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German Pages [112] Year 2017
6. Jahrgang 4 | 2017 | ISSN 2192-1202
faden Leid
FA C H M A G A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D , T R A U E R
Was hält hellt LEIB UND SEELE zusammen? auf
Carmen Hagen und Christian Schubert Der Körper
trauert mit Astrid Nestvogel Psychotherapie bei psychosomatischen Erkrankungen Thomas Klonek Haben Krankheiten eine Bedeutung? Karin Neustadt, Ulrike Kaiser, Rainer Sabatowski
Das biopsychosoziale Schmerzmodell Sven Benson und Sigrid Elsenbruch Placebos: Ohne Wirkstoff, aber nicht ohne Wirkung
Edition Leidfaden. Basisqualifikation Trauerbegleitung
Heiderose Gärtner-Schultz
Norbert Mucksch
Der richtige Satz zur richtigen Zeit
Frieden schließen
Kurzzeitberatung in der Trauerbegleitung Mit einem Vorwort von Monika Müller. 2017. 136 Seiten mit 3 Abb., Paperback € 15,– D ISBN 978-3-525-40286-3
Die Bedeutung der Versöhnung in der Trauerbegleitung Mit einem Vorwort von Klaus Onnasch. 2017. 139 Seiten mit einer Abb., Paperback € 15,– D ISBN 978-3-525-40285-6
eBook: € 11,99 D / ISBN 978-3-647-40286-4 eBook: € 11,99 D / ISBN 978-3-647-40285-7
„Ein Satz kann ein Leben verändern“ – das haben schon viele Menschen erfahren. Aber wie gelingt es, den richtigen Satz, den ein anderer gerade braucht, parat zu haben? Ernste und wichtige Anliegen werden im Hospiz, Krankenhaus oder Altenheim häufig „zwischen Tür und Angel“ mitgeteilt. Oft hat ein Mensch unter diesen Umständen nicht mehr so viel Lebenszeit, um seine Probleme zu bearbeiten. Hier setzt Heiderose Gärtner-Schultz mit ihrer Kompaktberatung an. Dieses Konzept für eine Kurzzeitberatung weckt Sensibilität und bietet Praxishilfen für ein im guten Sinne des Wortes leichtfüßiges Umgehen mit scheinbar schweren Problemkonstellationen.
Verlagsgruppe Vandenhoeck & Ruprecht
Immer wieder bleiben trauernde Menschen nach einem Sterbefall zurück mit dem quälenden Gefühl, etwas mit einem Verstorbenen versäumt zu haben oder ihm schuldig geblieben zu sein. Tatsächliche Schuld und mehr noch unklare Schuldgefühle können einen Trauerverlauf erheblich beeinflussen. Norbert Mucksch zeigt, welche Chancen darin liegen, diese Empfindungen zu benennen und sich ihnen in einer geschützten Atmosphäre, etwa im Rahmen einer Trauerbegleitung, anzunähern. So können Schuld und Schuldgefühle in das eigene Leben und Erleben integriert werden. Trauernde finden ihren Frieden mit sich und der Situation und können sich mit einem verstorbenen Menschen und vor allem mit sich selbst versöhnen. Zahlreiche konkrete Fallbeispiele sorgen für den notwendigen Praxisbezug.
www.v-r.de
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EDITORIAL
Was hält Leib und Seele zusammen? Psychosomatik umfasst Krankheiten und Krankheitsaspekte, die auf psychischen oder psychosozialen Gegebenheiten basieren. Frühe Psychoanalytiker wie Franz Alexander oder Georg Groddeck haben dieses Thema sehr befördert. Und dennoch gab es auch in dieser Disziplin schon zu Beginn differierende Ansichten. Eine gewisse Skepsis hatte nicht nur wissenschaftliche Gründe, sondern hing sicher auch mit der Gaumenkrebserkrankung von Sigmund Freud zusammen, die man auch unter psychosomatischen Gesichtspunkten hätte betrachten können. Einige seiner Schüler hatten diese sogar durchaus wohlwollend zum Anlass genommen, ihm Psychotherapie anzubieten, was er jedoch strikt ablehnte. Themen wie psychosomatische Aspekte bei Krebserkrankungen waren lange Zeit auf psychoanalytischen Kongressen unerwünscht. Erst in jüngster Zeit ist hier eine deutliche Veränderung zu verzeichnen, etwa mit der Publikation von Jürg Kollbrunner »Der kranke Freud« (Stuttgart: Klett-Cotta, 2001). Der Autor, Spezialist für Gaumenkrebs und Psychoanalytiker, untersuchte seine Patienten und deren Lebensgeschichte und stellte auffallende Parallelen zu Freuds Lebensgeschichte fest, vor allem in manchen Bereichen von Beziehungen, an die nicht gerührt werden darf. Psychosomatische und ganzheitliche Aspekte wurden besonders akzentuiert in therapeutischen Systemen bearbeitet, deren Gründer freiwillig (Fritz Perls mit der Gestalttherapie) oder unfreiwillig (Wilhelm Reich, in dessen Gefolge die Bioenergetik entstand) aus der psychoanalytischen Vereinigung ausgetreten waren.
Heute ist die Frage, wie intensiv bei einzelnen Erkrankungen psychosomatische Aspekte am Werk sind und auf welchem Weg genau deren Zusammenspiel mit anderen relevanten Faktoren zustande kommt. Die Artikel unserer Autorinnen und Autoren legen Erklärungen über das Immunsystem und seine Reaktion auf psychosoziale Ereignisse und somit die Bedingung für Krankheitsanfälligkeit nahe, ferner Verhaltensweisen, die zu einer Schädigung im Gesundheitsbereich führen (zum Beispiel Rauchen, Alkoholkonsum), oder über hormonelle und neurologische Kanäle. Genetische Faktoren sind ebenfalls nicht außer Acht zu lassen. Das Zusammenspiel verschiedener Faktoren lässt sich etwa am Beispiel des Magengeschwürs zeigen: Psychosomatisch erklärt bedeutet eine Situation, in der jemand sich permanent ärgert, eine üblicherweise mit Ärger verbundene erhöhte Magensaftsekretion, die auf die Dauer zum Magengeschwür führt. Die Entdeckung der Mitwirkung des Bakteriums Helicobacter pylori könnte diese psychosomatische Erklärung entkräften. Vermutlich ist hier aber ein Zusammenwirken mehrerer Faktoren denkbar: Eine entzündete Magenschleimhaut kann einen günstigen Nährboden für Bakterien darstellen oder das Vorkommen bestimmter Bakterienstämme kann dazu führen, dass ein angegriffenes organisches System die Verwundbarkeit für Läsionen durch ständigen Ärger erhöht. So beleuchtet unser Heft sehr unterschiedliche Aspekte psychosomatischen Geschehens ohne Anspruch auf eine endgültige Erklärung.
Leidfaden, Heft 4 / 2017, S. 1–3, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202
2 E d i t o r i a l
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E d i t o r i a l 3
Arnold Langenmayr
freya-photographe / Shutterstock.com
Psychosomatische Erklärungen, insbesondere bei chronischen Erkrankungen wie etwa bei Krebs, Multiple Sklerose, Parkinson und anderen, werden von der interessierten Öffentlichkeit und besonders von den Erkrankten selbst höchst kontrovers wahrgenommen. Einerseits bieten sie die Hoffnung, durch Veränderungen in Personbeziehungen und der Wahrnehmung und Gestaltung derselben wie auch durch die Veränderungen der entsprechenden psychischen Strukturen günstig auf diese Einfluss nehmen zu können. Andererseits wird gelegentlich auch argumentiert, damit könnte gemeint sein, die Erkrankten seien an ihrer Erkrankung selbst schuld, trügen die Verantwortung für ihre Gesundheitsprobleme selbst, da die psychischen Faktoren ja bedeuteten, dass sie ihre Symptome selbst produzieren. Dies ist ein Fehlschluss, schon deshalb, weil die Hintergründe den Betroffenen ja nicht bewusst sind. Diese mögen in der frühen Kindheit einmal bewusst gewesen sein und dort vielleicht auch eine aus Sicht des Kindes sinnvolle Lösung. Heute jedoch können sie nur schwer und unter großen Belastungen wieder bewusst werden, etwa in einem langwierigen und immer wieder von Angst und Gegenwehr begleiteten Prozess einer Psychotherapie (von mehreren Jahren). Es geht eben nicht um einen einfachen Willensakt oder das Beheben durch eine bisher nicht genügende Kraftanstrengung, sondern um eine Umstrukturierung der Persönlichkeit, auch eine emotionale, um das Bewusstmachen bisher unbewussten Materials. Und dies ist leider mühsam.
Lukas Radbruch
Wa s h ä l t L e i b u n d S e e l e z u s a m m e n ?
Inhalt 1 Editorial
6
Ann Schaefer, Gerhard Paar, Karl-Heinz Stäcker, Reinholde Kriebel Erreicht Psychotherapie das Immunsystem von HIV-Patienten?
15 Astrid Nestvogel | Psychotherapie bei psychosomatischen Erkrankungen
10 15
Carmen Hagen und Christian Schubert Der Körper trauert mit Astrid Nestvogel Psychotherapie bei psychosomatischen Erkrankungen
18 22
Johann Caspar Rüegg Wenn der Stress krank macht Klaus Hurrelmann Warum materielle Armut Leib und Seele gefährden kann
28
Katharina Braun, Gerd Poeggel, Tomasz Gos, Jörg Bock Einfluss früher Trennungs- und Stresserfahrungen auf die funktionelle Reifung des Gehirns
22 Klaus Hurrelmann | Warum materielle Armut Leib und Seele gefährden kann
33 37 41
Urs Münch Verlustbewältigung und Medikamente Thomas Klonek Haben Krankheiten eine Bedeutung? Merve Winter Psychosoziale und psychologische Aspekte der (Lebend-)Organspende
28 Katharina Braun, Gerd Poeggel, Tomasz Gos, Jörg Bock | Einfluss früher Trennungs- und Stresserfahrungen auf die funktionelle Reifung des Gehirns
60 Klaus J. Puzicha | Psychotraumatisierungen bei Bundeswehrsoldaten im Auslandseinsatz
46
89 Sabine Buchebner-Ferstl | Nachsterben
Heike Spaderna Herztransplantation – Eine Herausforderung für ganzheitliche Versorgung
49 55 60
Katrin Neustadt, Ulrike Kaiser, Rainer Sabatowski Das biopsychosoziale Schmerzmodell Sven Benson und Sigrid Elsenbruch Placebos: Ohne Wirkstoff, aber nicht ohne Wirkung Klaus J. Puzicha Psychotraumatisierungen bei Bundeswehrsoldaten im Auslandseinsatz
64 68 74 79 84 89
92
Willibald Ruch und Christoph Kramm Wohlbefinden trotz Widrigkeiten Gabriele Vetter Persönlichkeit und Krebs Wiebke Raue Münchhausen-Syndrom: Vorsätzlich krank
94
Fortbildungseinheit zum Thema
98
Rezension
100
BVT-Nachrichten
Nachsterben
103
Cartoon | Vorschau
Aus der Forschung: Jugendliche und
104
Impressum
Karin Kress Genderkompetenz im Umgang mit Psychosomatik Karl-Heinz Ladwig Mensch ärgere dich nicht Sabine Buchebner-Ferstl
junge Erwachsene in einer Verlustsituation
Einsatz von Placebos
6
Erreicht Psychotherapie das Immunsystem von HIV-Patienten? Ann Schaefer, Gerhard Paar, Karl-Heinz Stäcker, Reinholde Kriebel
Ben Metz
Eine HIV-Infektion führt zu einem fortschreitenden Immundefektsyndrom. In den Blutkreislauf eingedrungen, schädigt das HI-Virus insbesondere die zelluläre Immunität. Unbehandelt führt die Infektion über das Krankheitsvollbild AIDS zum Tod (mittlere Lebenserwartung: zehn Jahre). Mit einer Kombination von antiretroviralen
Auch heute noch sind Betroffene dem Risiko einer doppelten Stigmatisierung ausgesetzt: Die Offenlegung der eigenen HIV-Infektion kann im sozialen Umfeld zu Ausgrenzung aufgrund von Ansteckungsängsten und homophoben Einstellungen führen.
Medikamenten kann der Ausbruch des Vollbildes meist verhindert oder zumindest verzögert werden. Eine vollständige Heilung ist aber nach wie vor nicht möglich. Damit ist eine HIV-Infektion einer chronischen Erkrankung gleichzusetzen (Marcus 2006). Wie Krebs ist auch ist die HIVDiagnose mit einer latenten Lebensbedrohung verbunden, und die Medikation muss im Fall von HIV lebenslang beibehalten werden. In den 1980er Jahren breitete sich das HI-Virus in Deutschland vor allem bei den homo- und bisexuellen Männern stark aus und stellte eine massive Bedrohung dar. Auch heute noch sind Betroffene dieser Subgruppe dem Risiko einer doppelten Stigmatisierung ausgesetzt: Die Offenlegung der eigenen HIV-Infektion kann im sozialen Umfeld zu Ausgrenzung aufgrund von Ansteckungsängsten und homophoben Einstellungen führen. Es ist naheliegend, dass bei unzureichender Integration der homosexuellen Identität der Umgang mit der Erkrankung und die gegebenenfalls erforderliche Umstellung der Sexualpraktiken (Safer Sex) erschwert sind. Die Betroffenen bleiben hoch anfällig dafür, sich selbst zu beschuldigen oder durch andere Schuldzuweisungen zu erfahren. Von 1990 bis 1993 führte das Institut für Medizinische Psychologie mit der Klinik für Dermatologie am Universitätsklinikum Essen ein interdisziplinäres Forschungsprojekt durch. In dessen Rahmen ging Ann Schaefer der Frage nach, ob sich ein psychosoziales Angebot entwickeln lässt, dessen Wirksamkeit nicht nur das Erleben und den Umgang mit der Erkrankung positiv beeinflusst, sondern sich auch in belegbar protektiven Effekten auf das Immunsystem niederschlägt.
Leidfaden, Heft 4 / 2017, S. 6–9, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202
E r r e i c h t Ps y c h o t h e r a p i e d a s I m m u n s y s t e m v o n H I V - Pa t i e n t e n ? 7
Die Studie Es wurde geprüft, inwieweit sich eine zeitlich begrenzte gruppentherapeutische Intervention günstig auf die Krankheitsbewältigung (emotionale Befindlichkeit, Krankheitsverarbeitung, Präventionsverhalten) und den Krankheitsverlauf (Immunstatus, Krankheitsprogression) von HIVpositiven homo- und bisexuellen Männern in einem relativ frühen Krankheitsstadium auswirkt. In die Therapiegruppe nahmen 15 HIV-Patienten kontinuierlich an einer viermonatigen Gruppentherapie teil. Zu Beginn, nach Abschluss der Therapie und nach weiteren vier Monaten (Katamnese) wurde mit einschlägigen psychologischen Testverfahren die Krankheitsbewältigung untersucht. Zeitgleich wurden klinisch relevante Funktionsparameter des Immunsystems erhoben. Es wurden unter anderem die Anzahl der CD4Zellen bestimmt, die Aufschluss über die Funktionsfähigkeit der zellulären Abwehr zulassen, und das p24-Antigen gemessen, das Rückschlüsse über die Ausbreitung des HI-Virus im Körper erlaubt. Die Krankheitsprogression wurde über die Zuordnung zum Walter-Reed-Stadium 1–5 zu den drei Messzeitpunkten erhoben. Die Vergleichsgruppe setzte sich aus 30 HIV-Patienten zusammen, die keine psychotherapeutische Intervention erhielten, aber an den drei Messzeitpunkten analog zur Therapiegruppe untersucht wurden. Der Versuchsplan ermöglicht eine Betrachtung im Längsschnitt: »Verändern sich die Befunde innerhalb der Untersuchungsgruppen über die beobachteten acht Monate?« und im Querschnitt: »Finden sich Unterschiede zwischen den beiden Untersuchungsgruppen zu den drei Messzeitpunkten?«. Die Patienten waren im Schnitt Mitte 30, relativ gebildet und sozioökonomisch abgesichert. Die Anwerbung erfolgte öffentlich oder über den behandelnden Arzt. Die Teilnahme war freiwillig und kostenlos. Das Gruppenkonzept war auf die Bedürfnisse von HIV-Infizierten zugeschnitten und zielte
auf die Stärkung des psychischen Anpassungsniveaus. Im Rahmen des supportiv-kognitiven Behandlungskonzeptes wurde die aktuelle Lebenssituation der Teilnehmer bearbeitet. Zu drei Sitzungen wurden externe Experten zur Vermittlung gezielter Informationen (Medizin, Ernährung, Psychosoziale Dienste) hinzugezogen. Die Therapeuten förderten aktiv den Gruppenzusammenhalt und das »Sich Wiedererkennen im Anderen« und stärkten die Selbsthilfepotenziale der Teilnehmer. In Vorbereitung auf die Gruppe wurden mit jedem Teilnehmer individuelle Therapieziele im Einzelgespräch (maximal drei) erarbeitet. Eine Gruppe (maximal neun Teilnehmer) umfasste 16 Sitzungen (à 120 Minuten) und ein Kennenlerntreffen (à 180 Minuten) und wurde von einem gegengeschlechtlichen Therapeutenpaar geleitet. Die Sitzungen begannen mit einem Entspannungselement; zu Beginn und Ende der Sitzungen wurde jeweils ein »Blitzlicht« durchgeführt. Ergebnisse Zwischen den beiden Untersuchungsgruppen zeichneten sich bedeutsame Unterschiede ab. In der Therapiegruppe verbesserte sich die psychische Befindlichkeit bedeutsam und der Immunstatus blieb stabil. Die Therapiegruppe erwies sich zu Beginn psychisch und immunologisch stärker belastet als die Vergleichsgruppe (Unterschiede in den Ausgangswerten). Zum Therapieende verminderten sich jedoch die psychischen Belastungswerte der Therapiegruppe bedeutsam und fielen auf das Niveau der Vergleichsgruppe ab. Diese Verbesserungen unmittelbar nach Abschluss der Gruppe blieben stabil beziehungsweise verstärkten sich zum Teil noch zum Katamnese-Zeitpunkt. Bei der Therapiegruppe zeigte sich eine bedeutsame Verminderung von »Depressivität« und »allgemeiner Ängstlichkeit«; Gleiches galt für die Neigung zur »Selbstbeschuldigung«. Das gesundheitsbezogene Präventionsverhalten verbesserte sich tendenziell.
Wa s h ä l t L e i b u n d S e e l e z u s a m m e n ?
8 A n n S c h a e f e r, G e r h a r d Pa a r, K a r l - H e i n z S t ä c k e r, R e i n h o l d e K r i e b e l
In der Vergleichsgruppe ergaben sich im Beobachtungszeitraum keine Veränderungen bei der psychischen Befindlichkeit und Krankheitsverarbeitung, demgegenüber zeigten sich Veränderungen im Immunstatus (CD8-Zellen, β2-Mikroglobulin, freies p24-Antigen, WR-Stadium), die auf eine Progression der HIV-Erkrankung hinwiesen. Schon in dieser frühen Studie ergab sich also die Wirksamkeit einer kurzen ambulanten psychotherapeutischen Intervention bei HIV-infizierten Männern. Dies ließ sich belegen trotz kleiner Stichprobe, recht kurzem Beobachtungszeitraum und begrenzter immunologischer Messmethodik (zum Beispiel ließ sich damals noch nicht die »Viruslast« bestimmen). Es ließen sich psychoimmunologische Zusammenhänge zwischen psychotherapeutischer Intervention und Krankheitsprogression aufzeigen. Akzeptanz des Gruppenangebots
Wie hat sich die Behandlung von HIV-Patienten weiterentwickelt? Seitdem 1996 die neue hochpotente antiretrovirale Kombinationstherapie (HAART) eingeführt wurde, ist die Prognose bei HIV-Infektion deutlich verbessert. Die Krankheitsprogression lässt sich besser kontrollieren und die Schwere lebensbedrohlicher Begleiterkrankungen im Vollbild AIDS ist geringer. Die Lebenserwartung HIVinfizierter homosexueller Männer in Europa ist damit vergleichbar mit nichtinfizierten Personen (zusammenfassend: Salzberger 2014). Dies gilt allerdings nur, wenn man die HIV-Infektion früh erkennt, so dass das Immunsystem noch wenig geschwächt ist, dem Patienten eine Behandlung möglichst früh angeboten wird und dieser die Medikamente regelmäßig und lebenslang einnimmt (Fätkenheuer 2015). Trotz der verbesserten medizinischen Behandlung der HIVInfektion bleibt die Suche nach wirksamen psychotherapeutischen/psychosozialen Interven tionen für die Patienten erhalten. Zum einen ließen sich die unter den früheren medizinischen Behandlungsformen gefundenen psychoimmunologischen Zusammenhänge auch in Ulrike Rastin
Die Patienten waren nicht leicht für eine Gruppenteilnahme zu gewinnen, nahmen aber – trotz der aufwendigen Begleiterhebungen – zuverlässig an den Sitzungen teil. Begünstigend für eine Gruppenzusage erwiesen sich positive Vorerfah-
rungen mit (semi-)professioneller Hilfe, ein eher biospsychosoziales Krankheitsverständnis und ein erfolgreiches »sich bekennen« zur Infektion gegenüber bedeutsamen Personen. Die erbetene Beurteilung der Therapieelemente erbrachte eher eine Ablehnung der Entspannungs-, aber eine hohe Zustimmung zu den Informationseinheiten. Die Therapeuten lernten, dass die Teilnehmer es schätzten, wenn sie aktiv waren und die Sitzung gut strukturierten. Hilfreich waren auch die vorund nachbereitenden Einzelsitzungen.
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E r r e i c h t Ps y c h o t h e r a p i e d a s I m m u n s y s t e m v o n H I V - Pa t i e n t e n ? 9
der Ära von HAART bestätigen. Psychosoziale Faktoren haben entscheidenden Einfluss auf die Biomarker der HIV-Erkrankung, das heißt, sie sagen Veränderungen in den CD4-Zellen und der Viruslast vorher (zum Beispiel Ironson et al. 2005). Zum anderen sprechen HIV-Patienten auch auf die neue Behandlung nach wie vor variabel an. Es werden abgesicherte psychosoziale Interventionen gesucht, die die Krankheitsprogression verlangsamen und sich sowohl auf den Immunstatus als auch auf die psychische Anpassung (im Sinne von Gesundheit schützen, Risikoverhalten vermindern und Therapietreue sicherstellen) günstig auswirken (Gonzales et al. 2011). Die psychologischen Interventionen können primär auf eine Verminderung negativer Faktoren wie depressive Symptome, Stresserleben und ungünstige Stressverarbeitung (zum Beispiel vermeidendes Coping) abzielen oder auf die Stärkung positiver Faktoren wie Optimismus, Selbstwirksamkeitserleben und günstiges aktives Coping ausgerichtet sein. Wie verschiedene Längsschnittuntersuchungen nachweisen (Carrico und Antoni 2008), wirken beide Arten von Interventionen verlangsamend auf die Krankheitsprogression, wenn es de facto gelingt, die psychische Anpassung zu verbessern. Das Ausmaß der Veränderung in der psychischen Anpassung bestimmt also die Auswirkungen auf die somatische Ebene, ablesbar an den Biomarkern des Immunstatus und der neuroendokrinen Regulation. Eine verbesserte psychische Anpassung hat wiederum positive Auswirkungen auf die Therapietreue. Dabei war die Spannweite der untersuchten Interventionen sehr groß: kognitiv-behavioral, interaktionell, Entspannung, körperliche Ertüchtigung allein oder in Kombination. Bei der HIV-Infektion bestehen also belegbare psychosomatische Zusammenhänge, was sich sowohl aus früheren als auch späteren Studien schließen lässt. Die HIV-infektion hat sich – wenn früh entdeckt – zu einer chronischen, gut behandelbaren Krankheit mit im Mittel nahezu normaler
Lebenserwartung entwickelt. Sie bleibt aber mit beträchtlichen Beeinträchtigungen der Lebens qualität verbunden, was sich durch die erzwungene regelmäßige Medikamenteneinnahme, den Umgang mit und die Angst vor Nebenwirkungen, die permanente Sorge um das Versagen der Therapie, Zukunftsängste, soziale Isolation und mehr erklärt. Dies kann immer wieder das Selbstwertgefühl erschüttern und zu Stimmungsschwankungen oder Depressionen führen. Umso erfreulicher ist es, dass schon kurze, gegebenenfalls sich wiederholende psychologische Hilfen, die das Finden von Sinn und Hoffnung unterstützen, ausreichten, um die Anpassung und damit den Krankheitsverlauf günstig zu beeinflussen. Dr. Ann Schaefer, Dipl.-Psych., ist in Köln niedergelassene Psychologische Psychotherapeutin (Fachkunde in Gesprächstherapie, Verhaltenstherapie und EMDR bei Erwachsenen im Einzel- und Gruppensetting) sowie Dozentin, Supervisorin und Gutachterin. E-Mail: [email protected] Literatur Carrico, A. W.; Antoni, M. H. (2008). The effects of psychological interventions on neuroendocrine hormone regulation and immune status in HIV-positive persons. In: Psychosomatic Medicine, 70/5, S. 575–584. Fätkenheuer, G. (2015). HIV-Therapie: Je früher, desto besser. Pressemitteilung des Deutschen Zentrums für Infektionsforschung. 6.5.2015. Gonzales, J. S.; Batchelder, A. W.; Psaros, C.; Safren, S. A. (2011). Depression and HIV/AIDS treatment nonadherence: A review and metanalysis. In: JAIDS – Journal of Acquired Immune Deficiency Syndrome, 58/2, S. 181–187. Ironson, G.; O’Cleirigh, C.; Fletscher, M. A.; Laurenceau, J. P.; Balbin, E.; Klima, N.; Schneiderman, N.; Solomon, G. (2005). Psychosocial factors predict CD4 and viral load change in men and woman with human immunodeficiency virus in the era on highly active antiretroviral treatment. In: Psychomatic Medicine, 67/6, S. 1013–1014. Marcus, U. (2006). HIV und AIDS. Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Heft 31. Berlin. Salzberger, B. (2014). HIV-Prognose deutlich verbessert. In: Der Allgemeinarzt, 36/2, S. 46–48. Schaefer, A. (1998). Zum Einfluss ambulanter Gruppentherapie auf das psychische und körperliche Wohlbefinden von HIV-positiven homo- und bisexuellen Männern im Krankheitsstadium WR 1–3. Dissertation an der Universität-Gesamthochschule Essen.
