochten es die Sozialdemokrat:innen in der DDR, den Konservativen aus Ost und West im Koalitionsvertrag Konzessionen auf dem sozialen und gesellschaftlichen Feld abzuringen: Das galt etwa für den 1:1-Umtausch zwischen Ostmark und DM, die Beibehaltung der Polikliniken, die Verankerung von ökologischen Anliegen oder für die Bestimmungen beim Schwangerschaftsabbruch.30 Durch ihre Regierungsbeteiligung von April bis August 1990 gewann die SPD-ost erheblich an politischem Gewicht und konnte sich gegenüber der Bonner SPD in entscheidenden Punkten behaupten. So zeigte sich die sozialdemokratische Fraktion in der Volkskammer bei der Annahme der drei Staatsverträge im Juni, August und September 1990 weit entschlossener als ihr Gegenüber im Bundestag. Selbst aus der Opposition in der Volkskammer heraus durchkreuzte sie die Pläne Lafontaines, die Verei-
Korte: Die Chance genutzt? (1994), S. 129, 209. Zu den Debatten innerhalb der Führung der SPD-ost vgl. Dubslaff: „Oser plus de social-démocratie.“ (2019), S. 252–255, 276–283. 29 Vgl. Potthoff / Miller: Kleine Geschichte der SPD (2002), S. 50–53. 30 Vgl. Gröf: „In der frischen Tradition des Herbstes 1989“ (1996), S. 37 f.; Dubslaff: Die Rolle der Frauen und Männer (2021), S. 133–135. 27 28
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nigung im Bundesrat aufzuhalten, wo die SPD nach der Wahl Gerhard Schröders zum niedersächsischen Ministerpräsidenten am 13. Mai 1990 über die Mehrheit verfügte.31 In der Bonner SPD trat indes ein Generationskonflikt zwischen der scheidenden älteren Generation um Willy Brandt, Helmut Schmidt und Hans-Jochen Vogel zum einen und der sogenannten Enkelgeneration um den Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder zum anderen zu Tage. Erstere waren nämlich jeweils 1913, 1918 und 1926 geboren worden und somit vor der deutschen Teilung aufgewachsen, was sie mit einem deutlicheren Bezug zur deutschen Nation ausstattete als jene, die im Nachkriegsdeutschland sozialisiert worden waren. Daraus ergab sich bei Letzteren eine weit geringere Bereitschaft dazu, auf die Belange der ostdeutschen Sozialdemokrat:innen und darüber hinaus auf jene der ostdeutschen Bevölkerung insgesamt einzugehen. Laut Richard Schröder soll Gerhard Schröder in einer gemeinsamen Präsi diumssitzung gesagt haben: „Ich frage mal in Österreich an, ob die euch nach Artikel 23 nehmen!“32 Wie Daniel Friedrich Sturm überzeugend darstellt, entschied sich Oskar Lafontaine sehr früh für eine radikale Oppositionshaltung zu Bundeskanzler Helmut Kohl.33 Diese Strategie rächte sich, da Lafontaine und sein Verbündeter, Gerhard Schröder, nun als Einheitsgegner erschienen. Dieses Bild schlug sich auch auf die Wahlausgänge in der DDR negativ nieder. Ihrerseits verfolgten die ostdeutschen Sozialdemokrat:innen einen viel konstruktiveren und pragmatischeren Kurs in der Hoffnung, die sozialen Kosten für die ostdeutsche Bevölkerung möglichst gering zu halten und das eine oder andere Positive aus der DDR in die Bundesrepublik hinüberretten zu können. Besonders Richard Schröder und Wolfgang Thierse, dem neuen Parteivorsitzenden, der damit kokettiert hatte, nicht aus der Gründergeneration zu stammen,34 gelang es, die verunsicherte Bundestagsfraktion für die Staatsverträge zu gewinnen. Damit setzte sich die nun auf Einheitskurs befindliche SPD-ost gegen den westdeutschen Kanzlerkandidaten durch. Die Befassung mit dem Wechselspiel zwischen beiden sozialdemokratischen Parteien erlaubt es aufzuzeigen, dass der Einfluss keineswegs eine Einbahnstraße von West nach Ost war – besonders was das politische Gewicht im Sommer und Herbst 1990
Vgl. Sturm: Uneinig in die Einheit (2006), S. 368, 416; Potthoff / Miller: Kleine Geschichte der SPD (2002), S. 344. 32 Schröder: Die SPD und die deutsche Einheit (2013), S. 143. Aus einer Anekdote, wonach nordrheinwestfälische Sozialdemokrat:innen aus dem Namen schlossen, dass Neubrandenburg in Brandenburg liege, schlussfolgert Hacker im Nachhinein: „Die haben ihre Heimat schon gut gekannt, die Jungs! Die kannten Mailand besser als Neubrandenburg!“, vgl. Zeitzeugengespräch mit Hans-Joachim Hacker, in: Dubslaff: „Oser plus de social-démocratie“, Bd. 2 (2015), S. 69. 33 Vgl. Sturm: Uneinig in die Einheit (2006), S. 340, 367 f. 34 Zu seiner Wahl zum ostdeutschen Parteivorsitzenden am 09.06.1990 sagte Wolfgang Thierse in Nachhinein: „Ganz einfach: Ich war nicht 34 Jahre alt und kein Pastor“, zit. nach: Sturm: Uneinig in die Einheit (2006), S. 345. 31
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anbelangt. Allerdings muss durchaus zugestanden werden, dass ab März 1990 die interne Kommunikation, die Organisation der Wahlkämpfe und die Strukturierung der Partei in der DDR maßgeblich von entliehenem, westdeutschem Personal übernommen wurde. Ob sie dadurch erfolgreicher verliefen, sei dahingestellt. Denn die westdeutschen Expert:innen hätten zwar über das „westliche Know-How“ verfügt, es habe ihnen jedoch an „DDR-Feeling“ gemangelt, wie eine Ost-Berliner Notiz festhielt.35 Schließlich bekam der Vorstand mit dem ‚Plebiszit für die Einheit‘ nach der Volkskammerwahl einen neuen Auftrag, der mit der neuen ostdeutschen sozialdemokratischen Politik einherging. Er sollte die Verzahnung mit der Bonner SPD vorantreiben und die Modalitäten der Parteivereinigung aushandeln. Die Archivalien offenbaren deutlich, dass bis Ende April 1990 beiderseits noch von einer Frist von 18 Monaten ausgegangen wurde.36 Das zeigt im Übrigen, dass das unglaubliche Tempo, mit dem die staatliche Vereinigung vollzogen wurde, nicht vorhersehbar war. Es erklärt auch, warum die SPD-ost sich nicht in stärkerem Maße gegenüber der Bonner Regierung Kohl hat durchsetzen können. Wie dem auch sei, die Verhandlungen um die Parteivereinigung zeugten seitens des Berliner Vorstandes von einem gesunden Selbstwertgefühl. Dabei bildete die SPDost mit ihren 30.000 Mitgliedern eine 30-mal kleinere Gruppe als die SPD-west. Es ist dennoch keineswegs so, als hätte die Bonner ‚Baracke‘ die kleine Partei widerstandslos geschluckt. Der Ost-Berliner Vorstand besann sich vielmehr auf seinen ursprünglich recht – im Verhältnis zur SPD-west allemal – basisdemokratischen Charakter und der geistige Vater aller ostdeutschen Statuten, Konrad Elmer, forderte die Aufnahme des Prinzips ein, wonach die Meinungsbildung in den Parteiebenen von unten her zu erfolgen habe. Zudem erreichte Ost-Berlin, dass die ostdeutsche Präambel Einzug in das Organisationsstatut erhielt. Zu guter Letzt setzten die ostdeutschen Unterhändler:innen die Wahl von zehn neuen Vorstandsmitgliedern durch, davon immerhin einem neuen stellvertretenden Parteivorsitzenden in Person Wolfgang Thierses, der fortan der medienwirksamste Vertreter der ostdeutschen Belange in der Sozialdemokratie wurde. Trotz dieser erfolgreichen Verhandlungen, die wiederum das politische Gewicht der ostdeutschen Sozialdemokrat:innen belegen, wurde beim Vereinigungsparteitag deutlich, dass die ostdeutschen Politiker:innen fürchteten, in der gemeinsamen Partei unterzugehen.37 Diese Befürchtungen erwiesen sich als berechtigt, insofern als
AdsD, 2/SDPA000069: Vorlage zur Vorstandssitzung am 08.04.1990, [Ost-]Berlin, April 1990. Vgl. AdsD, 2/SDPA000187: Stephan Hilsberg, Gespräche Bonn, 31.03.1990; ebd., 2/SDPA000070: Jutta Lode, Protokoll der Präsidiumssitzung am 11.04.1990, [Ost-]Berlin, 11.04.1990. 37 Zu den Verhandlungen um die Änderungen des westdeutschen Organisationsstatuts vgl. Dubslaff: Quel(s) statut(s) pour les sociaux-démocrates est-allemands (2017); Gespräche mit Martin Gutzeit und Konrad Elmer-Herzig. Zu den Befürchtungen der ostdeutschen Sozialdemokrat:innen, dass die ostdeutschen Belange in der vereinigten SPD nur ungenügend Beachtung finden würden, vgl. die Reden von Wolfgang Thierse, Willy Brandt, Arndt Noack und Karl-August Kamilli in Parteivorstand der SPD (Hg.): Protokoll der Parteitage der SPD (ost), der SPD (west) (1990), S. 3–140, hier S. 7–10, 13 f., 18 f., 48–60. 35 36
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die ‚Baracke‘ ihrerseits einen juristischen Trick anwandte, um eine wirkliche Fusion zwischen zwei gleichberechtigten sozialdemokratischen Parteien abzuwenden. Sie behauptete einfach, dass es sich um die ‚Wiederherstellung‘ eines Status quo ante gehandelt habe, wodurch die Urabstimmung und die Neubestellung von Vorstand und Präsidium, die im Falle einer Fusion laut Organisationsstatut nötig gewesen wären, aber Risiken für die westdeutsche Hegemonie geborgen hätten, entfielen. Zweifelsohne wurde insgesamt die westdeutsche SPD auf das Gebiet der Neuen Bundesländer ausgeweitet, sodass die ostdeutschen Besonderheiten kaum Beachtung fanden. So gesehen, erwies sich die westdeutsche SPD parteiintern als viel mächtiger als die ostdeutschen Sozialdemokrat:innen. Abschließend muss festgehalten werden, dass die ostdeutsche Sozialdemokratie kaum von der gemeinsamen Partei gewürdigt wird. Das Manifest zur Wiederherstellung der Einheit der sozialdemokratischen Partei Deutschlands von September 1990 begnügte sich mit der Formel „Den Bürgerbewegungen und der Sozialdemokratischen Partei in der DDR wird immer zu danken sein, daß diesmal nicht Blut und Eisen, sondern gewaltlose Beharrlichkeit den Weg zur Einheit Deutschlands öffnete.“38 Im Hamburger Grundsatzprogramm von 2007 findet kein einziges Mitglied der SDP / SPD-ost namentlich Erwähnung, wohingegen die Verdienste um die deutsche Einheit der großen westdeutschen Sozialdemokraten Kurt Schumacher, Erich Ollenhauer, Ernst Reuter, Fritz Erler, Herbert Wehner, Gustav Heinemann, Willy Brandt und Helmut Schmidt gepriesen werden.39 Die Meriten der ostdeutschen Sozialdemokrat:innen der Gründergeneration werden bestenfalls unter den ‚Helden‘ der ‚friedlichen Revolution in Europa‘ subsumiert. Dies kann als Ergebnis der mangelnden Fairness gelten, die die Enkelgeneration im Unterschied zur scheidenden älteren Generation den ostdeutschen Genoss:innen entgegenbrachte. Freilich standen die beiden etwa gleichaltrigen Politikergruppen aus Ost und West in viel schärferer Konkurrenz zueinander, sodass die ‚Enkel‘ kein Interesse daran haben konnten, die ostdeutschen Sozialdemokrat:innen gebührend zu würdigen. Es ist wahrscheinlich, dass sie damit einer wirklichen Etablierung der SPD als Volkspartei in den Neuen Bundesländern entgegengewirkt haben.
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Parteivorstand der SPD (Hg.): Manifest zur Wiederherstellung der Einheit (1990). Vgl. Parteivorstand der SPD (Hg.): Hamburger Programm (2007).
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Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen
Archivalien Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) – 2/SDPA (Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Zentrale Bestände der SPD, Bestände aus der DDR, Sozialdemokratische Partei in der DDR, SDP- / SPD-Parteivorstand. 1989–1990) – 2/SDPA000061. – 2/SDPA000069. – 2/SDPA000070. – 2/SDPA000187. Robert-Havemann-Gesellschaft, Archiv der DDR-Opposition (RHG) – Bürgerbewegung ab 1989 – CL 12 (Verschiedene Unterlagen vom Herbst 1989 bis zum Herbst 1990). – SDP 02 (SDP – Schriftgut der Partei, November – Dezember 1989).
Gedruckte Quellen Bahr, Egon: Zu meiner Zeit. München (Siedler) 1996. Bogisch, Frank / Pawliczak, Lothar (Hg.): Querschnitt. Denkmodelle zur künftigen Wirtschafts-, Umwelt- und Sozialpolitik der Sozialdemokratischen Partei in der DDR. [Ost-]Berlin 1990. Dubslaff, Étienne: „Oser plus de social-démocratie“. La recréation et l’établissement du Parti social-démocrate en RDA. Bd. 2: Annexes – Entretiens. Dissertation, Sorbonne Université, Paris / Universität des Saarlandes, Saarbrücken, 2015. Meckel, Markus / Gutzeit, Martin: Aufruf zur Gründung der sozialdemokratischen Partei in der DDR, 24.07.1989, abgedruckt in: dies.: Opposition in der DDR. 10 Jahre kirchliche Friedensarbeit – kommentierte Quellentexte. Köln (Bund-Verlag) 1994, S. 364–386. Parteivorstand der SDP (Hg.): Protokoll der Delegiertenkonferenz der Sozialdemokratischen Partei in der DDR. [Ost-]Berlin 1990. Parteivorstand der SPD (Hg.): Manifest zur Wiederherstellung der Einheit der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Beschlossen am 27. September 1990 in Berlin. Bonn 1990. Parteivorstand der SPD (Hg.): Protokoll der Parteitage der SPD (ost), der SPD (west), Berlin, 26.09.1990. Bonn 1990. Schröder, Richard: Die SPD und die deutsche Einheit, in: Fischer, Ilse (Hg.): Von der frei gewählten Volkskammer zum vereinten Deutschland. Politik und Alltagserfahrungen sozialdemokratischer Volkskammerabgeordneter. Dokumentation einer Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung am 23./24. September 2010 in Berlin. Bonn (Friedrich-Ebert-Stiftung) 2013, S. 144–167.
Internet-Quellen Parteivorstand der SPD (Hg.): Hamburger Programm. Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Beschlossen auf dem Hamburger Bundesparteitag der SPD am 28. Oktober 2007, Berlin, 2007, https://www.spd.de/programm/grundsatzprogramm (Stand: 07.09.2023).
Die Sozialdemokratische Partei in der DDR (SDP / SPD)
Literatur
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Étienne Dubslaff
Étienne Dubslaff, Studium der Germanistik im Fachbereich Civilisation allemande an der École
normale supérieure de Lyon und Sorbonne Université, 2011–2015 Lehrtätigkeit an der SorbonneUniversité, 2015 Promotion im Cotutelle-Verfahren im Fach Neuere Geschichte an der Universität des Saarlandes und im Fach Études germaniques an Sorbonne Université mit dem Titel „Oser plus de social-démocratie!“ La recréation et l’établissement du Parti social-démocrate en RDA (Betreuung: Prof. Dr. Dietmar Hüser / Prof. Dr. Hélène Miard-Delacroix), seit 2016 Maître de conférences an der Université Paul-Valéry Montpellier 3. Forschungsschwerpunkte: deutsche Sozialdemokratie seit 1945; ‚friedliche Revolution‘ in der DDR; Wandel des deutschen Parteiensystems; Bundestagswahlkämpfe der SPD.
II. Populärkultur
Kult als historisch-kulturwissenschaftliches Analysekonzept Ein Forschungsansatz zwischen gesellschaftlichem Wandel, kultureller Veränderung und fortwährender Tradition
JASMIN NICKLAS
„Autos wurden zu Kultobjekten ‚der neuen deutschen Leistungsreligion‘.“1
Kult ist als Begriff in unserer Alltagssprache allgegenwärtig. Gerade Medien neigen dazu, einem Film, einer Fernsehsendung, einem Musikstück, einem Auto, einem technischen Gegenstand oder Ähnlichem auf diese Weise eine Aura des Besonderen zu verleihen. Aber auch die breite Bevölkerung verwendet Kult zur Markierung von solchen – vermeintlich oder tatsächlich – außergewöhnlichen Erzeugnissen. Obgleich wir dem Begriff im Alltag wie im Wissenschaftsdiskurs begegnen und er ganz offensichtlich Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch gefunden hat, definiert niemand, was konkret unter Kult innerhalb einer Massenkonsumgesellschaft zu verstehen ist. Selbst innerhalb der Wissenschaftswelt, die vornehmlich von sprachlicher Präzision lebt, wird der Begriff je nach Thema2 inflationär verwendet, ohne ihm nähere Aufmerksamkeit zu schenken. Ganz geschweige davon, dass jemand die Frage stellt, ob sich dahinter ein Phänomen verbirgt, dass mit heuristischen Methoden analysierbar gemacht und zu neuen Erkenntnissen führen könnte. Abgesehen von dieser grundsätzlich beiläufigen Verwendung fällt auf, dass ausschließlich solchen Phänomenen bzw. Produkten ‚Kultcharakter‘ attestiert wird, die zuvor massenhaft konsumiert worden sind. Kurzum erweckt unser (wissenschafts- wie alltags-)sprachlicher Umgang mit dem Begriff, den Eindruck, als wisse jede:r Einzelne genau, was gemeint ist.
Möser: Geschichte des Autos (2002), S. 193. Häufig handelt es sich dabei um populärkulturelle Themen, die sich mit Medien im Allgemeinen und Filmen, Fernsehshows, -serien und Musik im Speziellen auseinandersetzen. Genauso oft begegnet der ‚Kult‘-Begriff aufmerksamen Leser:innen bei Arbeiten zur europäischen wie nordamerikanischen Automobilgeschichte. 1 2
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Lohnt sich also eine nähere wissenschaftliche Auseinandersetzung überhaupt? Es ist höchste Zeit, einen Versuch zu wagen. 1. Von Barthes bis Waechter – theoretische Grundlagen für ein neues Konzept
Die ersten beiden Konnotationen, die mit Kult in Verbindung stehen, sind sehr gegensätzlich: Auf der einen Seite denken wir sofort an den ökonomischen Erfolg eines Produktes, auf der anderen Seite ruft der Begriff religiös-transzendente Assoziationen hervor. Die Bandbreite, die sich zwischen diesen beiden Polen entspannt, lässt reichlich Interpretationsspielraum. Angesichts der Häufigkeit, mit der populärkulturelle oder technische Erzeugnisse mit dem Signum Kult belegt werden und der spannenden – im ursprünglichen Sinne – Beziehung zwischen Transzendenz bzw. symbolischer Ebene und ökonomischem Erfolg lässt sich die Frage aufwerfen, ob Kult als kulturwissenschaftliche und historische Analysekategorie fruchtbar sein kann. Entsteht – wenn dieser Begriff analytisch aufgeschlüsselt wird – am Ende möglicherweise ein Konzept, das gegenüber etablierten Forschungsdesigns einen Mehrwert birgt und neue Erkenntnisse liefert? Der vorliegende Artikel macht ein erstes Angebot, wie eine Konzeptualisierung des Begriffes aussehen und welcher Output bzw. welche Anwendungsperspektiven daraus resultieren könnte(n). Dabei soll der Beitrag nicht als der Weisheit letzter Schluss verstanden werden, sondern im Idealfall Ausgangspunkt für eine Forschungsdebatte sowie praktische Studien sein.3 Ein erster Anhaltspunkt für die Erarbeitung eines solchen Konzeptes bieten dabei die zahlreichen wissenschaftlichen Überlegungen rund um den Mythos-Begriff.4 Dieser vereint ebenso wie Kult eine lebensweltliche und transzendente Perspektive. Darüber hinaus wird Mythos trotz der Vielzahl an forschungsorientierten Zugriffen in historischen, politischen und soziologischen Abhandlungen häufig in seiner alltäglichen Bedeutung verwendet. Besonders einschlägig wie komplex ist der Zugriff des
Bspw. die Dissertation der Autorin „Baby you can drive my car“ – VW Käfer und Citroën 2 CV auf dem Weg vom Konsumprodukt zum Kultobjekt. Eine deutsch-französisch-amerikanische Zirkulationsgeschichte, bei der dieser Ansatz erstmals als Fallstudie erprobt wird. 4 Überlegungen zu Mythen reichen bis in die Antike zurück und erfreuen sich in den verschiedensten Wissenschaftsdisziplinen – angefangen bei der Religionswissenschaft über die Anthropologie, Ethnologie, Philosophie und Geschichtswissenschaft bis hin zur Psychologie – großer Beliebtheit. Unüberschaubar breit sind entsprechend Anzahl und Ansätze der verschiedenen Arbeiten. Als Pionierstudie der modernen Mythos-Forschung gilt die Arbeit des Soziologen Émile Durkheim: Formes élémentaires de la vie religieuses (1912). Darüberhinausgehend sind insbesondere die Arbeiten von Claude Lévi-Strauss zu nennen, vgl. Lévi-Strauss: Struktur der Mythen (1978); ders.: Mythos und Bedeutung (1995). Beispielhaft seien hier zusätzlich genannt: Eliade: Le sacré et le profane (1965); Jung: Archetyp und Unbewusstes (1984); Hübner: Die Wahrheit des Mythos (1985); Assmann: Mythos und Monotheismus (2006). 3
Kult als historisch-kulturwissenschaftliches Analysekonzept
französischen Philosophen Roland Barthes, der in seinen Mythen des Alltags5 einen semiologischen Ansatz liefert. Dort definiert er Mythos als „System der Kommunikation, Botschaft“6. Weiter erläutert Barthes: Man ersieht daraus, daß der Mythos kein Objekt, kein Begriff und keine Idee sein kann; er ist eine Weise des Bedeutens, eine Form […]. Da der Mythos eine Rede ist, kann alles Mythos werden, was in einen Diskurs eingeht. Der Mythos bestimmt sich nicht durch den Gegenstand seiner Botschaft, sondern durch die Art, wie er sie äußert: Es gibt formale Grenzen des Mythos, keine substantiellen.7
Barthes interpretiert Mythos demnach als semiologische Kette: Während sich nach Ferdinand de Saussure Sprache aus einem Signifikanten und einem Signifikat zu einem Zeichen zusammensetzt, ergibt sich ein Mythos dann, wenn dieses Zeichen zum Bezeichnenden für etwas (Signifikat) wird und sich aus dieser Sinneinheit ein weiteres Zeichen ergibt. Für die historische Analyse ist diese Hinführung nur bedingt anwendbar: Sie könnte als Erweiterung zur klassischen Diskursanalyse (Foucault) herangezogen werden. Durch das Untersuchen einer Verschiebung der semiologischen Bedeutung können Prozesse des soziokulturellen wie ökonomisch-kulturellen Wandels nachempfunden werden. Matthias Waechter dagegen bezog seine Überlegungen zum Mythos-Begriff konkret auf die historische Analyse. Er definiert ihn als eine […] gemeinsam erlebte und durch herausragende Individuen geprägte Geschichte, die auf eine besondere Weise präsentiert wird. Die Geschichte wird im Prozess ihrer Mythologisierung aus ihrem unmittelbaren, zeitgebundenen Kontext herausgelöst und auf eine überzeitliche Ebene gehoben; ihre Protagonisten werden mit transzendentalen Attributen versehen. Charakteristisch für mythologisierte Geschichten ist, dass sie sich zumeist in zentrale, sinnlich erfahrbare Symbole und Rituale verdichten lassen, die den gesamten Komplex des durch den Mythos Auszudrückenden wachrufen. Es ist im übrigen [sic!] für den Prozess der Mythenbildung unerheblich, ob ihr Material weit zurückliegende, bereits traditionell verortete Geschichten sind oder ob sie die allerjüngste Vergangenheit betrifft. Entscheidend für eine mythisch erzählte Geschichte ist, dass sie nicht durch rationale oder empirische Beweise zu überzeigen sucht, sondern an die Emotionen der Menschen appelliert und unter ihnen den Glauben an die Wahrheit des Erzählens erwecken will. Für die Geschichtswissenschaft stehen die politisch-sozialen Funktionen von Mythen im Mittelpunkt des Interesses, während die Kulturwissenschaften sich auf ihre Erzählstruktur, auf ihre Bildsprache und ihre Medialität konzentrieren.8
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Vgl. Barthes: Mythen des Alltags (2010); Originalausgabe Barthes: Mythologies (1957). Barthes: Mythen des Alltags (2010), S. 251. Ebd. Waechter: Mythos (11.02.2010), S. 5.
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Für die geschichtswissenschaftliche Forschung bedeutet Waechters Zugriff einen erheblichen Fortschritt, da dieser Mythos als historische Kategorie greifbar macht. Nicht zu Unrecht verweist Waechter in seinem Konzeptaufsatz darauf, wie inflationär Historiker:innen – selbst in Titeln ihrer Werke – auf den Begriff zurückgreifen, ihn häufig – ähnlich wie den Kult-Terminus – aber unhinterfragt in seiner alltagsweltlichen Form verwenden. Mit diesen nicht von der Hand zu weisenden Ähnlichkeiten zum Umgang mit der Kategorie Kult bilden Waechters Definition und Barthes semiologische Mythos-Theorie wichtige Grundbausteine für den nachfolgenden methodischen Entwurf. Dennoch weisen beide Ansätze Schwachstellen auf: Erstens liefern beide keinen methodologischen Vorschlag, wie Forschende quellenkritisch mit dem ihrer jeweiligen Studie zugrundeliegenden Material umgehen können, ohne selbst in die emotionalisierte Grauzone der Mythenerzählung zu geraten. Zweitens beschränkt Waechter die historische Aussagekraft von Mythen auf deren politisch-soziale Funktion. Angesichts einer modernen Kulturgeschichte des Sozialen und Politischen, die seit zwanzig Jahren die westliche Historiografie prägt, greift diese Perspektive zu kurz, denn sie lässt kulturelle wie ökonomische Effekte außer Acht. Dies mag nicht zuletzt der Tatsache geschuldet sein, dass Mythos anders als Kult in der (wissenschaftlichen) Alltagssprache viel stärker mit diesen eher traditionellen Feldern verknüpft ist. Generell sollten aber sowohl wirtschaftliche, kulturelle als auch kulturökonomische Funktionen wie Effekte berücksichtigt werden. Davon ausgehend, dass es sich bei diesen fehlenden Elementen nicht um Mängel, sondern – wertfreie – Unterschiede handelt, müssen wir schlussfolgern, dass Mythos und Kult zwei verschiedene, wenn auch entfernt miteinander verwandte und für unkritische Beobachtende leicht zu verwechselnde Phänomene sind. Weiter besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen der historischen Forschung zum Personenkult, die besonders in der osteuropäischen Geschichtswissenschaft sowie in Studien zu faschistischen wie totalitären Regimen zum Tragen kommt.9 Der diesen Studien zugrunde gelegte Kult-Begriff ist weit enger mit Waechters Mythos-Begriff verknüpft als das weiter unten vorgestellte Modell. Dies gilt umso mehr, wenn Waechters Mythos-Konzept auf Personen übertragen wird.10 Dass die historische Personenkultforschung eng mit Fragen der Mythenbildung rund um die jeweils
Vgl. hierzu besonders die Arbeiten von Heidi Hein(-Kircher): Zur Emotionalisierung von Politik (2013); dies.: Politische Mythen (2007); dies. / Hahn (Hg.): Politische Mythen im 19. und 20. Jahrhundert (2006); dies.: Historische Mythosforschung (2005); dies. Historische Kultforschung (2005). Jüngst erschienen Kekelia / Reisner: Stalin as an Embattled Memory Site (2021); Dikötter: Populismus, Personenkult und die Wege zur Macht (2020); außerdem relevant Plamper: The Stalin Cult (2012); Kunze / Vogel (Hg.): Personenkult im 20. und 21. Jahrhundert (2013); Apor u. a. (Hg.): Leader Cult in Communist Dictatorships (2004); Kershaw: Hitler Mythos – Führerkult und Volksmeinung (2002). 10 Vgl. hierzu Waechters Spezifizierung zu Mythos und Personenkult in ders.: Mythos (11.02.2010), S. 10– 12. Außerdem zeigt sich die enge Verknüpfung zwischen Mythos und Personenkult in seiner 2006 erschienen Monografie, vgl. Waechter: Mythos des Gaullismus (2006). 9
Kult als historisch-kulturwissenschaftliches Analysekonzept
untersuchten politischen Figuren verbunden ist, zeigt zudem ein flüchtiger Blick in die Publikations- und Inhaltsverzeichnisse der einschlägigen Wissenschaftler:innen.11 Beiden Konzepten (Barthes und Waechter) gemein ist die dezidiert politisch-soziale Perspektive, wohingegen Kult als historisch-kulturwissenschaftliches Analysekonzept dabei helfen soll, Produkte, kulturelle Erzeugnisse und Akteur:innen (hierunter fallen Sportmannschaften genauso wie Musikgruppen12) in ihrer gesamtgesellschaftlichen kulturellen, ökonomischen wie politischen Dynamik zu beleuchten. 2. Kult als historisch-kulturwissenschaftliches Analysekonzept – ein Definitions- und Eingrenzungsangebot
Sogenannte Kultobjekte bzw. -phänomene – seien es Automobile wie der VW Käfer, Citroëns Ente, der Fiat 500 oder Hightech-Produkte wie das IPhone, IPad und MacBook oder Filme wie Dirty Dancing und Herr der Ringe oder Serien wie Friends, Die Simpsons und Game of Thrones oder Fußballvereine wie der FC St. Pauli, die AS SaintÉtienne, Manchester United, der FC Barcelona und Juventus Turin – haben eines gemeinsam: Neben ihrer transzendenten / symbolischen / kommunikativen Ebene ragen ihre Wurzeln ganz eindeutig in die Bereiche des Populärkulturellen, des Massenkonsums bzw. allgemeiner des Ökonomischen hinein. Mit Hilfe eines Kult-Analysekonzepts können Themen aus der Sport-, Wirtschafts-, Technikgeschichte sowie der Geschichte der Populärkultur behandelt und aus einem völlig neuen Blickwinkel betrachtet werden. Allen Themenfeldern ist dabei gemein, dass sie eine große Schnittmenge mit der Konsumgeschichte13 aufweisen, in der sich Kult als historisch-kulturwissenschaftliches Analysekonzept insbesondere verorten lässt.
Vgl. hierzu die Publikationen in Fußnote 9. Historiker:innen haben sowohl für die Sport als auch für die Populärkulturgeschichte zahlreiche Studien zum Helden- bzw. Starkult vorgelegt. Deren Ergebnisse sollten – insofern es sich bei dem Untersuchungsgegenstand um eine kulturelle Akteurin oder einen kulturellen Akteur handelt – zwingend berücksichtigt werden. Über den Heldenkult im Sport vgl. den bald erscheinenden Sammelband von Andreas Gelz (Hg.): Sport und das Heroische, darin besonders relevant Hüser: Fußball-Helden (im Erscheinen). Darüber hinaus im Bereich des Sports besonders aktuell Bette: Sporthelden (2019). Außerdem wichtig mit Blick auf Vermarktungsstrategien von Sportheld:innen Krüger / Scharenberg (Hg.): Zeiten für Helden (2014), darin insbesondere Kramer: Metamorphosen im Sport (2014). Siehe auch – mit ausschließlichem Fokus auf die Bundesrepublik – Mährlein: Der Sportstar in Deutschland (2008). Für den populärkulturellen Starkult besonders wichtig: Vgl. Loy / Rickwood / Benett: Popular Music, Stars and Stardom (2018); Keller: Starkult und Identität in der Mediengesellschaft (2008); Gaffney / Holmes (Hg.): Stardom in Postwar France (2007); Buxton: Star-système et société de consommation (1985). 13 Die Konsumgeschichte entstand in den 1980er-Jahren und gewann seither zunehmend an Bedeutung. In ihr verbinden sich verschiedene Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft, insbesondere die Wirtschafts-, die Sozial- und neuerlich besonders die Kultur- und Alltagsgeschichte, vgl. Schramm: Konsumgeschichte (02.09.2020), S. 3. Die Idee ‚Kult‘ als historisches Analysekonzept zu verwenden, ist – unabhängig von der zwangsläufigen Erweiterung von Themengebieten in die Sport-, Technik und Populär11 12
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Um Kult heuristisch operationalisierbar zu machen, benötigen wir zuvor eine konkrete Definition des Phänomens, die im Folgenden mit verschiedenen Beispielen veranschaulicht werden soll. Kultstatus wird Produkten, kulturellen Erzeugnissen, Sportmannschaften, Musikgruppen, aber auch Clubs und Kneipen durch einen kommunikativen Prozess zwischen Medien(-schaffenden), Nutzer:innen wie Nicht-Nutzer:innen und Produzenten:innen / Betreiber:innen / Mitwirkenden zugeschrieben.14 Grundlage dafür, dass eine solche diskursive Zirkulationsspirale überhaupt in Gang gesetzt wird, ist der ökonomische, sportliche wie kulturelle Erfolg eines Produktes, eines kulturellen Erzeugnisses respektive einer Sportmannschaft bzw. Musikgruppe, Clubs und Kneipen. Er ist der Grund, weshalb überhaupt ein in der Regel trans nationaler kommunikativer Anlass entsteht, der weder zeitlich noch räumlich eng begrenzt ist. Beispielsweise interessieren Sie sich nicht für Ergebnisse und Fankultur des Heidmühler FC, ganz zu schweigen davon, dass Sie sich darüber in zwanzig Jahren austauschen möchten. Es sei denn, Sie stammen zufällig aus der Region Schortens. In der Regel handelt es sich also bei Kultphänomenen, um Waren, kulturelle Erzeugnisse kulturgeschichte – innerhalb der Konsumgeschichte als gemeinsame Schnittstelle zu verorten. Anzahl und Themenvielfalt konsumhistorischer Forschungen sind aufgrund des steigenden Forschungsinteresses kaum noch zu überblicken, deshalb beschränkt sich die Auswahl der hier vorgestellten Arbeiten auf die zentralen Studien der angelsächsischen, deutschen wie französischen Konsumgeschichte, vgl. Siegfried: Time Is on My Side (2022 [2006]); Rosenberg: Time for Things (2021); Daumas: La révolution matérielle (2018); Fabian: Boom in der Krise (2016); Kühschelm / Eder / Siegrist (Hg.): Konsum und Nation (2012); Schramm (Hg.): Vergleich und Transfer in der Konsumgeschichte (2009); Haupt / Torp (Hg.): Konsumgesellschaft in Deutschland (2009); Kleinschmidt: Konsumgesellschaft (2008); König: Kleine Geschichte der Konsumgesellschaft (2008); Rioux: Les consommations du tout-venant (2005); Chatriot / Chessel / Hilton (Hg.): Au nom du consommateur (2004); Siegrist / Kaelble / Kocka (Hg.): Europäische Konsumgeschichte (1997); McKendrick / Brewer / Plumb: Birth of a Consumer Society (1983). 14 Dabei üben alle drei großen Akteursgruppen bei diesem Vorgang unterschiedliche Rollen aus: Die Produzent:innen bedienen sich beispielsweise sehr spezifischer Marketing- und Werbestrategien, die ihre Erzeugnisse mit Nutzungsvorschlägen und identitätsstiftenden Angeboten zu besetzen versuchen, die zum Teil durch das Produkt selbst bestimmt sind (beispielsweise bei Autos oder Computern), daneben aber erheblichen Interpretationsspielraum zulassen (beispielsweise bei Pkws die Präsentation als Familienauto, schicker Single-Stadt-Wagen usw. oder bei Computern der solide Arbeitsrechner, der Gaming-Computer oder das MacBook als Must-have einer modernen Kommunikationsgesellschaft usw.). Die Medien – Fachwie Tages- und Wochenpresse, Internetplattformen, Fernseh- und Radioberichterstattung – greifen diese Angebote auf, kritisieren oder loben sie, machen zum Teil eigene Nutzungs- und identitätsstiftende Angebote zum angebotenen Produkt. Ferner dienen sie als Werbeplattform für die Herstellerseite. (Nicht-) Nutzer:innen bzw. (Nicht-)Konsument:innen oder Fans reagieren ihrerseits auf das Angebot, adaptieren individuell oder kollektiv die Nutzung wie Zuschreibung, was wiederum Rückwirkungen auf Marketingund Werbestrategie der anbietenden Unternehmen sowie die mediale Berichterstattung hat. Konnten sich früher Privatpersonen zu Produkten, kulturellen Erzeugnissen oder Sportmannschaften nur innerhalb eines sehr begrenzten Rahmens – nämlich konkret in Briefen von Leser:innen, in Briefen an die Produzenten:innen / Mannschaften oder eben innerhalb ihres begrenzten persönlichen Umfelds – äußern, haben sie seit der Gründung und stetigen Bedeutungszunahme von Social-Media-Plattformen an Einfluss gewonnen. Gar ein neuer Typus von Akteur:in ist so entstanden: die Influencerin bzw. der Influencer. Im Ergebnis – insbesondere, wenn transnationale Produkte bzw. kulturelle Erzeugnisse oder transnational agierende Sportmannschaften in den Blick genommen werden – entsteht ein äußerst komplexes, aber durchaus sehr gut analysierbares Kommunikations- und Interaktionsmodell.
Kult als historisch-kulturwissenschaftliches Analysekonzept
bzw. Akteur:innen wie Sportmannschaften und Musikgruppen, die über Staatsgrenzen hinweg bei weiten Teilen der Bevölkerung besonders erfolgreich bzw. beliebt waren. Transregionale wie -nationale Bekanntheit treiben die diskursive Spirale weiter an, da mit der zusätzlichen Medienöffentlichkeit, weiteren Gruppen von (Nicht-)Nutzer:innen und unter Umständen sogar neuen Akteur:innen auf Seite der Hersteller:innen15 bzw. beteiligten Kulturschaffenden oder Sportfunktionär:innen ein weiterer kommunikativer Kreislauf entsteht, der freilich durch den im Ursprungsland beeinflusst ist, aber eben auch auf diesen zurückwirkt.16 Überträgt sich dieser Prozess nicht nur auf ein, sondern auf mehrere Länder, verkompliziert sich die ohnehin bereits komplexe diskursive Zirkulationsspirale zusätzlich. Dank des akteurszentrierten Ansatzes kann sie jedoch anhand des zur Verfügung stehenden Quellenmaterials gut analysiert bzw. entwirrt werden kann. Ein One-Hit-Wonder kann demnach ebenfalls Kultstatus erreichen, da es – wenn auch die Künstlerin oder der Künstler nur ein Lied in den Charts platzieren konnte – durch den einschlägigen wie einprägsamen Sound über nationalstaatliche Grenzen hinweg nachhaltig erfolgreich sein und damit zum Dauerbrenner werden kann. Das liegt nicht zuletzt an den Emotionen, die eine Vielzahl von Menschen mit Musik im Allgemeinen und solchen Hits im Speziellen verbinden. Noch heute tanzen europaweit Menschen auf Hochzeiten, in Diskotheken oder privat im Freundeskreis zum 1996 veröffentlichten Hit Macarena von Los del Rio (Bayside Boys Remix). Kollektive wie individuelle Emotionen tragen nicht nur zur Etablierung eines Kultstatus von musikalischen Werken bei, sondern sind immanenter Bestandteil des kommunikativen Prozesses, der zum Erreichen eines Kultstatus führt. Egal, ob es dabei um den geliebten oder gehassten Fußballclub geht oder den VW Käfer, mit dem die Großeltern in ihren ersten Urlaub aufbrachen. Die mit einem Kultobjekt verbundenen Emotionen schaffen damit eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die in Form und Gestaltung immer wieder anders aussehen kann. Einen wichtigen Aspekt stellen in diesem Zusammenhang intergenerationelle Effekte dar: Durch die Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart in Form solcher Kultphänomene entwickeln nachfolgende Generationen ebenfalls – durchaus von älteren Generationen abweichende – emotionale Bezüge zu den Produkten, kulturellen Erzeugnissen, Sportmannschaften, Musikgruppen usw. Dabei tragen jüngere Generationen – im Sinne eines kommuni-
Automobilfirmen haben in den jeweiligen Staaten beispielsweise Tochterunternehmen wie PSA Deutschland und Volkswagen France S. A. Künstler:innen und Sportler:innen engagieren für Marketingzwecke nicht selten mehrere Agenturen in verschiedenen Staaten. 16 Bei all diesen Zirkulationsspiralen müssen die soziokulturellen, politischen, juristischen wie gesamtwirtschaftlichen Zusammenhänge innerhalb der geografischen Untersuchungsräume berücksichtigt werden. Diese bilden die Rahmenbedingungen der transnationalen Kommunikationsspirale(n); Änderungen juristischer Vorgaben in einem Staat – beispielsweise was Abgaswerte oder Sicherheitsvorgaben bei Automobilen betrifft – wirken sich unmittelbar auf das Erzeugnis selbst, aber auch auf die Interaktion zwischen den Akteur:innen aus. 15
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kativen, emotionalen Gedächtnisses17 – die Emotionen der älteren, miterlebenden Generation weiter, grenzen sich aber entweder bewusst von ihnen ab oder erweitern und ergänzen sie um ihre eigene Gefühlsperspektive. Dadurch ist es möglich, dass heute keine anderen Wagen als Hochzeitsautos in der Bundesrepublik so beliebt sind wie die alten Käfer und Bullis von Volkswagen sowie Stadtrundfahrten im Trabi durch Berlin und in Citroëns 2 CV durch Paris ein riesiger Erfolg sind oder nach 1996 Geborene ausgelassen Macarena tanzen. Der aktuelle gesellschaftliche, politische, juristische wie kulturelle Kontext wirkt sich dabei stets auf die Emotionen und Wahrnehmungen aus, die mit dem entsprechenden Gegenstand, Erzeugnis, (Sport-)Team oder der entsprechenden Musikgruppe assoziiert werden. Die Zuschreibung von Kult ist demnach sowohl auf synchroner als auch auf diachroner Ebene variabel. In letzter Konsequenz hat dies zur Folge, dass selbst Dinge, denen dieser Status des Besonderen verliehen worden ist, diesen wieder vollständig verlieren können. Denkbar wäre beispielsweise, dass Automobile wie der VW Käfer oder der Citroën 2 CV mit zunehmendem Sichtbarwerden der Klimakrise ihren Kultstatus einbüßen. Kultobjekte wie Kultvereine und -musikgruppen sind damit Ausdrucksformen von Konsumgesellschaften im Wandel. In ihrer Wahrnehmung und im Umgang mit ihnen spiegeln sich einerseits aktuelle sozioökonomische, -politische und -kulturelle Entwicklungen wider. Andererseits markieren zum Kult erklärte Gegenstände, Erzeugnisse, Sportmannschaften, Musikgruppen oder Kultkneipen nicht selten einen Wandel innerhalb der Konsumkultur bzw. -gesellschaft. VW Käfer und Citroën 2 CV stehen für den Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg – in der Bundesrepublik ist der Käfer geradezu zum Monopol-Symbol für das sogenannte Wirtschaftswunder geworden.18 Genauso stehen die beiden Autos für die Massenmotorisierung der europäischen Bevölkerung, den Individualverkehr, neue Freiheiten wie Freizeitmöglichkeiten – zum Teil verbunden mit starken nationalen Stereotypen.19 Der 1. FC Kaiserslautern verdankt seinen Status ebenfalls in hohem Maß den Erfolgen rund um die sogenannte Walter-Mannschaft, die mit fünf Spielern im WM-Team von 1954 vertreten war und bis heute in einem Atemzug mit dem ‚Wunder von Bern‘ genannt wird.20
Zur Theorie des kommunikativen, kulturellen und kollektiven Gedächtnisses, vgl. Assmann: Erinnerungsräume (2018). 18 Vgl. hierzu beispielhaft den Aufmacher „Kommt jetzt ein neues Wirtschaftswunder?“, in: Die Zeit, Nr. 24, 09.06.2021, S. 1. Zu sehen ist auf dem Titelbild ein verhüllter VW-Käfer auf gelbem Hintergrund. Vgl. u. a. auch Nienhaus: Das neue Wachstum. 19 Vgl. Schramm: Motorization and Nationalism (2012), S. 137 f.; zum VW Käfer, vgl. Grieger: Deutscher Erinnerungsort VW Käfer (2017), S. 182 f.; Möser: Geschichte des Autos (2002), S. 189–193; zum 2 CV von Citroën ganz aktuell die essayistischen Ausführungen der Soziologin Gaël Brulé, vgl. Brulé: Petites mythologies (2020), S. 159–178; vgl mit klassischem wirtschaftshistorischen Zuschnitt Loubet: Histoire de l’automobile française (2001), S. 277–371; Herrmann: Citroën in Deutschland (2010), S. 87 f. 20 Vgl. Herzog: Win Globally (2014). 17
Kult als historisch-kulturwissenschaftliches Analysekonzept
Generell lässt sich ein Kultstatus erst mit zeitlichem Abstand über eine historische Analyse feststellen, wobei sich erste Kriterien wie der ökonomische Erfolg und die starke Emotionalisierung bereits in der ersten Konsumphase zeigen. Eine Analyse ist mit Hilfe der genannten Kriterien auch dann möglich, wenn Produkte, Musikgruppen oder Sportmannschaften im alltagssprachlichen Gebrauch (noch) nicht mit dem Etikett Kult markiert worden sind. Bei der historischen Untersuchung müssen Konsumgüter bzw. kulturelle Erzeugnisse differenziert zu Sportvereinen oder Musikgruppen betrachtet werden, da letztere sich nicht auf eine konkrete, das heißt zeitlich begrenzte Verkaufsphase festlegen lassen. In diesem Zusammenhang ist das Augenmerk auf den Entstehungserfolg zu richten und die daraus resultierenden Folgen für die Bewertung in späteren Miss- bzw. Erfolgsphasen zu analysieren.21 Wie bei den zeitlich klar abgrenzbaren Verkaufszeiträumen von Produkten / Erzeugnissen nutzen diese ihren Ausgangserfolg in der Gegenwart, um über ein langfristiges Marketing – das sogenannte history marketing22 – Einnahmen zu generieren. Unternehmen greifen ebenfalls auf dieses Konzept zurück, um aktuelle Produkte ihres Hauses anzubieten. Bei Fiat und Volkswagen ging diese Vermarktungsstrategie 1998 (Volkswagen) bzw. 2007 (Fiat) sogar so weit, dass die beiden Automobilhersteller neue Varianten mit einem ausdrücklich an die alten Modelltypen VW Käfer und Fiat 500 angelehnten Design auf den Markt brachten.23 Bei der Neuauflage wie beim Original spielt die außergewöhnliche Ästhetik damals wie heute eine entscheidende Rolle. Kurt Möser geht sogar von einem engen Zusammenhang zwischen der emotionalen Bindung zum Automobil und dessen Design aus.24 Die Ästhetik muss massentauglich und zugleich bemerkenswert sein. Schließlich sorgt das auffallende Aussehen für anhaltenden Gesprächsstoff, folglich einen kontinuierlichen kommunikativen Prozess.
Eindrücklich zeigt dies ein Verein wie der 1. FC Kaiserslautern, der insbesondere in den 1950er- und 1990er-Jahren sportliche Erfolge feiern konnte. Heute ist der Verein nur mäßig erfolgreich, setzt aber trotzdem – oder gerade aus diesem Grund – auf ein breites Spektrum des Geschichtsmarketings, um die eigenen Erfolge in der allgemeinen wie internen Vereinsöffentlichkeit am Leben zu halten. 22 Die wachsende Zahl an Unternehmen, die mit ihrer eigenen Geschichte Werbung für aktuelle Produkte machen, nimmt seit Anfang der 2000er-Jahre stetig zu. Dieses gesteigerte Interesse führte zu einer neuen Teildisziplin innerhalb der Marketingwissenschaft: dem sogenannten history marketing, vgl. hierzu insbesondere Schönebeck: History Marketing (2018); Nannen: Wirtschaft, Geschichte und Geschichtskultur (2010); Herbrand / Röhrig (Hg.): Die Bedeutung der Tradition (2006); Schug: History Marketing (2003). 23 Fiat vertrieb bereits ab 1992 ein Modell, das den Typen-Namen Fiat Cinquecento trug. Allerdings war das Design des Cinquecento nicht eindeutig an den Fiat Nuova 500 angelehnt. Es handelte sich aber um einen Wagen in der gleichen Klasse – Kleinstwagen. 2007 brachte der italienische Automobilkonzern den im Design eindeutig dem Fiat 500 Nuova verschriebenen Fiat 500 auf den Markt – siehe dazu Steininger: Fiat (2011), S. 111, 138 –; Volkswagen vertrieb seine modernisierte, mit Frontantrieb und wassergekühlte Version des VW Käfers – den VW New Beetle – bereits ab 1998. Interessanterweise produzierte die mexikanische Tochtergesellschaft im Werk Puebla sowohl den Original-Käfer als auch den New Beetle parallel bis 2003. Am 30. Juli lief dort der letzte Original-Käfer vom Band. Siehe dazu Grieger: Vom Käfer zum Weltkonzern (2014), S. 196, 212. 24 Möser: Autoleidenschaft (2017), S. 138. 21
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Für die historisch-kulturwissenschaftliche Quellenarbeit ist ferner interessant, dass es sich bei dem Untersuchungsgegenstand stets selbst um eine Quelle handelt, die in die Analyse einbezogen werden muss. Dafür ist eine methodische Anlehnung an die Technik- bzw. Objektgeschichte hilfreich. Hier werden sogenannte technische Artefakte in drei Ebenen unterteilt: erstens die funktionale Ebene (Nutzung / Technik), zweitens die ästhetische Ebene (Design) und drittens die kommunikative Ebene (Symbol).25 Für das Untersuchungsvorhaben muss dieses Modell um eine vierte Ebene – die ökonomische (Verkaufserfolg) – erweitert werden. Die vier Ebenen stehen stets in einem hierarchischen Verhältnis zueinander – die Ausgestaltung der Hierarchie handeln dabei die beteiligten Akteursgruppen26 miteinander aus. Es liegt also nicht ein statisches Konstrukt vor, sondern vielmehr eine prozesshafte Auseinandersetzung. Zu berücksichtigen ist, dass innerhalb einer einzelnen Akteursgruppe eine andere Ebene dominant sein kann als im Ergebnis des Austauschprozesses – so wird beispielsweise für die Seite der Hersteller:innen der ökonomische Aspekt bzw. sportliche Erfolg durchweg die höchste Priorität haben. Das Zusammenspiel zwischen den Akteur:innen und den verschiedenen Ebenen entspricht einer äußerst komplexen wie vielschichtigen Zirkulationsspirale. Mit Hilfe einer qualitativen Inhaltsanalyse von Quellen wie Unternehmens- / Vereinsarchiven, Nachlässen, Briefen von Leser:innen sowie Einträgen in den sozialen Netzwerken lassen sich die verschiedenen Ebenen und ihr Verhältnis zu den Akteursgruppen ebenso wie ihr hierarchisches Verhältnis untereinander sehr gut herausarbeiten. Für die Entstehung eines Kultstatus muss die kommunikative Ebene über einen längeren, nicht starr definierbaren Zeitraum im Aushandlungsprozess zwischen den Akteur:innen dominant sein. Da die Methoden von Historiker:innen wie Kulturwissenschaftler:innen ausschließlich sprachliche, das heißt kommunikative Analysen der drei anderen Ebenen zulassen – ergänzt um statistische Methoden für die Erfassung des ökonomischen Erfolgs –, muss dabei besonders auf eine Bedeutungsverschiebung im Sinne von Roland Barthes’ Mythos-Theorie geachtet werden. Der Gegenstand, der Verein, die Band wird zum Signifikat von etwas ‚Größerem‘; beispielsweise der Citroën 2 CV, der in der Bundesrepublik zum Symbol von linker Avantgarde aufstieg. In diesem Vorgang tritt der transzendente Anteil des Begriffes Kult zu Tage, der innerhalb von Konsumgesellschaften eben nicht auf Religiöses, sondern vielmehr auf Prozesse des historischen Wandels hindeutet, die im Zusammenhang mit als kollektiv stark empfundenen Emotionen stehen.
Vgl. hierzu insbesondere die Ausführungen von Röther: The Sound of Distinction (2012), S. 38–40 sowie von Fickers: Design als ‚mediating interface‘ (2007), S. 206 f. Ebenfalls relevant, insbesondere zur funktionalen Ebene von Objekten, Lie / Sørensen: Making Technology Our Own (1996), S. 2. 26 Gemeint sind folgende Akteursgruppen: 1. Produzent:innen / Beteiligte; 2. Medien; 3. (Nicht-)Nutzer:innen. 25
Kult als historisch-kulturwissenschaftliches Analysekonzept
3.
Perspektiven und Grenzen des Konzepts – ein Fazit
Zusammenfassend lassen sich zehn Kriterien festhalten, um zu bestimmen, ob es sich um ein konsumgesellschaftliches Kultprodukt, einen Kultverein oder eine Kultmusik gruppe handelt. Diese Kriterien dienen freilich nicht nur der Identifikation eines Kultpotenzials bzw. Kultstatus, sondern liefern vielmehr die Grundlage für zentrale Fragen, die an das jeweilige Quellenmaterial gestellt werden sollten.
Tabelle 1: Kriterienkatalog für das historisch-kulturwissenschaftliche Kult-Konzept 01
02
VERKAUFSERFOLG / MASSENPHÄNOMEN
TRANSNATIONALITÄT
04
05
AUFFALLENDE ÄSTHETIK
07
TRADITION / INTERGENERATIONALITÄT
03
MEDIALE AUFBEREITUNG
06
SYMBOL
08
INDIVIDUALITÄT / EMOTIONALISIERUNG
09
LANGFRISTIGES / HISTORY MARKETING
SYNCHRONE / DIACHRONE VARIABILITÄT
Der hier dargelegte Vorschlag zur Nutzung von Kult als historisch-kulturwissenschaftliches Analysekonzept bietet eine breite Zahl von Vorteilen gegenüber den bereits etablierten Methoden: Über diesen Ansatz lassen sich Kultur-, Gesellschafts-, Wirtschafts-, Konsum- sowie Technik- oder Populärkultur bzw. Sportgeschichte miteinander verknüpfen, ohne dass parallel mehrere Modelle zu Rate gezogen werden müssen. Für viele verschiedene Phänomene verspricht dieser Zugriff gewinnbringende neue Erkenntnisse. Das Konzept ermöglicht es darüber hinaus, eine diachrone wie synchrone Entwicklungsanalyse von Produkten, kulturellen Erzeugnissen, Sportmannschaf-
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ten, Musikgruppen usw. kurz-, mittel- und langfristig durchzuführen. Ein weiterer wichtiger Pluspunkt ist der akteursbezogene Ansatz, der es ermöglicht, eine multidimensionale Interaktions- und Zirkulationsspirale sowie deren gesamtgesellschaftliche wie kulturelle Auswirkungen für ein bestimmtes Erzeugnis nicht nur sichtbar, sondern auch analysierbar zu machen. Gleiches gilt für die noch komplexere Untersuchung von transnationalen Kultphänomenen und deren Zirkulation: Hierbei bietet der konzeptionelle Vorschlag nicht nur die Möglichkeit eines historischen Vergleichs, sondern eröffnet die Perspektive einer transnationalen Zirkulationsgeschichte, die von vielen verschiedenen Akteur:innen beeinflusst wird. Dabei geht der Ansatz weit über eine Transfergeschichte hinaus, da im Sinne des Zirkulationsmodells Rückwirkungen auf die Gesellschaft bzw. Kultur in der ursprünglichen ‚herstellenden‘ Nation in den Blick genommen werden. Auf diese Weisen werden ferner nationale, regionale und zum Teil sogar lokale Spezifika im Zuschreibungsprozess offenbar. Wie jedes wissenschaftliche Methodenmodell birgt Kult im Sinne eines historischen Analysekonzepts Nachteile: Die größte Gefahr besteht darin – um nochmals den Anfangsgedanken des Artikels aufzugreifen –, dass Historiker:innen wie Kulturwissenschaftler:innen bei der Wahl des Untersuchungsgegenstandes in die Falle der Alltagssprache tappen: Dort wird allzu schnell etwas zu Kult erklärt. Eine Studie auf Basis von Kult als historisch-kulturwissenschaftlicher Analysekategorie zu einem banalen kulturellen Gegenstand wäre nicht forschungsrelevant. Jedoch können die vorgestellten Kriterien dabei helfen, geeignete Untersuchungsobjekte ausfindig zu machen. Da der Ausgangspunkt ferner auf einem oder mehreren miteinander vergleichbaren Produkten, kulturellen Erzeugnissen, Sportmannschaften oder Musikgruppen liegt, sind Fallstudien zunächst auf diese begrenzt. Ausgehend von diesen konkreten Forschungsgegenständen können mithilfe des Konzepts vergleichende bzw. transnationale Diagnosen zur gesellschaftlichen, wirtschaftlichen wie kulturellen Gesamtsituation aus einem völlig neuen Blickwinkel erstellt werden. Aufgrund des stetig anhaltenden Wandels – und dem chronologisch bis in die jüngste Gegenwart fortdauernden Erkenntnisinteresses – ist es schwieriger, einen klar begrenzten Untersuchungszeitraum festzulegen. Als Hilfestellung könnte überlegt werden, ob der ursprüngliche Konsumzeitraum – also die Entstehung von Kultpotenzialen – untersucht werden soll oder ob der tatsächliche Kultstatus, der sich erst mit genügend zeitlichem Abstand herausbildet, sowie dessen Entwicklung / Wandel in den Blick genommen werden soll. Gleiches gilt für den räumlichen Zuschnitt solcher Studien, da es sich – wie aus der Definition hervorgeht – um transnationale Phänomene handelt, existiert keine ‚natürliche‘ geografische Verbreitungsgrenze, sondern der Zuschnitt erfolgt künstlich und subjektiv entlang der Forschungsinteressen und -kompetenzen der Wissenschaftler:innen. Ein weiterer Nachteil besteht darin, dass sich Kult als historisches Analysekonzept nicht passgenau auf alle potenziellen Untersuchungsgegenstände schablonenartig anlegen lässt: So unterscheidet sich bereits die Art des Phänomens: Handelt es sich um ein klassisches Konsumprodukt (Automobil, Handy, Computer usw.), um ein kulturelles
Kult als historisch-kulturwissenschaftliches Analysekonzept
Erzeugnis (Film, Musikstück, Fernsehserie usw.) oder um eine Band bzw. Sportmannschaft? Insbesondere bei den beiden letztgenannten müssen die Analyseparameter angepasst werden, da es hier beispielsweise keinen konkreten Verkaufszeitraum gibt, sondern es sich zumeist um weiterhin bestehende Gruppen – wenn auch in anderer personeller Besetzung – handelt. Ferner besteht bei diesen beiden eine Schnittmenge zum sportlichen Helden- bzw. musikalischen Starkult, der bei entsprechenden Studien zwingend berücksichtigt werden muss. Personenkult im soziopolitischen Sinne hat wie bereits deutlich gemacht wurde, nichts mit dem hier vorgestellten Analysekonzept gemein. Wohlwissend um die Grenzen des Konzeptes lassen sich bei praktischen Fallstudien, die bislang noch fehlen, flexible wie effektive Lösungen zum Umgang mit dem Quellenmaterial und den zu stellenden Fragen finden. Schließlich steht Forschenden niemals von Beginn an der perfekt bestückte Werkzeugkoffer zur Verfügung, vielmehr gehört es über die Fachdisziplinen hinweg zu den zentralen Aufgaben theoretische wie praktische Lösungsansätze zu entwickeln und anzuwenden. Kult als historisches Analysekonzept bietet in diesem Sinne das Potenzial, mit einem innovativen, multidimensionalen Ansatz die Perspektive der Zeithistoriker:innen zu erweitern. Literaturverzeichnis
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Jasmin Nicklas, Studium der Fächer Geschichte, Romanistik (Französisch), Interkulturelle Kom-
munikation an den Universitäten Saarbrücken und Paris, 2010–2015 studentische / wissenschaftliche Hilfskraft an den Lehrstühlen für Neuere und Neueste Geschichte (Prof. Dr. Dr. h. c. Rainer Hudemann) bzw. Europäische Zeitgeschichte (Prof. Dr. Dietmar Hüser), seit 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Europäische Zeitgeschichte an der Universität des Saarlandes, seit 2016 Promotionsprojekt „Baby you can drive my car“ – Citroën 2 CV und VW Käfer auf dem Weg vom Konsumprodukt zum Kultobjekt. Eine deutsch-französische Zirkulationsgeschichte [Arbeitstitel] (Betreuung: Prof. Dr. Dietmar Hüser / Prof. Dr. Hélène Miard-Delacroix), 2019–2020 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Frankreichzentrum der Universität des Saarlandes. Forschungsschwerpunkte: Kultur-, Sozial- und Konsumgeschichte; Automobilgeschichte; historische Populärkulturforschung; Emotionsgeschichte; Geschichte des Nationalsozialismus.