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Der Körper trauert mit Psychoneuroimmunologie der Trauer
Carmen Hagen und Christian Schubert Der Tod von emotional nahestehenden Bezugspersonen, etwa der Lebenspartnerin oder des Lebenspartners, zählt zu den belastendsten Ereignissen im Leben eines Menschen und ist mit erhöhter Morbidität und Mortalität der oder des Hinterbliebenen assoziiert. Boyle und Kollegen bestätigen, basierend auf Daten der Scottish Longitudinal Study (SLS), den schon seit den 1960er Jahren beschriebenen »widowhood effect«, der interessanterweise auch unabhängig von gemeinsamen Lifestyle-Faktoren der Ehepartner auftritt: Frauen weisen in den Jahren nach Verlust des Ehepartners im Durchschnitt ein um 36 Prozent, Männer ein um 40 Prozent erhöhtes Sterberisiko im Vergleich zu nicht verwitweten Personen im gleichen Zeitraum auf. Das Sterblichkeitsrisiko ist dabei in den ersten sechs Monaten nach dem Verlust am höchsten und bleibt für zumindest zehn Jahre erhöht (Boyle et al. 2011). Die Ergebnisse dieser Studie sind eindrücklich und es stellt sich die Frage, wie diese Zusammenhänge zwischen dem emotionalen Erleben von Trauer und den somatischen Ereignissen von Krankheit und Tod erklärt werden können. Psychoneuroimmunologie Die Psychoneuroimmunologie (PNI) erforscht seit ihrer Begründung in den 1970er Jahren die Wechselwirkungen von Psyche, Nervensystem und Immunsystem und überwindet dabei jene Grenze zwischen Körper und Geist, welche die naturwissenschaftlich orientiere Medizin insbesondere seit dem Aufkommen der Zellularpathologie Ende des 19. Jahrhunderts gezogen hat (Schubert 2015). Robert Ader und Nicholas Cohen schreiben zu
den damals verblüffenden Ergebnissen zur Konditionierung des Immunsystems: »Such data (…) suggest a mechanism that may be involved in the complex pathogenesis of psychosomatic disease and bear eloquent witness to the principle of a very basic integration of biologic and psychologic function« (Ader und Cohen 1975, S. 339). Mittlerweile gehört zu den Grundlagen der PNI, dass Nervensystem, Immunsystem und endokrines System über eine »gemeinsame biochemische Sprache«, bestehend aus gemeinsamen Botenstoffen und deren Rezeptoren, verfügen. Durch die Übersetzung von exogenen Sinnesreizen in Botenstoffe eines »immuno-neuroendokrinen Netzwerks« nimmt die äußere Umwelt Einfluss auf den Organismus (Schubert 2017). Stress und Immunsystem Thematisch gesehen hat sich die PNI bis dato insbesondere mit den Auswirkungen von Stress auf das Immunsystem beschäftigt. Stressoren wirken über die zentralnervöse Aktivierung von sympathischen Fasern direkt auf die lymphatischen Organe (Knochenmark, Thymusdrüse, Milz und Lymphknoten) und auch indirekt durch die durch den Sympathikus vermittelte Freisetzung von Adrenalin und Noradrenalin aus dem Nebennierenmark. Über die Aktivierung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrindenachse (hypothalamic-pituitary-adrenal axis, HPA-Achse) wird Cortisol aus der Nebennierenrinde ausgeschüttet. Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol, sowie direkt aus dem Gehirn freigesetzte Substanzen wie beispielsweise Melatonin (Epiphyse), regulieren Funktion und Verteilung der Leukozyten
Leidfaden, Heft 4 / 2017, S. 10–14, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202
D e r K ö r p e r t r a u e r t m i t 1 1
Zytokinmustern (Signalstoffen) zu einer Umgewichtung von Funktionen innerhalb des spezifischen Immunsystems. T-Helfer-Typ 1 (TH1)Zytokine aktivieren die zelluläre Immunantwort, welche die Abwehr insbesondere viraler Erreger und die Entfernung körpereigener entarteter Zellen (Krebszellen) bewerkstelligt. T-Helfer-Typ 2 (TH2)-Zytokine stimulieren die humorale Immunantwort (Antikörper). Chronischer Stress ist unter anderem mit einer Umgewichtung von TH1zu TH2-Zytokinen (»TH1/TH2-shift«) und damit mit einem verminderten Schutz vor Erregern und entarteten Zellen bei gleichzeitiger Zunahme von Allergien und Autoimmunkrankheiten verbunden (Segerstrom und Miller 2004).
Der Verlust eines geliebten Angehörigen stellt eine akute Stresssituation dar, denn er fordert eine tiefgehende und identitäts verändernde Anpassungsreaktion des Individuums. Der Körper reagiert darauf mit den physiologischen Anpassungsvorgängen der allgemeinen Stressantwort.
(Neuro-)Physiologie der Trauer Der Verlust eines geliebten Angehörigen stellt eine akute Stresssituation dar, denn er fordert eine tiefgehende und identitätsverändernde Anpassungsreaktion des Individuums. Der Körper reagiert darauf unter anderem mit den physiologischen Anpassungsvorgängen der allgemeinen Stressantwort (»fight-or-flight-reaction«), was mit
einer Ausschüttung von Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol verbunden ist. Blutdruck und Herzfrequenz steigen und die Funktion des Immunsystems wird angepasst – entzündliche Aktivität wird gesteigert und spezifisch protektive Immunität verringert. Trauer lässt sich jedoch als eine Sonderform von Stress sehen. Die attachment-theory beschreibt die Bindung zwischen Geliebten als das
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Auguste Rodin, Sorrow (No. 2), c.1887 / Philadelphia Museum of Art, Pennsylvania, PA, USA / Bridgeman Images
(weiße Blutkörperchen, Immunzellen). Auch die Anpassung des Verhaltens in Stressphasen, wie veränderte Schlaf- und Essgewohnheiten, beeinflussen die Funktion des Immunsystems. Dabei ist die Dauer der Stresseinwirkung von entscheidender Bedeutung: Akute Stresssituationen sind mit einer Aktivierung des angeborenen Immunsystems verbunden, welches für die erste, unspezifische Abwehrreaktion des Körpers gegenüber Erregern zuständig ist. Gleichzeitig geht akuter Stress mit einer Reduktion der Aktivität des spezifischen Immunsystems einher, welches für die gezielte, angepasste Erregerabwehr nach ca. 96 Stunden verantwortlich zeichnet. Chronischer Stress führt über eine Verschiebung von
David-W- / photocase.de
Produkt eines Lernprozesses, an dessen Ende spezifische mentale Schemata und entsprechende Verhaltensmuster stehen. Bei der Ausbildung und Aufrechterhaltung dieser Verhaltensmuster sind das Dopaminsystem, das Opioidsystem sowie das Hormon Oxytocin von Bedeutung. Der Tod der Bezugsperson erfordert nun einen speziellen Anpassungsvorgang, im Zuge dessen sich das mentale Schema der alten Beziehung grundlegend verändert und die entsprechenden Verhaltensmuster angepasst werden müssen. Dieser Prozess bedeutet Stress, ist in der Regel emotional schmerzhaft und braucht Zeit. Auf neuronaler Ebene findet der Verlust der Bezugsperson messbaren Ausdruck in einer gesteigerten Aktivität spezifischer kortikaler Areale wie unter anderem des dorsalen anterioren cingulären Cortex (dACC) und der Inselrinde – Hirnareale, deren Aktivität mit dem Erleben von körperlichem oder sozialem Schmerz assoziiert wird (O’Connor 2012). Körperliche Trauer Trauer und Stress liegen also nah beieinander und das »System Mensch« reagiert darauf mit komplexen, multidimensionalen Aktivitätsveränderungen. Das heißt, wenn eine Person psychisch trauert, trauert – ganz entsprechend der biopsychosozialen Modellannahme – auch der Körper: Eine Studie wies nach, dass das Risiko, an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung wie zum Beispiel einem Herzinfarkt oder Schlaganfall zu versterben, nach Verlust des Lebenspartners oder der Lebenspartnerin relativ um 18 Prozent, je-
nes, an einer Krebserkrankung zu versterben, um 12 Prozent erhöht ist (Hart et al. 2007). Die PNI erforscht die noch weitgehend unbekannten (patho-)physiologischen Mechanismen, welche das Erleben der Trauer mit diesen somatischen Endpunkten verbinden. Forschungsergebnisse zeigen eine neuroendokrine Aktivierung mit erhöhten Cortisol-Spiegeln in der frühen Phase der Trauer. Dieser Cortisol-Anstieg ist ein Schlüsselmechanismus der »körperlichen Trauer«, denn Cortisol wirkt sowohl auf das kardiovaskuläre System als auch auf das Immunsystem und ist unter anderem mit reduzierter Immunfunktion, erhöhtem kardiovaskulären Risiko und reduzierter Lebensqualität assoziiert. Schlafprobleme sind neben anderen Symptomen häufig Ausdruck dieser neuroendokrinen Aktivierung und für die Betroffenen oft sehr belastend. Aus der Depressionsforschung sind die engen bidirektionalen Wechselwirkungen zwischen Schlaf und depressiven Symptomen bekannt, welche Schlaf zu einem wichtigen potenziellen Angriffspunkt für therapeutische Interventionen im Rahmen der Trauerbegleitung machen, insbesondere im Fall der komplizierten Trauer (Buckley et al. 2012). Das Immunsystem reagiert bei der neuroendokrinen Aktivierung des oder der Trauernden mit einer veränderten Anzahl und Funktion von Immunzellen und deren Signalstoffen. Die »Trauerreaktion des Immunsystems« ist dabei ein dynamischer Prozess, ist abhängig von der individuellen Art der Trauerbewältigung und dürfte eine bestimmte Abfolge haben. Ob die unterschiedlichen immunologischen Trauerphasen jedoch den von verschiedenen Autoren (unter anderem Yorick Spiegel, Verena Kast) beschriebenen psychologischen Trauerphasen bio-psychosozial entsprechen, ist noch unklar. In den ersten Wochen der Trauer kommt es jedenfalls zu einer Zunahme an neutrophilen Granulozyten (Immunzellen zur unspezifischen Abwehr von Bakterien) sowie deren Entzündungsmediatoren. In den folgenden Monaten zeigt sich dann eine
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Abnahme der Funktionalität neutrophiler Granulozyten sowie eine verringerte Stimulierbarkeit von T-Lymphozyten (Immunzellen der spezifischen Abwehr) (Bartrop et al. 1977). Zudem kommt es in den Folgemonaten zu einer Abnahme von natürlichen Killerzellen, welche für die unspezifische Abwehr von Viren und entarteten Zellen wichtig sind (Irwin et al. 1988). Das Immunsystem reagiert also im Prozess der Trauer unter anderem mit gesteigerter Entzündung sowie reduzierter Abwehr von Erregern von außen und entarteten Zellen im eigenen Körper. Untersuchungen legen nahe, dass chronische Entzündung ein bedeutender kardiovaskulärer Risikofaktor ist und außerdem über verschiedene immunologische und genetische Mechanismen die Entstehung und Verbreitung von Krebszellen fördert. Entzündung verändert aber auch rückwirkend die emotionale Befindlichkeit und das Verhalten und aktiviert im Organismus einen Modus der körperlichen Schonung (unter anderem Erschöpfung) und des sozialen Rückzugs (sickness behavior). Dies dürfte mit tagelangen Verzögerungszeiten und komplexen immuno-psychischen und psycho-immunen Feedbackschleifen einhergehen, wie integrative Einzelfallstudien zeigen können (zum Beispiel Schubert und Hagen, zur Publikation eingereicht). Das CARBER (Cardiovascular Risk in Bereavement)-Projekt untersuchte die hämodynamischen Veränderungen in der akuten Trauerphase (nach zwei Wochen) sowie nach sechs Monaten. Sowohl Herzfrequenz als auch Blutdruck waren zwei Wochen nach dem Todesfall signifikant erhöht. Nach sechs Monaten hatte sich die Herzfrequenz wieder normalisiert. Der Blutdruck war ebenfalls niedriger als nach zwei Wochen, blieb jedoch weiter erhöht. Eine darüber hinaus nachgewiesene verstärkte Aktivierung von Blutplättchen (Thrombozyten) sowie erhöhte Werte des Von-Willebrand-Faktors in den ersten Wochen der Trauer lassen zudem – wie auch erhöhter Blutdruck und gesteigerte Herzfrequenz – das Risiko für ein thrombo-embolisches Ereignis wie
Im Rahmen einer anhaltenden, ausgeprägten Trauerreaktion können die kardiovaskulären und immunologischen Veränderungen und die damit verbundenen Gesundheitsrisiken andauern.
Herzinfarkt oder Schlaganfall ansteigen (Buckley et al. 2012). Coping Im Rahmen einer normalen Trauerreaktion sind die dargestellte Erhöhung des Cortisol-Spiegels, die kardiovaskulären und immunologischen Veränderungen sowie die Schlafprobleme nach ca. sechs Monaten rückläufig. Bei einer anhaltenden, ausgeprägten Trauerreaktion können diese Veränderungen und die damit verbundenen Gesundheitsrisiken jedoch andauern. Lindstrøm und Kollegen zeigen, dass gutes Coping in der Trauerphase – hier definiert als Erwartungshaltung, die Herausforderung bewältigen zu können – mit einer signifikant subjektiv besser empfundenen Gesundheit zwölf Monate nach dem Verlust assoziiert ist (Lindstrøm et al. 1997). Studien zeigen andererseits, dass vermeidendes Verhalten sowie andauernde dysphorische Stimmung (negatives Coping) mit besonders ausgeprägten immunologischen Veränderungen in der Trauerphase verbunden sind. Der individuelle Umgang mit dem Verlust scheint also sowohl die Ausprägung der Immunveränderungen als auch die subjektive Wahrnehmung des Gesundheitsstatus zu beeinflussen und ist somit ein wichtiger potenzieller Ansatzpunkt für therapeutische Interventionen. Fazit: Der Körper trauert mit Wenn eine geliebte Person geht, geht auch ein Teil der eigenen Identität. In Verbindung mit
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Psychoneuroimmunologie im Lauf des Lebens 1 4 C a r m e n H a g e n u n d C h r i s t i a n S c h u b e Das r t Unsichtbare hinter dem Sichtbaren Wege zu einer neuen Medizin – 2. PNI-Kongress 14.–16. September 2018 in Innsbruck www.psychoneuroimmunologie-kongress.at
Literatur
der Neugestaltung des sozialen Lebens bildet der Geist neue mentale Schemata und das Gehirn neue neuronale Muster aus. Dies bedeutet Stress für das komplexe biopsychosoziale System Mensch. Der Körper reagiert darauf unter anderem mit einer akuten Stressantwort, mit Blutdruck- und Herzfrequenzerhöhung, veränderten Schlafmustern sowie gesteigerter Entzündung bei gleichzeitig erniedrigter Abwehr gegen Viren und Krebszellen. Trauern ist ein Ausnahmezustand – für Körper und Geist. Das Bewusstsein dafür ist für Betroffene wie auch für jene Menschen, welche Trauernde begleiten, von großer Bedeutung. In der akuten Trauerphase sollten insbesondere Menschen mit Risikoprofil auch medizinisch begleitet werden. Länger als sechs Monate andauernde psychische und körperliche Veränderungen können wiederum ein Hinweis auf eine komplizierte Trauerreaktion sein, was eine psychotherapeutische Begleitung notwendig machen kann. Dabei sind die bidirektionalen Wechselwirkungen zwischen Körper und Geist wichtige Ansatzpunkte für therapeutische Interventionen zur Verringerung von Gesundheitsrisiken und zur Besserung der Lebensqualität in Zeiten der Trauer, denn: Unser Körper trauert mit – und erzählt uns davon. Dr. univ. med. Carmen Hagen ist Ärztin in Ausbildung zur Ärztin für Allgemeinmedizin am Universitätsklinikum Tulln an der Donau, Österreich, und derzeit Assistenzärztin in der Abteilung für Neurologie. E-Mail: [email protected]
Ader, R.; Cohen, N. (1975). Behaviorally conditioned immunosuppression. In: Psychosomatic Medicine, 37, S. 333–340. Bartrop, R. W.; Luckhurst, E.; Lazarus, L.; Kiloh, L. G.; Penny, R. (1977). Depressed lymphocyte function after bereavement. In: Lancet, 1, S. 834–836. Boyle, P. J.; Feng, Z.; Raab, G. M. (2011). Does widowhood increase mortality risk? Testing for selection effects by comparing causes of spousal death. In: Epidemiology, 22, S. 1–5. Buckley, T.; Sunari, D.; Marshall, A.; Bartrop, R.; M cKinley, S.; Tofler, G. (2012). Physiological correlates of bereavement and the impact of bereavement interventions. In: Dialogues in Clinical Neuroscience, 14, S. 129–139. Hart, C.; Hole, D.; Lawlor, D.; Smith, G.; Lever, T. (2007). Effect of conjugal bereavement on mortality of the bereaved Sponse in participants of the Renfrew/Paisley Study. In: Journal of Epidemiology and Community Health, 61, S. 455–460. Irwin, M.; Daniels, M.; Risch, S.; Bloom, E.; Weiner, H. (1988). Plasma cortisol and natural killer cell activity during bereavement. In: Biological Psychiatry, 24, S. 173–178. Lindstrøm, T. C. (1997). Immunity and health after bereavement in relation to coping. In: Scandinavian Journal of Psychology, 38, S. 253–259. Schubert, C. (Hrsg.) (2015). Psychoneuroimmunologie und Psychotherapie. 2. Auflage. Stuttgart 2015. Schubert, C. (2017). Bewusstwerdung als Heilung – die Wirkung künstlerischen Tuns auf das Immunsystem. In: Spreti, F. von; Martius, P.; Steger, F. (Hrsg.), KunstTherapie (S. 43–128). Stuttgart. Schubert, C.; Hagen C.: On the functional cause-effect relations between interleukin-6 and mood, irritation and mental activity in a breast cancer survivor. (zur Publikation eingereicht) Segerstrom, S.; Miller, G. E. (2004). Psychological stress and the human immune system: A meta-analytic study of 30 years of inquiry. In: Psychological Bulletin, 130, S. 601–630. Aus Platzgründen können hier nur ausgewählte Referenzen angegeben werden, für spezifische Referenzangaben kontaktieren Sie bitte die Autoren. Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. M. Sc. Christian Schubert ist Arzt, Psychologe und Psychotherapeut (psychodynamische Psychotherapie) und Leiter des Labors für Psychoneuroimmunologie an der Klinik für Medizinische Psychologie, Department für Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Universität Innsbruck, Österreich, sowie der Arbeitsgruppe Psychoneuroimmunologie des Deutschen Kollegiums für Psychosomatische Medizin (DKPM). E-Mail: [email protected]
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Kongresshinweis:
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Psychotherapie bei psychosomatischen Erkrankungen Astrid Nestvogel Psychosomatische Erkrankungen sind körperliche Erkrankungen, bei denen psychische Ursachen vorliegen und daher Psychotherapieverfahren als Behandlung angewendet werden. Oft ist den Patienten und Patientinnen nicht bewusst, dass ungelöste Konflikte körperliche Symptome verursachen, wie Kopfschmerzen, Verdauungsprobleme, Entzündungen, Blutdruckprobleme, Nierenerkrankungen etc. Meistens gehen sie zu einem für diesen Körperteil zuständigen Facharzt wie Internisten, Urologen, Gynäkologen etc., damit dieser die körperliche Symptomatik zum Stillstand bringt. Bleibt sie resistent gegen Behandlungen, wie zum Beispiel ein nicht einstellbarer Bluthochdruck, könnte dies ein Hinweis für eine psychische Ursache sein und von einem Facharzt für Psychosomatische Medizin abgeklärt werden. Er überlegt, welche von den gesetzlichen Krankenkassen finanzierte Therapieform (Tiefenpsychologisch fundierte Therapie, Analytische Therapie, Verhaltenstherapie) angebracht ist. Die Verhaltenstherapie kümmert sich um Auflösung der körperlichen Symptomatik, in der Tiefenpsychologisch fundierten und Analytischen Therapie geht es zunächst nicht darum, sondern erst einmal um das Verständnis dieser Sprache. Die Seele spricht kein Deutsch und drückt sich anders aus. Wenn sie sich verstanden fühlt, belohnt sie ihren Körper: Sie hat ihr Ziel erreicht, und es geht in der weiteren Therapie darum, den dahinter liegenden ungelösten Konflikt zu erkennen. Oft ist ein traumatisches Ereignis der Auslöser für eine körperliche Erkrankung. Der Auslöser zeigt, dass das Maß des Erträglichen voll ist, das Fass kommt zum Überlaufen. Die körperli-
che Symptomatik kann nun positiv genutzt werden und stellt eine Aufforderung dar, zu gucken, was sich in dem Fass alles angesammelt hat. Die körperliche Symptomatik ist also nicht der Feind, sondern ein Schutz vor Zerstörung. Vielleicht kann man es mit der roten Signallampe im Auto vergleichen, die mich darauf aufmerksam macht, etwa das Öl nachzufüllen. Drehe ich die Lampe einfach nur aus, weil ich mich erschrecke, entsteht ein Schaden, bis der Motor kaputt ist. Ähnlich ist es mit körperlichen Beschwerden, hinter denen eine psychische Unverträglichkeit steht. Sie sind eine Chance, mich besser zu verstehen, und daraus können sich Fähigkeiten entwickeln, die mir meine Seele dann als Belohnung zur Verfügung stellt. Habe ich beispielsweise durch einen Unfall meine Sehfähigkeit verloren, versuchen meine anderen Sinne dies zu kompensieren, ich entwickle eine besondere Sensibilität, die dann zu meiner Persönlichkeit gehört und mich trotz dieses schweren Verlustes wachsen lässt. Dort hinzukommen wäre das Ziel einer Analytischen oder Tiefenpsychologisch fundierten Therapie. Ressourcen für dieses Ziel lassen sich oft ohne Hilfe nicht erschließen, weil wir mit solch schweren Verlusten wenig Übung haben. Sie sind aber in der Evolution vorgesehen und können gefunden werden. Manche psychosomatischen Erkrankungen lösen sich trotz Verständnis für die dahinterliegenden Konflikte nicht mehr auf. Es gilt, mit ihnen zu leben und dankbar zu sein, wenn sie sich nicht verschlimmern. Das Leben kann plötzlich drastisch verändert sein (Verlust eines Körperteiles, Schmerzen etc.). Auch hier kann psychotherapeutische Hilfe das Leben als trotzdem wertvoll
Leidfaden, Heft 4 / 2017, S. 15–17, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202
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Hinter der psychischen Ursache einer psychosomatischen Erkrankung steht ein direkter und indirekter Konflikt, den es in der Therapie herauszufinden gilt. Hat zum Beispiel jemand ein Magengeschwür, das sich besonders meldet, wenn er sich mit seiner Frau streitet, könnte der dahinterliegende direkte Konflikt sein, dass er schwerwiegende Dissonanzen mit ihr hat, seine Frau aber nicht zu kritisieren wagt. Es wird dabei so viel
Ernst Ludwig Kirchner, Ruhendes Mädchen mit Kopfschmerzen, 1906 / akg-images
und erfüllend erkennen lassen. Habe ich zum Beispiel meine Gehfähigkeit verloren, sollte ich mich irgendwann wieder über alles freuen können, was mit Laufen nichts zu tun hat: Interessen, Naturerlebnisse, Menschen, die meine Behinderung annehmen; denn ich bestehe ja nicht nur daraus. In einer Psychotherapie könnten mir die Werte, die geblieben sind, umso bewusster werden und mich mit Dankbarkeit erfüllen.
In einer Psychotherapie könnten mir die Werte, die geblieben sind, umso bewusster werden und mich mit Dankbarkeit erfüllen.
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Ps y c h o t h e r a p i e b e i p s y c h o s o m a t i s c h e n E r k r a n k u n g e n 1 7
Magensäure durch das vegetative Nervensystem angeregt, dass die Magenwände angedaut werden: Ein Geschwür bildet sich. Das psychische Problem ist jetzt somatisch geworden, man könnte es bildlich darstellen, und das hat nichts mit Einbildung zu tun. In der Therapie geht es dann um die Klärung, warum Meinungsverschiedenheiten ihn so krank machen. Dabei könnte herauskommen, dass er große Hemmungen hat, sich zu behaupten, man kommt dem indirekten Konflikt auf die Spur, der mit der Vergangenheit zu tun hat. Vielleicht hatte er sehr strenge Eltern, die keine Streitkultur zuließen. Um diese Situationen nicht wieder erleben zu müssen, frisst er lieber alles in sich hinein und wird körperlich krank. Durch diese Schwächung kann auch das Immunsystem in Mitleidenschaft gezogen werden: Keime, die sonst abgewehrt werden, verursachen Krankheiten wie im Winter grippale Infekte oder so schwerwiegende Infektionen, dass sie das menschliche Gewebe krebsartig verändern wie das Stäbchenbakterium Helicobacter Pylori im Magen. Bei einer psychisch verursachten körperlichen Erkrankung kann durch Aufdecken der dahinterliegenden Konflikte eine verblüffende Veränderung auftreten. Die Heilung passiert in dem Prozess der Bewusstmachung. Der Patient interessiert sich zunehmend für den dahinterliegenden »Sinn« der körperlichen Erkrankung. Wird dieser verstanden, ist die Krankheit nicht mehr nötig. Man könnte die Krankheit als Botschaft der Seele bezeichnen, die eine Auseinandersetzung mit inneren Zuständen erreichen will. Übergeht man die Krankheit, lässt sich die Seele Schärferes einfallen. Neben den erwähnten von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlten Therapien gibt es integrative Therapien wie Gestalttherapie, Psychodrama, Bioenergetik etc., die dasselbe Ziel verfolgen. Allerdings werden Methoden eingesetzt, die den Körper einbeziehen. Versperrte Gefühle werden so freigesetzt, über die dann gesprochen wird. Lässt man beispielsweise in der Bioenergetik den Patienten eine halbe Stunde mit anderen
im Kreis Hand in Hand springen, kann durch diese körperliche Verausgabung ein Kanal zu blockierten Gefühlen freigelegt werden, die dann mit dem Therapeuten bearbeitet werden. In der Gestalttherapie erzeugt man die Freilegung von blockierten Gefühlen zum Beispiel durch Rollenspiel. Im Psychodrama wird eine bestimmte Szene aus dem Leben des Patienten gespielt, wobei dieser wechselnd in andere Personen hineinschlüpft. Er bekommt viele Informationen, die ihm etwas bewusst machen. Auch hier entsteht Heilung über das Bewusstsein und die Selbstverantwortung für die Gesundheit. Vielleicht liegt hier auch der Grund für die Scham, eine psychosomatische Erkrankung zu haben. Bei einer körperlichen Erkrankung kann man sich unschuldig fühlen, man hat nicht versagt, der Körper ist es, der nicht funktioniert. Eine psychosomatische Krankheit zeigt Schwäche und Grenzen, für die man sich schämt: Man hat scheinbar etwas falsch gemacht, ist dumm und schwach. Und gerade das ist der Erfolg einer psychosomatischen Therapie: seine eigenen Schwächen und Grenzen erkennen und erlauben, sie nicht als Widerspruch zu seinen Stärken und Fähigkeiten zu empfinden. Über die psychosomatische Erkrankung erfährt man etwas, was man sonst nie erfahren hätte. Wir alle kennen Menschen, die nach einer Krankheit gewachsen sind und geläutert daraus hervorgehen; sie verändern Prioritäten, werden wertschätzender anderen und sich selbst gegenüber. Dr. med. Astrid Nestvogel absolvierte eine Schauspielausbildung und studierte nach Engagements an Theatern und während verschiedener Fernsehproduktionen Medizin. Sie ist heute in Berlin-Steglitz als Fachärztin für Psychosomatische Medizin in eigener Praxis tätig und ausgebildet in Tiefenpsychologisch fundierter Therapie, Gestalttherapie, Hypnose, EMDR-Traumatherapie, Psycho therapie für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen. Im Fernsehen hatte sie Auftritte als Ärztin zu Themen wie Mobbing, das Unbewusste, Hypnose, Sprachstörungen.
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Wenn der Stress krank macht Johann Caspar Rüegg Stress ist der Inbegriff eines psychosomatischen Geschehens. Wir denken zum Beispiel an Lärm am Arbeitsplatz und andere ungünstige Umweltbedingungen, aber auch an psychosozialen und mentalen Stress. All dies kann somatische Störungen hervorrufen, etwa hohen Blutdruck, Herzrhythmusstörungen oder eine plötzliche Herzschwäche.
Nun in trauriger Gestalt, Und ich fühle dieser Schmerzen, Still im Herzen Heimlich bildende Gewalt. (…) Niemand ahnet, daß von Schmerzen Herz in Herzen Grimmig mir zerrissen ist. (…)
Ein Herz und eine Seele Mehr als jedes andere Organ reflektiert unser Herz den Einfluss der Psyche auf das Somatische, was – wie wir alle wissen – auch in so machen Redewendungen zum Ausdruck kommt. So kann uns »vor Schreck fast das Herz stillstehen« und bei Trauer wird einem »schwer ums Herz«, doch wenn der Kummer weg ist, »fällt ein Stein vom Herzen« und es »schlägt höher« vor Freude, wie der Volksmund sagt. Aber oftmals pocht und schmerzt das Herz, wenn wir uns aufregen und »Stress haben«. Einfühlsam nachempfunden hat solch seelisches Herzleid Johann Wolfgang von Goethe in seiner Ode »An Mignon«, jenes rätselhafte literarische Wesen im »Wilhelm Meister«, das psychosomatisch krank ist und dann vor Herzleid stirbt – an gebrochenem Herzen: Über Tal und Fluß getragen Ziehet rein der Sonne Wagen. Ach, sie regt in ihrem Lauf, So wie deine, meine Schmerzen Tief im Herzen Immer morgens wieder auf! Kaum will mir die Nacht noch frommen, Denn die Träume selber kommen
Gebrochene Herzen Tatsächlich »bricht« es manchen Menschen bei Herzleid das Herz, und dies fast buchstäblich. Ärzte sprechen von einem Broken-Heart-Syndrom oder auch von Stress-Kardiomyopathie. Betroffen sind meist ältere Frauen und nicht selten ist ein Trauerfall in der Familie der Auslöser. So war es auch einer knapp siebzigjährigen Dame nach dem Tod ihres Bruders ergangen. In den Wochen danach fühlte sie sich enorm gestresst und sehr schwach. Schon die geringste körperliche Anstrengung hatte sie außer Atem gebracht, und dann hatte sie plötzlich intensive Herzschmerzen verspürt, die bis in die Arme ausstrahlten. Ihr Herz pochte gewaltig, sie klagte über Atemnot und fürchtete um ihr Leben. Zunächst vermutete der Hausarzt – nicht überraschend – einen Herzinfarkt. Doch zum Glück gab es nach der gründlichen Untersuchung in der Klinik Entwarnung – also doch kein Infarkt; es handelte sich »nur« um ein Broken-Heart-Syndrom. Ohne Frage ist diese Erkrankung ein stressbedingtes psychosomatisches Leiden, das, wie so
Leidfaden, Heft 4 / 2017, S. 18–21, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202
Alexej von Jawlensky, Abstrakter Kopf: Stummer Schmerz, 1927 / akg-images
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Dass ein lang anhaltender Stress auch der Gesundheit schadet, wissen gerade die trauernden Witwen und Witwer am besten, die unter ihrer Einsamkeit leiden.
manche Herzprobleme, im Zusammenhang mit den Lebenserfahrungen – der Biographie – eines Menschen gesehen werden sollte (Rüegg 2017). Die »Krankheit des gebrochenen Herzens« wird wie gesagt auch als Stress-Kardiomyopathie bezeichnet. Bei Überwältigung durch großen emotionalen Stress können Herz und Kreislauf mit den Stresshormonen Adrenalin und Noradrenalin geradezu überflutet werden und Herzschwäche mit Pumpversagen, Brustschmerzen, Luftnot und Blutdruckabfall können die Folge sein, genau wie bei einem Herzinfarkt, allerdings ohne die entsprechenden Veränderungen der Herzmuskulatur und Herzkranzgefäße Diese sind nicht verengt oder gar blockiert. Hingegen ist das Herz in der Regel kurios verformt, weil die Herzspitze ballonförmig auftrieben ist. Das geschwächte und im Bereich der Herzspitze erweiterte Herz sieht dann einem »Tako-Tsubo« ähnlich, einem krugförmigen Gefäß, das japanischen Fischern als Falle für Tintenfische dient, und daher sprachen die japanischen Erstbeschreiber der Krankheit von einer Tako-Tsubo-Kardio myopathie. Glücklicherweise kann dieses stressbedingte Herzleiden mit Medikamenten und menschlicher Zuwendung – beruhigenden Worten – gut therapiert werden. Meist gesunden die Herzleidenden in wenigen Tagen oder Wochen! Allerdings ist die Prognose nicht immer günstig,
gelegentlich kann es sogar zu potenziell tödlichen Komplikationen kommen, etwa zu schweren Herzrhythmusstörungen oder gar zum Herzversagen (Regnante et al. 2009). Wer einen geliebten Menschen verliert, dem »bricht« das Herz manchmal also nicht nur metaphorisch – zumal sich in den ersten Wochen der Trauerzeit das Risiko eines Herzinfarkts bis auf das Sechsfache steigert (Mosotofsky et al. 2012). Seelische Einflüsse auf das Herz sind nicht auf die leichte Schulter zu nehmen – vor allem wenn Herzleidende keinen starken Rückhalt in ihrem sozialen Umfeld und Ansprache durch enge Vertraute haben. Insofern wundert es auch nicht, dass alleinstehende Herzpatienten in der Regel eine deutlich schlechtere Prognose haben als solche mit einem verlässlichen Lebenspartner, mit dem sie sich austauschen können (Rüegg 2011, S. 53). Und dass – gemäß der Broken-Heart-Studie von Parkes und Mitarbeitern (1969) – auch die Sterblichkeit von (einsamen) Witwen und Witwern drastisch erhöht ist. Wie Einsamkeit die Gesundheit gefährdet Dass ein lang anhaltender Stress auch der Gesundheit schadet, wissen gerade die trauernden Witwen und Witwer am besten, die unter ihrer Einsamkeit leiden und deshalb oftmals in einer
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permanenten Stresssituation sind. Ihr (vegetatives) Nervensystem ist – unbewusst – strapaziert: Der Sympathikus ist überaktiv, während sein Gegenspieler, der Parasympathikus, gehemmt ist. Infolgedessen schütten die Nebennieren zu viele Stresshormone in die Blutbahn aus, insbesondere Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol. Folglich ist der Blutdruck erhöht, und das belastet das Herz. Außerdem ist die körpereigene Abwehr von Infekten beeinträchtigt. Notabene sind bei Einsamkeit sogar Gene betroffen, die das Immunsystem steuern (Rüegg 2017, S. 192). Das erkannten insbesondere Cole und Mitarbeiter (2015), die über viele Jahre hinweg regelmäßig das Blut von älteren, sehr einsamen Menschen untersuchten und die Aktivität von Genen in den weißen Blutkörperchen – den Immunzellen – bestimmten. Das Ergebnis: Die Aktivität (»Expression«) von Genen, die bei Entzündungsprozessen eine Rolle spielen, ist deutlich erhöht. Hingegen ist die Wirksamkeit von Genen, die der körpereigenen Abwehr von Viren dienen, drastisch reduziert. Beide Veränderungen bewirken nun einerseits ein Zuviel an chronischen Entzündungen, andererseits eine Schwäche der Immunabwehr. Daher überrascht es auch kaum, wenn gerade gestresste und einsame ältere Menschen nicht nur anfälliger für Erkältungen und andere Infekte sind, sondern auch häufiger an chronisch-entzündlichen Erkrankungen leiden, zum Beispiel an schmerzhaften rheumatischen Beschwerden. Umgekehrt bewirkt ein mentales Entspannungstraining (wie Yoga und Meditation) nicht nur eine Entspannung von Körper und Geist, sondern auch die Hemmung von Genen, die bei lang anhaltendem Stress und chronischen Entzündungen in Körperzellen überaktiv sind (Bhasin et al. 2013).
out oder gar in eine regelrechte Depression, die professionelle Hilfe erfordert. Entscheidend ist dann eine gute therapeutische Beziehung – die therapeutische Allianz (Roth und Strüber, 2014, S. 331) – im Gespräch von Arzt/Therapeut und Patient/Klient, die von gegenseitigem Vertrauen und Respekt geprägt ist. Hilfreich wäre auch ein guter Rückhalt im sozialen Umfeld, insbesondere mitfühlende Zuwendung und Ansprache durch enge Vertraute, die einen die eigenen Ressourcen erkennen lassen und Hoffnung geben. Wie gestresst man sich fühlt und wie man mit Stress, Einsamkeit und seelischem Schmerz umgeht, das hängt nicht nur vom Ausmaß des Stresses ab, sondern auch von der inneren Einstellung, etwa von Glaube und Zuversicht, den Stress kontrollieren und bewältigen zu können.
Stress und Psychosomatik Gerade bei den Einsamen mündet ein unbewältigter chronischer Stress bei entsprechender genetischer Veranlagung nicht selten in ein Burn-
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We n n d e r S t r e s s k r a n k m a c h t 2 1
Klar ist: Unkontrollierter Stress macht psychosomatisch krank; laut einer Studie der World Health Organisation (WHO, zitiert nach Ditzen und Stoffel 2016) sollen stressbedingte Beeinträchtigungen bis zum Jahr 2020 sogar die zweithäufigste Ursache von Krankheiten sein! Doch wie wir schon lange wissen, haben manche psychosomatischen Störungen, etwa häufige Angstzustände, ihre Ursache nicht nur in chronischem Stress, sondern auch in (zum Beispiel frühkindlichen) belastenden Erfahrungen und Konflikten, die im emotionalen Gedächtnis eingeschrieben sind – im Unbewussten. Traditionell gehört denn auch die Psychosomatik – mit so berühmten Vertretern wie Viktor von Weizsäcker, Alexander Mitscherlich und Thure von Uexküll – zu den hermeneutisch orientierten Wissenschaften,
etwa wenn es um das Deuten und Verstehen dessen geht, wie unbewusste seelische Konflikte bei psychosomatischen Erkrankungen in die »Sprache der Organe« übersetzt werden und sich somatisch manifestieren. Die aktuellen Erkenntnisse der Psychoimmunologie, Psychokardiologie und Psychoendokrinologie, aber auch der modernen Stressforschung machen deutlich, wie sehr die Psychosomatik mittlerweile zu einer Disziplin geworden ist, die auch naturwissenschaftlichen Kriterien genügt. Und: Wie sehr Körper und Geist – Psyche und Soma – aufeinander einwirken. Prof. Dr. med. Johann Caspar Rüegg ist emeritierter Professor der Physiologie an der Universität Heidelberg. Er lebt und arbeitet in Hirschberg an der Bergstraße. E-Mail: [email protected]
Christiane Knoop
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Warum materielle Armut Leib und Seele gefährden kann Ergebnisse aktueller Kinder- und Jugendstudien
Klaus Hurrelmann
Im Kindes- und Jugendalter erfolgen die zentralen Weichenstellungen für die gesundheitliche Entwicklung im weiteren Lebenslauf. Anschaulich zeigen die World-Vision-Kinderstudien und die Shell-Jugendstudien, wie eng diese Zusammenhänge sind. Diese bei-
den sich ergänzenden Untersuchungen sind so angelegt, dass sie durch direkte Befragung von Kindern (6- bis 11-Jährigen) und Jugendlichen (12- bis 25-Jährigen) die Lebenssituation und die persönliche Einschätzung und Bewertung dieser Situation durch die Kinder und Jugendlichen erfassen.
Leidfaden, Heft 4 / 2017, S. 22–27, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202
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Ausgangsbedingungen für Kinder und Jugendliche
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Der großen Mehrzahl der Angehörigen der jungen Generation geht es nach diesen Studien sehr gut oder gut. Die Lebenssituation der Kinder und Jugendlichen wird vor allem durch die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Lage ihres Elternhauses bestimmt. Verfügen Mutter und Vater über ein gutes finanzielles Einkommen, haben sie einen guten Schulabschluss und aussichtsreichen Zugang zum Arbeitsmarkt, sind sie auch nachbarschaftlich und kulturell anerkannt und integriert, dann ist auch die Lebenssituation der Kinder gut, die in ihrem Haushalt leben. Aus der finanziellen Situation, dem Bildungsgrad und der Wohnsituation der Eltern haben die Forscherinnen und Forscher des Instituts TNS Infratest, das sowohl für die World-Vision-Kinderstudie als auch die Shell-Jugendstudie die empirischen Erhebungen durchgeführt hat, einen »sozialen Herkunftsindex« berechnet. Legen wir diesen Index an, dann lässt sich das Ergebnis quantifizieren: Es sind rund 75 Prozent der Kinder und Jugendlichen, die in einem Elternhaus aufwachsen, in dem die finanziellen, bildungsmäßigen und kulturellen Ausgangsbedingungen sehr gut, gut oder mindestens befriedigend sind. Bei diesen Kindern und Jugendlichen finden wir, auch nach deren eigener Einschätzung, eine hohe Zufriedenheit und eine optimistische Grundstimmung. Die Eltern gelten für diese Angehörigen der jungen Generation in Deutschland als der Dreh- und Angelpunkt ihrer Beziehungen, an ihnen orientieren sie sich in allen ihren eigenen Zielsetzungen für das weitere Leben. Ein Viertel der Kinder und Jugendlichen allerdings wächst in einer wirtschaftlich und sozial unbefriedigenden Situation auf. Durch die Dauerarbeitslosigkeit der letzten 15 Jahre ist der Anteil dieser Familien spürbar angewachsen, erst in den letzten drei Jahren zeigt sich durch die gute Konjunktur eine leichte Trendwende. In der WorldVision-Kinderstudie geben 13 Prozent der El-
tern, die unabhängig von ihren Kindern von den Interviewerinnen und Interviewern von Infratest befragt wurden, eine unbefriedigende wirtschaftliche Situation ihres Haushalts an. Diese Familien leben in relativer Armut. Damit deckt sich die subjektive Einschätzung der Eltern weitgehend mit den objektiven Zahlen »des Armutsund Reichtumsberichtes« der Bundesregierung. Die World-Vision-Studie zeigt, dass zu diesen 13 Prozent von Eltern, die ihre Situation subjektiv als wirtschaftlich außerordentlich schwierig einschätzen, noch einmal etwa 12 Prozent hinzukommen, die im Vergleich zu den anderen Eltern in einer sehr ungünstigen wirtschaftlichen, bildungsmäßigen und kulturellen Lebenssituation stehen. Die Shell-Jugendstudien bestätigen diese Zahlen für das Jugendalter. Materielle Armut führt zu Bildungsarmut Eine Schlüsselrolle hat dabei interessanterweise die Art der Freizeitbeschäftigung der Kinder. Für die intellektuelle Entwicklung ist es von enormer Bedeutung, wie stark neben sozialen Kontakten auch Sport und körperliche Bewegung, daneben auch solche Freizeitbeschäftigungen wie Lesen, Tanzen, Theaterspielen, Musizieren und Basteln sind. Als ungünstig erweist es sich, wenn passive Beschäftigungen vorherrschen, vor allem wenn es sich hierbei um übermäßig langes Fernsehen und viel Computer- und Playstation-Aktivitäten handelt. Das Profil des Freizeitverhaltens ist von großer Aussagekraft für die Persönlichkeitsund Leistungsentwicklung der Kinder. Nur dann, wenn die Freizeitaktivität vielseitig ist, stecken die Kinder voller Impulse und sind motiviert und angeregt. Die Ergebnisse der Hirnforschung bestätigen diese Zusammenhänge. Fatalerweise zeigen nun die 25 Prozent der Kinder, die aus den relativ benachteiligten Haushalten kommen, ein besonders passives Freizeit-
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verhalten. 41 Prozent von ihnen berichten, täglich mehr als zwei Stunden vor dem Fernseher zu sitzen. Bei den gut situierten Kindern aus den oberen sozialen Herkunftsschichten sind es nur 8 Prozent. 49 Prozent der Kinder aus den benachteiligten Schichten haben einen eigenen Fernseher im Kinderzimmer, im Vergleich zu nur 16 Prozent aus der oberen Herkunftsschicht. Diese Aufzählung ließe sich fortsetzen; ganz ähnliche Unterschiede zeigen sich beim Lesen, beim Musizieren und beim Sporttreiben. Tatsache ist also: Die ökonomische Benachteiligung der Eltern überträgt sich direkt auf die Kinder, und zwar vor allem über die Art und Weise, wie tagtäglich miteinander umgegangen und kommuniziert und die Beschäftigung im Alltag gestaltet wird. Am Ende schlagen sich diese Unterschiede in deutlicher Weise auf die Perspektiven im Bildungsbereich nieder. Während nur 21 Prozent der Kinder aus der untersten Herkunftsschicht das Abitur als Schulabschluss anstrebt, liegt der Anteil der Kinder bei den obersten sozialen Herkunftsschichten bei 82 Prozent. Kein Wunder, denn nur 49 Prozent der Eltern aus den unteren Schichten kontrollieren nach Angaben ihrer Kinder regelmäßig deren Hausaufgaben, während es bei den oberen Schichten fast 100 Prozent sind. Bei den benachteiligten Kindern verändert sich hierdurch die Einstellung zur Schule: Sie ist negativ oder zumindest distanziert, und entsprechend gering ist die Bereitschaft, sich auf Anforderungen und Impulse einzulassen, die von den Lehrkräften ausgehen. Negative Folgen für die gesundheitliche Entwicklung Die materielle Benachteiligung der Kinder führt schrittweise nicht nur zu einer sozialen, kulturellen und bildungsmäßigen Benachteiligung, sondern sie setzt sich weiter fort und beeinträchtigt auch die gesundheitliche Entwicklung. Die Einkommensarmut übersetzt sich zugleich in eine Bildungs- und in eine Gesundheitsarmut. Diese
Kombination ist es, die bei dem besagten Viertel der Kinder in Deutschland zu langfristig erheblichen Beeinträchtigungen führt. Kinder brauchen für ihre körperliche, psychische, soziale, emotionale und intellektuelle Entwicklung eine stabile und verlässliche Umwelt mit einer breiten Vielfalt von Anregungen aller ihrer Fähigkeiten und Sinne. Das ist nach den zitierten Studien bei den 25 Prozent benachteiligten Kindern nicht der Fall. Die ökonomische und bildungsmäßige Zurücksetzung führt zu Einschränkungen nicht nur bei Ausstattung und Konsum, sondern auch in der Bildung, weil die Kinder sich im Vergleich zu anderen diskriminiert und damit psychisch verunsichert und zurückgesetzt fühlen. Hieraus wiederum ergeben sich Beeinträchtigungen im gesundheitlichen Bereich, weil Hygiene und Ernährung leiden. Eltern und Kindern fehlt es an der notwendigen Kompetenz, um sich angemessen zu ernähren, zu bewegen und mit Anspannungen umzugehen. Die finanzielle und materielle Benachteiligung führt im Übrigen auch zu Beziehungsspannungen innerhalb der Familie, weil die Eltern wegen ihres niedrigen sozialen Status große Schwierigkeiten haben, eine gute Partnerbeziehung aufrechtzuerhalten. Darunter leidet der Kontakt zu den Kindern und in der Folge die Qualität der Beziehung und der Erziehung. Es ist ganz einfach so, dass wirtschaftlich benachteiligte Eltern keine guten Pädagogen sind, weil sie unsicher und irritiert sind und nicht geduldig und flexibel auf Wünsche und Interessen der Kinder eingehen können. Kommt ein niedriger Bildungsgrad hinzu und schlägt die wirtschaftliche Benachteiligung zudem in eine soziale Isolation mit zu wenigen Kontakten in die Öffentlichkeit um, dann leidet auch die emotionale und soziale Entwicklung der Kinder. Sie sind dadurch in ihrer körperlichen und psychischen Gesundheit beeinträchtigt. Man kann sagen, sie sind mit Leib und Seele gefährdet, häufig im ganz direkten wörtlichen Sinne, weil sie körperliche und psychische Gewalt erfahren.
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Armutsspirale Die soziologische und gesundheitswissenschaftliche Forschung hat in den letzten Jahren sehr viele Belege dafür gefunden, dass eine in der frühen Kindheit erlebte Beeinträchtigung von Bildung und Gesundheit über den gesamten Lebenslauf hinweg anhält und sich oft sogar aufschaukelt. Kinder aus sozial benachteiligten Haushalten sehen sich der Gefahr gegenüber, später selbst in Arbeitslosigkeit oder Armut zu geraten. Eine Hauptursache für die »Vererbung von Armut«, die sich häufig über mehrere Generation hinweg beobachten lässt, ist in der erwähnten engen Verknüpfung der sozialen Herkunft mit der Bildungsbeteiligung und dem Bildungserfolg zu sehen. Bereits in Kindertagesstätten sind Kinder aus sozial benachteiligten Familien unterrepräsentiert, was die Möglichkeit der Kompensation von sozialen Nachteilen und Defiziten durch
eine gezielte Frühförderung von vornherein vermindert. Auch das deutsche Schulsystem trägt eher zu einer Verfestigung als zu einer Verringerung der Chancenungleichheit bei. Die relativ kurze Grundschulzeit reicht in der Regel nicht aus, um vorhandene Defizite auszugleichen und die Bildungsaspirationen von sozial benachteiligten Kindern und ihren Eltern so weit zu steigern, dass eine Empfehlung für eine weiterführende Schule erteilt wird. In der Abbildung sind die sich kumulierenden Zusammenhänge zwischen materieller, bildungsmäßiger und gesundheitlicher Armut anschaulich dargestellt. Gesellschaftliche Verantwortung für Kinder Ein neu in die Welt gekommener Mensch ist in seinen ersten Lebensjahren voll darauf angewiesen, Fürsorge, Zuwendung, Unterstützung, An-
Wechselwirkungen zwischen Armut, Gesundheit und Bildung
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regung und Strukturierung für die körperliche, psychische und soziale Entwicklung zu erhalten. Mutter und Vater spielen hierbei die ganz entscheidende Rolle, aber sie sind ihrerseits auf die Akzeptanz und Anerkennung des sozialen Umfeldes, also der Familie, der Nachbarschaft, der Kommune, ja der ganzen Gesellschaft angewiesen, wenn sie ihre elterliche Aufgabe erfüllen wollen. Das Elternhaus bildet nur einen Teil, wenn auch einen ganz zentralen, im Erfahrungsraum des Kindes, den es für seine weitere Entwicklung braucht. Dieser Erfahrungsraum muss so anregend und reichhaltig wie möglich sein, vielfältige Impulse und Herausforderungen enthalten und insgesamt eine der jeweiligen Entwicklung angemessene Struktur haben. Kinder, die auf eine solche reichhaltige, zugleich aber auch verlässliche und verbindliche Umwelt treffen, an der letztlich die ganze Gemeinschaft beteiligt ist, haben die besten Voraussetzungen für die Ausprägung ihrer emotionalen, sozialen, psychischen und intellektuellen Fähigkeiten und Kompetenzen. »Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind stark zu machen« – dieses afrikanische Sprichwort relativiert den Einfluss der Eltern, ohne ihn in irgendeiner Weise in Frage zu stellen. Das Sprichwort macht deutlich, wie sehr die Verantwortung für das Aufwachsen und die Entwicklung eines Kindes eine öffentliche, eine gemeinschaftliche und nicht nur eine private von Vater und Mutter ist. Die gesamte Gesellschaft, so ist mit diesem Bild gemeint, hat sich um ihren Nachwuchs zu kümmern. Sie ist aufgefordert, Vater und Mutter als primäre Bezugspersonen für Kinder dabei nach Kräften zu unterstützen. Für seine intellektuelle und soziale Entwicklung braucht ein Kind zusätzlich zu den Impulsen der Eltern weitere Anregungen und Erfahrungen. Dazu gehören Herausforderungen aus Verwandtschaft und Nachbarschaft, Kontakte zu Freunden und Helfern, gezielte Erziehungs- und Bildungsimpulse durch Erzieher und Pädagogen, aber auch Alltagserfahrungen mit fremden und nicht vertrauten Men-
schen. Und natürlich gehört auch die intensive Konfrontation mit der natürlichen Umwelt dazu, um die körperliche und psychische Anpassungsfähigkeit zu stärken. Das Sprichwort bedeutet also auch: Eltern sind nicht allein für die Erziehung, für das gelingende Aufwachsen ihrer Kinder in die Verantwortung zu nehmen. Ihnen das gleichwohl zuzumuten, führte bisher in jeder menschlichen Gesellschaft zu einer Überforderung von Müttern und Vätern. Möglicherweise gilt das verstärkt für die heutigen hoch entwickelten Gesellschaften mit ihrer hohen Spezialisierung und Ausdifferenzierung von sozialen Lebensbereichen. In ihnen wird die Erfahrung des »ganzen Dorfes« schwierig, weil sich Familie, Verwandtschaft, Nachbarschaft, Stadtteil, Kindergarten, Schule, Freizeiteinrichtungen, Medien, Kommune und Wirtschaft zu Systemen entwickelt haben, die jeweils sehr selbstständigen, eigenen Umgangsregeln folgen und oft nur wenig miteinander verzahnt sind. Glücklicherweise gelingt es der großen Mehrzahl der Kinder, sich den Herausforderungen der Lebensbereiche zu stellen, in denen sie sich aufhalten, und sich die Anregungen aus allen Feldern zu holen, die sie für ihre Entwicklung verwerten können. Ganz offensichtlich werden sie dabei von Müttern und Vätern unterstützt, die als Koordinatoren und Interpreten der komplexen sozialen Umwelt tätig sind. Diese Eltern schaffen es, den Kindern einen sicheren sozialen Halt, einen psychischen »Heimathafen« zu geben, von dem aus sie die fremden Territorien in der Umwelt erschließen können. Diese Eltern können ihren Kindern aus einer sicheren Beziehung heraus Angebote machen, sich auch in andere Rollen als denen des Sohnes oder der Tochter in der Welt zu erfahren. Gelingt Eltern diese anspruchsvolle Aufgabe aber nicht, verschließen sie sich gegenüber der Umwelt, dann ist es dem Kind nicht möglich, die elementar wichtigen Impulse des »ganzen Dorfes« aufzunehmen. Diese Eltern blockieren ihre Kinder gewissermaßen im Heimathafen und machen sie damit seeuntauglich,
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Prof. Dr. Klaus Hurrelmann ist Sozialwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Jugend-, Bildungs- und Gesundheitsforschung. Er wurde 1975 zum Professor an der Universität Essen ernannt und wechselte 1979 an die Universität Bielefeld. Seit 2009 arbeitet er als Senior Professor of Public Health and Education an der Hertie School of Governance in Berlin. Hurrelmann hat zahlreiche Lehrund Handbücher vorgelegt und mehrere umfassende Kinderund Jugendstudien geleitet. Er gehört dem Leitungsteam der World-Vision-Kinderstudien und der Shell-Jugendstudien an. Literatur
erstock.com phy / Shutt photögra
sprich inkompetent für das Leben in der großen Gemeinschaft. Wollen wir Kinder stark machen, dann müssen wir ihre Eltern stark machen. Die materielle Lage des Haushaltes spielt dabei eine wichtige Rolle. Genauso bedeutsam ist aber die Kompetenz der Eltern im Umgang mit den Kindern, der Förderung ihrer Leistungsfähigkeit, der Unterstützung beim Kindergarten- und Schulbesuch und beim Aufbau einer gesundheitlichen Kompetenz. Es geht um die Unterstützung und Förderung der Eltern, so dass sie einen auf die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder ausgerichteten, angemessenen Erziehungsstil praktizieren. Die Kombination von Anerkennung, Anregung und Anleitung will gelernt sein, die richtige Mischung aus Bedürfnisorientierung und Ausübung von elterlicher Autorität ist in einer demokratischen Gesellschaft heute eine hohe Kunst. Deswegen können Elternkurse und Elterntrainings hier helfen. Sie sollten möglichst verbindlich in die institutionellen Angebote integriert sein, also in Kindertagesstätten und Grundschulen vermittelt werden.
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Albert, M.; Hurrelmann, K.; Quenzel, G. (2015). 17. Shell Jugendstudie. Jugend 2015. Frankfurt a. M. World Vision Deutschland 2014: Kinder in Deutschland. Weinheim.