Europas Neue Wellen Französische Einflüsse in der westdeutschen Filmkultur der 1950er- und 1960er-Jahre
LUKAS SCHAEFER
1. Einführung
Das Neue und der Aufbruch sind ohnehin beliebte Narrative in der Geschichte der Populärkultur und auch der Hochkultur; in der internationalen Filmgeschichte der ersten zwei bis drei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg spielte das Thema der Neuheit aber noch einmal eine stärkere Rolle.1 Dieses Etikett der Neuheit und damit Attribute der jugendlichen Frische, des Fortschritts und des generationellen Umbruchs bekamen etliche Gruppen an Filmen oder Kinoschulen verliehen: der italienische Neorealismus der unmittelbaren Nachkriegszeit, die Nouvelle Vague des französischen Kinos und die British New Wave, jeweils am Übergang von den 1950er- zu den 1960er-Jahren; im Verlauf der 1960er-Jahre folgten etwa noch der Neue Deutsche Film und das New Hollywood in den USA. Oftmals standen solche Neuheiten in engem Zusammenhang mit filmtechnischen Innovationen. Schon in den frühen 1950er-Jahren deutete der französische Filmkritiker und -theoretiker André Bazin die Filmgeschichte als ein dialektisches Zusammenspiel aus den starren, kurzen Einstellungen des frühen Kinos, der Erfindung von Montage und Tonfilm und schließlich der Verbesserung und gesteigerten Beweglichkeit der Filmkameras, die Tiefenschärfe und Plansequenzen ermöglichten und Bazins Ansicht nach zur vielfältigen Vollkommenheit filmischen Erzählens unter anderen in Citizen Kane von Orson Welles und den Nachkriegswerken Roberto Rossellinis führten.2 Danach waren etwa der Einsatz von flexiblen Handkameras oder die stetige Verfeinerung der Tricktechnik bis hin zum Digitalen prägende Innovationen. Vgl. Nowell-Smith: Making Waves (2013); Christen (Hg.): Vom Neorealismus zu den Neuen Wellen (2016). 2 Vgl. Bazin: Die Entwicklung der Filmsprache [1951–1955] (2004). 1
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Lukas Schaefer
Das Neue ist aber insbesondere auch immer in Abgrenzung zum Mainstream im jeweiligen filmgeschichtlichen und filmkulturellen Kontext entstanden. Dabei speisten sich junge Filmschulen häufig aus Rückgriffen über die Epochen der Kinogeschichte hinweg und aus transnationalem Austausch, Anleihen oder Vorbildern. Filmkultur – hier sehr breit verstanden als ein Geflecht aus unter anderem Filmschaffenden, -wirtschaft, -politik, -publikum, -presse und -wissenschaft – bewegt sich seit jeher in einem Spannungsverhältnis zwischen hoher Internationalität des Filmhandels, der Koproduktionen oder der Biografien von Filmschaffenden und stark national geprägten Diskursen in der Kulturpolitik, in der Filmförderung, im Journalismus oder im Zusammenhang mit Filmfestivals und anderen Wettbewerben. An der Nahtstelle zwischen jugendlichem Aufbruch und transnationalem Austausch präsentiert dieser Beitrag einen Ausschnitt aus einer größeren filmkulturgeschichtlichen Studie.3 Darin ging es im Kern um zwei linksgerichtete Gruppen von Filmkritiker:innen und ihre in den 1950er-Jahren entstandenen Zeitschriften – die Cinema Nuovo (1952) in Italien und die Filmkritik (1957) in der Bundesrepublik. Diese wurden als prägende Akteursgruppen in der jeweiligen Filmkultur nachgezeichnet und dabei unter zwei Leitfragestellungen analysiert. Durch ihre weit über das Filmwesen hinausreichenden, in vielerlei Hinsicht gesellschaftskritischen Wortmeldungen lassen sich diese Gruppen im Rahmen der langen 1960er-Jahre in Westeuropa als (in diesem Fall filmkulturelle) Wegbereiter der 1968er interpretieren, die viele der späteren Streitthemen, Lebensstile und Protestformen bereits früh erprobten. Als Kombination beziehungs-, transfer- und verflechtungsgeschichtlicher Elemente und alternative Linse zum Modell der Amerikanisierung der europäischen Populärkultur nach 1945 ist zudem insbesondere am Beispiel der westdeutschen Filmkritiker:innen der These einer Europäisierung der Filmkultur nachgegangen worden, da sie wesentliche Impulse aus dem benachbarten Ausland übernahmen und dadurch dazu beitrugen, die zurückgefallene Filmlandschaft der Bundesrepublik zu liberalisieren und modernisieren. In diesem Beitrag soll der französische Einfluss auf den Kreis der Filmkritik beleuchtet werden, ohne dass angesichts seiner Geschichte andere Einflusstraditionen gänzlich ausgeklammert werden können. Zunächst werden dabei biografische Verbindungen und frühe filmkulturelle Sozialisationen der fast ausschließlich männlichen Schreibenden beleuchtet, anschließend in ihrer Praxis und Wirkungsgeschichte die französischen oder weiteren Adaptionen und Vorbilder herausgearbeitet. Ein weiterer Abschnitt dient dazu, die Transnationalität über den Nachweis von Lektüren und Anleihen hinaus auch in konkretem Austausch wie beispielsweise persönlichen Treffen bei Reisen und Festivals nachzuempfinden. Im Ausblick werden ergänzende Forschungsansätze diskutiert.
3
Auch für alle folgenden Aspekte im Detail vgl. Schaefer: Kritik ohne Grenzen (2018).
Europas Neue Wellen
2.
Biografien: transnationale Sozialisation?
Die Filmkritik, die Anfang 1957 das erste Mal erschien, war nicht die erste filmpublizistische Plattform dieses Zirkels gleichgesinnter, über die ganze Bundesrepublik verstreuter Studierenden. Ab der ersten Hälfte des Jahrzehnts hatten sie immer regelmäßiger Rezensionen oder längere Aufsätze in Tages- und Wochenzeitungen, in Kulturzeitschriften wie den Frankfurter Heften und besonders im filmforum, dem Organ der Filmclubbewegung, veröffentlicht. Die westdeutsche Filmkultur hatte damals einen eher kümmerlichen Ruf und auch im Nachhinein ist die Bundesrepublik als „Filmkulturwüste“4 beschrieben worden. Die Diskreditierung des Films als politisch ausgeschlachtetes Medium im Nationalsozialismus und der Nachhall von ‚Schund‘-Debatten aus der Kaiser- und Weimarer Zeit trugen dazu bei, dass es wenig anspruchsvolle und über die Landesgrenzen hinausstrahlende Auseinandersetzung mit dem Kino gab. Gewiss wurden wieder Filme produziert und das Publikum strömte bis Mitte der 1950er-Jahre begeistert in die tausenden Kinos, die Heimat-, Kriegsoder Musikfilme fanden international aber kaum Anklang. In der Bundesrepublik gab es zwar zahlreiche auf Filmstars fixierte Illustrierte, jedoch wenig seriöse Filmberichterstattung in der Tagespresse. Bis auf die Branchenblätter der Filmwirtschaft, die konfessionellen Ratgeber – wie beispielsweise der katholische Film-Dienst und der Evangelische Filmbeobachter – und das etwas betuliche filmforum existierte keine nennenswerte Fachpresse. Ebenso fehlten aktuelle Filmliteratur, eine Filmhochschule und die Verankerung der Filmwissenschaft an den Universitäten. Wer waren nun die jungen, ambitionierten Kritiker um die Filmkritik und wie fanden sie in dieser ‚Wüste‘ zum Film? Die studentischen Jungpublizisten waren alle um 1930 geboren und lernten sich allmählich über die Lektüre der jeweiligen Artikel und in der Filmclubarbeit kennen, bis sie beschlossen, eine eigene Redaktion zu bilden. Prägend in den Anfangsjahren war besonders eine Gruppe um Enno Patalas (geb. 1929) und Theodor Kotulla (geb. 1928), die in Münster Publizistik studierten und dort den studentischen Filmclub gründeten. An der Universität in Bonn initiierten neben anderen Wilfried Berghahn (geb. 1930) und Günter Rohrbach (geb. 1928) einen solchen Club, in dem sich damals auch Jürgen Habermas engagierte. Dazu kamen noch Ulrich Gregor und Dietrich Kuhlbrodt (beide geb. 1932), die zunächst in Hamburg Romanistik bzw. Jura studiert hatten. In ihren Erinnerungen5 erscheinen typische Merkmale der 45er-Generation, die alt genug war, um Nationalsozialismus und Krieg noch bewusst miterlebt zu haben und nach 1945 zunächst erhebliche Orientierungslosigkeit empfand. Dabei half ihnen die nun wieder verfügbare ausländische Kultur, häufig gerade Filme und Literatur aus den Lenssen: Der Streit (1990), S. 70. Vgl. u. a. „Lebensläufe“, in: Filmkritik, Jg. 9, Nr. 4, April 1965, S. 236–239; Netenjakob: Beharrlichkeit und Fortune (2004); Patalas: Vor Schluchsee und danach (2004); Ungureit: Das Widerständige (2005). 4 5
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europäischen Nachbarländern. Eine Erinnerung von Ulrich Gregor zeigt exemplarisch die damalige Neuorientierung nicht nur dieser jungen Männer und die Rolle, die der Film dabei spielte: [Man] schaute also um sich herum und versuchte, alle möglichen Informationen zu sammeln, die man nicht hatte, und dazu gehörte auch, dass eben Filme nicht zu uns gekommen waren und die waren jetzt plötzlich zugänglich und wurden in Kinos gezeigt und es hieß, wir sollten doch mal da hingehen und angucken und teilweise kam das aus der Familie, teilweise auch aus der Schule, solche Anregungen, oder aus Zeitungen, Zeitschriften und ja, die frühesten Filmerlebnisse, in Hamburg war ich ja, da liefen englische Filme und französische, amerikanische; Les enfants du paradis war ein starker Eindruck und auch Orphée.6
Gregor sog als Student begierig alle Hinweise auf und arbeitete sich durch die wenige an der Universität vorhandene Filmliteratur. In Münster profitierten die Publizistikstudierenden davon, dass ihr Professor Walter Hagemann, der später in die DDR übersiedelte, Filmthemen gegenüber sehr aufgeschlossen war, die Bibliothek dementsprechend mit ausländischer Literatur und Fachpresse ausstattete und die Gruppe in die Filmclubbewegung einführte. Enno Patalas betonte später insbesondere die „Initiative der kulturellen Instanzen der damaligen französischen Hochkommission“7, die die Bewegung, ihre Treffen und damit die Entstehung der Filmkritik überhaupt erst ermöglicht habe. Einen großen Sprung in der filmkulturellen Sozialisation bedeutete für Gregor, Günter Rohrbach oder Dietrich Kuhlbrodt die Möglichkeit, eine Zeit lang in Paris zu studieren. Rohrbach ging dort „ein- oder zweimal täglich ins Kino. Das war eine Offenbarung“8; und auch für Ulrich Gregor war es „wunderbar, […] meine filmische Bildung sozusagen, die Grundlagen dieser filmischen Bildung, konnte ich dort mir aneignen und auch viele Filme, die aus bestimmten Gründen in Deutschland nicht liefen“9. Später zur Filmkritik gestoßene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wie Patalas’ Ehefrau, die Germanistin Frieda Grafe (geb. 1934), oder Hans Stempel (geb. 1924) und Martin Ripkens (geb. 1934) schwärmten ebenfalls von ihren Studienaufenthalten in Paris, mit „systematische[m] Kinobesuch“ und den Kinos im Quartier Latin als „unsere wahre Universität“10. Das Auslandsstudium in Frankreich hatte viele Gruppenmitglieder maßgeblich in ihrem cineastischen Habitus geprägt und ihr Kinowissen enorm verbreitert. Sie profitierten davon, Paris in den 1950er-Jahren in einer kreativen Hochphase zu erleben, wie beispielsweise Tony Judt skizziert hat: Interview mit Ulrich Gregor, Berlin, 25.06.2012. „Filmclubs im Plüschfauteuil“ (Enno Patalas), in: Filmkritik, Jg. 1, Nr. 11, November 1957, S. 161–162, hier S. 161. 8 Netenjakob: Beharrlichkeit und Fortune (2004), S. 73. 9 Zitat aus einem Zeitzeugengespräch mit Ulrich Gregor, 2012. 10 „Lebensläufe“, in: Filmkritik, Jg. 9, Nr. 4, April 1965, S. 236–239, hier S. 236; Ripkens / Stempel: Das Glück (2001), S. 25. 6 7
Europas Neue Wellen
Und so stand die französische Kultur […] abermals im Zentrum weltweiter Aufmerksamkeit: Französische Intellektuelle traten als Sprecher der Epoche auf, und ihre politischen Debatten reflektierten die ideologischen Konflikte auf dem ganzen Kontinent: Wieder einmal, und zum letztenmal, war Paris die Hauptstadt Europas.11
3.
Schwerpunkte, internationale Anleihen und Wandel in der Filmkritik
In den ersten Jahren ihrer filmjournalistischen Zusammenarbeit argumentierten die Mitglieder des Filmkritik-Kreises sehr geschlossen und die einzelnen Autoren waren in ihren Texten oft nur durch Nuancen oder individuelle filmhistorische Vorlieben auseinanderzuhalten. Aus den Einflüssen und Lernprozessen der späten Schul- und frühen Studienjahre hatten sich zwei Grundprinzipien herausgeschält, die insbesondere in scharfer, polemischer Abgrenzung zum westdeutschen Filmwesen proklamiert wurden: Film verstanden sie nicht als apolitisches, rein künstlerisches, sondern als sozialkritisch engagiertes Medium, aus dem sich mit soziologischem Blick gesellschaftliche und historische Entwicklungstendenzen herausfiltern ließen und das für kritische Aufklärung genutzt werden könne und solle. Als filmisches Ideal strebten sie einen kritischen Realismus an, der wesentlich vom italienischen Vorbild des Zirkels um die Cinema Nuovo geprägt war. Diese beiden Grundprinzipien sollen nun schlaglichtartig verdeutlicht werden. Theodor Kotulla erinnerte sich 1965 an seine Studienzeit und brachte dabei die Erfahrungen seiner Redaktionskollegen mit auf den Punkt: „Mehr als meine akademischen Lehrer beeinflussen mich die Schriften von Horkheimer, Adorno, Benjamin, Brecht, Kracauer, Eisenstein.“12 Weitere Mitarbeiter der Filmkritik erinnerten sich an die „Faszination“ oder die „Bewegung“, die Siegfried Kracauers bis 1958 nur in der englischen Originalfassung verfügbares filmsoziologisches Werk From Caligari to Hitler in ihnen auslöste und damit zu „einer Art Bibel“13 des Kreises wurde. Ähnlich gering rezipiert wurde in der Bundesrepublik damals die Dialektik der Aufklärung von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, deren Abschnitt zur Kulturindustrie ebenfalls tief in den Wortschatz der jungen Filmkritiker einsickerte. Enno Patalas als einer der bekanntesten Vertreter der Gruppe stand über einige Jahre in losem Briefkontakt mit seinen kulturtheoretischen Mentoren Kracauer und Adorno. Deren Werke lehrten den Kreis Wachsamkeit – für manipulative Strukturen in (Film-)Wirtschaft und (Film-)Politik, die den Status Quo in der kapitalistischen Gesellschaft zementierten, und für Filme als Spiegel der Gesellschaft, in dem sich selbst Judt: Die Geschichte Europas (2006), S. 243. „Lebensläufe“, in: Filmkritik, Jg. 9, Nr. 4, April 1965, S. 236–239, hier S. 237. Zitate aus „Siegfried Kracauer“ (Enno Patalas), in: Filmkritik, Jg. 11, Nr. 1, Januar 1967, S. 5, sowie dem Zeitzeugengespräch mit Ulrich Gregor. 11 12 13
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aus banalen Handlungssträngen und der filmischen Gestaltung kollektive Mentalitäten und vorherrschende Ideologien herauslesen ließen. Diese Herangehensweise vermisste die Filmkritik bei nahezu allen ihren Kolleginnen und Kollegen in Westdeutschland, die sich überwiegend auf Wortspielereien und die Bewunderung von ‚schönen‘ Bildern zurückzögen. Das Urteil der Filmkritik für einen Großteil der einheimischen Filme fiel vernichtend aus, in künstlerischer Hinsicht und besonders mit Blick auf die darin entdeckten gesellschaftspolitischen Implikationen: ‚Schicksalsglaube‘, ‚Gefühlskult‘ und die Idealisierung ‚großer Männer‘ in vielen populären Produktionen liefen der demokratischen Kultur in der jungen Republik zuwider, die in den Augen der Filmjournalisten unter der rigiden Regierungsführung durch Adenauers CDU, der mangelnden Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und Alarmismus gegenüber allem, was aus dem sowjetischen Einflussbereich stammte, litt. Immer wieder streuten sie solche Grundsatzdiagnosen in ihre Filmartikel ein: Auf die unmittelbaren Nachkriegsjahre, in denen in Westeuropa, aber nicht nur hier, der freie Sozialismus seine großen Möglichkeiten hatte, folgte die schrittweise Restauration alter bürgerlicher Kräfte mit der Tendenz zur Einparteienstaat-Demokratie, in der dem Einzelnen immer weniger Mitverantwortung verbleibt und er sich, ‚entlohnt‘ durch steigenden Wohlstand, auf sich selbst zurückzieht.14
Komplexere Strukturen und subtilere Formen von Ungerechtigkeit im ‚Neokapitalismus‘ benötigten komplexere und durchdachtere Filme, um die Augen zu öffnen oder Denkanstöße zu geben. Hierfür blickten die Filmkritik-Autoren seit langem nach Italien und erhofften sich den Transfer einer realistischen Filmschule nach Westdeutschland.15 Die parteipolitisch unabhängig linke Cinema Nuovo um ihren bekanntesten Vertreter Guido Aristarco wollte den italienischen Neorealismus16 weiterentwickeln, der in der Nachkriegszeit durch seine unverblümte Darstellung von Armut und sozialer Ungleichheit, mit Laiendarsteller:innen, ohne feste Skripte an Originalschauplätzen, einen verdienstvollen Kontrast zum faschistischen Kino und zu konservativen Komödien gebildet habe. Die Cinema Nuovo orientierte sich an Antonio Gramscis engagiertem Verständnis von Intellektuellen und an der marxistischen Literaturtheorie von Georg Lukács: Der treffende, aber nur Zustände und Details ‚beschreibende‘ Neorealismus müsse einem ‚kritischen Realismus‘, der ‚erzähle‘, das heißt an ‚typischen‘ Figuren Entwicklungen und gesellschaftliche Mechanismen aufzeige, weichen. Als Musterbeispiele dafür galten in der Cinema Nuovo Werke Luchino Viscontis – zunächst Senso (Sehnsucht, 1954), schließlich Rocco e i suoi fratelli (Rocco und seine Brüder, 1960). Es
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„Der Rückzug aufs Individuum“ (Theodor Kotulla), in: Filmkritik, Jg. 5, Nr. 1, Januar 1961, S. 6–10, hier
Zu Geschichte und Einfluss der Cinema Nuovo vgl. ausführlicher Schaefer: Cineastische Internationale (2017), S. 159–164; ders.: European Criticial Film Culture (2021), S. 117–123. 16 Vgl. zuletzt Pitassio: Neorealist Film Culture (2019). 15
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waren exakt diese Anforderungen des ‚Erzählens‘ statt zu ‚beschreiben‘, die die Mitarbeiter der Filmkritik bis in den Wortlaut übernahmen, und diese Filme Viscontis, die als Richtschnur galten. Ein längerer Aufsatz Ulrich Gregors spiegelt diese Adaption aus Italien stellvertretend wider: „das von Guido Aristarco […] vorgebrachte theoretische Konzept [hat sich] wohl als das Fruchtbarste erwiesen: es besagt, daß der Neorealismus ‚von der Chronik zur Erzählung‘ gelangen müsse.“17 Wie bereits in der filmkulturellen Frühsozialisation der Filmkritik-Gruppe spielten französische Einflüsse nun in ihrer Redaktion und in ihrem Auftreten als gesellschaftskritische Autoren eine Rolle, wenngleich nicht in der filmtheoretischen Intensität wie die Cinema Nuovo und der italienische Realismus. Grundsätzlich blickte beispielsweise Ulrich Gregor sehnsüchtig auf die öffentliche Rolle, die Intellektuelle „in den romanischen Ländern“ einnähmen, dort sei „Kultur selbstverständlich eine Angelegenheit der Vielen; Künstler und Intellektuelle suchen weit eher die soziale Resonanz als bei uns“18. In einem anderen Beitrag zählte der Filmkritik-Kreis eine Reihe von jungen Regisseuren und gesellschaftskritischen Filmzeitschriften aus unter anderen Großbritannien, Italien und Frankreich auf, darunter „unsere Freunde“ von der Positif, und zählte sie alle zur Generation der ‚Angry Young Men‘, die, aufgewachsen bereits im Angesicht einer restaurierten bürgerlichen Gesellschaft, von einem Gefühl der Malaise erfüllt sind und denen unsere Sympathie gehört, auch wenn sich ihr Oppositionsgeist in einer Weise artikuliert, die wir für unzureichend halten.19
Die französische Zeitschrift Positif hatte Enno Patalas bereits 1955 in einem Brief an Siegfried Kracauer als Vorbild für ein eigenes Blatt genannt: Schon hier kam die vielbeschriebene „Malaise“ im selbstzufriedenen „Wirtschaftswunder“ zur Sprache, an die die Gruppe etwa bei der „studentischen Jugend“ anknüpfen wollte: „Dies und das wachsende Interesse am Film würde, glaube ich, eine nonkonformistische Filmzeitschrift – im Stil des Pariser ‚Positif ‘ – tragen.“20 In der Positif versammelten sich ab 1952 studentische, parteiungebunden kommunistische oder vom Surrealismus beeinflusste Autor:innen.21 Die Zeitschrift stieg im Laufe der 1950er-Jahre immer wieder in Kontroversen um die französische Filmpolitik ein oder zettelte antiklerikale und antikolonialistische Polemiken an. 1960 veröffentlichten französische Intellektuelle das Manifeste des 121, das sich gegen den Algerienkrieg und für das Recht auf Militärdienstverweigerung aussprach – mehrere Mitglieder
„Neorealismus – Ende oder Anfang?“ (Ulrich Gregor), in: F, Jg. 1, Nr. 1, 1958, S. 89–99, hier S. 94. „Der Film und die Intellektuellen“ (Ulrich Gregor), in: Magnum, Jg. 5, Nr. 24, Juni 1959, S. 56–58, hier S. 57. 19 „Stanley Kubrick, Jahrgang 1928“, in: F, Jg. 1, Nr. 1, 1958, S. 113–117, hier S. 113 f. 20 DLA, MPF A, Kracauer, Nr. 005955: Enno Patalas an Siegfried Kracauer, 19.09.1955. 21 Vgl. zur Positif u. a. Frémaux: L’aventure cinéphilique (1989). 17 18
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der Positif-Redaktion wie Raymond Borde oder Louis Seguin zählten zu den Unterzeichnenden. Noch weiter ging die Kritikerin Michèle Firk, die zunächst die algerische Unabhängigkeitsbewegung nicht nur rhetorisch, sondern auch logistisch unterstützte, und im Verlauf der 1960er-Jahre bei Guerilla-Aktionen in Mittelamerika mitwirkte, bis sie 1968 bei der Entführung des US-Botschafters in Guatemala verhaftet wurde und Selbstmord beging.22 In der reichhaltigen französischen Filmpublizistik gab es beispielsweise noch das weltanschaulich ausgewogene Magazin der Filmclubs, die Cinéma. Besonders in Erinnerung blieb aus diesen Jahrzehnten aber die Rivalität zwischen der Positif und den heute wie damals noch bekannteren, konstanter erschienenen und professioneller gestalteten Cahiers du cinéma.23 Die Cahiers gab es seit 1951 und sie gingen wesentlich auf die Initiative André Bazins zurück. Sie boten anspruchsvolle, zum Teil abstrakt gehaltene Artikel zur Filmtheorie und -geschichte und zunächst ein – ob politisch oder filmästhetisch – breites Meinungsspektrum unter der wiederum zumeist männlichen Autorenschaft. Nach und nach dominierte aber eine polemisch und selbstbewusste auftretende Clique an noch sehr jungen Kritikern das Erscheinungsbild der Cahiers – hier fanden die bekanntesten Regisseure der späteren Nouvelle Vague wie Jean-Luc Godard, François Truffaut und Claude Chabrol ein gemeinsames cineastisches Übungsfeld. Ihre Filmbesprechungen orientierten sich weniger an gesellschaftlichen Perspektiven wie bei der Positif oder der Filmkritik, sondern waren weitaus formalistischer gehalten in hochgestochenem und literarischem Französisch mit Anleihen etwa im damals aufkommenden Strukturalismus. Diese ‚jeunes turcs‘ verfolgten das Ideal eines filmischen ‚auteur‘, der eine typische Handschrift der Inszenierung zeige und dem jeder Film zum Meisterwerk gerate. Sie priesen gerade den damals hauptsächlich als Vertreter solider Unterhaltung im Stile Hollywoods angesehenen Alfred Hitchcock – „un des plus originaux et profonds auteurs de toute l’histoire du cinéma“ – oder das „Génie de H oward 24 Hawks“ . Truffaut veröffentlichte darüber hinaus scharfe Attacken auf etablierte, routinierte Regisseure und Szenaristen des französischen Kinos, wie im berühmten Aufsatz „Une certaine tendance du cinéma français“.25 Über viele in den Zeitschriften verstreute Spitzen und einige Grundsatzkommentare entwickelte sich schnell eine publizistische Fehde zwischen den Cahiers du cinéma Die Positif schrieb dazu: „Michèle a suivi l’exemple du Che. Pas plus que lui elle n’est morte pour nous offrir un alibi héroïque mais elle nous montre le chemin. La lutte commune est immense et permanente. Le combat se déroule partout. En disant que Positif essaiera d’être digne d’elle, nous ne sommes pas si grandiloquents qu’il semblerait : elle était loin de négliger le rôle que, dans sa zone, peut jouer la critique de cinéma.“, siehe „Michèle Firk“, in: Positif, Jg. 17, Nr. 97, Juli 1968, S. 73. 23 Vgl. Bickerton: Eine kurze Geschichte (2010). 24 „Le soupçon“ (Maurice Schérer), in: Cahiers du cinéma, Jg. 2, Nr. 18, Dezember 1952, S. 63–66, hier S. 65; „Génie de Howard Hawks“ ( Jacques Rivette), in: Cahiers du cinéma, Jg. 3, Nr. 23, Mai 1953, S. 16–23. 25 Vgl. Frisch: Mythos Nouvelle Vague (2011), S. 63–86. 22
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und der Positif. Positif kritisierte die – jedenfalls so wahrgenommene – apolitische Haltung, den überheblichen Stil und die filmischen Vorlieben der Cahiers, die ihre Konkurrenz wiederum als ungehobelt, verkrampft und filmisch ungebildet bezeichneten. Gesellschaftskritische Zeitschriftenzirkel in anderen Ländern teilten die Skepsis bzw. Ablehnung gegenüber den Texten von Godard, Truffaut und ihren Mitstreitern. Der Gruppe um die Cinema Nuovo waren sie zu „abstrakt“, auf „aristokratische“26 Weise entrückt von der alltäglichen Realität. In Großbritannien hatte sich eine Gruppe um die Sight and Sound einem vergleichbaren sozialkritischen „commitment“ verschrieben; die Cahiers empfand sie als „eccentric“, „shop talk for the initiated“ und gerade die Verklärung des britischen Regisseurs Hitchcock sorgte für Irritation: „Can absurdity go further?“27 Die Autoren der Filmkritik konnten dem „Aesthetizismus“ der Cahiers, die sie „als rechts“28 ansahen, ebenfalls lange Zeit nichts abgewinnen. Ab dem Ende der 1950er-Jahre wandelte sich das Erscheinungsbild der Cahiers du cinéma abermals. Godard, Chabrol, Truffaut oder auch Eric Rohmer und Jacques Rivette hatten ihre außergewöhnlichen Positionen und die Polemik gegen das französische Kino als Mittel verstanden, um sich an den etablierten Karrierewegen vorbei einen Namen in der Filmkultur zu machen und selbst Filme zu drehen.29 Innerhalb kurzer Zeit gaben sie mit Filmen wie À bout de souffle, Le beau Serge und Les quatre cent coups spektakuläre und erfolgreiche Debüts – die Nouvelle Vague hielt für einige Jahre an. Viele dieser Filme verband vor allem der frisch und ungewohnt wirkende, autobiografisch geprägte Zugang zu Alltagsthemen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, mit zumeist einfachen, aber eindrucksvollen filmischen Mitteln herübergebracht. Godards Filme fielen durch Brüche mit Sehgewohnheiten auf, mit abrupten Montagen oder direkten Ansprachen der handelnden Personen an das Publikum. Die Jungkritiker waren nun überwiegend Regisseure und verließen nach und nach die Cahiers, die sich nach einigen Redaktions- und Sinnkrisen zum Ende der 1960er-Jahre nun auch deutlich links, maoistisch beeinflusst, positionierte.30 Die erste Rezeption der Nouvelle Vague in der linken internationalen Filmkultur entsprach weitgehend den Reaktionen auf die Texte dieser Regisseure in den Cahiers. Für die Positif waren zum Beispiel die ersten Filme Chabrols „prätentiös“31 und verharmlosten das innenpolitische Klima Frankreichs unter de Gaulle. In der Cinema
„Vita difficile“ (Corrado Terzi), in: Cinema Nuovo, Jg. 3, Nr. 35, Mai 1954, S. 286. „Positif / Cahiers du cinema“ (Lindsay Anderson), in: Sight and Sound, Jg. 24, Nr. 3, Januar – März 1955, S. 161; „The critical question“ (Penelope Houston), in: Sight and Sound, Jg. 29, Nr. 4, Herbst 1960, S. 160–165, hier S. 164. 28 Patalas: Vor Schluchsee und danach (2004), S. 64. 29 Zur Nouvelle Vague vgl. u. a. Marie: La nouvelle vague (2007); Neupert: French New Wave (2007). 30 Vgl. Bickerton: Eine kurze Geschichte (2010), S. 49–59, 69–86. 31 „Les Cousinets“ (Michèle Firk), in: Positif, Jg. 8, Nr. 30, Juli 1959, S. 58–60, hier S. 59 f. 26 27
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Nuovo war das Urteil der „formalistischen“32 Spielereien, der gefährlichen Gesellschaftsferne der Filme und Stoffe ebenfalls bald gefällt. Gleichzeitig traten in Italiens Filmkritik jüngere Autoren auf, die mit der Nouvelle Vague und wiederum vom Strukturalismus geprägt die Filmsprache wieder stärker in den Blickpunkt und dem inhaltsfixierten Realismus-Dogma entgegensetzen wollten.33 Erneut holte die westdeutsche Filmkritik die Entwicklung in den romanischen Ländern nach. Bezogen auf die Debütfilme der Nouvelle Vague fällt auf, wie nah die Urteile in der Filmkritik am Vorbild des italienischen Realismus blieben und die französische neue Welle auf realistische Elemente absuchten. Stellvertretend zeigt ein Satz Enno Patalas’ über À bout de souffle und die anderen Filme die Prägung durch das RealismusKonzept von Georg Lukács, das Beschreiben von Erzählen unterschied: „Aber wie jene registriert auch er nur und interpretiert nicht, zeigt nur und entwickelt nicht.“34 Den Kreis um die Filmkritik überzeugten zunächst weniger die Filme der Nouvelle Vague selbst als ihr Erneuerungsgeist, auf den sie ja weiterhin im bundesdeutschen Filmschaffen hofften. Einige Mitarbeiter:innen hatten engen Kontakt zu jungen deutschen Regisseuren und der Gruppe um das Oberhausener Manifest, mit dem 1962 ein Aufbruch eingeläutet werden sollte. Bis sich dieser dank Filmförderprogrammen in internationale Erfolge von Volker Schlöndorff oder Alexander Kluge umsetzen ließ, vergingen aber noch einige Jahre der enttäuschten Hoffnungen und auch der Kritik an den Filmen der Regietalente: „Man möchte endlich einmal erfahren, was mit diesen Teenagern und Twens, die ständig dekorativ durch Glas und in Cafés aufgenommen werden, wirklich los ist.“35 In ähnlicher Weise – und vergleichbar den Urteilen ihrer Pendants aus Italien und Frankreich – kritisierten Ulrich Gregor oder Wilfried Berghahn auch die Filme JeanLuc Godards für „Manierismus“ oder die „flinken Talente […], die nichts zu sagen haben, außer, daß sie entschlossen sind, es interessant zu sagen“36. Dagegen faszinierten die Verfremdungseffekte Godards37 Patalas, Frieda Grafe und neu hinzugestoßene Kritiker zunehmend und lösten sie mit jeder weiteren Rezension vom Realismus-Paradigma. Indem Godard durch vermeintliche Formfehler bewusst den Entstehungsprozess des Films sichtbar mache, schaffe er einen „Metafilm“, der – beispielsweise in der Tradition der russischen Formalisten der 1920er-Jahre – Wahrnehmung und Bewusstsein
„La donna è donna (Une femme est une femme)“ (Ugo Finetti), in: Cinema Nuovo, Jg. 10, Nr. 154, November – Dezember 1961, S. 538–539, hier S. 539. 33 Vgl. Pellizzari: Le nuove forme (2001), S. 555 f. 34 „Außer Atem (À bout de souffle)“ (Enno Patalas), in: Filmkritik, Jg. 4, Nr. 6, Juni 1960, S. 171–175, hier S. 175. 35 „Sie fanden ihren Weg“ (Heinz Ungureit), in: Filmkritik, Jg. 8, Nr. 1, Januar 1964, S. 31. Vgl. auch Hagener: Eine neue Welle (2012). 36 Exemplarisch „Zum Selbstverständnis der ‚Filmkritik‘“ (Wilfried Berghahn), in: Filmkritik, Jg. 8, Nr. 1, Januar 1964, S. 4–8, hier S. 8. 37 Vgl. Hambloch: Brechts Einfluss (2017). 32
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des Publikums aktiviere, anstatt geschlossene Erzählungen vorzutragen. Dies gebe die tatsächliche Empfindung der Umwelt treffender wieder: Hier vollends gibt der Autor nicht mehr vor, einen kompletten Entwurf von Welt, eingefangen in den Definitionen eines Werks, zu präsentieren, sondern spiegelt sich das Fragmentarische und Vorläufige seiner wie jeder ehrlichen Erfahrung unserer Wirklichkeit in seiner Kunst, macht er sie dieser zum Gegenstand.38
1966 rief Patalas in der Filmkritik eine ‚Ästhetische Linke‘ aus, die diesem Programm der „Bewußtseinsbildung“39 weiter folgen wollte, während sich nach weiteren Grundsatzdebatten auf den Seiten der Zeitschrift eine ‚Politische Linke‘ 1969 aus der Redaktion zurückzog.40 Die Filmkritik wandelte sich in einer ebenfalls immer wieder veränderten westdeutschen Filmkulturlandschaft noch einige Male, bis sie 1984 eingestellt wurde. 4.
Netzwerke und Plattformen des internationalen Austauschs
Im Verlauf der 1950er- und 1960er-Jahre wuchsen die Gründer der Filmkritik nach und nach aus der Rolle von lernbegierigen, nachholenden Schülern zu bekannten und umtriebigen Mitgliedern eines internationalen Netzwerks sozialkritischer Filmkritik und Filmkultur heran. Es gibt viele Hinweise auf persönliche Freundschaften und Briefpartnerschaften, die sie mit Kritikerkolleg:innen gerade in einem Dreiecksverhältnis zwischen Italien, Frankreich und der Bundesrepublik schlossen, und die sich in Reisen, Besuchen und dem Austausch von Gastbeiträgen für die jeweiligen Zeitschriften niederschlugen. So hatte beispielsweise Ulrich Gregor in seinem Auslandsstudium in Paris Pierre Billard von der Filmclubzeitschrift Cinéma kennengelernt, veröffentlichte Berichte in der Positif und frequentierte das von der DDR unterhaltene Centre Henri Heine, worüber er später – als er sein Studium in Westberlin fortsetzte – in einen regierungskritischen Ostberliner Gesprächskreis gelangte.41 Zwischen Cinéma oder Positif auf der französischen und Cinema Nuovo auf der italienischen Seite gab es regelmäßigen Artikelaustausch, dessen transnationale Verflechtungsdimension Billard in der italienischen Zeitschrift 1956 sogar explizit thematisierte. Indem sich französische Filmkritiker:innen in ihren Texten immer wieder auf den italienischen Neorealismus bezogen
„Elf Uhr nachts (Pierrot le Fou)“ (Enno Patalas), in: Filmkritik, Jg. 10, Nr. 2, Februar 1966, S. 83–85, hier S. 83. 39 „Plädoyer für die Ästhetische Linke“ (Enno Patalas), in: Filmkritik, Jg. 10, Nr. 7, Juli 1966, S. 403–407, hier S. 407. 40 Vgl. Lenssen: Der Streit (1990); Schenk: ‚Politische Linke‘ versus ‚Ästhetische Linke‘ (1998). 41 Vgl. Zeitzeugengespräch mit Ulrich Gregor, 2012. 38
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hätten, hätten sie auch Reflexion und Wandel im französischen Filmschaffen angeregt: „E’ in questo senso che la critica cinematografica francese ha contribuito – per lo piú inconsciamente – ad una maggior compenetrazione tra i cinema nazionali dei due rispettivi paesi.“42 Gregor freundete sich mit Guido Aristarco, dem Wortführer der Cinema Nuovo, an und besuchte ihn zumeist im Zusammenhang mit dem Festival in Venedig. Italienreisen außerhalb der Festivalsaison sind neben anderen von seinen Kollegen Wilfried Berghahn und Theodor Kotulla überliefert, die über das üppige filmkulturelle Angebot schwärmten, während von Aristarcos Deutschlandreisen in dieser Zeit zumeist der Eindruck der filmischen Rückständigkeit zurückblieb.43 Spätestens nach einer Formaterweiterung Anfang der 1960er-Jahre erschienen in der Filmkritik regelmäßig Gastartikel von italienischen und französischen Autor:innen aus den einschlägigen Redaktionen und andererseits waren etwa Ulrich Gregor und Enno Patalas zu sehr kritischen Deutschlandkorrespondenten im europäischen Ausland geworden – über den „conformisme politique“44 oder das „German waste land“45 im Kino berichtete Patalas zum Beispiel in der Cinéma und der Sight and Sound. Viele wichtige Protagonistinnen und Protagonisten des internationalen Netzwerks kritischer Filmkultur, in dem die Filmkritik Kontakte knüpfte, waren gezwungenermaßen kosmopolitisch. Etliche Fäden dieses Netzwerks liefen beispielsweise beim Emigranten Siegfried Kracauer in den USA zusammen,46 der im Austausch mit dem Filmkünstler Hans Richter, dem Theoretiker Rudolf Arnheim oder der Konservatorin an der Pariser Cinémathèque Lotte Eisner stand, die alle vor dem Nationalsozialismus geflohen waren. Ein wichtiges französisches Bindeglied war der kommunistische Kritiker Georges Sadoul. Seine Aktivitäten zeigen, dass sich das Netzwerk in Krisensituationen zumindest publizistisch für seine Gleichgesinnten einsetzte und versuchte, bei massiven Freiheitseingriffen zu intervenieren. 1956 organisierte Sadoul Solidaritätsaufrufe für den Regisseur Juan Antonio Bardem, der im franquistischen Spanien wegen angeblicher Verwicklungen in Studierendenproteste verhaftet worden war. 1953 protestierten neben anderen Sadoul, Eisner und die Cahiers du cinéma gegen die Verhaftung Aristarcos und eines Kollegen aus der Cinema Nuovo, die ein kritisches Film-
„Il cinema italiano, enfant cheri della critica e del pubblico francese“ (Pierre Billard), in: Cinema Nuovo, Jg. 5, Nr. 80, April 1956, S. 206: „In diesem Sinne hat die französische Filmkritik – zumeist unbewusst – zu einer größeren gegenseitigen Durchdringung der nationalen Kinos dieser beiden Länder beigetragen.“ [Übersetzung L. S.]. 43 Vgl. „Tedeschi al cinema“ (Guido Aristarco), in: La Stampa, 20.07.1961; „Die Ernte des Neorealismus“ (Wilfried Berghahn), in: Filmkritik, Jg. 5, Nr. 12, Dezember 1961, S. 572–576. 44 „À propos du Dernier Pont. Tendances actuelles du cinéma allemand“ (Enno Patalas), in: Cinéma, Jg. 2, Nr. 4, März 1955, S. 56–59, hier S. 56. 45 Vgl. „The German waste land“ (Enno Patalas), in: Sight and Sound, Jg. 25, Nr. 1, Sommer 1956, S. 24–27. 46 Hierüber und zum Folgenden geben die Briefwechsel Kracauers und Sadouls Aufschluss. Sie sind im Deutschen Literaturarchiv (DLA) und in der Bibliothèque du film der Cinémathèque française erhalten. 42
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konzept zum italienischen Griechenlandfeldzug während des Zweiten Weltkriegs veröffentlicht hatten.47 Naheliegende Austauschplattformen und Anlässe der Begegnung mit der Filmpresse aus aller Welt waren und sind die internationalen Filmfestivals, mit der Berlinale und den Festspielen von Cannes und Venedig als schon historisch bekanntesten Beispielen. In der hier vorgestellten kritischen Filmpresse und Filmkultur waren insbesondere die großen Festivals aber keineswegs unumstritten. Waren sie einerseits willkommene Treffpunkte und Informationsbörsen, galt die Kritik in Filmkritik, Positif oder Cinema Nuovo oftmals den gleichen Aspekten: dem Fokus des riesigen Medieninteresses auf Filmstars anstatt auf ernsthafte Filmkunst, der Einflussnahme von (christdemokratischen) Politikern und Filmfunktionären auf Filmauswahl, Jurys und Preisverleihungen, und der immer wiederkehrenden Verbannung der osteuropäischen Filmnationen. Cannes und Berlin wurden insgesamt eher als Umschlagplätze der Filmwirtschaft wahrgenommen, während die venezianische Mostra durch relativ strenge Auswahlkriterien als altehrwürdiges Filmkunstfestival galt.48 Filmpolitische Konflikte im Vorfeld der Festivals waren gerade in den 1950er-Jahren nicht selten, wenn die Kulturdiplomat:innen befürchteten, dass filmische Beiträge das internationale Ansehen ihres Landes beschädigen könnten. Die auswärtige Kulturabteilung der Bundesrepublik leistete sich beispielsweise 1956 einen diplomatischen Fehlgriff, als sie – letztlich erfolglos – versuchte, Nuit et brouillard (Nacht und Nebel, 1956), Alain Resnais’ ausgewogene Dokumentation über die befreiten Konzentrationslager, in Cannes absetzen zu lassen.49 Sie wirkte zudem wiederholt darauf hin, dass Beiträge der DDR dort nicht liefen und protestierte, wenn sie – wie Sterne von Konrad Wolf 1959 – zum Beispiel als bulgarische Produktion getarnt doch eine größere Bühne fanden.50 Dass im gleichen Sinne die Berlinale als ‚Schaufenster der freien Welt‘ den Ostblock lange Jahre ignorierte, brachte ihr nicht nur von der Sight and Sound das Urteil ein, „the lame runner among the international festivals“51 zu bleiben. Trotz aller Kritikpunkte blieben die großen Festivals im Ausland für den Kreis um die Filmkritik wichtige Anlaufstellen. Hier gab es ein ‚déjeuner‘ der Cahiers du cinéma oder einen ‚cocktail‘ der Cinema Nuovo, an denen auch viele Regisseure teilnahmen. Die italienische Zeitschrift vergab einen Premio Cinema Nuovo, bei dessen Abstimmung neben anderen die französischen Kritiker Bazin und Sadoul, Autor:innen der Sight and Sound und Ulrich Gregor zusammentrafen. Enno Patalas wurde in den Vgl. „‚Arrêtez-nous tous‘ (L’Affaire Aristarco-Renzi)“, in: Cahiers du cinéma, Jg. 3, Nr. 28, November 1953, S. 2–3. 48 Vgl. zu den Festivals u. a. Schwartz: It’s So French! (2007); Valck: Film Festivals (2007); Pisu: Stalin a Venezia (2013). 49 Vgl. Lindeperg: „Nacht und Nebel“, S. 198–219. 50 PA AA, B 95-REF. 605/IV6/635: Bericht des Filmreferenten Franz Rowas, 06.08.1959. 51 „The festivals. Berlin“ (David Robinson), in: Sight and Sound, Jg. 27, Nr. 6, Herbst 1958, S. 287–288, hier S. 288. 47
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ahiers als „figure familière des festivaliers“52 bezeichnet, was auch die TeilnahmekarC ten im Archiv der Mostra untermauern. Der filmtheoretische Mentor Siegfried Kracauer schrieb ihm 1958: „Ich hatte viel Freude an unseren Gespraechen in Venedig.“53 Die kleineren Filmfestivals in West und Ost waren – je nach geopolitischer Großwetterlage – noch beliebtere Reiseziele, da im stilleren Rahmen oftmals direkterer Austausch mit Filmschaffenden möglich wurde. Dazu zählten für die Mitarbeiter der Filmkritik in ihren jungen Jahren zunächst die Filmclubtreffen. Enno Patalas traf dort den französischen Filmemacher Chris Marker als seinen „arbiter elegantiarum“54, der später in der Positif aus Westdeutschland über eine „génération de jeunes cinéastes et de jeunes critiques qui respirent le même air que nous“55 berichtete. Weitere Treffpunkte waren das Festival der Schweiz in Locarno, die Kurzfilmtage in Oberhausen; und wenn möglich nahmen die kritischen westeuropäischen Filmjournalist:innen auch am Dokumentarfilmfestival in Leipzig oder den in guten Jahren als „opportunity for international encounters hardly possible elsewhere“56 gepriesenen tschechoslowakischen Festspielen in Karlovy Vary teil. 5.
Bilanz und Ausblick
Die Zeitschrift Filmkritik nimmt eine interessante Rolle in der Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland der 1950er- und 1960er-Jahre ein. Weit über das Medium und detailverliebte Rezensionen hinausgehend vertraten ihre Autor:innen viele Kritikpunkte, die hier nur angeschnitten werden konnten und die aus der späteren 1968er-Bewegung bestens bekannt sind – etwa die Kritik an Moralvorstellungen, Demokratieverständnis oder der Vergangenheitsbewältigung in der westdeutschen Gesellschaft. Sie waren in Zirkeln der Neuen Linken und der Frankfurter Schule vernetzt und können in ihrem Segment als ein Vorläuferphänomen der späteren studentischen Protestbewegung gedeutet werden. Die Kritiker:innen waren politisch interessierte und engagierte Cineast:innen, die dementsprechend zuvorderst filmkulturelle Ziele verfolgten. Durch ihre filmkritische Arbeit ‚entprovinzialisierten‘ sie die westdeutsche Filmkultur und schlossen die Lücken zu den europäischen Nachbarn und zum internationalen Debattenniveau, die der Nationalsozialismus und die ersten Nachkriegsjahrzehnte gerissen hatten. Wie herausgearbeitet worden ist, basierten die Impulse, die von der Filmkritik ausgingen, wesent-
„Revue des revues“ (Louis Marcorelles), in: Cahiers du cinéma, Jg. 9, Nr. 94, April 1959, S. 58. DLA, MPF A, Kracauer, Nr. 005818: Siegfried Kracauer an Enno Patalas, 01.10.1958. Patalas: Vor Schluchsee und danach (2004), S. 65. „Adieu au cinéma allemand?“ (Chris Marker), in: Positif, Jg. 3, Nr. 12, November – Dezember 1954, S. 66–71, hier S. 67. 56 „The festivals. Karlovy Vary“ ( John Gillett), in: Sight and Sound Jg. 27, Nr. 6, Herbst 1958, S. 286–287. 52 53 54 55
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lich auf Kulturtransfers, auf Anleihen und Vorbildern besonders aus dem romanischen Ausland. Ihre Filmkultur war weniger amerikanisiert als europäisiert, sie hatten nach den damaligen Möglichkeiten europäisierte Bildungsbiografien und bewegten sich zunehmend vernetzt und trittsicher in der internationalen cinephilen Szene. Verknüpft mit den Lehren, die sie aus den Schriften der Kritischen Theorie gezogen hatten, versuchten sie zunächst vor allem eine Adaption italienischer Realismus-Modelle. Französische Kreise beispielsweise um die Positif dienten als gleichgesinnte Ansprechpartner und eher als Vorbilder für Habitus und Haltung. Wie im gesamten Westeuropa sorgten im Verlauf der 1960er-Jahre schließlich die Filme der Nouvelle Vague für eine veränderte Wahrnehmung und letztlich eine zeichentheoretisch geprägte Wende in der Filmkritik, was für diese Studie abschließend die Relevanz auch der französischen Einflüsse unterstrich. Wie weit lässt sich die Wirkung eines Zeitschriftenzirkels wie der Filmkritik in einer Filmkultur messen, zumal angesichts einer selten fünfstelligen Auflage des Magazins? Diese Quantität kann kaum unterschätzt werden, da der Geist der Filmkritik oftmals indirekter verbreitet wurde. Ein Beispiel ist der Regisseur Volker Schlöndorff, der der Zeitschrift im Rückblick bescheinigte, die „intellektuelle Vorarbeit“57 der filmischen Erneuerung in Westdeutschland geleistet zu haben. Auf ihren späteren Positionen prägten ihre Mitarbeiter:innen die bundesdeutschen Sehgewohnheiten und Filmgeschmäcker mit: Wie etliche Filmkritiker:innen ab den 1960er-Jahren traten einige von ihnen in die neu gegründeten Filmredaktionen des zweiten oder der dritten Programme ein; Ulrich Gregor war jahrzehntelang Mitglied der Berlinale-Leitung, Enno Patalas Direktor des Münchner Filmmuseums, Günter Rohrbach arbeitete als Produzent von Das Boot sowie anderen Erfolgsfilmen und Theodor Kotulla war nun selbst Regisseur von Fernsehfilmen, etwa der Tatort-Reihe. Die historische Leserinnen-, Leser- und Publikumsforschung ist häufig ein pro blematisches Feld. Auch in Bezug auf die Filmkritik lassen sich hierzu noch offene Fragestellungen ausmachen: Wer las die Zeitschrift, wie verbreiteten sich die Texte und die von der Redaktion propagierten Filme tatsächlich in Stadt und Land? Dem Filmkonsum des ‚durchschnittlichen‘ Publikums oder in den Filmclubs und studentischen oder kommunalen Kinos ließe sich angesichts der oftmals kargen Überlieferung vermutlich nur noch durch breit gestreute Vorhaben der Oral History nachspüren. Ein weiterer Anknüpfungspunkt an die hier in Auszügen vorgestellte Studie könnte eine vergleichbare Transfer- und Verflechtungsanalyse der Positif und auch der Sight and Sound sein, die gleichermaßen umfassend biografische Prägungen, die Rolle in der einheimischen Filmkultur und die internationalen Vernetzungen dieser Kritikergruppen rekonstruiert.
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Schlöndorff: Lob des guten Handwerks (2012), S. 207.
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Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen
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Gedruckte Quellen Bazin, André: Die Entwicklung der Filmsprache [1951–1955], in: Fischer, Robert (Hg.): André Bazin, Was ist Film? Berlin (Alexander) 2004, S. 90–109. Netenjakob, Egon: Beharrlichkeit und Fortune. Gespräch mit dem Produzenten Günter Rohrbach, in: Filmgeschichte 19 (2004), S. 70–81. Patalas, Enno: Vor Schluchsee und danach. Aus dem Leben eines deutschen Cinephilen, in: Filmgeschichte 19 (2004), S. 61–69. Ripkens, Martin / Stempel, Hans: Das Glück ist kein Haustier. Eine Lebensreise. 2. Aufl. München (dtv) 2001. Schlöndorff, Volker: Lob des guten Handwerks, in: Eue, Ralph / Gass, Lars Henrik (Hg.): Provokation der Wirklichkeit. Das Oberhausener Manifest und die Folgen. München (Edition Text + Kritik) 2012, S. 207–209. Ungureit, Heinz: Das Widerständige der Hagemann-Clique, in: Aurich, Rolf / Jacobsen, Wolfgang (Hg.): Theodor Kotulla. Regisseur und Kritiker. München (Edition Text + Kritik) 2005, S. 7–19.
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Periodika Cahiers du cinéma, Paris: Dezember 1952, Mai 1953, November 1953, April 1959. Cinéma, Paris: März 1955. Cinema Nuovo, Mailand: Mai 1954, April 1956, November – Dezember 1961. Filmkritik, München: November 1957, Juni 1960, Januar 1961, Dezember 1961, Januar 1964, A pril 1965, Februar 1966, Juli 1966, Januar 1967. F, München: 1958. La Stampa, Turin: 20.07.1961. Magnum, Köln: Juni 1959. Positif, Lyon / Paris: November – Dezember 1954, Juli 1959, Juli 1968. Sight and Sound, London: Januar – März 1955, Sommer 1956, Herbst 1958, Herbst 1960.
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Literatur
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Lukas Schaefer, Studium der Fächer Geschichte, Politikwissenschaft und Westeuropa (Master-Stu-
diengang) an den Universitäten Kassel und Verona, 2012–2016 wissenschaftlicher Projektmitarbeiter an der Universität Kassel und der Universität des Saarlandes, 2017 Promotion im Fach Neuere Geschichte an der Universität des Saarlandes mit dem Titel Kritik ohne Grenzen. Nonkonformistische Filmkultur in Italien und Westdeutschland nach 1945 in transnationaler Perspektive, seit 2017 Tätigkeit als Archivar, seit 2018 Leitung der Archivgemeinschaft Schwarzenbek (bei Hamburg), seit 2021 Vorstandsmitglied im Kommunalarchivverband Schleswig-Holsteins (VKA). Forschungsschwerpunkte: europäische Filmkulturgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg; Lokalgeschichte Hamburgs und des südlichen Schleswig-Holsteins.
„Ein bisschen Goethe, ein bisschen Bonaparte“ Deutsch-französischer Transfer populärer Musik in den langen 1960er-Jahren
MAUDE WILLIAMS
1. Einleitung
In den letzten Jahren und bis kurz vor der Corona-Pandemie füllte Zaz ganze Konzertsäle in Deutschland, während Maître Gims dort für die 200.000 Downloads seines Hits Loin eine Auszeichnung bekam.1 Beide schafften es, mit ihren französischsprachigen Hits in die deutschen Charts zu gelangen; 2011 erreichte Zaz sogar drei Wochen lang den dritten Platz.2 Im Jahr zuvor gingen insgesamt 15 % der französischen Musikexporte nach Deutschland.3 Wenn man noch weiter zurückblickt, stellt man fest, dass die französische populäre Musik seit Mitte der 1950er-Jahre regelmäßig große Erfolge in der deutschen Musiklandschaft verzeichnen konnte.4 Im Fokus des vorliegenden Beitrags steht daher der Zeitraum zwischen den Jahren 1956 und 1978. Seit ein paar Jahren ist die populäre Musik in Deutschland Gegenstand zahlreicher Studien, was mit dem zunehmenden Interesse der Historiker:innen für die Geschichte der bundesdeutschen Musikindustrie und der Erforschung populärkultureller Themen einhergeht.5 In Frankreich, wo die populäre Musik als Forschungsgegenstand erst seit Kurzem in der Forschung angekommen ist, haben sich Historiker:innen noch wenig mit innereuropäischen Transfers und dem Export der nationalen Sän-
Vgl. Schack: Zaz überrumpelt Kieler Publikum (16.08.2016); In-House DRC: Maître Gims reçoit une récompense en Allemagne (14.04.2017). 2 Vgl. Offizielle Deutsche Charts: Zaz. 3 Vgl. Lücke: „Die Franzosen kommen“ (2012), S. 258. 4 Vgl. Williams: Französische populäre Musik (2020). 5 Vgl. u. a. Nathaus: Nationale Produktionssysteme (2012); Müller: Werk oder Ware? (2020); Simmeth: Krautrock transnational (2016). 1
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ger:innen auseinandergesetzt.6 In dem von Gérôme Guibert und Catherine Rudent herausgegebenen Sammelband Made in France. Studies in Popular Music, der kürzlich eine erste Zusammenfassung der bisherigen Studien zur französischen Populärmusik anbot, gehen die Autor:innen an keiner Stelle auf die transnationalen Aspekte dieser Geschichte ein.7 Was die Zirkulation von populärer Musik zwischen Frankreich und der Bundesrepublik angeht, sind trotz einiger verstreuter, meist kultur- und literaturwissenschaftlicher Veröffentlichungen in beiden Ländern erst wenige Studien erschienen.8 Aus zeithistorischer Perspektive kamen Impulse vor allem von Dietmar Hüser, der bereits mehrere Aufsätze zu dem Thema veröffentlichte, dessen gesellschaftliche und politische Relevanz bewies und ferner für eine tiefere Auseinandersetzung mit diesen Fragen plädierte.9 Auf Basis seiner Initiative entstand das Projekt „‚Musik-Feld Europa‘ – Deutsch-französische Musikverflechtungen im Kontext transatlantischer und innereuropäischer Austauschdynamiken der langen 1960er Jahre“ im Rahmen der deutsch-luxemburgischen Forschungsgruppe „Populärkultur transnational – Europa in den langen 1960er Jahren“.10 In der vorliegenden Studie geht es daher darum, den Aufbau eines deutsch-französischen Netzwerks im Bereich der populären Musik in den Fokus zu rücken und seine gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Auswirkungen auf beiden Seiten der Grenze zu untersuchen. In mehrfacher Hinsicht ist die Analyse von Transfers populärer Musik zwischen beiden Nachbarländern aus zeithistorischer Perspektive relevant: Erstens ermöglicht sie eine europäische Lesart des populären Musiktransfers und lenkt den Blick auf die bisher kaum beachtete Zirkulation populärer Musik innerhalb Europas, statt der Hegemonie amerikanischer Einflüsse nachzugehen. Zweitens öffnet sie die Tür zu Fragen über das Verhältnis zwischen Musik und Politik, indem sie die Rolle der populären Musik im deutsch-französischen Annäherungsprozess nach dem Zweiten Weltkrieg sowie in den gesellschaftlichen Veränderungen der Nachkriegszeit in beiden Ländern hinterfragt. Damit einhergehend kann die Studie durch die Analyse der Auftritte von Künstler:innen aus beiden Ländern und der damit verbundenen Medienberichte das
Studien über die französische Musikindustrie sind daher bislang selten, vgl. Guibert: La production de la culture (2019); Kaiser: Les politiques publiques (2012). 7 Vgl. Guibert / Rudent (Hg.): Made in France (2017). 8 Vgl. Schmitz-Gropengießer: „Hinter den Kulissen von Paris“ (2012); Kaindl: Die Übersetzung französischer Chansons (2012); Lücke: „Die Franzosen kommen“ (2012); Hüser: Amerikanisches in Deutschland und Frankreich (2006); Defrance: Barbara (2015); Francfort: Les relations franco-allemandes en chanson (2016). 9 Vgl. Hüser: Amerikanisches in Deutschland und Frankreich (2006); Hüser: Populär-Musik-Transfer (2017). 10 Diese Forschungsgruppe wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und dem Fonds National de la Recherche (FNR) gefördert. Sie entstand 2018 und befindet sich seit 2021 in der zweiten Förderphase. Die Gruppe setzt sich aus Professor:innen, Post-Doktorand:innen und Doktorand:innen der Universität des Saarlandes, der Université du Luxembourg und der Universität Jena zusammen. Mehr zur Forschungsgruppe hier: https://popkult60.eu/. 6
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Frankreich- bzw. Deutschlandbild herausarbeiten, das die Bevölkerung der jeweiligen Länder prägte. Schließlich ermöglicht die Untersuchung von Transfers populärer Musik zwischen Frankreich und der Bundesrepublik es, das europäische musikwirtschaftliche Netzwerk aufzudecken, das sich zu dieser Zeit erweiterte, professionalisierte und neue Dynamiken entwickelte. Die Analyse stützt sich auf die Auswertung von Radio- und Fernsehprogrammen, Hitparaden sowie Musikfachzeitschriften und Jugendzeitschriften zwischen 1956 und 1978 in der Bundesrepublik und in Frankreich. Hinzu kommen Schallplatten samt ihrer Hüllen sowie Quellen aus deutschen und französischen Rundfunkanstalten und der deutsch-französischen Rundfunkkommission. Unternehmens- und Privatarchive wie auch Gespräche mit Zeitzeug:innen wurden ebenso berücksichtigt. Schließlich werden demoskopische Studien verschiedener Institutionen (Infratest, Institut für Demoskopie Allensbach) ergänzend zu wissenschaftlichen Werken und grauer Literatur herangezogen. 2. Eine French invasion?
Auch wenn die Entwicklung des Erfolgs französischer populärer Musik in der Bundesrepublik von 1956 bis 1978 keineswegs linear verlief, standen Singles und LPs französischer Interpret:innen kontinuierlich in den Verkaufscharts des Musikmarkts. Zwischen 1963 und 1978 erreichte französische populäre Musik in der Bundesrepublik ihren Höhenpunkt, sowohl was die Vielfalt als auch was die quantitativen Erfolge anbelangt. Es waren nämlich jedes Jahr mehr als sechs Singles und mindestens eine Langspielplatte französischer Interpret:innen / Sänger:innen, die in den Charts landeten.11 Die Auswertung der deutschen Charts zeigt zudem, dass zwischen 1959 und 1965 jedes Jahr mindestens eine französische Interpretin oder ein französischer Interpret in die Liste der Hits des Jahres aufgenommen wurde.12 Die erfolgreichsten Künstler:innen waren im gesamten Zeitraum Salvadore Adamo und Mireille Mathieu, wobei auch Françoise Hardy zwischen 1964 und 1969 einen riesigen Erfolg beim deutschen Publikum hatte.13 Wie viele andere namhafte Sänger:innen gastierte auch sie in der Bundesrepublik. 1966 dauerte ihre Tournee sogar über einen Monat (vom 27. Februar bis zum 4. April), mit Konzerten in 39 verschiedenen Städten.14
Mit Ausnahme des Jahres 1973, in dem es nur zwei Singles französischer Interpreten waren, die es in die Charts schafften. 1965, 1966 und 1969 waren es sogar elf Singles. Bei den LPs standen 1966, 1967 und 1969 jeweils, sechs, sieben und neun LPs in den deutschen Charts. 12 In den Jahren 1963, 1965 und 1969 waren sogar jeweils zwei französische Interpret:innen in dieser Liste der 30 Top-Songs vertreten, vgl. Ehnert: Hit Bilanz (2014), S. 389–439. 13 Vgl. ebd. 14 Vgl. „Françoise in Deutschland“, in: Bravo, Nr. 9, 21.02.1966, S. 35. 11
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Diese Hochphase entspricht auch der Zeit, in der die deutschen Jugendzeitschriften am häufigsten darüber berichteten. Insbesondere zwischen 1964 und 1970 wurden französische Künstler:innen sowohl in den Jugendzeitschriften Bravo, Ok ist okay, Musikparade als auch im Spiegel zunehmend erwähnt. Eine tiefergehende Analyse der Zeitschriften verweist auf die Vielfalt der rezipierten Sänger:innen: Es werden über 40 Namen erwähnt. Je nach Zeitschrift wurden bestimmte Sänger:innen besonders in den Vordergrund gestellt. In der Zeitschrift Twen, die sich an junge Leute höheren Bildungsgrades richtete, fand vor allem das französische Chanson mit Maurice Chevalier, Charles Aznavour, Georges Brassens oder Juliette Gréco ein besonderes Echo.15 Diese Zeitschrift gab außerdem in Zusammenarbeit mit Philips eine Schallplatten-Reihe heraus, in der französische Künstler:innen regelmäßig vertreten waren.16 In der Bravo, Ok ist okay und Musikparade dominierten die „Yé-yés“, die neue junge Generation von französischen Sänger:innen wie France Gall, Johnny Hallyday oder Sylvie Vartan.17 Insgesamt waren auf den deutschen Wellen französische Künstler:innen häufig zu hören. Eine quantitative Analyse der Sendung Stars und Hits – aus aller Welt im Südwestfunk (SWF) von 1967 bis 1969 ergab zum Beispiel, dass 24,4 % der gesendeten Lieder von französischen Interpret:innen gesungen wurden.18 Es entstanden Mitte der 1960er-Jahre zudem Sendungen, die sich ganz dem französischen Chanson widmeten, wie beispielsweise im Saarland auf der Europawelle Saar die Sendung von Pierre Séguy, C’est ça qu’on chante en France.19 Nicht nur die grenznahen Sender, sondern auch der Norddeutsche Rundfunk (NDR), der Westdeutsche Rundfunk (WDR) und der Bayerische Rundfunk (BR) widmeten ihre Sendungen französischen Künstler:innen, wie zum Beispiel die Sendung Abend des französischen Chansons im Bayerischen Rundfunk im Jahr 1959 oder Chansons gesungen von Edith Piaf, Charles Aznavour und Yves Montand im Jahr 1967.20 Auch im deutschen Fernsehen waren französische Sänger:innen zu sehen: Neben kurzen Auftritten wie in Meine Melodie (Saarländischer Rundfunk, SR) oder Lieben Sie die Show? (Süddeutscher Rundfunk, SDR) moderierten sie eigene Sendungen wie beispielsweise die drei Gilbert Bécaud Shows des Saarländischen Rundfunks (1967,
Vgl. u. a. „Die Gréco“, in: Twen, Nr. 7, Juli 1962, S. 84–89; „Georges Brassens“, in: Twen, Nr. 10, Oktober 1964, S. 72 f. 16 Vgl. u. a. Jacques Brel: Jacques Brel – Chansons (1962); Yves Montand: Yves Montand – Chansons (1963); Juliette Gréco: Juliette Gréco – Chansons (1965); Georges Brassens: Georges Brassens – Chansons (1965); Barbara: Barbara singt Barbara (1967). 17 Der Name „Yé-yés“ entspringt dem englischen Füllwort „Yeah“, das oft in den Liedern vorkam, die die Yé-yé- Sänger:innen coverten, und deckt verschiedene Musikrichtungen ab. 18 Vgl. SWFA, P 12434 – P 12438: Sendungsmanuskripte Walter Krause, 1967–1969. 19 Der gesamte Nachlass von Pierre Séguy befindet sich an der Universität Innsbruck, Abt. Textmusik in der Romania. 20 Vgl. BRA, HF/8500: Chansons und leichte Musik, Sendungsmanuskript, 19.10.1959; NDRA: Sendeprotokoll, 29.01.1967. 15
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1968 und 1969).21 Manche Sendungen waren ihnen auch ganz gewidmet, wie in der Reihe Porträt in Musik (Truck Branss), in der 1965 Françoise Hardy und 1967 JeanClaude Pascal ihr Repertoire sangen oder auch Rendez-vous mit Mireille Mathieu 1969 beim ZDF (Zweites Deutsches Fernsehen). Aus diesen drei letztgenannten Sendungen gingen LPs hervor, was auf die starken multimedialen Verbindungen hinweist.22 Durch den Fokus auf deutsch-französische Transfers lässt sich herausstellen, dass amerikanische Musik zwar einen wichtigen Teil der Musiklandschaft darstellte, jedoch nicht hegemonial in der Bundesrepublik vertreten war. Französische Interpret:innen hatten in der Bundesrepublik zwischen 1956 und 1978 nicht nur flüchtigen Erfolg, sondern waren fester Bestandteil der deutschen Musiklandschaft und zogen ein breites und vielfältiges Publikum an. Dies war die Stärke der französischen populären Musik in der Bundesrepublik. Sie reichte vom Chanson zum Schlager à la française und behielt stets einen französischen Hauch, der beim deutschen Publikum sehr gut ankam. Dies beweisen die bereits erwähnten guten Verkaufszahlen der Schallplatten und ihre Präsenz in den deutschen Charts sowie die Zuschriften von Hörer:innen und Zuschauer:innen, die die Rundfunkanstalten nach den Sendungen erhielten.23 Das französische Chanson fand eher bei Studierenden und einem älteren, gebildeten Publikum ein positives Echo. Diese schätzten am Chanson sowohl den literarischen Anspruch der Intepret:innen als auch ihr politisches Engagement, vor allem bei den sogenannten ‚engagierten Sängern‘ (chanteurs engagés) wie Georges Brassens oder Léo Ferré.24 Das Chanson stellte auch für die jungen sogenannten Liedermacher wie Franz-Joseph Degenhardt oder Walter Mossmann eine Inspirationsquelle dar.25 Es waren französische Lieder, die die französische Gesellschaft und ihre bürgerlichen Werte kritisierten, wie La mauvaise réputation („Der schlechte Ruf “) von Georges Brassens, die sowohl auf musikalischer als auch auf inhaltlicher Ebene deutsche Liedermacher:innen dazu inspirierten, durch ihre Musik Kritik an der bundesdeutschen Gesellschaft zu üben, wie zum Beispiel Franz-Joseph Degenhardt mit seinem Lied Deutscher Sonntag.26 Die Verbreitung des politisch engagierten Chansons in der Bundesrepublik hatte durchaus eine politische Auswirkung. Diese spezielle Form des Chansons galt als Vorbild, um Politik und Musik zu verbinden und sich über die Musik in der Gesell-
Vgl. SRA, 06337–06338: Meine Melodie. Es traten u. a. Jean-Claude Pascal (1966, 1969), Françoise Hardy (1965, 1966, 1967, 1970) und Michel Polnareff (1967) auf. Vgl. SDRA, 14341: Lieben Sie die Show?. Es traten Juliette Gréco und Georges Guétary (1962) sowie Isabelle Aubret und Dalida (1963) auf. 22 Vgl. Françoise Hardy: Porträt in Musik (1965); Jean-Claude Pascal: Porträt in Musik (1968); Mireille Mathieu: Rendez-vous mit Mireille (1969). 23 Siehe u. a. SDRA, 7997: Zuschauerpost, Lieben Sie die Show?; Textmusik in der Romania, Nachlass Séguy: Hörerpost, C’est ça T.1, 1965–1966. 24 Vgl. „Musik, Chansons, Herz im Hals“, in: Der Spiegel, Nr. 14, 30.03.1965, S. 125. 25 Vgl. Böning: Die Anfänge musikalischen Protests (2007), S. 187. 26 Vgl. Georges Brassens: Georges Brassens – Chansons (1965); Franz-Joseph Degenhardt: Spiel nicht mit den Schmuddelkindern (1965). 21
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schaft politisch zu engagieren.27 Die Organisatoren des zum Mythos gewordenen BurgWaldeck-Festivals erhoben bei der ersten Ausgabe 1964 sogar folgenden Anspruch: „Wir wollen versuchen, auch Deutschland zu einer Chanson-Nation zu machen.“28 Zu den Chansons, die Veränderungen der gesellschaftlichen Normen und Werte anstrebten, gehörten auch solche mit erotischem Charakter, wie Je t’aime moi non plus oder die Frechen Chansons aus dem alten Frankreich von Helen Vita, die 1966 auf der Liste der jugendgefährdenden Schriften landeten.29 Die Yé-yé-Sänger:innen hingegen schienen sich den etablierten Normen der Gesellschaft besser anzupassen. Die weiblichen Sängerinnen wurden zwar auf Bildern zum Teil als Verführerinnen dargestellt – was auch das stereotypisierte Bild der attraktiven Französin widerspiegelte –, jedoch waren sie laut der Beschreibungen in der bundesrepublikanischen Presse modellhafte Mädchen.30 So berichtete die Bravo über France Gall: „Und sie lernt bei der Mutter alles, was zur Hauswirtschaft gehört. Denn France will eines Tages heiraten und eine sehr gute Hausfrau sein. Ihr Mann wird es nicht leicht haben. Er muss in ihrem Herzen die Konkurrenz mit Papa Gall aufnehmen.“31 Der Platz des Vaters oder des Mannes als Autoritäts- und Bezugsperson schien zentral in ihren Entscheidungen und ihre Zukunft sah sie als Mutter und gute Hausfrau. Ähnlich berichtete die Bravo über Mireille Mathieu, die sich trotz ihrer Karriere um ihre zwölf Geschwister kümmerte und auf den Rat ihres Managers Johnny Stark hörte.32 Ihrerseits wurden die männlichen französischen Sänger als charmant und kunstaffin beschrieben, was das bereits bestehende Bild verstärkte, das die Deutschen laut einer Emnid-Umfrage von den Franzosen und Französinnen hatten.33 Jean-Claude Pascal wurde beispielsweise auf einer Schallplattenhülle (1968) wie folgt charakterisiert: „Er ist ein Kind seiner Metropole Paris und als echter Franzose hat er einfach alles, was einen großen Künstler ausmacht: Charme, Esprit, Ausdauer und Begeisterungsfähigkeit.“34 Französin oder Franzose zu sein, war auf dem Schallplattenmarkt ein starkes Verkaufsargument. Die Musikverlage waren sich dessen bewusst und sie nutzen diese Attraktivität bei der Vermittlung ihrer Künstler:innen in der Bundesrepublik sehr stark aus. Vgl. Williams: Das Protestlied (2020). DKA, LN–H 5,2: Diethart Krebs, „Gesang zwischen den Fronten“, in: Chansons, Folklore, International, Dorweiler, 1964, S. 1–2. 29 Zu Gainsbourg: Jane Birkin / Serge Gainsbourg: Je t’aime … moi non plus (1969); „Originalaufnahme von ‚Je t’aime … moi non plus‘ mit Jane Birkin und Serge Gainsbourg ab sofort bei Metronome“, in: Der Musikmarkt, Nr. 2, 15.02.1969, S. 66. Zu Helen Vita u. a.: Helen Vita: Freche Chansons aus dem alten Frankreich (1963); „Schutz vor dem Jugendschutz“, in: Der Musikmarkt, Nr. 6, 15.07.1964, S. 8–9, hier S. 9. 30 Zur Darstellung französischer Sängerinnen siehe Williams: De la mélancolie à l’indignation (2022), S. 199. 31 „France Gall. Puppen-Fee“, in: Bravo, Nr. 30, 26.07.1965, S. 35. 32 Vgl. „12 Geschwister und 1 Star“, in: Bravo, Nr. 33, 08.08.1966, S. 27. 33 Vgl. Möller / Hildebrand (Hg.): Die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich (1999), S. 174. 34 Jean-Claude Pascal (1968), Porträt in Musik, Electrola SME 74 134. 27 28
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Fehlender Erfolg deutscher Künstler:innen in Frankreich – Erklärungssuche
Hingegen waren deutsche Erfolge populärer Musik in Frankreich zwischen 1956 und 1978 äußerst selten. Die Auswertung der französischen Hitparade zeigt keinen einzigen Hit von deutschsprachigen Sänger:innen in dieser Zeit.35 Auch bei den französischen Fernseh- und Radioprogrammen war kaum deutschsprachige populäre Musik zu hören: Nur elf Interpret:innen bzw. Bands konnten zwischen 1956 und 1978 Fernseh- oder Radioauftritte in Frankreich vorweisen.36 Anfang der 1960er-Jahre bestand in der Bundesrepublik jedoch die starke Hoffnung, dass deutsche Titel und Interpret:innen in Frankreich Fuß fassen könnten.37 Der Verleger Rolf Marbot sagte: „Es besteht bei den französischen Verlegern absolut keine Interesselosigkeit für den deutschen Schlager, sondern wir müssen einfach ein Manko feststellen.“38 Zwar kamen zwischen 1960 und 1962 einige deutsche Titel nach Frankreich, doch wurden sie von anderen Interpret:innen und in einer anderen Sprache gesungen, wie zum Beispiel 1962 das Lied Zwei kleine Italiener, gesungen auf Französisch von den Compagnons de la Chanson.39 Deutsche Interpret:innen wie Freddy Quinn erlitten hingegen große Misserfolge. 1960 war Freddy der Testballon für den deutschen Schlager in Frankreich gewesen, wie die Musikfachzeitschrift Der Musikmarkt berichtete: „‚Unter Fremden Sternen‘ wird Freddy jetzt selber [sic!] in Frankreich aufnehmen. Diese Aufnahme sollte zu einem schlußkräftigen [sic!] Test für die Chancen des deutschen Schlagers in Frankreich werden.“40 Freddy kam bei Polydor Paris, der Tochtergesellschaft der Deutschen Grammophon Gesellschaft, unter Vertrag. Zwischen 1960 und 1966 erschien bei Polydor in Frankreich jährlich eine EP von Freddy, die es aber nie in die französischen Charts schaffte.41 Bei der Veröffentlichung der ersten Freddy-Aufnahme berichtete 1961 Waldemar Kuri, Journalist und Experte für den französischen Musikmarkt bei Der Musikmarkt:
Ergebnis der Auswertung der Hitparade in der französischen Jugendzeitschrift Salut les copains von 1962 bis 1978. 36 Es handelt sich um Peter Kraus, Ria Bartok, Freddy Quinn, Reinhard Mey, Ivan Rebroff, Kraftwerk, Udo Jürgens, Camillo Felgen, Klaus Schulze, Tangerine Dream und Guru Guru. 37 Vgl. „Frankreich: Chancen für deutsche Titel“ in: Der Musikmarkt, Nr. 5, 15.05.1962, S. 25. 38 „Welche Chancen haben deutsche Schlager in Frankreich? Eine Umfrage bei französischen Musikverlegern von Bob Astor und Waldemar Kuri“, in: Der Musikmarkt, Nr. 7, 15.07.1960, S. 20. 39 Vgl. „Fünf Jahre erfolgreiche Arbeit: Polydor Paris. Erste französische Freddy-Aufnahme ist jetzt erschienen“, in: Der Musikmarkt, Nr. 12, 15.12.1961, S. 57; „Rock und Twist beherrschen Frankreichs Markt“, in: Der Musikmarkt, Nr. 12, 15.12.1961, S. 12. 40 „Welche Chancen haben deutsche Schlager in Frankreich? Eine Umfrage bei französischen Musikverlegern von Bob Astor und Waldemar Kuri“, in: Der Musikmarkt, Nr. 7, 15.07.1960, S. 20. 41 Vgl. Freddy: La guitara brasiliana (1960); ders.: J’ai besoin de ton amour (1961); ders.: Junge komm bald wieder (1962); ders.: La Paloma (1963); ders.: Gib mir Dein Wort (1964); ders.: Vergangen, Vergessen, Vorüber (1965); ders.: Abschied vom Meer (1966). 35
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Zurzeit verfolgt man mit Interesse den Versuch, Freddy in Frankreich herauszubringen. Seit einigen Monaten ist seine erste Platte mit französischen Aufnahmen im Handel. Er wird durch glänzende Publicity-Arbeit unterstützt, hatte im Fernsehen einen vorteilhaften Start und fand ein sehr günstiges Presseecho. Das Experiment lässt sich als zufriedenstellend, wenn auch nicht sensationell an. Eine zweite Freddy-Platte mit französischen Originaltiteln wird in einigen Tagen erwartet.42
Freddy trat in mehreren berühmten französischen Fernsehsendungen auf, wie 1961 in Toute la Chanson und Discorama, um den Verkauf seiner Platten in Frankreich zu fördern. In beiden Sendungen machte er seine Verbindung zu Frankreich stark, vor allem zu Paris, wo er im Stadtviertel Montmartre im Bistrot Chez Pomme sein Debüt gab.43 Der Versuch, auf diese Weise den Plattenverkauf anzukurbeln, blieb jedoch vergebens. Auch außerhalb des Schlagers – mit jüngeren Interpret:innen und Rockmusik – erreichten deutsche Künstler:innen wie beispielsweise Peter Kraus den gewünschten Erfolg nicht. Dieser wurde ebenfalls durch die französischen Medien unterstützt, jedoch ohne positive Auswirkungen auf den Verkauf seiner Platten.44 Es sind aber einige – wenn auch flüchtige – Erfolge zu verzeichnen, wie jene des Luxemburgers Camillo Felgen mit seinem Lied Sag Warum (1959/1961) oder des Österreichers Udo Jürgens (1964/1965).45 Letzterer verkaufte 1966 in Frankreich 250.000 Exemplare seiner auf Deutsch gesungenen Platte Merci, Chérie.46 Jedoch konnten sich beide Interpreten in Frankreich nicht dauerhaft etablieren. Als einzige Ausnahme gilt Reinhard Mey, bekannt beim französischen Publikum als Frederik Mey, der als einziger deutscher Interpret offizielle Anerkennung aus Frankreich für seine Arbeit bekam; 1968 erhielt er mit seiner LP Frederik Mey den Prix international de l’Académie de la Chanson.47 Dieser Preis bedeutete für ihn den Anfang seiner Karriere in Frankreich, aber auch in der Bundesrepublik.48 Erst Mitte der 1970er-Jahre – mit dem Aufkommen des Krautrocks – begannen deutsche Bands, in Frankreich Erfolge einzufahren. Irmin Schmidt berichtete 1979 in Musikinformationen, dass Krautrock „bei der französischen
„Fünf Jahre erfolgreiche Arbeit: Polydor Paris. Erste französische Freddy-Aufnahme ist jetzt erschienen“, in: Der Musikmarkt, Nr. 12, 15.12.1961, S. 57. 43 Vgl. INA: Discorama, Première Chaîne, 10.03.1961, 17.05.1961; Toute la Chanson, Première Chaîne, 11.12.1961. 44 Er trat mehrmals in der berühmten Jugendsendung Âge tendre et tête de bois von Albert Raisner, der auch für Peter Kraus Lieder schrieb und ihm half, französische Platten zu veröffentlichen, vgl. INA: Âge tendre et tête de bois, Première Chaîne, 13.04.1963; 06.07.1963; 12.10.1963; 13.11.1963; 12.04.1964; 12.02.1964. Siehe auch Peter Kraus: Ce que demandent les jeunes (1963). 45 Vgl. „Camillo vor französischer Karriere“, in: Der Musikmarkt, Nr. 6, 15.06.1961, S. 12; „Udo Jürgens“, in: Salut les copains, Nr. 24, 24.06.1964, S. 27. 46 Vgl. „Edition Montana“, in: Der Musikmarkt, Nr. 12, 15.12.1966, S. 22. Merci, Chérie war der Siegertitel beim Grand Prix de l’Eurovision 1966. 47 Vgl. Frederik Mey: Prix international de l’Académie de la Chanson (1968). 48 Mey: Was ich noch zu sagen hätte (2005), S. 76 f. 42
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Jugend eine fast kultische Verehrung“ erhielt und dass Gruppen wie Tangerine Dream, Kraftwerk und Ashra „reihenweise Goldene Schallplatten“49 bekamen. Krautrock erreichte jedoch nicht die Massen und blieb ein Phänomen der Subkultur bei der französischen Jugend.50 Trotz Bemühungen der Produzenten, Schallplattenfirmen und Rundfunkanstalten drang für den untersuchten Zeitraum nur wenig deutsche populäre Musik nach Frankreich vor. Die Gründe dieser Misserfolge lassen sich erstens durch die besondere Rolle der französischen Sprache in Frankreich erklären. Neben dem sehr großen Einfluss des französischen Chansons hatten sich die Yé-yé-Sänger:innen mit französischen Versionen von Rock-Songs in Frankreich bekannt gemacht und damit auch Erfolg.51 Es waren vor allem französische Bands, Sänger und Sängerinnen, die in den französischen Charts, aber auch in den Fernseh- und Radioprogrammen sowie Jugendzeitschriften präsent waren.52 Dies war zum Teil das Ergebnis der Campagne de défense de la chanson française (Kampagne zur Verteidigung des französischen Chansons), die von der französischen Musikindustrie und den französischen Medien Anfang der 1960er-Jahre geführt wurde und sich zum Ziel gesetzt hatte, einen zu großen Anteil an ausländischen Künstler:innen und Titeln in Frankreich zu verhindern.53 1959 erlitt die französische Musikindustrie eine Krise aufgrund der allgemeinen Erhöhung der Lebenshaltungskosten und insbesondere der Erhöhung der Besteuerung von Schallplatten, die für die Käufer:innen teurer wurden.54 Als problematisch wurde auch erachtet, dass bei der „Bourse de la chanson française“ (Börse des französischen Chanson) zahlreiche italienische und amerikanische Nummern einen Platz fanden.55 Vor diesem Hintergrund lancierten beispielsweise das französische Fernsehen (RTF) und der Radiosender Europe n° 1 mit der Fernsehsendung Marathon de la chanson française (Marathon des französischen Chansons) und dem Festival Coq d’Or de la chanson française (Goldener Hahn des französischen Chansons) zwei Versuche, das französische Chanson in Frankreich wieder zu stärken.56 Am Ende des Festivals zeigte sich eine positive Bilanz: „Der Feldzug, den ‚Discographie française‘ im vergangenen Jahr in Frankreich
Zit. nach: Simmeth: Krautrock transnational (2016), S. 248. Vgl. ebd., S. 202 Siehe die französische Hitparade von Salut les Copains oder die „Bourse de la chanson française“ der Discographie française. 52 Vgl. Looseley: Popular Music in Contemporary France (2003), S. 21–38. 53 Vgl. „Frankreich: Krise aufgefangen, aber nicht überwunden. Rationalisierung und Personalstraffung sollen Kosten senken“, in: Der Musikmarkt, Nr. 2, 15.02.1960, S. 20. 1968 gingen die Akteur:innen der Kampagne noche einen Schritt weiter und trennten die Hitparade in zwei Kategorien: variétés françaises und variétés étrangères, siehe dazu Kaiser: The Recording Industry (2017). 54 Vgl. „Frankreich: Krise aufgefangen, aber nicht überwunden. Rationalisierung und Personalstraffung sollen Kosten senken“, in: Der Musikmarkt, Nr. 2, 15.02.1960, S. 20. 55 Vgl. ebd. 56 Vgl. ebd.; „Der Gallische Hahn des französischen Chansons“, in: Der Musikmarkt, Nr. 6, 15.06.1960, S. 8. 49 50 51
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für die ‚Verteidigung des französischen Chansons‘ geführt hat, hat unbestreitbar seine Früchte gezeigt.“57 Diese Kampagne schuf also nicht die besten Voraussetzungen für deutsche Interpret:innen, um in Frankreich Fuß zu fassen. Zweitens lässt sich der geringe Erfolg deutscher Schlagersänger:innen durch die Schlager selbst erklären, die zu dieser Zeit in der Bundesrepublik gesungen wurden. 1960 äußerte sich der Verleger Desmarty (Edition Paul Beuscher) wie folgt: Das französische Chanson hat sich in den letzten zehn Jahren, besonders unter dem Einfluss von Bécaud und Aznavour sehr stark entwickelt. Der deutsche Markt bietet dagegen kaum etwas, was sich von Musik oder Text her dafür eignet, in Frankreich lanciert zu werden. Die deutschen Autoren und Komponisten bringen vor allem Nummern heraus, die für den innerdeutschen Konsum bestimmt sind.58
Diese Orientierung am deutschen Markt und die „Überfremdung der deutschen Produktion“59 blieb bis Anfang der 1970er-Jahre präsent in der Kritik an den deutschen Musikverlegern. Französische Musikverleger kritisieren auch den Mangel an Originalität der Lieder: Die meisten deutschen Titel sind wenig interessant, weil sie weder spezifisch originell noch spezifisch deutsch sind. Den Imitationen süd- oder nordamerikanischer Chansons, den Pseudo-Rock-n-Rolls und Pseudo Cha-Cha-Chas ist natürlich der französische Markt verschlossen, da die französischen Verleger sich in diesem Falle im Ursprungsland selber [sic!] versorgen können.60
Französische Verleger wie Rolf Marbot wünschen sich „typische deutsche Nummer, sowohl sentimental-gefühlsbetonte (‚Die Gitarre und das Meer‘, ‚Rote Lippen, rote Rosen, roter Wein‘ oder ‚Heideröslein‘), als auch lustige Schlager (‚Annelise‘, ‚Egon‘).“61 Erst mit dem Krautrock kam eine Musik nach Frankreich, die als originell deutsch vermarktetet werden konnte und damit Chancen auf dem Markt erhielt.62 Als letzter Faktor soll auch die Last der deutsch-französischen Vergangenheit und die damit verbundenen mentalitätsgeschichtlichen Gründe genannt werden. Die Französinnen und Franzosen zeigten in den 1960er- und 1970er-Jahren wenig Interesse für die Deutschen und ihre Kultur, auch wenn die Vorbehalte der unmittelbaren Nachkriegszeit milder wurden, was Umfragen sichtbar machen.63 Dies kam auch in anderen Bereichen der deutsch-französischen Kulturbeziehungen dieser Zeit zum Vorschein, „Der Gallische Hahn des französischen Chansons“, in: Der Musikmarkt, Nr. 6, 15.06.1960, S. 8. „Welche Chancen haben deutsche Schlager in Frankreich? Eine Umfrage bei französischen Musikverlegern von Bob Astor und Waldemar Kuri“, in: Der Musikmarkt, Nr. 7, 15.07.1960, S. 20. 59 Ebd. 60 Ebd. 61 Ebd. 62 Vgl. Simmeth: Krautrock transnational (2016), S. 202. 63 Vgl. Möller / Hildebrand (Hg.): Die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich (1999), S. 78, 150. 57 58
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wie zum Beispiel in der Asymmetrie zwischen den französischen und deutschen Teilnehmenden bei den vom Deutsch-Französischen Jugendwerk unterstützten Programmen.64 Albert Raisner, der Moderator der Sendung Rendezvous am Rhein, ab 1967 Europarty,65 stieß ebenfalls auf dieses Problem, als er seine Zuschauer:innen in mehreren seiner Sendungen dazu aufrief, Briefe zu schreiben, falls sie an einem Briefpartner oder einer Briefpartnerin aus dem Nachbarland interessiert waren.66 Zahlreiche Anfragen aus der Bundesrepublik kamen beim SWF in Baden-Baden an, jedoch gab es nicht genügend französische Briefpartner:innen, um die deutschen Anfragen erfüllen zu können.67 Die deutsch-französische Asymmetrie ist auch im Programmaustausch der 1963 gegründeten deutsch-französischen Hörfunkkommission zu finden.68 Die bundesdeutschen Rundfunkanstalten klagten häufig darüber, dass das französische ORTF zu wenig deutsches Ton- und Bildmaterial in ihr Programm aufnahm.69 4.
Hinter den Kulissen – Das deutsch-französische Netzwerk
Für die Vermittlung populärer Musik im Nachbarland stellten jedoch die Rundfunkanstalten mit ihren Hörfunk- und Fernsehprogrammen wichtige Akteure in beiden Ländern dar. Aufgrund ihrer Verbindungen zu den jeweiligen Regierungen stellt sich insbesondere die Frage, ob und inwiefern populäre Musik Teil politischer Handlungen war und welche Ziele damit verfolgt wurden. Im deutsch-französischen Fall lassen erste Untersuchungen erkennen, dass populäre Musik absichtlich eingesetzt wurde, um die Bevölkerung und vor allem die Jugend beider Länder in Kontakt zu bringen und ein besseres gegenseitiges Kennenlernen zu ermöglichen. In den Protokollen der deutsch-französischen Hörfunkkommission wurden Unterhaltungssendungen mit populärer Musik, wie Les grandes heures de la chanson française (BR und ORTF)70 oder – im Bereich des Fernsehens – die bereits erwähnte Sendung Rendezvous am Rhein, als Teil des Austausches aufgelistet, der dazu beitragen sollte, die Kultur des
Vgl. Bock: Complication des relations politiques (2018); Defrance: Les échanges universitaires (2018). Diese Sendung war 1964 eine Koproduktion zwischen dem SWF und dem Office de radiodiffusiontélévision française (ORTF) und wurde sowohl in Frankreich als auch in der Bundesrepublik ausgestrahlt. In den nächsten Jahren kamen noch andere Länder hinzu: die Schweiz (1966), Österreich (1966), CSSR (1967), Belgien (1968), vgl. SWFA, P 10120: Informationen über die Sendereihe Europarty, 24.03.1969. Siehe dazu auch den Beitrag von Ann-Kristin Kurberg in diesem Band. 66 Vgl. SWFA, P 10122: Rendez-vous am Rhein, Sendungen vom 09.12.1964 und 28.07.1965. 67 Vgl. SWFA, P 19562: Rendez-vous am Rhein, Brieffreundschaften, 1966. Diese Asymmetrie bestand bis Anfang 1970; SWFA, P 10120: Stadt Baden-Baden an das Deutsch-Französische Jugendwerk, 03.04.1970. 68 Zur deutsch-französischen Rundfunkkommission siehe Burmeister: Die Arbeit der deutsch-französischen Hörfunk-Kommission (1997), S. 98; Baumann: Zwischen Propaganda und Information (2005), S. 24 f. 69 Vgl. Burmeister: Die Arbeit der deutsch-französischen Hörfunk-Kommission (1997), S. 91 f. 70 Vgl. BRA, HF/12795: Les grandes heures de la chanson française, 1966–1968. 64 65
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Nachbarlandes besser kennenzulernen.71 Dass solche Unterhaltungssendungen über populäre Musik Teil des Austauschprogramms zwischen dem ORTF und den bundesdeutschen Rundfunkanstalten waren, zeigt die Rolle von Unterhaltungsformaten – neben politischen, wirtschaftlichen oder geschichtlichen Sendungen – als Bestandteil der Aussöhnungspolitik zwischen Frankreich und der Bundesrepublik in den langen 1960er-Jahren. Die Strategie, populäre Musik und Unterhaltungsshows für internationale Verständigungsprozesse einzusetzen, war durch beide Regierungen bereits getestet worden, zum Beispiel im Rahmen des Grand Prix de l’Eurovision de la Chanson.72 Die Arbeit innerhalb der deutsch-französischen Hörfunkkommission hatte auch zur Folge, dass vermehrt Journalist:innen Kontakt mit den Anstalten des anderen Landes aufnehmen und dort Sendungen ausstrahlen konnten. Einige Rundfunkjournalist:innen, die in beiden Ländern arbeiteten, konnten bereits identifiziert werden: Elsa Manet (SR, SWF, NDR, WDR), France Brifaut (BR) oder Jean-Claude Maguet (SWF, Radio Bremen) aus Frankreich und der deutsche Klaus Groth, der in Marseille Sendungen für deutsche Tourist:innen in Südfrankreich sendete.73 Interessanterweise stellt man beim Personalaustausch ebenfalls eine Asymmetrie fest, da „mehr deutsche Volontäre und Journalisten nach Frankreich gingen als umgekehrt“74, was aber nicht bedeutete, dass mehr Inhalte für die Sendungen aus der Bundesrepublik kam. Die Biografien und Motivationen der deutschen und französischen Journalist:innen, die an diesem Austausch teilnahmen und sich aktiv an den Rundfunk- und Fernsehprogrammen des Nachbarlands beteiligten, müssen im Laufe weiterer Untersuchungen unter die Lupe genommen werden. Gleiches gilt für die Abteilungsleiter und Regisseure, die Sendungen mit französischen Künstler:innen förderten. Neben den öffentlichen – teils politisch motivierten – Vermittler:innen waren auch private Akteur:innen bei der Verbreitung populärer Musik im Nachbarland aktiv. Von zentraler Bedeutung waren die Schallplattenfirmen, die Kooperationen mit Firmen des Nachbarn aufbauten und Lizenz- und Vertriebsverträge unterschrieben, die Auswirkung auf die Vermittlung der Künstler:innen in das Nachbarland hatten. Diese Verträge waren entscheidend für die Verfügbarkeit der Platten im jeweils anderen Land. Eine Sängerin wie Mireille Mathieu hatte ein so großes Echo in der Bundesrepublik, weil sie von einem großen Konzern unterstützt wurde, der sie in der Bundesrepublik durch Fernsehauftritte, mediale Berichterstattung usw. erfolgreich vermarktete. Bis 1964 wurde sie durch einen Vertrag zwischen Barclay und Ariola in der Bundesrepublik vertrieben, unterschrieb aber 1968 einen Exklusivvertrag bei Ariola, was ihrer Karriere
Die Protokolle der Sitzungen der deutsch-französischen Rundfunkkommission können sowohl beim SR und beim BR als auch beim SWF eingesehen werden. Neben den Protokollen sind in den jeweiligen Rundfunkanstalten auch Akten zu den eigenen deutsch-französischen Partnerschaften zu finden. 72 Vgl. Wolke: Die Rundfunkpolitik in der V. Republik (1972), S. 102. 73 Vgl. „Programm für Touristen in Südfrankreich“, in: SR-Informationen, Nr. 6–7, 10.–17.06.1972, S. 5. 74 Burmeister: Die Arbeit der deutsch-französischen Hörfunk-Kommission (1997), S. 74. 71
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in der Bundesrepublik enormen Schwung verlieh: Von da an landete sie bis 1980 jedes Jahr in den deutschen Charts, ihre LPs standen von 1969 bis 1971 sogar in der Liste der Hits des Jahres und sie erhielt 1973 für La Paloma adieu eine goldene Schallplatte.75 Große Konzerne wie die Firma Bertelsmann, die die Plattenfirma Ariola sowie Schallplattenclubs und Zeitschriften besaß, um französische Musik in der Bundes republik zu vermarkten, spielten bei der Verbreitung populärer Musik eine zentrale Rolle, die noch genauer zu erforschen ist. Ebenfalls zentral für die Verbreitung populärer Musik sind und waren private Vermittler:innen, darunter die Verleger, Produzenten, aber auch Künstleragenturen und Agent:innen sowie die Fachjournalist:innen, die eine zentrale Rolle als Bindeglied zwischen Künstler:innen, Schallplattenfirmen und Rundfunkanstalten spielten. Bei der intermedialen Vermarktung der Künstler:innen soll vor allem die wirtschaftliche Perspektive in den Blick genommen werden, wie beispielsweise die Frage der Gagenhöhe, die zum Teil Erklärungen liefern könnte, warum französische Künstler:innen öfter in der Bundesrepublik auftraten als umgekehrt.76 Auch die Rolle der Presse und der Kooperationen zwischen französischen und bundesdeutschen Musikzeitschriften, wie zum Beispiel 1960 zwischen der Discographie française und Musikmarkt, oder zwischen Jugendzeitschriften, wie Bravo und Salut les Copains, muss beim Transfer populärer Musik berücksichtigt werden.77 Dieser Nexus zwischen verschiedenen Akteur:innen der Musikindustrie aus beiden Ländern ist bisher kaum erfasst und untersucht worden, obwohl dieser Austausch für den Erfolg populärer Musik im jeweils anderen Land wichtige Rahmenbedingungen schaffte und die Vermittlung dieser Musik überhaupt erst möglich machte.78 Weiter erscheint eine prosopografische Analyse der Protagonist:innen dieses deutschfranzösischen Musikmarkts sinnvoll, um bestimmte Muster hinsichtlich der Motivationen, Absichten und Interessen zu erkennen. Dies wird darüber Aufschluss geben, wie wirtschaftliche, politische, journalistische und kulturelle Akteur:innen dem Nachbarland gegenüber eingestellt und von welchen Erfahrungen sie geprägt waren. Einige Personen, darunter freie Journalist:innen (Elsa Manet, Jean-Claude Maguet, Waldemar Kuri), aber auch Leiter von Plattenverlagen ( Jacques Canetti, Hans Beierlein), Texter / Übersetzter (Gerd Semmer, Boris Bergmann) oder auch Abteilungsleiter bei Rundfunkanstalten (Dr. Rudolf Didczuhn) wurden in diesem Netzwerk als besonders aktiv
Vgl. Ehnert: Hit-Bilanz (2014), S. 389–439, 445. Ann-Kristin Kurberg hat gezeigt, dass die Gagen in den bundesdeutschen Rundfunkanstalten höher waren als in Frankreich. Siehe dazu die Dissertation von Ann-Kristin Kurberg: Grenzenlose Unterhaltung. Transnationale Verflechtungen und Bilder des Fremden in Unterhaltungsshows im bundesdeutschen und französischen Fernsehen der 1960er Jahre. 77 „Discographie française“, in: Der Musikmarkt, Nr. 6, 15.06.1960, S. 10; „Sylvie Vartan“, in: Bravo, Nr. 22, 23.05.1966, S. 36. 78 Ausnahmen sind einzelne Studien in der Bundesrepublik über die Beziehungen zwischen Verlegern und Rundfunk oder zwischen Schallplattenfirmen, Künstleragenturen und Musikverlegern, vgl. Nathaus: Nationale Produktionssysteme (2012); Müller: Werk oder Ware? (2020). 75 76
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identifiziert. Eine nähere Untersuchung ihrer Herkunft und ihrer Arbeit verweist bisher auf eine starke biografische Prägung durch das Nachbarland, was sich auf deren Arbeit und Engagement für französische populäre Musik in der Bundesrepublik auswirkte.79 Nicht zuletzt sollte künftig die Topografie dieses Netzwerks rekonstruiert werden: Festivals (Burg Waldeck, Essener Songtage), Konzertsäle (Olympia, Bobino), Wettbewerbe (San Remo, Coq d’Or) aber auch Messen (Marché international de l’édition musicale – MIDEM, Marché internationale du film – MIF) gaben dem deutsch-französischen Netzwerk einen Rahmen, in dem neue Perspektiven entstanden. Dort war es den Akteur:innen der Musikindustrie möglich, sich zu treffen und ihre Künstler:innen zu präsentierten, ihre Arbeit bekannt zu machen, neue Verträge abzuschließen und zukünftige Projekte zu planen und somit ihr Netzwerk zu erweitern und zu konsolidieren. 5. Fazit
Quantitative und qualitative Untersuchungsmethoden haben es ermöglicht, die Rezeption und Aneignung französischer und deutscher populärer Musik im jeweils anderen Land genauer und differenzierter zu beleuchten. Es stellt sich heraus, dass französische populäre Musik nicht nur einen flüchtigen Erfolg im Nachbarland hatte, sondern einen festen Platz in der bundesrepublikanischen Musiklandschaft erobern konnte. Durch die Vielfalt der Musikstile und Themen der Chansons und Schlager à la française fand französische populäre Musik bei verschiedenen Publika in der Bundesrepublik ein Echo. So trug sie beispielsweise zur Politisierung der bundesdeutschen Jugend bei und brachte politische und gesellschaftsrelevante Themen in der Öffentlichkeit zur Sprache, die die „Grenzen des Sag- und Zeigbaren“80 in der Bundesrepublik der 1960erJahre zu verschieben versuchten. Hingegen litt die deutsche Musikindustrie unter einer markanten Asymmetrie beim Export ihrer populären Musik nach Frankreich in den langen 1960er-Jahren. Deutsche Künstler:innen konnten in Frankreich kaum Fuß fassen, was sich durch mehrere Faktoren erklären lässt: unterschiedliches Interesse für das Nachbarland, Mangel an Originalität der Schlager, Verteidigung der französischen Sprache in der Musik. Diese Asymmetrie lässt sich auch durch andere Faktoren begründen, die erst durch die Analyse der Kulissen des deutschen und französischen Netzwerks sichtbar werden: Akteur:innen der Musikindustrie (Musikverleger, Schallplattenfirmen, Künstleragenturen) und der Medienlandschaft (Rundfunkanstalten und ihre Mitarbeitenden, Journalist:innen, Presse) verfolgten eigene politisch, wirtschaftlich und / oder kulturell motivierte Ziele, die sich auf die Vermittlung populärer Musik im jeweils anderen Land auswirkten und die weiter erforscht werden sollten. Bspw. Gerd Semmer, der während des Zweiten Weltkrieges in Paris als Dolmetscher arbeitete, oder Elsa Manet, gebürtige Elsässerin, die eine deutschsprachige Mutter hatte. 80 Mrozek / Geisthövel: Einleitung (2014), S. 12. 79
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Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen
Archivalien Bayersicher Rundfunk, Archiv (BRA) – HF/8500 (Unterhaltendes Wort. Verschiedene Sendungen, 1959–1975). – HF/12795 (Deutsch-französische Zusammenarbeit, 1968, 1972). Deutsches Kabarett Archiv, Mainz (DKA) – LN–H 5,2 (Waldeck, 1964–1966). Institut national de l’audiovisuel, Paris (INA) – Âge tendre et tête de bois, Première Chaîne: 13.04.1963, 06.07.1963, 12.10.1963, 13.11.1963, 12.04.1964, 12.02.1964. – Discorama, Première Chaîne: 10.03.1961, 17.05.1961. – Toute la Chanson, Première Chaîne: 11.12.1961. Norddeutscher Rundfunk, Archiv (NDRA) – Sendeprotokolle. Saarländischer Rundfunk, Archiv (SRA) – 06337 (Meine Melodie, Folge 9). – 06338 (Meine Melodie, Folge 16). Süddeutscher Rundfunk, Archiv (SDRA) – 7997 (Hörerpost [Zuschauerpost]). – 14341 (Lieben Sie die Show?). Südwestfunk, Archiv, Baden-Baden (SWFA) – P 10120 (Europarty, 1969–1970). – P 10122 (Rendez-vous am Rhein, Folge 1–4, 1964–1966). – P 12434 – P 12438 (Sendungsmanuskripte Walter Krause, 1967–1969). – P 19562 (Rendez-vous am Rhein, 1966–1967). Textmusik in der Romania (Universität Innsbruck) – Nachlass Pierre Séguy.
Diskografie Barbara: Barbara singt Barbara. Zum ersten Mal in deutscher Sprache (Philips twen Serie, Nr. 63), Philips 842 151 PY, 1967. Birkin, Jane / Gainsbourg, Serge: Je t’aime … moi non plus, Fontana 260 196 MF, 1969. Brassens, Georges: Georges Brassens – Chansons (Philips twen Serie, Nr. 32), Philips B 77815 L, 1965. Brel, Jacques: Jacques Brel – Chansons (Philips twen Serie, Nr. 6), Philips P 77380, 1962. Degenhardt, Franz-Joseph: Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, Electrola 237 816 A, 1965. Freddy: La guitara brasiliana (EP), Polydor 21 772, 1960. Freddy: J’ai besoin de ton amour (EP), Polydor 21 823, 1961. Freddy: Junge komm bald wieder (EP), Polydor 21 955, 1962. Freddy: La Paloma (EP), Polydor 60 133, 1963. Freddy: Gib mir Dein Wort (EP), Polydor 21 964, 1964.
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Freddy: Vergangen, Vergessen, Vorüber (EP), Polydor 60 103, 1965. Freddy: Abschied vom Meer (EP), Polydor 60 115, 1966. Gréco, Juliette: Juliette Gréco – Chansons (Philips twen Serie, Nr. 24), Philips B 77 981 L, 1965. Hardy, Françoise: Porträt in Musik, Vogue Schallplatten LDVS 17028, 1965. Kraus, Peter: Ce que demandent les jeunes (EP), Polydor 27 057, 1963. Mathieu, Mireille: Rendez-vous mit Mireille, Ariola 79 757 IU, 1969. Mey, Frederik: Prix international de l’Académie de la Chanson, Production Perides 13 NP 601, 1968. Montand, Yves: Yves Montand – Chansons (Philips twen Serie, Nr. 20), Philips B 77912 L, 1963. Pascal, Jean-Claude: Porträt in Musik, Electrola SME 74 134, 1968. Vita, Helen: Freche Chansons aus dem alten Frankreich, Vogue Schallplatten LDK 18001, 1963.
Gedruckte Quellen Mey, Reinhard: Was ich noch zu sagen hätte. Köln (Kiepenheuer & Witsch) 2005. Möller, Horst / Hildebrand, Klaus (Hg.): Die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich. Dokumente 1949–1963. Bd. 4: Materialien, Register, Bibliographie (Erschließungsband). München (Saur) 1999.
Internet-Quellen In-House DRC: Maître Gims reçoit une récompense en Allemagne, in: Music in Africa, 14.04.2017, https://www.musicinafrica.net/fr/magazine/ma%C3%AEtre-gims-re%C3%A7oit-uner%C3%A9compense-en-allemagne (Stand: 07.04.2022). Offizielle Deutsche Charts: Zaz, https://www.offiziellecharts.de/album-details-132712 (Stand: 24.01.2022). Schack, Sebastian: Zaz überrumpelt Kieler Publikum, in: Kielerleben, 16.08.2016, https://www. kielerleben.de/news/zaz-ueberrumpelt-kieler-publikum-10011594.html (Stand: 24.01.2022).
Periodika Bravo, Hamburg: 26.07.1965, 21.02.1966, 23.05.1966, 08.08.1966. Der Musikmarkt, Starnberg: 15.02.1960, 15.06.1960, 15.07.1960, 15.06.1961, 15.12.1961, 15.05.1962, 15.07.1964, 15.12.1966, 15.02.1969. Der Spiegel, Hamburg: 30.03.1965. Salut les copains, Paris: 24.06.1964. SR-Informationen, Saarbrücken: 10.–17.06.1972. Twen, München: Juli 1962, Oktober 1964.
„Ein bisschen Goethe, ein bisschen Bonaparte“
Literatur
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Maude Williams, Studium der Fächer Geschichte und Interkulturelle Studien (Deutschland / Frank-
reich) an den Universitäten Metz, Saarbrücken, Lyon und Freiburg im Breisgau, 2013–2016 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität des Saarlandes im DFG-ANR-Projekt „Evakuierungen im deutsch-französischen Grenzraum 1939–1945 / Les évacuations dans l’espace frontalier franco- allemand 1939–1945“, 2016 Promotion im Fach Geschichte an der Universität Tübingen und Sorbonne Université mit dem Titel Kommunikation in Kriegsgesellschaften am Beispiel der Evakuierungen in der deutsch-französischen Grenzregion 1939/40, 2016–2018 Lehrkraft für besondere Aufgabe an der Ruhr-Universität Bochum, 2017–2018 Wissenschaftliche Koordinatorin am Internationalen Zentrum für Kultur- und Technikforschung (Frankreich-Schwerpunkt) der Universität Stuttgart, seit 2018 Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der DFG-FNR-Forschungsgruppe „Populärkultur transnational – Europa in den langen 1960er Jahren“ (Universität des Saarlandes / Université du Luxembourg, C2DH). Forschungsschwerpunkte: europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts; Propaganda im Ersten und Zweiten Weltkrieg; Kriegserfahrungen der Moderne; Populärkultur und Musik in der Nachkriegszeit; deutsch-französische Beziehungen; Geschichtsvergleich; Medien- und Kommunikationsgeschichte.
Fernsehen im Dienst der Völkerverständigung Europäische Koproduktionen in der Fernseh unterhaltung der 1960er-Jahre
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La Télévision, en effet, en raison de son influence, joue un rôle plus important que ne pourrait le faire un enseignement scolaire pour donner à une communauté le sentiment de son existence nationale.1
Diese Auffassung gab ein Verantwortlicher des französischen Fernsehens 1969 bei einer Sitzung des ORTF (Office de radio et de télévision française) zu Protokoll und sie zeigt, dass Fernsehschaffende dem audiovisuellen Medium in den 1960er-Jahren eine große Wirkmacht für die nationale Identitätsbildung zuschrieben. Auch in der Fernsehforschung hat sich die These durchgesetzt, dass das Medium in den 1950erund 1960er-Jahren als nationale Sozialisationsinstanz fungierte.2 Selbst in Studien zum Grand Prix Eurovision de la Chanson – der bekanntesten europäischen Koproduktion im Bereich der Fernsehunterhaltung – konstatieren die Autor:innen, dass die Sendung bis heute starke nationale Züge aufweist, etwa weil sie von den beteiligten Ländern zur nationalen Selbstdarstellung3 und für innen- und außenpolitische Zwecke genutzt wird4 oder weil es sich um einen internationalen Wettstreit handelt, bei dem nationale Zugehörigkeitsvorstellungen eine wesentliche Rolle spielen.5 Der Grand Prix Eurovision de la Chanson entstammt einer Zeit, in der es zu einer verstärkten transnationalen Zusammenarbeit europäischer Fernsehsender gekommen war. Maßgeblich AN 19870378/20: Procès-verbal de la réunion du Comité des programmes de télévision, 16.01.1969. Vgl. Hasebrink / Domeyer: Die Konstruktion europäischer Fernsehpublika (2010), S. 143; Hickethier: Europa und die Wirklichkeiten der Fernsehgesellschaft (2010), S. 159; Bernold: Fernsehen ist gestern (2001), S. 18; Fickers: The Emergence of Television (2012), S. 65. 3 Vgl. Vallant: Eurovision Song Contest (2011), S. 105. 4 Vgl. Wolther: More than Just Music (2012), S. 168; Vuletic: Postwar Europe and the Eurovision Song Contest (2018), S. 54. 5 Vgl. Wolther: More than just Music (2012), S. 170. 1 2
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vorangetrieben wurde diese Entwicklung in den 1950er-Jahren durch die Gründung der European Broadcasting Union (EBU),6 aber auch auf bilateraler Ebene kam es zu Kooperationen, etwa durch den Abschluss eines Fernsehvertrags zwischen RTF (Radiodiffusion-télévision française) und ARD (Arbeitsgemeinschaft der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland) im Jahr 1955 und durch die Gründung eines deutsch-französischen Rundfunkrats (1963).7 Französische und westdeutsche Fernsehschaffende planten bei ihren Treffen unter anderem grenzüberschreitende Koproduktionen im Bereich der Fernsehunterhaltung, mit dem Ziel, „de faciliter le rapprochement entre les français et les allemands en leur apprenant à mieux se connaître“8. Zwei deutsch-französische Sendereihen, die in diesem Kontext entstanden, waren die Musiksendung Rendezvous am Rhein (1964–1966), die später in Europarty (1967–1970) umbenannt wurde, und die Koproduktion Spiel ohne Grenzen (1965–1999). Dieser Beitrag geht der Frage nach, inwiefern diese beiden Sendungen es – im Gegensatz zu den meisten anderen Fernsehprogrammen dieser Zeit – vermochten, nationalkulturelle Grenzen zu überwinden und interkulturelle Verständigung zu fördern. 1.
Rendezvous am Rhein und Europarty
Bei Rendezvous am Rhein handelte es sich um eine Musiksendung, die sich primär an Jugendliche richtete. Initiator und Moderator der Sendung war Albert Raisner. Er hatte schon seit 1961 die französische Jugendsendung Âge tendre et tête de bois moderiert, die internationaler gestaltet war als andere französische Unterhaltungssendungen.9 Dort traten nicht nur viele internationale Künstler:innen auf, sondern es gab auch regelmäßig Live-Schaltungen zu anderen europäischen Jugendsendungen.10 Raisner inszenierte sich in den Medien als interkultureller Mittler, indem er betonte, sich für eine Annäherung der europäischen Jugend einsetzen zu wollen. In einem Interview mit der
Vgl. Fickers: Eventing Europe (2009), S. 399; Zeller: Die EBU (1999), S. 36. Vgl. Rother: Kooperation – Kollaboration – Konkurrenz (2008), S. 266–269, S. 299; Baumann: Fernsehen (2015), S. 231. 8 AN, 20130366/51: Schreiben von Pathé an M. Ollivier, 17.04.1963. 9 Im Rahmen ihrer Dissertation hat die Autorin den Anteil fremdsprachiger Musik in französischen Unterhaltungsshows der 1950er- und 1960er-Jahre ermittelt. Die Auswertung ergab, dass der Anteil fremdsprachlicher Musikdarbietungen in Âge tendre et tête de bois dreimal höher war als in den beliebten Sendungen 36 Chandelles (1952–1958) und La Grande Farandole (1961–1970). Siehe dazu und zu anderen Aspekten dieses Artikels die Dissertation mit dem Titel „Grenzenlose Unterhaltung. Transnationale Verflechtungen und Bilder des Fremden in Unterhaltungsshows im bundesdeutschen und französischen Fernsehen der 1960er Jahre“. 10 Siehe beispielsweise die Live-Schaltung zwischen Mailand, London und Paris in der Sendung vom 23.10.1963, bei der Jugendliche aus den drei Ländern parallel tanzten und sangen, vgl. INA: Âge tendre et tête de bois, RTF, Première Chaîne, 23.10.1963. 6 7
Fernsehen im Dienst der Völkerverständigung
Fernsehzeitschrift Télémagazine erklärte er, er träume von einem „Europe des jeunes qui se comprendraient même sans employer les mêmes mots, qui se reconnaîtraient et s’apprécieraient sans distinction de langage de race ou de nationalité“11. Im Mai 1964 sprachen französische und bundesdeutsche Fernsehschaffende über die Sendung Âge tendre et tête de bois und erörterten, ob sie eine gemeinsam produzierte Unterhaltungssendung für Jugendliche auf den Weg bringen sollten.12 Drei Monate später entstand die Sendung Rendezvous am Rhein, eine Koproduktion zwischen RTF und SWF (Südwestfunk), an der Raisner als Moderator und Regisseur beteiligt war. Während Albert Raisner mit der Sendung einen Beitrag zur europäischen Verständigung leisten wollte, versprachen sich die Verantwortlichen beim SWF und beim französischen Fernsehen jedoch noch andere Vorteile von der Sendung: Das RTF wollte damit demonstrieren, wie präsent französische Künstler:innen in Westdeutschland waren;13 der SWF hoffte dagegen auf eine vergleichsweise günstige Produktion, weil das französische Fernsehen üblicherweise deutlich niedrigere Gagen für beteiligte Künstler:innen zahlte.14 Nachdem 1964 und 1965 die ersten beiden Folgen der Sendung ausgestrahlt worden waren, beteiligten sich 1966 auch der Schweizer Fernsehsender Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG) und das österreichische Fernsehen an der Koproduktion. Wenig später kamen außerdem das tschechisch-slowakische Fernsehen (1967) sowie der belgische Fernsehsender Radiodiffusion-télévision belge (RTB) im Jahr 1968 und das spanische Fernsehen (1970) hinzu, sodass die Sendereihe schließlich 1967 in Europarty umbenannt wurde.15 Von Beginn an hatten die Sendungen einen sehr internationalen Charakter. Da Albert Raisner fließend sieben verschiedene Sprachen beherrschte,16 war es ihm möglich, die Sendung mehrsprachig auf Deutsch, Französisch und Italienisch zu moderieren. Anders als bei vielen anderen Eurovisionssendungen17 waren Ton und Bild also für alle Rezipient:innen identisch, sodass die Möglichkeit für ein kollektives transnationales Fernseherlebnis gegeben war. Den Schwerpunkt der Sendung machten die Auftritte zahlreicher internationaler Interpret:innen aus und daneben wurde stets für den europäischen Gedanken geworben. Schon die Namen Rendezvous am Rhein und Europarty standen symbolisch für grenzüberschreitende Begegnungen. Gleich in der ersten Sendung wurde bildhaft auf den Titel Bezug genommen: Gezeigt wurde, wie französische
„Empereur des ‚Yé-Yé‘ Albert Raisner, est docteur ès lettres“, in: Télémagazine, 10.04.1965, S. 7–9. Vgl. WDRA, 13456: Protokoll über die Arbeitssitzung Nr. 3 zwischen ARD, ZDF und RTF, Frankfurt am Main, 05.05.1964. 13 Vgl. SWRA, P 10122: Schreiben von Dr. Ruge (Honorar- und Lizenzabteilung des SWF) an Herrn Benz, 16.09.1967. 14 Vgl. ebd. 15 Vgl. SWRA, P 10125: Europarty, Informationsgespräch, Montreux, 30.04.1969; SWRA, P 10126: CoProduktionsvertrag zur Sendung Europarty, 29.04.1970. 16 Vgl. „Empereur des ‚Yé-Yé‘ Albert Raisner, est docteur ès lettres“, in: Télémagazine, 10.04.1965, S. 7–9. 17 Vgl. Fickers: Eventing Europe (2009), S. 403. 11 12
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Jugendliche mit dem Schiff den Rhein – und damit die deutsch-französische Grenze – überquerten und von deutschen Jugendlichen freudig begrüßt wurden.18 Kurz danach wurden Aufnahmen aus den Städten Hamburg und Marseille gezeigt: Zunächst trat Freddy Quinn vor der Kulisse des Hamburger Hafens auf, dann wurde Charles Aznavour aus Marseille eingeblendet und schließlich kamen beide Künstler am Hafen von Marseille zusammen.19 Dass ausgerechnet die Städte Hamburg und Marseille für die Ausstrahlung ausgewählt wurden, war kein Zufall, denn die beiden Städte waren seit 1958 durch eine Städtepartnerschaft miteinander verbunden,20 was wiederum auf die deutsch-französische Verständigung rekurrierte. Immer wieder waren in den Sendungen außerdem Jugendliche aus unterschiedlichen Ländern zu sehen, die – passend zum Titel Europarty – gemeinsam zur dargebotenen Musik tanzten.21 Um das Bild von freundschaftlicher Verbundenheit besonders in Szene zu setzen, animierten die Regisseure die jungen Gäste der Sendung dazu, sich vor der Kamera besonders begeistert und ausgelassen zu präsentieren.22 Darüber hinaus wurden in den Sendungen immer wieder grenzüberschreitende Projekte zur Sprache gebracht. So regte Albert Raisner in der Sendung vom 28. Juli 1965 zur Gründung von Partnerschaften zwischen deutschen und französischen Schulen an, um die deutsch-französische Verständigung weiter voranzutreiben.23 Zwar war Raisners Idee nicht neu – schon seit den 1950er-Jahren war es im Rahmen von Städtepartnerschaften zu Kontakten zwischen der deutschen und französischen Zivilgesellschaft gekommen24 –, doch indem Raisner im Fernsehen auf derartige Projekte hinwies, lenkte er die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf dieses Thema. Stellenweise arbeiteten die Sender zudem mit deutsch-französischen Verbänden zusammen. 1968 entstand beispielsweise die Idee, junge Gäste aus verschiedenen Ländern in die Sendung einzuladen, um mit ihnen über aktuelle Fragen und Probleme von Jugendlichen zu sprechen. Unterstützt wurden die Fernsehanstalten dabei vom Deutsch-Französischen Jugendwerk.25 Schließlich ebnete die Sendereihe den Weg für interkulturelle Kontakte zwischen europäischen Jugendlichen. Die Szene wurde in einem Fernsehstudio des SWF aufgenommen, der Rhein und das Schiff waren lediglich Hintergrundkulissen, vgl. SWRA, P 10122: Rendezvous am Rhein, Sendemanuskript, 23.11.1964, ausgestrahlt am 09.12.1964. 19 Vgl. ebd. 20 Vgl. Stadt Hamburg: Städtepartnerschaft mit Marseille. 21 Siehe dazu u. a. SWRA, P 10122: Rendezvous am Rhein, Sendemanuskript, 23.11.1964, ausgestrahlt am 09.12.1964; SWRA: Europarty, SWF, 17.10.1967, 00:00:00–00:02:30; ebd.: Europarty, SWF, 26.03.1968, 00:48:48–00:49:45. 22 Das wird in einem Schreiben einer jungen Deutschen deutlich, die als Zuschauerin bei einer der Ausstrahlungen beteiligt gewesen war und sich über das vehemente Vorgehen des Produktionsteams geärgert hatte, vgl. SWRA, P 19561: Schreiben einer Zuschauerin an den SWF, 29.09.1966. 23 Vgl. SWRA, P 10122: Schreiben des Bürgermeisters von Schwarzenbek an den SWF, 03.08.1965. 24 Die erste Städtepartnerschaft entstand 1950 zwischen Ludwigsburg und Montbéliard. Ab 1958 kam es zu einem sprunghaften Anstieg der Städtepartnerschaften, vgl. Filipová: Erfüllte Hoffnung (2015), S. 131 f. 25 Vgl. SWRA, P 10123: Schreiben von Günter Gaus an Monsieur Jolivald (ORTF), 13.09.1968; ebd.: Schreiben von Günter Gaus an André-Marie Gérard (Inspecteur Général ORTF), 22.07.1968. 18
Fernsehen im Dienst der Völkerverständigung
In den ersten beiden Ausgaben von Rendezvous am Rhein sprach Raisner über grenzüberschreitende Brieffreundschaften und forderte die Zuschauer:innen auf, sich bei Interesse an die beteiligten Rundfunkanstalten zu wenden.26 In der Folge erhielten die Sender über 20.000 Zuschriften von Jugendlichen, die um die Vermittlung eines Brieffreundes oder einer Brieffreundin aus dem Nachbarland baten.27 Obwohl es sich zu diesem Zeitpunkt noch um eine Koproduktion zwischen Deutschland und Frankreich handelte, meldeten sich auch Jugendliche aus anderen europäischen Ländern.28 Die Resonanz zeigt, dass die Sendung in Europa durchaus eine gewisse Reichweite hatte. Das belegen auch die Umfragen zur Sendereihe: Obwohl diese sich vorwiegend an ein ausgewähltes Publikum richtete, erreichte sie sowohl in der Bundesrepublik als auch in Frankreich durchschnittliche bis hohe Sehbeteiligungswerte und wurde von den Rezipient:innen gut bewertet.29 Von den bundesdeutschen Umfrageinstituten wurden nicht nur quantitative Daten erhoben, sondern die Rezipient:innen wurden darüber hinaus gebeten, ihre Eindrücke zur Sendereihe zu schildern. Die Befragten hoben dabei lobend den „völkerverbindenden“30 Charakter der Shows hervor und waren der Ansicht, die Sendereihe leiste einen wichtigen Beitrag zur deutsch-französischen Annäherung.31 Dies war auch der Tenor der Zuschriften der Zuschauer:innen, die bei den beteiligten Rundfunksendern eingingen. Darin hieß es unter anderem: „Ein guter Einfall, das zu verwirklichen, das [sic!] die Politiker unserer beider Staaten bereits vorgebahnt haben, nämlich die deutsch-französische Freundschaft zu fördern.“32 Raisners Idee, mit der Sendung zur europäischen Annäherung beizutragen, schien also aufzugehen.