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Einfluss früher Trennungs- und Stresserfahrungen auf die funktionelle Reifung des Gehirns Befunde aus der tierexperimentellen Forschung
Katharina Braun, Gerd Poeggel, Tomasz Gos, Jörg Bock ten der Nervenzellen und damit auch die prinzipiellen Eigenschaften der wahrnehmbaren Reize und der prinzipiellen Hirnfunktionen bestimmt, dient die erfahrungs- und lerngesteuerte Feinabstimmung dieser Schaltpläne der Präzisierung und Optimierung der neuronalen und synaptischen Netzwerke und deren Anpassung an das
DerTausK / photocase.de
Umwelteinflüsse, insbesondere das emotionale Umfeld während der frühkindlichen Phase, sind von grundlegender Bedeutung für das Entstehen funktioneller synaptischer Netzwerke im Verlauf der Gehirnentwicklung. Während die genetische Ausstattung den allgemeinen Schaltplan des Gehirns und die grundlegenden Antworteigenschaf-
Leidfaden, Heft 4 / 2017, S. 28–32, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202
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jeweilige (positive oder negative) Lebensumfeld. Den erfahrungs- und umweltinduzierten Modulationen der Gehirnentwicklung liegen epigenetische Prozesse zugrunde, das heißt stabile, teilweise sogar vererbbare Veränderungen der Genexpression, die nicht in der DNA-Sequenz selbst kodiert sind (Gröger et al. 2016). Epigenetische Regulation der Genexpression erfolgt durch biochemische Modifikationen der DNA (DNAMethylierung) und von Histon-Proteinen (unter anderem Acetylierung, Methylierung, Phosphorylierung), den Bestandteilen des Chromatins. Durch Umweltreize, Lernprozesse und emotionale Erfahrungen (Stress) werden epigenetische Veränderungen ausgelöst und »mischen« sich damit in die Gehirnentwicklung und seine Anpassung an die Umwelt ein. Unterbrechung des Eltern-Kind-Kontaktes: traumatische Erlebnisse als Ursache für eine gestörte Entwicklung von Verhalten und Gehirn Studien an Heimkindern und an verschiedenen Tiermodellen ergaben, dass das Fehlen adäquater Umweltbedingungen während sensibler Entwicklungsphasen schwerwiegende und kaum korrigierbare Defizite der intellektuellen und emotionalen Kompetenzen verursacht. So entwickeln Heimkinder, die ohne eine stabile Bezugsperson aufwuchsen (Goldfarb 1943; Spitz 1945; Rutter et al. 2001), sowie sozial depriviert aufgewachsene Affen (Harlow und Harlow 1962; Suomi 1991) und Nager (Gröger et al. 2016) Verhaltensstörungen und verminderte Lernleistungen. In einer Langzeitstudie an Heimkindern konnte Skeels (1966) nachweisen, dass neben einer mangelhaften intellektuellen Förderung vor allem die emotionale Deprivation für diese Defizite verantwortlich ist. Untersuchungen an zwölf bis 14 Jahre alten Adoptivkindern, die bis zum Adoptivalter von zwölf Monaten in Heimen aufwuchsen, zeigen, dass die Entwicklungsverläufe des Präfrontalcortex und des Hippocampus besonders vulnerabel
gegenüber solchen ungünstigen Umweltbedingungen sind (O’Connor und Rutter 2000). Diese Gehirnregionen sind bei adoptierten Heimkindern deutlich verkleinert im Vergleich zu normal aufgewachsenen Kindern, was eindrucksvoll belegt, dass die innerhalb eines relativ kurzen (im Durchschnitt zwölf Monate) Zeitfensters durch frühe negative Umwelt induzierten Veränderungen der neuronalen Entwicklungsverläufe selbst bis zum Alter von 14 Jahren nicht durch die adoptionsbedingte Verbesserung des familiären Umfeldes korrigierbar sind. Am Tiermodell der Strauchratte (Octodon degus) können im Gegensatz zur klinischen Forschung am Menschen, unter experimentell kontrollierten Laborbedingungen ähnliche Umweltszenarien simuliert werden, indem die Tiere nach der Geburt einer mit Stress und Angst verbundenen emotionalen Situation ausgesetzt werden, zum Beispiel durch wiederholte Trennung von ihren Eltern und Geschwistern. Was passiert im Gehirn, wenn die Jungtiere zum ersten Mal im Leben von ihrer Familie getrennt werden? Untersuchungen mittels funktioneller Bildgebung ergaben, dass während der Trennung von Eltern und Geschwistern insbesondere präfrontale und limbische Gehirnareale einen stark verminderten Glukosestoffwechsel aufweisen (Bock et al. 2012). Offensichtlich setzt das kindliche Gehirn seine Aktivität während angst- und stressbeladener Situationen auf »Sparflamme«. Da Gehirnaktivität jedoch eine essenzielle Voraussetzung für eine normale funktionelle Entwicklung des Gehirns darstellt, ist zu erwarten, dass diese umso stärker abnormal verläuft, umso länger die negativen Umwelteinflüsse und die damit einhergehende Reduktion der Gehirnaktivität andauern. In der Tat konnten wir zeigen, dass Strauchrattenjunge, die während ihrer ersten drei Lebenswochen täglich stundenweise dem oben beschriebenen Trennungsstress ausgesetzt waren, später im Präfrontalcortex eine bis zu 140 Prozent erhöhte Dichte von Spine-Synapsen im Vergleich zu Kontrolltieren aufweisen (Bock et al. 2012).
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Aetiologie Gene (Allele)
Protektion, Therapie Gene (Allele)
Umwelt: Vernachlässigung, Deprivation, Stress, Misshandlung Epigenetik: DNA-Methylierung, Histon-Acetylierung Zeitpunkt, Art und Intensität der Umweltpathologie
Umwelt: Adoption, Therapie
Epigenetik: DNA-Methylierung, Histon-Acetylierung Zeitpunkt, Art und Intensität der Therapie
Gehirnstrukturen und -funktionen, synaptische Netzwerke
Gehirnstrukturen und -funktionen, synaptische Netzwerke
Psychopathologie
Verhaltensnormalisierung
Abbildung 1
S pine-Synapsen sind erregende, enorm plastische, das heißt veränderbare Synapsen und spielen daher bei der umweltgesteuerten Verhaltensentwicklung und bei Lern- und Gedächtnisprozessen eine wichtige Rolle. Veränderungen in der Dichte dieses Synapsentyps finden sich bei den gestressten Tieren nicht nur im Präfrontalcortex, sondern auch in limbischen Regionen, in denen es, je nach Hirnareal, auch zu einer Verminderung von Spine-Synapsen kommt (Poeggel et al. 2003). Diese hirnregionsspezifische Reorganisation der synaptischen Verschaltungsmuster haben vermutlich Störungen der Kommunikation zwischen präfrontalen und limbischen Hirnregionen zur Folge. Unsere neueren Befunde weisen darauf hin, dass solche synaptischen Reorganisationsprozesse höchstwahrscheinlich über epigenetische Veränderungen der Genexpression vermittelt werden (Abbildung 1), die durch die Stresserfahrung ausgelöst werden (Xie et al. 2013).
Die Bedeutung der väterlichen Fürsorge für die Gehirnentwicklung Die Zahl alleinerziehender Eltern steigt stetig an und es erhebt sich mittlerweile nicht nur die Frage »Wie viel Mutter braucht das Kind?«, sondern auch die Frage »Wie viel Vater braucht das Kind?«. Infolge der beiden Weltkriege war das Aufwachsen ohne Vater bis weit über die Jahrhundertmitte hinaus weit verbreitet. Nach dem Zweiten Weltkrieg war etwa ein Viertel der Kinder vaterlos. Der Anteil der Kinder, die während und nach dem Krieg zumindest zeitweise ohne Vater aufwuchsen, wird auf weitere 25 bis 30 Prozent geschätzt. In den folgenden Jahrzehnten änderten sich die Gründe für Vaterlosigkeit, der Tod des Vaters wurde durch die Trennung der Eltern als Hauptursache abgelöst. Bei der Literaturrecherche fällt auf, dass die bisherige entwicklungspsychologische und tier
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E i n f l u s s f r ü h e r Offensichtlich Tr e n n u n g s - u n d setzt S t r e s sdas e r f a hkindliche r u n g e n Gehirn 31
salvia77 / photocase.de
seine Aktivität während angst- und stressbeladener Situationen auf »Sparflamme«.
experimentelle neurobiologische Forschung überwiegend auf die Analyse der Rolle der Mutter fokussiert. Die Forschung über frühe VaterKind-Beziehungen und vor allem die Konsequenzen eines Entbehrens der väterlichen Fürsorge in früher Kindheit steht dagegen noch in den Anfängen. Einige klinische Studien zeigen, dass das Fehlen väterlicher Fürsorge, vor allem während der frühkindlichen Entwicklung, mit einem erhöhten Risiko für Entwicklungsverzögerungen und dauerhaft manifestierten Defiziten in der kognitiven und emotionalen Entwicklung einhergeht. Das Fehlen eines fürsorglichen Vaters erhöht die Wahrscheinlichkeit von schlechten schulischen Leistungen, Delinquenz und psychopathologischen Erkrankungen wie erhöhter Impulsivität, aggressivem Verhalten (Erhard und Janig, 2003) und Suizidgefährdung (Baskerville 2002; O’Neill 2002). In welcher Weise beeinflusst die väterliche Fürsorge die Gehirnentwicklung? Um diese Frage zu beantworten, haben wir ein einfaches Experiment durchgeführt, bei dem Strauchrattenjungtiere einmal von beiden Eltern und einmal nur von der Mutter aufgezogen wurden. Bei den vaterdeprivierten Tieren konnten wir eine Vielzahl von Veränderungen wiederum in präfrontalen und limbischen Gehirnarealen nachweisen.
Offenbar hat also die väterliche Fürsorge einen enorm großen Einfluss auf die Entwicklung von Gehirn und Verhalten seiner Nachkommen. Beispielsweise besitzen vaterdeprivierte Jungtiere im orbitofrontalen Cortex (OFC) weniger Spine- Synapsen (Helmeke et al. 2009). Diese Veränderungen sind also gegenläufig zu denen, die nach früher Stresserfahrung auftreten, und zeigen, dass die Entwicklung des kindlichen Gehirns durch unterschiedliche Erfahrungen sehr differenziert beeinflusst wird. Während Stresserfahrung auch über hormonelle Veränderungen vermittelt wird, die die neuronale Entwicklung beeinflussen können (Bock et al. 2005; Gos et al. 2008), handelt es sich bei der Vaterdeprivation weniger um Stress, sondern um eine verminderte elterliche Fürsorge, also eine emotionale Deprivation. Der OFC spielt unter anderem beim Erkennen der sozialen und emotionalen Relevanz von Situationen, der Abschätzung von Konsequenzen und des Risikos sozialen Verhaltens eine wichtige Rolle. So zeigen Menschen mit Schädigungen des OFC massive Persönlichkeitsveränderungen wie emotionale Verflachung, Triebenthemmung, situationsunangemessene Euphorie und Missachtung sozialer Normen. Ein Mangel an synaptischen Verbindungen bei den vaterdeprivierten Tieren (die auch
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andere praefrontale Gehirnareale betrifft) könnte daher eine Grundlage für emotionale, soziale und kognitive Defizite sein. Schlussfolgerungen und Ausblick Die tierexperimentellen, gehirnbiologischen Untersuchungen auf zellulärer Ebene erweitern auf mikroskopicher Ebene die in klinischen Studien auf makroskopischer Ebene nachgewiesenen stress- und deprivationsinduzierten strukturellen Veränderungen im Gehirn. Daher sind zukünftige interdisziplinäre Forschungsinitiativen notwendig, um die neuen entwicklungsbiologischen Erkenntnisse nutzbringend in eine verbesserte frühe (vor-)schulische Erziehung integrieren zu können. Darüber hinaus müssen auch therapeutisch relevante Fragen angegangen werden, inwieweit entwicklungsbedingte hirnbiologische Fehlentwicklungen und die damit einhergehenden Verhaltensstörungen im späteren Leben noch korrigiert werden können (Abbildung 1).
Prof. Dr. rer. nat. habil. Katharina Braun ist Leiterin des Lehrstuhls für Zoologie/Entwicklungsneurobiologie am institut für Biologie der Universität Magdeburg. E-Mail: [email protected] Prof. Dr. rer. nat. Gerd Poeggel ist Professor für Humanbiologie am Institut für Biologie der Universität Leipzig. E-Mail: [email protected]
Priv.-Doz. Dr. med. Tomasz Gos ist djunkt am Institut für Rechtsmedizin A der Medizinischen Universität Gdansk.
Prof. Dr. rer. nat. Jörg Bock ist Leiter der Arbeitsgruppe Epigenetik und Strukturelle Plastizität am Institut für Biologie der Universität Magdeburg. E-Mail: [email protected]
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Verlustbewältigung und Medikamente Urs Münch
Trauer ist als Emotion für die Verarbeitung eines Verlustes hilfreich und normal. Das Verarbeiten des Verlusts eines geliebten Menschen beziehungsweise des wichtigsten Menschen braucht Zeit, jeder Mensch hat da sein eigenes Tempo. Dennoch ist dieser Zustand von Trauer für viele Menschen nicht einfach auszuhalten – insbesondere wenn das Gefühl oder das Erleben da ist, nach einer gewissen Zeit mit der Intensität des Verlusterlebens in seinem gewohnten Umfeld allein zu sein. Es entstehen Wünsche: den unendlich und unerträglich erscheinenden Schmerz gelindert zu bekommen. Mal wieder vernünftig schlafen zu können und sich morgens ausgeruht zu fühlen, anstatt zunehmend Angst davor zu haben, wach und grübelnd die Nächte zu verbringen. Einfach mal die Trauer und das Gefühl der riesigen Leerstelle nicht spüren zu müssen. Im Alltag, im Beruf wieder funktionieren zu können und seine Aufgaben und Verpflichtungen erledigen zu können, ohne das als kaum aushaltbare Anstrengung zu erleben. Sich einfach mal wieder richtig konzentrieren zu können. Bei all diesen Wünschen besteht die Versuchung, zu Hilfsmitteln und verfügbarer Unterstützung zu greifen. Trauerbegleitung und hilfreiche Angebote in Anspruch zu nehmen, scheint trotz der Niedrigschwelligkeit der Angebote für eine große Zahl von Menschen immer noch als hohe Hürde des Unbekannten und Fremden wahrgenommen zu werden. Zudem gesteht die Gesellschaft in großen Teilen Trauernden weiterhin wenig Zeit zu, bis sie wieder im Beruf und im Privatleben zu funktionieren haben. Sehr leicht verfügbar und für viele Betroffene sehr niedrigschwellig zugänglich und attraktiv
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Wunsch nach Linderung der Trauer
Das Verarbeiten des Verlusts eines geliebten Menschen beziehungsweise des wichtigsten Menschen braucht Zeit, jeder Mensch hat da sein eigenes Tempo.
Leidfaden, Heft 4 / 2017, S. 33–36, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202
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sind Medikamente. Mit Medikamenten werden anders als bei Alkohol deutlich weniger negative Assoziationen verbunden. Durch Werbung erscheinen sie als grundsätzlich schnelle und zuverlässige Hilfe in allen Lebenslagen. Es stellt zudem meist kein Problem dar, in solch einer Situation vom Arzt oder der Ärztin des Vertrauens entsprechende Medikamente verschrieben zu bekommen. In der Regel handelt es sich um Psychopharmaka. Welche Art von Psychopharmaka wird dabei gern verwendet? Ist es sinnvoll, diese Medikamente zur Verlustbewältigung einzusetzen? Diese Fragen werden im Folgenden beleuchtet. Wann sollten Psychopharmaka normalerweise eingesetzt werden? Wenn eine psychische Störung einen Menschen so weit aus dem Gleichgewicht bringt, dass psychotherapeutische und soziale Unterstützung nicht möglich sind, dann ist der Einsatz von entsprechenden zugelassenen Medikamenten sinnvoll und hilfreich. Medikamente, die bei Verlustbewältigung gern verschrieben werden, sind zumeist Antidepressiva und/oder Anxiolytika. Die Wirksamkeit dieser Medikamente sind für den Einsatz bei klinisch relevanten Depressionen, Angststörungen und/ oder psychischen Ausnahmezuständen in Studien getestet worden und dafür freigegeben. Allerdings wird jede gewünschte Wirkung auch mit nicht erwünschten Nebenwirkungen eingekauft, welche die Lebensqualität zum Teil erheblich beeinträchtigen können. Zu diesen Nebenwirkungen können etwa Gewichtszunahme, Mundtrockenheit, starkes Schwitzen, sich emotional stark gedämpft erleben, innere Unruhe, Ängste oder sexuelle Funktionsstörungen gehören. Die zur Gruppe der Anxiolytika gehörenden Benzodiazepine beinhalten sogar ein hohes Abhängigkeitspotenzial. Wofür sollten solche Medikamente eingesetzt werden, wo ist ihr Einsatz indiziert? Antidepressiva sollten frühestens bei mittelgradigen, eher bei schweren depressiven Störun-
gen eingenommen werden. Sie sollen helfen, dass ein Mensch in einen Zustand kommt, in dem sich die Stimmung in einen erträglicheren Bereich hebt, psychotherapeutisches Arbeiten möglich ist und Alltagsfunktionen verbessert werden können. Grob sind zwei Wirkungsweisen von Antidepressiva zu unterscheiden: Verbesserung des Antriebs oder mittels Dämpfung die Verbesserung des Schlafs. Je nach individueller Symptomatik und Lebenssituation wird das wahrscheinlich am ehesten passende Medikament ausgewählt. Antidepressiva brauchen in der Regel mindestens zwei Wochen, bevor eine entsprechende gewünschte Wirkung einsetzen kann. Zu den Anxiolytika, den Medikamenten zur Behandlung pathologisch ausgeprägter Ängste, gehören verschiedene Medikamentengruppen. Hauptgruppe sind die Benzodiazepine, wie zum Beispiel die Wirkstoffe Lorazepam oder Diazepam, daneben werden auch bestimmte, für die Behandlung von Angststörungen zugelassene Antidepressiva oder Neuroleptika eingesetzt. In der Regel ist für eine angemessene Anwendung von Antidepressiva und Anxiolytika notwendig, dass a) der Patient ausreichend aufgeklärt wird und b) eine engmaschige Kontrolle stattfindet, ob das jeweilige Medikament in der entsprechenden Dosis auch tatsächlich die gewünschte Wirkung erbringt beziehungsweise inwieweit das auf Dauer tatsächlich notwendig ist. Der Einsatz von Benzodiazepinen sollte grundsätzlich nur in psychiatrischen Akutsituationen stattfinden, aber aufgrund des Suchtpotenzials ganz sicher nicht als Dauermedikation. Es gilt mit Ausnahme der Akutmedikamente die Regel, dass bei guter Wirksamkeit und erträglichen Nebenwirkungen vor einer Reduktion oder Absetzen eine Phase von drei- bis sechsmonatiger Stabilität im Befinden vorhanden sein sollte. Aber: Psychopharmaka ersetzen keine Begleitung und/oder Therapie. Im Rahmen der Störungen, für die sie zugelassen sind, können sie im Fall erträglicher Nebenwirkungen schlechtes Befinden lindern. Sie helfen aber nicht dabei, konkrete Probleme zu lösen und Dinge im eigenen Leben
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Antidepressiva sollen helfen, dass ein Mensch in einen Zustand kommt, in dem sich die Stimmung in einen erträglicheren Bereich hebt, psychotherapeutisches Arbeiten möglich ist und Alltagsfunktionen verbessert werden können.
zu verändern. Neben möglichen Entzugserscheinungen bei Abhängigkeit (vor allem bei Benzodiazepinen) besteht bei den meisten Psychopharmaka nach einer Phase regelmäßiger Einnahme auch das Risiko von Absetzphänomenen, wenn nicht ausgeschlichen, sondern abrupt abgesetzt wird. Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass bei einer zusätzlichen, die Trauer überlagernden starken depressiven Störung Antidepressiva hilfreich sein können, es braucht aber eine saubere und klare Indikationsstellung (Reynolds et al. 1999; Lacasse und Cacciatore 2014). Antidepressiva und Anxiolytika können also bei oben genannten psychischen Störungen indiziert sein. Komplizierte Trauerverläufe Wissenschaftlich gibt es in der internationalen Trauerforschung Einigkeit darüber, dass es neben der Vielfalt normaler Trauer auch Trauerverläufe gibt, die Störungswert haben, weil sie langfristig dazu führen, dass ein Mensch massiv in seinem normalen Leben eingeschränkt ist (Münch und Gramm 2017). In der neuen zukünftigen Ausgabe der Internationalen Klassifikation von Erkrankungen/Störungen, der ICD-11, wird es erstmals auf Basis dieser internationalen Forschungsergebnisse die Diagnose einer anhaltenden Trauerstörung geben. Allerdings ist bei der noch sehr jungen Diagnose der anhaltenden Trauerstörung und der bisherigen Studienlage noch völlig unklar, ob und
welche Psychopharmaka überhaupt für diese Störung zugelassen sein werden, auch da Trauer sich per se von Depression oder Angst unterscheidet (Bui, Nadal-Vicens und Simon 2012; Prigerson et al. 1996). Experten zur psychotherapeutischen Behandlung komplizierter Trauer zweifeln die Sinnhaftigkeit des Einsatzes von Psychopharmaka an, so lange nicht schwerwiegende Symptome zum Beispiel wahnhafter Art behandelt werden müssen (zum Beispiel Znoij und Marcker 2011). Störungen mit Krankheitswert haben geschätzt nur zehn Prozent aller Trauerverläufe. Ob Medikamente dann tatsächlich wie erhofft bei der Bewältigung dieser Störung helfen, ist bisher nicht wissenschaftlich ausreichend erwiesen (Bui et al 2012). Sie vermögen es je nach eingesetzter Substanz, sich in einen möglichst langen gedämpften Zustand zu bringen, in dem emotionale Tiefen, aber auch Höhen nicht gespürt werden können. Dadurch wird aber ein Trauerprozess nicht verkürzt oder umgangen und schlimmstenfalls wird eine Teilhabe am Leben im Hier und Jetzt deutlich eingeschränkt, Lebensqualität reduziert. Hierfür braucht es statt Psychopharmaka vor allem gut und leicht verfügbare professionelle und entsprechend qualifizierte psychotherapeutische Unterstützung und ein hilfreiches Umfeld, das den individuellen Bedürfnissen gerecht wird, etwa durch Trauergruppen oder andere Unterstützungsmöglichkeiten (siehe Stellungnahme der DGP 2017). Alternative Unterstützungs- und Begleitungsangebote Nun sind den bisher verfügbaren Zahlen nach mit geschätzt 90 Prozent die große überwiegende Zahl der Trauerverläufe nicht pathologisch, sondern in ihrer individuellen Vielfalt normal,
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wenn auch für die meisten Menschen im Verlauf oft nicht sehr erträglich und nicht leicht auszuhalten. Wenn Medikamente zwar leicht verfügbar, aber (allein) wahrlich nicht hilfreich zur Verlustbewältigung sind, was kann dann helfen, die verfügbaren Angebote der ehrenamtlichen und hauptamtlichen Trauerbegleitung in Anspruch zu nehmen? Was kann helfen, damit Betroffene über Wirkungsweise, Risiken und Nebenwirkungen von gängigen Psychopharmaka angemessen aufgeklärt und Alternativen diskutiert werden? Ganz sicher sind hier die Menschen angesprochen, die im Gesundheitswesen und/oder rund um das Versterben und den Tod des geliebten Menschen zuständig sind. Information über Hilfsund Unterstützungsangebote zu haben und diese mit der gebotenen Sensibilität Würde wahrend vermitteln zu können, kann Samen setzen, die dann im Fall des Bedarfs keimen und aufgehen können. Informationen können auch ins Umfeld gestreut werden und diesem ermöglichen, hilfreiche Ratschläge fern von »das wird schon wieder« zu formulieren. Hinterbliebene erleben es immer wieder als hilfreich, wenn sie (soweit möglich) ein Kontaktangebot von einer ihr schon bekannten Person aus dem Gesundheitswesen bekommen haben, zum Beispiel der Seelsorgerin, dem Sozialarbeiter oder der Psychologin des Krankenhauses, in dem der Verstorbene im Verlauf der jeweiligen Erkrankung behandelt wurde. Darüber hinaus bedarf es aber vor allem auch einer Sensibilisierung derjenigen Ärztinnen und Ärzte, die diese Medikamente ambulant verschreiben können (Lacasse und Cacciatore 2014). Hausärztinnen und -ärzte sollten von entsprechenden Angeboten von Trauerbegleitung, Trauergruppen und Trauercafés wissen, um diese Möglichkeiten ihren trauernden Patienten und Patientinnen an die Hand zu geben. Empfehlungen seitens des Arztes des Vertrauens haben ein Gewicht, das nicht zu unterschätzen ist. Öffentlichkeitsarbeit, Aufklärung und Information sind auch permanente Aufgabe und Herausforderung der Menschen, die sich hauptamt-
lich und ehrenamtlich in der Trauerbegleitung engagieren. Sie bedürfen voller gesellschaftlicher Unterstützung, damit der bisher schon so erfolgreiche Prozess, Trauer als normale und für die Verarbeitung von Verlusten hilfreiche Emotion vom versteckten Rand in die Mitte der Gesellschaft zu bringen, weiter innovativ und für die betroffenen Menschen hilfreich fortgesetzt werden kann. Auch, damit jeder trauernde Mensch sowohl privat als auch im Berufsleben wertschätzende Akzeptanz in seinem So-Sein erfahren kann. Urs Münch ist Diplom-Psychologe und Psychologischer Psychotherapeut. Er arbeitet als Psychoonkologe in Berlin, lebt im Berliner Umland und engagiert sich aktiv in der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin. E-Mail: [email protected] Literatur Bui, E.; Nadal-Vicens, M.; Simon, N. M. (2012). Pharmacological approaches to the treatment of complicated grief: Rationale and a brief review of the literature. In: Dialogues in Clinical Neuroscience, 14 (2), S. 149–157. DGP (2017). Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin zur Einführung der Diagnose einer anhaltenden Trauerstörung in der ICD-11. https://www. dgpalliativmedizin.de/images/20170705_DGP_Stellungnahme_Anhaltende_Trauerst%C3 %B6rung.pdf Prigerson, H. G.; Bierhals, A. J.; Kasl, S. V.; Reynolds, C. F. III; Shear, M. K.;, Newsome, J. T.; Jacobs, S. (1996). Complicated grief as a disorder distinct from bereavementrelated depression and anxiety: A replication study. In: American Journal of Psychiatry, 153 (11), S. 1484–1486. Lacasse, J. R.; Cacciatore, J. (2014). Prescribing of psychiatric medication to bereaved parents following perinatal=neonatal death: An observational study. In: Death Studies, 38, S. 589–596. Münch, U.; Gramm, J. (2017). Diagnose Anhaltende Trauerstörung – Ausgrenzung des Ehrenamts in der Trauerbegleitung? In: Leidfaden – Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer, 6/2, S. 49–55. Reynolds III, C. F.; Miller, M. D.; Pasternak, R. E.; Frank, E.; Perel, J. M.; Cornes, C. et al. (1999). Treatment of bereavement-related major depressive episodes in later life: A controlled study of acute and continuation treatment with nortriptyline and interpersonal psychotherapy. In: American Journal of Psychiatry, S. 202–208. Znoj, H. J.; Maercker, A. (2011). Trauerarbeit und Therapie der komplizierten Trauer. In: Linden, M.; Hautzinger, M. (Hrsg.), Verhaltenstherapiemanual (S. 471–476). Berlin.