Vgl. SWRA, P 10072, Mappe 1: Schreiben der Herren Aeckerle und Pröttel (SWF) an Philippe Albanese, 12.10.1966. 27 Vgl. ebd. 28 Vgl. SWRA, P 10072, Mappe 2: Schreiben von Dieter Pröttel (Regisseur der Sendung Rendezvous am Rhein), an einen Fernsehzuschauer aus Lüneburg, 08.06.1965. Hierbei handelt es sich um ein Antwortschreiben. Offenbar hatte sich der Zuschauer irritiert gezeigt, weil ihm ein Briefpartner aus der Tschechoslowakei vermittelt worden war, obwohl es sich um eine deutsch-französische Sendung handelte. 29 Vgl. u. a. DRA, A 53/244: Infratest Abendprogramm, Rendez-vous am Rhein, 09.12.1964 (Sehbeteiligung 52 %, Bewertungsindex +2); DRA, A 53/178: Infratest Abendprogramm, Rendez-vous am Rhein, 02.06.1966 (Sehbeteiligung 36 %, Bewertungsindex +3); DRA, A 53/188: Infratest Abendprogramm, Europarty, 02.06.1966 (Sehbeteiligung 55 %, Bewertungsindex +2); DRA, A 53/199: Infratest Abendprogramm, Europarty, 26.03.1968 (Sehbeteiligung 54 %, Bewertungsindex +1); AN, 19870589/23: Rapport sur l’audience et l’opinion des téléspectateurs, Rendez-vous sur le Rhin, 09.12.1964 (Audience 55 %, Indice d’intérêt 48); AN, 19870589/23: Rapport sur l’audience et l’opinion des téléspectateurs, Rendez-vous sur le Rhin, 12.10.1966 (Audience 56 %, Indice d’intérêt 43); AN, 19870589/26: Rapport sur l’audience et l’opinion des téléspectateurs, Europarty, September 1967 (Audience 29 %, Indice d’intérêt 51); AN, 19870589/23: Rapport sur l’audience et l’opinion des téléspectateurs, Europarty, 24.07.1968 (Audience 24 %, Indice d’intérêt 64). 30 DRA, A 53/172: Infratest Abendprogramm, Rendez-vous am Rhein, 28.07.1965. 31 Vgl. DRA, A 53/190: Infratest Abendprogramm, Europarty, 17.10.1967. 32 SWRA, P 10072, Mappe 1: Zuschauerzuschrift an den SWF, ohne Datum. 26
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Spiel ohne Grenzen / Jeux sans frontières
Etwa zeitgleich zu Rendezvous am Rhein entstand die Sendung Spiel ohne Grenzen, die im Französischen den Titel Jeux sans frontières trug. Dabei handelte es sich um eine Spielshow, bei der Mannschaften aus verschiedenen europäischen Städten in meist sportlichen und häufig sehr albernen Wettkämpfen gegeneinander antraten. Aus transnationaler Perspektive ist die Sendereihe gleich in mehrfacher Hinsicht interessant: Nicht nur entstanden durch die Sendung interkulturelle Kontakte, sie ist außerdem ein Beispiel für transnationalen Formattransfer im Bereich der Fernsehunterhaltung. Vorläufer von Jeux sans frontières war nämlich die italienische Sendung Campanile Sera, in der Teams aus verschiedenen italienischen Städten gegeneinander antraten. Das Format wurde 1962 vom französischen Fernsehen unter dem Namen Intervilles übernommen und erfreute sich dort großer Beliebtheit.33 Die Idee zu einer Sendung mit internationalen Städtewettkämpfen kam ein Jahr später von Charles de Gaulle, der damit die deutsch-französische Annäherung vorantreiben wollte.34 Wenige Monate nach Unterzeichnung des Élysée-Vertrags kam das Projekt während eines Treffens zwischen dem französischen Informationsminister und dem Chef des Presseamtes der Bundesregierung zur Sprache.35 Hinter der Sendung stand also ein klar formuliertes politisches Ziel und die Initiatoren waren zunächst nicht Fernsehschaffende, sondern Politiker, was für Unterhaltungssendungen ungewöhnlich war und zeigt, dass populärkulturellen Produkten durchaus etwas Politisches eingeschrieben sein kann.36 Nach einiger Vorbereitungszeit wurde die Sendung 1965 erstmals ausgestrahlt und entwickelte sich schnell zu einem europäischen Projekt, denn in den Folgejahren schlossen sich weitere Länder der Eurovisionssendung an.37 Insgesamt wurde die Sendung noch bis Ende der 1990er-Jahre ausgestrahlt, ab 1981 allerdings ohne deutsche Beteiligung. Vor allem in den Anfangsjahren stand der europäische Gedanke im Mittelpunkt und die Sendereihe entwickelte sich zu einem interkulturellen Begegnungsraum: Erstens erhielten die Zuschauer:innen während der Sendung Informationen zur Lebensweise oder zu den kulturellen Besonderheiten anderer Länder. Zu Beginn jeder Übertragung wurden die teilnehmenden Städte beispielsweise in kurzen Filmsequen-
Vgl. „Entretiens avec Emmanuel Robert“, in: Bulletin du comité d’histoire de la télévision 19, März – April 1989, S. 49–56, hier S. 54. 34 Vgl. ebd. 35 Vgl. AN, 20130366/51: Bericht über ein Treffen zu den Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der RTF im Bereich des Fernsehens, Frankfurt am Main, 23.03.1964. 36 Vgl. Hüser: Westdeutsches ‚Demokratiewunder‘ und transnationale Musikkultur (2017), S. 307. 37 Zwischen 1965 und 1999 beteiligten sich Mannschaften und Rundfunkanstalten aus Westdeutschland, Frankreich, Italien, Belgien, der Schweiz, Großbritannien, den Niederlanden, Liechtenstein, Jugoslawien, Portugal, Spanien, San Marino, Wales, der Tschechoslowakei, Tunesien, Griechenland, Ungarn, Tschechien, Slowenien und Malta. 33
Fernsehen im Dienst der Völkerverständigung
zen vorgestellt38 und in den Anfangsjahren traten die Teilnehmer:innen nicht nur bei sportlichen Wettkämpfen gegeneinander an, sondern sie mussten bei einem Quiz ebenfalls ihr Wissen über Europa unter Beweis stellen, indem sie Fragen aus den Bereichen Geografie, Politik, Wirtschaft oder Kunst und Literatur beantworten mussten.39 Zweitens wurde medial ein Bild europäischer Verbundenheit und grenzüberschreitender Verständigung transportiert. Schon im Intro der Sendung wurde eine animierte Europakarte eingeblendet, auf der keine Ländergrenzen eingezeichnet waren. Ebenso wie durch den Titel der Sendung wurde so die Botschaft vermittelt, dass nationale und kulturelle Barrieren überwunden werden sollten. In diesem Sinne betonten die Moderator:innen und Kommentator:innen stets, es gehe um freundschaftliche Wettkämpfe im Sinne der Völkerverständigung und nicht um erbitterte Kämpfe zwischen verschiedenen Nationen. So erklärte der Moderator Camillo Felgen in der ersten Ausgabe der Sendung: „Dieses Spiel soll beileibe kein Wettstreit der Nationen sein, sondern es soll Bürger europäischer Staaten über bestehende Grenzen hinweg einander näherbringen. […] Hier begegnen sich heute sportlich und friedlich Deutschland und Frankreich.“40 Auch die Bürgermeister der beteiligten Städte kamen in den Sendungen zu Wort und nutzten diese Gelegenheit, um für die europäische Annäherung zu werben. Der Bürgermeister von Arcachon schwärmte am 1. Juni 1966 beispielsweise begeistert vom deutsch-französischen Freundschaftsvertrag.41 Drittens brachte Spiel ohne Grenzen Personen unterschiedlicher Nationen zusam men. Die Verantwortlichen der unterschiedlichen europäischen Fernsehsender mussten bei der Produktion der Sendung eng zusammenarbeiten und dabei kam es immer wieder zu Schwierigkeiten und Spannungen: Das französische Fernsehen forderte vom WDR (Westdeutscher Rundfunk) etwa mehr Flexibilität bei der Vorbereitung der Sendungen, die WDR-Verantwortlichen wiederum taten sich schwer mit der Sprunghaftigkeit der französischen Kolleg:innen.42 Ein immer wiederkehrendes Pro blem war der Sendetermin, denn in jedem Land gab es – bedingt durch die unterschiedliche Programmstruktur und den unterschiedlichen Lebensalltag – eine andere Prime Time.43 Dass bei der Zusammenarbeit Missverständnisse oder interkulturelle In der Sendung vom 26.05.1965 traten zum Beispiel die Städte Warendorf und Dax gegeneinander an und die Zuschauer:innen bekamen durch die Filmaufnahmen einen Eindruck von den Traditionen des französischen Baskenlands sowie von der Geschichte der Stadt Warendorf und des Münsterlandes, vgl. WDRA: Spiel ohne Grenzen, WDR, 26.05.1965. 39 In der Sendung vom 26.05.1965 mussten die Spieler:innen zum Beispiel die Bevölkerungsdichte unterschiedlicher europäischer Länder einschätzen und Fragen zu bekannten europäischen Autoren beantworten, vgl. WDRA: Spiel ohne Grenzen, WDR, 26.05.1965, 00:31:30–00:54:33. 40 WDRA: Spiel ohne Grenzen, WDR, 26.05.1965, 00:04:15–00:04:21. 41 Vgl. INA: Jeux sans frontières, ORTF, Première Chaîne, 01.06.1966, 21:07:21–21:07:30. 42 Vgl. WDRA, 7462: Schreiben von Guy Lux (ORTF) an Marita Theile (WDR) und León Citron, 13.05.1965; ebd.: Schreiben von Marita Theile an Guy Lux, 18.05.1965. 43 Die Sendereihe wurde jeweils mittwochs um 21:00 Uhr ausgestrahlt. In der Bundesrepublik begann das Hauptabendprogramm jedoch um 20:15 Uhr nach der Tagesschau. In Westdeutschland wurde von den 38
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Schwierigkeiten entstanden, musste der Idee europäischer Annäherung jedoch nicht unbedingt entgegenstehen. Schließlich tragen solche Konflikte langfristig zu einem größeren kulturellen Verständnis der Beteiligten bei. Neben den Kontakten zwischen den Produzent:innen kam es zu interkulturellen Begegnungen zwischen Jugendlichen aus den verschiedenen beteiligten Städten. Die meist jungen Spieler:innen trafen nicht nur bei der Ausstrahlung der Sendung aufeinander, sondern bereits in den Tagen zuvor bei den stundenlangen Proben44 sowie bei öffentlichen Empfängen oder bei Ausflügen und gemeinsamen Essen, die von der Gastgeberstadt organisiert wurden. Als die Sendung 1970 in Namur (Belgien) stattfand, schlug der RTB beispielsweise gemeinsame Mahlzeiten der Mannschaften vor, mit dem Ziel „[de] permettre aux concurrents de mieux se connaître“45. Hinzu kam, dass für die Produktion von Spiel ohne Grenzen Jugendliche aus den beteiligten Städten zu den Austragungsorten fuhren, um ihre Heimatstädte anzufeuern. 1965 reisten zusätzlich zu den Kandidat:innen, den Dolmetschern und dem Bürgermeister 100 Jugendliche aus Warendorf nach Dax.46 1968 berichteten die Kommentatoren einer Sendung in Brüssel bereits von tausenden Zuschauer:innen, darunter 500 Unterstützer:innen aus der deutschen Stadt Osterholz-Scharmbeck47 und 1970 waren in Verona über 20.000 Zuschauer:innen bei der Ausstrahlung zugegen.48 Offenbar zog die Sendung also ein zunehmend größeres Publikum an. Wie Berichte von Teilnehmer:innen verdeutlichen, wurden die interkulturellen Kontakte, die durch Spiel ohne Grenzen entstanden, in der Tat häufig sehr positiv bewertet. Mehrfach berichteten die Beteiligten, dass durch die Begegnungen grenzüberschreitende Freundschaften entstanden seien, die mitunter zu der Gründung von Städtepartnerschaften und sogar zu Eheschließungen führten.49 Die Erfahrungsberichte der Jugendlichen wurden in einigen Fällen in der regionalen Presse abgedruckt und Fernsehschaffenden und der Presse an der späten Sendezeit Kritik geübt, mit der Begründung, diese sei für Kinder – an die sich die Sendung unter anderem richtete – zu spät, vgl. WDRA 302: Abteilung Unterhaltung Fernsehen, Bericht über die Sitzung ‚Spiel ohne Grenzen‘ am 02.02.1966 in Köln; WDRA 7469: Presseausschnitt, Kirche und Fernsehen, 19.09.1966; WDRA 7474: Presseausschnitt, Kölner Rundschau, 15.06.1967. Hinzu kam, dass sich der Mittwochabend in Frankreich als fester Sendeplatz für Unterhaltungs- und Familiensendungen etabliert hatte, in der Bundesrepublik und in den Niederlanden wurden große Spiel- und Unterhaltungsshows dagegen am Wochenende ausgestrahlt. Daher forderten die niederländischen Produzent:innen, die Sendung auf einen anderen Tag zu verlegen, vgl. WDRA 329: Internationale Konferenz zur Sendereihe Spiel ohne Grenzen, 1970. 44 Vgl. WDRA, 298: Tagesdisposition Spiel ohne Grenzen, Ciney – Warendorf, 18.08.1965. 45 AN, 19910120/186: Jeux sans frontières, Treffen in Lugano, 18./19.02.1970. 46 Vgl. WDRA, 298: Nachricht der FS-Aufnahmeleitung an den Verteiler des WDR-Produktionsteams, 06.05.1965. 47 Vgl. WDRA: Spiel ohne Grenzen, WDR, 11.09.1968, 00:09:28–00:09:31 und 00:11:25–00:11:33, Kommentar von Camillo Felgen und Tim Elstner. 48 Vgl. ebd.: Spiel ohne Grenzen, WDR, 16.09.1970, 00:03:37, Kommentar von Camillo Felgen und Tim Elstner. 49 Vgl. u. a. WDRA, 7468: „‚Spiel ohne Grenzen‘ endete mit einem Sennestädter Sieg. Freundschaftliche Bande zwischen Huy und Sennestadt sind geknüpft“, in: Westfalen Blatt, 23.08.1966; WDRA, 7476: Informationsschreiben des WDR, 21.09.1967.
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damit der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Voller Euphorie schilderte einer der Kandidaten 1965 in den Westfälischen Nachrichten seine Eindrücke von seinem Aufenthalt in Frankreich und schrieb der Reise dabei eine große Bedeutung für die deutsch-französische Aussöhnung zu: Ich gewinne immer mehr den Eindruck, daß Jugendliche die geeigneten Botschafter sind. Jenseits aller politischen Schachzüge, frei von diplomatischen Erwägungen und der Belastung persönlicher Schuld aus unheilvollen Jahren, können sie sich frei und ungezwungen bewegen, können demonstrieren, daß die Deutschen der sechziger Jahre keine Halsabschneider sind. Fürwahr – und das ist keine Phrase – eine Tour de Paix, eine Friedensreise: Wir sind glücklich – besonders die Älteren von uns – wenn Franzosen im Gespräch erklären, daß es besser sei, die Vergangenheit zu vergessen, Vernunft und Einsicht herrschen zu lassen und gemeinsam eine europäische Völkerfamilie anzustreben.50
Interkulturelle Kommunikation kam bei Spiel ohne Grenzen also auf zwei Ebenen zum Ausdruck. Einerseits entstanden direkte Kontakte zwischen den Produzent:innen und den Teilnehmer:innen. Andererseits ist die Sendung ein Beispiel für eine mediatisierte Form interkultureller Kommunikation:51 Den Zuschauer:innen wurde interkulturelles Wissen vermittelt und die interkulturellen Annäherungen zwischen den Spieler:innen wurden in der Sendung selbst sowie in der Presse medial transportiert und positiv als Akt der Völkerverständigung in Szene gesetzt. Obwohl das Konzept der Sendung auf grenzüberschreitender Zusammenarbeit und europäischer Annäherung basierte, konnten nationale Denkmuster jedoch nicht vollkommen überwunden werden. Das zeigt sich zum einen in der Reproduktion nationaler Stereotype, etwa wenn die Kommentator:innen gesellschaftlich verbreitete nationale Klischees aufgriffen. Sowohl die deutschen als auch die französischen Kommentator:innen bezeichneten die Italiener:innen zum Beispiel als besonders temperamentvoll und theatralisch.52 Manchmal entwickelten sich die freundschaftlich gemeinten Spiele zum anderen zu „todernste[n] Wettkämpfe[n] im Dienste der Fremdenverkehrswerbung für die eigene Gemeinde, bei denen sich bisweilen Lokalpatriotismus mit unterschwelligem Nationalismus verband“53. Nicht selten entfaltete sich bei den Spieler:innen ein großer sportlicher Ehrgeiz und sie wurden von den Zuschauer:innen als nationale Repräsentant:innen gesehen. Selbst einige Produzent:innen hatten das ursprüngliche Ziel offenbar vollkommen aus dem Blick verloren, denn sie versuchten, den eigenen Mannschaften Vorteile zu verschaffen und ihnen so zum Einzug ins Finale zu verhelfen. 1965 fragte einer der italienischen Verantwortlichen
WDRA, 7462: „4000 Kilometer für die Freundschaft“, in: Westfälische Nachrichten, 02.06.1965. Vgl. Lüsebrink: Interkulturelle Kommunikation (2016), S. 8. Vgl. WDRA: Spiel ohne Grenzen, WDR, 23.08.1975, 01:10:00–01:10:30; INA: Jeux sans frontières, Antenne 2, 12.09.1982, 00:15:00. 53 Hallenberger: Vom Quiz zur Game Show (1994), S. 50. 50 51 52
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etwa seinen deutschen Kollegen, was dieser von einem „diplomatischen Geheimabkommen zwischen Deutschland und Italien“ halte, um „Frankreich im Halbfiale auszuschalten“54. Vor allem ab 1967 trat das Nationale immer deutlicher in den Vordergrund. Auf den Trikots der Teams wurde nun nicht mehr deren Herkunftsstadt, sondern die Nationalität kenntlich gemacht, auf der Europakarte im Vorspann waren plötzlich Ländergrenzen eingezeichnet, und es etablierte sich am Ende der Sendung eine Siegerehrung, bei der die Nationalflaggen gehisst wurden. Gerade die Kommentator:innen beförderten im Eifer des Gefechts nationale Denkmuster. Wurde in den Anfangsjahren noch von der „Warendorfer Mannschaft“ oder „den Spielern aus Arcachon“55 gesprochen, war bald nur noch die Rede von den „Franzosen“, der „belgischen Mannschaft“ und der „deutschen Kandidatin“56. Insbesondere die französischen Kommentator:innen Guy Lux und Simone Garnier scheuten sich nicht, ihrer Enttäuschung über Niederlagen, ihrer Entrüstung über eine vermeintliche Benachteiligung der französischen Teams oder ihrer Freude über den Sieg einer französischen Mannschaft Ausdruck zu verleihen. Häufig verwendeten sie dabei Begriffe, die dem Wortfeld „Nation“ zuzuordnen sind. Den Misserfolg der Mannschaft aus Chartres in Paris bezeichneten sie zum Beispiel als „catastrophe nationale“57, nach der Niederlage des Teams aus Dax tröstete Guy Lux die Zuschauer:innen mit den Worten: „Il y aura bien-sûr d’autres villes pour remettre l’honneur nationale.“58 Der europäische Verständigungscharakter von Spiel ohne Grenzen ist also durchaus ambivalent zu bewerten: Einerseits wurde sich für die internationale Annäherung eingesetzt, andererseits spielten nationale Zugehörigkeitsvorstellungen weiterhin eine Rolle. Dieses Phänomen, das sich auch bei anderen internationalen Wettkampfstätten im Sport- und Kulturbereich beobachten lässt, bezeichnet Reicher – anknüpfend an Billigs Theorie des banalen Nationalismus59 – als banalen Internationalismus.60 Schließlich verdeutlicht auch ein Blick auf die Rezeption der Sendung, dass sich nationale Kontextfaktoren bei internationalen Koproduktionen nicht ausblenden ließen. Wie Befragungen von Zuschauer:innen belegen, wurde die Sendung in Westdeutschland sehr gut aufgenommen.61 Vielfach wurde der europäische Gedanke von
WDRA, 7464: Schreiben von Otto Rock an Hannes Hoff, 22.07.1965. WDRA: Spiel ohne Grenzen, WDR, 26.05.1965, 00:19:00–00:19:13. Vgl. u. a. ebd.: Spiel ohne Grenzen, WDR, 14.06.1967; ebd.: Spiel ohne Grenzen, WDR, 20.08.1969; ebd.: Spiel ohne Grenzen, WDR, 16.09.1970. 57 INA: Jeux sans frontières, ORTF, Deuxième Chaîne, 15.09.1973, 01:16:05. 58 INA: Jeux sans frontières, ORTF, Première Chaîne, 26.05.1965, 21:20:55–21:21:15. 59 Vgl. Billig: Banal Nationalism (1995). 60 Vgl. Reicher: Der banale Internationalismus (2011), S. 329. 61 Vgl. u. a. WDRA, 7465: Abendprogramm, Spiel ohne Grenzen, 18.08.1965 (Sehbeteiligung 51 %, Bewertungs-Index +6); WDRA, 7479: Infratest Abendprogramm, Spiel ohne Grenzen, 25.06.1969 (Sehbeteiligung 51 %, Bewertungs-Index +5). 54 55 56
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den Rezipient:innen sowie in Presserezensionen anerkannt.62 In Frankreich war die Sendung dagegen weniger erfolgreich: Zwar erreichte sie in den ersten zwei Jahren der Ausstrahlung noch sehr gute Sehbeteiligungswerte, mit den Jahren nahm das Interesse der Zuschauer:innen allerdings deutlich ab.63 Wiederholt wiesen die französischen Produzent:innen in der Öffentlichkeit oder im Gespräch mit ihren französischen und ausländischen Kolleg:innen darauf hin, dass die Sendungen in Frankreich meist eine geringere Sehbeteiligung erreichten als in anderen Ländern.64 Das lag in erster Linie daran, dass es in Frankreich mit der Sendung Intervilles bereits ein ähnliches Sendeformat gegeben hatte, das parallel zu Jeux sans frontières weiterhin ausgestrahlt und in der Regel von Kritiker:innen besser bewertet wurde.65 Vor allem wurde bemängelt, dass das internationale Format an Esprit und Unbeschwertheit verloren hätte, es an Spontaneität und amüsanten Zwischenfällen fehle.66 Unter anderem wurde dies darauf zurückgeführt, dass sich emotional aufgeladene Situationen, die durch den Lokalpatriotismus der Teilnehmer:innen angeheizt würden, in Jeux sans frontières weitaus seltener ereigneten, weil alle Beteiligten vorsichtiger agierten. In Le Monde hieß es 1965 etwa: Le principe du jeu n’a pas changé, mais l’esprit de l’émission est, par la force des choses, totalement différent. Au lieu d’exciter les rivalités de clocher, il faut ménage: les susceptibilités nationales. Les incidents qui prenaient si vite d’une province à l’autre, un caractère spectaculaire, doivent être soigneusement évités. Nos animateurs patentés, qui ont perdu leur superbe et leur insolence, ont l’air de marcher sur les œufs. La compétition est sage, très sérieuse. On allie le sport à la diplomatie.67
Sehr deutlich zeigt sich hier an den unterschiedlichen Reaktionen in Deutschland und Frankreich, dass Medien von Rezipient:innen unterschiedlich angeeignet werden und dass diese individuelle Medienaneignung im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen gesehen werden muss, da diese ein gemeinsames Bezugssystem bei der Kodierung und Dekodierung von Medieninhalten darstellen.68
Vgl. u. a. WDRA, 7462: Zuschauerbrief an den WDR, 04.06.1965; WDRA, 7465: Infratest Abendprogramm, Spiel ohne Grenzen, 02.10.1965. 63 Vgl. u. a. AN, 19870589/23: Rapport sur l’audience et l’opinion des téléspectateurs, Jeux sans frontières, 28.06.1966 (Audience 61 %); AN, 19870589/26: Rapport sur l’audience et l’opinion des téléspectateurs, Jeux sans Frontières, 08.09.1972 (Audience 30 %). 64 Vgl. „Les français boudent ‚Jeux sans frontières‘ parce-que leurs représentants perdent toujours“, in: Télémagazine, 05.08.1972, S. 16–17; AN, 19870378/21: Procès-verbal de la réunion du Comité des programmes de télévision, 04.05.1972. 65 Vgl. AN, 19880562/4: Synthèse du courrier des auditeurs et des téléspectateurs, rapports mensuels, Januar – Dezember 1967; INA, 12854/17, Dossier Nr. 24: „Intervilles 70“, in: Midi Libre, 31.07.1970; ebd.: „Le marché commun de la sottise“, in: La Presse de la Manche, 17.09.1971. 66 Vgl. ebd.: „Jeux sans frontières“, in: Le Figaro, 16.09.1971. 67 Vgl. „Jeux sans frontières“, in: Le Monde, 12.06.1965. 68 Vgl. Hall: Kodieren / Dekodieren (2001), S. 107–109. 62
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3. Fazit
Gerade diese Erkenntnis erschwert jedoch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Medienwirkungen im Allgemeinen und im Speziellen die Beantwortung der Frage, ob Koproduktionen wie Spiel ohne Grenzen und Europarty tatsächlich einen Beitrag zur europäischen Verständigung geleistet haben. Ein Forschungsansatz, der es ermöglicht, sich dieser Problematik anzunähern, stammt von Christina von Hodenberg. Diese wirbt für einen Indizienbeweis, um gesellschaftliche Wirkungen elektronischer Massenmedien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu erforschen, und orientiert sich an vier Faktoren: Reichweiten, standing, agenda-setting und framing.69 Was die Punkte agenda-setting und framing betrifft, gab es zwischen Spiel ohne Grenzen und Rendezvous am Rhein / Europarty viele Parallelen: Die Produzent:innen beider Sendereihen traten für die europäische Annäherung ein, die in den 1960er-Jahren auf politischer Ebene sowie von zivilgesellschaftlichen Akteur:innen vorangetrieben wurde.70 Indem sie den Zuschauer:innen dieses Thema ins Bewusstsein rückten, fungierten die beiden Koproduktionen als Verstärker. Dabei wurde Europa als Wertegemeinschaft verstanden und insbesondere der Jugend wurde eine große Bedeutung für den Weg zu einem geeinten Europa zugeschrieben. Ausgeblendet wurden hingegen Themenfelder, die negativ besetzt waren: Weder wurden in den Sendungen die vergangenen Kriege noch der schwelende Ost-West-Konflikt angesprochen. Dass den Zuschauer:innen in beiden Formaten ein geschöntes Bild von Europa vermittelt wurde, ist für die Aneignung der Sendungen bedeutsam, da Medien-frames beeinflussen, wie Rezipient:innen Sachverhalte wahrnehmen.71 Unterschiede gab es dagegen hinsichtlich der Reichweite der beiden Sendungen: Spiel ohne Grenzen war deutlich erfolgreicher und langlebiger als die Sendungen Rendezvous am Rhein und Europarty. Bis heute bestehen in mehreren Ländern Fan-Portale, deren Mitglieder miteinander vernetzt sind und sich für eine Wiederauflage von Spiel ohne Grenzen stark machen,72 was darauf hindeutet, dass Spiel ohne Grenzen in das kollektive Gedächtnis der europäischen Zuschauer:innen eingegangen ist. Aussagekräftig für die Wirkung von populären Medienprodukten ist allerdings nicht nur deren Reichweite, sondern ebenfalls ihr gesellschaftliches standing, also der Stellenwert, den Zeitgenoss:innen den Medien zuschrieben.73 Die Rezipient:innen beider Koproduktionen gaben an, die Sendungen würden zur europäischen Annäherung beitragen. Bei Spiel ohne Grenzen fand sich diese Wahrnehmung auch in Presse-
Vgl. Hodenberg: Expeditionen in den Methodendschungel (2002), S. 43. Vgl. zum deutsch-französischen Freundschaftsvertrag und zur europäischen Integration u. a. Fuhr / Haß: Eine Freundschaft für Europa (2013); Loth: Europas Einigung (2020). 71 Vgl. Hodenberg: Expeditionen in den Methodendschungel (2002), S. 45. 72 Vgl. JSFNET: Jeux sans Frontières; JSFNET / Italia: Giochi senza frontiere. 73 Vgl. Hodenberg: Expeditionen in den Methodendschungel (2002), S. 44. 69 70
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berichten und in den Diskursen der Produzent:innen wieder. Rendezvous am Rhein und Europarty waren zwar ebenfalls mit dem gleichen Ziel initiiert worden, doch die Presse schenkte der Sendereihe keine große Beachtung und auch die Äußerungen der Produzent:innen waren weit weniger euphorisch, als dies bei Spiel ohne Grenzen der Fall war. Beides spricht dafür, dass Spiel ohne Grenzen eine größere Wirkung entfalten konnte als die Sendungen Rendezvous am Rhein bzw. Europarty. Allerdings gingen alle genannten Sendungen mit direkten interkulturellen Begegnungen einher, die über den medialen Rahmen hinausgingen und nicht zu unterschätzen sind. Kontakte wie Brieffreundschaften oder Städtepartnerschaften, die durch die Sendungen langfristig entstanden, sind ein Indiz dafür, dass beide Sendungen es vermochten, zur europäischen Verständigung beizutragen. Wie diese Beispiele europäischer Koproduktionen zeigen, können populärkulturelle Produkte also als interkulturelle Mittler fungieren,74 weil sie in vielfacher Hinsicht Menschen unterschiedlicher Nationen und Kulturen miteinander in Kontakt bringen. Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen
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Ann-Kristin Kurberg, Binationales Lehramtsstudium der Fächer Französisch und Geschichte an
den Universitäten Saarbrücken und Metz, 2016–2018 studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Europäische Zeitgeschichte an der Universität des Saarlandes, 2018–2022 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität des Saarlandes und Mitglied der DFG-FNR-Forschungsgruppe „Populärkultur transnational – Europa in den langen 1960er Jahren (Universität des Saarlandes / Université du Luxembourg, C2DH), seit 2018 Promotionsprojekt mit dem Titel Grenzenlose Unterhaltung – Transnationale Verflechtungen und Bilder des Fremden in Unterhaltungsshows im bundesdeutschen und französischen Fernsehen der 1960er Jahre (Betreuung: Prof. Dr. Christoph Vatter). Forschungsschwerpunkte: Populärkultur; deutsch-französische Beziehungen; Geschichte Deutschlands und Frankreichs.
III. Sport
Zwischen Vaterland, Heimat und Internationalität Der Fußballsport im saarländisch-lothringischen Grenzraum am Vorabend des Ersten Weltkrieges
BERND REICHELT
1. Einleitung
Als Anfang Mai 1948 saarländische Fußballvereine wieder offiziell Begegnungen mit französischen und internationalen Teams austragen konnten, schrieb Erich Menzel im Sport-Echo begeistert: Die Tore nach Westen sind geöffnet! Unsere alten Freunde in Metz, Nancy, Strasbourg, Mulhouse, Luxemburg, Esch, Differingen und wo sie auch immer sein mögen, freuen sich gewiß auf den neuen Sportverkehr.1
Dass Traditionsvereine aus dem Saarland wie der 1. FC Saarbrücken oder Borussia Neunkirchen drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wieder internationale Spiele austragen durften, hatte mit der besonderen politischen Situation des Saarlands in der Nachkriegszeit zu tun. Nur wenige Monate zuvor war im nach dem Krieg französisch besetzten Saargebiet eine saarländische Verfassung verabschiedet worden, in deren Folge sich ein Saarstaat bildete, der wirtschaftlich wie politisch von Frankreich abhängig war.2 Für die Fußballclubs bedeutete diese Entwicklung auf der einen Seite die Freiheit, nun wieder Spiele gegen Clubs aus dem Ausland austragen zu können. Auf der anderen Seite bedeutete sie aber auch das Ende der sportlichen Beziehungen zu den deutschen Vereinen außerhalb des Saarlandes: der Beginn eines sportpolitischen Fiaskos. Die von französischen und saarländischen Politikern und Funktionären vorangetriebene affiliation, der ‚Anschluss‘ des saarländischen an den französischen Fußballsport, scheiterte ebenso wie die 1949/50 politisch forcierte Internationalisie„Mit Frankreich verbunden“, in: Sport-Echo, 03.05.1948, o. S. Zur Entwicklung des Saarstaats vgl. bspw. den 2022 in dritter, erweiterter Auflage erschienene Sammelband Hudemann / Heinen / Poidevin (Hg.): Der Saar-Staat (2022). 1 2
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rung des Saarsports. Im Sommer 1951 stand der saarländische Fußball wieder vor der Rückkehr in die deutsche Südwestliga: eine Rückkehr in die deutschen Strukturen, welche das Referendum zugunsten Deutschlands vorwegnahm. Es handelte sich um die Geschichte einer versuchten politischen Vereinnahmung des Sports zur Festigung der Saar-Autonomie und zur Herstellung einer saarländisch-nationalen Identität. Dass dies scheiterte, lag zum einen daran, dass der saarländische Fußball seine Wurzeln im deutschen Verbandsfußball hatte und die Vereine deshalb ihre in vier Jahrzehnten errichteten traditionellen Verbindungen nicht kappen wollten. Zum anderen lag es auch am Selbstverständnis des Sports: Anders als eine Internationalisierung des Saarfußballs mit ungewisser Zukunft versprach eine Rückkehr in die angestammten Strukturen des deutschen Verbandsfußballs den saarländischen Clubs auf Dauer eine sportliche und wirtschaftliche Weiterentwicklung. Hier kam der ausgeprägte Pragmatismus der Sportvereine zum Ausdruck, der dazu führte, dass der sportliche Erfolg politische und ideologische Präferenzen grundsätzlich austauschbar machte.3 Was die Vereine in ihrem Selbstverständnis und in ihrer Haltung prägte, war grundsätzlich nichts Neues; nichts, was sich erst nach 1945 entwickelte. Die Grundlagen wurden bereits im Deutschen Kaiserreich gelegt. Im Jahrfünft unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs kam es nicht nur zu einer Verschränkung zwischen den saarländischen – aber auch den lothringischen – Fußballclubs und den Verbandsstrukturen des Süddeutschen Fußball-Verbandes. Es waren auch die prägenden und entscheidenden Jahre, in denen sich auch an Saar und Mosel ein neuer Typus Sportverein entwickelte: der ‚bürgerliche Fußballverein‘. 2. Turnen, Fußball und die Spielbewegung: die Entstehung der Fußballvereine um 1900
Die Anfänge des Fußballsports in Deutschland – und das gilt auch für das damalige Reichsland Elsass-Lothringen – werden als englisch-deutsche Transformationsgeschichte beschrieben, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einsetzte. Für Kaufleute und Studenten verkörperte das Spiel mit seinen universellen Regeln zunächst eine moderne Form der Geselligkeit, die sich an den Prinzipien des Wettbewerbs, des Freihandels und des Kosmopolitismus orientierte.4 Zunehmend kam es jedoch zu einer Nationalisierung des Sports und das Interesse der Vertreter der deutschen Reformpädagogik an dem neuen Spiel wuchs ständig an. Die von ihnen gegründete Spielbewegung und die staatlichen Jugendpflegeorganisationen sahen im modernen Sport Möglichkeiten zur Sozialdisziplinierung und zur Erziehung der Jugend. Die Siehe hierzu zuletzt ausführlich Hüser / Reichelt: Sport und Politik (2022). Siehe auch Reichelt: „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel“ (2017) sowie Linsmayer / Reichelt: Das autonome Saarland (2012), S. 325 f. 4 Grundlegend hierzu Eisenberg: „English Sports“ (1999), S. 20; Brändle / Koller: Goal! (2002), S. 33 f. 3
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Funktionalisierung des modernen Sports und insbesondere des Fußballs in pädagogischer und sozialpolitischer Hinsicht sollte allerdings nur sehr bedingt funktionieren. Denn die jungen Fußballbegeisterten, meist Schulabgänger und junge Männer unter zwanzig Jahren, sollten – wie es hier zu zeigen gilt – in nur wenigen Jahren eine Fußballvereinskultur schaffen, die ganz eigenen Regeln und Vorstellungen folgte. Verteidigen mussten sich die Fußballclubs außerdem gegen Angriffe aus denjenigen sportausübenden Vereinen, die sowohl in Lothringen als auch an der Saar vor ihnen existierten: die Turnvereine. Die ab Mitte des 19. Jahrhunderts aufgekommenen Turnvereine waren die ersten sozialen Vereinigungen gewesen, in welchen systematisch und regelmäßig Leibesübungen bzw. Sport ausgeübt wurden. Die deutsche Turnbewegung, die der Sportwissenschaftler Michael Krüger als Teil der kulturellen Nationsbildung im Deutschen Kaiserreich beschreibt, bot insbesondere den bürgerlichen Unterund Mittelschichten ein Angebot zur Vergemeinschaftung. Die Vereine der Deutschen Turnerschaft wurden ein Forum für Handwerker und Kleinbürger, auf dem die Idee der Nation als eine Angelegenheit breiter Schichten der Gesellschaft erfahren werden konnte.5 Sie zeichneten sich durch ihre Staatsnähe aus und waren um die Wende zum 20. Jahrhundert ein fester Bestandteil der Vereinskultur sowohl in Lothringen als auch im Saarrevier. Während die Turnbewegung an der Saar zunehmend ethnozentrische Vorstellungs- und Wahrnehmungsweisen entwickelte, wie sie für die politische Regionalkultur an der Saar maßgebend werden sollten, dienten die Turnvereine im Bezirk Lothringen der Integration des ehemals französischen Departements in das Deutsche Reich.6 Anfang des 20. Jahrhunderts begannen die Turnvereine, den Patriotismus der neuen Sportvereine anzuzweifeln, und sahen dabei mit Sorge, wie die neuen Vereine ihr wichtigstes Klientel hinter sich vereinigten: die Jugend. Dabei kämpfte die Deutsche Turnerschaft damals zugleich gegen ihr eigenes verstaubtes Image. Selbst der Kaiser hatte sich abgewandt, bevorzugte den englischen Sport und zeigte sich nie auf den Deutschen Turnfesten. Wie eine Niederlage musste es sich für die ältere Turnergeneration angefühlt haben, als viele Turnvereine resignierten und beschlossen, Spielund Sportabteilungen in ihren Vereinen zuzulassen – um die Jugend zu halten. Ein bekanntes Beispiel ist der Turnverein Malstatt, einer der größten Turnvereine im saarländisch-lothringischen Grenzraum. Dessen Spielabteilung wurde als eine der ersten im Grenzraum im Jahr 1903 gegründet. Das Team der Spielabteilung – unterstützt durch den Turnlehrer Johann Poller – spielte in diesen Jahren zunächst noch vorwiegend innerhalb der Strukturen der Turnbewegung. Bald darauf entstanden in weiteren Turnvereinen an der Saar Spielabteilungen, in denen gekickt wurde. Auch wenn dies vor allem die älteren Generationen kritisch sahen, wurden die Turn- und Spielfeste
5 6
Vgl. Krüger: Körperkultur und Nationsbildung (1996), S. 419, 427. Ausführlich hierzu Reichelt: Fußball im deutsch-französischen Grenzraum (2014), S. 45–55.
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für die Fußball spielenden Turner ein Forum, auf dem sie sich der Öffentlichkeit zeigen konnten. Dies galt auch für das Saarbrücker Spichererbergfest, das erstmals 1905 stattfand und in dessen Programm auch Fußballspiele angekündigt wurden. Doch die Fronten zwischen den ‚traditionellen‘ Turnern und den jungen Fußballspielern sollten sich bald noch weiter verhärten. Auf Maßregelungen innerhalb der Vereine und das Verbot, dem Verband Süddeutscher Fußball-Vereine (VFSV) beizutreten, folgten Austritte. Dies geschah auch bei der erwähnten Spielabteilung des TV Malstatt. Drei Jahre nach ihrer Gründung ging diese als Fußballverein (FV) Saarbrücken (seit 1945 als 1. FC Saarbrücken) ihren eigenen Weg.7 Doch auch 1912 sollten im Saargau des VSFV noch zwei Spielabteilungen saarländischer Turnvereine zu finden sein (siehe Anhang 2). Viele der modernen Fußballvereine hatten also ihre Ursprünge innerhalb der Turnvereine. Andere entstanden aus zahlreichen Schülerclubs, die in den Gymnasien und Realschulen des Saarreviers und des Bezirks Lothringen gegründet wurden. In Saarbrücken wurde spätestens 1893 am Ludwigsgymnasium im Rahmen der Bewegungsspiele Fußball angeboten. Auf Mai 1897 wird das erste stattgefundene Fußballspiel in der lothringischen Garnisonsstadt Metz datiert. Auf dem Exerzierplatz Ban St. Martin sollen dabei Schüler der Realschule und des Gymnasiums gegeneinander gespielt haben.8 Für die zunehmende Etablierung des Fußballspiels auch im Turnunterricht der Schulen sorgte nicht zuletzt die Werbearbeit der deutschen reformpädagogischen Spielbewegung, zu deren Sprachrohr der 1891 in Preußen gegründete und staatlich finanzierte Zentralausschuss zur Förderung der Volks- und Jugendspiele wurde.9 Als sinnbildlich für die pädagogische Sicht auf das Fußballspiel kann die Formulierung des Gymnasiallehrers Rudolf Alger aus Saarlouis bezeichnet werden, der 1909 die Charakterbildung in den Vordergrund stellte: Beim Fußball sei das pädagogische Ziel die Erlangung einer körperlichen und geistigen Kraft, die „einst im Dienste des Vaterlands verwandt werden soll“10. Um das Jahr 1905 kam es sowohl an der Saar wie auch an der Mosel zu einer ersten Gründungswelle selbstständiger Fußballvereine, die sich teils neu gründeten oder sich als ehemalige Schülerclubs oder Spielabteilungen der Turnvereine nun selbstständig machten. Ein prägnantes Beispiel ist der Verein Borussia Neunkirchen, der 1907 durch die Fusion dreier kleinerer Vereine in der Industriestadt entstand. Auch im Bezirk Lothringen entstanden zur selben Zeit die ersten eigenständigen Sport- und Fußballvereine. Zu nennen sind vor allem die Metzer Sportvereinigung und der Fußballclub Vgl. Reichelt: Fußball im deutsch-französischen Grenzraum (2014), S. 62–65. Vgl. Pirot: L’implantation du football en Moselle-Est (1995), S. 44. Die Reformbewegung entstand im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in reformpädagogischen Kreisen und wollte – im Rückgriff auf Erfahrungen vorwiegend aus dem angelsächsischen Raum – insbesondere Ballspiele pädagogisch implementieren. Zur Spielbewegung und zum Zentralausschuss vgl. Hamer: Die Anfänge der „Spielbewegung“ (1989). 10 Alger: Volkstümliches Turnen, Spiel und Sport (1909), S. 9, 14. 7 8 9
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Metz. Gegründet wurden sie in der Regel von deutschen Einwanderern des bürgerlichen Milieus, die nicht aus Lothringen stammten, den sogenannten Altdeutschen. In den Vereinen selbst waren allerdings auch Lothringer vertreten. Ihnen gemeinsam war der bürgerliche Hintergrund. Sie waren Selbstständige, Kaufleute, Lehrer, Angestellte. Die Sportvereine in Lothringen wurden – wie bereits die Turnvereine im späten 19. Jahrhundert – Orte der Integration, an denen sich Zugewanderte und Einheimische zusammenschlossen.11 Die ersten eigenständigen Fußballvereine etablierten innerhalb kürzester Zeit einen geregelten Wettspielverkehr, organisierten sich in Verbänden und es entwickelte sich eine Eigendynamik, deren Geschwindigkeit auch heute noch erstaunt. 3. „Eine Blütenlese der Unarten“? Die Fußballkultur zwischen Metz und Neunkirchen vor 1914 3.1.
Jetzt wird’s amtlich: der Saargau und die Einführung des Wettspielverkehrs
Was den modernen Sport bzw. die english sports vom Turnen deutscher Prägung unterschied, war die Tatsache, dass Mannschaftssportarten wie der Fußball vom ständigen Wettkampf lebten und damit vom ständigen Vergleich einer Mannschaft mit anderen Teams. Insbesondere im Bereich des Fußballs sollte es dabei zu einer erstaunlich schnellen Institutionalisierung und Bürokratisierung des Spielgeschehens kommen. Dies galt auch für den saarländisch-lothringischen Grenzraum. Am 23. Juli 1907 wurde in einem Saarbrücker Gasthof der Saargau gegründet.12 Dieser war allerdings kein eigenständiger Fußballverband, sondern Teil des Westkreises des Verbandes Süddeutscher Fußball-Vereine, dem späteren Süddeutschen FußballVerband, der seinerseits wiederum einer der Landesverbände des Deutschen FußballBundes (DFB) war. Dem Saargau gehörten neben einem Verein aus Trier, dem Trierer FC 1905, bei Gründung zunächst nur selbstständige Fußballvereine aus dem Saar revier an. Im Deutschen Fußball-Jahrbuch, einer regelmäßig vom DFB herausgegebenen Schrift, wurden für Herbst 1907 zunächst sechs Vereine aufgeführt.13 Bereits ein Jahr später zählte der Saargau 14 Vereine. An der Anzahl der Vereinsmitglieder sieht man allerdings, wie überschaubar sich im Sommer 1908 der damalige Gau noch darstellte. Die vierzehn Clubs, davon elf aus dem Saargebiet, hatten zusammen 811 Mitglieder.14
Vgl. ausführlich Wahl / Pirot: Die Einführung des Fußballs (1999). Zum Saargau bzw. Saar- und Moselgau vgl. Reichelt: Fußball im deutsch-französischen Grenzraum (2014), S. 74–84; ders.: Borussia Neunkirchen und der Saargau (2012), S. 33; Reichelt / Fuchs: Krieg und Spiele (2015). 13 Vgl. Deutscher Fußball-Bund (Hg.): Fußball-Jahrbuch 3–4 (1905–1907), S. 135. 14 Vgl. Deutscher Fußball-Bund (Hg.): Fußball-Jahrbuch 5 (1908), o. S.; siehe auch Anhang 1. 11 12
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Der Saargau bestand aus einem Gebiet, welches Trier, das Saargebiet und den damaligen Bezirk Lothringen umfasste. Für die Vereine war die Schaffung eines eigenen Gaus konsequent und zeigte, dass auch hier in der Grenzregion innerhalb kürzester Zeit genügend Vereine entstanden waren, die miteinander agieren konnten. Borussia Neunkirchen – bis dahin noch im benachbarten Pfalzgau aktiv – trat noch im selben Jahr dem neuen regionalen Verband bei. Gleichwohl strapazierten die zurückzulegenden Strecken für die Mannschaften mitunter den Idealismus und Pioniergeist der Clubs. Auch wenn die Eisenbahn zu Beginn des Jahrhunderts eine große Erleichterung darstellte: Kicker von den Rändern des Gaus, aus Trier oder Metz, mussten lange Zugfahrten auf sich nehmen und hatten dabei zum großen Teil die Kosten selbst zu übernehmen. Bei der Metzer Sportvereinigung wurde für das Spieljahr 1908/09 im Jahresbericht vermerkt, dass die Spieler trotz einer Reisevergütung durch den Verein Kosten für die Eisenbahnfahrt und die Verpflegung selbst zu tragen hatten.15 Der Club wurde damals geleitet von dem aus dem Elsass stammenden Oberrealschullehrer Justin Hirtz, der nicht zuletzt deshalb finanzielle Beihilfen von den reichsländischen Behörden erbat. Dass solche Bitten um finanzielle Zuwendungen nur erfolgsversprechend sein konnten, wenn der Wettspielverkehr der Fußballabteilung einem ‚höheren Zweck‘ diente, wird in folgendem Schreiben deutlich, welches Hirtz 1910 an den Statthalter Karl von Wedel sandte. Er berief sich dabei auf den Nutzen der sportlichen Betätigung für die Gesundheit und betonte die integrative Funktion des Vereins für Einheimische und Zugewanderte: […] In Anbetracht des großen Nutzens körperlicher Übungen für die Gesundheit gründete ich vor einigen Jahren hier in Metz einen Verein, der sich die Aufgaben stellte, die Freilichtgymnastik und die Volks- und Jugendspiele unter der schulentlassenen Jugend zu pflegen. Trotz mancher Hindernisse hat sich dieser Verein nicht nur erhalten, sondern auch schöne Erfolge erzielt, gewann doch 1908/09 unsere Fußballabteilung die Saargauund Westkreismeisterschaft, was damals unserem Verein Anerkennung von dem Herrn Bezirkspräsidenten und Sr. Exzellenz dem General-Feldmarschall Herrn Grafen v. Haeseler einbrachte. […] Doch erfordern diese Bestrebungen große Geldmittel, die hier in Metz kaum aufzubringen sind. Da in unserem Verein weder die Konfession noch die Sprache der Mitglieder eine Rolle spielen, wir im Gegenteil die Katholiken und Protestanten, die Einheimischen und Eingewanderten auf dem Gebiete des Sports zusammenführen, ist es besonders schwierig, eine größere Anzahl von unterstützenden Mitgliedern zu erhalten, während andere Vereine mit konfessionell und sprachlich ausgesprochenem Charakter, wie z. B. die ‚Lorraine Sportive‘, über bedeutende Einnahmen verfügen und sich daher auch weiter entwickeln können […].16
15 16
Vgl. Reichelt: Fußball im deutsch-französischen Grenzraum (2014), S. 77. ADBR, 87 AL 577: Schreiben von Justin Hirtz an Statthalter Karl von Wedel, 14.07.1910.
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Bereits 1908 wurde eine Saargaubehörde eingesetzt, um den regionalen Spielbetrieb zu organisieren. Ständig wurden aufgrund zahlreicher Neueintritte weitere Spielklassen eingeführt. Die Behörde verschickte Rundschreiben, hielt regelmäßige Gauausschusssitzungen ab, zog Mitgliedsbeiträge ein, schlichtete Streitfälle und verhängte Verbandsstrafen. Delikte waren das Nichtmelden von Spielern, rohes Spiel, Nicht antreten, Spielabbruch oder das Beleidigen von Schiedsrichtern. Wie exakt und akribisch die Fußballfunktionäre in ihren selbst geschaffenen Strukturen vorgingen, zeigt sich in den detaillierten Protokollen, die regelmäßig in der Sportzeitschrift Fußball und olympischer Sport (München) veröffentlicht wurden. Detailliert berichtete die Zeitschrift über die Streitfälle, über welche der Saargauausschuss zu urteilen hatte. Allein am 22. Dezember 1912 musste der in Saarbrücken tagende Ausschuss 16 Urteile fällen. In der Regel drehten sie sich um Unsportlichkeiten, die mit Platzsperren geahndet wurden, oder um unterschiedliche Sichtweisen zu Schiedsrichterentscheidungen. Ein Beispiel: Protest des FV Diedenhofen [heute Thionville] gegen das am 1.12.12 stattgefundene Verbandsspiel gegen TV Burbach. Urteil: der Protest wird abgelehnt. Gebühr verfällt der Verbandskasse. Gründe: Tatsachenentscheid des Schiedsrichters. Der Schiedsrichter gibt bestimmte Erklärungen, daß das beanstandete Tor von Burbach einwandfrei erzielt wurde. Tatsächlich geht auch aus der Skizze des FV Diedenhofen hervor, daß das Tor von einem Spieler erzielt wurde, der nicht in Abseitsstellung war.17
Im Jahr 1912 repräsentierte der Saargau unter seinem Vorsitzenden Otto Wagner aus Metz 19 Vereine aus dem Saarrevier, fünf Clubs aus Lothringen sowie zwei Vereine aus Trier mit insgesamt 2.547 Mitgliedern.18 Mittlerweile war Borussia Neunkirchen der mit weitem Abstand mitgliederstärkste Club im Saargau, was sich auch sportlich auszahlte. 1912 gelang dem Team als erstes im Gau der Aufstieg in die erst kurz zuvor gegründete Westkreisliga.19 Innerhalb weniger Jahre wurde die Formierung des organisierten Fußballsports unter dem Dach des DFB und seiner Landesverbände vorangetrieben. Mit Ludwig Albert hatte der Saargau ab 1910 auch ein prominentes Gesicht im Süddeutschen Fußball-Verband. Der in Metz lebende Rechtsanwalt wurde 1912 nicht nur Vorsitzender des neuen Großvereins Metzer Sportvereinigung. Er war im Süddeutschen Verband Zweiter Vorsitzender und vertrat die Verbandsinteressen bei Sitzungen des DFB.20
Protokoll der Gauausschusssitzung vom 22.12.1912 in Saarbrücken, zit. nach: Fußball und olympischer Sport, 04.01.1913, S. 16. 18 Vgl. Deutscher Fußball-Bund (Hg.): Deutsches Fußball-Jahrbuch 9 (1912), o. S.; siehe auch Anhang 2. 19 Vgl. Reichelt: Fußball im deutsch-französischen Grenzraum (2014), S. 135. 20 Vgl. ebd., S. 373. 17
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3.2.
Mobil und Spaß dabei: der Fußballclub als sozialer Raum junger Männer
Johann Poller, ein Turninspektor aus Saarbrücken, fällte 1910 ein vernichtendes Urteil über die Fußballvereine in der Saargegend: Meist von ganz jungen, unerfahrenen Burschen geleitet, gefällt man sich in den ungesundesten Übertreibungen. Nachäffung fremder Manieren und Ausdrücke, unästhetisch wirkende Halbnacktheit, Spiel im tiefsten Schmutz bei Regen und Schnee, Kämpfe um allerlei Meisterschaften, mit stärkster Überspannung der physischen und seelischen Kräfte, Erhebung von Eintrittsgeld bei den alle acht Tage stattfindenden Wettkämpfen – u. a. m. Das ist so eine Blütenlese der Unarten, wie man sie hier an der Saar zurzeit bei den Sportvereinen beobachten kann.21
Was machte diese offensichtlich so ‚eigensinnigen‘ Vereine so attraktiv für junge Männer in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg? Sie boten nicht nur die Möglichkeit, eine neue Sportart zu betreiben, für die man lediglich einen Ball – alternativ eine Blech dose – sowie ein Tor – oder auch zwei Schulranzen – benötigte, sondern stellten zudem eine ungezwungene Form frei bestimmter Geselligkeit dar, die durch die regelmäßige Möglichkeit zu reisen noch gesteigert wurde. Dies war für die damaligen Verhältnisse trotz Eisenbahn keine Selbstverständlichkeit. Wenn die kickenden Männer – viele unter zwanzig Jahre alt – aus Neunkirchen nach Trier oder Metz fuhren, dann waren das abenteuerliche Unternehmungen voller ‚Versuchungen‘ – ohne die pädagogische Aufsicht durch einen Lehrer oder einen Turnwart. In den Augen der jungen Generation dürften die Fußballvereine zeitgemäßer erschienen sein. Es gab weder traditionelle Rituale wie Fahnenweihen noch ritualisierte Veranstaltungen wie die Gauturnfeste. Die jungen Leute konnten sich nun selbst organisieren und regelmäßige Kontakte zu anderen Mannschaften pflegen. Geprägt wurden diese nicht nur durch den Spielverkehr im saarländisch-lothringischen Grenzraum, der bald seinem ganz eigenen Jahreskalender folgte, sondern auch durch internationale Spiele gegen Clubs aus dem Ausland. Dies hinderte jedoch die Vereine nicht daran, zugleich auch Kaisergeburtstagsfeiern zu organisieren. Es war diese Anschlussfähigkeit der modernen Fußballvereine an scheinbar sich widersprechende Narrative, die sie so erfolgreich und attraktiv machten. Ein weiteres wichtiges Moment für die Attraktivität dieser Vereine, die später ‚bürgerlich‘ genannt wurden, war deren milieubrechende Wirkung. Auch wenn hier nicht vertieft darauf eingegangen werden kann: Mit zunehmender Popularität des Fußballs versuchten bestimmte Vereine, das soziale Milieu, dem sie entstammten, über den Fußball zu inszenieren und zu festigen. Dies galt zum einen für das katholische Milieu im LASB, LRA.SB 1683: Bericht von Johann Poller über seine Tätigkeit als Pfleger gesunder Leibesübungen bei der schulentlassenen Jugend in den Kreisen St. Wendel, Ottweiler, Saarbrücken, Saarlouis und Merzig, Berichtsjahr 1909/10. 21
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Saargebiet22 und auch in Lothringen, wo ein junger Rechtsanwalt namens Robert Schuman – drei Jahrzehnte später einer der Gründerväter der Europäischen Union – eine Rolle spielte.23 Dies galt aber zum anderen ebenso für den Arbeitersport an der Saar. Aus der Angst vor dem Kontrollverlust kam es zur Abschottung gegenüber anderen sozialen Gruppen. Innerhalb der Milieus hatte der Fußball insofern keine gesamtgesellschaftliche Integrationskraft, sondern spiegelte die Abschottungstendenzen wider. Dies widersprach wiederum dem Selbstverständnis des Fußballsports, das die konfessionsneutralen bürgerlichen Sportvereine vertraten, die sich tatsächlich nicht um die soziale oder konfessionelle Herkunft ihrer Mitglieder und ihrer Spieler scherten. Wichtig war ihnen der sportliche Erfolg auf dem roten Sandplatz. Insofern sprachen die Zahlen für sich. Katholische und Arbeitersportvereine hatten im saarländischlothringischen Grenzraum dank ihrer wirksamen Strukturen zwar ein Sprachrohr, blieben in ihrer quantitativen Bedeutung im Vergleich zu den bürgerlichen Clubs aber marginal. 4. Die Kicker aus London an der Saar im Jahr 1912: sportlicher Nationalismus oder Internationalität?
Im Mai 1912 machte der englische Verein Queens Park Rangers eine Spielreise durch Süddeutschland. Der englische Club gastierte innerhalb von nur einer Woche in Saarbrücken, Kaiserslautern, Mannheim, Stuttgart und Nürnberg. Finanziert wurde die Tournee der Londoner Berufsspielermannschaft durch die gastgebenden Vereine, unter ihnen der SC Saar 05 Saarbrücken. Der Club war mit mehr als 200 Mitgliedern seinerzeit nach Borussia Neunkirchen und dem SV 1905 Trier der drittgrößte Verein im Saargau. In der in München erscheinenden überregionalen Sportzeitung Fußball und olympischer Sport – mit dem nicht ohne Selbstbewusstsein kreierten Untertitel Aktuellstes und vornehmstes Spezialorgan für Rasenspiele – wurde über diese Spielreise intensiv berichtet – mit positiver Bilanz: Die Spiele der Engländer gestalteten sich durch eine mit Fleiß durchgeführte Reklame zu einem guten Erfolg für die beteiligten Vereine. Überall waren die Plätze von Tausenden umlagert, die zunächst einmal das finanzielle Gleichgewicht der immerhin kostspieligen Veranstaltungen herstellten, dann aber auch für die bei solchen Anlässen nicht unwichtige animierte Stimmung sorgten.24
Zum Vorgehen innerhalb der Diözese Trier im Jahr 1909 vgl. Reichelt: Integration und Exklusion (2020), S. 74. 23 Robert Schuman wurde 1912 Vorsitzender des Verbands der katholischen Jünglingsvereine der Diözese Metz. Vgl. zu Sport und Katholizismus in Lothringen und Frankreich ausführlich Reichelt: Fußball im deutsch-französischen Grenzraum (2014), S. 91–100, insbesondere S. 98. 24 „Queens Park Rangers in Süddeutschland“, in: Fußball und olympischer Sport, 20.05.1912, S. 7. 22
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Das erste Spiel fand in Saarbrücken statt und wurde in der Saarbrücker Zeitung als Werbespiel angekündigt. Die Gäste aus London waren bereits am Donnerstag nach Saarbrücken gereist. Das Spiel am Samstag war mit etwa 3.000 Zahlenden gut besucht. Mehrere Ehrengäste waren anwesend, unter ihnen Landrat Walther von Miquel, der Regierungsassessor Hermann Sommer sowie mehrere Stadtverordnete. Das Spiel ging allerdings deutlich mit 0:12 verloren. Was den aus Saarbrücken für den Fußball berichtenden Willy Dilg allerdings nicht davon abhielt, zu betonen, dass „zum Lobe der Saarmannschaft gesagt werden“ müsse, „daß sie trotz dem ermüdenden präzisen Zuspiel des Gegners das Tempo bis Schluß mitmachte und das Spiel stets offen hielt, es so für die Zuschauer zu einem sehr spannenden gestaltete“25. Alles in allem sei es „ein Musterund Propagandaspiel im wahrsten Sinne des Wortes“ gewesen und den Spielern der Queens Park Rangers habe es in Saarbrücken und beim „gemütlichen Zusammensein im Klublokale Saars“26 gut gefallen. Internationale Spiele wie dieses ‚Propagandaspiel‘ gegen den englischen Club waren vor dem Ersten Weltkrieg insbesondere in Grenzregionen wie im Saargau keine Seltenheit. In der Saison 1913/14 wurden insgesamt 45 internationale Spiele im Saar- und Moselgau – wie er seit dieser Spielzeit hieß – durchgeführt. Zusammen mit den 56 Partien im Oberrheingau (Elsass) war das die Hälfte aller internationalen Begegnungen im Bereich des Süddeutschen Verbandes.27 Das internationale Fußballspiel der Briten an der Saar provozierte im Mai 1912 die Saarturnerschaft, die etwa zur selben Zeit das jährlich stattfindende Spichererbergfest bewarb. In der Saarbrücker Zeitung erschien ein Artikel zum Spichererbergfest, in welchem die Turner in einem Nebensatz süffisant schrieben, es sei bei ihnen „nicht üblich, mit ausländischen Berufsmannschaften aufzuwarten, da bei dem Fest von vornherein das patriotische und nationale Moment in den Vordergrund gestellt“28 werde. Der damit einhergehende Vorwurf, die Fußballer seien unpatriotisch, war intendiert und wurde von den Adressaten entsprechend auch so aufgefasst. Der Vorstand des SC Saar 05 reagierte entsprechend empört und schickte eine ausführliche Stellungnahme an die Saarbrücker Zeitung: Voller Neid sei man bei den Turnern, die offensichtlich nun auch in Saarbrücken einen Kampf gegen den Fußball entfachen wollten, so der Vorstand des SC Saar: Für uns genügt die erfreuliche Tatsache, daß man in hiesigen Kreisen unseren Bestrebungen Verständnis und Interesse entgegenbringt. Auch beim Militär erfreut sich der Fußballsport eines immer größer werdenden Interesses. […] Zum Schluß sei noch die Tatsache festgestellt, daß auch bei uns, ohne daß wir es besonders betonen, das patriotische und nationale Moment jederzeit in den Vordergrund gestellt wird. ‚Fürs Vaterland ist es, wenn wir zu spielen scheinen.‘29 25 26 27 28 29
Ebd., S. 8. Ebd.; siehe außerdem „Queens Park Rangers“, Saarbrücker Zeitung, 13.05.1912, o. S. Vgl. Verband Süddeutscher Fußball-Vereine (Hg.): Jahresbericht 1913/14 (1914), S. 84 f. „Patriotismus und internationale Wettspiele“, in: Saarbrücker Zeitung, 23.05.1912, o. S. Ebd.
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Internationalität war seit seinen Anfängen ein charakteristisches Merkmal des Fußballsports, was daher rührte, dass er als english sport das Ergebnis kultureller Transferprozesse war. Das Fußballspiel hatte sich in ganz Europa etwa zeitgleich verbreitet, sodass Spiele gegen ausländische Vereine grundsätzlich möglich wurden. Überwogen in den 1880er- und 1890er-Jahren noch kosmopolitische Idealvorstellungen im bürgerlichen ‚Gesellschaftsspiel‘ Fußball, spiegelten sich nationalistische Tendenzen, wie sie in den europäischen Nationen um die Jahrhundertwende verstärkt aufkamen, bald auch in den Turn- und Sportvereinen wider. Gerade im deutsch-französischen Grenzraum kam es zu einer Politisierung und Militarisierung der Gesellschaft, die auch vor Turnen und Sport nicht Halt machten. An der Saar manifestierte sich der sportliche Nationalismus im patriotischen Spichererbergfest der Turner. Aber auch im Fußball gab es Stimmen, die im internationalen Spielverkehr nicht das Völkerverbindende betonen wollten, sondern das Messen mit dem Gegner. 5. Schlussbetrachtung
Um 1900 entstand mit dem Aufkommen des Fußballsports ein neuer Typus Sportverein, der sich in seinem Selbstverständnis von anderen Freizeit- und Turnvereinen unterschied. Die Fußballvereine, die ihre Ursprünge teils in den Spielabteilungen der Turnvereine und teils in den Mannschaften kickender Schüler hatten, etablierten innerhalb weniger Jahre eine bürgerlich geprägte, exklusive Fußballkultur im Grenzraum, was sich bereits 1907 in der Institutionalisierung des Saargaus innerhalb der bereits existierenden Strukturen des Deutschen Fußball-Bundes niederschlug. Der sich entwickelnde (Vereins-)Pragmatismus, der den sportlichen Erfolg zur Leitplanke allen Handelns machte, wurde zu einem Erfolgsmodell der Clubs und setzte Professionalisierungstrends und Kommerzialisierungstendenzen frei, die bereits damals – in der Kaiserzeit – einsetzten. Sichtbar wurden diese in den sich herausbildenden Verbandsstrukturen vor dem Ersten Weltkrieg. Internationale Spiele gehörten ebenso zum Selbstverständnis wie eine gelebte patriotische Grundhaltung und waren gerade auch aufgrund der aufkommenden Kommerzialisierungstendenzen im Fußballsport kein Widerspruch. Trotz Kritik aus Turnerkreisen und wachsender politischer Spannungen hielten die Vereine an internationalen Begegnungen bis zum Ausbruch des Weltkriegs fest. Sie waren einerseits Teil einer kosmopolitischen Tradition und hatten andererseits eine Werbewirkung für den Fußball und waren daher auch ökonomisch motiviert. Der Erste Weltkrieg, der im Sommer 1914 ausbrach, sollte in seiner Konsequenz das Ende des Saar- und Moselgaus bedeuten.30 Mit dem retour der Moselle nach
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Ausführlich Reichelt / Fuchs: Krieg und Spiele (2015).