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Haben Krankheiten eine Bedeutung? Ein Beitrag unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte der Psychosomatik
Thomas Klonek Die 45-jährige Frau A. kommt in die probatorischen Sitzungen einer Psychotherapie. Sie wisse eigentlich gar nicht, ob sie hier Hilfe erwarten könne. Sie leide seit mehreren Jahren unter immer wieder auftretenden Magenschmerzen und sei daher bereits bei vielen Ärzten gewesen. Die internistischen Spezialisten hätten aber alle bisher »nichts« gefunden und obendrein noch behauptet, die Beschwerden seien »psychisch« oder »psychosomatisch«. Aber sie bilde sich doch nichts ein … Immer wieder habe sie diesen Magendruck und dann auch -schmerz, der sich über den ganzen Bauch ausbreite und schließlich Übelkeitsgefühl auslöse. Es steige ihr den Hals hoch und sie müsse oft den Brechreiz unterdrücken. In solchen Situationen sei sie plötzlich nicht ansprechbar und belastbar, aber gerade dann sei beruflich häufig höchste Konzentration gefordert. In Opposition zum Wunsch ihres Vaters, dessen Überzeugung »früh gefreit, nie gereut« ihr heute noch Unwohlsein verursache, habe sie, statt einen jungen Kollegen des Vaters zu heiraten, mit Unterstützung ihrer Mutter den Wunsch nach einer eigenen Berufsausbildung durchgesetzt. Nun seien ihre Kinder, die sie spät bekommen habe, so weit selbstständig, dass sie halbtags erneut anfangen könne zu arbeiten, und ausgerechnet jetzt komme ihr diese Erkrankung in den Weg. Die Frage, ob körperlichen Erkrankungen bedeutungsvoll-sinnhafte, vielleicht sogar sinnge-
bende Qualitäten zukommen, ob und inwieweit sie im Lebenszusammenhang verstanden werden können, war im deutschen Sprachraum für psychotherapeutisch tätige Ärztinnen und Ärzte lange keine Frage. Von Sigmund Freud und den Psychoanalytikern der ersten Stunde wurde in Fortsetzung aufklärerischen Denkens des 19. Jahrhunderts in der Entstehungszeit und in der klinischen Weiterentwicklung der Psychoanalyse als selbstverständlich angesehen, dass die körperlichen (wie selbstverständlich auch alle seelischen) Krankheiten unbewusste biographische Hintergründe besitzen, die in der neu sich entwickelnden Therapieform Psychoanalyse aufgedeckt werden könnten. In der Traumdeutung als bedeutungszuweisender Klärung dieser kompromissbildenden Zusammenhänge wurde der »Königsweg« zum Sinn des Symptoms gesehen (Freud 1900/2000). Ich merke, dass mich das Leiden Frau As. anrührt. Ich beginne im Gespräch, mir Sorgen um sie zu machen, und ich frage mich, ob ich als Psychotherapeut gut genug für sie bin und ob ich ihr nicht erneute Diagnostik nahelegen muss, andererseits reizt sie mich aber auch zum Widerspruch, zu Ärger, und löst bei mir den Wunsch aus, sie zu zwingen, gut zu sich zu sein, fürsorglicher mit sich umzugehen. Bedeutungszuweisung erfolgte zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Verlauf der »psychoanalytischen Kur« individuell-ärztlich geprägt. Die Bandbreite möglicher Interpretationen umfasste
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Sie habe nach dem Auszug aus dem Elternhaus selten Schwierigkeiten gehabt, sich durchzusetzen. Sie habe gelernt, dass auf einen harten Klotz schließlich ein harter Keil gehöre. Sie könne schwer verstehen, dass andere das oft nicht so sähen. Mit ihrem Ehemann habe sie sich auch lange auseinandersetzen müssen, aber nun hätten sie eine stabile Partnerschaft erarbeitet und er wisse, was er an ihr habe. Seit die Kinder aus dem Haus seien, hätten sie mehr Zeit füreinander. Mit der akademischen Entstehung der Psychosomatik begann in den 1930er und 1940er Jahren die Auseinandersetzung mit der organmedizinisch geprägten Forschung und dem ihr immanenten Zwang zur »Empirie«, deren heutige Erscheinungen die evidenzbasierte Therapie und der Doppelblindversuch sind (polemisch kann formuliert werden, dass versucht wurde und wird, die Humanität, also den originär subjektiven
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sowohl zufällige, »wilde« Analyse als auch langjährige ernsthafte Annäherung an das Krankheitsgeschehen im Sinne einer Hypothesenbildung und -überprüfung (Freud 2000). Den Prozess negativ beeinflussen konnten Deutungen im Rahmen kurzzeitiger Interventionen, die nicht zum gegenseitigen Verständnis beitrugen (»Ihre Magenkrankheit ist in Wirklichkeit Ihr Wunsch, sich in der engen Atmosphäre Ihrer Familie auszukotzen …«). Das Konzept des Unbewussten wurde darüber hinaus bis heute andauernd zum gesellschaftlichen Allgemeingut. Im hier weniger hinterfragten Sprachgebrauch wurde es damit oft seiner spezifisch klinischen Relevanz entkleidet. Die allgemeinsprachliche Praxis barg und birgt die Gefahr des Verlusts der Heilsamkeit, da eine Reflexion der Übertragungsbeziehung, die in der Psychotherapie zur professionellen Wirksamkeit von Interventionen zwingend erforderlich, in nichttherapeutischen Beziehungen ebenso wenig gegeben wie sinnvoll ist.
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»menschlichen Faktor« gegen den Widerstand des Untersuchungssubjekts Mensch aus der Untersuchung zu entfernen). Im angelsächsischen Raum (Alexander et al. 1968) entstanden klinische Kategorien wie die »Ulcus-Persönlichkeit« und damit die Formulierung krankheitsgruppenassoziierter Charakterstrukturen. Im somatopsychischen Denken des deutschsprachigen Sprachraums (von Weizsäcker 1947; von Uexküll 2017), raumgreifend in der Leere des Fehlens der exilierten Psychoanalytiker im Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, fand sich eher die individuelle Ausgestaltung in Regelkreisen beziehungsweise gegenseitiger Beeinflussung von Symptom und Umwelt. Ihr Vater habe früher oft tagelang Bauchschmerzen gehabt. Man habe ihn dann sehr schonen müssen, oft habe man aber gar nicht gewusst, welche »Laus« ihm gerade wieder über die Leber gelaufen sei. Die Mutter habe für ihn Schonkost gekocht, das sei für sie und ihre Schwester immer sehr interessant und geheimnisvoll gewesen, obwohl sie nie davon hätten probieren dürfen. Eine auf Krankheitsgruppen fixierte Typologie mit inzwischen oft floskelhaft anmutenden Formulierungen und Verallgemeinerungen (»die typischen Konflikte … kreisen um oral-rezeptive Geborgenheits- und Abhängigkeitswünsche, um anales Besitzstreben, auch um Unabhängigkeit und Erfolg«) findet sich heute nur noch selten. Somatische und
psychosomatische Forschungsergebnisse belegen zunehmend, dass auf der Grundlage individuell-genetischer Voraussetzungen und persönlicher lebens- sowie familiengeschichtlicher und sozialkultureller Prägung eine »Symptomwahl« erfolgen kann, die sich physiologisch in einem Regelkreis fixiert und anschließend auf das System zurückwirkt. Zunehmend wird möglich, diese Erkenntnisse in die Therapie einzubeziehen, und es entsteht eine Verschmelzung psychodynamischer (»Kann ich lebensgeschichtliche Bezüge meiner Erkrankung verstehen?«), systemischer (»Wie beeinflusse ich andere und die mich«?), verhaltenstherapeutischer (»Wie setze ich Änderungswünsche am besten um?«) und somatischer Fragen (»Was bedeutet meine Erkrankung physiologischfunktionell und welche, zum Beispiel auch medikamentöse, Unterstützung gibt es?«). In der 25. Stunde der Therapie kommt Frau A. aufgelöst zur Behandlung. Sie hatte Erbrechen im Rahmen eines Infekts mit etwas Blutbeimengung bemerkt und in der aktuell erneut durchgeführten Magenspiegelung sei der Verdacht auf einen Tumor geäußert worden. Sie glaube und wisse nun, dass sie selbst an dieser Entwicklung schuld sei, da ja Stress nicht nur Magengeschwüre, sondern auch Karzinome auslöse, sie habe es vielleicht auch irgendwie nicht anders verdient. Sie habe verstanden, zu wenig auf andere geachtet zu haben. Aber wer werde nun für ihren Mann und die Töchter sorgen?
Forschungsergebnisse belegen zunehmend, dass auf der Grundlage individuell-genetischer Voraussetzungen und persönlicher lebens- sowie familiengeschichtlicher und sozialkultureller Prägung eine »Symptomwahl« erfolgen kann.
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Die ergebnisoffene Einbeziehung der persönlichen Lebensgeschichte und der eigenen Erfahrungen ist entscheidend. Yalom (1980) weist in seinen Betrachtungen zur existenziellen Psychotherapie darauf hin, dass Bedeutung und »Sinn« nicht nur das individuelle Verstehen eines zurückliegenden Zusammenhangs umfassen. Darüber hinaus werde die individuell gestaltete Zielorientierung des weiteren Lebens als kreativer Prozess in einer nicht primär sinngebenden Umgebung möglich. Diese Sinngebung einer Erkrankung einschließlich ihrer körperlichen Leitsymptomatik muss und kann zwar letztendlich nur individuell-subjektiv erfolgen, doch die Erweiterung im Dialog bietet die Chance, eigene Bedeutungszuweisungen zu überprüfen. Hier bietet sich oft zur Stärkung des »Hier und Jetzt«-Aspekts ein mentalisierungsbasiertes Vorgehen an, das erleichtert, situative Realität und emotionale Reaktionen in ihrer Bezogenheit zu erfassen und krisenhaftes Fehlverstehen zu begrenzen. Psychotherapeutisch und psychoonkologisch ist danach oft gefragt, zunächst alles Auftretende (und nicht selten rigide-kausales Denken wie »weil ich mich nicht geschont habe, musste ich ja notwendig und unabänderlich krank werden«) einfühlend zuzulassen. Später kann in psychosomatischer Hinsicht gefordert sein, zum richtigen Zeitpunkt auf die Schicksalshaftigkeit und regelhaft fehlenden medizinisch-wissenschaftlichen Belege zwingender Kausalität einzugehen. In psychosomatischer Hinsicht kann schließlich die Begleitung eines persönlichen Verstehens der somatischen Anteile der Erkrankung beginnen, die über die Bearbeitung von zum Beispiel Schuldzuweisungen, Neid oder das Gefühl des Versagens eröffnet werden, schließlich aber in die patientenzentriert gestaltete Eröffnung eines neuen Raums münden, in der subjektive Bedeutungszuweisung und Sinnhaftigkeit möglich werden können. Fazit: Aus der optimistischen Kraft der frühen Psychoanalyse als der ersten Therapieform,
die nicht zuletzt alles Körperliche als der Psychotherapie zugänglich definierte, entstand im 20. Jahrhundert in differenzierter Auseinandersetzung mit somatischen Grundlagen und unter Nutzung somatischer Erkenntnisse ein abgestuftes psychosomatisches therapeutisches Vorgehen, in dem körperliche Symptome und Erkrankungen mit der Möglichkeit individueller Bedeutungszuweisung im Dialog verstanden werden können. Unter schulenübergreifender Nutzung psychodynamischer, verhaltenstherapeutischer, systemischer und nicht zuletzt auch mentalisierungsbasierter Ansätze resultiert eine individuelle Begleitung seelischen und körperlichen Leidens. Frau A. habe ich aus Aspekten verschiedener psychosomatischer Patienten zusammengesetzt, es gibt sie als Person nicht. Ihre Darstellung soll dazu dienen, Verstehen in Bezug auf psychische Anteile somatischer Erkrankungen plastisch zu machen, im Gegensatz zu echten Menschen wirkt sie daher »konstruiert« und eindimensional. Thomas Klonek ist Facharzt für Psychosomatik, Gruppenpsychoanalytiker, Psychoonkologe und Internist. Er ist ärztlicher Leiter einer Tagesklinik für psychosomatische Rehabilitation in Oberhausen sowie Selbsterfahrungsgruppenleiter im ZAP Bad Salzuflen. Darüber hinaus bietet er Balintgruppen und Supervision an. E-Mail: [email protected] Literatur Alexander, F.; French, T. M.; Pollock, G. H. (1968). Psychosomatic specificity. Chicago. Bateman, A.; Fonagy, P. (Hrsg.) (2011). Handbook of mentalizing in mental health practice. London. Freud, S. (1900/2000). Die Traumdeutung. Frankfurt a. M. Freud, S. (2000). Schriften zur Behandlungstechnik. Frankfurt a. M. Hähnlein, V.; Rimpel, J. (2008). Systemische Psychosomatik. Ein integratives Lehrbuch. Stuttgart. Uexküll, T. von (2017). Psychosomatische Medizin. Theoretische Modelle und klinische Praxis. 8. Auflage. Hrsg. von K. Köhle, W. Herzog, P. Joraschky, J. Kruse, W. Langewitz, W. Söllner. München. Weizsäcker, V. von (1947). Körpergeschehen und Neurose. Stuttgart. Yalom, I. D. (1980). Existential Psychotherapy. New York.
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Psychosoziale und psychologische Aspekte der (Lebend-)Organspende Merve Winter Mit fortschreitender medizinisch-technischer, aber auch pharmakologischer Entwicklung bedeutet ein Organversagen der Niere oder der Leber heutzutage nicht mehr (wie noch vor wenigen Jahrzehnten) den sicheren Tod. Für die Nierenpatientinnen und -patienten gibt es mit der Dialyse schon seit längerem ein Ersatzverfahren (die künstliche Blutwäsche), das die Leistung der Nieren übernimmt und somit ein Weiterleben ermöglicht – jedenfalls sofern man in einem Industrieland wohnt und über eine Krankenversicherung verfügt. In Deutschland ist die Dialyse seit Ende der 1960er Jahre eine Kassenleistung. Dieses Verfahren bringt jedoch für die Betroffenen große Einschränkungen in der Lebensqualität mit sich: Als Hämodialyse durchgeführt bedeutet sie in der Regel, dreimal in der Woche in ein Dialysezentrum zu fahren und dort für vier oder fünf Stunden an einem Gerät zu liegen und sich hinterher entsprechend erschöpft zu fühlen. Die zu Hause (und meist nachts) durchgeführte Bauchfelldialyse ermöglicht zwar mehr Flexibilität und Eigenregie, jedoch auch eine große Verantwortung und ist zudem nicht für alle Patienten geeignet. Verständlich, dass sich vor diesem Hintergrund mehr und mehr Menschen für eine andere Behandlungsmethode entscheiden: die Transplantation. Patientinnen und Patienten mit einem Leberversagen können ohnehin nur auf ein Spenderorgan hoffen, da es für die Leber kein vergleichbares Ersatzverfahren gibt. Eine Transplantation gilt heute als Behandlungsmethode der Wahl bei einem terminalen Nieren- oder Leberversagen.
Wie steht es um die Bereitschaft der Bevölkerung zur Organspende? Die Transplantationsmedizin kämpft bei allen guten medizinischen Ergebnissen bis heute allerdings mit einem großen – und bisher ungelösten – Problem, und das sind die mangelnden Spendeorgane. Die Nachfrage übersteigt stetig und konstant die Anzahl an transplantablen Organen. Derzeit stehen mehr als 10.000 Menschen auf der Warteliste für ein neues Organ. 2012 hat die Bundesregierung deshalb einen Anlauf genommen, ein neues Gesetz auf den Weg zu bringen, das die Auseinandersetzung der Bürgerinnen und Bürger mit dem Thema Organspende fördern und letztlich die Organspendezahlen erhöhen soll. Zu einer Widerspruchslösung (jede/-r ist im Todesfall prinzipiell Organspender/-in, es sei denn, es wurde vorher widersprochen) konnte sich die Bundesregierung damals nicht durchringen, obwohl diese Regelung nachweislich zu höheren Spendezahlen führt, wie der europäische Vergleich zeigt. Stattdessen wurde eine sogenannte Entscheidungslösung verabschiedet, die im Wesentlichen die bis dahin geltende Zustimmungslösung (vor dem Tod muss einer Organentnahme aktiv zugestimmt werden, postmortal können das aber auch die Angehörigen tun) beibehält, aber vorsieht, die Bürgerinnen und Bürger von nun an regelmäßig über die Organspende zu informieren. Dafür wurden bislang viele Millionen Euro ausgegeben, gefruchtet haben die Bemühungen indes nicht: Die Organspendezahlen stagnieren seit Jahren, von 2010 an sind sie sogar gesunken. Da in Repräsentativerhebungen die Deutschen eine konstant hohe prinzipielle Bereitschaft an-
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geben, Organe zu spenden (Decker et al. 2008; Ahlert und Schwettmann 2011; BZGA 2016), sehen sowohl die Bundesregierung als auch die DSO (Deutsche Stiftung Organtransplantation) das größte Problem derzeit weniger in der geringen Spendebereitschaft der Bevölkerung, sondern eher im Missmanagement an vielen Kliniken, die – obwohl sie als Entnahmekliniken ausgewiesen sind – zum Teil seit vielen Jahren gar keine Organspender/-innen melden. Ob die Annahme der Bundesregierung – mehr Beschäftigung mit dem Thema Organspende führt zu höheren Spendezahlen – indes richtig ist, muss sich allerdings erst noch erweisen. Die hypothetische prinzipielle hohe Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger scheint jedenfalls nicht die reale Spendebereitschaft widerzuspiegeln, was unter anderem auch daran sichtbar wird, dass Männer in diesen Befragungen genauso häufig bereit sind, anderen Menschen Organe zu spenden, dies real – vor allem in der Lebendorganspende – aber nicht tun. Hier überwiegen deutlich die Frauen. Es scheint einen großen Unterschied zu bedeuten, sich in einer anonymen Befragung positiv zur Organspende zu bekennen oder sich tatsächlich selbst aktiv für eine Organfreigabe nach dem Tod zu entscheiden. Die Schwierigkeit mit dem Hirntod Wer sich mehr mit einem Thema beschäftigt, stößt jedoch mitunter auch auf Widersprüche und Probleme, die er vorher in dieser Form noch nicht bedacht hat. Ein Beispiel hierfür ist die HirntodDebatte: Meist wird in der hiesigen Debatte darauf verwiesen, dass es sich beim Hirntod um ein einwandfrei feststellbares Todeskriterium handelt, was sich jedoch bei näherer Betrachtung anders darstellt. So hat der President’s Council on Bioethics (vergleichbar mit dem Deutschen Ethikrat) Ende 2008 eingeräumt, dass die bisherige Begründung für das Hirntod-Konzept – nämlich ein enger zeitlicher und kausaler Zusammenhang eines feststellbaren Hirntodes und der Desintegration
aller körperlicher Funktionen – so nicht aufrechtzuerhalten sei. Es gab schlicht zu viele Fälle eines »chronischen Hirntodes«, die diesen Zusammenhang widerlegten (vgl. Müller 2010). Nach Müller würde es vermutlich noch viel mehr dieser Fälle geben, wenn nicht den meisten der als hirntot diagnostizierten Patienten und Patientinnen relativ schnell die Organe entnommen oder aber die lebenserhaltenen Maßnahmen beendet würden. Durch die Konstruktion vom Hirntod wurde eine Situation geschaffen, die einen lebenden Körper und einen toten Geist möglich werden lässt – eine Trennung, die vor allem für die Angehörigen und das Pflegepersonal nicht einfach zu akzeptieren und zu verkraften ist, denn hirntote Patienten und Patientinnen sehen aus, als würden sie schlafen, sie schwitzen, werden künstlich ernährt und produzieren Ausscheidungen, sie zeigen spinale Reflexe wie das Heben und Senken eines Arms oder eines Beins und können sogar eine Erektion bekommen. Auch zeigen hirntote Menschen noch deutliche physiologische Schmerzreaktionen, über das Schmerzempfinden besteht allerdings nach wie vor Dissens. Aus diesem Grund wird schon seit längerem von verschiedenen Seiten eine Vollnarkose bei einer Organexplantation gefordert und teilweise bereits realisiert. Müller (2010) fordert deshalb eine valide Hirntod-Diagnostik auf aktuellem wissenschaftlichen und technischen Stand, wozu ihrer Ansicht nach eine zerebrale Angiographie zwingend notwendig ist, um Fehldiagnosen auszuschließen – ein Verfahren, das in Deutschland aber nicht zum Standard gehört und aufgrund der hohen Kosten vermutlich auch erst einmal nicht gehören wird. Deutlich wird anhand dieser Debatten, dass es sich beim Hirntod um ein Hilfskonstrukt handelt, mit dem so etwas wie eine Organentnahme ethisch überhaupt legitimierbar wird. Denn die Medizin braucht die lebenden Körper hirntoter Patienten, um Organe gewinnen zu können. Das Konstrukthafte des Hirntod-Konzepts wird auch daran erkennbar, dass die Bestimmung des Todeszeitpunktes aufgrund umstrittener Kriterien
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fahrers vor, dessen tragischer Tod durch eine Organentnahme wenigstens noch einen Sinn bekommt. Die Entscheidungslast der Angehörigen, der Zeitdruck unter dem sie stehen, nachdem sie eine schlimme Todesnachricht bekommen haben, und das schwierige Involviertsein der Pflegekräfte, die mitbekommen, wie aus einem Patienten oder einer Patientin ein/-e Organspender/-in wird (und die in den wenigsten Fällen die meines Erachtens für sie notwendige Supervision erhalten), geraten dabei häufig aus dem Blick.
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in verschiedenen Ländern unterschiedlich ausfallen und somit der absurde Umstand eintreten kann, dass man in einem Land für tot erklärt werden könnte, während man in einem anderen Land formal noch leben würde. Abgesehen von diesen – berechtigten – Bedenken gegenüber dem Hirntod-Konzept wird ebenfalls nur selten diskutiert, dass mit einer Organspende auch aktiv in einen Sterbeprozess eingegriffen wird. Bei vielen herrscht immer noch das Bild des unglücklich verunfallten Motorrad-
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Gesellschaftlich wird Organspende mittlerweile als das einzig richtige Tun dargestellt, wie Motakef (2011) in ihrer Diskursanalyse überzeugend darstellen konnte. Wer das anders sieht, wird schnell als egoistisch und unsozial gebrandmarkt. Bemerkenswert ist dabei, dass diese Logik des Miteinanders und eines geteilten »Solidarsystems der Organe« dabei nur im Feld der Organspende/-transplantation propagiert wird, während in anderen gesellschaftlichen Bereichen Solidarsysteme konsequent abgebaut und eine gesellschaftliche Verantwortung für das Wohlergehen von Bedürftigen und Benachteiligten eher geleugnet wird. Zur ethischen Dimension der Lebendorganspende Vor dem Hintergrund der sinkenden Spendezahlen in der Postmortalspende und der langen Wartezeiten auf ein Organ rückt seit Jahren mehr und mehr die Lebendorganspende als Behandlungsmethode in den Fokus, zumal sie auch noch die besseren Ergebnisse zeitigt: Geplant und nicht als Notfalloperation durchgeführt, sind die Spontanabstoßungen hier geringer und die Organe häufig in einem besseren Zustand. Dieses Verfahren ist aus ethischer Perspektive aber ebenfalls nicht unproblematisch, wird doch zum Zweck der Heilung einer Person eine andere durch einen ärztlichen Eingriff in nicht unerheblichem Maße verletzt und damit gegen die ärztliche Standesordnung »primum nihil nocere« verstoßen. Der Eingriff ist ethisch nur zu rechtfertigen, weil argumentiert wird, dass der Nutzen, den eine Person von diesem Eingriff hat, den Schaden bei der anderen Person deutlich übersteigt. Dennoch ist der Druck, unter dem Angehörigen von organkranken Patientinnen und Patienten stehen, aus psychologischer Perspektive enorm. Zwar kommen die Angehörigen – das darf an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben – in eine handlungsfähige Position, indem sie ganz aktiv einer schwerkranken nahen Person helfen können. Anders als
Angehörige von krebskranken Patientinnen und Patienten, die lediglich begleitend und unterstützend, manchmal auch nur sterbebegleitend tätig werden können, retten oder verlängern Organspenderinnen und -spender das Leben oder schenken eine deutlich bessere Lebensqualität. Das kann als sehr befriedigend, selbstwertstärkend und euphorisierend erlebt werden. Gleichzeitig befinden sie sich aber auch in einer Situation, in der sie vor dem Hintergrund des oben angesprochenen normativen Diskurses sowie der guten medizinischen Ergebnisse nicht mehr gut nicht spenden können. Vor allem Frauen scheinen sich von diesem gesellschaftlichen Imperativ zur Spende angesprochen zu fühlen und kommen dieser Aufforderung innerhalb der Familien deutlich häufiger nach als Männer (vgl. Winter 2015). Zur Freiwilligkeit einer Lebendorganspende Vor dem Hintergrund, dass das deutsche Transplantationsgesetz als Voraussetzung einer Spende die Volljährigkeit, Freiwilligkeit, die Abwesenheit von finanziellen Interessen sowie eine Verwandtschaft ersten oder zweiten Grades oder aber eine enge persönliche Verbundenheit zwischen Spender/-in und Empfänger/-in fordert, ist aus psychologischer Perspektive zu fragen, ob eine solche enge verwandtschaftliche und/oder persönliche Verbundenheit eine Freiwilligkeit ermöglicht oder sie mitunter nicht geradezu einschränkt. Mit dieser Frage haben sich auch Fateh-Moghadam et al. (2004) beschäftigt und die sinnvolle Unterscheidung von juristischer und psychischer Freiwilligkeit getroffen. Sie plädieren dabei für eine Entmythologisierung des Freiwilligkeitsbegriffs und heben stattdessen die Autonomie einer Entscheidung hervor, sofern diese auf Grundlage des eigenen Werte- und Normsystems getroffen werde. Somit wäre die Entscheidung einer Mutter, ob ihr Säugling stirbt oder sie ihm einen Teil ihrer Leber spendet, zwar keine leichte Entscheidung,
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aber eben doch frei im oben genannten Sinne. Vielleicht wäre es aber auch gar keine Entscheidung, weil sie sich für sie gewissermaßen nicht stellt. Ein Patient hingegen mit einer zugrundeliegenden Körperdysmorphophobie, der mit dem Wunsch vorstellig wird, ihm solle der Arm amputiert werden, würde diese Entscheidung nicht frei treffen, weil hier der Wunsch aufgrund einer psychischen Störung evoziert wurde. Die Frage nach der Autonomie einer Entscheidung stellt sich in besonderer Weise bei der psychologischen Begutachtung im Vorfeld einer Lebendorganspende. Hier muss eine Schutzfunktion für die potenziell Spendenden gegenüber einem medizinischen und/oder psychologischen Paternalismus abgewogen werden. Wie freiwillig ist die Spende einer Schwester, die von früher Kindheit an durch die Mutter erzählt bekommen hat, dass sie mal die Nierenspenderin ihres kranken Bruders werden könnte, und die diese Selbstverständlichkeit bisher nie hinterfragt hat? Und kann der eineiige Zwillingsbruder, der weiß, er wäre der perfekte (da genetisch idente) Spender, wirklich »nein« zu einer Nierenspende für seinen Zwillingsbruder sagen (auch wenn das Verhältnis der beiden nicht als eng zu bezeichnen und somit von einer engen persönlichen Verbundenheit eigentlich nicht gesprochen werden kann)? Kann man überhaupt »nein« sagen, wenn, wie im Fall der Leberlebendspende, die Konsequenz der Tod der kranken Person ist und nicht »nur« die Dialyse? Falls man aber innerpsychisch gar keine Wahlmöglichkeit hat, dürfte streng genommen auch nicht von einer Entscheidungsfreiheit gesprochen werden. Für die Lebendorganspende ist dieses Dilemma der »Dialektik von Hilfemöglichkeit und Entscheidungslast« (Fateh-Moghadam et al. 2004) konstitutiv und strukturiert meines Erachtens den gesamten Spendeprozess, ohne dass dies den Betroffenen notwendigerweise bewusst sein muss. Viele potenzielle Spender/-innen zeigen sich im Vorfeld einer Lebendorganspende geradezu euphorisiert und nehmen auch die Risikoaufklä-
rungen gemäß der Theorie von Festinger (1957) entsprechend selektiv war, denn ihre bereits getroffene Entscheidung zur Spende soll nicht mehr negativ beeinflusst werden. Eine psychologische Begutachtung im Vorfeld muss also gewissermaßen den Spagat leisten, eine getroffene Entscheidung zwar anzuerkennen, diese aber gleichzeitig in ihrem Zustandekommen kritisch zu hinterfragen und somit Anwalt für die nicht eingestandenen und gesellschaftlich nicht akzeptierten Ambivalenzen gegenüber einer Organspende zu sein. Dr. Merve Winter, Dipl.-Psych., Studium an der Freien Universität Berlin; Teilnehmerin in zwei Schweizer Graduiertenkollegs zur Frauen- und Geschlechterforschung in Basel und Bern; in Weiterbildung zur Psychoanalytikerin am IfP in Berlin; wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Psychologischen Hochschule Berlin im Arbeitsbereich Klinische Psychologie und Psychotherapie. Literatur Ahlert, M.; Schwettmann, L. (2011). Die Einstellung der Bevölkerung zur Organspende. In: Böcken, J.; Braun, B.; Repschläger, U. (Hrsg.), Gesundheitsmonitor 2011 (S. 193–213). Bürgerorientierung um Gesundheitswesen. Kooperationsprojekt der Bertelsmann Stiftung und der BARMER GEK. BZGA – Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2016). https://www.organspende-info.de/sites/all/files/files/files/2016_05/16_06_01_PM_Organspendezahlen.pdf, abgerufen am 09.04. 2017. Decker, O.; Winter, M.; Brähler, E.; Beutel, M. (2008). Between commodification und altruism. Gender imbalance and attitudes towards organ donation. In: Journal of Gender Studies 17, S. 251–255. Fateh-Moghadam, B.; Schroth, U.; Gross, C.; Gutmann, T. (2004). Die Praxis der Lebendspendekommissionen – Eine exemplarische Untersuchung zur Implementierung prozeduraler Modelle der Absicherung von Autonomiebedingungen im Transplantationswesen. Teil 1: Freiwilligkeit. In: Medizinrecht, 1, S. 19–34. Festinger, L. (1957/1978). Theorie der kognitiven Dissonanz. Hrsg. von M. Irle u. V. Möntmann. Bern u. a. Motakef, M. (2011): Körper-Gabe. Ambivalente Ökonomien der Organspende. Bielefeld. Müller, S. (2010): Revival der Hirntod-Debatte. Funktionelle Bildgebung für die Hirntod-Diagnostik. In: Ethik in der Medizin, 22, 1, S. 5–17. Winter, M. (2015): Psychologie der Lebendorganspende. Eine qualitative Studie zu Spendemotivationen, Spendeimperativ und der Relevanz von Geschlecht im Vorfeld einer Lebendorganspende. Bern.
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Herztransplantation – Eine Herausforderung für ganzheitliche Versorgung Heike Spaderna Dank des medizinischen Fortschritts überleben heute mehr Menschen als noch vor zehn Jahren Herzerkrankungen und Herzinfarkte. Dies, zusammen mit einer alternden Bevölkerung, hat zur Folge, dass immer mehr Menschen als Spätfolge an einer Herzinsuffizienz leiden. Ist die Krankheit so weit fortgeschritten, dass konservative Therapien nicht mehr greifen, kann eine Herztransplantation das Leben verlängern (Ponikowski et al. 2016).
hatten erhöhte Angstwerte und 20 Prozent gaben weniger als vier enge soziale Kontakte pro Monat an, was als soziale Isolation gewertet werden kann (Spaderna et al. 2012). Diese psychischen Belastungen beeinträchtigten insgesamt die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten weit mehr als der objektive medizinische Zustand (Bunyamin, Spaderna und Weidner 2013).
Psychosoziale Probleme in der Wartezeit
Im weiteren Verlauf bis April 2010 waren bereits 53 Personen während der Wartezeit verstorben. Dieses Risiko war für Personen, die nicht depressiv und gut sozial integriert waren, niedriger als für Personen, die entweder depressiv oder sozial isoliert oder beides waren. Allerdings war dieser Unterschied statistisch nicht bedeutsam. Hier ist es jedoch wichtig, sich das gesamte Bild anzusehen und nicht nur Sterbefälle in den Blick zu nehmen: So erhöhte Depressivität kombiniert mit sozialer Isolation signifikant das Risiko, wegen Verschlechterung des Gesundheitszustandes ein mechanisches Herzunterstützungssystem zur Überbrückung der Wartezeit implantiert zu bekommen oder hochdringlich transplantiert zu werden. So konnte der Tod auf der Warteliste zwar vermieden werden, die psychosoziale Verfassung hatte sich aber dennoch nachweislich ausgewirkt. Darüber hinaus konnten 31 Patientinnen und Patienten in diesem Zeitraum wieder von der Warteliste abgemeldet werden, weil sich ihr Gesundheitszustand entscheidend gebessert hatte. Dies war deutlich wahrscheinlicher für diejenigen, die zu Beginn der Wartezeit keine depressiven Symptome gezeigt hatten und gut sozial
Die Wartezeiten auf ein geeignetes Organ sind in Deutschland in den letzten Jahren angestiegen. Selbst Patientinnen und Patienten, deren Erkrankung so fortgeschritten ist, dass sie mit dem Status »hochdringlich« auf der Warteliste stehen, müssen mittlerweile im Durchschnitt sechs Monate auf ein Herz warten (Smits et al. 2013). Die Unsicherheit, ob man das Eintreffen eines geeigneten Organes noch erleben wird, die Symptome der Erkrankung und der damit einhergehende Verlust von Unabhängigkeit belasten die Betroffenen (Engle 2001). In unserer Längsschnittstudie »Warten auf ein neues Herz«, an der sich 318 Personen beteiligten, die im Zeitraum von April 2005 bis Dezember 2006 in 17 Kliniken neu auf die Warteliste aufgenommen worden waren, ließen sich psychosoziale Probleme bereits zu Beginn der Wartezeit belegen (Spaderna et al. 2009). Von den 58 Frauen und 260 Männern im Alter von durchschnittlich 53 Jahren wiesen insgesamt 39 Prozent erhöhte Depressivitätswerte auf, die eine klinische Störung indizierten. 18 Prozent aller Teilnehmenden
Psyche und Prognose
Leidfaden, Heft 4 / 2017, S. 46–48, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202
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Auch in den Jahren nach der Transplantation hatten Personen mit günstigen psychosozialen Ausgangsbedingungen bessere Überlebenschancen.
integriert waren. All diese Ergebnisse blieben statistisch bedeutsam, wenn Alter und wichtige medizinische Indikatoren der Erkrankungsschwere in den Analysen berücksichtigt wurden (Spaderna et al. 2012). Auch in den Jahren nach der Transplantation hatten die Personen mit den günstigen psychosozialen Ausgangsbedingungen bessere Überlebenschancen als Personen mit einem oder beiden Risikofaktoren (Spaderna et al. 2014a). Gesundheitsverhalten Neben psychosozialen Merkmalen spielten auch Aspekte des Gesundheitsverhaltens, die zu Beginn der Wartezeit erfasst worden waren, eine Rolle für den Verlauf der Wartezeit. Aktives Rauchen, eine absolute Kontraindikation für die Herztransplantation, wurde von zwölf Personen berichtet
und war mit einem erhöhten Sterberisiko während der Wartezeit verbunden (Gali et al. 2016). Ein häufiger Verzehr von Nahrungsmitteln, die reich an Salz und gesättigten Fettsäuren sind, erwies sich als unabhängiger Risikofaktor für die hochdringliche Transplantation. Von Vorteil für das Überleben während der Wartezeit waren dagegen ein häufiger Verzehr von Nahrungsmitteln, die reich an mehrfach ungesättigten Fettsäuren sind, sowie mehr körperliche Aktivitäten zu Beginn der Wartezeit (Spaderna et al. 2014b; Spaderna et al. 2013). Nach der Transplantation kommt dem Gesundheitsverhalten ebenfalls hohe Bedeutung zu: Aufgrund der immunsuppressiven Medikation zur Vermeidung von Organabstoßung sind Hygienemaßnahmen zum Schutz vor Infektionen wichtig; Sonnenschutzverhalten hilft, Hauttumoren zu vermeiden. Gesunde Ernährung und
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körperliche Aktivität tragen zur Vermeidung von Übergewicht und Folgeerkrankungen bei (Kugler et al. 2015). Unterstützung für den ganzen Menschen Der medizinische, objektiv messbare Gesundheitszustand ist offenbar nicht allein ausschlaggebend für den Verlauf der Erkrankung und der Transplantation. Es gibt vielmehr emotionale, soziale und verhaltensbezogene Ansatzpunkte, um Patientinnen und Patienten, bereits während sie auf eine Herztransplantation warten, zu unterstützen und ihren Gesundheitszustand zu stabilisieren. Tatsächlich äußern 50 Prozent der Patientinnen und Patienten einen Bedarf an psychologischer Betreuung (Schulz et al. 2017). Darüber hinaus können multidisziplinäre Teams Betroffenen und ihren Angehörigen mit Edukation und Beratung, Maßnahmen zur Verhaltensänderung und psychosozialer und spiritueller Begleitung zur Seite stehen. Auch angesichts fortgeschrittener körperlicher Erkrankungen und hochspezialisierter medizinischer Versorgung gilt es, den gesamten Menschen mit seinen Emotionen, sozialen Bedingungen und Verhaltensweisen im Blick zu haben. Maßnahmen, um bei Bedarf die Patientinnen und Patienten ganzheitlich zu unterstützen, verdienen stärkere Aufmerksamkeit. Prof. Dr. Heike Spaderna, Dipl.-Psych., ist Professorin für Gesundheitspsychologie mit den Schwerpunkten Prävention und Rehabilitation an der Universität Trier. Sie ist Ko-Direktorin des dualen Bachelorstudiengangs Pflegewissenschaft – Klinische Pflege. E-Mail: [email protected] Literatur Bunyamin, V.; Spaderna, H.; Weidner, G. (2013). Health behaviors contribute to quality of life in patients with advanced heart failure independent of psychological and medical patient characteristics. In: Quality of Life Research, 22, S. 1603–1611.
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Das biopsychosoziale Schmerzmodell Entwicklung, Definition und Implikationen
Katrin Neustadt, Ulrike Kaiser, Rainer Sabatowski Chronischer Schmerz Schmerzen stellen ein komplexes System dar, das sich aus verschiedenen Komponenten, unter anderem der Nozizeption sowie der zentralen Schmerzverarbeitung beziehungsweise der Schmerzdämpfung durch absteigende hemmende Bahnen zusammensetzt und vielfältigen Modulationen (zum Beispiel: endokrinologisch, neuroanatomisch, psychologisch und sozial) unterliegt. Dies spiegelt sich auch in der Definition von Schmerz der International Organization for the Study of Pain (IASP) folgendermaßen wider: »Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potenzieller Gewebsschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen beschrieben wird.« Hier werden bereits somatische (körperliche) Aspekte mit psychologischen Aspekten (Gefühlserlebnis) in Verbindung gebracht. Allgemein wird zwischen akutem und chronischem Schmerz unterschieden. Dem akuten Schmerz, zum Beispiel nach einer Verletzung, kommt eine unmittelbare Warnfunktion zu. Ihm ist damit der Erhalt der körperlichen Integrität oder gar das Überleben zugeordnet. Dies lässt sich indirekt mit genetisch bedingten Erkrankungen belegen, bei denen die Personen kein Schmerzempfinden haben. Bei den sogenannten hereditären sensiblen und autonomen Neuropathien (Typ IV) sind Schmerzfasern massiv reduziert oder sogar nicht nachweisbar (Kurth 2015). Dies hat zur Folge, dass es bei den betroffenen Personen zu multiplen schmerzlosen (Selbst-)Verletzungen kommt, die in der Folge zu erheblichen körperlichen Beeinträchtigungen bis hin zum Tod führen können.
Der Aspekt der unmittelbaren Warnfunktion hat sich beim chronischen Schmerz dagegen hin zu einem eher globalen Anzeiger verschoben, der auf Ungleichgewichtungen innerhalb des gesamten Systems des Patienten hinweist. Die Rolle psychosozialer Einflussfaktoren auf chronische Schmerzen tritt neben den biologischen Faktoren deutlicher in den Vordergrund. Chronischer Schmerz definiert sich zum einen über den Zeitfaktor (das heißt die Dauer der persistierenden Schmerzen zum Beispiel nach einem ursprünglichen Trauma beziehungsweise über die Dauer im Rahmen einer chronischen Erkrankung per se). Zum anderen kann er unabhängig trotz der Abwesenheit des möglicherweise ursprünglich auslösenden Faktors persistieren und wird dann als eigenständige Erkrankung definiert. Chronische Schmerzen sind ein häufig anzutreffendes Phänomen mit erheblichen psychosozialen und auch gesamtgesellschaftlich-ökonomischen Konsequenzen. Eine Datenerhebung für Europa ergab für Deutschland, dass ca. elf Millionen Menschen unter chronischen Schmerzen leiden. Meist bestanden die Schmerzen schon länger, bei jedem fünften Patienten mehr als zwanzig Jahre. Zu den häufigsten Schmerzarten zählten Schmerzen des muskuloskelettalen Systems, inklusive chronischer Rückenschmerzen. Die Schmerzen führten bei dem überwiegenden Teil der befragten Patienten zu erheblichen Einschränkungen der Aktivitäten des täglichen Lebens und häufig zu zusätzlichen Beeinträchtigungen der Arbeitsfähigkeit (Breivik et al. 2006). Im Rahmen einer differenzierteren Untersuchung von Häuser und Kollegen (2014) zeigte sich für Deutschland allerdings, dass die Präva-
Leidfaden, Heft 4 / 2017, S. 49–54, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202
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lenz chronischer Schmerzen mit mehr als 26 Prozent der befragten Bevölkerung im Vergleich zur europäischen Untersuchung noch höher lag, der Anteil der Patienten mit chronischen, beeinträchtigenden Schmerzen, die damit die Kriterien des Vorliegens einer Schmerzerkrankung erfüllten, mit ca. 7 Prozent deutlich geringer ausfiel. Der Anteil von Patienten mit chronischen Schmerzen, assoziiert mit körperlichen, seelischen und sozialen Beeinträchtigungen, lag sogar nur noch bei etwas weniger als 3 Prozent vor. In diesem Artikel möchten wir den Wandel im Verständnis des Schmerzes vom biomedizinischen hin zum biopsychosozialen Ansatz skizzieren und diesen Ansatz genauer vorstellen. Der therapeutische Ansatz der interdisziplinären mul-
timodalen Schmerztherapie, der auf diesem Verständnis des Schmerzes basiert, wird in seinen wesentlichen Kernpunkten dargestellt und es werden Implikationen für Betroffene und deren Angehörige abgeleitet. Das Schmerzkonzept im Wandel Bis weit in das 20. Jahrhundert bestand die Annahme, dass Schmerzen stets durch einen klar benennbaren ätiologischen Faktor (etwa eine Verletzung) beziehungsweise als pathophysiologisch erklärbares Symptom einer Erkrankung begründet seien. Das Schmerzerleben wurde demzufolge als ein biomedizinisches Problem interpretiert.
EXKURS: Was Descartes zum Schmerzverständnis beitrug Dieses somatische Verständnis des Schmerzes blickt auf eine lange Tradition zurück und wird auf René Descartes (1596–1650) zurückgeführt. Das sogenannte kartesianische Modell (von Cartesius = lateinisch für Descartes) setzt eine somatische Ursache voraus, dessen Reiz von Nerven weitergeleitet wird und zur Schmerzwahrnehmung führt. Diese Sichtweise stellte damals insofern eine Revolution dar, als dass zwei für den Menschen in seiner Wahrnehmung getrennte Entitäten – Körper (res extensa) und Geist (res cognitans) – eingeführt und unabhängig voneinander verstanden wurden. Mit dieser Dichotomisierung in die körperliche und die seelische Ebene bereitete Descartes die Grundlage des mechanistischen kartesianischen Schmerzmodells, das die Auffassung von der Trennung von Geist und Körper bis heute maßgeblich beeinflusst. Dieses Verständnis findet sich selbst in modernen Schmerztheorien. Die Ansicht, dass es psychogen oder somatogen versursachte Schmerzen gebe, ist ein solches, weit verbreitetes, Beispiel.
Diesem Verständnis entsprechend h errschten auch überwiegend kausale und unimodale Schmerztherapieansätze vor, die zum Ziel hatten, die zugrundeliegende Erkrankung zu behandeln und damit das Symptom »Schmerz« zu reduzieren. Die ersten anästhesiologischen Schmerztherapieeinrichtungen wurden vor dem Zweiten Weltkrieg in New York gegründet, später folgten erste europäische Einrichtungen in London (1947) und eine Vielzahl weiterer Schmerzkliniken und -ambulanzen in den USA. Gemäß dem
damaligen biomedizinischen, unimodal-somatischen Verständnis von Schmerz wurden vor allem passive Behandlungsmethoden angewandt, zum Beispiel Injektionsbehandlungen, Akupunktur oder medikamentöse Therapien, beziehungsweise wurde versucht, schmerzverursachende Faktoren zu identifizieren und zu beseitigen. Diese unimodalen Ansätze erwiesen sich jedoch für eine zunehmende Anzahl von Patienten mit chronischen Schmerzen (beispielsweise Rückenschmerzen) als wenig effektiv. Der biomedi-
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Auguste Rodin, Rose Bennet / Private Collection / Photo © Boltin Picture Library / Bridgeman Images
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Anhaltende Schmerzen führen nicht nur körperlich zu Veränderungen, wie Schonhaltungen oder Veränderungen in körperlichen Strukturen, sondern wirken sich auch auf der psychischen und sozialen Ebene aus.
zinische Erklärungsansatz schien in diesen Fällen keine ausreichende Begründung des Schmerzes zu liefern und bedurfte der Modifikation. Diese Erkenntnis, welche unter anderem von dem Anästhesisten John J. Bonica (1917–1994) formuliert wurde (vgl. Sabatowski et al. 2004), führte nach dem Zweiten Weltkrieg zur Konzeption von multidisziplinären Schmerztherapieeinrichtungen in den USA. Bonica gründete 1947 im Tacoma General Hospital in Tacoma, Washington, eines der ersten Behandlungszentren für Patien-
ten mit chronischen Schmerzen. Er engagierte sich außerdem bei der Gründung der International Association for the Study of Pain (IASP). Durch diese internationale Initiative wurde nicht nur die Relevanz des Schmerzes für Wissenschaft und Praxis bestärkt, sondern auch die Entwicklung des biopsychosozialen Schmerzmodells vorangetrieben. Von wesentlicher Bedeutung waren dafür die Beobachtungen des Psychiaters George L. Engel (1913–1999), der bereits 1959 bemerkte, dass bei manchen Patienten das Ausmaß der objektiven körperlichen Befunde nicht in Übereinstimmung mit dem subjektiv berichteten Leiden stand (Engel 1959). In diesem Sinne zeigten Wilbert E. Fordyce (1923–2009; Fordyce et al. 1968) und Richard A. Sternbach (1974) in den späten 1960er und den 1970er Jahren auf, dass pathologische Veränderungen und die Schmerzerkrankung voneinander unabhängige Variablen darstellen. Sie empfahlen den Einsatz psychologischer, verhaltenstherapeutischer Maßnahmen, da sie davon ausgingen, dass psychische Faktoren, auch ohne Krankheitswert, chronische Schmerzen beeinflussen. Im Jahr 1977 veröffentlichte Engel das biopsychosoziale Konzept des Schmerzes: »The need for a new medical model: A challenge for biomedicine«. In dieses erweiterte Schmerzmodell wurden sowohl biologische (somatische) Komponenten der Erkrankung als auch psychische und sozio-kulturelle Einflüssen integriert. Sie sollten in ihrer Gesamtheit zur Erklärung von Schmerzen herangezogen werden. Im Rahmen eines systematischen Reviews prüften van Tulder und Kollegen (1997) diese Beobachtungen von der fraglichen Beziehung zwischen körperlichem Befund und Ausmaß des Schmerzerlebens. Sie untersuchten Studien zum Zusammenhang von Befunden bildgebender radiologischer Untersuchungen und nichtspezifischem Rückenschmerz. Anhand ihrer Ergebnisse kamen die Autoren zu dem Schluss, dass im Wesentlichen kein Zusammenhang von radiologischen Befunden mit dem Rückenschmerz aufgezeigt werden
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konnte, außer im Fall von Degenerationen. Allerdings bewerteten die Autoren auch den Zusammenhang von Schmerz und Degeneration als nicht überzeugend. Engels Modell des biopsychosozialen Schmerzes wurde somit bestätigt und in seiner Gültigkeit bestärkt. Es hat Eingang in das Verständnis chronischer, aber inzwischen auch akuter Schmerzen gefunden und eine Vielzahl an Forschung in den letzten Jahrzehnten ermöglicht. Schmerz als multidimensionales Geschehen – das biopsychosoziale Schmerzkonzept Im Rahmen des biopsychosozialen Konzeptes wird Schmerz als ein multidimensionales Syndrom gesehen. Während Akutschmerz durch die Komponenten Schmerzintensität, Schmerzqualität (sensorisch und affektiv), Lokalisation und zeitliche Charakteristika (etwa in Form von Attacken auftretend) charakterisiert werden kann, wird chronifizierter Schmerz damit nicht ausreichend in seinem Wesen beschrieben. Durch die
lange zeitliche Dimension der Schmerzerfahrung bei Patienten mit chronischen Schmerzen kommen wesentliche weitere Aspekte hinzu. So führen anhaltende Schmerzen nicht nur körperlich zu Veränderungen, wie Schonhaltungen, Veränderungen in körperlichen Strukturen (beispielsweise Muskelabbau, muskuläre Verspannungen), sondern wirken sich auch auf der psychischen und sozialen Ebene aus. Viele Patienten mit chronischen Schmerzen machen die Erfahrung, dass alltägliche Tätigkeiten nicht oder nur unter großer Anstrengung für sie umsetzbar sind. Dies stellt nicht nur an die Organisation des Alltags eine neue Herausforderung, sondern wirkt sich auch auf das Erleben der eigenen Person, der eigenen Kompetenzen, Rollenfunktionen und Fähigkeiten aus. Gerade für Personen, die eine selbstständige Lebensführung gewohnt sind, stellt dies eine enorme Belastung dar. Neben den Umstellungen der Lebensführung müssen auch psychische Aspekte, wie Selbstbild, Rollenverständnis oder Zukunftsperspektive, der neuen Situation angepasst werden. Gefühle der Hoffnungs- und Hilflosigkeit gegenüber dem Schmerz spielen dabei für die Betroffenen ebenso eine wichtige Rolle wie Sorgen um die finanzielle Absicherung der Zukunft (gegebenenfalls auch der Familie) und Ängste vor den sich vielleicht verschlimmernden Schmerzen oder deren nachhaltigen Auswirkungen in wichtigen sozialen Bereichen (Arbeitsplatzverlust, Partnerschaftskonflikte etc.). Nicht selten münden die Versuche, Schmerz zu vermeiden, sowie die Erfahrung der verminderten Leistungsfähigkeit in Rückzugsverhalten aus wichtigen sozialen Beziehungen und Aktivitäten und damit mittelfristig in die psychische Isolation. An dieser Stelle entstehen oft begleitende psychische Erkrankungen wie Depressionen, Ängste oder Suizidwünsche. Wichtig für eine gelungene Anpassung an die veränderte Situation von Patienten mit chronischen Schmerzen ist die Unterstützung aus dem unmittelbaren Umfeld. Oftmals jedoch beklagen Patienten ein mangelndes Verständnis
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beim Gegenüber, das häufig auch in dem stillen Vorwurf der Simulation oder der Verweigerung des Patienten besteht. Auch wenn die hier skizzierten Beeinträchtigungen nur jeweils Beispiele sind, so zeigen sie doch, dass sich chronische Schmerzen in ihrem Erleben deutlich von dem Erleben akuter Schmerzen unterscheiden. Psychische und soziale Beeinträchtigungen spielen eine immer größer werdende Rolle und wandeln sich möglicherweise im Krankheitsverlauf zur führenden Problematik. Mit dem veränderten Verständnis des Schmerzes, das über das biomedizinische Verständnis inzwischen zunehmend hinausgeht und das psychische und soziale Aspekte integriert, haben sich auch therapeutische Ansätze erweitert. Die interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie basiert auf einem biopsychosozialen Ansatz.
EXKURS: Total Pain – das erweiterte Schmerzkonzept der Palliativmedizin Dame Cicely Saunders (1918–2005), Begründerin der ersten modernen Hospize und Pionierin der Palliativmedizin, prägte in den frühen 1960er Jahren im Kontext der Palliativmedizin den Begriff des »total pain«, bestehend aus vier Dimensionen: physisch, psychisch, sozial und spirituell. Aufgrund ihrer Erfahrungen und Erlebnisse mit Palliativpatienten betonte Saunders die Bedeutsamkeit einer ganzheitlichen Sicht auf die Patienten und ihr Schmerzerleben. Sie erachtete alle vier Ebenen des Schmerzes als relevant, um das Erleben von sterbenskranken/sterbenden Personen zu verstehen. Die Bezeichnung als »total pain«, frei übersetzt als »allumfassender Schmerz«, bringt diese Grundhaltung zum Ausdruck.
Der Therapieansatz zum biopsychosozialen Schmerzmodell – die interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie Für Deutschland wurden Rahmenbedingungen für die Ausgestaltung dieser Therapieform durch eine Kommission der Deutschen Schmerzgesellschaft festgelegt (Arnold et al. 2009; Kaiser et al. 2015; 2017). Die Kerncharakteristika beinhalten, dass die unterschiedlichen Fachdisziplinen im Team gleichzeitig und vor allem inhaltlich auf-
einander abgestimmt bei der Diagnostik und der Behandlung des Patienten integriert zusammenarbeiten. Die Einigung auf gemeinsame Behandlungsziele und regelmäßige Kommunikation im Team sind dafür Grundvoraussetzungen. Das Behandlerteam muss aus einem Arzt, einem Psychologen/Psychotherapeuten und mindestens einer weiteren Fachdisziplin (zum Beispiel Physiotherapeuten) bestehen. Als Behandlungsziel wird dabei die Wiederherstellung der »objektiven und subjektiven Funktionsfähigkeit« angesehen. Die-
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se Formulierung geht auf das zugrundeliegende Konzept von Mayer und Gatchel (1988) zurück, welche mit dem Begriff des »functional restoration« die Vielschichtigkeit des Schmerzerlebens und damit des Behandlungsziels fokussieren und damit in ihrer Reichweite über die üblichen unimodalen Ansätze hinausgehen. Die Effektivität der interdisziplinären multimodalen Schmerztherapie wurde bereits in zahlreichen nationalen und internationalen Studien untersucht und belegt. Fazit Das biopsychosoziale Modell gibt Betroffenen, Angehörigen und auch Behandlern ein Konzept an die Hand, das es erlaubt, den Schmerz mit seinen komplexen Wechselwirkungen und verschiedenen Komponenten wahrzunehmen. Demzufolge ist eine isolierte Berücksichtigung der körperlichen Komponente des Schmerzes im Rahmen der Therapie aus heutiger Sicht nicht mehr angemessen. Therapeutisch findet die biopsychosoziale Natur des Schmerzes Berücksichtigung in Therapieformen wie der interdisziplinären multimodalen Schmerztherapie. Hier wird der Patient mit seinen erlebten Beeinträchtigungen sowohl im körperlichen, psychischen sowie sozialen Bereich als Ganzes gesehen und integrativ behandelt.
Literatur Arnold, B.; Brinkschmidt, T.; Casser, H. R. et al. (2009). Multimodale Schmerztherapie – Konzepte und Indikationen. In: Schmerz 23, S. 112–120. Breivik, H.; Collett, B.; Ventafridda, V.; Cohen, R.; Gallacher, D. (2006). Survey of chronic pain in Europe: Prevalence, impact on daily life, and treatment. In: European Journal of Pain, 10, S. 287–333. Engel, G. L. (1959). Psychogenic pain and the pain-prone patient. In: American Journal of Medicine, 26, S. 899–918. Engel, G. L. (1977). The need for a new medical model: A challenge for biomedicine. In: Science,196, S. 129–136. Fordyce, W.; Fowler, R.; DeLateur, B. (1968). An application of behavior modification technique to a problem of chronic pain. In: Behaviour Research and Therapy, 6, S. 105–107. Häuser, W.; Schmutzger, G.; Henningsen, P.; Brähler, E. (2014). Chronische Schmerzen, Schmerzkrankheit und Zufriedenheit der Betroffenen mit der Schmerzbehandlung in Deutschland. Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe. In: Schmerz, 28, S. 483–492. Kaiser, U.; Sabatowski, R.; Azad, S. C. (2015). Multimodale Schmerztherapie – Eine Standortbestimmung. In: Schmerz, 29, S. 550–556. Kaiser, U.; Treede, R. D.; Sabatowski, R. (2017). Multimodal pain therapy in chronic non-cancer pain – gold standard or need for further clarification? Pain doi: 10.1097/j. pain.0000000000000902 Kurth, I. (2015). Sensorisch-autonome Neuropathien und Natriumkanal-assoziierte Schmerzerkrankungen. In: Schmerz, 29, S. 445–457. Mayer, T. G.; Gatchel, R. J. (1988). Functional restoration in spinal disorders: The sports medicine approach. Philadelphia. Sabatowski, R.; Schäfer, D.; Kasper, S. M.; Brunsch, H.; Radbruch, L. (2004). Pain treatment: A historical overview. In: Current Pharmaceutical Design, 10, S. 701–716. Sternbach, R. A. (1974). Pain patients: Traits and treatment. New York. van Tulder, M. W.; Assendelft, W. J. J.; Koes, B. W.; Bouter, L. M. (1997). Spinal radiographic findings and nonspecific low back pain. In: Spine, 22, S. 427–434.