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Frankreich wurden die Verbindungen zwischen den Clubs aus Lothringen und dem Saargebiet gekappt und der Fußball nahm auf beiden Seiten der Grenze eine getrennte Entwicklung. Gleichwohl sollte der Siegeszug des Fußballsports nicht zu stoppen sein. Nach dem Ersten Weltkrieg begann eine Phase, in welcher der Fußball boomte und immer mehr zur Projektionsfläche avancieren konnte. Noch mehr als vor dem Krieg kam es in den folgenden Jahrzehnten zu versuchten politischen Vereinnahmungen. Dass dies nur bedingt funktionierte – wie am Beispiel aus den 1940er-Jahren eingangs gesehen – hat auch mit den Fußballvereinen als selbstbewussten Akteuren zu tun, die eben wie erwähnt dem Primat des sportlichen Erfolgs alles andere unterordneten. Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen
Archivalien Archives départementales du Bas-Rhin (ADBR) – Série AL (Alsace-Lorraine) – AL 87 (Division de l’Intérieur, associations généralités), Nr. 577 (Associations et sociétés, réunions et festivités, 1910–1911). Landesarchiv Saarbrücken (LASB) – Bestand LRA.SB (Landratsamt Saarbrücken) – Nr. 1683 (Förderung der Leibesübungen der schulentlassenen Jugend, 1909–1916).
Gedruckte Quellen Alger, Rudolf: Volkstümliches Turnen, Spiel und Sport an höheren Schulen, in: Gymnasium zu Saarlouis (Hg.): Bericht über das Schuljahr 1908–1909. Saarlouis 1909, S. 3–14. Deutscher Fußball-Bund (Hg.): Fußball-Jahrbuch 3–4 (1905–1907). Hamburg 1907. Deutscher Fußball-Bund (Hg.): Fußball-Jahrbuch 5 (1908). Leipzig 1908. Deutscher Fußball-Bund (Hg.): Deutsches Fußball-Jahrbuch 9 (1912). Dortmund 1912. Verband Süddeutscher Fußball-Vereine (Hg.): Jahresbericht 1913/14. Erstattet durch den Vorstand dem 18. Verbandstage, 18./19. Juli 1914 in Nürnberg, 1914.
Periodika Fußball und olympischer Sport, München: 20.05.1912, 04.01.1913. Saarbrücker Zeitung, Saarbrücken: 13.05.1912, 23.05.1912. Sport-Echo, Saarbrücken: 03.05.1948.
Zwischen Vaterland, Heimat und Internationalität
Literatur
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Bernd Reichelt
Anhang Tabelle 1: Die Vereine des Saargaus im Jahr 1908 Verein
Region
Mitglieder
SC Saar 1905
Saargebiet
FC Metis Metz
Bezirk Lothringen
68
Metzer Sportvereinigung
Bezirk Lothringen
68
FC Völklingen
Saargebiet
65
SC Sulzbach 1906
Saargebiet
57
FC Germania Saarbrücken 05
Saargebiet
57
FV Malstatt-Burbach
Saargebiet
53
FC Viktoria Kirn
Saargebiet
53
FC Saarbrücken 06
Saargebiet
49
Trierer FC 1905
Rheinprovinz
47
Borussia Neunkirchen
Saargebiet
44
SC Halberg Brebach
Saargebiet
42
SC Hellas Bildstock
Saargebiet
29
SC Borussia Sulzbach
Saargebiet
25
154
811
Tabelle 2: Die Vereine des Saargaus im Jahr 1912 Verein
Region
Mitglieder
Borussia Neunkirchen
Saargebiet
411
SV 1905 Trier
Rheinprovinz
311
SC Saar 1905
Saargebiet
228
FV Diedenhofen
Bezirk Lothringen
156
FC Völklingen
Saargebiet
150
Metzer Sportvereinigung
Bezirk Lothringen
141
FV Saarbrücken
Saargebiet
112
TV Saarbrücken-Burbach
Saargebiet
103
SC Sulzbach 1911
Saargebiet
101
Zwischen Vaterland, Heimat und Internationalität
Verein
Region
Mitglieder
SpVg 1906 Saarbrücken
Saargebiet
95
SC Fenne
Saargebiet
71
FC Viktoria 1909 Neunkirchen
Saargebiet
60
SC Forbach
Bezirk Lothringen
58
SC Halberg-Brebach
Saargebiet
58
SC Scheidt
Saargebiet
58
FC Viktoria Saarbrücken-Burbach
Saargebiet
53
FC Hansa Gersweiler
Saargebiet
52
FC Viktoria Redingen
Bezirk Lothringen
51
SpVg. 1911 Sulzbach
Saargebiet
50
FC Bavaria Saarbrücken
Saargebiet
50
VfR Saarbrücken
Saargebiet
41
Fvg. Orne 1909 Rombach
Bezirk Lothringen
37
FC Moselland Trier
Rheinprovinz
36
FC Merzig 1910
Saargebiet
33
1. FC Germania Saarbrücken
Saargebiet
29
TV 1848 Saarbrücken
Saargebiet
29 2547
Bernd Reichelt, Studium der Historisch orientierten Kulturwissenschaften an der Universität Saar-
brücken, seit 2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsbereich Geschichte und Ethik in der Medizin am Zentrum für Psychiatrie (Zf P) Südwürttemberg / Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I der Universität Ulm, 2013 Promotion im Fach Geschichte an der Universität Kassel mit dem Titel Fußball im deutsch-französischen Grenzraum Saarland / Moselle 1900–1952. Eine transnationale Geschichte politischer Inszenierung und sportlicher Emanzipation (Betreuung: Prof. Dr. Dietmar Hüser), seit 2021 Mitglied im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Medizin, Schwerpunkt Psychiatrie; Geschichte des Sports, Schwerpunkt Fußball und deutsch-französische Beziehungen in transnationalen Per spektiven.
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Transmission / Übersetzung Wie den Radsport schreiben?
DANIEL KAZMAIER
Im Einleitungsabschnitt seines autobiografischen Romans De renner beschreibt der niederländische Schriftsteller und Amateurradsportler Tim Krabbé 1978 die Vorbereitung eines Radsportlers auf ein Rennen: Auf der Bordsteinkante zwischen den Stoßstangen seines und meines Autos sitzt grübelnd ein Rennfahrer […]. Vor ihm auf dem Asphalt liegt ein Hinterrad, neben ihm steht ein kleiner Holzkasten voller Ritzel. Seine Übersetzungen, er muss noch entscheiden, welche er nimmt.1
Der Protagonist nimmt ebenfalls an diesem Rennen teil und beschreibt wie einer seiner Konkurrenten die Gänge für sein Fahrrad montiert. Krabbés Beschreibung der Rennvorbereitung modelliert den Auftakt des Erzählens nach der Wahl der Übersetzung. Diese Analogie zwischen Erzählen und Übersetzen in seiner Doppeldeutigkeit als Sprach- und gleichzeitig Kraftübertragung steht im Mittelpunkt dieses Artikels. Übersetzung / transmission soll hier als eine Frage der Schreibweise gefasst werden, die die zu machenden Meter in die schreibende Darstellung übersetzt. Kurz: So wie man beim Fahrrad einen Gang wählt, so wählt man eine Schreibweise, wenn man über den Radsport schreibt. Diese Analogie transportiert auch der Beginn von Krabbés Roman. Der Ich-Erzähler beobachtet seinen Konkurrenten weiter, nachdem dieser die Auswahl seiner Übersetzungen getroffen hat: „Der Fahrer von Cycles Goff wählt sechs Ritzel aus und schraubt sie fest. Er nickt wie jemand, der vor einer Prüfung das letzte Buch zuschlägt.“2 Mit diesem Anfang etabliert Krabbé den Erzählort für das Schreiben über den Radsport. Dabei skizziert er einen Ort, an dem sich Reflexion und Aktion überschneiden. Dieser momenthafte Ort, der Anteil an beiden Aspekten hat, macht das Erzählen über Radsport überhaupt erst möglich. Roland Barthes formuliert diesen Gedanken in seinen Mythologies folgendermaßen: „Car le vrai lieu épique, ce n’est pas
1 2
Krabbé: Das Rennen (2008 [1978]), S. 5. Ebd., S. 6.
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Daniel Kazmaier
le combat, c’est la tente, le seuil public où le guerrier élabore ses intentions, d’où il lance des injures, des défis et des confidences.“3 Das Zelt (im Falle des Epos) oder der Straßenrand, das Begleitfahrzeug bzw. der Presseraum (im Falle des Radsportromans) bilden die Orte, an denen die Strukturen von Aktion und Reflexion ineinandergreifen. Wie Andreas Gelz festgestellt hat, ist es nämlich „erst das Zusammenspiel von erzählerischen, dramaturgischen und rhetorischen Strukturen[, das] das sportliche Geschehen als sinnvolles Ereignis strukturiert“4. Vor dem Hintergrund der rhetorischen Zurichtung des Sports ist auch die Erfindung des berühmtesten Radrennens der Welt, der Tour de France, zu verstehen. Die Rundfahrt durch Frankreich wurde als Spektakel in Etappen, also in dramatischen Kategorien (im Sinne der Einheit der Zeit) erfunden, um die Auflagenzahl einer Zeitung zu steigern. Die Tour – als Paradigma für Straßenradsport verstanden – produziert dabei bewusst Unanschaulichkeit, weil Ausübende und Zuschauende nicht der gleichen Szene bzw. dem gleichen Horizont angehören. Sie ist also auf die Berichte angewiesen, die tagesrationiert das Lesepublikum informieren und in dieser dramatischen Serialität auf die Struktur des Zeitungsmarktes zugeschnitten sind. Die Sportpresse begründet also „selbst das Sportereignis […], das ihr zur Nachricht wird“5. Wenn der Radsport auf der Straße ausgeübt wird, dann braucht er Medien der Vermittlung oder eben der Übersetzung. Ziel dieses Beitrages ist es, die Darstellung des Radsports anhand der Leitmedien seiner Vermittlung zu untersuchen. Der Begriff der Mediosphäre dient hier als kategorisierender Begriff. Er stammt aus der Mediologie von Régis Debray und meint, dass die materiellen Träger der Übermittlung von kulturellen Inhalten unsere Umwelt, unsere Sphäre bestimmen. Mediologie koppelt die höheren sozialen Funktionen an die bedeutsamen technischen Träger der Übermittlung. Die zentrale Frage lautet: Wie werden „Spuren“ aufgezeichnet und gespeichert? Dominant ist das Hauptverfahren zur Speicherung und die Zirkulation der Spuren (Schrift, Typografie, Elektronik, das Digitale). Diesem hegemonischen Verfahren entspricht ein bestimmtes Milieu für die Übermittlung der Botschaften […], ein Makromilieu, das wir ‚Mediensphäre‘ nennen wollen. Diese legt eine bestimmte Art regulierender Beziehungen fest, eine besondere Zeitlichkeit (oder eine typische Beziehung zur astronomischen Zeit) und eine bestimmte Art, wie Gemeinschaften eine Einheit, einen Körper bilden (mehr als nur einen Rahmen für ihren territorialen Zusammenschluss).6
Die Gründung der Tour de France durch die damalige Tageszeitung L’Auto (die heutige L’Équipe) zur Steigerung der Auflage ist das eindrücklichste Beispiel für die Gegenseitigkeit von Radsport und medialer Sphäre der gedruckten Sprache in der Zeitung. 3 4 5 6
Barthes: Mythologies (1970 [1957]), S. 104. Gelz: Helden der Landstraße? (2019), S. 48. Ebd., S. 47. Debray: Einführung in die Mediologie (2003), S. 57.
Transmission / Übersetzung
An diese Beobachtung schließt sich eine historische These an: Es gibt eine diachrone Verschiebung zwischen den Mediosphären, die den Radsport als Leitmedium übersetzen. Diese These ist im Folgenden anhand zweier literarischer Darstellungsverfahren der Übersetzung zu überprüfen, die sich in der jeweiligen Mediosphäre neu konfigurieren. In systematischer Hinsicht widmet sich der Artikel erstens der Allegorie als bildgebendem Verfahren, die anhand eines kurzen Textes des Radfahrers und Schriftstellers Alfred Jarry untersucht wird, und zweitens der Reportage als einer Übersetzungsform von Fakten und Ereignissen, die anhand der berühmten Reportage über die Tour de France von 1924 Les forçats de le route von Albert Londres in den Blick genommen wird. Dies zunächst vor dem Hintergrund der Mediosphäre des gedruckten Wortes in der Zeitung. Anschließend lässt sich drittens die Genreentwicklungen des Schreibens über den Radsport anhand der beiden Darstellungsverfahren zu den Bedingungen der Mediosphäre des Bildes bzw. des Fernsehens nachzeichnen. Hier liegt der Fokus auf zwei schreibenden Sportlern, die selbst als Radprofis aktiv und gleichzeitig schriftstellerisch bzw. journalistisch tätig waren bzw. sind: dem ehemaligen niederländischen Radprofi und Kolumnisten Peter Winnen und dem noch aktiven französischen Radprofi und Philosophen Guillaume Martin. 1.
Allegorien in Zeiten der Tagespresse
Am Karsamstag, dem 11. April des Jahres 1903, knapp zweieinhalb Monate bevor die Tour de France ihre Premiere feierte, erschien in der Zeitschrift Le Canard sauvage ein kleiner Text von Alfred Jarry. Er trägt den Titel „La passion considérée comme course de côte“ und reihte sich in die Thematik dieser wöchentlich erscheinenden Zeitung ein, die für die Karwoche religiöse Themen gewählt hatte. Die Zeitschrift erschien in insgesamt 31 Ausgaben im Jahr 1903 und wurde dann wieder eingestellt.7 Der Titel beschreibt das allegorische Programm des Textes. Die Allegorie als bildgebendes rhetorisches Verfahren knüpft an das kulturell tradierte Bildprogramm Passionsweg an. Considérer comme vermittelt zwischen der religiösen Bildwelt des Passionsweges und der des Bergrennens im Radsport. Schritt für Schritt oder Tretkurbelumdrehung für Tretkurbelumdrehung übersetzt Jarry die Elemente der Passion in die Anschauungssphäre des Radsports. Pilatus startet das Rennen, der „rédacteur sportif saint Mathieu“8 berichtet und es finden nacheinander Dornenkrone, Auspeit-
Vgl. Jarry: Œuvres complètes, Bd. 2 (1987), S. 885. Der originale Veröffentlichungskontext in der Zeitschrift Le Canard sauvage ist über das digitale Angebot der Bibliothèque nationale de France zugänglich, siehe Jarry: La passion considérée comme course de côte (11.–17.04.1903). Dort kann man sich auch ein umfassendes Bild von der thematisch ganz auf das Passionsgeschehen ausgerichteten Nummer verschaffen. 8 Jarry: La passion considérée comme course de côte (1987), S. 420; im Folgenden unter Angabe der Seitenzahl direkt im Text nachgewiesen. 7
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Daniel Kazmaier
schung, Kreuzaufnahme usw. ihren Platz innerhalb des Settings Radrennen. Jarry belässt es allerdings nicht bei einem simplen hypertextuellen Pastiche9, das schlicht die Bilder zweier Vorstellungsbereiche übereinander legt. Nachdem Jarry das Fahrrad zum Kreuz hat werden lassen, das Jesus auf sich nimmt, weil er einen platten Reifen hat, wendet sich der Text weg vom Beschreiben des Renngeschehens und hin zu einer Reflexion der Darstellung, indem er dem allegorischen Verfahren eine eigene (Medien-)Geschichte zuschreibt: Des gravures du temps reproduisent cette scène, d’après des photographies. Mais il semble que le sport du cycle, à la suite de l’accident bien connu qui termina si fâcheusement la course de la Passion […] fut interdit un certain temps, par arrêté préfectoral. Ce qui explique que les journaux illustrés, reproduisant la scène célèbre, figurèrent des bicyclettes plutôt fantaisistes. Ils confondirent la croix du corps de la machine avec cette autre croix, le guidon droit. Ils représentèrent Jésus les deux mains écartées sur son guidon, et notons à ce propos que Jésus cyclait couché sur le dos, ce qui avait pour but de diminuer la résistance de l’air. (S. 421)
Mehr als den Rennverlauf an sich bespricht der Text vor allem die medialen Aufbereitungen des Ereignisses. Entlang des Leitfadens der Allegorie macht Jarry die Passionsgeschichte ebenso als mediale Überlieferung durchsichtig wie als Radrennen. Die vierzehn Stationen des Kreuzweges werden dabei zu vierzehn Kurven am Berg: Dans la côte assez dure du Golgotha, il y a quatorze virages. C’est au troisième que Jésus ramassa la première pelle. Sa mère, aux tribunes, s’alarma. Le bon entraîneur Simon de Cyrène, de qui la fonction eût été, sans l’accident des épines, de le ‚tirer‘ et lui couper le vent, porta sa machine. Jésus, quoique ne portant rien, transpira. Il n’est pas certain qu’une spectatrice lui essuya le visage, mais il est exact que la reporteresse Véronique, de son kodak, prit un instantané. (S. 422)
Einerseits verbindet der Text die Bilder der biblischen Passion mit denen einer Bergetappe in ihren dramatischen Momenten, andererseits stellt er seine eigene Begrenztheit des Darstellens aus, die er als Verweis auf das ikonische Abbildungsverfahren als „instantané kodak“ (S. 422) figuriert. Denn dieses kann keine Ganzheit abbilden. Le déplorable accident que l’on sait se place au douzième virage. Jésus était à ce moment dead-head avec les deux larrons. On sait aussi qu’il continua la course en aviateur … mais ceci sort de notre sujet. (S. 422)
9
Zum Begriff Pastiche vgl. Genette: Palimpsestes (1982).
Transmission / Übersetzung
Den Radsport als Vergleichsschablone nutzend berichtet Jarry nicht die Bergankunft, sondern verweist auf das kulturelle Gedächtnis, das im Text selbst eine Ellipse produziert. Die doppelte Erwähnung von „on sait“ ersetzt die konkrete Darstellung des ‚Rennausgangs‘ im Text durch die Evokation des kulturellen Gedächtnisses. Dieses rhetorische Vorgehen reflektiert Jarry im letzten Satz seines Textes, wenn er selbst zugibt, dass der Text in seiner Darstellungsleistung an seine Grenzen kommt, weil das Thema „sort de notre sujet“, und damit in ein anderes Register übergeht. Die Erwähnung des Fliegens (und damit der Übergang in die Unanschaulichkeit) fällt zusammen mit der rhetorischen Figur der Aposiopese, die grafisch durch die drei Auslassungspunkte realisiert ist. Mit der Allegorie des Märtyrers als Radsportler, die gleichzeitig den Radsportler zum Märtyrer macht,10 hat Jarry eine Grundfigur des Schreibens über Radsport gestiftet und zugleich ironisiert. 2. Reportage
Damit ist das Schwierigkeitsprofil abgesteckt für die Reportage, die das Ereignis und das Schreiben darüber in ein Näheverhältnis bringt. Die Übersetzungsleistung dieser Schreibweise lässt sich an Albert Londres’ Artikelserie Les forçats de la route analysieren. Londres berichtete für den Petit Parisien in zwölf Episoden in einer „telegrammartigen Schreibweise“11 von den 15 Etappen der Tour de France 1924. Seine Artikel erschienen im Petit Parisien jeweils als Bericht von der Etappe des Vortags. Londres begleitete die Rennfahrer mit einem Auto und erfuhr so am eigenen Leib das Problem der Übersetzung, Distanz in Nähe zu verwandeln. In seinem Bericht über die Staubetappe „Dans la poussière, de Brest aux Sables d’Olonnes“ vom 28. Juni 1924, der am 29. Juni 1924 im Petit Parisien erschien, thematisierte er diese Schwierigkeit direkt im Bericht. Die Differenz in der Wahrnehmung zwischen ihm als mobilem Reporter, den Zuschauer:innen am Zielort und den Radrennfahrern übersetzt Londres in einen Dialog zwischen ihm und dem Publikum: Je les devance, j’arrive aux Sables, ils ont quatre cent douze kilomètres dans les jambes, ce qui fait d’ailleurs mille cinq cent soixante avec les précédent; ils ont le soleil, ils ont la poussière, ils ont les fesses en selle depuis deux heures du matin, il est six heures trente du soir; dans une dernière souffrance ils font un dernier effort pour l’arrivée. La foule fatiguée me crie: ‚Eh bien! Ils dorment?‘ – Non.12 In gendertheoretischer Perspektive wäre hier weiter zu fragen, ob das Schreiben über Frauen im Radsport ähnlich codiert wird: Welche Bilder aus dem kulturellen Archiv werden hier aktiviert? 11 Gelz: Helden der Landstraße? (2019), S. 51. 12 Londres: Les forçats de la route (2008 [1992]), S. 25. Die Textnachweise sind im Folgenden nach dieser Ausgabe mit der Angabe der Seitenzahl direkt im Text nachgewiesen. 10
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Daniel Kazmaier
Die genauen Zeit- und Kilometerangaben erzeugen den größtmöglichen Kontrast zwischen dem immobilen Publikum am Zielort und dem mobilen Reporter. Londres gibt der punktuellen Wahrnehmung des Publikums eine kollektive Stimme, indem er es als „foule fatiguée“ (S. 25) bezeichnet, die ob des langen Wartens fragt, ob die Radfahrer schlafen. Dieser Aussage stellt er ein einfaches „Nein“ entgegen, das den Schluss des Textabschnitts bildet und das seine lapidare Überzeugungskraft durch die Aufzählung der Schwierigkeiten, mit denen die Rennfahrer im Verlauf der Etappe zu kämpfen haben, gewinnt. Diese akkumulierende Beschreibung („ils ont […], ils ont […], ils ont […]“) kontrastiert er mit der unterstellten Reaktion des Publikums, um so den Effekt der Unanschaulichkeit sinnfällig zu machen. Während das Publikum bereits im Flachen den Überblick verliert, verliert der Reporter ihn in den Bergen. Die Berge zerstören nicht nur die Ambitionen der meisten Rennfahrer, sondern auch die Übersichtlichkeit des Rennens. Am Tourmalet passiert Londres die abgehängten Fahrer und muss das Rennen aus einzelnen Schlaglichtern und Beobachtungsfragmenten zusammensetzen: Le Tourmalet est un méchant col; le long de son chemin il aligne les vaincus. […] Un routier pleure. […] Un kilomètre plus haut, la statue du désespoir apparaît: c’est un autre qui vient de crever. […] Pourtant un homme s’est sauvé: c’est Bottechia, le maillot jaune; il est tellement en avant qu’on ne sait plus où il est. Nous lui donnons la chasse depuis une heure à la vitesse de cinquante-cinq kilomètres heure. En passant, je regarde de temps en temps dans les ravins, mais il n’y est pas non plus. C’était après le Tourmalet; je ne m’affolai pas, pensant que le col d’Aspin se chargerait de calmer ses cuisses. Ce n’est pourtant que bien au-delà que j’aperçus enfin quelque chose qui avançait: c’était le nez de Bottecchia. Et comme Bottecchia suivait immédiatement son nez, je mis enfin la main sur le coureur. (S. 32 f.)
Die Beschreibung selbst kann in den Höhen der Berge keine Totalität mehr liefern. Dass Londres die Gestalt Ottavio Bottecchias von der Nase her zusammensetzt, hat neben der grotesken Überzeichnung auch einen poetisch-funktionalen Charakter. Im ursprünglichen Veröffentlichungskontext des Berichts zu dieser Etappe im Petit Parisien findet sich eine Karikatur Bottecchias direkt über dem tatsächlichen Text, die Nase und Name in ein Bild-Text-Verhältnis setzt.13 Die Namen der Rennfahrer dienen im Vermittlungsprozess der Stabilisierung der Erfahrung, die das Episodenhafte zusammenhält.14 Und die Wendung mettre la main sur le coureur bekommt auf diese Weise eine doppelte Bedeutung: Sie fängt im sprachlichen Bild den Radsportler ein, lenkt aber im gleichen Atemzug die Aufmerksamkeit auf das Verfahren der Aufzeichnung 13 14
Vgl. Cabrol: Bottecchia (03.07.1924). Vgl. dazu auch Barthes: Mythologies (1970 [1957]), S. 103 f., 111 f.
Transmission / Übersetzung
und damit der zu übersetzenden Distanz, um (die schreibende) Hand anlegen zu können. Den Rennfahrer bekommt Londres eben nicht als Ganzen in die Finger, sondern nur synekdochisch verschoben über die große charakteristische Nase Bottecchias. Gerade der Verzicht auf Totalität in der Beschreibung verleiht der Reportage aber ihren charakteristischen Zug der Unanschaulichkeit. Um die Welt (der Tour de France) lesbar zu machen, greift Londres in seinen Beschreibungen auch auf naturwissenschaftliche Methoden zurück, imitiert deren Messverfahren und übersetzt diese in eine Aufzählung. Von der Etappe nach Nizza berichtet Londres in der Ausgabe vom 9. Juli Folgendes: D’après un savant, il paraîtrait qu’à Paris, à six heures du soir, dans les allées du bois de Boulogne, on compte quatre-vingt-neuf mille sept cent cinquante bactéries au mètre cube de poussière. Le même homme de science affirme que l’on trouve quatre-vingt-douze mille sept cent vingt-cinq dans le Métropolitain. Enfin, dans une salle de danse, après un tango, le nombre des bactéries s’élèverait à quatre cent vingt mille. Tout cela n’est qu’enfantillages. (S. 44)
Nachdem er die Kontrollwerte aufgezählt hat, lässt er den Wissenschaftler einen Tag lang den Gehalt der Bakterien in der Luft während einer Tour-Etappe messen. Muni de ses instruments, le docteur s’installa à mes côtés. […] La Renault n’était plus une voiture, mais un laboratoire. À l’arrivée à Nice, le docteur m’a dit: – Vous pouvez télégraphier que le nombre des bactéries du Tour de France est de seize à dix-neuf millions par mètre cube d’air! … (S. 45)
Diese Berechnungen dienen Londres dazu, ein Maß für die Unanschaulichkeit zu bekommen. Seine Reportage stellt also im selben Atemzug die Unanschaulichkeit aus, wie sie sie kompensiert. Er parallelisiert das Messen des docteur mit dem eigenen Berichten. Seite an Seite gehen die beiden ihren Bemessungen und Beschreibungen im „laboratoire“ (S. 45) des Autos nach und melden zum Abschluss ihr Ergebnis per Telegraf an die Zeitungsredaktion. Im anschließenden Abschnitt erklärt er sein Vorgehen in einer direkten Ansprache an sein Lesepublikum: Ce n’est pas sans motif que je vous livre ces calculs, c’est pour vous faire comprendre l’événement de cette étape. Dix-neuf millions de bactéries arrivent à faire une substance si épaisse, qu’aujourd’hui Bottecchia a disparu dans cette poussière. (S. 45)
Konnte Londres Bottecchia zunächst noch von der Nase her zusammensetzen, so verschwindet er jetzt gänzlich. Das hat seinen inhaltlichen Grund darin, dass die italienischen tifosi, die auf der Etappe nach Nizza zahlreich über die Grenze geströmt waren, um ihren Landsmann anzufeuern, ihren Radhelden sonst mit ihrer Zuneigung erdrückt hätten und ihn nicht weiterfahren hätten lassen, so dass er in der Vorausahnung ein anderes Trikot als das gelbe angezogen hatte. Sein Kollege Romain Bellenger fragt ihn, ob man ihn denn nicht an seinem Gesicht erkennen könne:
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Daniel Kazmaier
– Et ta figure? Lui demanda Bellenger. [Die Edition transkribiert „la“, DK] Alors Bottecchia lui répondit : – Avec la poussière, on n’a plus de figoure. (S. 46)
Der Text selbst ahmt die Geste der Defiguration nach. Der Staub (poussière) überträgt seinen zentralen Laut /ou/ auf das Gesicht Bottecchias, das dadurch von der figure zur figoure wird. Gleichzeitig nimmt die darauffolgende Zwischenüberschrift die lautliche und grammatische Struktur von Bottecchias Äußerung auf und lässt dadurch den französischen Rennfahrer Alavoine dem Pech entrinnen, „Alavoine n’a plus la poisse“ (S. 46). Aus poussière wird poisse, das in seiner Lautstruktur nur das vokalische Element austauscht. Lautlich dergestalt angenähert wird der Staub für den Rennfahrer Alavoine zum Ausweg aus der Misere, oder kurz: poussière verdrängt poisse. Was hier auf der Mikroebene der Lautstruktur nachvollzogen wird, ist konstitutiv für die gesamte Reportage. Latent stellt sie durch ihre Form der lustvollen Defiguration entweder auf der inhaltich-dargestellten Ebene oder der Darstellungsebene immer wieder und immer neu die Frage nach der transmission / Übersetzung der Ereignisse. Auch als Ensemble inszeniert die Artikelserie ein „gattungstheoretische[s] Spannungsverhältnis“. Diese kann nämlich „als eine Summe kurzer journalistischer Artikel oder als eine durch das einheitsstiftende Motiv der Etappenfahrt plausibilisierte literarische Verknüpfung und Ausarbeitung dieser Artikel gelesen werden“15. Übersetzung zeigt sich an Londres’ Reportage nicht nur als eine Vermittlung, sondern auch als eine signifikante Verkettung der Ereignisse im Sinne einer sekundären Strukturierung, die man poietisch nennen kann. Der immer wieder thematisierte Staub kann so für die lose Kopplung der Elemente in einer etappenhaften Serialität stehen, die ihr Pendant im Veröffentlichungskontext der Zeitung findet. Londres entwickelt eine regelrechte Lust am Entstellen und Defigurieren, refiguriert am Schluss aber seinen Text, das Geschehen und die Tour wieder. Mittels der anaphorischen Reihung „Vous allez voir“ (S. 57 f.), die Sichtbarkeit ostentativ ausstellt, ordnet Londres das Gesamtklassement bzw. überbrückt so die zugrundeliegende Unanschaulichkeit des Rennens, die er selbst zuvor inszeniert hat. 3.
Wechsel der Mediosphäre
„Die Tour lebt durch die Berichterstattung, mehr als durch die Beobachtung am Straßenrand, sie ist Erzählung von Ereignissen“16, konstatiert Georges Vigarello in einem Artikel zur Tour de France als Erinnerungsort. Vor allem aber ist die Tour de France
15 16
Gelz: Helden der Landstraße? (2019), S. 53. Vigarello: Die Tour de France (2005), S. 476.
Transmission / Übersetzung
die Erzählung einer Kette von Ereignissen, die medial vermittelt werden. Die bisherigen Beispiele stammen aus der Mediosphäre des gedruckten Wortes, in der der Radsport als Straßenrennen auf das mediale Setting von Zeitung, Zeitschrift und Telegrafie abgestimmt wurde. Wie ändert sich – mit Vigarello gefragt – die Art und Weise der Berichterstattung mit dem aufkommenden Fernsehen?17 Eine erste Antwort liefert Hans Theo Siepe: „Mit den dann später durch das Fernsehen übertragenen Bildern gibt es im Laufe der Entwicklung einen anderen Rezeptionsmodus, der die Tour heute profaner macht, entmystifiziert, mehr banalisiert und zu einem Sportprodukt werden lässt.“18 Er unterstreicht die Tatsache, dass das Fernsehen die Unanschaulichkeit zerstöre, die „die Faszination der Helden“ erst bedinge, weil sie erst „durch die Berichte und Erzählungen in den Zeitungen und im Radio“ so richtig entstehe: „Die Unsichtbarkeit der herausragenden Aktionen und der Fahrer konnte in besonderem Maße die Imagination beflügeln.“19 Hans Blickensdörfer erzählt in seinem 1997 erschienenen Buch über die Geschichte der Tour de France hingegen eine andere Geschichte über die Rolle der Medien in Bezug auf die Tour de France: Denn nirgends wird deutlicher als bei der Tour de France, welch wichtiger Begleiter das geschriebene Wort für das außergewöhnliche Ereignis am Bildschirm ist. Die vom Bild stimulierte Einbildungskraft will durch die geschriebene Reportage befriedigt werden.20
Blickensdörfer kalkuliert ganz selbstverständlich mit dem Fernsehen als Leitmedium. Er bemüht zu diesen medialen Bedingungen die Idee der transmission als Analogie von Kraft- und Informationsübertragung. Als Informationsübertragung macht er jedoch das geschriebene Wort stark. Seine Argumentation ist erstaunlich. Die Mediosphäre des Bildes erzeugt durch seine Fülle, nämlich die Stimulation der Einbildungskraft, eine Leerstelle. Dass das (bewegte) Bild die Einbildungskraft stimuliert, stellte Siepe gerade in Abrede. Beide sind sich jedoch einig darüber, dass es eine Leerstelle zu füllen gilt. Dazu bedarf es für Blickensdörfer weiterhin des geschriebenen und gedruckten Wortes: Und so, wie der Rennfahrer die Kraft seines Willens und seiner Muskeln mittels einer Kette auf sein Hinterrad überträgt, setzt der Reporter seine Eindrücke um, und nur dem heißen Atem der geschriebenen Reportage verdankt es die große Karawane des Juli, daß sie das Jahrhundert der Motorisierung überleben wird.21
Eric Reed analysiert die Tour de France als „a global spectacle since its creation“. Aber erst mit dem Aufkommen des Fernsehens und des Internets können jedoch wirklich Menschen aus aller Welt zuschauen eben „on television and the Internet“. Siehe Reed: Selling the Yellow Jersey (2014), S. 7. 18 Siepe: Die Tour de France (2019), S. 38. 19 Ebd., S. 40. 20 Blickensdörfer: Tour de France (1997), S. 5. 21 Ebd. 17
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Das übertragene Bild ohne Wort bzw. ohne Text oder Reportage bleibt für sich allein genommen kalt und braucht den ‚heißen Atem‘ des Reporters bzw. der Reporterin. Während für Siepe das Bild für sich allein ‚heiß‘ war und nichts der Imagination überlässt, so ist es für Blickensdörfer ‚kalt‘ und braucht die Reportage als Kompensation. Diese überträgt – sprachlich analog zum Radfahrer, der die Kraft auf die Kette bringt – die Informationen, die im Bild nur als zu verwirklichende Möglichkeiten aufscheinen. Während Blickensdörfer den journalistischen Helden und seine ‚geschriebene‘ Reportage beschwört und ihn damit dem Rennfahrer auf der Straße gleichstellt, proklamiert Siepe schlicht die Profanisierung durch das Fernsehen. Die Statements machen allerdings vor allem auf eines aufmerksam: Unter dem neuen medialen Vorzeichen verschwindet die Unanschaulichkeit nicht, sie wird auf einen anderen Bereich verschoben. Fernsehen bringt schlicht eine andere Art der transmission / Übersetzung hervor. In Bezug auf den Radsport sind alle medialen Vermittlungen ‚heiß‘ im Sinne von Marshal McLuhans Unterscheidung zwischen heißen und kalten Medien. „Any hot medium allows of less participation than a cool one“22, schreibt er. Ein kaltes Medium, das den Zuschauer:innen alle Partizipationsmöglichkeiten mitliefert, gibt es vor allem in Bezug auf den Straßenradsport nicht. Dies ist die Voraussetzung für das Genre des Erfahrungsberichts im Radsport, in dem Erzählende und Erfahrende zusammenfallen. Wie fühlt sich das Radrennen also ‚von innen‘ an? Diese Frage ist bisher mit dem Verweis auf den Roman De renner von Tim Krabbé, der bezeichnenderweise ebenfalls selbst als Erzählender und Erfahrender über ein Radrennen schreibt, nur kurz angetippt worden. Weil sich diese Problematik – wie sich nämlich der Sportler einerseits verständlich machen und andererseits auch entziehen kann – als basso continuo durch alle Texte zieht, die den Radsport aus der Sicht der Ausübenden selbst schildern, soll sie an zwei Selbsterfahrungsberichten aufgezeigt werden: den Radsporttexten des niederländischen Radprofis Peter Winnen und des französischen Radprofis Guillaume Martin. Der erste steht für die Schreibweise Reportage und der zweite für die Schreibweise Allegorie zu den Bedingungen der Mediosphäre Fernsehen bzw. der digitalen Medien. Das Unzeigbare ist hier nicht mehr auf die Ereignisse bezogen, sondern auf die Innenperspektive und die Gefühlswelt der Protagonisten selbst. Gerade weil die Zuschauer:innen die Radsportler leiden sehen, entgeht ihnen die innere Dimension dieses Leidens.
22
McLuhan: Understanding Media (2003), S. 23.
Transmission / Übersetzung
3.1.
Peter Winnen und die Reportage
Peter Winnens Autobiografie, die im Deutschen den Titel Post aus Alpe d’Huez trägt,23 ist im Grunde eine Biografie des Radsportlers Peter Winnen. Der Text deckt nicht sein Leben als Ganzes ab, sondern beschränkt sich auf das Sportlerleben, das Winnen auf den Zeitraum vom „7. August 1978“ (S. 5) bis zum „12. Mai 1991“ (S. 295) datiert. Der Blick auf den Untertitel Eine Radsportkarriere in Briefen verweist jedoch eher auf das Genre des Briefromans als auf eine Autobiografie. Die Prämisse des literarischen Genres ist die schriftliche Übermittlung intimer Einsichten von Freund zu Freund. Die Adressierung aller ‚Briefe‘ an den Freund Hans strukturiert die Rezeptionssituation als einen intimen Einblick in die Radsportereignisse. So wird der Eindruck vermittelt aus erster Hand Wissen zu beziehen, wie es war, wie es sich wirklich angefühlt hat. Genau dies wandelt der Text jedoch an entscheidenden Punkten in eine Reflexion über die Vermittlung um. Bei der Tour de France 1981 gewinnt Winnen die Etappe nach Alpe d’Huez und wird nach der Tour in seiner Heimatstadt empfangen. Während dieses Empfangs wird die „Radioreportage“ (S. 126) seines Etappensieges abgespielt. Diesen auditiven Bericht gleicht Winnen bei der Beschreibung des Festes mit den Fernsehbildern der Etappe ab, die er in seinem Hotelzimmer noch am gleichen Abend angesehen hat, und reflektiert das krasse Missverhältnis zwischen der Radioreportage, den Fernsehbildern und dem eigenen Empfinden. Nichts an dem Radiobericht taugte etwas. Die Fakten waren zwar richtig, doch es fehlte etwas. Im Hotel oben in Alpe d’Huez hatte ich abends die Bilder vom Anstieg im Fernsehen gesehen. Damals hatte ich dasselbe Gefühl. Ich wusste, wie mühsam ich zum Schluss vorangekommen war. Ich wusste, dass ich gekrochen war. Aber den Bildern sah man das nicht an. Es fehlten die Untertitel oder was weiß ich. (S. 126)
Blickensdörfer würde nun betonen, dass der ‚heiße Atem‘ des Reporters bzw. der Reporterin fehle, der einzig dazu in der Lage sei, die Gesamtheit einer vollumfänglichen Erfahrung zu garantieren. Gerade bei einem autodiegetischen Erzählen ist allerdings die Kopplung von Erleben und Erzählen so eng geknüpft wie in kaum einer anderen Erzählanlage. Die Form des Briefes verstärkt diese Kopplung zusätzlich. Trotzdem konstatiert Winnen hier eine nicht zu überbrückende Lücke zwischen der eigenen Erfahrung und deren Vermittlung. Indem er jedoch diese Lücke über die mediale Vermittlung so anschaulich ausstellt, erzählt er die fundamentale Erfahrung des Radrennens als eine Leere, die letztlich nur ex negativo erzählbar ist. Gegen BlickensdörVgl. Winnen: Post aus Alpe d’Huez (2005 [2002]); im Folgenden unter Angabe der Seitenzahl direkt im Text nachgewiesen. Der Titel des niederländischen Originals lautet schlicht Van Santander naar San tander nach der spanischen Stadt, in der Winnens Karriere als Berufsrennfahrer ihren Anfang und ihr Ende nahm. 23
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fers Wendung vom ‚heißen Atem‘ – mit McLuhan gelesen als eine mediale Voraussetzung oder als Durchdringung der Vermittlung weitergesponnen – legt Peter Winnens Selbstreportage einen Widerspruch ein. Der Atem muss – will man in Blickensdörfers Bildbereich bleiben – immer erst erkalten, um als solcher wahrnehmbar zu sein. Der Erzählung des Radsports, für die der Atem metaphorisch steht, fehlt konstitutiv etwas. Sowohl als Bild wie auch als Audioreportage kann sie die innere Erfahrung nicht einsichtig machen, weil diese keinen dramaturgischen Aufbau hat. Die briefliche Schilderung Winnens an Hans geht zwar chronologisch vor – der Textabschnitt, der die Etappe nach Alpe d’Huez erzählt, ist strukturiert nach den noch zu fahrenden Kilometern – aber es existiert kein dramaturgischer Bogen. Stattdessen wird der Text fragmentiert und Winnen schildert momenthafte Eindrücke: Ich zitterte am ganzen Körper. In mir war nichts als eine unendliche Leere. […] Meine Muskeln fühlten sich an wie verhedderte Schnüre. Etwa an diesem Punkt endeten alle konkreten Gedanken. Warum jemand in so einem Moment weiterstrampelt, ist mir ein Rätsel. Ich musste mich mit Eindrücken begnügen. (S. 114)
Was er als Erlebender transportiert, sind vor allem auditive Eindrücke, die sich jedoch nicht zu einer kohärenten Geschichte fügen: Die Menge machte einen Radau, der fast das Trommelfell zum Platzen brachte. So ohrenbetäubend und überwältigend war der Lärm, dass ich ihm nachgab und mich von ihm forttreiben ließ. […] Ich hörte nun deutlich eine aufgeregte französische Stimme aus dem Lautsprecher schallen. Hinter mir röhrten Motorräder und Autos, und über mir machte ein Hubschrauber einen Höllenlärm. (S. 114)
Es ist dieses Gegeneinanderhalten der unterschiedlichen Modi der Übertragung, ja der Übersetzung von Erlebnissen und Ereignissen, die Winnens Buch auszeichnet. 3.2.
Guillaume Martin und die Allegorie
Guillaume Martin richtet auf den Seiten seines Buchs Socrate à vélo eine Tour de France der Philosophen aus.24 Er überblendet diese in einem zeitlosen mythischen Niemandsland angesiedelte Tour de France, in der unter anderen die griechische Nationalmannschaft mit ihren Radphilosophen sowie die französische und die deutsche Nationalmannschaft gegeneinander antreten, mit eigenen Erfahrungen und Re-
Vgl. Martin: Socrate à vélo (2020); im Folgenden unter Angabe der Seitenzahl direkt im Text nachgewiesen. 24
Transmission / Übersetzung
flexionen über das Verhältnis von Denken und Radfahren, von Körpern und ihren Zuständen. Der moderne Mythos der Tour de France dient ihm als Folie für eine allegorische Erzählung. Indem er erzählend Philosophen Rad fahren lässt, kann er deren Grundideen als imagines an den topischen loci des Modells Tour de France ansiedeln. Das Buch ist in drei Teile gegliedert: Der erste Teil beschreibt die Vorbereitungen auf eine dreiwöchige Rundfahrt, der zweite Teil erzählt eine fiktive, jedoch am Vorbild der Tour de France von 2017 ausgerichtete Radrundfahrt, in der Philosophen und Radsportlegenden zusammen und gegeneinander antreten. Der kurze dritte Teil, der als Postface gekennzeichnet und mit einem Datum signiert ist, reflektiert die Art des Erzählens und schreibt die mythische Tour wieder in den chronologischen Zeitverlauf ein. Dadurch springt der allegorische Modus auch auf die Gegenwart und den Ort des Schreibens über, denn Martin beendet sein Buch mit „25 février 2020, Rifugio Sapienza, Etna“ (S. 204). Das Rifugio Sapienza ist die Endstation der asphaltierten Straße zum Ätna hinauf. Der Text führt also direkt in die Gegenwart des schreibenden Radsportlers Guillaume Martin, der sich auf die Radsaison 2020 vorbereitet, in der er das Bergtrikot der Vuelta a España gewinnen wird. Die erzählte Tour de France erweist sich dabei einmal mehr als ein produktiver Mythos, aber ebenso stellt sich das Erzählen – wie bei Krabbé in nuce vorgezeichnet und von Barthes metaphorisch durch die Kriegssemantik verdeutlicht – als Ort vor dem Geschehen heraus. Beginnen lässt Martin den Text mit einer klassischen Einleitungsformel, die auf Fiktionalität hinweist: „Notre histoire commence à Olympie“ (S. 7). Im unmittelbaren Anschluss nennt er das Datum „un 10 décembre“, an dem die griechische Nationalmannschaft der Radprofis auf einer Pressekonferenz erklärt, dass sie mit den Philosophen Sokrates, Platon und Aristoteles an der Tour de France teilnehmen wird: Sitôt l’invitation de la Grèce officialisée, les médias jetèrent donc leur dévolu sur cette petite équipe, ayant eu vent de la particularité de ses membres. Les coups de fil et les demandes d’interviews s’enchaînaient. Tout le monde voulait son reportage. […] [O]n décida d’organiser une conférence de presse à l’occasion de ce fameux stage de pré-saison. (S. 9)
Hier macht Martin auf die Differenz zwischen der medialen Vermittlung und der unmittelbaren Erfahrung aufmerksam, die dem gesamten Text seine allegorische Grundierung verleiht. Die Strahlkraft dieses Radrennens erklärt er mithilfe von Medien. Die griechischen Athleten hätten bisher lediglich „via les journeaux ou leurs tablettes“ (S. 7) Eindrücke von der Tour de France mitbekommen. Martin unterstreicht damit die Aussage, dass die Tour de France zuerst ein Medienereignis ist. In der dargestellten Welt von Socrate à vélo ist die erste Frage, die den griechischen Philosophen und Radrennfahrern gestellt wird, die nach ihrem Namen: „Comment doit-on vous appeler d’ailleurs? Des ‚cyclosophes‘?“ (S. 15). Diese Darstellung von Philosophen auf dem Rennrad in einer vorgestellten Welt verbindet Guillaume Martin
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zunächst mit einer Reflexion der eigenen Position als Philosoph und Radsportler,25 denn ihm wurde die gleiche Frage gestellt wie den griechischen Philosophen auf der Pressekonferenz, nämlich die nach der medial vorgeprägten Kategorisierung. Diese Vorprägung bezieht Martin nun auf sich selbst als Schreibender. „Face au journalisme à la chaîne, impossible en effet de ne pas tomber dans une forme d’automatisme: telle question déclenche telle réponse, selon un algorithme personnel développé au fil des interviews“ (S. 20). Aus dieser Erkenntnis der Verflochtenheit von echtem persönlichem Ausdruck und medialer Zuschreibung entwickelt sich für Martin das Thema des Textes. Er befragt die Struktur der medial gesteuerten selbsterfüllenden Prophezeiung. Man wird, was man vorgibt zu sein. In dieser Logik gibt er sich selbst die Bezeichnung vélosophe: „Lui, c’est un … vélosophe“ (S. 25). Diese Bezeichnung wandert von der Erzählwelt des Guillaume Martin, der von seinem Training berichtet und über das Verhältnis von Körper und Geist im Lichte der Ausübung eines Sports erzählt, in die dargestellte Welt der Radsport betreibenden griechischen Philosophen hinüber. Dieser Übergang des Neologismus vélosophe geschieht in einem doppelten Kontext: der Verkörperung und der Vermittlung. Martin beschreibt die Trainingsroutinen als philosophische Übung, die ein „système d’auto-éducation physiologique“ (S. 43) beinhaltet bzw. voraussetzt. In der dargestellten Welt der Tour de France der Philosophen erscheint der Begriff vélosophe zum ersten Mal als Hashtag. Plotin schreibt im sozialen Netzwerk „Morphaїbiblion“, dem griechischen Facebook, an Platon und kennzeichnet seine Nachricht mit „#vélosophe“. Mediale und körperliche Prädisposition überlagern sich hier im digitalen Label, das beide Erfahrungsbereiche lediglich digital miteinander verbindet, indem es sie unter einem Lemma wieder auffindbar macht, aber eben nicht anschaulich. Indem Martin die philosophes durch eine kleine Lautverschiebung zu vélosophes macht, stellt er die grundsätzliche Frage allegorisch neu: Wie den Radsport schreiben? 4. Fazit
(Über) den Radsport schreibt man in besonderem Maße zu den Bedingungen der jeweiligen Mediosphäre. Die spezifische Unanschaulichkeit des Etappenrennens, das die Horizonte der Ausübenden und der Rezipierenden trennt, wird medial überwunden. Die Verfahren dieser Überwindung bzw. Überbrückung der Kluft hängen stark vom jeweiligen medialen Kontext ab. Aus der reichhaltigen Literatur über den Radsport konnten jeweils zwei literarische Verfahren – die Allegorie und die Reportage – herausgegriffen, deren Verhältnis zu den Bedingungen der Mediosphären ‚Print‘ und ‚bewegtes Bild‘ analysiert und die Rückwirkungen auf das literarische Schreiben
25
Zur Selbstdarstellung Martins als Philosoph vgl. Carrey: Guillaume Martin (26.06.2017).
Transmission / Übersetzung
beleuchtet werden. Weiter zu untersuchen wären die Gendereinflüsse und die spezifischen Erinnerungsdiskurse, die beim Erzählen über Radsport immer eine Rolle spielen.26 Gerade angesichts der Tour de France der Frauen, die im Sommer 2022 ihre Neuauflage feierte, sind Fragen von Wiedererinnerung und gegenderter medialer Vermittlung höchst virulent. Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen
Gedruckte Quellen Baldelli, Simona: Die Rebellion der Alfonsina Strada. Übersetzt von Karin Diemerling. Köln (Eichborn) 2021 [Original: Alfonsina e la strada. Palermo (Sellerio) 2020]. Coventry, David: Die unsichtbare Meile. Übersetzt von Volker Oldenburg. Berlin (Insel Verlag) 2017 [Original: The Invisible Mile. Wellington (Victoria UP) 2015]. Jarry, Alfred: Œuvres complètes, Bd. 2. Herausgegeben von Henri Bordillon unter Mitarbeit von Patrick Besnier und Bernard Le Doze. Paris (Gallimard) 1987. Jarry, Alfred: La passion considérée comme course de côte, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. 2. Herausgegeben von Henri Bordillon unter Mitarbeit von Patrick Besnier und Bernard Le Doze. Paris (Gallimard) 1987, S. 420–422. Krabbé, Tim: Das Rennen. Übersetzt von Susanne George. Stuttgart (Reclam) 2008 [Original: De renner. Amsterdam (Prometheus) 1978]. Londres, Albert: Les forçats de la route. Paris (Arléa) 2008 [1992]. Martin, Guillaume: Socrate à vélo. Le Tour de France des philosophes. Paris (Grasset) 2020. Winnen, Peter: Post aus Alpe d’Huez. Eine Radsportkarriere in Briefen. Bielefeld (Covadonga) 2005 [Original: Van Santander naar Santander. Brieven uit het peloton. Amsterdam (Rap) 2002].
Internet-Quellen Cabrol, Raoul: Bottecchia, in: Le Petit Parisien, Nr. 17.292, 03.07.1924, S. 1, https://gallica.bnf.fr/ ark:/12148/bpt6k6058002/f1.image (Stand: 01.08.2022). Carrey, Pierre: Guillaume Martin, le Nietzsche dans le guidon, in: liberation.fr, 26.06.2017, https://www.liberation.fr/sports/2017/06/26/guillaume-martin-le-nietzsche-dans-le-guidon_1579667/ (Stand: 01.08.2022). Jarry, Alfred: La passion considérée comme course de côte, in: Le Canard sauvage, Nr. 4, 11.– 17.04.1903, https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k867271d/f9.item.zoom (Stand: 01.08.2022).
26 Hier könnten beispielsweise Radsportromane wie David Coventrys Die unsichtbare Meile (2017 [2015]), in dem der Autor die Unsichtbarkeit des Geschehens mit dem Trauma des Krieges verbindet und in Erinnerungsreflexionen übersetzt, oder Simona Baldellis Die Rebellion der Alfonsina Strada (2021 [2020]) – ein Roman, der sich zum einen auf der Ebene der Gegenwart der Protagonistin, die die erste und bisher einzige Frau ist, die jemals an einer Männer Grand Tour teilgenommen hat, und zum anderen auf der Ebene der Gegenwart des Erzählens im Jahr 2017 abspielt – in den Blick genommen werden.
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Literatur
Barthes, Roland: Mythologies. Paris (Seuil) 1970 [1957]. Blickensdörfer, Hans: Tour de France. Mythos und Geschichte eines Radrennens. Künzelsau (Sigloch-Edition) 1997. Debray, Régis: Einführung in die Mediologie. Bern u. a. (Haupt) 2003. Gelz, Andreas: Helden der Landstraße? Die Tour de France im Spiegel der französischen Literatur – Ein Überblick, in: Leinen, Frank (Hg.): Vélomanie. Facetten des Radsports zwischen Mythos und Ökonomie. Bielefeld (transcript) 2019, S. 47–65. Genette, Gérard: Palimpsestes. La littérature au second degré. Paris (Seuil) 1982. McLuhan, Marshall: Understanding Media. The Extensions of Man. Corte Madera (Gingko Press) 2003. Reed, Eric: Selling the Yellow Jersey. The Tour de France in the Global Era. Chicago (University of Chicago Press) 2014. Siepe, Hans Theo: Die Tour de France – Ein nationaler Mythos?, in: Leinen, Frank (Hg.): Vélomanie. Facetten des Radsports zwischen Mythos und Ökonomie. Bielefeld (transcript) 2019, S. 25–45. Vigarello, Georges: Die Tour de France, in: Nora, Pierre (Hg.): Erinnerungsorte Frankreichs. München (Beck) 2005, S. 452–480.
Daniel Kazmaier, Studium der Fächer Germanistik und Romanistik an den Universitäten Tübingen
und Lyon 2, 2014–2022 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Frankophone Germanistik der Universität des Saarlandes und am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft / Medienwissenschaft, 2016 Promotion im Fach Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen mit dem Titel Poetik des Abbruchs. Literarische Figurationen von Negativität im 17. und 18. Jahrhundert, 2018–2019 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Frankreichzentrum der Universität des Saarlandes, 2019–2022 Geschäftsführer des Frankreichzentrums, seit September 2022 Professeur Junior für germanistische Literaturwissenschaft an der Université de Lorraine (Metz). Forschungsschwerpunkte: deutsch-französische Komparatistik; Schreibprozesse und Mediologie; Literaturtheorie (insbesondere französische); Beziehungen zwischen Philosophie, Religion und Literatur; Sport und Literatur.