Katrin Neustadt, Dipl.-Psych., ist Psychologin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im VAPAIN- sowie EVaSIMST-Projekt.
Dr. rer. nat. Ulrike Kaiser, Dipl.-Psych., ist Psychologische Psychotherapeutin und leitende Psychologin am UniversitätsSchmerzCentrum am Universitätsklinikum Dresden. Darüber hinaus leitet sie den Forschungsschwerpunkt zur Evaluation multimodaler Schmerztherapiekonzepte und -erfassungsinstrumente (VAPAIN und EVaSIMST).
Prof. Dr. med. Rainer Sabatowski ist Facharzt für Anästhesiologie und hat die Zusatzbezeichnungen Palliativmedizin sowie Spezielle Schmerztherapie. Er leitet das UniversitätsSchmerzCentrum am Universitätsklinikum Dresden. E-Mail: [email protected]
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Placebos: Ohne Wirkstoff, aber nicht ohne Wirkung Sven Benson und Sigrid Elsenbruch Historisches: Von Schmerz, PlaceboGruppen und der Placebo-Antwort Es müssen dramatische Szenen gewesen sein, über die der US-amerikanische Militärarzt Henry K. Beecher, später erster Ordinarius für Anästhesie an der Harvard Medical School, in seiner Arbeit »The Powerful Placebo« (1955) berichtete. So standen ihm während seiner Einsätze im Zweiten Weltkrieg in Italien und Nordafrika wiederholt nicht ausreichend Schmerzmittel zur Verfügung, um verwundete Soldaten adäquat behandeln zu können. Beecher behalf sich in dieser Not, indem er statt der eigentlich notwendigen Gabe von Morphin eine Injektion mit einer wirkstofffreien Kochsalzlösung verabreichte, zugleich aber seinen Patienten versicherte, es handele sich um eben jenes Morphin, also eine hochwirksame Schmerzmedikation. Bei zumindest einem Teil der so »behandelten« Patienten konnte er eine deutliche und auch länger anhaltende Abnahme der Schmerzen erreichen. Diese Erlebnisse waren es, die Bee cher zu einer systematischen Auseinandersetzung mit den beobachteten Placebo-Effekten brachten. Auch wenn einige seiner Studien inzwischen kritisch diskutiert werden, kann Beecher doch als der Vater der modernen Placebo-Forschung gelten. Die von Beecher vorangetriebene Idee, die Wirksamkeit neuer Medikamente systematisch gegen eine Placebo-Kontrollbedingung zu testen, in der eine wirkstofffreie Substanz (eben ein Placebo) anstelle des echten pharmakologischen Präparats verabreicht wird, ist somit noch vergleichsweise jung: Erst Mitte des 20. Jahrhunderts wurden randomisierte Placebo-kontrollierte Studien zur Forschungsmethode der Wahl.
In solchen Studien zeigt sich oftmals auch in den sogenannten Placebo-Gruppen eine deutliche Verbesserung der Symptomatik, die an den Effekt der echten Medikation heranreichen kann (vgl. Enck et al., 2013; Elsenbruch und Enck, 2015). Heute wissen wir, dass es insbesondere die psychologischen Effekte der Erwartung sind, die eine Symptomverbesserung in den Placebo-Gruppen klinischer Studien bewirken. Diese psychologischen Effekte werden unter dem Begriff »PlaceboAntwort« zusammengefasst (vgl. Enck et al. 2013; Fehse et al. 2015). Mit dieser Placebo-Antwort, also den psychologischen Anteilen, die dem Placebo-Effekt zugrunde liegen, befasst sich seit rund zwei Jahrzehnten ein wachsender Forschungszweig mit dem Anliegen, zum einen die zugrunde liegenden Mechanismen besser zu verstehen und zum anderen eben diese Erwartungseffekte gezielt zum Wohle von Patienten zu nutzen. Die Placebo-Antwort: Wie uns positive Erwartungen, Lernerfahrungen und soziale Beziehungen helfen können Die psychologischen Mechanismen der PlaceboAntwort basieren nach heutigem Wissen auf drei Säulen: Erwartungseffekte: Positive Erwartungen, etwa an die Wirksamkeit einer neuen Therapie, können Symptome positiv beeinflussen und sind somit ein zentraler Bestandteil der Placebo-Antwort. So konnte in einer Pionierstudie der PlaceboForschung bei Patienten mit Morbus Parkinson eine Verbesserung der charakteristischen motorischen Symptome durch Erwartungseffekte gezeigt werden (de la Fuente-Fernández et al. 2011).
Leidfaden, Heft 4 / 2017, S. 55–59, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202
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In dieser Studie wurden die Patienten darüber informiert, dass sie ein hochwirksames ParkinsonMedikament erhalten. De facto wurde das Medikament jedoch durch ein wirkstofffreies Placebo ersetzt. Nach der Einnahme zeigte sich nicht nur eine Verbesserung der Symptomatik. Mit Hilfe der Positronen-Emissions-Tomographie (PET, ein bildgebendes Verfahren zur Darstellung von Stoffwechselprozessen im Gehirn) konnte auch eine Veränderung der Konzentration des Neurotransmitters Dopamin in einer zentralen Hirnregion – dem Striatum – nachgewiesen werden. Offenbar wurde durch die Erwartung, ein wirksames Medikament zu erhalten, die Neurotransmitterproduktion in genau dem Bereich des Gehirns positiv beeinflusst, in dem ein Dopamin-Mangel die Parkinson-Symptomatik verantwortet. Auch Schmerzen können durch positive Therapieerwartungen gelindert werden. In einer Reihe von experimentellen Studien konnte beispielsweise unsere Arbeitsgruppe bei Gesunden und bei Patienten mit chronischen viszeralen Schmerzen (also Schmerzen des Bauchraumes) zeigen, dass sich die Schmerzen allein durch die Erwartung, eine effektive Schmerztherapie zu erhalten, reduzieren lassen (Elsenbruch und Enck 2015; Elsenbruch und Enck 2016). In den Experimenten erhielten die Probanden eine Reihe schmerzhafter Reize. Wurden die Probanden darüber informiert, dass während des Experiments eine hochwirksame Schmerzmedikation per Infusion appliziert wird, wurden identische Schmerzreize als deutlich weniger intensiv bewertet als bei der wahrheitsgemäßen Information, dass die Infusion lediglich aus einer wirkstofffreien Kochsalzlösung besteht. Diese Unterschiede im Schmerzempfinden ließen sich mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie auch in schmerzverarbeitenden Regionen des Gehirns darstellen. Eine Vielzahl von Studien dokumentiert für unterschiedliche Schmerzreize, dass positive Erwartungen an eine Therapie zu einer veränderten Verarbeitung der Schmerzreize und insbesondere zu einer Aktivierung schmerzhemmender Pro-
zesse im Gehirn und im Rückenmark führen. Die Verbesserung der Symptomatik aufgrund von positiven Erwartungen ist also nicht nur eine »Einbildung«, sondern geht mit nachweisbaren neurobiologischen Veränderungen in den jeweils relevanten Hirnregionen einher (Schedlowski et al. 2015). Anscheinend kann die jeweilige Information zum Placebo sogar die Wirksamkeit des Placebos beeinflussen: So wirkten als »teuer« vorgestellte Placebos besser gegen Schmerzen als »billige« Placebos, ein Befund, der auch vor dem Hintergrund der Anwendung von Generika interessant ist. In der Tat waren während eines weiteren Schmerzexperimentes nach der Einnahme von »Aspirin®« schmerzhemmende Hirnregionen stärker aktiviert als nach Einnahme eines »Generikums«. Dies, obwohl beide Tabletten wirkstofffreie Placebos waren (Fehse et al. 2015). Lernprozesse: Eine Placebo-Antwort kann auch durch frühere Erfahrungen mit einem Medikament (»bei Kopfschmerzen hat mir schon immer Ibuprofen am besten geholfen«) sowie durch Lernprozesse wie die klassische oder operante Konditionierung ausgelöst werden. Die klassische Konditionierung basiert auf einer gelernten Assoziation zwischen einem Reiz, zum Beispiel einem Geschmack, einem Geruch oder dem Anblick einer Tablette, und einer Reaktion, zum Beispiel einer Verbesserung der Symptomatik. Die Arbeitsgruppe um den Turiner Arzt und Neurowissenschaftler Fabrizio Benedetti (Amanzio und Benedetti 1999) konnte zeigen, dass die Wirkung eines Schmerzmittels konditioniert werden kann. In dem Experiment führten gesunde Probanden anstrengende Muskelübungen durch, die nach einigen Minuten so schmerzhaft wurden, dass die Probanden diese abbrechen mussten. An den folgenden beiden Versuchstagen wurde den Probanden Morphin als hochwirksames Schmerzmittel verabreicht. Die Probanden hielten nun – wenig überraschend – die Muskelübungen aufgrund der Morphinwirkung wesentlich länger durch. Am vierten Tag wurde, ohne dass die Probanden dies wussten, das Morphin durch
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der verdeckten Gabe somit keine Rolle, weshalb Symptomverbesserungen hier den rein pharmakologischen Effekt des Medikamentes widerspiegeln. In einer Serie von Studien bei postoperativen Schmerzen konnte gezeigt werden, dass sich der rein pharmakologische Effekt von Schmerzmitteln (verdeckte Gabe) durch die offene Gabe teilweise mehr als verdoppeln ließ. Anders ausgedrückt können auch potente Schmerzmedikamente ihre volle Wirkung erst dann entfalten, wenn eine positive Erwartungen induzierende Kommunikation zwischen Arzt und Patient hinzukommt.
Maestro Z / Colourbox
ein Placebo ersetzt. Dennoch hielten die Probanden fast ebenso lange durch wie nach der Morphingabe (und auch wesentlich länger als nach der alleinigen Induktion einer positiven Erwartung). Doch worauf lässt sich die Schmerzlinderung nach Placebo-Gabe zurückführen? Offenbar produzierte der Körper nach der Placebo-Injektion endogene Opioide, also körpereigene schmerzhemmende Stoffe. In der Tat ließ sich die konditionierte (gelernte) Placebo-Antwort durch das Medikament Naloxon, also ein Medikament, das die Wirkung von Morphin blockiert, komplett aufheben. Somit fußt also auch die gelernte PlaceboAntwort auf neurobiologischen Mechanismen, die der Wirkung des »echten« Medikaments entsprechen. Neben Schmerzen lassen sich mittels der klassischen Konditionierung auch Funktionen des Immunsystems und des Hormonsystems beeinflussen. Denkbar ist, dass in Zukunft über die konditionierte Placebo-Antwort medikamentöse Therapien unterstützt und optimiert werden können (Enck et al. 2013; Schedlowski et al. 2015). Soziale Aspekte und Arzt-Patienten-Beziehung Eine weitere zentrale Säule der Placebo-Antwort sind soziale Aspekte und die Arzt-Patienten-Beziehung (Schedlowski et al. 2015). Wie bedeutsam die Interaktion von Ärztin/Arzt und Patientin/Patient für den Effekt von Therapien ist, lässt sich beeindruckend am so genannten »Open-Hidden-Paradigma« zeigen. Hierbei werden Medikamente entweder »offen« (open) durch einen Arzt oder »verdeckt« (hidden) durch eine Computer-gesteuerte Pumpe injiziert. Bei der offenen Gabe findet also eine Interaktion mit der Ärztin oder dem Arzt statt, die Patienten wissen, dass sie nun das Medikament erhalten, positive Erwartungen können so entstehen. Bei der verdeckten Gabe hingegen wissen Patienten lediglich, dass zu einem zufälligen Zeitpunkt das Medikament über die Computer-gesteuerte Pumpe verabreicht wird. Erwartungs- und Interaktionseffekte spielen bei
Die »dunkle Seite« der Erwartung: Nocebo-Effekte Durch Erwartungen können Krankheitssymptome nicht nur positiv, sondern auch negativ beeinflusst werden. Die Entstehung oder Verschlechterung von Symptomen durch negative Erwartungen oder Lernprozesse wird mit dem Begriff »Nocebo« (übersetzt aus dem Lateinischen: »ich werde schaden«) bezeichnet. Nocebo-Effekte können durch Angst einflößende oder beunruhigende Informationen über Nebenwirkungen, wie sie im Beipackzettel, in Aufklärungsbroschüren oder in Einverständniserklärungen stehen, verursacht werden. Vermutlich können auch soziale Medien und die Kommunikation zwischen Patienten zum Nocebo-Effekt beitragen, wenn Risiken von Therapien oder beeinträchtigende
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Georges Braque, The Bird / INTERFOTO / A. Koch / VG Bild-Kunst, Bonn 2017
Positive Erwartungen an eine Therapie führen zu einer veränderten Verarbeitung der Schmerzreize und insbesondere zu einer Aktivierung schmerzhemmender Prozesse im Gehirn und im Rückenmark.
Nebenwirkungen betont oder sogar übertrieben dargestellt werden (siehe Bingel et al. 2014). Von großer Bedeutung für die Entstehung von Nocebo-Effekten sind darüber hinaus natürlich auch Informationen, die durch Ärzte/Ärztinnen und Behandler/-innen gegeben werden. In Gesprächen mit Patienten können Nocebo-Effekte (unabsichtlich) induziert werden, wenn zum Beispiel Nebenwirkungen oder Risiken stark betont werden (»Sie sind ein Risikopatient«; für weitere Beispiele siehe Häuser et al. 2012). Stattdessen sollten möglichst der Nutzen und positive Aspekte betont werden. Oftmals hilft bereits eine alternative Formulierung: So wurde beispielweise die Injektion eines Lokalanästhetikums in die Haut als signifikant weniger schmerzhaft empfunden, wenn zuvor der Nutzen (»den Einstichbereich taub machen«) anstelle des Einstichschmerzes (»ein Stich und Brennen, als hätte Sie eine Biene gestochen«) hervorgehoben wurde (vgl. Varelmann et al. 2010).
Konsequenzen für die Praxis? Wie lassen sich Erkenntnisse der Placebo-Forschung auf die Versorgungsrealität, also den Umgang mit Patienten und Patientinnen übertragen? Patienten ohne deren Wissen mit Placebos zu behandeln ist aus ethischen Gesichtspunkten nicht vertretbar. Erste Studien zeigen jedoch, dass Placebos auch bei offener Gabe (»open label placebo«) wirksam sein können. Zentral ist die Erkenntnis, dass die Wirkung von Medikamenten und Interventionen durch positive Erwartungen verstärkt werden. Die Placebo-Antwort kann also gezielt genutzt werden, um durch die Gabe von (realistisch) positiven Informationen die Wirksamkeit von medizinischen Interventionen zu erhöhen. Entsprechend sollten positive Informationen zur Wirkung sowie zu den Mechanismen und zum Eintritt der Wirkung ausführlich und verständlich gegeben werden. Medikamente soll-
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ten bewusst eingenommen (und nicht wie häufig üblich »eingeworfen«) werden, um die Effekte der positiven Erwartung und Lernprozesse optimal zu nutzen. Schließlich sollten positive wie negative Vorerfahrungen erfragt und verstärkt beziehungsweise vorsichtig ausgeräumt werden, da diese sich auf die aktuelle Behandlung übertragen können (vgl. Bingel et al. 2014; Enck et al. 2013; Schedlowski et al. 2015). Fazit • Placebo-Antworten sind mehr als »Einbildung«, sie entstehen durch Erwartungen und haben nachweisbare neurobiologische Grundlagen. • Wirkung und Nebenwirkung von medizinischen Behandlungen und pharmakologischen Interventionen können durch Placebo- und Nocebo-Mechanismen beeinflusst werden. • Die zugrundeliegenden Mechanismen der Placebo-Antworten sollten gezielt genutzt werden, um die Wirksamkeit und Verträglichkeit von medizinischen Behandlungen zu optimieren. • Diese Erkenntnisse sollten in der Aus- und Weiterbildung von Heilberufen sowie in der klinischen Praxis wesentliche stärkere Berücksichtigung finden, dabei spielt die positive Kommunikation mit Patientinnen und Patienten eine Schlüsselrolle.
Prof. Dr. Sven Benson, Krankenpfleger und Diplom-Psychologe, ist am Institut für Medizinische Psychologie und Verhaltensimmunbiologie der Universität Duisburg-Essen in Forschung und Lehre tätig. Seine Forschungsschwerpunkte befassen sich mit Placebo- und Nocebo-Effekten sowie mit der Rolle des Immunsystems bei Schmerz. E-Mail: [email protected]
Literatur Amanzio, M.; Benedetti, F. (1999). Neuropharmacological dissection of placebo analgesia: Expectation-activated opioid systems versus conditioning-activated specific subsystems. In: Journal of Neuroscience, 19, S. 484–494. Beecher, H. K. (1955). The powerful placebo. In: Journal of the American Medical Association, 159, S. 1602–1606. Bingel, U. and the Placebo Competence Team (2014). Avoiding nocebo effects to optimize treatment outcome. In: Journal of the American Medical Association, 312, S. 693–694. de la Fuente-Fernández, R.; Ruth, T. R.; Sossi, V.; Schulzer, M.; Calne, D. B.; Stoessl, A. J. (2011). Expectation and dopamine release: Mechanism of the placebo effect in Parkinsons disease. In: Science, 293, S. 1164–1166. Enck, P.; Bingel, U.; Schedlowski, M.; Rief, W. (2013). The placebo response in medicine: Minimize, maximize or personalize? In: Nature Reviews Drug Discovery, 12, S. 191–204. Elsenbruch, S.; Enck, P. (2015). Placebo effects and their determinants in gastrointestinal disorders. In: Nature Reviews Gastroenterology & Hepatology, 12, S. 7472–7485. Elsenbruch, S.; Enck, P. (2016). Psychobiologische Mechanismen bei der Pathophysiologie chronischer viszeraler Schmerzen. In: Der Schmerz, 30, S. 407–411. Fehse, K.; Maikowski, L.; Simmank, F.; Gutyrchik, E.; Meissner, K. (2015). Placebo responses to original vs. generic ASA brands during exposure to noxious heat: A pilot fMRI study of neurofunctional correlates. In: Pain Medicine, 16, S. 1967–1974 Häuser, W.; Hansen, E.; Enck, P. (2012). Nocebo phenomena in medicine: their relevance in everyday clinical practice. In: Deutsches Ärzteblatt International, 109, S. 459–465. Schedlowski, M.; Enck, P.; Rief, W.; Bingel, U. (2015). Neuro-bio-behavioral mechanisms of placebo and nocebo responses: Implications for clinical trials and clinical practice. In: Pharmacological Reviews, 67, S. 697–730. Varelmann, D.; Pancaro, C.; Cappiello, E. C.; Camann, W. R. (2010). Nocebo-induced hyperalgesia during local anesthetic injection. In: Anesthesia and Analgesia, 110, S. 868–870.
Prof. Dr. Sigrid Elsenbruch, Ph.D., istProfessorin für Experimentelle Psychobiologie unter Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Aspekte an der Universität Duisburg-Essen und forscht am Institut für Medizinische Psychologie und Verhaltensimmunbiologie mit ihrer Arbeitsgruppe zu biologischen und psychologischen Aspekten der Gehirn-Darm-Achse im Kontext viszeraler Schmerzen. E-Mail: [email protected]
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Psychotraumatisierungen bei Bundeswehrsoldaten im Auslandseinsatz Klaus J. Puzicha lung war ab 2002 der ISAF-Kampfeinsatz in Afghanistan. Mittlerweile sind Bundeswehrsoldaten bei Missionen in Europa, Asien und Afrika sowie im Mittelmeer und am Horn von Afrika im Einsatz. Aktuell beteiligen sich mehr als 3.200 Bundeswehrsoldaten an Einsätzen im Ausland (Stand: Februar 2017). Nach Angaben der Bundeswehr kamen 1992 bis 2015 bei diesen Auslandseinsätzen 106 Bundeswehrangehörige ums Leben. Am 24. Mai 1997 ereignet sich im Bundeswehrfeldlager Rajlovac in Bosnien-Herzogowina ein folgenschwerer Unfall: Eine Schusssalve löst sich versehentlich aus einem Spähpanzer Luchs, Schrapnells haben drei Soldaten schwer getroffen, zwei davon sterben. Der Journalist Klaus Pokatzky beschreibt seine Teilnahme an der truppenpsychologischen Nachbesprechung mit den zwanzig Augenzeugen am Folgetag in der Süddeutschen Zeitung:
Jean Veber, Masny, 1914 / akg-images / Jean-Pierre Verney
Seelische Verletzungen können jeden treffen: Naturkatastrophen, Verbrechen, Folter, schwere Unfälle, der Verlust eines geliebten Menschen können bei jedem Menschen Psychotraumata verursachen und, wenn es ganz schlimm kommt, einen Menschen für sein gesamtes weiteres Leben schädigen. Es gibt Berufsgruppen, die besonders gefährdet sind: Rettungskräfte und Feuerwehrleute, Ärzte, Polizisten, Lokomotivführer (die vor einem Suizidwilligen auf den Schienen sehr häufig nicht mehr anhalten können), Soldatinnen und Soldaten. Schon bald nach ihrer Aufstellung im Jahr 1955 hat die Bundeswehr sich an humanitären Hilfsaktionen im Ausland beteiligt. Daraus wurde im Verlauf der 1990er Jahre ein dauerhaftes und teils langjähriges Engagement in Auslandseinsätzen, anfangs in Somalia, dann in Bosnien, später im Kosovo. Höhepunkt dieser Entwick-
Leidfaden, Heft 4 / 2017, S. 60–63, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202
Schlacht bei Masny, September 1914: Verwundete französische Soldaten verlassen das Schlachtfeld.
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»Was darf der Zivilist, der auf dem Sitz des Rückwärtsfahrers im Geleit-Luchs die Schüsse hörte und nach dem Anblick der blutenden Männer genauso psychologisch betreut wurde wie die uniformierten Augenzeugen, aus den vertraulichen Sitzungen berichten? Von dem Soldaten, der immer wieder von Weinkrämpfen unterbrochen wurde, weil er einen engen Freund verloren hatte? Von dem danebensitzenden Kameraden, der, aufmerksam die Lage im Blick, sorgfältig Tempo-Tücher auf seiner Flecktarnhose ausbreitete und stets zum rechten Zeitpunkt herüberreichte? Oder wie gerade der so oft Weinende darauf bestand, die beiden ›Verursacher‹ aus dem Lazarett abzuholen, weil auch das Kameraden seien?« Wenn im Ersten Weltkrieg Soldaten nach wochenlangem Granatbeschuss mit großen Verlusten an Menschen in den Schützengräben von Verdun psychisch zusammenbrachen, wurde diese Reaktion auf Extremstress noch als »Kriegszittern« von vermeintlichen Feiglingen disziplinar geahndet. Das Selbstverständnis vom »harten Soldaten« war in der Wehrmacht, bis Anfang der 1990er Jahre aber auch in der Bundeswehr noch weit verbreitet. Erst die Auslandseinsätze brachten hier eine langsame Wende: Inzwischen sind die »Akute Belastungsreaktion« (ABR – die Phase des ersten Schocks nach einem Extremereignis) sowie die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS – wenn die Symptome chronifizieren) als Krankheit anerkannt. Hierbei hat geholfen, dass ABR und PTBS inzwischen auch in der »International Classification of Diseases« (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation aufgenommen sind. Entsprechend zeigt die Statistik der vom Sanitätsdienst der Bundeswehr mitgeteilten PTBSBehandlungskontakte eine ständig wachsende Zahl behandlungsbedürftiger Soldatinnen und Soldaten. Waren es von 1996 bis 2003 im Jahresdurchschnitt noch 44 Behandlungen, stieg seitdem die Anzahl kontinuierlich an: von durch-
schnittlich 101 pro Jahr (2004–2006) über 287 (2007–2009) und 931 (2010–2012) bis aktuell durchschnittlich 1623 (2013–2015). Trotz der obligatorischen Untersuchung aller Auslandsrückkehrer darf wohl auch heute noch von einer erheblichen Dunkelziffer ausgegangen werden: Viele Soldaten haben immer noch große Schwierigkeiten, ihr vermeintliches »Verrücktsein« richtig einzuordnen, zu akzeptieren und zu kommunizieren. Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz sehen sich spezifischen Belastungsfaktoren ausgesetzt (Wothe 2001): • Trennung von Heimat, Familie und dem gewohnten Umfeld über eine lange Zeit mit möglicher Sorge um das Wohlergehen der Angehörigen, dem Ertragen zwischenzeitlicher Unstimmigkeiten bei nur eingeschränkter Steuerungsmöglichkeit und Sorge um den Bestand der Beziehungen, • erschwerte Lebensbedingungen mit Einschränkungen bei Hygiene und Sauberkeit, starke Einschränkungen im Sexualverhalten und bei gewohnten Freizeitaktivitäten, • wesentlich erhöhte Dienstzeitbelastung bei eingeschränkten Regenerationsmöglichkeiten, • hohe Situationsunsicherheit, Informationsdefizite, erhöhte Unfallgefahr, permanenter Zeitdruck, • Furcht vor Versagen, dem Einsatz nicht gewachsen zu sein, • Unsicherheit bei der Konfrontation mit einer fremden Kultur, • Erleben von massiver Gewalt, Hass, Grausamkeiten unter der Zivilbevölkerung, • Anblick von schwersten Zerstörungen, Not und Leid, • Gefühle von auftragsbedingter Ohnmacht und Hilflosigkeit, • Bedrohung durch Minengefahr und potenziell aggressive Aktionen feindlich gesinnter Bevölkerung.
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Bundeswehr
6 2 K l a u s J . P u z i c h a
Wenn Menschen einem Extremereignis ausgesetzt werden, reagieren sie, trotz Vorbereitung und Training, nicht selten mit einem Schock. Extremsituationen für Soldaten können zum Beispiel ein unerwarteter Angriff mit Schusswaffen oder eine Minenexplosion sein. Nach US-amerikanischen Untersuchungen zeigen dann bis zu 70 Prozent der Betroffenen die klinisch-psychologischen Symptome einer ABR (Kowalski 2014): Bewusstseinseinengung, Wahrnehmungsstörung und Desorientiertheit und starke emotionale Schwankungen. Verzweiflung, Wut oder Aggression können mit scheinbarer Teilnahmslosigkeit abwechseln. Begleitet werden diese Symptome von allgemeinen Stressreaktionen wie Schwitzen, Herzrasen oder Übelkeit. Außerdem kommen dissoziative Symptome vor, also das Gefühl, nicht man selbst zu sein oder alles wie durch einen Filter oder eine Kamera zu erleben. Akut psychisch verwundete Soldaten sollten zunächst aus dem aktiven Dienst herausgelöst werden. Wenn die Anzahl Betroffener groß ist oder die Situation eine sofortige Ablösung unmöglich machen, können inadäquate und dysfunktionale Reaktionen eigene Kameraden oder die ganze Operation gefährden. International bekannt wurden zum Beispiel Verhaltensweisen bei Soldaten mit ABR, • die nach Waffeneinsatz mit Todesfolge die eigene Waffe gegen sich selbst gerichtet haben, • die Kameraden oder Vorgesetzte völlig unerwartet verbal oder körperlich angegriffen haben, • für die die eigenen Kenntnisse über Gefahren und Verhalten in gefährlichen militärischen Situationen nicht mehr abrufbar waren, • die militärische Weisungen gar nicht oder nur unvollständig ausgeführt haben, obwohl sie diese anscheinend verstanden hatten.