Le Coq sportif – Edmond Haan Wie ein schwäbischer Gockel zum französischen Fußballstar wurde
ANSBERT BAUMANN
Es mag Menschen geben, die den 60. Geburtstag zum Anlass nehmen, ihr Persönlichkeitsprofil durch eine markante Anschaffung zu schärfen, beispielsweise in Gestalt eines exklusiven Modells aus dem Sortiment eines bekannten schwäbischen Automobilherstellers. Zu Dietmar Hüser passt eine solche Attitüde allerdings überhaupt nicht. Auch eine Bezugnahme zur schwäbischen Stadt Schorndorf, die als Geburtsort von Gottlieb Daimler (1834–1900) mit dem Slogan ‚Die Daimlerstadt‘ für sich wirbt, fällt im Zusammenhang mit seiner Person zunächst eher schwer. Immerhin wurde in Schorndorf aber nicht nur der berühmte Autopionier geboren, sondern beispielsweise auch Karl Friedrich Reinhard (1761–1837), der im Anschluss an sein Theologiestudium in Tübingen nach Frankreich emigrierte, in den diplomatischen Dienst seiner neuen Heimat eintrat und 1799 für einige Monate sogar französischer Außenminister war.1 Obwohl Reinhard ohne Zweifel eine interessante transnationale Mittlergestalt war, passt er aber definitiv nicht in eine zeitgeschichtliche Betrachtung; in jüngerer Zeit erblickten in Schorndorf allerdings neben einigen weiteren Politikern2 auffallend viele erfolgreiche Fußballspieler das Licht der Welt – womit wir an einem Punkt angekommen wären, der den Verfasser dieses Artikels nicht nur in Bezug auf gemeinsame Forschungsarbeiten mit Dietmar Hüser verbindet: Konkret wurden dort beispielsweise 1995 der inzwischen beim 1. FC Köln spielende Davie Selke geboren, 1988 der Torhüter Sven Ulreich, der 2015 vom Vf B Stuttgart zum FC Bayern München wechselte, und 1972 Konstantinos Konstantinidis, welcher als Jugendspieler vom Vf L Schorndorf zum Vf B Stuttgart ging, dann mit seiner Familie nach Griechenland auswanderte, wo er eine große Karriere machte und zum Nationalspieler aufstieg, ehe er später noch in Vgl. Paul: Karl Friedrich Reinhard (2016). Darunter befindet sich beispielsweise auch der erste Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg, Reinhold Maier (1889–1971), vgl. Matz: Reinhold Maier, S. 697–699. 1 2
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der Bundesliga für Hertha BSC, Hannover 96 und den 1. FC Köln zum Einsatz kam. Auch wenn sich in Konstantinidis’ Biografie ein gemeinsames Forschungsprojekt zu Fußball und Migration widerspiegelt,3 soll im Folgenden mit dem 1924 in Schorndorf geborenen Edmond Haan ein Fußballspieler im Mittelpunkt der Betrachtung stehen, dessen Lebenslauf zum einen in Dietmar Hüsers deutsch-französischen Forschungsschwerpunkt passt, zum anderen aber auch die Fragwürdigkeit nationaler Kategorisierungen verdeutlicht, womit der von Dietmar Hüser propagierte Ansatz, transnationale Gesichtspunkte auch bei zeithistorischen Untersuchungen zum Thema Fußball verstärkt zu berücksichtigen,4 in geradezu exemplarischer Weise Bestätigung findet. Zugleich verweist Haans Biografie auf das besondere Problem der nationalen Herkunft in den deutsch-französischen Beziehungen, welches in der zeitgeschichtlichen Forschung bislang keinen nennenswerten Widerhall gefunden hat.5 1. Die familiäre Herkunft als staatsrechtliches Problem – aus Helmut wird Edmond
Haans Vater Julian wurde am 10. April 1887 im oberelsässischen Dorf Sickert, unweit von Masmünster (Masevaux), im Kreis Thann, geboren.6 Er leistete 1907 seinen Wehrdienst in Mülhausen und wurde am 2. August 1914 zum Kriegsdienst eingezogen.7 Am 13. März 1915 wurde er aus der Preußischen Armee entlassen8 und zog noch während des Krieges nach Württemberg, wo er am 7. Juli 1917 in Obertürkheim bei Stuttgart die von dort stammende Klara Pauline Krämer (1895–1963) heiratete.9 Nach der Eheschließung zog das Paar nach Winterbach bei Schorndorf, wo Julian als Mechaniker arbeitete und schon am 19. September 1917 ein erster Sohn zur Welt kam.10 Am 1. Juli 1918 ließ sich die Familie in Schorndorf nieder, wo sie zunächst zur Untermiete in der Göppinger Steige 33 wohnte11 und später eine Mietwohnung in der Sonnenschein-
Vgl. Hüser / Baumann (Hg.): Migration – Integration – Exklusion (2020). Vgl. Hüser: Aktuelle Dimensionen (2020), S. 12–14; Hüser: „Integration. Gelingt spielend.“? (2020), S. 56–58; Hüser / Baumann: Fußfassen durch Fußball in der Fremde? (2016), S. 8. 5 Die Problematik taucht nur in wenigen Arbeiten auf und wird dabei meistens nur am Rande erwähnt, vgl. Grünewald: Die Elsass-Lothringer im Reich (1984), S. 30–32; Müller: Die französische Gesandtschaft in München (2010), S. 117–121. 6 Vgl. ADHR, 5 E, Nr. 3/1887: Geburtsurkunde von Julian Haan, 10.04.1887. 7 Vgl. ADHR, 18 AL 2/96, Nr. 1921: Julien Haan, 1907. 8 Vgl. ebd. 9 Vgl. StASCH, Familienregister, Bd. XIV, Bl. 160: Familienregister Haan. 10 Julian Haan (1917–1972), vgl. ebd., Bl. 161: Familienregister Haan, Kinder. 11 Vgl. StASCH, Standesamt, Wohnungsanmeldungen: Wohnungsanmeldung der Familie Haan, 02.07.1918. 3 4
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straße 36 bezog.12 In den folgenden Jahren kamen zwei Töchter auf die Welt, ehe am 25. Mai 1924 mit Helmut August ein weiterer Sohn geboren wurde.13 Während die Familie in der schwäbischen Provinz kontinuierlich anwuchs,14 wurde sie Mitte der 1920er-Jahre von den großen politischen Entwicklungen eingeholt, und zwar in Gestalt eines vordergründig recht banalen staatsrechtlichen Problems: Im bundesstaatlich organisierten Deutschen Reich hatte es bis 1918 nämlich keine deutsche Staatsbürgerschaft gegeben, sondern lediglich die Staatsangehörigkeiten der einzelnen Gliedstaaten. Der Geltungsbereich eines entsprechenden, ursprünglich für den Norddeutschen Bund geltenden Gesetzes über die Erwerbung und den Verlust der Bundesund Staatsangehörigkeit15 vom 1. Juni 1870 war nach der Reichsgründung 1871 zunächst auf die süddeutschen Bundesstaaten ausgeweitet worden;16 verkompliziert wurde die Lage allerdings durch die Eingliederung des ‚Reichslandes Elsaß-Lothringen‘ in das staatsrechtlich als föderaler Fürstenbund aufgebaute Deutsche Reich:17 Zwar wurde die dabei neu geschaffene elsässisch-lothringische Landesangehörigkeit mit dem Reichsgesetz vom 8. Januar 1873 der Staatsangehörigkeit in den einzelnen deutschen Gliedstaaten gleichgestellt,18 aber faktisch blieb die Rechtslage für in Elsaß-Lothringen geborene Personen im Kaiserreich eher kompliziert, da deren Staatsbürgerschaft, im Gegensatz zu allen anderen Reichsangehörigen, nicht an einen bereits vor 1871 bestehenden Rechtszustand anknüpfen konnte.19 Daran konnte auch das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz20 vom 22. Juli 1913 nichts ändern, in dem der Sachverhalt nochmals festgeschrieben wurde: „Deutscher ist, wer die Staatsangehörigkeit in einem Bundesstaat […] besitzt. […] Elsaß-Lothringen gilt im Sinne dieses Gesetzes als Bundesstaat.“21 Außerdem wurde in dem Gesetz festgelegt, dass die Staatsangehörigkeit in einem Bundesstaat durch Geburt erworben wird (§ 3), dass eine Frau durch die Eheschließung „die Staatsangehörigkeit des Mannes“ (§ 6) und „das eheliche Kind eines Deutschen die Staatsangehörigkeit des Vaters“ (§ 5) erwirbt.22
Vgl. ebd., Karteien des Einwohnermeldeamts: Haan, Julian. Vgl. StASCH, Familienregister, Bd. XIV, Bl. 161, Anlage: Geburtsurkunde von Helmut August Haan, 25.05.1924. 14 Zwischen 1925 und 1930 wurden noch zwei Töchter und zwei Söhne geboren, vgl. StASCH, Familienregister Bd. XIV, Bl. 161: Familienregister Haan, Kinder. 15 Vgl. Gesetz über die Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit, 01.06.1870. 16 Vgl. Gesetz betreffend die Einführung Norddeutscher Bundesgesetze in Bayern, 22.04.1871. 17 Vgl. Baumann: Die Erfindung des Grenzlandes Elsass-Lothringen (2013), S. 167. 18 Vgl. Gesetz betreffend die Einführung des Reichsgesetzes über die Freizügigkeit vom 1. November 1867 und des Reichsgesetzes über die Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit vom 1. Juni 1870, 08.01.1873. 19 Vgl. Schätzel: Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht (1958), S. 4–6. 20 Vgl. Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz, 22.07.1913. 21 Ebd., S. 583. 22 Zitate ebd., S. 583 f. 12 13
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Da die Staatsbürgerschaft nicht nur die rechtliche Beziehung zwischen Individuen und dem staatlichen Gemeinwesen im nationalen Rahmen definiert, sondern im Kontext der internationalen Staatenordnung auch die Zugehörigkeit zu einem Staat,23 sollten diese staatsrechtlichen Rahmenbedingungen nach der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg zu einem größeren Problem werden: Am 10. Januar 1920 trat bekanntlich der Friedensvertrag von Versailles in Kraft, mit welchem nicht nur die Rückgliederung des ‚Reichslandes Elsaß-Lothringen‘ an die Französische Republik bestätigt,24 sondern auch festgelegt wurde, welche Personen künftig die französische Staatsangehörigkeit erlangen sollten: Der Artikel 5425 des Vertrages bezog sich diesbezüglich auf eine entsprechende Anlage26, in welcher genauer definiert wurde, wer mit „Wirkung vom 11. November 1918 […] von Rechtswegen die französische Staatsangehörigkeit“ erwerben sollte – dies waren in erster Linie „Personen, die durch den französisch-deutschen Vertrag vom 10. Mai 1871 die französische Staatsangehörigkeit verloren und seitdem keine andere als die deutsche Staatsangehörigkeit erworben“27 hatten, sowie deren Nachkommen. Das so festgeschriebene Abstammungsprinzip wurde von französischer Seite damit begründet, dass es von 1871 bis 1918 eine ‚virtuelle Staatsangehörigkeit‘ gegeben habe, die nun, durch die Annullierung des Friedenvertrags von Frankfurt von 1871, wieder in eine reelle Staatsbürgerschaft überführt werde.28 Allerdings waren die Ehepartnerinnen der davon betroffenen Personen lediglich berechtigt, „innerhalb eines Jahres nach Inkrafttreten des gegenwärtigen Vertrags […] Anspruch auf die französische Staatsangehörigkeit“29 zu erheben.30
Vgl. Angster: Staatsbürgerschaft (2019), S. 81 f. Vgl. Gesetz über den Friedensschluß zwischen Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten, 16.07.1919, S. 802–805. 25 Vgl. ebd., S. 806 f. 26 Vgl. ebd., S. 828–833. 27 Ebd., S. 829. 28 Vgl. Lessing: Das Problem der Staatenlosigkeit (1932), S. 5–9. 29 Vgl. Gesetz über den Friedensschluß zwischen Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten, 16.07.1919, S. 829–831. 30 Diese Bestimmung stand in eklatantem Widerspruch zum in der Weimarer Reichsverfassung proklamierten Grundsatz „Alle Deutschen sind vor dem Gesetze gleich. Männer und Frauen haben grundsätzlich dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten“ (WRV, Art. 109). Damit war sie einer der Gründe dafür, dass die Reichsregierung aus den Reihen der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) bereits 1921 dazu aufgefordert wurde, auch in Deutschland eine selbständige Staatsangehörigkeit für Ehefrauen einzuführen. Diese Forderung verdeutlicht nicht zuletzt die Entwicklung von einem – dem Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 zugrundeliegenden – Prinzip der Familieneinheit hin zu einer individualisierten, allerdings auch völkischen Sichtweise auf die Staatsangehörigkeit, welche der ehemalige Reichsjustizminister und DDP-Vorsitzende Erich Koch-Weser 1931 folgendermaßen beschrieb: „Wir können es heute nicht mehr verstehen, daß etwa eine deutsche Privatdozentin in einer deutschen Universitätsstadt, die mit einem Schweizer eine Ehe eingeht, zwangsweise Ausländerin wird und des deutschen Wahlrechts verlustig geht, während eine sprach- und landesunkundige Mulattin durch die Ehe mit einem Deutschen Deutsche wird, und wenn sie mit ihrem Mann nach Deutschland zurückkehrt, das Wahlrecht ausüben kann.“, siehe Gosewinkel: Einbürgern und Ausschließen (2001), S. 349–351. 23 24
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Julian Haan besaß demnach bis 1918 die elsässisch-lothringische Staatsbürgerschaft, seine Frau Klara war durch die Heirat 1917 ebenfalls Elsass-Lothringerin geworden, und auch die Kinder des Ehepaares waren demnach zunächst elsässisch-lothringische Staatsbürger. Mit Inkrafttreten des Versailler Vertrags wurde der Familienvater Julian, da dessen inzwischen verstorbener Vater Josef Haan bis 1871 Franzose gewesen war, wie die Gemeinde Sickert am 2. März 1920 bestätigte,31 zum vollberechtigten französischen Staatsbürger. Es ist allerdings durchaus möglich, dass die im schwäbischen Schorndorf fernab der ‚großen Politik‘ lebende Familie von diesen Entwicklungen wenig oder gar nichts mitbekommen hatte und erst durch eine Mitteilung des Oberamts Schorndorf vom 14. Juli 1926 die weitreichenden Folgen, welche die Bestimmungen des Versailler Vertrags für sie hatten, realisierte: Das Oberamt teilt mit, daß Haan, geb. am 10.4.1887 in Sickert, Kreis Thann im Elsaß, als französischer Staatsangehöriger zu betrachten ist, da er ein Nachkomme eines Mannes ist, der durch den französisch-deutschen Vertrag vom 10. Mai 1871 die französische Staatsangehörigkeit verloren und keine andere als die deutsche Staatsangehörigkeit erworben hat (§ 1 Ziff. 1 und 2 der Anlage zu Art. 79 des Friedensvertrags von Versailles, veröffentlicht durch Reichsgesetz vom 16. Juli 1919, R. G.Bl. S. 687). Haan ist die Stellungnahme des Oberamts mitgeteilt worden. Er hat zunächst in Aussicht gestellt, eine Bescheinigung zu bringen, daß ihn Frankreich nicht als französischen Staatsangehörigen behandle, dann wolle er ein Gesuch um Einbürgerung vorlegen. Beides hat er nicht getan. Haan ist daher als französischer Staatsangehöriger zu behandeln.32
Für seine Frau Klara war die Frist, innerhalb der sie die französische Staatsbürgerschaft hätte beantragen können, längst abgelaufen – vielen Frauen, welche die elsässisch- lothringische Staatsbürgerschaft durch Heirat erworben hatten, erging es ähnlich, und die Frage ihrer staatsrechtlichen Zuordnung war unter deutschen Juristen seither durchaus umstritten;33 allerdings sprach das Reichsgericht am 22. Februar 1928 ein Grundsatzurteil, wonach die betroffenen Frauen als Staatenlose anzusehen seien.34 Die elsaß-lothringische Staatsangehörigkeit des Vaters hatte für die Familie Haan also einschneidende Konsequenzen: Julian wurde von nun an – wie vom Oberamt
Vgl. PAH: Auszug aus dem Register der von Rechts wegen wiedereingegliederten Franzosen in Ausführung des Friedensvertrags vom 28. Juni 1919, Gemeinde Sickert, Nr. 289. 32 StASCH, Familienregister, Bd. XIV, Bl. 160, Anlage: Oberamt Schorndorf an Stadtschultheissenamt Schorndorf, 14.07.1926. 33 Beispielsweise stellte das Oberlandesgericht Darmstadt unter Berufung auf vorausgegangene Urteile des Oberlandesgerichts Celle und des Kammergerichts fest, dass eine Frau, die bis zu ihrer Heirat mit einem Elsaß-Lothringer im Jahr 1906 die hessische Staatsbürgerschaft besaß und vom Recht, die französische Staatsbürgerschaft zu beantragen, keinen Gebrauch gemacht hatte, „Deutsche geblieben“ sei, vgl. „Staatenlosigkeit vormals elsaß-lothringischer Staatsangehöriger (1929)“, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 1 (1929), Zweite Abteilung: Staats- und Verwaltungsrecht, S. 702–708, hier S. 703. 34 Vgl. Lessing: Das Problem der Staatenlosigkeit (1932), S. 36–40. 31
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verlangt – als französischer Staatsangehöriger behandelt, gleiches galt, zumindest formal, auch für die Kinder, während die Mutter Klara offiziell sogar zur Staatenlosen geworden war! Aufgrund der Verknüpfung der komplizierten Rechtslage bezüglich der Staatsbürgerschaft im Deutschen Kaiserreich mit den Bestimmungen des Versailler Vertrags hatte sich die Lebenssituation der Familie also mit einem Schlag fundamental verändert: Zu einer Zeit, als die gesellschaftliche Integration der Abwanderer:innen aus Elsaß-Lothringen, die aufgrund der Bestimmungen des Versailler Vertrags zur Übersiedlung ins Reichsgebiet gezwungen waren, als erfolgreich abgeschlossen galt und die zur Koordinierung entsprechender Integrationsmaßnahmen gebildete Reichszentralstelle für die vertriebenen Elsaß-Lothringer:innen am 1. Oktober 1923 aufgelöst worden war,35 wurde die Familie Haan einzig aufgrund politischer und staatsrechtlicher Festlegungen aus ihrem gesellschaftlichen Umfeld separiert und zu ‚Fremden‘ gemacht! Im Zuge der Weltwirtschaftskrise verlor der nunmehr unter das Ausländerrecht fallende Julian Haan seine Anstellung als Mechaniker und zog deswegen am 27. Januar 1930 nach Strasbourg-Neudorf,36 während seine schwangere Frau mit den Kindern zunächst in Schorndorf blieb.37 Nachdem der Vater in Strasbourg eine Stelle als Mechaniker und eine Wohnung in der Rue Kentzinger im Stadtviertel Port du Rhin gefunden hatte,38 folgte ihm die Familie am 16. Juli 1931 nach Strasbourg nach,39 wo am 30. Oktober 1933 ein weiterer Sohn zur Welt kam, der jedoch bereits am 6. Dezember 1933 verstarb.40 In den folgenden Jahren arrangierte sich die Familie offenbar mit ihrer neuen Lebenssituation, und Julian Haan machte sich 1937 als Hersteller von Sprühflaschen selbständig.41 Helmut Haan schloss sich unterdessen der Jugendfußballmannschaft des im nahegelegenen Stade de la Porte de Kehl beheimateten Cercle Athlétique (CA) Strasbourg an.42 Da sein Vorname für Franzosen schwer auszusprechen war, nannte er sich nun Edmond Haan; den Spitznamen, den er damals auf dem Fußballplatz bekam, hatte er wahrscheinlich schon in Schorndorf erhalten, da sowohl im schwäbischen als auch im elsässischen Dialekt ein Hahn ‚Gockel‘ genannt wird. Allerdings wurde die Familie des jungen Fußballspielers schon bald wieder von den politischen Entwicklungen eingeholt: Nachdem am 1. September 1939 der Befehl er-
Vgl. Oltmer: Migration und Politik (2005), S. 94. In diesem Artikel wird in der Regel die französische Schreibweise Strasbourg verwendet; lediglich für die Besatzungszeiten findet die deutsche Schreibweise Straßburg Anwendung. 37 Vgl. StASCH, Standesamt, Karteien des Einwohnermeldeamts: Haan, Julian II. 38 Vgl. AMS, 1 BA 1933: Adressbuch der Stadt Strasbourg für das Jahr 1933, S. 562. 39 Vgl. StASCH, Standesamt, Karteien des Einwohnermeldeamts: Haan, Julian. 40 Vgl. AMS, 3 E 466, Nr. 3007: Sterbeurkunde von Roger Haan, 06.12.1933. 41 Das Unternehmen wurde im Juni 1937 ins Handelsregister der Stadt Strasbourg eingetragen, vgl. Der Elsässer / L’Alsacien, Nr. 141, 19.06.1937, S. 14; Freie Presse, Nr. 142, 22.06.1937, S. 8. 42 Mitteilung von André Haan, Lingolsheim, 11.08.2021. 35 36
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gangen war, dass die Bevölkerung der Stadt Strasbourg die Stadt verlassen und in den Südwesten Frankreichs gebracht werden solle,43 stieg die Familie Haan noch am selben Abend gegen 22 Uhr in den Zug und kam am nächsten Tag gegen 18 Uhr in Périgueux an, wohin die Evakuierung der Bevölkerung von Strasbourg erfolgte.44 Erst im Juli 1940 kehrte die Familie wieder in ihre von deutschen Truppen besetzte Heimatstadt zurück, und der inzwischen 16 Jahre alte Edmond, der nun wieder Helmut genannt werden sollte, konnte zu seinem angestammten Fußballverein zurückkehren.45 Sein vordergründig ungetrübtes Leben in Straßburg hielt allerdings nicht lange an: Im Mai 1941 wurde im Elsass der Reichsarbeitsdienst (RAD) eingeführt,46 und Helmut Haan gehörte zu den ersten jungen Männern, die am 21. Juni 1941 in Straßburg zum RAD verpflichtet wurden.47 Am 25. August 1942 wurde schließlich mit der Einführung der Wehrpflicht im Elsass48 der Jahrgang 192449 zwangsweise in die Wehrmacht rekrutiert.50 Über die Zeit, die Haan beim Reichsarbeitsdienst und bei der Wehrmacht verbrachte,51 ist in seiner Familie bis heute anscheinend nur sehr wenig bekannt. Offenbar war er in den letzten Kriegsjahren an der Ostfront stationiert und befand sich bei Kriegsende in der Gegend von Stargard in Pommern;52 zwischenzeitlich soll er auch im westpreußischen Strasburg (heute: Brodnica) eingesetzt worden sein.53 Fest steht jedoch, dass der Wehrmachtssoldat Haan in seiner Freizeit weiterhin begeistert Fußball spielte.
Zu den Hintergründen der Evakuierungsaktionen vgl. Williams: „Ihre Häuser sind gut bewacht“ (2019). 44 Vgl. Solère Stintzy: L’héroïque Racing d’Edmond Haan (2004). 45 Am 09.07.1940 rief der zuständige ‚Sportführer‘ Herbert Kraft die elsässischen Sportvereine dazu auf, ihren Spielbetrieb wieder aufzunehmen, vgl. Hassink: Leibesübungen unter der Besatzung (2021), S. 202. 46 Vgl. Verordnung über die Arbeitsdienstpflicht im Elsaß, 08.05.1941. Die Verordnung trat „mit dem Tage ihrer Verkündung in Kraft“ (§ 3) und nicht erst – wie oftmals angegeben wird – im Oktober 1941, vgl. Patel: „Soldaten der Arbeit“ (2003), S. 118. 47 Vgl. AMS, 1 Fl 137 33 / 1 Fl 137 34: Aufmarsch des Reichsarbeitsdiensts (RAD), Place Kléber, 21.06.1941. 48 Vgl. Verordnung über die Wehrpflicht im Elsaß, 25.08.1942. 49 Vgl. Anordnung über die Wehrpflicht und die Reichsarbeitsdienstpflicht im Elsaß, in: Regierungs-Anzeiger für das Elsaß, Folge 87/1942, zit. nach: „Straßburger Stadtanzeiger“, in: SNN, Hauptausgabe Straßburg, Nr. 237, 28.08.1942, S. 6. 50 Vgl. Riedweg: Les Malgré-nous (1995), S. 77. 51 Mit der Einberufung in die Wehrmacht hatte Helmut Haan aufgrund einer Verordnung über die Staatsangehörigkeit im Elsaß, in Lothringen und in Luxemburg zugleich die deutsche Staatsangehörigkeit erworben, vgl. Verordnung über die Staatsangehörigkeit im Elsaß, in Lothringen und in Luxemburg, 23.08.1942. 52 Mitteilung von André Haan, Lingolsheim, 11.08.2021. 53 Vgl. Bride: À côté d’une très grande carrière (1998), S. 8. 43
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2.
Der fußballspielende Wehrmachtssoldat Helmut (1943–1945)
Eine wichtige Weichenstellung für die fußballerische Karriere des jungen Soldaten erfolgte zu Weihnachten 1943, als ihm Fronturlaub gewährt wurde und er für eine Woche in seine Heimatstadt zurückkehren durfte. Dabei ergab sich für ihn eine unverhoffte Gelegenheit zum Fußballspielen, da der NS-Reichsbund für Leibesübungen über Weihnachten „ein großes offenes Fußballturnier von Siebener-Mannschaften […] in Zabern“54 (Saverne) organisierte, dessen Sieger einen von der Stadt gestifteten „Weihnachtspokal der Stadt Zabern“55 erhalten sollte. Ursprünglich war vorgesehen, dass an dem Turnier „10 bis 12 Mannschaften“ und „nur Vereine des Kreises Zabern“56 beteiligt werden sollten; allerdings meldeten sich bis zum 10. Dezember57 insgesamt nur acht Mannschaften an, worunter „zwar vier aus dem Kreis Zabern“, aber auch „je eine aus den Kreisen Straßburg, Molsheim, Hagenau und Saarburg“58 stammten. Die Organisation eines Turniers, bei dem von jedem Team nur sieben Spieler eingesetzt werden sollten, muss wohl als eine Reaktion des Nationalsozialistischen Reichsbundes für Leibesübungen (NSRL) auf den akuten Spielermangel infolge der Einberufungen in die Wehrmacht interpretiert werden, und die quantitative Verringerung und zugleich regionale Ausweitung des Teilnehmerfelds zeigt, wie schwer es den lokalen Vereinen zunehmend fiel, die entstandenen Lücken zu kompensieren. Bezeichnenderweise wurden elsässische Wehrmachtsoldaten sogar von offizieller Seite dazu aufgefordert, sich während ihres Fronturlaubs ihren Heimatvereinen anzuschließen und am Spielbetrieb teilzunehmen.59 Die „Veranstaltung des bisher im Elsaß noch unbekannten Siebener-Fußballturniers“60 war also in erster Linie eine Propagandaaktion. Eine der teilnehmenden Mannschaften war die Spielvereinigung Straßburg61, für welche auch der Verlobte von Haans älterer Schwester antreten sollte; da sich jener allerdings verletzt hatte und somit an dem Turnier62 nicht teilnehmen konnte, sprang kurzfristig Helmut Haan ein, um den Start des Teams der Spielvereinigung überhaupt zu ermöglichen.
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S. 8.
„Großes Weihnachts-Fußballturnier“, in: SNN, Kreisausgabe Zabern, Nr. 320, 19.11.1943, S. 6. „Zum Weihnachtsfußballturnier“, in: SNN, Kreisausgabe Zabern, Nr. 328, 27.11.1943, S. 6. „Siebener-Turniere“, in: SNN, Kreisausgabe Zabern, Nr. 331, 30.11.1943, S. 4. Vgl. „Um den Weihnachtspokal der Stadt Zabern“, in: SNN, Kreisausgabe Zabern, Nr. 335, 05.12.1943,
Vgl. „Zum Weihnachts-Fußballturnier“, in: SNN, Kreisausgabe Zabern, Nr. 349, 18.12.1943, S. 6. Für den Hinweis danke ich Jan Hassink, der derzeit an der Universität Göttingen eine Promotionsarbeit zum Thema Sport und Alltag, Germanisierung und Gewalt. Das Elsass unter der deutschen Besatzung 1940–1944 vorbereitet. 60 „Um den Weihnachtspokal der Stadt Zabern. Acht Mannschaften am Start“, in: SNN, Kreisausgabe Zabern, Nr. 353, 22.12.1943, S. 6. 61 Nach der deutschen Besetzung Straßburgs war der Club Sportif les Pierrots de Strasbourg in Spielvereinigung Straßburg umbenannt worden, vgl. Bride / Fournier / Kuntz: 100 ans de football en Alsace. Bd. 3: 1921–1932 (2002), S. 34. 62 Vgl. „Veranstaltungsfolge des Fußballturniers“, in: SNN, Kreisausgabe Zabern, Nr. 355, 24.12.1943, S. 6. 58 59
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Aufgrund des sogenannten Gastspielrechts, nach welchem Wehrmachtsoldaten zusätzlich zu ihrem Stammverein auch noch für einen weiteren Verein spielberechtigt werden konnten, war dies grundsätzlich möglich.63 Dank der Tore des jungen Außenstürmers gewann die Spielvereinigung Straßburg das Turnier schließlich nach einem 6:1-Sieg im Finale gegen das Heimteam des FC Zabern.64 Joseph Lausecker, ein Mitglied des Vorstands der Spielvereinigung, der als Vorsitzender der Regelkommission des elsässischen Fußballverbandes gut vernetzt war, wollte den talentierten Spieler für seinen Verein sichern und erwarb umgehend einen Spielerpass für Haan, dank welchem jener bereits beim nächsten Pflichtspiel der Spielvereinigung Straßburg eingesetzt wurde und gleich zwei Tore erzielte.65 3.
Der Beginn einer großen Karriere bei den Pierrots (1945–1947)
Als nach der Befreiung der Spielbetrieb im Elsass im Sommer 1945 wiederaufgenommen wurde,66 wollte der Verein, der nun wieder CS Pierrots de Strasbourg hieß, den erfolgreichen Stürmer verständlicherweise in seinen Reihen halten; allerdings zeigte auch der Racing Club de Strasbourg Interesse an dem torgefährlichen Linksaußen. Haan unterzeichnete schließlich einen Vertrag mit Racing, erhielt jedoch aufgrund eines formalen Fehlers (es fehlte ein Passfoto für den Spielerpass) keine Spielgenehmigung: Daraufhin kamen die Pierrots nochmals auf den jungen Spieler zu und nahmen ihn wieder unter Vertrag.67 In der Saison 1945/46 wurden die Pierrots de Strasbourg souverän Meister der Gruppe III der Division I du Bas-Rhin und stiegen damit in die Division d’honneur du Bas-Rhin auf. Von 36 möglichen Punkten holte die Mannschaft 31 und erzielte dabei 84 Tore, wobei die meisten auf das Konto des jungen Edmond Haan gingen.68 In der folgenden Spielzeit 1946/47 in der Division d’honneur du Bas-Rhin wurde der nur 1,71 m große Linksaußen zum wichtigsten Torschützen seiner Mannschaft, die trotzdem nach vielen unglücklichen Niederlagen wieder absteigen musste.69
Auch diesen Hinweis verdanke ich Jan Hassink. Vgl. „SVgg. Straßburg gewann Siebenerturnier“, in: SNN, Kreisausgabe Zabern, Nr. 357, 27.12.1943, S. 5. Vgl. Bride: À côté d’une très grande carrière (1998), S. 8. Vgl. Reichelt: Inszenierte Erinnerung (2013), S. 374–376; Didion: Zwischen Erinnerung und Verständigung (2021), S. 35. 67 Vgl. Bride: À côté d’une très grande carrière (1998), S. 8. 68 Vgl. Braesch: Grandes et petites histoires (1989), S. 105; Rudolf: „Ces cigognes devenues coqs“ (1994), S. 1. 69 Der Abstieg wurde schließlich durch eine 0:3-Niederlage gegen Racing am 12.04.1947 besiegelt, vgl. „Les Pierrots ont signé leur élimination en Division d’honneur“, in: La Presse libre (SFIO), Nr. 86, 15.04.1947, S. 4; „Les jeux sont faits!“, in: Le Nouveau Journal de Strasbourg, Nr. 87, 15.04.1947, S. 6. In dieser Spielzeit schafften nur die ersten sechs Mannschaften den Klassenerhalt, da die Division d’honneur Bas63 64 65 66
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Allerdings ging Edmond Haan in dieser Saison gewissermaßen in die Annalen des französischen Fußballs ein: Am 16. März 1947 fand nämlich ein im Abstiegskampf vorentscheidendes Spiel der Pierrots in Schiltigheim statt,70 in welchem er beim Stand von 1:1 den vermeintlichen Siegtreffer für sein Team erzielte, mit dem der Abstieg wohl hätte verhindert werden können. Warum der Schiedsrichter die Anerkennung des Treffers verweigerte, lässt sich nicht mehr zweifelsfrei klären: Während im Spielbericht der Presse libre lediglich vermerkt wurde, dass ein Kopfballtor von Haan nicht anerkannt worden sei,71 stellten die Dernières Nouvelles d’Alsace fest, dies sei „aus unerfindlichen Gründen“72 geschehen, und auch im Publikationsorgan des elsässischen Fußballverbandes Sport Est wurde betont, dass es ein „Rätsel“73 sei, warum dem schönen Kopfballtreffer von Haan die Anerkennung verweigert wurde. Die Umstände um das nicht gegebene Siegtor sorgten in der Folgezeit dafür, dass die Geschichte eine gewisse Eigendynamik bekam und zu einem regelrechten Mythos wurde: Als Grund für die Verweigerung des Treffers durch den Schiedsrichter wurde nämlich angegeben, dass Haans Kopfball so hart gewesen sei, dass er das Tornetz durchschlagen und der Ball anschließend hinter dem Tor gelegen habe!74 Im Jubiläumsband des elsässischen Fußballverbandes verselbständigte sich der Mythos vom durchschlagenen Tornetz dann so weit, dass aus dem Kopfball ein Fernschuss wurde: „Dieser Tag begründete die Legende: Aus 25 Metern Entfernung zum Tor, zieht Edmond Haan mit dem linken Fuß ab, ein Schuss wie ein Strich. Das Leder schlägt im Tor ein und seine Geschwindigkeit ist so hoch, dass es das Netz durchschlägt […]!“75 Auch wenn sich der genaue Sachverhalt, der tatsächlich zur Nichtanerkennung des Tores geführt hat, nicht zweifelsfrei klären lässt, blieb das Bild des Mannes, der Tornetze durchlöchern kann, an Edmond Haan haften.76 Dabei geriet die Tatsache, dass er bei den Pierrots regelmäßig herausragende Leistungen an den Tag legte, fast ein wenig aus dem Blickfeld. Allein aus diesem Grund wurde er nämlich in die elsässische Amateurauswahl nominiert, für die er im Jahr 1947 fünf Spiele absolvierte, bei denen er ebenfalls Rhin und die Division d’honneur Haut-Rhin in der kommenden Spielzeit 1947/48 fusionierten und somit wieder eine Division d’honneur d’Alsace gebildet wurde. 70 Vgl. „Chez nos Amateurs. Racing et F. C. M. en finale pour le titre. Schiltigheim – Pierrots“, in: Le Nouveau Journal de Strasbourg, Nr. 64, 18.03.1947, S. 4. 71 Vgl. „Schiltigheim – Pierrots 1:1 (1:0)“, in: La Presse libre (SFIO), Nr. 64, 18.03.1947, S. 4. 72 „Plus que 7 Prétendants pour les 6 places. Schiltigheim – Pierrots 1:1“, in: Dernières Nouvelles d’Alsace, Nr. 67, 20.03.1947, S. 3. Zur besseren Lesbarkeit werden französische Zitate hier und im Folgenden stets ins Deutsche übersetzt. Alle Übersetzungen stammen vom Verfasser dieses Artikels. 73 „Schiltigheim – Pierrots 1:1“, in: Sport Est, Nr. 33, 17.03.1947, S. 2. 74 Vgl. „Un but de légende …“, in: Bride: À côté d’une très grande carrière (1998), S. 8; Bride / Fournier / Kuntz: 100 ans de football en Alsace. Bd. 3: 1921–1932 (2002), S. 35. 75 Bride / Fournier / Kuntz: 100 ans de football en Alsace. Bd. 1: Petites et grandes histoires du football alsacien de 1890 à nos jours (2002), S. 271. 76 In der Jubiläumsbroschüre zum 75-jährigen Bestehen der AS Pierrots Vauban wurde er beispielsweise als „Edmond Haan ‚de Goggel‘, le troueur des filets“ vorgestellt, vgl. Wagner: De l’âge de pierre à l’âge de Stahl (1996).
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als Torschütze und technisch versierter Spieler auf sich aufmerksam machte.77 Damit erweckte er abermals das Interesse der Verantwortlichen beim Erstligisten Racing Club de Strasbourg, wo Haan schließlich am 1. Juli 1947 einen Profivertrag unterzeichnete.78 4. Der schwierige Start bei den Profis des Racing Club de Strasbourg (1947–1949)
Bereits Anfang August absolvierte Haan die ersten Freundschaftsspiele für seinen neuen Verein; sein erster Einsatz in der Liga am 14. September 1947 gegen den Racing Club de Paris war jedoch eher missglückt.79 Besser lief es für ihn am 28. September 1947 beim Auswärtsspiel in Toulouse als er sein erstes Tor in der französischen Profiliga erzielte.80 Im Laufe der Saison 1947/48 kam er zu insgesamt 16 Einsätzen und erzielte sieben Treffer für seinen Club. In der folgenden Spielzeit 1948/49 wurde er zum Stammspieler seines Teams und spielte 26 Begegnungen durch, erzielte dabei allerdings nur drei Treffer. Außerdem fiel die Mannschaft in der Première Division immer weiter zurück und blieb schließlich als Tabellensiebzehnter nur aufgrund des freiwilligen Abstiegs des elsässischen Rivalen Sports Réunis Colmar erstklassig.81 Haan war in dieser Situation besorgt, seinen Stammplatz halten zu können und äußerte deswegen gegenüber der Vereinsführung den Wunsch, für eine gewisse Zeit in einer anderen Mannschaft spielen zu dürfen, um sich weiter zu verbessern.82 Die Initiative kam vor allem dadurch zustande, dass der junge Spieler, wie er selbst rückblickend berichtete, damals unter enormem Druck stand: In wenigen Wochen war die Angst, nicht zu spielen, zu einer Besessenheit geworden. Nicht zu spielen bedeutete, keine Prämien zu erhalten, keine Miete zahlen zu können und nur einen Hungerlohn zu bekommen. Es war die Nachkriegszeit, und ich erinnere mich an die Schwierigkeiten, die meine Eltern hatten, um über die Runden zu kommen. Wir waren acht Kinder, neun mit dem weiteren, das mein oft kranker Vater und meine Mutter adoptiert hatten. Ohne zu spielen war ich nichts und hatte nichts.83
Vgl. „Alsace–Paris en football amateur“, in: Le Nouveau Journal de Strasbourg, Nr. 121, 27.05.1947, S. 4; „Alsace bat Paris 3:2. 4e victoire de la saison!“, in: Le Nouveau Journal de Strasbourg, Nr. 127, 03.06.1947, S. 4. 78 Vgl. Bride: À côté d’une très grande carrière (1998), S. 8; „Keine grosse [sic!] Änderungen zur kommenden Fussballsaison im Lager des Racing-Club“, in: La Presse libre (SFIO), Nr. 178, 05.08.1947, S. 7. 79 „Hahn [sic!] après un premier quart d’heure prometteur perdit subitement tout clairvoyance et passait toutes ses balles à l’adversaire“, vgl. „Nuages sombres sur la Meinau!“, in: La Presse libre (SFIO), Nr. 213, 16.09.1947, S. 8. 80 Vgl. „Les ‚coups de main‘ de Mateo. Strasbourg bat Toulouse: 3 à 0 (0–0)“, in: L’Équipe, Nr. 450, 29.09.1947, S. 4. 81 Vgl. Bride / Fournier / Kuntz: 100 ans de football en Alsace. Bd. 2: 1890–1920 (2002), S. 97 f. 82 Vgl. Rudolf: „Ces cigognes devenues coqs“ (1994), S. 1. 83 Braesch: Edmond Haan (1996), S. 30. 77
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Die wirtschaftliche Situation der Familie scheint in der Tat schwierig gewesen zu sein: Wie bereits erwähnt, hatte sich sein Vater 1937 selbständig gemacht und für sein Unternehmen sogar ein Fabrikgelände an der Rue du Port du Rhin angemietet.84 Nach der Evakuierung und der Rückkehr nach Straßburg 1940 war es für ihn offenbar jedoch äußerst schwierig, beruflich wieder Fuß zu fassen; deswegen eröffnete er in der Helenengasse, in der Straßburger Innenstadt, ein Ladengeschäft, in welchem er mit gebrauchten Öfen handelte.85 Nach der Befreiung der Stadt nahm er in seinem Laden außerdem auch Reparaturen von Öfen und Küchenherden an.86 Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass für Edmond, der seinen Vater, bevor er professioneller Fußballspieler wurde, in dessen Werkstatt unterstützt und selbst als Mechaniker gearbeitet hatte, die sportliche Karriere eine große Chance, aber auch harte Arbeit bedeutete.87 5.
Der fulminante Durchbruch bei Nîmes Olympique (1949–1950)
Die Verantwortlichen bei Racing Strasbourg gingen auf Haans Vorschlag ein und prüften die Möglichkeit, ihn für ein Jahr an einen Club in der Division 2 auszuleihen. Nachdem dafür zunächst der Absteiger aus der Première Division, die AS Cannes-Grasse, ins Auge gefasst worden war, kristallisierte sich schnell heraus, dass die junge und sehr ambitionierte Mannschaft von Nîmes Olympique weitaus vielversprechendere Perspektiven bot.88 Somit wechselte Edmond Haan auf Leihbasis für ein Jahr zu der von Pierre Pibarot (1916–1981) trainierten Mannschaft, in welcher er mit herausragenden Spielern wie Kader Firoud (1919–2005), André Campo (1923–2008), Theo Timmermanns (1926–1995), Maurice Lafont (1927–2005) und Joseph Ujlaki (1929–2006) zusammenspielte. Die Zeit in Südfrankreich bedeutete einen enormen Sprung in Haans Karriere: Der schnelle Linksaußen wurde mit seinen 27 Toren nicht nur Torschützenkönig der zweiten Liga, sondern trug auch maßgeblich dazu bei, dass Nîmes Olympique als souveräner Meister in die Première Division aufsteigen konnte!89 Außerdem eliminierte die Mannschaft im französischen Pokalwettbewerb mit dem Toulouse FC, dem künftigen Meister Girondins de Bordeaux und dem FC Sochaux gleich drei Spit-
Vgl. AMS, 1 BA 1938: Adressbuch der Stadt Strasbourg für das Jahr 1938, S. 722; ebd., 1 BA 1939: Adressbuch der Stadt Strasbourg für das Jahr 1939, S. 724. 85 Vgl. die Anzeigen in: SNN, Bezirksausgabe Süd, Nr. 351, 20.12.1941, S. 8; ebd., Kreisausgabe Zabern, Nr. 350, 19.12.1943, S. 7. 86 Vgl. die Anzeige in: La Presse libre (SFIO), Nr. 263, 12.11.1946, S. 4. 87 Vgl. „On l’appelait ‚tête d’or‘, ce buteur international. Edmond Haan: ‚Les sportifs ont un avantage sur les autres hommes‘ (Interview)“, in: Dernières Nouvelles d’Alsace, Nr. 52, 03.03.1981, SPO III. 88 Vgl. Braesch: Edmond Haan (1996), S. 30. 89 Vgl. „Nîmes, l’équipe ‚pin-up‘“, in: L’Aurore, Nr. 1.719, 23.03.1950, S. 7; „Nîmes, écrassant Marseille II, termine en vainqueur incontesté une saison (presque) sans faiblesse!“, in: L’Équipe, Nr. 1.282, 22.05.1950, S. 9. 84
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zenteams der ersten Liga, ehe sie im Halbfinale unglücklich gegen den Racing Club de Paris ausschied.90 Nach seiner fulminanten Saison in Nîmes war Haan einer der begehrtesten Spieler Frankreichs. Die Verantwortlichen von Nîmes Olympique wollten ihn verständlicherweise unter allen Umständen in ihrem Mannschaftskader behalten und boten Racing Strasbourg eine Ablösesumme von 2 Millionen Francs an.91 Olympique de Marseille war bereit, 2,5 Millionen Francs für eine Verpflichtung Haans zu bezahlen, und Stade de Reims signalisierte, dass man eventuell sogar eine noch höhere Transfersumme auf den Tisch legen werde; allerdings wollte Racing Strasbourg den erfolgreichen Stürmer unbedingt halten und verlangte deswegen die für die damalige Zeit astronomische Ablösesumme von 5 Millionen Francs.92 Offensichtlich wäre Haan sehr gerne in Nîmes geblieben oder zu einer anderen Spitzenmannschaft gewechselt und war deswegen nicht sehr glücklich darüber, dass sein alter Club ihm nun Steine in den Weg legte.93 Da Racing ihm auch nur ein deutlich geringeres Gehalt als die anderen Vereine anbot und ihm eine Beteiligung an seinen Umzugskosten verweigerte, eskalierte der Streit, sodass Haan zwar nach Strasbourg zurückkehrte, aber zunächst wieder mit den Pierrots trainierte und erst nach einigen weiteren Gesprächen mit der Vereinsführung dazu bereit war, wieder für Racing aufzulaufen.94 6. Auf dem Weg zur Spielerlegende des Racing Club de Strasbourg (1950–1961)
Am 15. August 1950 unterschrieb Edmond Haan also einen neuen Vertrag bei Racing; am Nachmittag des gleichen Tages trug er erstmals wieder das Racing-Trikot in einem Freundschaftsspiel gegen den FC Mulhouse und steuerte gleich einen Treffer zum 5:1Sieg der Strasbourgeois bei.95 Der Gegner im ersten Meisterschaftsspiel am 27. August hieß ausgerechnet Nîmes Olympique; Haan schoss bereits in der elften Minute das erste Tor gegen seine früheren Mannschaftskameraden und trug so wesentlich dazu bei, dass Racing das Spiel mit 2:1 gewann.96 Wenige Wochen später wurde er für das Auswärtsspiel der damals von Pierre Pibarot trainierten B-Nationalmannschaft am 1. November 1950 in Tunesien berufen, welches die französische B-Auswahl mit 5:1
Vgl. Rudolf: „Ces cigognes devenues coqs“ (1994), S. 1. Vgl. Jardin: Nîmes Olympique (25.03.2021). Vgl. Bride: À côté d’une très grande carrière (1998), S. 9. Vgl. Rudolf: „Ces cigognes devenues coqs“ (1994), S. 1. Vgl. Bride: À côté d’une très grande carrière (1998), S. 9. Vgl. „Haan effectue sa rentrée à Strasbourg (victorieux)“, in: L’Équipe, Nr. 1.356, 16.08.1950, S. 5. Vgl. „Nîmes rate son entrée en division nationale, mais Haan réussit son retour à Strasbourg“, in: L’Équipe, Nr. 1.366, 28.08.1950, S. 8. 90 91 92 93 94 95 96
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gewann – Haan zeigte eine sehr gute Leistung und erzielte drei Treffer.97 Vier Tage später erlitt das bislang, in den ersten elf Saisonspielen, ungeschlagene Team von Racing Strasbourg beim FC Sochaux eine schwere 0:5-Niederlage, bei der sich Haan zudem auch noch eine Verletzung zuzog, aufgrund der er an den nächsten vier Spielen seiner Mannschaft nicht teilnehmen konnte; in dieser Zeit stürzte Racing vom ersten auf den elften Tabellenplatz der Première Division ab und blieb bis zum Ende der Meisterschaftsrunde im Mittelfeld der Tabelle. Wesentlich erfolgreicher verlief die Saison 1950/51 im französischen Pokalwettbewerb: Nach überzeugenden Siegen gegen Nîmes, Thaon-les-Vosges, Annecy, Nizza und Nancy zog die Mannschaft, nicht zuletzt dank mehrerer Tore von Edmond Haan, am 6. Mai 1951 ins Finale gegen US Valenciennes ein.98 Im Stade de Colombes in Paris, schlugen die Strasbourgeois den Zweitligisten souverän mit 3:0 Toren und errangen damit den bis dahin größten Erfolg der Vereinsgeschichte.99 Wenige Tage nach dem Pokalsieg wurde Haan erstmals in die französische Nationalelf berufen: Sein erstes Spiel absolvierte er am 12. Mai 1951 in Belfast, wobei ihm beim 2:2 gegen die nordirische Auswahl, obwohl er aus dem Mittelfeld nur wenig angespielt wurde, eine gute Leistung bescheinigt wurde.100 Vier Tage später, bei der 1:0 Niederlage des französischen Teams gegen Schottland in Glasgow, wurde er sogar als einer der besten Spieler auf dem Platz gefeiert.101 Im nächsten Spiel der Nationalmannschaft am 3. Juni 1951 in Genua war der Linksaußen bei der 1:4-Niederlage gegen Italien, wie der Berichterstatter von L’Équipe feststellte, allerdings „nicht wiederzuerkennen“102 und wirkte müde und ausgelaugt. Die Nationalmannschaft wurde nach diesem enttäuschenden Spiel komplett umgebaut, und auch Haan wurde zunächst nicht mehr in die A-Auswahl berufen. Somit absolvierte er in der Saison 1951/52 lediglich zwei B-Länderspiele für Frankreich, wobei er am 20. April 1952 beim Sieg gegen die Mannschaft des Saarlandes in Saarbrücken an der Seite des künftigen Weltstars Raymond Kopa den Siegtreffer zum 1:0 erzielte.103 Auch auf Vereinsebene verlief die Spielzeit für Haan insgesamt unbefriedigend: An acht Spieltagen konnte er verletzungsbedingt nicht auflaufen, und zum Ende der Saison stand Racing trotz seiner elf Tore auf einem Abstiegsplatz. Auch in der folgenden Saison 1952/53 wurde Haan von mehreren schweren Ver-
Vgl. „Les Tunisiens n’avaient pas deux mi-temps dans les jambes“, in: L’Aurore, Nr. 1.910, 02.11.1950, S. 4; „À Tunis. Carré, le meilleur homme du match avec Ranzoni“, in: L’Équipe, Nr. 1.422, 02.11.1950, S. 7. 98 Vgl. Rudolf: „Ces cigognes devenues coqs“ (1994), S. 1 f. 99 Vgl. Bride / Fournier / Kuntz: 100 ans de football en Alsace. Bd. 2: 1890–1920 (2002), S. 90. 100 Vgl. „Les Irlandais prouvent aux Français que l’attaque rapide du ballon paye toujours“, in: L’Équipe, Nr. 1.586, 14.05.1951, S. 6. 101 Vgl. „Pleine réhabilitation du Onze de France vigoureux, alerte et prompt et qui fait au moins jeu égal avec l’Écosse“, in: L’Équipe, Nr. 1.589, 17.05.1951, S. 8. 102 „Le match déshonorant“, in: L’Équipe, Nr. 1.604, 04.06.1951, S. 8. 103 Vgl. „On l’appelait ‚tête d’or‘, ce buteur international. Edmond Haan: ‚Les sportifs ont un avantage sur les autres hommes‘ (Interview)“, in: Dernières Nouvelles d’Alsace, Nr. 52, 03.03.1981, SPO III. 97
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letzungen geplagt; obwohl er deswegen nur an 19 Spielen teilnehmen konnte, erzielte er 14 Treffer und trug somit wesentlich dazu bei, dass der Mannschaft von Racing der sofortige Wiederaufstieg in die Première Division gelang. Das Verletzungspech blieb Haan allerdings auch in der folgenden Spielzeit 1953/54 treu; immerhin kam er aber am 11. November 1953 noch zu einem weiteren Einsatz in der französischen Nationalelf, der jedoch ebenfalls wenig erfreulich verlief – Frankreich verlor das Heimspiel gegen die Schweiz mit 2:4 Toren, und Haan wurde anschließend nicht mehr in die Nationalmannschaft berufen.104 In der Saison 1954/55 kam der österreichische Nationalspieler Ernst Stojaspal (1925–2002) zu Racing und bildete zusammen mit dem inzwischen vor allem im Mittelfeld eingesetzten Haan ein herausragendes Duo; aufgrund einer weiteren schweren Verletzung konnte der Mannschaftskapitän aber nur in 18 Meisterschaftsspielen auflaufen, was sicherlich nicht unwesentlich dazu beitrug, dass Racing am 8. Mai 1955 im Halbfinale des französischen Pokalwettbewerbs gegen den späteren Pokalsieger OSC Lille ausschied.105 In der folgenden Saison kam Haan auf 25 Einsätze und Strasbourg belegte in der Abschlusstabelle den 14. Rang; die Spielzeit 1956/57 war ein weiteres Mal von Haans Verletzungspech geprägt, weshalb er nur an 14 Begegnungen teilnehmen und den neuerlichen Abstieg seiner Mannschaft nicht verhindern konnte. Zu Beginn der Zweitligasaison 1957/58 wechselte der inzwischen 33-jährige Haan als Spielertrainer in die Amateurmannschaft von Racing; allerdings kehrte er für 17 Spiele in die Profimannschaft zurück, wo er nun vor allem in der Verteidigung spielte.106 Tatsächlich gelang den Strasbourgeois der sofortige Wiederaufstieg.107 In den folgenden Spielzeiten 1958/59 und 1959/60 agierte Haan unter Trainer Josef ‚Pepi‘ Humpál (1918–1984) nicht nur als Co-Trainer der Profimannschaft, sondern wurde auch in nahezu allen Pflichtspielen seines Teams eingesetzt und mehrfach zum besten Spieler gekürt.108 Dennoch musste Racing Strasbourg am Ende der Saison 1959/60 erneut den Gang in die Zweitklassigkeit antreten.109 Nach dem Abstieg wollte Edmond Haan seine Profikarriere endgültig beenden; da aber viele Stammspieler den Verein verlassen hatten, setzte der nochmals als Trainer verpflichtete Émile Veinante (1907–1983) auf seine Erfahrung und baute um ihn, den aus Reims verpflichteten Nationalspieler Robert Jonquet (1925–2008) und den aus Limoges nach Strasbourg zurückgekehrten François Remetter (geb. 1928) herum eine neue Mannschaft mit jungen Spielern wie Gilbert Gress (geb. 1941) und Gérard Hauser (geb. 1941) auf.
Vgl. Bride / Fournier / Kuntz: 100 ans de football en Alsace. Bd. 1: Petites et grandes histoires du football alsacien de 1890 à nos jours (2002), S. 248. 105 Vgl. Bride / Fournier / Kuntz: 100 ans de football en Alsace. Bd. 2: 1890–1920 (2002), S. 101 f. 106 Vgl. Rudolf: „Ces cigognes devenues coqs“ (1994), S. 2. 107 Vgl. Bride / Fournier / Kuntz: 100 ans de football en Alsace. Bd. 2: 1890–1920 (2002), S. 102 f. 108 Vgl. Rudolf: „Ces cigognes devenues coqs“ (1994), S. 2. 109 Vgl. Bride / Fournier / Kuntz: 100 ans de football en Alsace. Bd. 2: 1890–1920 (2002), S. 103. 104
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Sein Karriereende bei der Profimannschaft von Racing Strasbourg wurde allerdings von einem Streit mit der Clubleitung überschattet, die sich am Ende der Saison 1960/61 weigerte, ihm das vereinbarte Gehalt auszuzahlen, da er laut Vertrag 20 Spiele zu absolvieren gehabt hätte, faktisch aber nur in 19 Begegnungen eingesetzt worden sei – die Angelegenheit endete vor Gericht, Haan verlor den Prozess und beendete die Zusammenarbeit mit dem Verein.110 Sein neuer Arbeitgeber wurde die Brauerei Kronenbourg in Cronenbourg, einem Vorort von Strasbourg; auf sportlicher Ebene übernahm er 1965 den Trainerposten bei der ersten Mannschaft des FC Kronenbourg, die er bis 1973 in der elsässischen Division d’honneur etablierte.111 Bis 1980 spielte er in einer Seniorenmannschaft mit ehemaligen Racing-Spielern noch regelmäßig Fußball, dann musste er aufgrund von Hüftproblemen die Fußballschuhe endgültig an den Nagel hängen.112 Allerdings blieb er fast bis zu seinem Tod am 15. August 2018 regelmäßiger Besucher der Heimspiele seines alten Clubs Racing! 7.
Ein herausragender Fußballspieler mit transnationaler Biografie
Edmond Haan, der nach eigener Aussage auf dem Platz, sogar in Nîmes, immer nur ‚Hahna Gockel‘ gerufen wurde,113 war nach Einschätzung der Fachzeitschrift France Football einer der besten linken Flügelspieler, die Frankreich je hervorgebracht hat.114 Neben seiner ausgefeilten Technik und seiner Schusskraft wurde vor allem seine Kopfballstärke gefeiert, die ihm seinen zweiten Spitznamen einbrachte: Tête d’or.115 Allerdings war seine Karriere als Profifußballer auch von heftigen Rückschlägen und schweren Verletzungen geprägt. Nach Einschätzung vieler Beobachter hing die Tatsache, dass sich Racing Strasbourg in den 1950er-Jahren zu einer ‚Fahrstuhlmannschaft‘ entwickelte, damit zusammen, dass Edmond Haan immer wieder schwer verletzt war; außerdem wäre dessen Karriere – auch als Nationalspieler – in ihren Augen völlig anders verlaufen, wenn er bei einer ‚großen‘ Mannschaft gespielt hätte.116 Als französischer Nationalspieler steht Edmond Haan in einer langen Reihe von Spielern, die in Deutschland geboren und erst später zu Franzosen wurden – darunter
Vgl. Braesch: Edmond Haan (1996), S. 30. Vgl. Bride / Fournier / Kuntz: 100 ans de football en Alsace. Bd. 2: 1890–1920 (2002), S. 142. Vgl. Solère Stintzy: L’héroïque Racing d’Edmond Haan (2004). Vgl. „On l’appelait ‚tête d’or‘, ce buteur international. Edmond Haan: ‚Les sportifs ont un avantage sur les autres hommes‘ (Interview)“, in: Dernières Nouvelles d’Alsace, Nr. 52, 03.03.1981, SPO III. 114 Vgl. Louphi: Légende – Edmond Haan (11.08.2011). 115 Vgl. Bride: À côté d’une très grande carrière (1998), S. 8. 116 Vgl. Bride / Fournier / Kuntz: 100 ans de football en Alsace. Bd. 1: Petites et grandes histoires du football alsacien de 1890 à nos jours (2002), S. 272. 110 111 112 113
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stammten natürlich viele aus dem bis 1918 deutschen Elsass-Lothringen.117 Mit einzelnen dieser Spieler stand Haan während seiner Zeit bei Racing in engem Kontakt: So spielte er dort zu Beginn seiner Karriere mit Curt Keller und später mit Henri Skiba zusammen, und in der Saison 1955/56 war die „elsässische Spielerlegende Oscar Heisserer“118 sein Trainer. Weitere Mannschaftskameraden waren beispielsweise der österreichische Nationalspieler Ernst Stojaspal und die französischen Nationalspieler Raymond Kaelbel, Lucien Müller und Robert Jonquet. Allerdings zeigt der Lebensweg von Edmond Haan, wie schon eingangs herausgestellt, beispielhaft die Fragwürdigkeit nationaler Kategorisierungen auf: Haan kam 1924 im schwäbischen Schorndorf zur Welt; im gleichen Jahr wurde, nur wenige Kilometer entfernt, in Zuffenhausen, der Stuttgarter Stürmer Robert Schlienz geboren, in Kaiserslautern erblickten die späteren Fußballweltmeister Werner Kohlmeyer und Ottmar Walter das Licht der Welt. Aus der Perspektive des Jahres 1924 hätte aus Helmut Haan also auch ein deutscher Nationalspieler werden können. Mit der Festlegung des Oberamts Schorndorf von 1926 wurde Haan formal zum Franzosen, ohne dass dies zunächst größere Auswirkungen auf sein Leben hatte; erst 1931, mit dem Umzug nach Strasbourg, wurde Helmut Haan de facto zum französischen Staatsbürger Edmond Haan. Nachdem Straßburg mit dem Waffenstillstand von Compiègne vom 22. Juni 1940 unter deutsche Verwaltung gekommen und das Elsass – auch wenn es de jure französisch blieb – faktisch an das Deutsche Reich angegliedert worden war, wurde Edmond Haan wieder als der Deutsche Helmut Haan behandelt und als solcher zum Reichsarbeitsdienst und später zur Wehrmacht einberufen. Auch in dieser Zeit spielte er begeistert Fußball, ähnlich wie die späteren deutschen Nationalspieler seines Jahrgangs. Mit der Befreiung Straßburgs zum Jahresende 1944 wurde Edmond Haan endgültig zum Franzosen, wobei seine elsässische Herkunft nach Einschätzung vieler Zeitgenossen für seine Fußballerkarriere eher ein Nachteil bedeutete.119 Tatsächlich spiegelten sich im elsässischen Fußball der unmittelbaren Nachkriegszeit vielerlei Aspekte des schwer belasteten deutsch-französischen Verhältnisses wider: Beispielsweise wurden die Spieler des elsässischen Vorzeigevereins Racing Strasbourg einerseits in fremden Stadien mehrfach als Kollaborateure und „Täter von Oradour“ verunglimpft,
117 Alfred Roth (1890–1966), Schiltigheim; Paul Bloch (1897–1962), Mülhausen; Pierre Seyler, Straßburg; Émile Friess (1901–1993), Hegenheim; Ernest Gross (1902–1986), Straßburg; Willy Lieb (1904– 1978), Bischweiler; Émile Scharwath (1904–1980), Straßburg; Émile Veinante (1907–1983), Metz; Pierre Hornus (1908–1995), Mülhausen; Pierre Korb (1908–1981), Mülhausen; Marcel Kauffmann (1910–1993), Mülhausen; Henri Roessler (1910–1978), Lauterburg; Édouard Wawrzeniak (1912–1991), Oberhausen; Edmond Novicki (1912–1967), Krappitz; Ignace Kowalczyk (1913–1996), Castrop; Stefan Dembicki (1913– 1985), Marten; Fritz Keller (1913–1985), Straßburg; Oscar Heisserer (1914–2004), Schirrheim; Jean Snella (1914–1979), Mengede; Joseph Jadrejak (1918–1990), Gladbeck; Alfred Dambach (1918–1960), Straßburg; Curt Keller (1918–1992), Straßburg; Henri Skiba (1927–2018), Beuthen. 118 Reichelt: Inszenierte Erinnerung (2013), S. 374. 119 Vgl. Bride: À côté d’une très grande carrière (1998), S. 8.
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während der elsässische Fußballverband andererseits eine extrem restriktive Politik gegenüber deutschen Fußballern verfolgte.120 Auch Racing Strasbourg verpflichtete erst wieder in der Saison 1951/52 zwei Spieler mit deutscher Staatsangehörigkeit: Zu Beginn der Saison kam Eduard Kunkelmann von Phönix Karlsruhe; er verließ Racing allerdings nach nur einer Spielzeit mit 18 Einsätzen und drei Toren wieder in Richtung Karlsruhe, wo er sich erneut seinem inzwischen zum Karlsruher SC fusionierten Heimatverein anschloss.121 Wie Haan, so war auch der am 2. Oktober 1925 in Karlsruhe zur Welt gekommene Stürmer Sohn eines gebürtigen Elsässers; da die Vorfahren seines 1901 in Straßburg geborenen Vaters Eduard Wilhelm jedoch aus Baden stammten und seine Eltern erst 1924 geheiratet hatten, besaß Kunkelmann allerdings von Geburt an die deutsche Staatsbürgerschaft und behielt diese auch.122 Albert Oßwald, der im November 1951 in der laufenden Spielzeit vom FC Bayern München zu Racing wechselte, war wie Haan gebürtiger Schwabe – der am 25. November 1923 in Stuttgart geborene Außenläufer verließ Strasbourg ebenfalls bereits schon wieder zum Ende der Saison und ging zum 1. FC Saarbrücken.123 Der Vergleich mit Eduard Kunkelmann und Albert Oßwald verdeutlicht nochmals die Willkür, der Edmond Haan im Hinblick auf seine nationale Zugehörigkeit unterworfen war. Gerade hinsichtlich des Verhältnisses zu Frankreich kann man – unter Bezugnahme auf die anfangs erwähnten prominenten Schorndorfer – festhalten, dass Karl Friedrich Reinhard zu Recht als „Deutscher von Geburt und Franzose aus Überzeugung“124 beschrieben wurde, während Gottlieb Daimler zu Lebzeiten, trotz seiner späteren nationalistischen Vereinnahmung, ein überaus frankophiler Mensch mit sehr guten französischen Sprachkenntnissen war.125 Helmut bzw. Edmond Haan hatte hingegen keine Wahl, sondern wurde einzig und allein aufgrund der jeweiligen politischen Rahmenbedingungen zum Franzosen, dann wieder zum Deutschen und wieder zum Franzosen gemacht, ohne dass er darauf den geringsten Einfluss hatte. Die Tatsache, dass seine Mutter Klara erst im Mai 1957, nach dem Tod ihres Mannes am 17. April 1957 und zu einer Zeit, als ihr Sohn schon längst für die französische Fußballnationalmannschaft aufgelaufen war, die französische Staatsbürgerschaft beantragte,
Vgl. Didion: Zwischen Erinnerung und Verständigung (2021), S. 35–40. Der auch Edmund oder Edi genannte Spieler trat dann von 1953 bis 1957 für den FC Singen an, ehe er zum FC Rastatt wechselte, wo sein Vater seit 1933 lebte und inzwischen ein Autoreifengeschäft aufgebaut hatte, in welches er miteinstieg, vgl. StARA, Einwohnermeldekartei: Kunkelmann. 122 Vgl. StAKA: Heiratsbuch 945/1924: Heiratsurkunde von Edmund Wilhelm Kunkelmann und Elise Huttinger, geb. Uhrig, 11.12.1924; ebd., Sterbebuch 3363/1964: Sterbeurkunde von Elise Kunkelmann, geb. Uhrig, 09.12.1964. 123 Vgl. VAFCB: Clubzeitung des FC Bayern München e. V., Jg. 2, Nr. 10, Oktober 1950, S. 4 (mit handschriftlicher Ergänzung). 124 Vgl. Paul: Karl Friedrich Reinhard (2003), S. 356. 125 Vgl. Siebertz: Gottlieb Daimler (1940), S. 21. 120 121
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deutet darauf hin, dass die deutsche Herkunft innerhalb der Familie durchaus präsent geblieben war.126 Die Frage der Staatsbürgerschaft spielt heutzutage im deutsch-französischen Verhältnis zum Glück nur noch eine untergeordnete Rolle, und gerade auch Historiker:innen, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert, wesentlich zur Vergiftung des deutsch-französischen Verhältnisses beigetragen haben,127 haben in den zurückliegenden Jahrzehnten einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zum deutsch-französischen Aussöhnungsprozess geleistet.128 So hat ohne Zweifel auch Dietmar Hüser mit seinen Arbeiten daran mitgewirkt, einen, über den nationalen Tellerrand hinausgehenden, transnationalen Blick auf die deutsch-französischen Beziehungen zu etablieren! Ein solches Verdienst hat, in Reminiszenz an eine frühere Werbekampagne des eingangs erwähnten Automobilherstellers, mindestens einen Stern verdient und ist mit Sicherheit wesentlich nachhaltiger als ein Sportwagen! In diesem Sinne – und in der Hoffnung auf weitere inspirierende Forschungsarbeiten zur transnationalen Zeitgeschichte – die besten Wünsche an Dietmar Hüser! Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen
Archivalien Archives départementales du Haut-Rhin, Colmar (ADHR) – 5 E (Sickert, Naissances, 1883–1892). – 18 AL 2/96 (Fonds de l’armée française 1893–1940, Bureau de recrutement de Mulhouse, table alphabétique et registre des hommes des cantons de Dannemarie et Masevaux, en 1 volume, 1907). Archives municipales de Strasbourg (AMS) – 1 BA (Annuaires d’adresses de la ville de Strasbourg, 1874–1939) – 1 BA 1932 (Annuaire d’adresses de la ville de Strasbourg, année 1932). – 1 BA 1933 (Annuaire d’adresses de la ville de Strasbourg, année 1933). – 1 BA 1934 (Annuaire d’adresses de la ville de Strasbourg, année 1934). – 1 BA 1935 (Annuaire d’adresses de la ville de Strasbourg, année 1935). – 1 BA 1936 (Annuaire d’adresses de la ville de Strasbourg, année 1936). – 1 BA 1937 (Annuaire d’adresses de la ville de Strasbourg, année 1937). – 1 BA 1938 (Annuaire d’adresses de la ville de Strasbourg, année 1938). – 1 BA 1939 (Annuaire d’adresses de la ville de Strasbourg, année 1939).
Vgl. PAH: Beantragung der französischen Staatsbürgerschaft, Tribunal de Strasbourg, 1957, Nr. 875/399. 127 Vgl. Baumann: Die Erfindung des Grenzlandes Elsass-Lothringen (2013), S. 177–183. 128 Vgl. Cahn / Hüser (Hg.): Préhistoire et naissance du Comité franco-allemand des historiens (2010). 126
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– 1 Fl (Fonds photographique) – 1 Fl 137 (Strasbourg et l’Alsace pendant l’annexion allemande, 1940–1944, album 137: Strasbourg, faits marquants, 1941). – 3 E (État civil, registres et tables décennales des actes de décès, 1793–1932) – 3 E 466 (Décès, actes, No. 1677–3232, 26/06/1933–30/12/1933). Stadtarchiv Karlsruhe (StAKA) – Heiratsbuch 945/1924. – Sterbebuch 3363/1964. Stadtarchiv Rastatt (StARA) – Einwohnermeldekartei. Stadtarchiv Schorndorf (StASCH) – Familienregister. – Standesamt – Karteien des Einwohnermeldeamts. – Wohnungsanmeldungen. – Schorndorfer Adressbuch von 1925. Privatarchiv André Haan, Lingolsheim (PAH) – Auszug aus dem Register der von Rechts wegen wiedereingegliederten Franzosen in Ausführung des Friedensvertrags vom 28. Juni 1919, Gemeinde Sickert, Nr. 289 (Orig.: Extrait du registre des réintégrées de plein droit dans la qualité de Français en exécution du Traité de Paix du 28 juin 1919, Commune de Sickert, No. 289). – Beantragung der französischen Staatsbürgerschaft, Tribunal de Strasbourg, 1957, Nr. 875/399 (Orig.: Réclamation de la nationalite francaise, Tribunal de Strasbourg, 1957, No. 875/399). Vereinsarchiv FC Bayern München, München (VAFCB) – Clubzeitung des FC Bayern München e. V.
Gedruckte Quellen Braesch, Francis: Grandes et petites histoires du football alsacien. Strasbourg (Ligue d’Alsace de football association) 1989. Braesch, Francis: Edmond Haan. Le fructueux emprunt de Nîmes, in: Alsace Foot 5 (1996), S. 30–31. Bride, Hervé: À côté d’une très grande carrière, in: Alsace Foot 23 (1998), S. 8–9. Lessing, Hans: Das Problem der Staatenlosigkeit ehemaliger Elsaß-Lothringer. Stuttgart (Ausland und Heimat Verlags-Aktiengesellschaft) 1932. Rudolf, Patrick: „Ces cigognes devenues coqs“. Edmond Haan – „Gockel“, in: Alsace Foot 30 (1994), S. 1–2. Siebertz, Paul: Gottlieb Daimler. Ein Revolutionär der Technik. München / Berlin (Lehmanns) 1940. Solère Stintzy, Emmanuel de: L’héroïque Racing d’Edmond Haan, in: Alsace Foot 84 (2004), S. 3. Wagner, Gilbert: De l’âge de pierre à l’âge de Stahl. Association Sportive Pierrots Vauban 1921– 1996. Strasbourg (AS Pierrots Vauban) 1996.
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Ansbert Baumann
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„In Luxemburg kann man nur verlieren, wenn es in der eigenen Mannschaft nicht stimmt.“ Fußballbeziehungen zwischen Luxemburg und den Ostblockstaaten im Kalten Krieg ALEXANDER FRIEDMAN
Anfang Februar 1957 bat René R. aus Ettelbrück (Kanton Diekirch) das Außenministerium des Großherzogtums Luxemburg um Unterstützung in einer ungewöhnlichen Angelegenheit: Zusammen mit drei Freunden wollte der Luxemburger eine Reise nach Moskau unternehmen, um sich dort am 9. Juli 1957 das Freundschaftsspiel der Fußballnationalmannschaften Argentiniens und der UdSSR anzuschauen. Über die bevorstehende Begegnung wollte R. aus einem Bericht der Zeitung Luxemburger Wort erfahren haben.1 Weder das Außenministerium noch die Botschaft des Großherzogtums in Moskau konnten aber dem abenteuerlustigen Fußballfan aus Ettelbrück bei der Verwirklichung seines Traumes helfen, denn die besagte Partie kam 1957 nicht zustande. Das allererste Spiel zwischen der Sowjetunion und Argentinien fand erst am 24. Juni 1961 in Moskau statt und endete mit einem torlosen Remis.2 Der Fall R. ist eine kuriose Episode aus der Geschichte der Fußballbeziehungen zwischen Luxemburg und den Obstblockstaaten, die in diesem Beitrag am Beispiel der UdSSR und der DDR exemplarisch beleuchtet wird. In der Geschichte der Fußballbeziehungen zwischen Luxemburg, der UdSSR und der DDR lassen sich dabei zwei Etappen unterscheiden: erstens die späten 1950er- und frühen 1960er-Jahre, in denen vor allem die Fußballdiplomatie im Vordergrund stand; zweitens die 1970erund 1980er-Jahre, in denen es zu luxemburgisch-sowjetischen und vor allem luxemburgisch-ostdeutschen Fußballduellen in verschiedenen Wettbewerben kam. Welche Rolle spielte die Fußballdiplomatie? Wurde der Fußball propagandistisch instrumentalisiert? Wie wurde der luxemburgische Fußball in der Sowjetunion und in der DDR wahrgenommen? Um diese Fragen zu beantworten, werden vor allem ein-
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Vgl. ANLux, AE 8878. Vgl. Kašincev: Istoričeskie podrobnosti o matčach s Argentinoj (19.10.2017).
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schlägige Pressepublikationen sowjetischer und ostdeutscher Provenienz analysiert. Zunächst wird die Fußballgeschichte Luxemburgs im Kalten Krieg beleuchtet. Danach werden die Etappen der Fußballbeziehungen zwischen Luxemburg, der UdSSR und der DDR thematisiert. 1.
Fußball in Luxemburg
Die Geschichte des Fußballs in Luxemburg begann noch vor dem Ersten Weltkrieg. Der erste Fußballverein, der Football and Lawn-Tennis-Club (Fola) in Esch, wurde 1906 vom Englischlehrer Jean Roeder gegründet, der diese Sportart in der Stadt populär machte. Bereits zwei Jahre später entstand der Fußballverband, Lëtzebuerger Foussballfederatioun, der sich 1910 der FIFA und 1954 der UEFA anschloss. Am 29. Oktober 1911 folgte das erste Länderspiel, wobei die Luxemburger zuhause 1:4 gegen Frankreich verloren. Ihre größten internationalen Fußballerfolgte feierte die luxemburgische Nationalelf in den frühen 1960er-Jahren. Im Rahmen der Qualifikation für die Europameisterschaft in Spanien 1964 bezwang Luxemburg im Achtelfinale die Niederlande; im Viertelfinale schied das Nationalteam erst im dritten Entscheidungsspiel knapp gegen Dänemark (0:1) aus und verpasste die Endrunde der besten vier Mannschaften.3 Ab den späten 1950er-Jahren nahmen Mannschaften aus Luxemburg regelmäßig an verschiedenen Europapokalspielen teil, in denen sie allerdings selten die erste Runde überstanden. Ausnahmen stellten der FC Aris Bonneweg, der in der Saison 1979/80 die zweite Runde des Europapokals der Landesmeister erreichte,4 und der luxemburgische Rekordmeister Jeunesse Esch dar. Letzterer stand 1959/60 und 1963/64 in der zweiten Runde des Europapokals der Landemeister.5 In der ersten Hälfte der 1980erJahre spielte Jeunesse im Europapokal der Landesmeister gegen Spartak Moskau (1980) und BFC Dynamo (1983). An die internationalen Erfolge der späten 1950er und frühen 1960er konnte die Mannschaft aus Esch – wie noch zu zeigen sein wird – jedoch nicht anknüpfen. 2.
Fußballdiplomatie der späten 1950er- und frühen 1960er-Jahre
Nach dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere nach dem Tod von Stalin 1953, war die Sowjetunion bestrebt, ihren internationalen Ruf im Kontext des Kalten Krieges zu verbessern, ihre zentrale Rolle bei der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus hervorzuheben und sich zudem als fortschrittlich und weltoffen zu präsentieren. 3 4 5
Vgl. Funck: Die Fussball Geschichte von Luxemburg; ders.: Die Qualifikationsspiele für die EM 1964. Vgl. Funck: Aris Bonneweg. Vgl. Funck: Jeunesse Esch.
„In Luxemburg kann man nur verlieren, […]“
Als westeuropäischer Staat an der Grenze zu Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland gewann Luxemburg für die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg an Bedeutung. Um internationale Anerkennung bemüht versuchte sich die DDR in Luxemburg – im Gegensatz zur ‚revanchistischen‘ und ‚neofaschistischen‘, in der Terminologie der SED zum ‚Bonner Reich‘ stilisierten Bundesrepublik –, als antifaschistischer Staat zu profilieren. Während der Fußball sowohl von Moskau als auch von OstBerlin als wichtiger politischer und propagandistischer Faktor betrachtet wurde, der die Sympathie für die kommunistischen Staaten verstärken sollte, nutzte Luxemburg diese Sportart, um das internationale Ansehen und die internationale Sichtbarkeit des kleinen Landes zu verbessern. Bereits in der zweiten Hälfte der 1940er-Jahren und noch stärker ab den 1950er-Jahren betrieb die Sowjetunion eine aktive Fußballdiplomatie. Sowjetische Spitzenmannschaften wurden ins Ausland entsandt und bestritten Spiele in West- und Osteuropa, in Asien und später auch in Nord- und Südamerika sowie in Afrika.6 Im November 1955 fand das erste sowjetische Gastspiel in Luxemburg statt, das zugleich die gestiegene Bedeutung des Großherzogtums für die UdSSR bestätigte: Der sowjetische Meister Dynamo Moskau mit dem legendären Welttorwart Lev I. Jašin (1929–1990) unternahm eine Reise nach England und anschließend nach Luxemburg. Während es die Moskauer Mannschaft in England mit starken Gegnern (1:2 gegen Wolverhampton Wanderers; 1:0 gegen Sunderland) zu tun hatte, erwartete sie in Luxemburg ein leichtes Spiel; die luxemburgische Nationalelf wurde mit 6:0 geschlagen.7 Vier Jahre später gastierte Dynamo Tbilissi – Dritter der sowjetischen Oberliga im Jahr 1959 – im Rahmen einer Europareise in Luxemburg.8 Diesmal präsentierte sich die luxemburgische Nationalmannschaft besser, wobei das Spiel mit einem torlosen Unentschieden endete.9 Den Höhepunkt der sowjetischen Fußballdiplomatie in Luxemburg markierten zwei Gastspiele der sowjetischen Nationalmannschaft in Luxemburg im April 1962. Aus Moskau kam nicht nur eine der stärksten Nationalmannschaften, sondern der amtierende Europameister von 1960. In der ersten Partie traf die zweite sowjetische Auswahl am 10. April auf die zweite luxemburgische Mannschaft in Esch. Obgleich die Gäste drückend überlegen waren, blieb das Spiel bis zur 71. Minute offen. In den letzten 20 Minuten schossen die Sowjets aber insgesamt sieben Tore und durchkreuzten somit die luxemburgische Hoffnung auf ein respektables Remis. Wesentlich besser schlug sich die erste luxemburgische Auswahl, die am 11. April in Luxemburg-Stadt vor
Zur sowjetischen Sport- und insbesondere Fußballdiplomatie siehe Bogoljubova / Nikolaeva: Geopolitika sporta (2018), S. 42–45. 7 Vgl. Pimenov: Protokoly vsech matčej „Dinamo“ Moskva po futbolu. 8 Vgl. Archipov: Meždunarodnye matči „Dinamo“ Tbilissi. 9 Vgl. „‚Stad Municipal‘, 10 aprelja … K predstojaščemu matču sbornych komand SSSR–Ljuksemburga“, in: Futbol, 08.04.1962. 6
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6.000 Zuschauer:innen die erste sowjetische Elf empfing und nur mit 1:3 verlor. Dem luxemburgischen Angreifer Ady Schmit (geb. 1945) – zwischen 1962 und 1970 beim französischen FC Sochaux-Montbéliard unter Vertrag – gelang in der 18. Minute ein Tor gegen Lev Jašin. Mit seinem Tor sorgte Schmit für den zwischenzeitlichen Ausgleich, der allerdings lediglich fünfzehn Minuten hielt. Die sowjetische Berichterstattung über diese Spiele zeigt, dass die sportliche Leistung eher Nebensache war, während die Fußballdiplomatie im Mittelpunkt stand. Luxemburg wurde wohlwollend als eine kleine fußballbegeisterte Nation charakterisiert, deren Nationalmannschaft einen guten Ruf (!) in Europa genieße.10 Man zollte den Luxemburgern Respekt, die – von manchen Fachleuten zu Unrecht unterschätzt – aggressiv, selbstlos und schnell agiert, Torchancen erarbeitet hätten und somit ein würdiger Gegner für die Mannschaften aus der Sowjetunion gewesen seien.11 Noch mehr war im März 1957 die ostdeutsche Presse von Luxemburg und luxemburgischen Fußballern angetan, denn die luxemburgische Nationalelf war die erste westliche Mannschaft, gegen die die DDR ein Länderspiel absolvieren konnte. Die Partie fand am 10. März 1957 in Ost-Berlin statt. Im Vorfeld der Begegnung setzte sich die DDR-Presse mit dem Großherzogtum Luxemburg auseinander, ebenso mit dem Fußballeben in Luxemburg, den luxemburgischen Fußballvereinen CA Spora und Jeunesse Esch, dem 36-jährigen Nationaltorhüter Benny Michaux (1921–1987) und seinen jüngeren Mitspielern. Der Gegner der DDR-Auswahl – eine im internationalen Vergleich eher unterklassige luxemburgische Nationalelf – wurde absichtlich aufgewertet.12 Ihre Spieler galten als sympathische und höfliche Gäste, die sich nicht die Chance entgehen ließen, die im Westen wenig bekannte und geächtete junge DDR sowie ihre Hauptstadt kennenzulernen.13 Die ostdeutschen Zeitungen Neues Deutschland, Berliner Zeitung und Neue Zeit warnten ihr Lesepublikum, nicht mit einem „Spaziergang“ der favorisierten Gastgeber zu rechnen, und forderten die ostdeutschen Nationalspieler auf, die Luxemburger nicht „auf die leichte Schulter“ zu nehmen.14 Diese übervorsichtige Rhetorik und die insgesamt wohlwollende Berichterstattung lässt sich auf das Zusammenspiel von zwei Faktoren zurückführen: Erstens war man Vgl. „‚Stad Municipal‘, 10 aprelja … K predstojaščemu matču sbornych komand SSSR–Ljuksemburga“, in: Futbol, 08.04.1962. 11 Vgl. „V Ljuksemburge i Ėše“, in: Futbol, 15.04.1962; „Matč vysokogo tempa“, in: Sovetskij sport, 13.04.1962. Siehe hierzu auch „Po vozrastajuščej složnosti“, in: Sport-Ėkspress, 06.02.2012. 12 Vgl. „Vorverkauf hat begonnen“, in: Neues Deutschland, 27.02.1957. 13 Vgl. „Luxemburger wollen mit ‚Wirbel‘ starten. Junge Mannschaft mit großem Ehrgeiz“, in: Neues Deutschland, 10.03.1957. 14 Siehe „Luxemburg-Spiel wird kein Spaziergang. Länderkampfauftakt der Fußballer am 10. März im Walter-Ulbricht-Stadion“, in: Berliner Zeitung, 01.03.1957; „Berlin sieht DDR-Luxemburg. In der Messestadt Leipzig empfängt der SC Lok Spielvereinigung Fürth“, in: Neues Deutschland, 07.03.1957; „Aufgebot für das Luxemburg-Spiel“, in: Berliner Zeitung, 02.03.1957; „DDR-Fußball-Auswahl heute gegen die Elf Luxemburgs“, in: Neue Zeit, 10.03.1957. 10
„In Luxemburg kann man nur verlieren, […]“
nicht von einem klaren Sieg der ostdeutschen Elf überzeugt; zweitens freute man sich über die Anerkennung durch den luxemburgischen Fußballverband, der sich von möglichen negativen Reaktionen aus der Bundesrepublik Deutschland nicht beeinflussen und die Nationalmannschaft in einem Land auftreten ließ, mit dem Luxemburg zu diesem Zeitpunkt nicht einmal diplomatische Beziehungen unterhielt. Die Sorgen hinsichtlich des Ausgangs der Partie waren jedoch übertrieben. Die DDR-Elf setzte sich am 10. März gegen die überraschend offensiv agierenden Luxemburger mit 3:0 durch. Der Pflichtsieg gegen Luxemburg löste in der DDR keine große Begeisterung aus. Die vor dem Spiel gelobte luxemburgische Auswahl wurde nach dem Spiel als ein Team abgetan, das „in der europäischen Rangliste an letzter Stelle“15 stehe und zudem ein Land vertrete, in dem gerade einmal 300.000 Menschen leben würden. 3.
‚Fußballzwerg Luxemburg‘
Die bereits beschriebene Tendenz, die luxemburgischen Spieler angesichts eher durchwachsener Leistungen der DDR-Nationalelf vor den Spielen auf- und unmittelbar nach den Spielen abzuwerten, zieht sich wie ein roter Faden durch die ostdeutsche Berichterstattung über die Begegnungen zwischen Luxemburg und der DDR in den 1970er- und 1980er-Jahren. Im Rahmen der Qualifikation für die Europameisterschaft 1972 sowie für die Weltmeisterschaft 1986 bestritt die DDR insgesamt vier Spiele gegen Luxemburg, die im ostdeutschen Radio bzw. Fernsehen übertragen wurden. Am 15. November 1970 in Luxemburg-Stadt und am 17. November 1984 in Esch ging Luxemburg jeweils mit 0:5 unter. Am 24. April 1971 in Gera verpassten die Luxemburger hingegen knapp ein Unentschieden und verloren mit 1:2. Am 18. Mai 1985 feierte die DDR einen 3:1-Sieg in Potsdam. Vor dem ersten Spiel in Luxemburg-Stadt hob der Sonderberichterstatter der Zeitung Neues Deutschland (ND) Joachim Pfitzner, der die DDR-Elf bei ihrer Reise ins Großherzogtum begleitete, am 14. November 1970 hervor, dass die ostdeutsche Nationalelf die Luxemburger nicht unterschätzen dürfe.16 Einen Tag später machte er die ND-Leser:innen mit dem Fußballleben in Luxemburg vertraut und betonte, dass Fußball im „kleinen“ Luxemburg „Sportart Nummer 1“17 sei. Der Reporter stellte außerdem zufrieden fest, dass das Länderspiel ein bemerkenswertes Ereignis für Luxemburg „Luxemburger Fußballer hielten Niederlage 3:0 in erträglichen Grenzen“, in: Neues Deutschland, 12.03.1957. 16 Vgl. „Unterschätzt die Luxemburger nicht“, in: Neues Deutschland, 14.11.1970. Zu diesem Spiel siehe auch „DDR-Elf mit zwei Gesichtern“, in: Berliner Zeitung, 14.11.1970; „DDR-Fußballer heute gegen Luxemburger“, in: Berliner Zeitung, 15.11.1970. 17 „Unser Aufgebot für Überraschung fähig. Heute 14.45 Uhr zweites Länderspiel der DDR-Fußball-Nationalelf in der Europameisterschafts-Vorrunde gegen Luxemburg“, in: Neues Deutschland, 15.11.1970. 15
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sei und die Bevölkerung des Landes auf die DDR aufmerksam mache. Letztere würde von der luxemburgischen Presse als Favorit der Begegnung eingeschätzt, wobei man jedoch eine Überraschung durch die „fast aussichtslose“18 Luxemburg-Elf nicht ausschließe. Trotz des klaren Sieges im Auswärtsspiel blieb die DDR-Presse, die den Luxemburgern nach der ersten Begegnung „kaum mittelklassiges Format“19 attestiert hatte, im Vorfeld des Länderspiels in Gera zurückhaltend.20 Der Deutsche Fußball-Verband verlegte sogar den Spieltag der ostdeutschen Oberliga, damit die Nationalmannschaft sich auf das Spiel gegen Luxemburg und weitere Qualifikationsspiele besser vorbereiten konnte. Im Hinblick auf die eklatante Schwäche der luxemburgischen Elf wunderte sich die sowjetische Sportpresse über diese Entscheidung,21 die sich allerdings als richtig erwies: Luxemburg leistete erbitterten Widerstand und beendete seine Serie von vier torlosen Spielen. Die DDR feierte einen verdienten, aber sehr knappen 2:1-Erfolg. Die ostdeutsche Presse entrüstete sich über die Partie in Gera, in der die klar überlegene DDR-Elf nur glücklich eine Blamage gegen „die tapfer kämpfenden Gäste aus dem kleinen Großherzogtum“22 habe vermeiden können, und sprach von einem Spiel, das man am besten schnell vergessen solle. Die Erinnerungen an das Gera-Spiel beeinflussten auch die Berichterstattung über die WM-Qualifikationsspiele 1984/85. Am 5. November 1984 betonte der Journalist Wolfgang Richter in der Zeitung Neues Deutschland, dass die Ausstrahlung des Fußballs in Luxemburg zwar gering und die internationale Bilanz der luxemburgischen Nationalelf bescheiden sei, aber dennoch bekomme die DDR die Punkte im Spiel gegen die Luxemburger nicht geschenkt: „Schon manchem Favoriten wurde von unserem nächsten Qualifikationsgegner ein Bein gestellt.“23 Es wurden außerdem die Ebd. „5:0 in Luxemburg. Vier Tore von Hans-Jürgen Kreische und ein Treffer von Eberhard Vogel stellten überlegenen Sieg sicher“, in: Neues Deutschland, 16.11.1970. Zu diesem Spiel siehe auch „DDR-Fußballer siegten gegen Luxemburg hoch 5:0. Mit 4:0 Pkt. nun Tabellenführer in der EM-Gruppe“, in: Berliner Zeitung, 16.11.1970; „Fünf Tore – eine klare Entscheidung. Fußball: Erste Etappe in der EM-Vorrunde in Luxemburg erfolgreich bewältigt“, in: Neue Zeit, 17.11.1970; „Ljuskemburg GDR – 0:5“, in: Futbol-Chokkej, 22.11.1970. 20 Vgl. „Schützenfest oder nicht – das ist gegen Luxemburg nicht die Frage“, in: Neues Deutschland, 23.04.1971; „DDR-Elf vor vier Spielen. Fußball-EM: Trainer Buschner nominierte 18 Aktive“, in: Neue Zeit, 23.04.1971. 21 Vgl. „GDR Ljuksemburg – 2:1“, in: Futbol-Chokkej, 02.05.1971. 22 Vgl. „Chancen in Hülle und Fülle“, in: Neues Deutschland, 25.04.1971; „‚Schön’ nicht um jeden Preis!“, in: Neues Deutschland, 30.04.1971; „2:1 gegen Luxemburg“, in: Berliner Zeitung, 25.04.1971; „Mühevoller Erfolg über Luxemburg“, in: Berliner Zeitung, 25.04.1971; „Eine mäßige Generalprobe“, in: Neue Zeit, 27.04.1971. 23 „Auch in Luxemburg sind Punkte kein Geschenk. Schon manchem Favoriten wurde von unserem nächsten Qualifikationsgegner ein Bein gestellt“, in: Neues Deutschland, 05.11.1984. Zu diesem Spiel siehe auch „Thom spielt in Luxemburg“, in: Berliner Zeitung, 12.11.1984; „Am Sonnabend trifft die DDR-Elf in Esch auf Luxemburg“, in: Neues Deutschland, 13.11.1984; „Nur mit vollem Erfolg werden Chancen gewahrt“, in: Neues Deutschland, 16.11.1984; „Morgen zweites WM-Qualifikationsspiel der DDR-Fußball-National18 19
„In Luxemburg kann man nur verlieren, […]“
Nationaltrainer Joseph ‚Jef ‘ Vliers (Luxemburg) und Bernd Stange (DDR) zitiert. Während der Belgier Vliers ein Unentschieden gegen die DDR als Ziel seiner Mannschaft ausgab, vertrat sein ostdeutscher Kollege die Ansicht: „Ohne den Gegner zu unterschätzen, glaube ich, daß man in Luxemburg nur verlieren kann, wenn es in der eigenen Mannschaft nicht stimmt.“24 Im Gegensatz zur DDR-Nationalelf absolvierte die sowjetische Sbornaja nach 1962 keine Länderspiele gegen Luxemburg. So wurde über den Fußball in Luxemburg in der sowjetischen Zentralpresse kaum25 und in der Sportpresse – etwa in der Zeitschrift Futbol-Chokkej (‚Fußball und Eishockey‘) – nur im Kontext der internationalen Wettbewerbe berichtet: Die luxemburgische Nationalmannschaft und Vereine aus dem Großherzogtum galten als „sichere Punktelieferanten“, „Außenseiter“ und „Prügelknaben“26. Obschon luxemburgische Teams manchmal für Überraschungen sorgten – wie etwa Jeunesse Esch mit einem 1:1-Unentschieden gegen den englischen Kultverein FC Liverpool in der ersten Runde des Europapokals der Landesmeister 1973/7427 – galt der Sieg gegen den vermeintlichen ‚Fußballzwerg Luxemburg‘ als Pflicht für jede ernstzunehmende Fußballmannschaft Europas.28
elf. ‚Zwerg‘ will keine Punkte verschenken“, in: Neue Zeit, 16.11.1984; „Beide suchen das Erfolgserlebnis. Morgen WM-Qualifikationsspiel Luxemburg – DDR“, in: Berliner Zeitung, 16.11.1984; „Am heutigen Sonnabend Fußball-WM-Qualifikationsspiel Luxemburg – DDR. Unsere Auswahl muß den Gegner ernst nehmen“, in: Neues Deutschland, 17.11.1984; „5:0-Fußballsieg in Luxemburg“, in: Berliner Zeitung, 18.11.1984; „Fußballer um WM-Punkte gegen Außenseiter Luxemburg. Dörner am Sonnabend in Babelsberg im 100. Länderspiel“, in: Neues Deutschland, 16.05.1985; „Es kann nur noch besser werden – hoffentlich. Gespräch mit Trainer B. Stange vor Luxemburg-Spiel“, in: Berliner Zeitung, 17.05.1985; „Nach dem Wechsel völlig das Gesicht verloren. Unbefriedigender 3:1-Sieg gegen Luxemburg / Am Ende Konzentrationsschwund“, in: Berliner Zeitung, 20.05.1985. 24 „Nur mit vollem Erfolg werden Chancen gewahrt“, in: Neues Deutschland, 16.11.1984. Vgl. auch „Eigentor in der 60. Minute brach den Bann zum 5:0. Die DDR-Fußballer brauchten gegen den Außenseiter eine lange Anlaufzeit“, in: Berliner Zeitung, 18.11.1984. 25 Zwischen dem 25.05.1984 und dem 03.06.1984 fand die Endrunde der U-18-Fußballeuropameisterschaft statt. Da diese Endrunde in der UdSSR ausgetragen wurde, setzte sich die sowjetische Zentralpresse mit diesem Wettbewerb auseinander, bei dem Luxemburg zusammen mit England, der DDR und den sowjetischen Gastgebern in der Gruppe C spielte. Das Zentralorgan des Zentralkomitees (ZK) der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) schätze die Luxemburger als das schwächste Team des Turniers ein und diese Einschätzung erwies sich als zutreffend: Die Elf aus Luxemburg verlor alle Gruppenspiele – etwa 0:4 gegen die DDR und 0:5 gegen die UdSSR – und blieb der einzige Endrundenteilnehmer ohne Torerfolg, vgl. „Č’i zvezdy zagorjatsja jarče“, in: Pravda, 25.05.1984; „Volnovalis’, no pobedili“, in: Pravda, 27.05.1984; „Nadeždy junošej pitajut“, in: Pravda, 28.05.1984; „Legkich matčej net“, in: Pravda, 31.05.1984. 26 „Natisk ravenstva“, in: Futbol-Chokkej, 18.09.1977. 27 Vgl. „Kommentarij“, in: Futbol-Chokkej, 23.09.1973. Zu diesem Spiel vgl. Scuto: Erfolgreiche Jahrzehnte in Schwarz-Weiß (2007), S. 62 f.; ders.: Un match fou et héroïque (2007). 28 Siehe bspw. „Italija Ljuksemburg – 5:0“, in: Futbol-Chokkej, 08.04.1973; „Ljuksembugr Švejcarija – 0:1“, in: Futbol-Chokkej, 15.04.1973; „Švejcarija Ljuksemburg – 1:0“, in: Futbol-Chokkej, 30.09.1973; „Ljuksemburg Vengrija – 2:4“, in: Futbol-Chokkej, 20.10.1974; „Uėl’s Ljuksemburg – 5:0“, in: Futbol-Chokkej, 24.11.1974; „152 matča 32-ch evreopejskich sbornych“, in: Futbol-Chokkej, 02.03.1975; „Ljuskemburg Uėl’s – 1:3“, in: Futbol-Chokkej, 11.05.1975; „Avsrija Ljuksemburg – 6:2“, in: Futbol-Chokkej, 19.10.1975; „Vengrija Ljuksemburg – 8:1“, in: Futbol-Chokkej, 26.10.1975; „Futbol’naja Evropa. Ravnenie na vostok“, in: Futbol-
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Diese herablassende Meinung lässt sich am Beispiel des Duells zwischen Spartak Moskau und Jeunesse Esch in der ersten Runde des Europapokals der Landesmeister im Herbst 1980 veranschaulichen. Vor den Europapokalspielen stellte die Zeitschrift Futbol-Chokkej in der Regel die Gegner der sowjetischen Mannschaften vor: In der Ausgabe vom 7. September 1980 erschienen die Berichte über Eintracht Frankfurt und KSC Lokeren Oost-Vlaanderen aus Belgien, die im UEFA-Pokal gegen Šachtar Donec’k bzw. Dynamo Moskau spielten. Spartaks Gegner Jeunesse Esch im wichtigsten Europapokal, dem Europapokal der Landesmeister, hingegen wurde lediglich am Rande erwähnt.29 Nach der ersten Partie in Esch am 17. September, die Spartak mit 5:0 für sich entscheiden konnte, erschien nicht einmal ein Spielbericht.30 Nach dem Rückspiel in Moskau, in dem die luxemburgischen Gäste am 1. Oktober nur eine einzige Torchance gehabt, diese nicht genutzt und erneut klar mit 0:4 verloren hatten, machte sich der Futbol-Chokkej über den „bequemen“31 Gegner aus dem Großherzogtum lustig, der technisch und physisch schlecht vorbereitet gewesen sei, mutig, aber langsam gespielt und die Reise nach Moskau vor allem genutzt habe, um ein geordnetes Mannschaftstraining zu absolvieren. In der DDR sah man hingegen von dieser Überheblichkeit ab: Der Gegner des DDR-Meister in der ersten Runde des Europapokals der Landesmeister 1983/84 Jeunesse Esch wurde jedoch als „leichtes Los“32 wahrgenommen. Die Einschätzung bestätigte sich, denn die Ost-Berliner feierten zwei Siege (4:1 im Heimspiel; 2:0 in Esch) und marschierten in die zweite Runde.
Chokkej, 11.04.1976; „Ljksemburg Anglija – 0:2“, in: Futbol-Chokkej, 16.02.1977; „Anglija Ljuksemburg – 5:0“, in: Futbol-Chokkej, 03.04.1977; „Italija Ljuksmburg – 3:0“, in: Futbol-Chokkej, 11.12.1977; „Klassifikacija ‚Frans Futbola‘“, in: Futbol-Chokkej, 08.01.1978; „Klassifikacija ‚Frans Futbola‘“, in: Futbol-Chokkej, 07.01.1979; „Besssporno – Gollandija“, in: Futbol-Chokkej, 25.02.1979; „Francija Ljuksemburg – 3:0“, in: Futbol-Chokkej, 04.03.1979; „Ljksemburg ČSSR – 0:3“, in: Futbol-Chokkej, 06.05.1979; „Švecija Ljuksemburg – 3:0“, in: Futbol-Chokkej, 10.06.1979; „Na perevaločnom punkte“, in: Futbol-Chokkej, 03.02.1980; „Koėfficent predstavitel’stva. Novyj porjadok učastija v kubke UEFA“, in: Futbol-Chokkej, 17.02.1980; „Kubok Uefa“, in: Futbol-Chokkej, 05.10.1980; „Snova tri“, in: Futbol-Chokkej, 14.10.1980; „Mexico 86“, in: Futbol-Chokkej, 25.11.1984. 29 Vgl. „Maėstro iz serediny tablicy. ‚Ėjntracht‘ sopernik doneckogo ‚Šachtëra‘“, in: Futbol-Chokkej, 07.09.1980; „Čestoljubivyj ‚Lokeren‘, sopernik Moskovskogo Dinamo v Kubke Uefa; Kubok čempionov“, in: Futbol-Chokkej, 07.09.1980. 30 Vgl. die Ausgabe von Futbol-Chokkej, 21.09.1980. Siehe hierzu auch „Nikto šansov ne poterjal“, in: Pravda, 19.09.1980. 31 „Igra kak urok“, in: Futbol-Chokkej, 05.10.1980. Zu diesem Spiel siehe auch Kremer: Op der Jeunesse do gëtt ee gefuerdert! (2007), S. 145–147. 32 „Der Sport meldet. Fußball-EC – Leichtes Los für BFC Dynamo“, in: Neue Zeit, 07.07.1983. Siehe auch „Pokal der Landesmeister: BFC Dynamo – Jeunesse. Den klaren Erfolg erst in der Schlussphase gesichert. Gäste fast nur auf Abwehr bedacht / Vier Bälle am Holz / Gute Ausgangsposition“, in: Neues Deutschland, 15.09.1983; „Pokal der Landesmeister: Jeunesse Esch – BFC Dynamo. Berliner Elf meisterte die Auswärtshürde sehr sicher. Ullrich und Noack erzielten Tore / Gästeabwehr kaum geprüft / Höherer Sieg möglich“, in: Neues Deutschland, 29.09.1983. Vgl. auch Karier: Mit der Stadt verändert sich der Verein (2007), S. 170.
„In Luxemburg kann man nur verlieren, […]“
4. Fazit
Am 16. September 1992 übertrug der russische Fernsehsender Pervyj kanal Ostankino (‚Erster Kanal Ostankino‘) das Hinspiel der ersten Runde des Europapokals der Pokalsieger zwischen Spartak Moskau und FC Avenir Beggen. Der bekannte Kommentator Evgenij Majorov hob in seiner Reportage hervor, dass die Gäste aus Luxemburg eine technische, aber langsam spielende, unterklassige und international erfolglose Mannschaft seien. Majorov war fest davon überzeugt, dass etwa 12.500 Zuschauer und Zuschauerinnen, die sich im Moskauer Lužniki-Stadion an diesem Herbsttag versammelt hätten, zutiefst enttäuscht nach Hause gegangen seien. Statt des erwarteten Schützenfestes hätten sie ein aus Spartaks Sicht peinliches 0:0-Unentschieden erlebt. Für dieses Ergebnis machte Majorov allein die russischen Gastgeber verantwortlich. Das Niveau des luxemburgischen Fußballs habe sich seit dem torreichen Duell zwischen Moskau und Esch im Jahr 1980 nicht verbessert. Spartak, das die gesamte Partie über drückend überlegen gewesen sei, habe schwach, lässig und unkonzentriert gespielt und sei für diese Arroganz bestraft worden.33 Tatsächlich schrieb der FC Avenir am 16. September 1992 Geschichte: Zum ersten Mal gelang es einer luxemburgischen Mannschaft, in einem Pflichtspiel gegen die Fußballer aus Russland bzw. aus der UdSSR zu bestehen und das Spielfeld ungeschlagen zu verlassen. Zu einem Schützenfest kam es dann aber zwei Wochen später beim Rückspiel in Walferdingen: Spartak deklassierte den FC Avenir mit 5:1. Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Nationalmannschaften der UdSSR und DDR sowie Vereine aus diesen Ländern ihre ‚Pflichtsiege‘ in den Duellen gegen die Gegner aus Luxemburg meistens ohne große Mühe, seltener mit Schwierigkeiten erreichten. In den späten 1950er- und den frühen 1960er-Jahren setzten die UdSSR und DDR auf fußballdiplomatische Aktivitäten, die den Ruf dieser Länder in Luxemburg verbessern sollte. Das Länderspiel zwischen Luxemburg und der DDR (1957) und das Gastspiel der sowjetischen Nationalelf in Luxemburg (1962) wurden propagandistisch ausgeschlachtet. Während die DDR-Presse in den 1970er- und 1980er-Jahren mit dem Qualifikationsgegner Luxemburg (über)vorsichtig umging, ist in der UdSSR das herablassende Bild vom ‚Fußballzwerg‘ Luxemburg entstanden. An dieses Bild knüpfte im September 1992 Evgenij Majorov in seiner Reportage über die Begegnung zwischen Spartak und Avenir an.
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Vgl. Against Modern Football: 16.09.1992 КОК 1/16 finala (01.06.2020).
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Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen
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„In Luxemburg kann man nur verlieren, […]“
Literatur
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Alexander Friedman, Geschichtsstudium an der Belarussischen Staatsuniversität, Studium der
Neueren und Neuesten Geschichte, Philosophie und des Deutschen als Fremdsprache an der Universität des Saarlandes, 2009 Promotion im Fach Neuere Geschichte an der Universität des Saarlandes mit dem Titel Deutschlandbilder in der weißrussischen sowjetischen Gesellschaft 1919–1941. Propaganda und Erfahrungen, Lehrbeauftragter an der Universität des Saarlandes, an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen. Forschungsschwerpunkte: sowjetische Geschichte; Geschichte der Juden in Osteuropa; Sportgeschichte; Nationalsozialismus.
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Sport denken – gestalten – praktizieren Adolf Müller-Emmert und die westdeutsche Sportpolitik der 1960er- und 1970er-Jahre
PHILIPP DIDION
Als „unumstrittene[n] Sportregent des Bundestages“1, so bezeichnete Der Kicker 1986 rückblickend den SPD-Bundestagsabgeordneten Adolf Müller-Emmert (1922–2011). Diese Betitelung mag in zweifacher Hinsicht erstaunen: Zum einen dürfte allein der Name des vermeintlich ‚unumstrittenen Sportregenten‘ den allermeisten gänzlich unbekannt sein. Die Frage, wer Adolf Müller-Emmert überhaupt war und welche Rolle er auf der politischen Bühne der Bonner Republik spielte, erschien weder der historischen Forschung noch publizistischen Kreisen bisher relevant. Zum anderen ist die vom Kicker implizierte Verbindung von Sport und Politik (hier dem Bundestag) keineswegs selbstverständlich, hielten doch Sportfunktionär:innen und Politiker:innen lange Zeit – und zum großen Teil bis heute – das Mantra des unpolitischen Sports hoch.2 Es wird in diesem Artikel darum gehen, anhand eines biografischen Zugangs die sportkulturellen Wandlungsprozesse der bundesdeutschen Gesellschaft im Allgemeinen und die Entwicklung der westdeutschen Sportpolitik im Speziellen von den 1960er- bis in die beginnenden 1980er-Jahre hinein in den Fokus zu rücken.3
„Bundestags-Kicker feiern 20jähriges Bestehen“, in: Der Kicker, 24.02.1986, S. 65. Vgl. Hüser: Moderner Sport (2006), S. 237 f.; ders.: Neutralitätsdiskurs und Politisierungstrends (2006), S. 56–58; Heinemann: Staatliche Sportpolitik und Autonomie des Sports (1996), S. 178–180; Rode: Willi Daume (2010), S. 156–159. 3 Herzlicher Dank gebührt Sarah Alyssa May für die tatkräftige Unterstützung bei der Entstehung dieses Artikels. 1 2
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1. Einleitung
Der 1922 in Ludwigshafen am Rhein geborene Adolf Müller-Emmert wuchs in einem katholisch geprägten Umfeld auf. Sein Vater, ein Eisenbahner, und seine Mutter neigten politisch zur Bayerischen Volkspartei (BVP), bei der auch ein Onkel Mitglied war. Prägend sei – so Müller-Emmert selbst – aber auch ein anderer Onkel gewesen, der in der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) aktiv war.4 Kurz nach dem Abitur (1940) wurde Müller-Emmert eingezogen und war bis 1945 als Kampf- und Sturzkampfflieger im Rang eines Unteroffiziers meist an der Ostfront stationiert. Im Januar 1946 begann er ein Studium der Rechtswissenschaft an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg und wurde 1952 nach seinem zweiten Staatsexamen Staatsanwalt in Kaiserslautern. Zwei Jahre später promovierte er mit einer Arbeit zur Unbrauchbarmachung im Strafgesetzbuch in Heidelberg zum Dr. jur. utr. Müller-Emmert trat 1956 in die SPD ein und wurde 1960 Vorsitzender des SPD-Unterbezirks Kaiserslautern sowie Stadtratsmitglied. Im Jahr 1961 wählten ihn die Bürger:innen des Wahlkreises Kaiserslautern-Kusel in den Bundestag, aus dem er 1987 im Alter von 65 Jahren ausschied. Seine Arbeit als Mitglied des Bundestags lässt sich im Wesentlichen in drei Kernbereiche gliedern: Erstens wirkte er als Strafrechtler im Rechtsausschuss des Bundestags (1961–1976) und insbesondere als Vorsitzender des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform (1969–1976). Darüber hinaus war er zeitweise Mitglied des Wahlmännerausschusses des Bundestages, der für die Wahl der Bundesverfassungsrichter zuständig ist, sowie des Richterwahlausschusses für die Wahl der Bundesrichter. Zweitens lässt sich Müller-Emmert als Außenpolitiker charakterisieren, der auch im Auswärtigen Ausschuss (1976–1982) mitarbeitete und sich dort im gleichnamigen Unterausschuss insbesondere der kulturellen Außenpolitik widmete. Drittens engagierte er sich auf vielfältige Art und Weise inner- und außerhalb des Parlaments für den Sport: beispielsweise als Mitglied des Sportausschusses (1969–1987). Auf der Grundlage eines in großen Teilen bisher kaum ausgewerteten Quellenkorpus – bestehend aus dem Nachlass von Adolf Müller-Emmert im Landesarchiv Speyer (Bestand V 91), anderen Archivmaterialien (Bundesarchiv Koblenz, Stadtarchiv Kaiserslautern), aber auch der Berichterstattung der Allgemein- und Sportpresse (FAZ, Spiegel, Rheinpfalz, Kicker) sowie Meldungen der zentralen Nachrichtenagentur der SPD (Sozialdemokratischer Pressedienst)5 – soll das sportpolitische Engagement Müller-Emmerts im vorliegenden Artikel in einem breiteren Kontext untersucht werden. Vgl. LASp, V 91/371: Interview des HR-Reporters Hans-Jürgen Hohm mit Adolf Müller-Emmert, Transkript, 14.01.1982, S. 4–6, insgesamt zur Kindheit und zum frühen Erwachsenenalter siehe S. 1–24. Zu diesen und den folgenden biografischen Aspekten vgl. „Ein Staatsanwalt schöpft gern Verdacht“, in: FAZ, 15.02.1975, S. 8; Vierhaus / Herbst (Hg.): Biographisches Handbuch (2002), Bd. 1, S. 589. 5 Vgl. Sommer: Vom Pressedienst zur Pressemitteilung (2004). Bei den Veröffentlichungen des SPD-Pressedienstes, aber auch bei den Dokumenten aus dem Nachlass ist aufgrund der eindeutig parteipolitischen bzw. subjektiven Färbung eine quellenkritische Einordnung ganz besonders von Nöten. 4
Sport denken – gestalten – praktizieren
Der biografische Zugang6 erlaubt es, anhand eines wenig bekannten, aber beispielhaften politischen Akteurs die sportkulturelle Durchdringung der westdeutschen Gesellschaft zu erschließen.7 Die Biografie von Müller-Emmert dient folglich als „Sonde“8 zur Analyse sportkultureller Veränderungsdynamiken sowie der Entwicklung der westdeutschen Sportpolitik. Zwei Prämissen sind bei dieser Analyse des Entwicklungs- und Ausdifferenzierungsprozesses der westdeutschen Sportpolitik stets mitzudenken und fungieren als Hintergrundfolien, ohne die sich der Untersuchungsgegenstand dieses Artikels nicht fassen lässt: zum einen die „Erfahrungen der totalen Unterwerfung des Sports unter eine faschistische Sportpolitik und damit einer weitgehenden politischen Instrumentalisierung des Sports zwischen 1933 und 1945“9 sowie das dadurch umso deutlicher bekräftigte Mantra des unpolitischen Sports – obgleich sich zahlreiche personelle Kontinuitäten nachweisen lassen10 und keine wirkliche Aufarbeitung stattfand;11 zum anderen die Systemkonkurrenz zur DDR und der „Kalte Krieg auf der Aschenbahn“12. Mit der Person Adolf Müller-Emmert selbst haben sich bisher noch keine Forschungsarbeiten näher beschäftigt.13 Dagegen können zur Kontextualisierung einige Arbeiten älteren Datums zur Sportpolitik in der Bundesrepublik14 sowie Studien zur Geschichte der SPD während des Untersuchungszeitraums herangezogen werden.15 Es stellt sich mit Blick auf Müller-Emmert, aber auch auf diese Form der akteurszentrierten Geschichtsschreibung ganz allgemein, die Frage nach konkreten Handlungsmöglichkeiten im Spannungsfeld zwischen „struktureller Determiniertheit auf der einen und persönlichen Gestaltungsspielräumen auf der anderen Seite“ sowie nach der Repräsentativität. Dabei sind Problematiken wie der Konstruktionscharakter einer Biografie oder die Gefahr der Überbewertung einer Person stets zu bedenken. Vgl. Becker: Perspektiven einer Carl-Diem-Biographie (2005), S. 165 (hier das Zitat). Siehe auch Harders: Historische Biografieforschung (31.10.2020). 7 Diese sportkulturelle Durchdringung hatte – schematisch gesehen – mehrere Dimensionen: eine quantitative (Zunahme / Förderung des Breitensports), eine qualitative (Förderung des Leistungssports), eine materielle (Bau von Sportanlagen und Anschaffung von Sportgeräten / -equipment), eine wissenschaft liche (volle universitäre Anerkennung der Sportwissenschaft), eine mediale (rasant anwachsende Medialisierung des Sports insbesondere im neuen Leitmedium Fernsehen) und eine geistig-ideelle (zunehmende Akzeptanz des Sports durch politische wie intellektuelle Meinungsführer:innen). 8 Vgl. Etzemüller: Biographie (2012), S. 8, 73–75. 9 Heinemann: Staatliche Sportpolitik und Autonomie des Sports (1996), S. 179. 10 Beispielhaft sei hier auf die Kontroverse um Carl Diem hingewiesen, vgl. zusammenfassend Lohde: Eine Analyse der aktuellsten Diem-Debatte (2013). 11 Vgl. Teichler: Zur Erinnerungskultur im deutschen Sport nach 1945 (2007). 12 Vgl. Balbier: Kalter Krieg auf der Aschenbahn (2007). 13 Eine Ausnahme bilden Studien zu (sexualstrafrechtlichen) Aspekten der Strafrechtsreform, in denen Müller-Emmert als Mitglied und Vorsitzender des zuständigen Sonderausschusses Erwähnung findet, vgl. Ebner: Religion im Parlament (2018), S. 131–141, 185–187, 196–205; Mantei: Nein und Ja zur Abtreibung (2004), S. 224–227, 264–268, 277–279, 392–405, 412–414, 521–524. 14 Vgl. Gieseler u. a. (Hg.): Der Sport in der Bundesrepublik (1972); Pedersen: Sportpolitik in der BRD (1977); Schröder: Der Deutsche Sportbund (1989). 15 Vgl. u. a. Bouvier: Zwischen Godesberg und Großer Koalition (1990); Brandt / Lehnert: „Mehr Demokratie wagen“ (2013), S. 174–236; Klotzbach: Der Weg zur Staatspartei (1982); Meyer: Die SPD und die NS-Vergangenheit (2015); Schönhoven: Aufbruch in die sozialliberale Ära (1999). 6
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Philipp Didion
In den drei folgenden Kapiteln soll das sportpolitische Wirken Adolf Müller-Emmerts und damit die Entwicklung der westdeutschen Sportpolitik16 in einem Dreischritt eingehender untersucht werden. Zunächst nähert sich der Artikel dem Sportverständnis Müller-Emmerts aus vorwiegend normativer Perspektive (Sport denken): Welche Vorstellungen hatte der SPD-Bundestagsabgeordnete von den Aufgaben und Funktionen des Sports, vom Verhältnis zwischen Politik und Sport? Danach steht die politisch-performative Ebene (Sport gestalten) und damit das konkrete politische Engagement Müller-Emmerts im Zentrum der Analyse: Wie und in welchen Institutionen wirkte der ‚unumstrittene Sportregent‘ als sportpolitischer Akteur? Schließlich wird es darum gehen, aus sportlich-performativer Sicht (Sport praktizieren) die eigenen sportlichen Betätigungen des Ludwigshafeners näher zu beleuchten: Welche Sportarten übte Müller-Emmert selbst aus und wie nutzte er diese sportliche Performanz zur Etablierung eines neuen Politikerbildes? 2.
Sport denken – (unabhängiger) Sport für alle
Auf normativer Ebene bestimmte das von bundesdeutschen Politiker:innen und Sportfunktionär:innen – allen voran dem DSB – gleichermaßen beschworene Mantra des unpolitischen Sports das Sport-Denken von Adolf Müller-Emmert. Dieses Konzept basiert auf drei Prinzipien: der Autonomie des Sports, der partnerschaftlichen Zusammenarbeit zwischen dem organisierten Sport und dem Staat sowie der Subsidiarität der Sportförderung – also dem Grundsatz, dass der Staat den Sport nur dann unterstützt, wenn die Mittel des Sports selbst nicht ausreichen.17 Allerdings gilt: „Den unpolitischen, zweckfreien Sport – bis heute oftmals beschworen – hat es gleichwohl auch in der Bundesrepublik nie gegeben.“18 Das Verhältnis zwischen Politik und Sport unterlag in der Praxis einem stetigen Aushandlungsprozess. Im Untersuchungszeitraum zeichnete sich eine immer stärker werdende Politisierung des westdeutschen Sports, zumindest des Leistungssports, ab – vor allem aufgrund des Konkurrenzdrucks durch die DDR. Der angesprochene Aushandlungsprozess lässt sich konkret auch an Statements von Adolf Müller-Emmert ablesen. So kritisierte dieser Ende der 1960er-Jahre vehement Pläne des Bundesinnenministeriums (BMI), die den Aufbau einer Bundeszentrale des Sports vorsahen (siehe unten): Er „lehne jede Politisierung und dirigistische Reglementierung des Sports ab und sei strikt gegen Aufbau und personelle Besetzung der zentralen Einrichtung […]“19. Ebenso scharf protestierte der SPD-Politiker 1974 16 17 18 19
Für eine Annäherung siehe Lösche: Sportpolity, Sportpolitics und Sportpolicy (2010). Vgl. Haring: Sportförderung in Deutschland (2010), S. 35 f. Balbier: Kalter Krieg auf der Aschenbahn (2007), S. 34. „Warten auf die Diskussion zwischen Sport und Staat“, in: FAZ, 11.07.1968, S. 13.
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auch gegen die Wahl von Willy Weyer zum DSB-Präsidenten, da dieser zu diesem Zeitpunkt zugleich Innenminister von Nordrhein-Westfalen war.20 Der FDP-Politiker galt als politischer Präsident und postulierte für den DSB: ‚Parteipolitisch neutral, aber politisch handlungsfähig‘. Nicht zuletzt zeigen die beiden Beispiele, dass das Mantra des pseudo-apolitischen Sports auch als parteipolitische Strategie fungieren konnte, um Projekte der politischen Gegner zu vereiteln. Zugleich versuchte Müller-Emmert jedoch selbst, politisch Einfluss auf Entscheidungen des Sports zu nehmen. Nachdem Ludwigshafen sich erfolglos als Austragungsort für die WM 1974 beworben hatte und an den hohen Anforderungen des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) gescheitert war, setzte sich Müller-Emmert beispielsweise intensiv für die Kandidatur der Stadt Kaiserslautern ein. Er warb unter anderem bei Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher für eine Unterstützung der Bewerbung. Dieser entgegnete Müller-Emmert jedoch: Wie Sie wissen, enthält sich die Bundesregierung bewußt einer jeden Einflussnahme auf die inneren Angelegenheiten des Sports, da die Freiheit der Sportbewegung nur dann gewährleistet ist, wenn die Sportorganisationen unabhängig von staatlichem Einfluß arbeiten können. […] Ich sehe daher leider nur sehr begrenzte Möglichkeiten für eine Unterstützung der Bewerbung Kaiserslauterns.21
Zentral für Müller-Emmerts Sportverständnis ist darüber hinaus das Konzept „Sportfür-alle“22 – also das Vorhaben, der gesamten Bevölkerung regelmäßige sportliche Aktivitäten zu ermöglichen.23 Damit war vor allem die Förderung des Breitensports verbunden. Der DSB verabschiedete 1959 eine Resolution zum sogenannte Zweiten Weg im Sport, der abseits einer einseitig leistungssportlichen Orientierung neue Mitglieder in die Sportvereine locken sollte.24 Hinzu kam ein Jahr später ein Memorandum zu dem auf 15 Jahre ausgelegten Goldenen Plan für Gesundheit, Spiel und Erholung, der die materiellen und infrastrukturellen Mittel für das Wachstum bereitstellen sollte. Auf europäischer Ebene setzte in diesem Bereich in den 1960er-Jahren ein transnationaler Austauschprozess ein, der 1966 zur Resolution on Physical Education, Sport and Outdoor Pursuits, dem zentralen Gründungsdokument des europäischen Sport-füralle-Konzepts, und 1976 zur Verabschiedung der europäischen Sport-für-alle-Charta durch den Ministerrat des Europarates führte.25 Auf dieser Basis entstanden in den
Vgl. „Starker Partner“, in: Der Spiegel, 19.05.1974; „Gesetze der Demokratie gelten auch für den Sport“, in: SPD-Pressedienst, 10.04.1974, S. 2–3; LASp, V 91/291: „Müller-Emmert greift Weyer an“, in: Die Rheinpfalz, 13.04.1974. 21 BArch Koblenz, B 106/50068: Hans-Dietrich Genscher an Adolf Müller-Emmert, 10.12.1971. 22 Dazu Hartmann-Tews: Sport für alle!? (1996); Scholl: Europäische Biopolitik? (2018). 23 Vgl. LASp, V 91/308: „Sportpolitik – Interview mit Adolf Müller-Emmert“, in: Informationen der Sozialdemokratischen Fraktion im Deutschen Bundestag, 11.08.1976. 24 Vgl. Wopp: Entwicklungen und Perspektiven (1995), S. 38–54. 25 Zur Charta vgl. Scholl: Die Europäische Sport für Alle-Charta (2016). 20
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1960er- und 1970er-Jahren Breitensportaktionen in verschiedenen europäischen Staaten. In der Bundesrepublik startete 1970 die durch den DSB initiierte und eine Werbeagentur entwickelte Motivationskampagne „Trimm Dich durch Sport“ (1970–1974), auf die bis 1994 noch vier weitere Trimm-Aktionen folgen sollten.26 Insbesondere im Vorfeld der Olympischen Spiele (OS) 1972 in München setzte ein Trimm-Dich-Boom ein. Schnell erreichte die Aktion eine große Bekanntheit innerhalb der Bevölkerung, was unter anderem auf das markante Maskottchen Trimmy sowie die Einrichtung von Trimm-Dich-Pfaden zurückzuführen ist. Unterstützung fanden die Trimm-Dich-Kampagnen auch in der Politik. Am 14. April 1970 kamen unter federführender Leitung von Adolf Müller-Emmert zahlreiche Bundestagsabgeordnete in den Räumlichkeiten des Bonner Bundeshauses zusammen, um vor den Kameras der ARD ihre Sportlichkeit zu demonstrieren und zugleich Werbung für die Trimm-Aktion zu machen.27 Als Legitimationsformel dienten Müller-Emmert und anderen – wie schon in früheren Zeiten – der Begriff der ‚Volksgesundheit‘.28 Der SPD-Politiker warnte regelmäßig vor „den Zivilisationsgiften Nikotin, Koffein und Alkohol“ und sah den Sport als bestes Mittel zur Gesundheitsförderung.29 Besonders wichtig war dem Juristen zudem die Funktion des Sports als „wirkungsvolle Hilfe zur Wiedereingliederung straffällig gewordener Bürger“30. So habe der Sport „eine wichtige soziale und humane Brückenfunktion“31 und könne Gefängnisinsass:innen auf das gesellschaftliche Leben nach der Haft vorbereiten. Eine weitere Facette des Sportverständnis von Müller-Emmert lag in der strikten Unterscheidung zwischen Amateurismus und Profitum.32 Dies lässt sich am Beispiel des Fußballs deutlich machen: Mehrfach übte Müller-Emmert deutliche Kritik am Profitdenken des DFB und schlug im Zuge des Bundesligaskandals 1970/71 eine Trennung zwischen Berufs- und Amateurfußball vor, die vom Verband im Sinne der organisatorischen Einheit des westdeutschen Fußballs sowie aus Angst vor dem Verlust der Gemeinnützigkeit – und damit wichtigen Steuervorteilen – scharf zurückgewiesen wurde.33 Im Großen und Ganzen widmete Müller-Emmert sich im Rahmen
Vgl. Mörath: Die Trimm-Aktion (2005). Der Ausdruck ‚Trimmen‘ rekurrierte auf den Begriff ‚Trimm‘, der zunächst in Norwegen für eine Sport-für-alle-Kampagne genutzt worden war. 27 Vgl. „Die sportlichste Kabinettsitzung steht bevor“, in: FAZ, 26.03.1970, S. 11; „Auch die Politiker trimmen sich durch Sport“, in: FAZ, 15.04.1970, S. 13. 28 Vgl. Scholl: Einleitung – Biopolitik und Sport (2018), S. 27. 29 Vgl. LASp, V 91/322: „Zum zweiten Mal das goldene Sportabzeichen“, in: Pfälzische Volkszeitung, 14.07.1966. 30 „Tore im Abseits“, in: Der Spiegel, 09.05.1971. Siehe auch „Sport soll Resozialisierung stärker unterstützen“, in: FAZ, 03.07.1971, S. 10. 31 „Hilfe zur Selbsthilfe“, in: SPD-Pressedienst, 12.04.1977, S. 2–3. 32 Dies mag sich zum Teil durch die historische Verflechtung zwischen der SPD und dem Arbeitersport erklären, vgl. „Vor 50 Jahren erstes Arbeiter-Olympia“, in: SPD-Pressedienst, 05.08.1975, S. 7–8; „Jungsozialisten und Sportpolitik“, in: SPD-Pressedienst, 24.11.1977, S. 5–6. 33 Vgl. „‚Fußball, wohin gehst du?‘“, in: SPD-Pressedienst, 16.06.1971, S. 6–7; „Der Kontrollausschuss ermittelt weiter: Bis in die tiefe Nacht!“, in: Der Kicker, 17.06.1971, S. 22. 26
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seines sportpolitischen Wirkens eher dem Amateur- und Breitensport. Dies hinderte ihn jedoch nicht, sich in seinem Wahlkreis als „glühender FCK-Anhänger“34 und „beständiger Betzenberg-Besucher“35 regelmäßig zu Themen rund um den 1. FC Kaiserslautern zu äußern.36 Er ging so oft wie möglich zu den Spielen und nahm stets am TippWettbewerb der Stadion-Zeitung des 1. FCK teil.37 Adolf Müller-Emmert hat diesen Sport für alle auch als diplomatischen Brückenbauer bzw. als Mittel zur Völkerverständigung verstanden. Sport für alle bedeutete für ihn stets auch Sportkontakte zu (möglichst) allen. So engagierte er sich ganz ausdrücklich für die Aufnahme und den Ausbau von Sportbeziehungen zu Israel,38 aber auch – wenngleich mit geringerer Intensität – zu den arabischen Staaten.39 Im Rahmen der Neuen Ostpolitik forcierte er sportliche Brückenschläge zu den Ostblockstaaten, insbesondere zur Sowjetunion und zur Volksrepublik Polen.40 Kurze Zeit später sprach er sich auch für die Aufnahme von Sportkontakten mit China aus.41 Im Sinne der ‚Universalität des Sports‘ trat er darüber hinaus Boykotts und ‚schwarzen Listen‘ im Sport entschieden entgegen.42 Seine Aufmerksamkeit widmete er im Besonderen auch den sportlichen Beziehungen zur DDR.43 So setzte sich Müller-Emmert seit Mitte der 1960er-Jahre für einen Ausbau des innerdeutschen Sportverkehrs ein44 und kritisierte sogar einzelne Vereine und Fachverbände, wenn diese seiner Ansicht nach die Bezie-
„Sport wird hoffähig“, in: Der Kicker, 19.10.1970, S. 62. LASp, V 91/322: „Nach Klasse-Mond-Start – guter FCK-Start“, in: Pfälzische Volkszeitung, 23.07.1969. Vgl. zum Beispiel das ausführliche Interview mit Adolf Müller-Emmert in „Dr. Müller-Emmert – ‚Probleme auf dem Betzenberg‘“, in: Hinein. Offizielles Fußballprogramm des 1. FC Kaiserslautern, 23.03.1968. 37 Vgl. „Preisverteilung an Kaiserslauterns Fußball-Experten“, in: Hinein. Offizielles Fußballprogramm des 1. FC Kaiserslautern, 11.04.1980. Siehe auch Pinter: Die Ehrentribüne als politische Bühne (2005), S. 328–330. 38 Dieses große Engagement ist in einschlägigen Publikationen bereits thematisiert worden, vgl. Streppelhoff: Gelungener Brückenschlag (2012), S. 146–165, 182–188; Lämmer: Deutsch-israelische Fußballfreundschaft (2018), S. 106–123, 200–204. Zu den vier dokumentierten Besuchen von Adolf Müller-Emmert in Israel siehe LASp, V 91/353; ebd., V 91/354. 39 Vgl. „Wieder Sport-Kontakte mit Araber-Staaten“, in: SPD-Pressedient, 07.02.1972, S. 4. 40 Vgl. „20jähriger Nachholbedarf “, in: SPD-Pressedient, 28.09.1971, S. 4–5; „Verstärkter Sportaustausch mit der Sowjetunion“, in: FAZ, 11.07.1970, S. 10. Zu Polen siehe unten. 41 Vgl. „Sportkontakte auch mit Peking?“, in: SPD-Pressedienst, 23.07.1971, S. 4; „Die Sportoffensive der Volksrepublik China“, in: FAZ, 29.07.1971, S. 9. 42 Vgl. „Schützt den Sport vor schwarzen Listen!“, in: SPD-Pressedienst, 30.07.1974, S. 5–6. 43 Unmittelbar nach dem Mauerbau im August 1961 hatten der DSB und das westdeutsche Nationale Olympische Komitee mit den Düsseldorfer Beschlüssen einen Stopp der deutsch-deutschen Aufeinandertreffen im Sport verhängt. Erst Ende des Jahres 1965 kam es zu einer Wiederaufnahme der Sportbeziehungen. In Folge der Madrider IOC-Beschlüsse ging bei den Olympischen Winterspielen in Grenoble 1968 auch keine gesamtdeutsche Mannschaft mehr an den Start. Die Bundesrepublik und die DDR hatten fortan zwei getrennte Olympiamannschaften, wobei die DDR seit den Olympischen Sommerspielen in Mexiko 1968 auch mit eigner Flagge und Hymne auftreten durfte. Siehe dazu Balbier: Kalter Krieg auf der Aschenbahn (2007), S. 120–127. 44 Vgl. „Die DDR-Sportschau ersetzt kein sportliches Miteinander“, in: FAZ, 30.01.1970, S. 10. 34 35 36
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hungen torpedierten.45 Überdies tat er sich im sogenannten Flaggenstreit frühzeitig als Befürworter einer Duldung der DDR-Herrschaftssymbole hervor.46 Adolf Müller-Emmert agierte beim Auf- und Ausbau von Sportkontakten zu verschiedenen Ländern stets an der Schnittstelle zwischen Sport und Politik und es gelang ihm, ein breites Kontaktnetzwerk von Politiker:innen, Sportler:innen und Sportfunktionär:innen aufzubauen. Dieses erlaubte es ihm, eine wichtige Rolle innerhalb der bundesdeutschen Sportpolitik einzunehmen. Seine Vorstellung eines unabhängigen Sports für alle basierte auf dem westdeutschen Mantra des unpolitischen Sports. Dieser war zwar unpolitischer als in der NS-Zeit, jedoch nie gänzlich unpolitisch. Letzteres kann an einer zweiten Vorstellung Müller-Emmerts – Sport als Brückenbauer – verdeutlicht werden. Hier fungierte der Sport als Mittel der auswärtigen Kulturpolitik.47 Dabei muss darauf hingewiesen werden, dass der Sport in diesem Kontext meist keine Vorreiterrolle einnahm, sondern der (Wieder-)Aufnahme diplomatischer Beziehungen nachfolgte; also abhängig von politischen Entscheidungen war. Ebenfalls ist daran zu erinnern, dass der Sport – insbesondere vor 1945 – auch zum Anheizen nationalistischer Ressentiments und zur Mobilisierung der Massen genutzt worden war und genutzt werden konnte. Gleichwohl spielte der Sport durch seine mediale Reichweite und die Aktivierung größerer Bevölkerungsteile bei der Festigung neu etablierter bilateraler Beziehungen eine wichtige Rolle. 3.
Sport gestalten – der Sportausschuss des Deutschen Bundestags
Dass der Sport zusehends zu einem „gleichberechtigte[n] Faktor der Gesellschaftspolitik“48 avancierte, zeigt sich nicht nur an seiner erstmaligen Erwähnung in der Regierungserklärung eines Bundeskanzlers (Willy Brandt, 1969), sondern auch an der Einrichtung spezifischer Institutionen – wie dem Sonderausschuss für Sport und Olympische Spiele (später Sportausschuss), der Deutschen Sportkonferenz oder dem Bundesinstitut für Sportwissenschaft (BISp). Bevor eine dieser Neuschöpfungen – der Sportausschuss des Deutschen Bundestags – und die Mitarbeit von Adolf Müller-Emmert in diesem Gremium ausführlicher betrachtet werden, soll im Folgenden zunächst
So zum Beispiel den DFB, vgl. „Gesetze der Demokratie gelten auch für den Sport“, in: SPD-Pressedienst, 10.04.1974, S. 2–3. 46 Vgl. „Gegensätzliche Standpunkte in der Flaggenfrage“, in: FAZ, 13.01.1969, S. 14; „Neureglung der Protokollfrage noch einmal verschoben“, in: FAZ, 29.03.1969, S. 11; „Immer noch keine Lösung des leidigen Flaggenproblems im Sport“, in: SPD-Pressedienst, 02.07.1969, S. 4a. Am 22.06.1969 votierte schließlich auch die Bundesregierung für eine grundsätzliche Duldung der DDR-Flagge und -Hymne bei internationalen Sportaufeinandertreffen in der Bundesrepublik, vgl. Balbier: Kalter Krieg auf der Aschenbahn (2007), S. 167; zum ‚Flaggenstreit‘ siehe auch Rode: Willi Daume (2010), S. 196–215. 47 Vgl. dazu Pfeil: Die Olympischen Spiele 1972 (2006), S. 416. 48 „20jähriger Nachholbedarf “, in: SPD-Pressedient, 28.09.1971, S. 4–5, hier S. 4. 45
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auf die Zeit vor 1969 eingegangen werden. Um zu verstehen, wie es zur Etablierung eines parlamentarischen Sportausschusses kam, erscheint es lohnend, einen Blick auf die SPD-Sportpolitik, das Sportreferat bzw. die Sportabteilung im BMI sowie die Behandlung des Themas Sport im Parlament zu werfen. 3.1.
Eine Entstehungsgeschichte im Zeichen von Kompetenzstreitigkeiten
Die SPD etablierte bereits 1946 ein Sportreferat beim Parteivorstand, das zunächst von Fritz Wildung, dem ehemaligen Sekretär der Zentralkommission für Arbeitersport und Körperpflege (bis 1933), und dann vom Remigranten Heinrich Sorg geleitet wurde.49 Schon in das Godesberger Programm von 1959 hatte die Partei den Sport aufgenommen und seine möglichst umfangreiche Förderung gefordert. Nach dem Tod von Heinrich Sorg richtete die SPD im April 1964 einen Sportbeirat beim Parteivorsitz unter Leitung des ehemaligen Zehnkämpfers Friedel Schirmer mit 22 Mitgliedern ein.50 Kurze Zeit später stellte die Partei mit ihren Leitsätzen zur Förderung von Leibeserziehung und Sport eine Art Sportprogramm vor.51 Für die Bundestagswahl 1969 nominierte die SPD mit Friedel Schirmer erstmals einen Sportexperten. Darüber hinaus warb sie mit der sportpolitischen Expertise von Adolf Müller-Emmert.52 Auf Bundesebene fiel die Zuständigkeit für sportliche Belange – vor allem für den Hochleistungssport – in den Aufgabenbereich des BMI. In der Abteilung V für Öffentliche Fürsorge und Leibesübungen wurde ein Sportreferat eingerichtet. Zum ersten nebenamtlichen Sportreferenten avancierte im Dezember 1949 der ehemalige Generalsekretär des Organisationskomitees für die OS 1936, Carl Diem.53 Nach der Vergabe der OS im April 1966 nach München, die eine Katalysatorwirkung für die sportpolitischen Aktivitäten auf Bundesebene entfaltete, erfolgte die Umwandlung des Sportreferats in eine veritable Sportabteilung mit vier Referaten (Allgemeine Fragen des Sports, Olympische Spiele 1972, Sportfördermaßnahmen, Sportstättenbau) unter Leitung von Cornelius von Hovora.54 Kurz darauf verabschiedete der DSB die Charta des deutschen Sports. In dieser programmatischen Erklärung formulierte der DSB den
Vgl. Buss / Nitsch: Heinrich Sorg (1990), S. 343 f. Zu Friedel Schirmer vgl. Vierhaus / Herbst (Hg.): Biographisches Handbuch (2002), Bd. 2, S. 742. Vgl. Pedersen: Sportpolitik in der BRD (1977), S. 117 f.; Schröder: Der Deutsche Sportbund (1989), S. 124. 52 Vgl. Pedersen: Sportpolitik in der BRD (1977), S. 104. 53 Vgl. Becker: Den Sport gestalten (2022), S. 767–779. Auf Carl Diem folgten als hauptamtliche Sportreferenten Hans Heinrich Sievert (1953–1958), Fritz Dommel (1958–1961) und ab September 1961 Cornelius von Hovora. 54 Vgl. Balbier: Kalter Krieg auf der Aschenbahn (2007), S. 131. 49 50 51
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Sport für alle als Zielvorstellung, den Wunsch nach Kooperation mit anderen gesellschaftlichen Gruppen und rief den Staat entschieden zur Partnerschaft auf.55 Im Deutschen Bundestag fiel der Begriff Sport erstmals in der 103. Sitzung am 16. November 1950.56 Anfang der 1950er-Jahre gründete sich der interfraktionelle Kreis der Freunde des Sports im Parlament. Dieser fungierte als eine Art Lobby des Sports und traf sich mindestens einmal pro Jahr mit Vertreter:innen des DSB zum Meinungsaustausch.57 Über die verschiedenen Legislaturperioden hinweg erhöhten sich sowohl das Budget für den Sport als auch die parlamentarischen Anfragen zu diesem Thema sukzessive. Einen ersten Höhepunkt erreichte die Bedeutungszunahme des Sports im Parlament in der fünften Wahlperiode (1965–1969) im Anschluss an die Vergabe der OS nach München. In die Zeit der seit Dezember 1966 amtierenden Großen Koalition fiel die erste offizielle Sportdebatte im Deutschen Bundestag am 1. Dezember 1967. Eine weitere Neuerung war das auf Einladung von Innenminister Ernst Benda (CDU) durchgeführte Sport-Hearing im Innenausschuss des Bundestags Ende Januar 1969. In Folge der eher erfolglosen OS in Mexiko City sollte dieses Hearing zu einer kritischen Bestandsaufnahme aus verschiedenen Perspektiven führen. Eingeladen waren Politiker:innen, Funktionär:innen, Trainer:innen, Leistungssportler:innen und Journalist:innen.58 Mitte des Jahres 1968 entbrannte ein Streit zwischen dem DSB und dem BMI, genauer der Sportabteilung unter der Leitung von Cornelius von Hovora, um die sogenannte Lepper-Studie zur Bundeszentrale für Sport.59 Nachdem von Hovora die Institutionalisierung einer solchen Zentrale gegenüber den Medien lanciert hatte, warf der DSB dem BMI vor, einen gefährlichen Weg in Richtung einer Verstaatlichung des Sports zu beschreiten. Auch wenn der Sportreferent sich bemühte, die Wogen zu glätten, und die seinem Vorschlag zugrundeliegende Studie als einen privaten Entwurf von Oberregierungsrat Manfred Lepper bezeichnete, diskutierten Sport und Politik heftig über diese Idee. Während dieses Meinungsstreits kritisierte auch die SPD den auf die CDU zurückgehenden Vorschlag. Adolf Müller-Emmert argumentierte: Einer zentralen Sportförderungs- und Koordinationsstelle auf Bundesebene kann nur dann zugestimmt werden, wenn zwischen den Beteiligten Einigkeit über die sachliche und fachliche Aufgabenerfüllung besteht. Unter keinen Umständen darf eine solche Einrichtung zu einem bürokratischen Verwaltungsapparat werden, sondern muß in qualifizierter Weise den Zielen des Sports in freiwilliger Partnerschaft zwischen Bund, Ländern und dem Sport gerecht werden.60
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Vgl. Pedersen: Sportpolitik in der BRD (1977), S. 76. Zu diesem Absatz vgl. vor allem „Der Sport im Parlament“, in: FAZ, 20.12.1969, S. 9. Vgl. Danckert: Kraftmaschine Parlament (2009), S. 57. Vgl. Balbier: Kalter Krieg auf der Aschenbahn (2007), S. 173–175. Dazu vgl. ebd., S. 135–137. „‚Bundeszentrale für Sport‘?“, in: SPD-Pressedienst, 16.07.1968, S. 1–2.
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Im Herbst 1968 scheiterten die BMI-Pläne schließlich, was wiederum Freiraum für eine neue, besser eingehegte Struktur schuf. Mit dem Zustandekommen der sozialliberalen Koalition war der Weg nun frei, einen Sportausschuss im Bundestag zu etablieren, der bis 1972 noch unter der Bezeichnung Sonderausschuss für Sport und Olympische Spiele firmierte.61 Dieser sollte auch ein Gegengewicht zur BMI-Sportabteilung bilden. Am 13. November 1969 trat der Ausschuss erstmals zusammen, bestimmte Konrad Kraske (CDU) zum Vorsitzenden und Friedel Schirmer zu dessen Stellvertreter.62 Adolf Müller-Emmert saß von 1969 bis 1983 als ordentliches und danach bis 1987 als stellvertretendes Mitglied im Sportausschuss. Zu den Aufgaben des Ausschusses zählten (und zählen zum Teil bis heute) unter anderem die Förderung des Breiten- und Leistungssports, zum Beispiel in Form der Bundesleistungszentren oder von Verbandshearings,63 sowie des Sports in Bildungseinrichtungen und in der Bundeswehr; darüber hinaus die Unterstützung der sportwissenschaftlichen wie -medizinischen Forschung maßgeblich über das Bundesinstitut für Sportwissenschaft und die Sportförderung in den sogenannten Entwicklungsländern im Rahmen der auswärtigen Kulturpolitik.64 Im Folgenden sollen nun zwei bisher nicht genannte Aufgabenbereiche mit Blick auf das Wirken von Müller-Emmert als Mitglied des Sportausschusses exemplarisch in den Fokus gerückt werden: die Delegationsreisen zu großen Sportevents in aller Welt sowie die Teilnahme an internationalen Sportgesprächen und -konferenzen. 3.2.
Delegationsreisen zu Sportgroßereignissen
Adolf Müller-Emmert nahm an zahlreichen, vom Bundestag beauftragten und (teil-) finanzierten Delegationsreisen bzw. Beobachtungsmissionen zu Sportgroßereignissen in aller Welt teil. Ziel solcher Reisen war erstens die Unterstützung der westdeutschen Sportler:innen vor Ort, zweitens sportpolitische Gespräche mit Sport- und Regierungsvertreter:innen sowie NGOs und drittens nationale Repräsentanz. Eine erste Reise führte Müller-Emmert mit einigen seiner Ausschusskollegen im Juni 1970 für
Vgl. „Eine beachtliche Aufwertung des Sports im Parlament“, in: FAZ, 06.11.1969, S. 8; „Sport im Parlament“, in: SPD-Pressedient, 01.12.1969, S. 2. Siehe auch Deutscher Bundestag (Hg.): 40 Jahre Sportausschuss (2009). 62 Auf Konrad Kraske folgten Hans Evers (CDU, 1972–1980) und Ferdinand Tillmann (CDU, 1980–1994) als Ausschussvorsitzende. 63 Aufgrund der Kulturhoheit der Länder liegt die Zuständigkeit für die staatliche Mitwirkung bei der Sportförderung eigentlich bei den Bundesländern und den Kommunen. Nichtsdestotrotz kann sich der Bund an der Förderung – insbesondere des Hochleistungssports – beteiligen, vgl. Haring: Sportförderung in Deutschland (2010), S. 45–49. 64 Zu den Aufgaben des Sportausschusses vgl. Deutscher Bundestag (Hg.): 40 Jahre Sportausschuss (2009); Danckert: Kraftmaschine Parlament (2009), insbesondere S. 66–76. 61
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fast drei Wochen zur Fußball-Weltmeisterschaft (FWM) nach Mexiko. Vor dem Hintergrund der Entführung bundesdeutscher Botschafter in Guatemala und Brasilien65 übergab die Delegation ein Kommuniqué, in dem sie den mexikanischen Präsidenten darum bat, die Freilassung des westdeutschen Diplomaten Ehrenfried von Holleben zu erwirken.66 Darüber hinaus sollte sich die Ausschussgruppe über die mexikanischen Erfahrungen im Rahmen der OS 1968 und der FWM 1970 informieren, um Erkenntnisse für die Vorbereitung der beiden anstehenden Großveranstaltungen in der Bundesrepublik – die OS 1972 in München und die FWM 1974 – zu gewinnen.67 Nach einer Reise zu den Sommerspielen 1976 in Montreal, während der die Delegation unter anderem an einem internationalen sportwissenschaftlichen Kongress in Québec teilnahm,68 stand für das Jahr 1978 eine besonders heikle Mission auf der Agenda. Im Sommer begab sich eine fünfköpfige Gruppe, darunter Müller-Emmert, unter Leitung des Ausschussvorsitzenden Hans Evers auf eine Informationsreise nach Lateinamerika. Während der ersten Etappe verweilten die Politiker in Anbetracht der FWM mehrere Tage in Argentinien. Das internationale Turnier fand während der argentinischen Militärdiktatur statt, die dieses Event zum sportswashing nutzen wollte.69 Die Vergabe der FWM führte in mehreren Ländern zur Gründung von Boykottkomitees.70 Mit dem Slogan ‚Fußball Ja – Folter Nein‘ startete Anfang 1978 in der Bundesrepublik eine unter anderem von Amnesty International initiierte Argentinien-Kampagne, mit der die Aufnahme von politischen Gefangenen in der Bundesrepublik, freie Ausreisemöglichkeiten für alle in ausländische Botschaften geflüchteten Argentinier:innen, die Veröffentlichung einer Liste aller politischen Gefangenen sowie eine unabhängige internationale Untersuchung gefordert wurden.71
Es handelte sich dabei um Karl Graf von Spreti (in Guatemala) und Ehrenfried von Holleben (in Brasilien). Während von Spreti schon im April von seinen Entführern ermordet worden war, konnte von Holleben befreit werden, vgl. „Right or wrong“, in: Der Spiegel, 12.04.1970; „‚Alle haben Angst, furchtbare Angst‘“, in: Der Spiegel, 21.06.1970. 66 Vgl. LASp, V 91/338: Kommuniqué der Delegation des Sportausschusses, Juni 1970; ebd.: Rüdiger Piro (Sekretär des Sportausschusses) an die Mitglieder des Ausschusses, 20.05.1970. 67 Vgl. ebd.: „Fußball-Weltmeisterschaft – Interview mit Müller-Emmert im Deutschlandfunk“, in: Informationen der Sozialdemokratischen Fraktion im Deutschen Bundestag, 26.06.1970. 68 Vgl. LASp, V 91/308: Vermerk von Rüdiger Piro, 30.06.1976; „Montreal-Notizen“, in: FAZ, 09.07.1976, S. 22. 69 Als sportswashing wird der Versuch bezeichnet, durch das Ausrichten eines Sportgroßereignisses das Image eines Landes zu verbessern und damit von Missständen wie zum Beispiel Menschenrechtsverletzungen abzulenken. 70 Vgl. dazu Gerke: Verhaftet und verschwunden (2021), S. 441–446, 492–499; Dietschy / Gastaut / Mourlane: Histoire politique des coupes du monde (2006), S. 145–164; Havemann: The Federal Republic (2014). 71 LASp, V 91/347: Rundschreiben zur Argentinien-Kampagne von Werner Rätz (ila, Informationsstelle Lateinamerika e. V.), Januar 1978. 65
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Die Ausschussdelegation, die sich gegen einen Boykott, aber für intensive Diskussionen ausgesprochen hatte,72 führte in Argentinien unter anderem mit dem Minister für Soziales, Julio Bardi, und dem Staatssekretär für institutionelle Angelegenheiten im Innenministerium, José Ruiz Palacios, Gespräche. Bei der Unterhaltung mit Ruiz Palacios thematisierten die Abgeordneten die politische Situation in Argentinien und übergaben dem Staatssekretär eine Liste von 14 verschwundenen und drei inhaftierten Deutschen sowie eine Aufstellung inhaftierter und verschwundener Sportler und Journalisten.73 Jedoch verhielt sich die Delegation dabei ganz im Sinne der Leitlinie der ‚stillen Diplomatie‘ des Auswärtigen Amts, die vorsah, „‚Besorgnis‘ und ‚Befremden‘ gegenüber den argentinischen Stellen [zwar] auszudrücken, weitere Schritte […] jedoch meist nicht für opportun [erachtete]“74. So drängten die Delegationsmitglieder zwar einerseits auf die Klärung der angesprochenen Fälle, wählten aber andererseits äußerst freundliche Worte, beglückwünschten die argentinische Regierung ausdrücklich für das gelungene Sportevent und bedankten sich für die konstruktive Zusammenarbeit, ohne aber substanzielle Informationen bekommen zu haben.75 Im Nachgang zur FWM kam es im November zu einem Meinungsaustausch zwischen Sportausschuss und DFB, darunter Präsident Hermann Neuberger und Pressesprecher Wilfried Gerhardt, zu verschiedenen Problemfeldern. Neben der Frage der Menschenrechte in der Militärdiktatur ging es um den Besuch des NS-Kriegsverbrechers Hans-Ulrich Rudel im FWM-Quartier des DFB, das nicht immer vorbildhafte Auftreten der Nationalmannschaft in Argentinien sowie das Verhältnis zwischen dem DFB und den Medien. Hinsichtlich der Ablehnung eines Boykotts herrschte zwar Einigkeit zwischen Ausschuss und Verband, bei anderen Fragen waren sie sich jedoch uneins: Während der DFB-Pressesprecher befand, „daß der DFB mit seiner Nationalmannschaft im Ausland […] nicht für oder gegen politische Systeme einzutreten habe, sondern allein im sportlichen Wettkampf […] antreten werde“76, warnte Friedel Schirmer einerseits vor einer politischen Überfrachtung des Sports, wies jedoch andererseits darauf hin, „daß sich die Sportler im Rahmen ihrer Überzeugung […] dagegen verwahren [müssten], politisch von anderen für deren Zwecke mißbraucht zu werden“77. Adolf Müller-Emmert wiederum betonte, dass die Spieler des Nationalteams „Botschafter der Bundesrepublik Deutschland“ seien, und warf dem DFB vor,
Vgl. „Rüttelt Argentinien die Funktionäre wach?“, in: SPD-Pressedienst, 10.04.1978, S. 1–2. Vgl. LASp, V 91/347: Bericht zur Informationsreise einer Delegation des Sportausschusses des Deutschen Bundestags nach Lateinamerika, 18.06.–07.07.1978, September 1978; ebd.: Helmut Lölhöffel (Arbeitskreis ‚Journalisten helfen Journalisten‘) an Delegation des Sportausschusses, 16.06.1978. Siehe auch Gerke: Verhaftet und verschwunden (2021), S. 444. 74 Gerke: Verhaftet und verschwunden (2021), S. 625. 75 Vgl. LASp, V 91/347: Bericht zur Informationsreise einer Delegation des Sportausschusses des Deutschen Bundestags nach Lateinamerika, 18.06.–07.07.1978, September 1978. 76 LASp, V 91/257: Kurzprotokoll der 19. Sitzung des Sportausschusses, 08.11.1978, S. 6. 77 Ebd., S. 10. 72 73
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dass ihm beim Rudel-Besuch „die notwendige politische Empfindsamkeit gefehlt habe“78 und dass eine entschiedene Ablehnung des Besuchs von Nöten gewesen wäre. Die letzte Reise im Rahmen einer Beobachtungsmission führte Adolf Müller-Emmert 1982 zur FWM in Spanien. Der Delegationsaufenthalt auf der iberischen Halbinsel wurde jedoch von der Beschwerde empörter bundesdeutscher Steuerzahler:innen über die Bonner FWM-Fahrer überschattet. Zwar hatte der Bund der Steuerzahler solche Informationsreisen zu Sportgroßereignissen bereits vorher kritisiert,79 jedoch entbrannte 1982 eine bisher in dieser Intensität noch nicht dagewesene Debatte um den „Staatstourismus aus dem Geldbeutel des Steuerzahlers“80. Sie überschattete im Sportausschuss sogar den Schumacher-Battiston-Eklat beim Halbfinalspiel zwischen Frankreich und der Bundesrepublik in Sevilla. Delegationschef Müller-Emmert wehrte sich heftig gegen die Beschwerden. In einer Sitzung des Sportausschusses erklärte er: Keine andere Delegationsreise des Deutschen Bundestages habe bisher s. E. eine solche negative Kritik erfahren, wie diese Ausschuss-Informationsreise zur FWM 1982 nach Spanien. […] Hier müsse gefragt werden, wo das hinführe, wenn eine vom Präsidium genehmigte Dienstreise (Benutzung einer Bundeswehrmaschine auf Anordnung) in dieser Form in der Öffentlichkeit kritisiert und letztlich auch noch den teilnehmenden Abgeordneten eine Bestrafung wegen Untreue angedroht werde. […] Es müsse darüber hinaus daran festgehalten werden, daß der Besuch einer Parlamentsdelegation bei Weltmeisterschaften unter dem Gesichtspunkt der nationalen Repräsentanz unerläßlich sei.81
Festzuhalten bleibt, dass solche Reisen sicherlich keine immens hohen Aus- und Nachwirkungen hatten und die Kritik an zu langen sowie personell zu umfangreichen Aufenthalten auch nicht völlig unbegründet war. Dennoch konnten bei den Hintergrundgesprächen akute (sport-)politische Fragen angesprochen und entsprechende Netzwerke auf- wie ausgebaut werden. 3.3. Sportgespräche auf internationaler Ebene
Auch abseits großer Sportevents fanden Sportgespräche mit verschiedenen Nationen statt, bei denen es sich ebenfalls um Aufträge des Bundestags handelte. Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges erfolgten diese sowohl mit westlichen Bündnispartnern als auch – im Zuge der Neuen Ostpolitik – mit den Ostblockstaaten. Beispielsweise
Zitate ebd., S. 14. Vgl. Danckert: Kraftmaschine Parlament (2009), S. 70 f. Bund der Steuerzahler, zit. nach: LASp, V 91/345: „Auf Staatskosten: Abgeordnete zur WM“, in: Bild am Sonntag, 11.07.1982. Siehe auch den ironisch, stichelnden Artikel ebd.: „Flugsubvention für Bonns politische Fußball-Touristen“, in: Berliner Morgenpost, 11.07.1982. 81 BArch Koblenz, B 106/86884: Kurzprotokoll der 22. Sitzung des Sportausschusses, 27.10.1982. 78 79 80
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reiste Müller-Emmert im Dezember 1971 gemeinsam mit Friedel Schirmer und Ernst Dieter Schmickler82 nach Frankreich, um dort mit französischen Vertretern über den Stand der französisch-westdeutschen Sportbeziehungen, staatliche Sportförderungsmaßnahmen sowie den Sportstättenbau zu sprechen. In Anbetracht der Gerüchte, dass das französische Staatssekretariat für Jugend und Sport Ende November in Paris mit einer Delegation des Deutschen Turn- und Sportbundes (DTSB) der DDR übereingekommen war, eine sukzessive Normalisierung der Sportbeziehungen zwischen den beiden Ländern einzuleiten,83 kam dem Besuch eine akute Relevanz zu. Begleitet vom Kulturattaché der französischen Botschaft in Bonn führten MüllerEmmert und seine Kollegen Gespräche mit dem Generalsekretär des Deutsch-Französischen Jugendwerks, Albrecht Krause, sowie seinem französischen Stellvertreter, Marcel Jaurant-Singer, mit dem Generaldelegierten der Union nationale des centres sportifs de plein air, Raymond Malesset, mit dem Vorsitzenden des Ausschusses für kulturelle und soziale Angelegenheiten der französischen Nationalversammlung, Alain Peyrefitte, sowie mit dem Staatssekretär beim Premierminister für Jugend und Sport, Joseph Comiti.84 Letzterer beschwichtige die bundesdeutschen Gäste hinsichtlich der DDR: Die DTSB-Delegation sei ausschließlich auf Einladung der Fédération sportive et gymnique du travail (FSGT) nach Paris gekommen und es könne von einer Normalisierung der Sportbeziehungen zwischen Frankreich und der DDR keine Rede sein. Alain Peyrefitte schlug überdies die Bildung einer parlamentarischen Kontaktgruppe für Sportfragen vor. Beide Seiten sprachen sich für die Erhöhung des Sportanteils innerhalb der Programme des Deutsch-Französischen Jugendwerks aus.85 Zudem vereinbarten sie eine stärkere Zusammenarbeit zwischen den französischen Regierungsstellen und dem Bundesinstitut für Sportwissenschaft im Bereich des Sportstättenbaus. Adolf Müller-Emmert war ferner an den Sportgesprächen mit den Ostblockstaaten und an der Umsetzung der Neuen Ostpolitik im Bereich des Sports maßgeblich beteiligt.86 In diesem Zusammenhang setzte er sich für intensive Sportbeziehungen ein und postulierte: „Neben der UdSSR müssen jetzt auch Ungarn, Rumänien, Bulgarien, die CSSR und Polen Ziele von Sportbemühungen sein, die im gegenseitigen Interesse liegen.“87 Exemplarisch lässt sich dies an der Wiederaufnahme von sportlichen Beziehungen mit Polen im Kontext der Unterzeichnung und Ratifizierung des Warschauer
Schmickler war ein Bonner Sportjournalist und Referent der SPD-Arbeitsgruppe Sport im Bundestag. Vgl. LASp, V 91/253: DDR-Spiegel des Bundespresseamts, 23.11.1971. Vgl. ebd.: Kurzbericht über die Gespräche mit französischen Parlaments- und Regierungsvertretern über Fragen der Sportförderung in Frankreich und der Bundesrepublik, 05.01.1972. 85 Darüber hinaus sollten mehr Jugendliche aus Arbeiterkreisen für die Teilnahme an den Programmen gewonnen werden, vgl. „Und wo bleiben die Jungarbeiter?“, in: SPD-Pressedienst, 30.06.1971, S. 3. 86 Für einen Überblick zur Neuen Ostpolitik siehe Bender: Die „Neue Ostpolitik“ (1996); Fink / Schaefer (Hg.): Ostpolitik (2009); Miard-Delacroix: Willy Brandt (2013), S. 159–196. 87 „20jähriger Nachholbedarf “, in: SPD-Pressedient, 28.09.1971, S. 4–5, hier S. 5. 82 83 84
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Vertrags zeigen.88 Müller-Emmert hatte sich schon seit Ende der 1960er-Jahre für sportliche Kontakte mit Polen stark gemacht. Wenn sich beispielsweise bei der Einreise polnischer Sportler:innen Visa-Probleme ergeben hatten, so hatte Müller-Emmert „kein Verständnis dafür [gezeigt], daß der Sport – eine der friedlichsten Begegnungsmöglichkeiten zwischen den Völkern – in einem so extremen Maße von politischen Entscheidungen getroffen [wurde]“89. Im Oktober 1971 – nachdem der DSB eine Intensivierung der polnisch-westdeutschen Sportbeziehungen und ein Koordinierungstreffen zu diesem Zweck vorgeschlagen hatte90 – reiste das Trio Müller-Emmert, Schirmer und Schmickler begleitet von dem WDR-Sportjournalisten Rolf Kunkel nach Polen.91 Der akribisch vorbereitete Aufenthalt,92 der auch von Bundeskanzler Willy Brandt ausdrücklich begrüßt worden war, sollte dazu dienen, „Voraussetzungen für Kontakte, deren Ausweitung und Vertiefung zwischen der Jugend und den Sportlern beider Länder anzubahnen“93. Neben Gesprächen mit führenden Politikern und Sportfunktionären – wie beispielsweise mit Minister Włodzimierz Reczek, mit dem Vorsitzenden des Sozialistischen Jugendverbandes (ZMS) Andrzej Żabiński oder mit dem Vize-Generalsekretär des polnischen Nationalen Olympischen Komitees (NOK) Zygmunt Szulc – stand ein Besuch des Qualifikationsspiels für die Fußball-Europameisterschaft 1972 zwischen der Bundesrepublik und Polen auf dem Programm. Dieses „Spiel des Jahres“94 im ausverkauften Warschauer Stadion Dziesięciolecia (Stadion des 10. Jahrestages), bei dem auch ca. 5.000 Besucher:innen aus der DDR zugegen waren, symbolisierte als erste Fußballbegegnung seit zehn Jahren die Wiederaufnahme der sportlichen Beziehungen zwischen den beiden Ländern.95
Zur Neuen Ostpolitik in Bezug auf Polen vgl. Stokłosa: Polen und die deutsche Ostpolitik (2011). Adolf Müller-Emmert an Außenminister Willy Brandt, zit. nach: LASp, V 91/291: „Was ist mit den Visa für polnische Boxer?“, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 01.12.1968, S. 9. 90 Vgl. LASp, V 91/323: Wilhelm Kregel (DSB-Präsident) an Włodzimierz Reczek (Minister für Körperkultur und Touristik), 12.07.1971. 91 Vgl. ebd.: Friedel Schirmer und Adolf Müller-Emmert an Herbert Wehner (Vorsitzender der SPDFraktion im Bundestag), 29.09.1971. 92 Vgl. ebd.: Karl-Heinz Gieseler (DSB-Generalsekretär) an Adolf Müller-Emmert und Friedel Schirmer, 05.10.1971; ebd.: Willy Daume (NOK-Präsident) an Adolf Müller-Emmert, 05.10.1971; ebd.: Ernst Dieter Schmickler, Situationsbericht über die deutsch-polnischen Sportbeziehungen, Oktober 1971. 93 Ebd.: Friedel Schirmer / Adolf Müller-Emmert, Bericht über den Besuch in der Volksrepublik Polen vom 08.–13.10.1971, 22.10.1971. 94 Ebd. 95 Vgl. „Kreuznach legt noch manchen aufs Kreuz“, in: Der Kicker, 25.10.1971, S. 12–14, hier S. 14. Dort zeigt ein Bild den CDU-Bundestagsabgeordneten und Vorsitzenden von Eintracht Bad Kreuznach Elmar Pieroth, seine Frau Hannelore Pieroth, Adolf Müller-Emmert, DFB-Vizepräsident Hermann Neuberger sowie Friedel Schirmer beim Qualifikationsspiel in Warschau. Zu den deutsch-polnischen Fußballbeziehungen vgl. Blecking / Peiffer / Traba (Hg.): Vom Konflikt zur Konkurrenz (2014). 88 89
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Wie im Anschluss an eine seiner Reisen nach Israel96 vermittelte Müller-Emmert auch im Nachgang zu seinem Polen-Aufenthalt dem 1. FC Kaiserslautern ein Spiel gegen eine polnische Mannschaft.97 Ferner setzte er sich nach der Reise weiterhin für Sportbeziehungen mit den Ostblockstaaten ein und warb zum Beispiel dafür, die Organisation der Winterolympiade 1980 einem osteuropäischen Land wie Polen, Rumänien oder der Tschechoslowakei zu überlassen.98 Sowohl die Delegationsreisen zu großen Sportevents als auch die Sportgespräche auf internationaler Ebene verdeutlichen, dass sich Müller-Emmert für einen möglichst unabhängigen Sport für alle und mit allen einsetzte. Auch wenn dieses Konzept immer wieder sichtbar an Grenzen stieß – wie beispielsweise im Kontext der FWM 1978 in Argentinien und bei den zum Scheitern verurteilten Versuchen, Sport und Politik strikt getrennt zu halten. Das Wirken von Müller-Emmert im Sportausschuss des Bundestags weist darüber hinaus auf die gestiegene Bedeutung des Sports in der Bundesrepublik, aber auch im Rahmen der internationalen Beziehungen hin. 4. Sport praktizieren – ‚fit und leistungsstark‘ inner- und außerhalb des Parlaments
Adolf Müller-Emmert – bei den bisher skizzierten Entwicklungen stets einer von mehreren Akteur:innen – war im Bereich der aktiv Sport treibenden Politiker:innen Pionier und treibende Kraft. Hierin unterscheidet er sich von anderen Sportpolitiker:innen wie beispielsweise Friedel Schirmer. Dessen Karriere als erfolgreicher Zehnkämpfer brachte ihn in die (Sport-)Politik, wohingegen der Jurist Müller-Emmert sich sozusagen als Quereinsteiger für den Sport interessierte und seine Sportlichkeit fortan zu einem seiner Unterscheidungsmerkmale machte. Wie zu zeigen sein wird, war dieses Auftreten als aktiver Sportler und der Kampf gegen das Image des faulen, am Schreibtisch sitzenden Abgeordneten eine bewusst gewählte Strategie. Im Jahr 1951 gründeten Abgeordnete und Beschäftigte des Bundestags die Sportgemeinschaft Deutscher Bundestag als Betriebssportverein, der jedoch erst 1961 in das Vereinsregister des Amtsgerichtes in Bonn aufgenommen wurde.99 Die Mitglieder der
Vgl. „Cocktail“, in: Der Kicker, 09.12.1971, S. 24. Vgl. „Kontakte nach Polen“, in: Der Kicker, 27.04.1972, S. 13. Siehe auch zu den Sportbeziehungen zwischen Kaiserslautern und Polen LASp, V 91/323: „Für ‚Nägel mit Köpfen‘“, in: Die Rheinpfalz, 16.11.1971 98 Vgl. „Osteuropa empfohlen“, in: FAZ, 08.03.1972, S. 12; „Kein Privileg der großen Industrienationen“, in: SPD-Pressedienst, 06.03.1972, S. 4. 99 Zur Geschichte des Vereins vgl. LASp, V 91/372: „Vom ‚Dorfverein‘ zur ‚Prominentenriege‘“, in: Das Parlament, 21.02.1981. Siehe auch Sportgemeinschaft Deutscher Bundestag (Hg.): So trimmt sich Bonn (1971). 96 97
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Sportgemeinschaft wählten Müller-Emmert 1966 zum Vorsitzenden. Zu diesem Zeitpunkt umfasste diese rund 800 Mitglieder und 15 Fachgruppen – neben Fußball unter anderem auch Handball, Faustball, Leichtathletik, Schwimmen, Turnen und Boxen. Der SPD-Abgeordnete tat sich als entschiedener Verfechter eines Sportstättenkonzepts für das Parlament hervor, um allen Parlamentarier:innen und Beschäftigten Platz und Gelegenheit für sportliche Aktivitäten zu bieten.100 Von „einer interfraktionellen ‚Sportwelle‘ getragen“101 forderten Müller-Emmert und seine Vorstandskolleg:innen, im Zuge des Ausbaus des Regierungsviertels auch ausreichend Raum für das Sporttreiben einzuplanen, sodass der fensterlose, kaum zwanzig Quadratmeter umfassende Kellerraum nicht länger als einzige Sporträumlichkeit des Parlaments gelten müsse. Die Sportstättensituation verbesserte sich in der Folge sukzessive. Adolf Müller-Emmert war es auch, der 1967 die Parlamentarierelf, den heutigen FC Bundestag, offiziell als Fachabteilung innerhalb der Sportgemeinschaft ins Leben rief und gleich zu deren Kapitän bestimmt wurde.102 Die Abgeordneten trainierten jeweils donnerstags in der Mittagspause entweder an den Rheinwiesen oder im Bonner Gronau-Stadion. Dort trug die Elf auch ihre Heimspiele aus. Die Einnahmen aus den Benefizspielen gegen Prominenten-, andere Betriebssport- oder JVA-Mannschaften gingen an Hilfsfonds wie die Aktion Sorgenkind.103 Nach außen präsentierte sich die Parlamentarierelf als „‚integrative Kraft‘ des Parlaments“104 sowie als interfraktionelle, „menschlich verbindende Oase“105. Müller-Emmert ging sogar so weit anzumerken: „Außer dem Fußball haben wir kaum etwas in Bonn, was uns Freude macht.“106 Ob diese Äußerungen tatsächlich auf das Miteinander der Mannschaftsmitglieder zutraf, muss offen bleiben. Auf der Agenda der Abgeordnetenelf standen auch Spiele gegen andere Parlamentsoder Diplomatenmannschaften, unter anderem in Israel, Togo, Tansania, Sansibar, Kenia, Frankreich, Österreich und der Schweiz.107 Ein weiteres Aktionsfeld der Parlamentarierelf war das 1971 von Müller-Emmert etablierte Internationale Parlamentarier-Fußballturnier, das auch als Europameisterschaft der Parlamentarier bezeichnet
Vgl. „Parlamentarier treiben Sport“, in: Der Kicker, 09.03.1970, S. 23. „Die Parlamentssportler wollen bessere Sportanlagen“, in: FAZ, 20.01.1970, S. 11. Vgl. FC Bundestag: Historie. Inoffiziell existierte die Abgeordnetenelf bereits seit 1961. Im April 1961 hatte sie ein erstes Benefizspiel gegen eine VIP-Mannschaft ‚Funk und Fernsehen‘ des WDR ausgetragen, ein zweites folgte im April 1964 gegen ein Team der Münchener Lach- und Schießgesellschaft. Zur Geschichte der Parlamentariermannschaft vgl. LASp, V 91/322: „Deutscher Bundestag am Ball“, in: Das Parlament, 06.03.1978. 103 Vgl. „Bis zum letzten“, in: Der Spiegel, 02.06.1968. 104 „Bundestags-Kicker feiern 20jähriges Bestehen“, in: Der Kicker, 24.02.1986, S. 65. 105 LASp, V 91/259: „Eine Oase im politischen Getümmel“, in: Das Parlament, 29./30.06.1988. 106 FC Bundestag: Historie. 107 Beispielhaft zu den Spielen gegen Abgeordnete der französischen Nationalversammlung, vgl. „So ging Bonn in Reims baden!“, in: Der Kicker, 10.11.1969, S. 16; „Christ- und Sozialdemokraten sinnen auf Revanche“, in: FAZ, 04.11.1969, S. 11; „Olympischer Geist und die Parlamentarier“, in: FAZ, 26.09.1970, S. 10. 100 101 102
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wird. Bei diesen jährlichen Turnieren spielten Abgeordnetenteams aus Österreich, der Schweiz, der Bundesrepublik sowie seit 1977 aus Finnland an wechselnden Austragungsorten in den Teilnehmerländern gegeneinander. Dabei mag die Mitwirkung von Finnland zunächst erstaunen. Das vormalige Großfürstentum im Russischen Reich, das 1919 zu einer unabhängigen Republik geworden und nach 1945 zunächst an einer engen Kooperation mit der UdSSR interessiert war, suchte nach Wegen, die Bindung zu den westeuropäischen Staaten jenseits offizieller Kanäle zu stärken, ohne dabei provozierende Signale in Richtung UdSSR auszusenden. Die Parlamentarierturniere boten dazu eine gute Gelegenheit.108 Die finnische Teilnahme macht deutlich, dass die Spiele zwischen verschiedenen Parlamentariermannschaften vordergründig zwar eine eindeutig sportliche Dimension hatten, im Hintergrund jedoch stets auch als Anlass zum informellen Austausch der beteiligten Politiker in der sogenannten dritten Halbzeit fungierten. Diese über den Sport hinausgehende Dimension trat immer wieder hervor; so auch bei der Reise des Abgeordnetenteams nach Tansania: „Als man in Tansania gespielt hatte, meldete das Auswärtige Amt wenig später prompt eine wesentlich aufgeschlossenere Haltung gegenüber der Bundesrepublik als zuvor.“109 Nach mehr als 20 Jahren als Kapitän der Mannschaft wurde Adolf Müller-Emmert schließlich 1986 als wohl „dienstälteste[r] Spielführer in der bundesdeutschen Fußball-Szene“110 verabschiedet und zum Ehrenspielführer ernannt. Neben den teamsportlichen Aktivitäten übte Müller-Emmert auch Einzelsportarten wie Tennis, Leichtathletik und Jogging aus. Der „sportlichste Bonner Politiker“111 absolvierte jedes Jahr im Buchenloch-Stadion, dem Sportgelände der TSG Kaiserslautern, das Sportabzeichen – insgesamt dreißigmal.112 Dieses war im Januar 1952 vom DSB wieder eingeführt worden und ging auf die 1913 von Carl Diem etablierte Auszeichnung für vielseitige Leistungen auf dem Gebiet der Leibesübungen zurück. Ziel dieser Wiedereinführung war es, erstens möglichst viele Bundesbürger:innen zu einer aktiven sportlichen Betätigung zu animieren, zweitens die Gesundheit der Bevölkerung zu verbessern und drittens mehr Menschen in die Sportvereine zu locken. Die Zahl der abgelegten Sportabzeichen belegt den Erfolg der Wiedereinführung: Zwischen 1952 und 1966 ist eine durchschnittliche Zunahme um mehr als 11.000 Abzeichen pro Jahr zu verzeichnen (von 22.902 im Jahr 1952 zu 192.344 im Jahr 1966). Von 1966 bis 1981 wuchs die Zahl der abgelegten Sportabzeichen dann im Schnitt um mehr als 27.000 pro Jahr auf 601.935 im Jahr 1981.113 „G. Müller ist nur vorm Spiel umschwärmt“, in: FAZ, 09.05.1989, S. 28. LASp, V 91/259: „Wo alle Parteien am Ball sind“, in: Das Parlament, 24./31.07.1982. „21 Jahre sind genug“, in: Der Kicker, 08.01.1987, S. 28. LASp, V 91/259: „Stücklen liebt Karate, und Scheel spielt Golf “, in: Express, 17.03.1979. StAKL, ZGD, AME: „Unser Mann in Bonn“, in: Die Rheinpfalz, 01.03.2002; ebd.: „Ansprechpartner für jeden“, in: Die Rheinpfalz, 28.02.198; LASp, V 91/331. 113 Vgl. Hartmann-Tews: Sport für alle!? (1996), S. 149–151. 108 109 110 111 112
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Der Bundestagsabgeordnete Müller-Emmert dokumentierte seine Teilnahme an den Prüfungen des Sportabzeichens minutiös und verschickte Pressemitteilungen an verschiedene Zeitungen. Dabei ging es einerseits darum, ein Signal hinsichtlich der gesundheitsfördernden Wirkung des Sports zu setzen und Werbung für den Breitensport zu betreiben. Die Bundesbürger:innen sollten ermutigt werden, ebenfalls Sport zu treiben. Andererseits spielte die (Selbst-)Inszenierung eine gewichtige Rolle. MüllerEmmert wusste dieses Sportlerimage gezielt zu nutzen und setzte seine Sportlichkeit als bewusste Kommunikationsstrategie ein. Dies wird auch mit Blick auf die Bild- und Textsammlung deutlich, die Adolf Müller-Emmert 1971 von Ernst Dieter Schmickler anfertigen ließ.114 Darin wird auf 63 Seiten die Geschichte der Sportgemeinschaft Deutscher Bundestag erzählt. Diese ist mit zahlreichen Bildern von mal mehr, mal weniger sportlich aktiven Bundestagsabgeordneten und Regierungsmitgliedern untermalt. Dabei ist Müller-Emmert auf sieben Fotos abgebildet und es heißt über ihn, er sei einer „der wohl größten Sportfans des Parlaments“115. Sowohl in Diktaturen als auch in Demokratien gibt es zahlreiche Beispiele für das intentionale Nutzen des Sports für politische Zwecke.116 Allerdings war die sportliche Inszenierung bei Müller-Emmert deutlich konstanter, konsequenter und fester Bestandteil seines Images als Politiker. Beispielsweise zeigte er sich bei öffentlichen Auftritten mit am Revers angeheftetem Sportabzeichen.117 Von hoher Bedeutung war für ihn auch der Einsatz und die Pflege dieses Images im Wahlkampf. In all seinen Wahlkampfbroschüren finden sich Sportmetaphern sowie Hinweise auf seine Sportlichkeit und sein Motto „Müller-Emmert: fit und leistungsstark“118. In der Broschüre zur Bundestagswahl 1965 heißt es beispielsweise: Ausgleich ist wichtig. MdB Dr. Müller-Emmert sorgt für Kondition. Beim regelmäßigen Waldlauf hält er sich fit. Der SPD-Kandidat ist Träger des goldenen Sportabzeichens. […] Ja zum Sport. Der SPD-Kandidat ist zusammen mit [Kaiserslauterns] Oberbürgermeister Dr. [Walter] Sommer und [Box-]Europameister [Karl] Mildenberger Stammgast bei allen großen Fußballereignissen. Das Zuschauen allein genügt ihm nicht. So war Dr. MüllerEmmert auch beim Spiel einer Parlamentsmannschaft gegen die Prominenz von Sport, Presse und Kabarett mit von der Partie.119
Vgl. Sportgemeinschaft Deutscher Bundestag (Hg.): So trimmt sich Bonn (1971). Ebd., S. 45. Vgl. Gonzalez Aja / Teja: Mussolini and Franco Sportmen (1997); Carter: Power of Symbolism (14.07.2021); Clastres: Générations athlétiques (2014); Pinter: Die Ehrentribüne als politische Bühne (2005), S. 333–335. 117 StAKL, ZGD, AME: „Dr. Adolf Müller-Emmert“, in: Die Rheinpfalz, 02.01.1979. 118 LASp, V 91/316: Wahlkampfbroschüre für die Bundestagswahl 1980. 119 LASp, V 91/320: Wahlkampfbroschüre für die Bundestagswahl 1965. 114 115 116
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Es handelt sich hierbei aber nicht nur um eine gezielte Imagepolitik, sondern auch um die Anwendung eines neuen, modernen politischen Stils, wie er im Image von Willy Brandt als Erneuerer und ‚Deutscher Kennedy‘ zum Ausdruck kam.120 MüllerEmmert bezog den Sport explizit in diesen Stil ein, der sowohl die Vermittlung von Politik als auch die politischen Inhalte selbst veränderte. Der SPD-Abgeordnete – so ließe sich formulieren – leitete das „Zeitalter der Fitness“121 mit ein und war an der sportkulturellen Durchdringung der Bundesrepublik beteiligt. Von nun an wurde es für Politiker:innen schwieriger, sich diesem Sport- und Fitnessideal zu entziehen. In diesem Sinne lassen sich gewisse Kontinuitätslinien von den sportlichen Aktivitäten Müller-Emmerts zu heutigen Spitzenpolitiker:innen, die sich ganz bewusst sportlich inszenieren, nicht von der Hand weisen. 5.
Zwischen Anerkennung und Vergessen – eine kritische Würdigung
Der SPD-Bundestagsabgeordnete Adolf Müller-Emmert hat Sport im Einklang mit den sportpolitischen Vorstellungen seiner Partei als brückenbauenden Sport für alle verstanden; auch wenn diese Auffassung in der Praxis immer wieder an Grenzen stieß. Er hat Sport zudem im Rahmen seines Wirkens im Sportausschuss des Deutschen Bundestags – und darüber hinaus122 – politisch mitgestaltet. Nicht zuletzt hat er Sport auf vielfältige Weise und in diversen Kontexten praktiziert und dieses Sporttreiben zum einen als Werbung für den Breitensport und zum anderen als Mittel der Selbstinszenierung genutzt. Müller-Emmert war Akteur und – als ‚Kind seiner Zeit‘ – Verkörperung der sportkulturellen Durchdringung der Bundesrepublik in den 1960er- und 1970er-Jahren. Seine sportpolitische Karriere ist eine Chiffre dieses Prozesses. Die Hochphase dieser Durchdringung lag zwischen 1966 bzw. 1969 und 1974. Strittig ist, ob dafür eher der Wechsel der Regierungsverantwortung nach der Bundestagswahl 1969 oder aber das allmähliche Näherrücken der OS in München verantwortlich war.123 Dagegen kann mit Sicherheit gesagt werden, dass einerseits die Vergabe der Spiele nach München im April 1966 die strukturellen Veränderungen maßgeblich forciert hat und dass andererseits der wachsende Konkurrenzdruck aus der DDR dazu führte, dass die Politik mehr in den Sport investierte und im Gegenzug eine größere Mitsprache ver-
Vgl. Angster: Der neue Stil (2005); Münkel: John F. Kennedy – Harold Wilson – Willy Brandt (2008). Vgl. Martschukat: Das Zeitalter der Fitness (2019). Müller-Emmert brachte sich unter anderem auch in die 1977 gegründete Sepp-Herberger-Stiftung ein. Er war zwischen 1979 und 1987 Mitglied des Stiftungskuratoriums und tat sich vor allem als Antreiber der von der Stiftung organisierten Spiele von Prominentenmannschaften gegen JVA-Häftlinge hervor, vgl. LASp, V 91/257; StAKL, ZGD, AME: „Arbeit im Sinne Herbergers“, in: Die Rheinpfalz, 24.10.1987. Zur Stiftung vgl. Sepp-Herberger-Stiftung (Hg.): 40 Jahre für den Fußball (2017). 123 Vgl. Pedersen: Sportpolitik in der BRD (1977), S. 142. Pedersen sieht eher die zeitliche Nähe zu den OS als den Regierungswechsel als Auslöser für die gesteigerte Förderung des Sports. 120 121 122
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langte.124 Schließlich dürften auch die beschleunigte Veränderungsdynamiken der langen 1960er-Jahre eine Rolle gespielt haben.125 Mitnichten war die sportkulturelle Durchdringung der bundesrepublikanischen Gesellschaft jedoch ein linearer Prozess. Sowohl innerhalb als auch außerhalb des Parlaments gab es Gegner:innen einer solchen sportkulturellen Durchdringung, die den Sport als banale Freizeitbeschäftigung der ‚einfachen‘ Leute weiterhin geringschätzten. Und längst war der viel gepriesene Sport für alle noch kein Sport für wirklich alle. Noch immer waren sportliche Belange stark an Vereine gekoppelt und bestimmte gesellschaftliche Gruppen (Frauen, Migrant:innen, Ältere usw.) zum Teil ausgeschlossen. Nichtsdestotrotz avancierte der Sport in den 1960er- und 1970er-Jahren sukzessive „vom schwitzenden Stiefkind zum angesehenen Kulturgut“126. Darüber hinaus entstand in diesen Jahren ein neues Politikerimage. An die Stelle der Attribute „jung, charismatisch, medientauglich“127 traten bei Müller-Emmert vor allem die Aspekte ‚fit und leistungsstark‘. Dies weist auf den Versuch einer neuen Generation von Politiker:innen hin, die eigene Sportlichkeit zu demonstrieren und gegen das Image des ganzen Tag am Schreibtisch oder im Parlament sitzenden Abgeordneten anzukämpfen. Über den Sport hinaus steht Müller-Emmert als Jurist und Katholik für die Öffnung der SPD im Kontext der beträchtlichen Programmreform des Godesberger Parteitags 1959 sowie für den Willen der SPD, sich als Volkspartei zu präsentieren. Er gehörte zu jenen, die entschieden für das Godesberger Programm eintraten.128 Des Weiteren ist Müller-Emmert ein typischer Vertreter der sogenannten 45er-Generation.129 Als 1922 Geborener war seine Jugend vom Nationalsozialismus geprägt. Jung kam er zur Luftwaffe und wurde auch an der Front eingesetzt. Für Müller-Emmert stellte das (nahende) Kriegsende einen tiefgreifenden Einschnitt dar. Er entschied sich, 1946 Rechtswissenschaften in Heidelberg zu studieren und trat nach seiner Promotion 1956 in die SPD ein. Wie bei anderen 45ern war seine Nachkriegskarriere von einer „strikte[n] Orientierung am eigenen Fortkommen, an beruflichem Aufstieg und sozialer Konsolidierung“, vom „Hang zum Praktischen, Reformerischen, Nichtideologischen“ sowie von einer „positive[n] Haltung gegenüber dem Projekt eines sich vereinigenden Europas“130 geprägt.
Vgl. Balbier: „Von der DDR lernen, heißt siegen lernen!“ (2007), S. 247. Vgl. dazu Frese / Paulus: Geschwindigkeiten und Faktoren des Wandels (2005); Schildt / Siegfried / Lammers (Hg.): Dynamische Zeiten (2000); Hüser (Hg.): Populärkultur transnational (2017). 126 Balbier: „Von der DDR lernen, heißt siegen lernen!“ (2007), S. 238. 127 Münkel: John F. Kennedy – Harold Wilson – Willy Brandt (2008), S. 39. 128 Vgl. LASp, V 91/371: Interview des HR-Reporters Hans-Jürgen Hohm mit Adolf Müller-Emmert, Transkript, 14.01.1982, S. 16–24; Müller-Rommel: Innerparteiliche Gruppierungen in der SPD (1982), S. 95–109. 129 Vgl. Herbert: Drei politische Generationen (2003); Hodenberg: Zur Generation der 45er (2020). Siehe auch Meyer: Die SPD und die NS-Vergangenheit (2015), insbesondere S. 285–352. 130 Herbert: Drei politische Generationen (2003), S. 105. 124 125
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Warum aber ist Adolf Müller-Emmert dann heute nicht bekannter? Warum geriet der „unumstrittene Sportregent des Bundestages“131 und selbsternannte „Vater der Strafrechtsreform“132 weitgehend in Vergessenheit? Auf lokaler wie regionaler Ebene hatte Müller-Emmert als „Unser Mann in Bonn“133 und „populärster Politiker der Region“134 zwar einen langen Nachhall in Kaiserslautern und Umgebung, was nicht zuletzt daran abzulesen ist, dass der Wahlkreis seit dem Einzug Müller-Emmerts in den Bundestag 1961 stets von der SPD gewonnen werden konnte.135 Jedoch fiel er auf Bundesebene dem Vergessen anheim. Dies hatte mehrere Ursachen: Müller-Emmert hatte nie ein Ministeramt oder eine vergleichbare Leitungsfunktion inne, sondern blieb stets ein Mann der zweiten, teilweise gar der dritten Reihe. Dabei hatte es durchaus Gelegenheiten gegeben. 1969 wäre er nach der Wahl von Gustav Heinemann zum Bundespräsidenten beinahe Staatssekretär im Bundespräsidialamt geworden.136 Kurze Zeit später war Müller-Emmert im Gespräch für das Ministeramt für Jugend, Familie und Gesundheit. Der Posten ging jedoch an Käte Strobel.137 1977 war er schließlich einer der Kandidaten für die Nachfolge des von der RAF ermordeten Generalbundesanwalts Siegfried Buback am Bundesgerichtshof.138 Diese Rückschläge frustrierten den Kaiserslauterer Abgeordneten zusehends. Seine Nicht-Berücksichtigung ist wohl unter anderem darauf zurückzuführen, dass er innerhalb der Partei eher dem rechten Flügel angehörte und mit den ‚Kanalarbeitern‘ sympathisierte.139 Aufgrund dieser innerhalb der SPD eher konservativen Haltung und seiner katholischen Erziehung ging er bei der Reform von § 218 auch in Opposition zu der von der sozialliberalen Koalition befürworteten Fristenlösung bei Schwangerschaftsabbrüchen und formulierte einen eigenen, auf dem Indikationsmodell basierenden Reformvorschlag. Insgesamt geriet er immer weiter ins Abseits und entwickelte sich zu einer streitbaren Person innerhalb der SPD.140 Ab 1976/77 trat schließlich eine komplette Resignation bei Müller-Emmert ein. Nachdem der Sonderausschuss für die große Strafrechtsreform Ende 1976 eingestampft worden war, verlor er diesen
„Bundestags-Kicker feiern 20jähriges Bestehen“, in: Der Kicker, 24.02.1986, S. 65. LASp, V 91/371: Interview des HR-Reporters Hans-Jürgen Hohm mit Adolf Müller-Emmert, Transkript, 14.01.1982, S. 53. 133 StAKL, ZGD, AME: „Unser Mann in Bonn“, in: Die Rheinpfalz, 01.03.2002. 134 Ebd.: „Viel für die Region getan“, in: Die Rheinpfalz, 02.03.1982. 135 Vgl. N. N.: Das Erbe Müller-Emmerts (22.09.2017). 136 Vgl. „Müller-Emmert zu Heinemann?“, in: FAZ, 15.03.1969, S. 3. 137 Vgl. „Ein Parlamentarischer (Sport-)Staatssekretär?“, in: FAZ, 09.10.1969, S. 11. 138 Vgl. LASp, V 91/302: Adolf Müller-Emmert an Herbert Wehner, 22.05.1977. 139 Vgl. LASp, V 91/371: Interview des HR-Reporters Hans-Jürgen Hohm mit Adolf Müller-Emmert, Transkript, 14.01.1982, S. 82–84. Die sogenannten Kanalarbeiter existierten seit 1957 als lose Gruppierung innerhalb der SPD-Bundestagsfraktion und avancierten zu Beginn der 1970er-Jahre zu einer festen Größe im rechten Lager der Fraktion, vgl. Müller-Rommel: Innerparteiliche Gruppierungen in der SPD (1982), S. 161–182, vor allem S. 165 f. 140 „Personalien: Müller-Emmert, 60“, in: FAZ, 01.03.1982, S. 4 131 132
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Ausschussvorsitz und damit auch seinen einzigen ‚größeren‘ Posten. Infolge der NichtBerücksichtigung und der sich steigernden Frustration des SPD-Abgeordneten gab er 1976 beim Zählappell kurz vor der offiziellen Wahl von Helmut Schmidt zum Bundeskanzler offen zu erkennen, dass er gegen Schmidt stimmen werde. Er übte deutliche Kritik am Stil der Regierungsbildung und vor allem an der Personalpolitik der Partei.141 Nach parteiinternen Interventionen – vor allem von Willy Brandt und Hans-Jürgen Wischnewski – gab er schließlich nach und entschied sich, doch für Schmidt als Kanzler zu stimmen. In der Fraktion gingen einige zwar mit den geäußerten Kritikpunkten konform, anderen wiesen die Vorwürfe jedoch als unangebracht zurück: Andererseits empfand man Müller-Emmerts Auftritt aber auch als peinlich. Einige, die diesen Abgeordneten zu kennen glauben, streuten aus, der störrische Pfälzer fühle sich offenbar bei der Regierungsbildung übergangen oder er neide seinem (ungeliebten) Kollegen Klaus von Dohnanyi, daß dieser nach seinem jähen Sturz in die Versenkung nun ebenso jählings wieder zum Staatsminister im Auswärtigen Amt aufgestiegen sei.142
In den folgenden Wochen verteidigte Müller-Emmert seine Position und schreib beispielsweise dem Spiegel: „Bringen Sie auch ab und zu einmal den Mut auf, Politikern, die ‚heilige Kühe‘ angreifen, nicht gleich egoistische Motive zu unterstellen, sondern ihnen ein Lob zukommen zu lassen.“143 Innerparteilich versuchte Herbert Wehner, Müller-Emmert wieder einzufangen, und schlug ihm unter anderem vor, dass er stellvertretender Vorsitzender des Rechtsausschuss werden könne. Dieser lehnte allerdings pikiert ab: „Eine Tätigkeit im Rechtsausschuss würde mich zu oft an die verschiedenartige Anwendung der Grundwerte unserer Partei in Theorie und Praxis erinnern.“144 Im Anschluss an diese Episode, die einerseits die nicht immer faire Behandlung des Ludwigshafeners durch seine Partei und andererseits aber auch eine gewisse Eitelkeit des Juristen sichtbar macht, zog sich Müller-Emmert zusehends ins Private zurück. Er eröffnete 1977 eine Rechtsanwaltskanzlei in Kaiserslautern-Morlautern, der er sich fortan intensiv widmete. In Bonn beschränkte er sich auf die Mitarbeit im Auswärtigen Ausschuss, in den ihn die Fraktion nach 1976 entsandte, sowie insbesondere im Sportausschuss.145
Vgl. LASp, V 91/302: „Beim Zählappell der SPD probte Adolf Müller-Emmert den Aufstand“, in: Die Rheinpfalz, 16.12.1976; ebd.: Adolf Müller-Emmert an Georg Dornhof (Reporter der Bild-Zeitung), 10.02.1977. 142 Ebd.: „Beinahe noch eine Zerreißprobe bei der Kanzlerwahl“, in: Süddeutsche Zeitung, 16.12.1976. Aus den Quellenbeständen geht hervor, dass Müller-Emmert Klaus von Dohnanyi tatsächlich als erbitterten politischen Konkurrenten wahrgenommen haben muss. 143 „Motiv einer Drohung“, in: Der Spiegel, 09.01.1977. Siehe auch „Nach einem Gespräch mit Brandt“, in: FAZ, 30.12.1976, S. 6. 144 LASp, V 91/302: Adolf Müller-Emmert an Herbert Wehner, 22.05.1977. 145 Vgl. „Personalien: Müller-Emmert, 60“, in: FAZ, 01.03.1982, S. 4. 141
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Sein sportpolitisches Agieren blieb von diesen Querelen allerdings weitgehend unberührt. Mag Müller-Emmert innerhalb der eigenen Partei spätestens seit 1976 eine umstrittene Person gewesen sein, so schmälert dies sein sportpolitisches Wirken keineswegs. Künftig wären weitere Fallstudien zu diesem Themenkomplex wünschenswert. Es wäre denkbar, im Sinne einer Kollektivbiografie andere Personen – wie beispielsweise Friedel Schirmer – oder die Arbeit des Sportausschusses aus institutioneller Perspektive stärker in den Fokus zu rücken. Überdies könnten eine zeitliche Erweiterung und insbesondere die Untersuchung der Auswirkungen der viel zitierten ‚geistig-moralischen Wende‘ unter Bundeskanzler Helmut Kohl auf die Sportpolitik weitere wichtige Erkenntnisse zutage fördern. Nicht zuletzt wäre es sicherlich lohnend, der Arbeit von Müller-Emmert im Rahmen der großen Strafrechtsreform wissenschaftlich mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen
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Philipp Didion
Vierhaus, Rudolf / Herbst, Ludolf (Hg.): Biographisches Handbuch der Mitglieder des Deutschen Bundestags, 1949–2002. Bd. 1: A–M / Bd. 2: N–Z. München (Saur) 2002. Wopp, Christian: Entwicklungen und Perspektiven des Freizeitsports. Aachen (Meyer & Meyer) 1995.
Philipp Didion, Studium der Fächer Geschichte und Französisch an den Universitäten Metz und
Saarbrücken, 2017–2019 studentischer Mitarbeiter am Lehrstuhl für Europäische Zeitgeschichte der Universität des Saarlandes (Prof. Dr. Dietmar Hüser), seit 2020 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Europäische Zeitgeschichte sowie am Frankreichzentrum der Universität des Saarlandes, seit 2020 Promotionsprojekt mit dem Titel Fußball jenseits der Metropolen – Eine vergleichende Stadion-Kultur-Geschichte in französisch-westdeutscher Perspektive von den 1950er- bis zu den 1980er-Jahren (Betreuung: Prof. Dr. Dietmar Hüser / Prof. Dr. Paul Dietschy), seit 2022 Koordinator der DFGFNR-Forschungsgruppe 2475 „Populärkultur transnational – Europa in den langen 1960er Jahren“. Forschungsschwerpunkte: deutsch-französische Geschichte; Sportgeschichte, speziell Fußballgeschichte; Geschichte der Populärkultur; Lokal- und Regionalgeschichte.
Mittlerweile gehören transnationale Perspektiven zum gängigen Repertoire der Geschichtswissenschaften. Besonders zeithistorische Forschung spielt sich nunmehr verstärkt jenseits der etablierten nationalen Rahmungen ab. Diesem Anspruch tragen die Autorinnen und Autoren mit Westeuropa als Bezugsgröße Rechnung. Ganz im Sinne der Minimalformel „Zeitgeschichte transnational“ gilt es, politische wie gesellschaftliche Aushandlungsprozesse, populärkulturelle Verflechtungsdynamiken sowie Sport als Projektionsfläche herrschender Verhältnisse in den Blick zu nehmen. Auf der Basis
ISBN 978-3-515-13562-7
9 783515 135627
etablierter Forschungsparadigmen – wie Amerikanisierung, Westernisierung oder Europäisierung – sollen von den Beiträgen neue Impulse für die transnationale Erforschung zeithistorischer Phänomene ausgehen. Sie gehen auf eine Jubiläumstagung zum 60. Geburtstag von Dietmar Hüser zurück und spiegeln in ihrer Breite die Forschungsschwerpunkte des Jubilars sowie die von ihm betreuten Qualifikationsarbeiten wider. Konkret geht es um politische Kulturen und parteipolitische Strukturen, Aspekte der europäischen Integration, die Zirkulation von Populärkulturellem sowie den Nexus zwischen Sport und Politik.
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