In der einem Extremereignis nachfolgenden Verarbeitungsphase verbessern sich bei den allermeisten Menschen die Beschwerden, sie nehmen normalerweise im Verlauf der Verarbeitung ab und verschwinden irgendwann völlig. Erst wenn auch nach mehreren Monaten das Schreckliche immer noch den Alltag in Form von Schlafstörungen, Albträumen oder auch als sich aufdrängende Erinnerungen (Flashbacks) überstrahlt, wenn das Leben zunehmend durch Schreckhaftigkeit, Vermeidung möglicher Auslöser (Trigger), durch Reizbarkeit und Wutausbrüche, ein Gefühl von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit, durch Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, sozialen Rückzug, durch Depression beeinträchtigt ist, dann liegt der Verdacht auf eine längerfristige Traumafolgestörung nahe. Die allermeisten an PTBS erkrankten Bundeswehrsoldaten werden psychotherapeutisch erfolgreich behandelt. Dauerhafte psychische Beeinträchtigungen liegen im einstelligen Prozentbereich (Bundesministerium der Verteidigung 2014) und damit deutlich unter der in der Literatur berichteten Lebenszeitprävalenz einer PTBS bei den anfangs genannten exponierten Personengruppen von teilweise über 50 Prozent. Das Phänomen Psychotraumatisierung von Bundeswehrsoldaten in Zusammenhang mit ihren Auslandseinsätzen wird kontinuierlich von großer öffentlicher und politischer Aufmerksamkeit begleitet und hat bei der Bundeswehr zu einer hohen Sensibilität gegenüber diesen Einsatzrisiken geführt. In den letzten zehn Jahren wurde ein Maßnahmenpaket entwickelt, das vielfältige Angebote beinhaltet: • Ausbildung zur Steigerung, zum Erhalt und zur Wiederherstellung der psychischen Fitness vor, während und nach einem Einsatz. • In den ersten drei Monaten nach Rückkehr Einsatznachbereitungsseminare, in denen unter psychologischer Leitung Konfliktabbau, Ressourcenaufbau und ein gedanklicher Abschluss des Einsatzes auch unter
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Beteiligung von Familienangehörigen angestrebt wird. In den Einsatzkontingenten stehen grundsätzlich sowohl »psychologische Ersthelfer«, speziell ausgebildete Peers, als auch die obligatorisch begleitenden Truppenpsychologen zur Verfügung. Drei Ebenen von Hilfsmaßnahmen lassen sich unterscheiden: –– Ebene 1 bezieht sich auf Maßnahmen der Selbst- und Kameradenhilfe, die durch Vorgesetzte, Kameraden oder Kollegen des Betroffenen erfolgen können. –– Ebene 2 betrifft die im Psychosozialen Netzwerk (PSN) zusammengeschlossenen Fachkompetenzen (Sanitätsdienst, Psychologischer Dienst der Bundeswehr, Sozialdienst der Bundeswehr, Militärseelsorge), die Hilfe und Unterstützung bereitstellen. –– Ebene 3 beinhaltet die Psychiater sowie ärztliche und psychologische Psychotherapeuten in den Bundeswehrkrankenhäusern. Die psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung bei PTBS-Diagnose hat drei Stufen: Stabilisierung, Traumabearbeitung und Reintegration. Stationäre und ambulante Therapieangebote gibt es in der Regel in Bundeswehrkrankenhäusern, aber auch bei zivilen Anbietern, auch in Intervallform oder, ergänzend, ein Therapieangebot über ein entsprechendes Internet-Portal. Ebenfalls sehr niederschwellige Informationsangebote sind im Netz auf den Websites www.angriff-auf-die-seele.de oder www.ptbs-hilfe.de verfügbar. Es sind dort Beiträge zu einsatzbedingten Belastungen, posttraumatischen Erkrankungen sowie Therapiemöglichkeiten zu finden. Daneben gibt es anonyme Stresstests zur selbstständigen Durchführung mit einer automatisierten Antwort je nach Testergebnis. In glei-
cher Form existiert ein Kurzfragebogen zur Alkoholproblematik. • Für Betroffene gibt es eine Telefonhotline der Bundeswehr. • Die mittlerweile in fast allen Bereichen zur Verfügung stehenden Truppenpsychologen/ -psychologinnen stellen eine fachlich kompetente erste Ansprechmöglichkeit dar. Darüber hinaus unterstützen sie Vorgesetzte und Kameraden von Betroffenen im Umgang mit den Erkrankten. • Seit 2011 gibt es im Verteidigungsministerium einen »Beauftragten für PTBS«, derzeit ein Generalarzt, der die Leitung des Ministeriums berät und Vorschläge macht, wie in der Bundeswehr die Prävention sowie die Behandlung, Betreuung und Versorgung Einsatzgeschädigter verbessert werden kann. Zudem ist er Ansprechstelle für Einsatzverwundete und kann hier vermittelnd und beratend tätig sein. Dr. Klaus J. Puzicha war bis zu seiner Pensionierung als Chefpsychologe im Verteidigungsministerium tätig. Seit 2003 arbeitet er ehrenamtlich im Zentrum für Palliativmedizin am Malteserkrankenhaus in Bonn mit Schwerpunkt im Ambulanten Hospizdienst. E-Mail: [email protected] Literatur Bundesministerium der Verteidigung (2014). Kompendium »Umgang mit psychischen Einsatzschädigungen einschließlich posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) in der Bundeswehr«. Kowalski, J. T. (2014). Psychotraumatisierung und akute Belastungsreaktion In: Kreim, G.; Bruns, S.; Völker, B. (Hrsg.), Psychologie für Einsatz und Notfall. Ansätze und Perspektiven der Militärpsychologie. 2., völlig überarb. und aktualisierte Neuauflage. Bonn. Wothe, K. (2001). Belastungsfaktoren im Einsatz. Internationale truppenpsychologische Erfahrungen mit Auslandseinsätzen, Unglücksfällen, Katastrophen. In: Puzicha, K. J.; Hansen, D.; Weber, W. W. (Hrsg.), Psychologie für Einsatz und Notfall. Bonn.
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Wohlbefinden trotz Widrigkeiten Die Perspektiven der Positiven Psychologie
Willibald Ruch und Christoph Kramm Die Entwicklung einer Wissenschaft, die das gute Leben untersucht Jeder Mensch wird sich Zeit seines Lebens in Phasen wiederfinden, in denen die negativen Aspekte des Daseins zu überwiegen scheinen. Rückschläge, Hindernisse, Misserfolge, Verluste, Krankheiten oder Todesfälle (mit) zu erleben ist unvermeidbar. Menschen haben jedoch die Kapazität, sich von solchen Ereignissen wieder zu erholen, daran zu wachsen und etwas Positives aus dem Umgang mit Widrigkeiten zu ziehen. Die Forschung aus dem Bereich des posttraumatischen Wachstums zeigt, dass ein beachtlicher Teil der Menschen nach einem schwerwiegenden Ereignis in vielerlei Hinsicht gestärkt wurde, zum Beispiel tiefere Freundschaften haben, neue Möglichkeiten entdecken, neue Interessen und Lebensziele entwickeln, mehr Sinn im Leben sehen oder das Leben mehr schätzen. Das Wissen über die Möglichkeit, etwas Nützliches aus dem Kampf mit Widrigkeiten zu ziehen, Wachstum und positive Veränderung zu erleben, kann für Personen bei der Bewältigung besonderer Herausforderungen und Krisen im Leben von großer Bedeutung sein. In der Positiven Psychologie stehen die positiven Aspekte menschlichen Erlebens und Verhaltens im Fokus. Durch die Positive Psychologie fand eine Rückbesinnung auf jene Tätigkeitsfelder statt, die in der Geschichte der Psychologie in ihren Anfängen primär von Bedeutung waren. Forschung zu Talenten und guten Eigenschaften sowie die Diagnostik von Begabungen waren einst zentrale Themen. In der Positiven Psychologie finden sie erneut ihren Raum. Das Wiederaufgreifen und Thematisieren von Bedingungen,
welche das Leben am meisten lebenswert machen, kann dazu beitragen, sowohl einzelne Individuen als auch die Gesellschaft als Ganzes zu stärken und voranzubringen. Doch ist es nicht vermessen, dass sich Psychologinnen und Psychologen mit der Suche nach Tugend, Lebenszufriedenheit und Glückseligkeit befassen, anstatt mit der Erforschung und Therapie psychischer Erkrankungen? Als Wegbereiterin der Positiven Psychologie hat Marie Jahoda bereits 1958 eine Antwort auf diese Frage angeboten. Sie konstatierte, dass es in der Psychologie um mehr gehen sollte als um die Wiederherstellung eines akzeptablen Zustandes für Menschen, die sich in psychischen Krisen befinden, da die Abwesenheit von Krankheit zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für seelische Gesundheit darstellt. Der Fokus Positiver Psychologie Das Zentrum positiv-psychologischer Forschung bilden drei tragende Säulen. Ein Gegenstandsbereich ist das positive Erleben, das sich unter anderem mit Wohlbefinden, Glück und Flow beschäftigt. Die Untersuchung positiver Eigenschaften befasst sich mit Tugenden, Charakterstärken und Begabung. Das Gebiet der positiven Institutionen setzt sich mit den Rahmenbedingungen auseinander, die das Wohlbefinden in Familien, Schulen und am Arbeitsplatz fördern. Die philosophische Frage, was ein gutes Leben ausmacht und wie es zu erreichen ist, bildet dabei ein wesentliches Element. Aktuellen Erkenntnissen zufolge kann es folgendermaßen beschrieben werden:
Leidfaden, Heft 4 / 2017, S. 64–67, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202
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1. Positive Emotionen erleben und Lebenszufriedenheit erreichen 2. Engagement zeigen, im Alltag aktiv sein und in einer Tätigkeit aufgehen 3. Regelmäßig zwischenmenschliche Beziehungen fördern und pflegen 4. Mehrheitlich einen Sinn im eigenen Tun sehen und sich für etwas einsetzen 5. Auf persönliche Zielen hinarbeiten und sie realisieren
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In diesem Modell von Martin Seligman, dem Begründer der Positiven Psychologie, wird Wohlbefinden als multidimensionales Konzept angesehen, das sich aus diesen fünf Komponenten zusammensetzt. Jeder Bereich kann einzeln aufgegriffen und auch gesondert beeinflusst werden, unter anderem durch die Identifikation und den Einsatz von Charakterstärken. In diesem Zusammenhang wird oft ganzheitlich von »Flourishing«
oder Aufblühen gesprochen, also Wohlbefinden und optimales Funktionieren. Der Beitrag des Charakters Der gute Charakter wird im Gegensatz zu äußeren Einflüssen als innere Determinante eines glücklichen und erfüllten Lebens betrachtet. Er lässt sich durch drei hierarchisch geordnete Ebenen definieren, nämlich Tugenden (als angesehene und moralische Kerneigenschaften), Charakterstärken (als Mechanismen und Prozesse, um die Tugenden zu leben) und situative Themen (als spezifische Gewohnheiten, die den Einsatz von Charakterstärken ermöglichen). Eine der wichtigsten Errungenschaften der Positiven Psychologie ist die im Jahr 2004 von Christopher Peterson und Martin Seligman entwickelte Klassifikation von Charakterstärken und Tugenden. Dem »Values-in-Action«-Klassifikationssystem (VIA) liegt eine umfangreiche Sichtung philosophischer, religiöser sowie psychologischer Schriften aus allen Teilen der Welt zugrunde. Insgesamt existieren sechs verschiedene Tugenden, denen jeweils bestimmte Charakterstärken zugeordnet sind (siehe Tabelle 1). Zur Messung der Charakterstärken wurde zudem ein Fragebogen entworfen. Der VIA-IS (»Values-in-Action Inventory of Strengths«) erlaubt die Erfassung der individuellen Ausprägung sämtlicher Charakterstärken einer Person. Die deutsche Fassung des Fragebogens wurde von unserer Arbeitsgruppe an der Universität Zürich entwickelt. Interessierte können ihn über die Webseite www.charakterstaerken.org kosten
»Herr Doktor, ich bin schwer krank.« »Was haben Sie denn?« »Ich habe Hypochondrie.« »Ach nein, das bilden Sie sich nur ein.« Wa s h ä l t L e i b u n d S e e l e z u s a m m e n ?
6 6 W i l l i b a l d R u c h u n d C h r i s t o p h K r a m m
frei bearbeiten und erhalten anschließend sowohl eine ausführliche Beschreibung der Stärken als auch eine individualisierte Ergebnisrückmeldung, die zudem die Identifizierung eigener Signatur-
stärken erlaubt. Letztere bezeichnen jene drei bis sieben Stärken, die bei einem Menschen besonders herausragen und deren Einsatz Zufriedenheit erzeugt.
Tabelle1: Die sechs Tugenden und 24 Charakterstärken der VIA-Klassifikation Tugenden
Charakterstärken
Weisheit und Wissen
Kreativität, Neugier, Urteilsvermögen, Liebe zum Lernen, Weisheit
Mut
Authentizität, Tapferkeit, Ausdauer, Enthusiasmus
Menschlichkeit
Freundlichkeit, Bindungsfähigkeit, soziale Intelligenz
Gerechtigkeit
Fairness, Teamwork, Führungsvermögen
Mäßigung
Vergebungsbereitschaft, Bescheidenheit, Vorsicht, Selbstregulation
Transzendenz
Dankbarkeit, Hoffnung, Humor, Spiritualität, Sinn für das Schöne
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Anmerkung: J eder Mensch trägt sämtliche Charakterstärken in sich – nur in unterschiedlich starker Ausprägung.
Das Training individueller Stärken Die insgesamt 24 Charakterstärken werden, über Situationen und Zeiträume hinweg, als relativ stabile Eigenschaften angesehen, gelten jedoch explizit als veränderbar und können dementsprechend modifiziert werden. An dieser Stelle setzen posi-
tive Interventionen an, die auf Stärken basieren und mit denen der Charakter trainiert und kultiviert werden kann. Die Identifikation und Förderung von Charakterstärken tragen dazu bei, das Wohlbefinden zu steigern und vor psychischen Beeinträchtigungen zu schützen. Von besonderer Bedeutung ist hierbei die Erkenntnis, dass stets dieselben fünf Stärken den höchsten Zusammenhang zur Lebenszufriedenheit aufweisen. Dabei handelt es sich um Bindungsfähigkeit, Dankbarkeit, Enthusiasmus, Hoffnung und Neugier. Es existiert eine große Vielfalt an Methoden und Aktivitäten, die darauf ausgerichtet sind, positive Gefühle, Verhaltensweisen oder Denkmuster zu kultivieren. Allein wer jeden Abend einen Augenblick innehält und sich die Zeit nimmt, zu notieren, was an diesem Tag Gutes passiert ist, kann das eigene Lebensgefühl verändern. Zudem ist das gezielte und originelle Einsetzen von Signaturstärken in neuen Bereichen des Alltags eine weitere Möglichkeit, das Wohlbefinden zu steigern. Auch das Verfassen eines Dankbarkeitsbriefes an eine Person, die im eige-
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nen Leben eine wichtige Rolle einnimmt, hat sich als eine sehr erfolgreiche Intervention erwiesen. Eine Übersicht zu weiteren Verfahren kann auf der Webseite www.positive-psychologie.ch eingesehen werden. Eine mögliche Erklärung für die Wirksamkeit positiver Interventionen könnte in dem Zusammenwirken mit positiven Emotionen begründet liegen. In der »Broaden-and-Build-Theorie« wird davon ausgegangen, dass das Erleben von positiven Emotionen zu einer Erweiterung an Handlungsmustern führt und einen Einfluss auf die Ausbildung physischer und psychischer Ressourcen hat, die dazu beitragen können, den Widrigkeiten des täglichen Lebens besser zu begegnen. So konnte bereits gezeigt werden, dass positive Emotionen bei Überlebenden von Krebserkrankungen und einer Reihe anderer somatischer Krankheiten in Zusammenhang mit einem guten Abschluss der Behandlung stehen. Weiterhin nehmen sie einen Einfluss darauf, wie auftretende Schwierigkeiten während der Therapie wahrgenommen werden. Der persönliche Nutzen Insbesondere wenn wir uns in einer eher schwierigen Zeit unseres Lebens befinden, besteht die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns vorwiegend mit den negativen Dingen unseres Daseins beschäftigen und dabei das Positive übersehen können. Letztlich ist uns Glückseligkeit nicht notwendigerweise von Natur aus gegeben. Wir alle verfügen über ein genetisch bestimmtes Grundniveau an Zufriedenheit, zu dem wir immer wieder zurückkehren. Dies wurde anhand von Studien gezeigt, in denen Lottogewinner untersucht wurden oder aber Personen, die ihren Partner verloren hatten. Das Gute ist: Wir können daran arbeiten. Eine geringe genetische Neigung zu positivem Affekt kann etwa durch eine Lebensführung aufgefangen werden, wie sie enthusiastische oder hoffnungsvolle Menschen haben. Das Trainieren persönlicher Charakterstärken kann dazu beitragen.
Prof. Dr. Willibald Ruch ist Leiter der Fachrichtung Persönlichkeitspsychologie und Diagnostik des Psychologischen Instituts der Universität Zürich. Er ist Vorstandsmitglied der IPPA (International Positive Psychology Association), die ihn 2015 zum Fellow ernannte. Er gründete die Schweizer Gesellschaft für Positive Psychologie (SWIPPA) und implementierte einen postgradualen Ausbildungsgang zur Positiven Psychologie an der Universität Zürich. E-Mail: [email protected] M. Sc. Christoph Kramm ist als Assistent in der Fachrichtung Persönlichkeitspsychologie und Diagnostik des Psychologischen Instituts der Universität Zürich sowie der Fernuniversität Schweiz tätig. Er studierte Psychologie an der Universität Magdeburg mit dem Schwerpunkt Klinische Neurowissenschaft. Er ist Mitglied in der Swiss Positive Psychology Association (SWIPPA) und der Deutschen Gesellschaft für Positiv-Psychologische Forschung (DGPPF). E-Mail: [email protected] Literatur Jahoda, M. (1958). Current concepts of positive mental health. New York. Peterson, C. (2006). A primer in positive psychology. New York. Peterson, C.; Seligman, M. E. P. (2004). Character strengths and virtues: A handbook and classification. Washington. Proyer, R. T.; Ruch, W.; Buschor, C. (2013). Testing strengthsbased interventions: A preliminary study on the effectiveness of a program targeting curiosity, gratitude, hope, humor, and zest for enhancing life satisfaction. In: Journal of Happiness Studies, 14, S. 275–292. Rozanski, A.; Kubzansky, L. D. (2005). Psychologic functioning and physical health: A paradigm of flexibility. In: Psychosomatic Medicine, 67, S. 47–53. Ruch, W.; Proyer, R. T. (2011). Positive Psychologie. Grundlagen, Forschungsthemen und Anwendungen. In: Report Psychologie, 36, S. 60–70. Ruch, W.; Proyer, R. T. (2011) Positive Pychologie: Zum Glück geboren? In: Holenstein, A.; Meyer Schweizer, R.; Perrig-Chiello, P.; Rusterholz, P.; Zimmermann, C. von; Wagner, A.; Zwahlen, S. (Hrsg.), Glück. Referate einer Vor lesungsreihe des Collegium Generale der Universität Bern im Frühjahrssemester 2010 (S. 97–118). Bern. Ruch, W.; Proyer, R. T. (2011). Positive Interventionen: Stärkenorientierte Ansätze. In: Frank, R. (Hrsg.), Therapieziel Wohlbefinden. Ressourcen aktivieren in der Psychotherapie. 2. Auflage (S. 83–92). Berlin. Ruch, W.; Proyer, R. T.; Harzer, C.; Park, N.; Peterson, C.; Seligman, M. E. P. (2010). Adaptation and validation of the German version of the Values in Action Inventory of Strengths (VIA-IS) and the development of a peer-rating form. In: Journal of Individual Differences, S. 31, 138–149. Seligman, M. E. (2012). Flourish – Wie Menschen aufblühen. Die Positive Psychologie des gelingenden Lebens. München.
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Persönlichkeit und Krebs … auch im Vergleich zu andersartig Kranken
Gabriele Vetter Seit wann besteht die Frage des Zusammenhanges zwischen Persönlichkeit und Krebs?
Paul Klee, Portrait of Mrs P in the South, 1924 / Heritage-Images / Art Media / akg-images
Hippokrates stellte 460 Jahre vor Christus fest, dass Krebs vor allem bei Menschen mit melancholischem Temperament auftritt. Zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert wurde von verschiede-
nen Ärzten festgestellt, dass seelische Belastungen einen entscheidenden Einfluss auf die Genese und den Verlauf des Krebses ausüben. Als man jedoch die Veränderung der Krebszellen als Krebsprozess erkannte (die zelluläre Natur des neoplastischen Prozesses) und verschiedene cancerogene Noxen fand, wandte man sich ausschließlich naturwissenschaftlichem Behandlungswissen und Forschungsprojekten zu. Bis in die Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden psychosomatische Aspekte wieder aufgegeben. Prof. Dr. Christian Schubert, Leiter des Labors für Psychoneuroimmunologie an der Universität Innsbruck, äußerte sich im Jahr 2015 in einem Interview bezüglich Psyche und Krebs: »Wir wissen, dass Krebszellen nerval versorgt werden. Und wenn sie innerviert werden, dann monitort das Gehirn den Krebs und der Krebs kann jederzeit Informationen an das Gehirn schicken, so dass wir also auch hier eine starke Vernetzung zwischen Gehirn und Krebszellen annehmen können. Damit sind wir natürlich nur wenig entfernt von der Überlegung, dass Krebs sowohl psychisch entstehen als auch durch psychische Mittel wieder vergehen könnte.« Krebs und Resignation im Vergleich zu andersartig mit dem Tod konfrontierten Kranken Vor 42 Jahren wurden in mir Interesse und Neugierde über die Zusammenhänge zwischen Persönlichkeit und Krebs geweckt. Auslöser war ein Brief meines
Leidfaden, Heft 4 / 2017, S. 68–73, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202
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Freundes Fritz Zorn (Pseudonym), Autor des Buches »Mars« (1977), der Pionier wurde zum Thema Psyche und Krebs. Federico, wie er eigentlich hieß, beeindruckte mich durch seinen grenzenlosen Humor, sein clownhaftes Wesen, seine Eigenwilligkeit und gleichzeitige Verletzbarkeit, vor allem seine Heiterkeit. Völlig unerwartet schrieb er an mich: »Ich habe Krebs, aber das ist noch gar nicht das Eigentliche. Der Krebs ist nur die Spitze eines Eisberges. Es war notwendig, dass ich Krebs bekam, weil nur er mich auf ein viel schlimmeres Übel aufmerksam zu machen vermochte (…) Schon lange vor der körperlichen Krankheit hatte ich unter Depressionen gelitten, ja, ich würde es einen doppelten Krebs nennen, einen physischen und einen psychischen. Somit erweist sich die medizinische Behandlung nur als Teilbehandlung. Ich halte meine Erkrankung als einen unbewussten Suicidversuch. Ich pendle seit langer Zeit zwischen Skylla und Charybdis: Immer, wenn ich mich wieder dem Tod entronnen fühle, sehe ich mich mit meinem Leben konfrontiert, das ich als qualvoll bezeichnen möchte.« Nach seinem Tod beschäftigte mich ganz besonders seine Resignation. Er starb in totaler Ohnmacht und Hilflosigkeit. Ich stellte mir die Frage, ob Krebs und Resignation zusammenhängen und dies im Vergleich zu andersartig Kranken, die auch mit dem Tod konfrontiert worden waren, deutlich wird. Ich habe 50 Krebspatienten im Alter von 23 bis 60 Jahren interviewt, habe sie mit dem Farbtest von Max Lüscher untersucht und sie einen validierten Fragebogen des Heidelberger Krebsforschungszentrums ausfüllen lassen. Um herauszufinden, ob Krebskranke wegen der Tabuisierung und des »Todesurteils« besonders belastet sind, habe ich zum Vergleich 50 Patienten (5 Apoplexien, 9 Myokardinfarkte, 17 Ileus, 8 Progrediente Polyarthritis, 2 Multiple Sklerosen, 9 Nierendialysen) gewählt, welchen von der Todeskonfrontation her und von der Prognose her die gleichen Voraussetzungen gegeben waren. Diese Patienten waren in Alter, Geschlecht und sozialer Zugehörigkeit identisch mit den Krebspatienten.
Worin besteht die für Krebskranke typische Widersprüchlichkeit zwischen unbewusst resignierten Gefühlen und einem heiteren, starken Auftreten? Auf meine Frage »Wie fühlten Sie sich die letzten Jahre?« betonten alle Krebspatienten spontan, wie gut es ihnen bis zum Zeitpunkt der Diagnose ergangen sei. Erst im intensiven Gespräch stellte sich heraus, dass sie eine über Jahre dauernde psychische Ausweglosigkeit überspielt hatten. Die Kontrollgruppe hingegen antwortete sofort, dass in ihrem Leben Probleme, Konflikte, Situationen seien, die sie jetzt auf diese oder jene Art ändern müssten (Vetter 1982). Nichtbewusst entstand bei den Krebspatienten ein krankmachendes Verhalten. Verlorener Lebensinhalt und eine daraus resultierende Ausweglosigkeit hinderten sie daran, den wahren Zustand anzunehmen und sich mit der neuen Situation auseinanderzusetzen. Sie suchten nicht nach neuen Möglichkeiten. 49 der 50 Krebskranken, jedoch nur 22 von 50 aus der Kontrollgruppe fürchteten, Sicherheit und Halt zu verlieren. Aus dieser Angst entstand zum Ausgleich ein Bedürfnis nach einem spannungslosen Zustand der Geborgenheit. Gleichzeitig wollten sie unentbehrlich sein und andere durch Überfürsorglichkeit unbewusst an sich binden. Sie hatten ausnahmslos übersteigerte Erwartungen an sich. Werden diese Erwartungen enttäuscht, so entstehen Gefühle der Unsicherheit. Letztere äußert sich in der Befürchtung, sich zu blamieren oder nicht zu genügen. Oft waren sie bestrebt, sich mittels übertriebenen Perfektionsanspruchs unangreifbar zu machen. Der Krebskranke fühlt sich gekränkt, weil seine investierte Energie nicht die Anerkennung erhält, die er sich erhofft hat. Dies kann zu einem paradoxen Verhalten zwischen Selbstgefälligkeit und Unterwürfigkeit führen. Dies sind die wesentlichen Eigenschaften und Verhaltensweisen, die mir in der Persönlichkeit Krebskranker im Vergleich zu anderen, ebenfalls mit dem Tod konfrontierten Kranken besonders aufgefallen sind.
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7 0 G a b r i e l e Ve t t e r
Der krebsdisponierte Mensch lebt in ständiger Überforderung seiner Kräfte. Er hat Angst, nicht zu genügen. Bricht sein Immunsystem als Folge der Erschöpfung zusammen?
Krebs und Persönlichkeit im Krankheitsverlauf Meine Forschungsergebnisse liegen 35 Jahre zurück. Ich habe jedoch seither Hunderte von Krebspatienten psychoonkologisch begleitet. Ich bin heute noch immer wieder berührt, wie bei den allermeisten schon bei der Anamnese der ungebetene Gedanke in mir auftaucht: »Bei dieser Lebensgeschichte ›musste‹ es zur Krebsdiagnose kommen«. Was mich ebenso beschäftigt, ist, wie ich nach relativ kurzer Zeit der Begleitung intuitiv (?) eine Prognose vorahne. Je ganzheitlicher sich ein Patient mit sich und seiner Persönlichkeit auseinandersetzt und die daraus resultierenden krankmachenden Verhaltensweisen ändert, desto größer sind meist die Heilungschancen oder desto angenehmer der Verlauf. Ganzheitliche Auseinandersetzung schließt auch einen liebevollen, achtsamen Umgang mit dem lädierten Körper mit ein. Die meisten Menschen reagieren unwirsch auf Störungen des Körpers und realisieren nicht, wie sie mit dieser Gestimmtheit über Verspannung den geschwächten Körper noch mehr provozieren. Wenn wir davon ausgehen, dass Krankheit auf einem inneren Ungleichgewicht basiert, hat sich, wie geschildert, bei von den Krebs Genesenen der Appell der Psyche an den Körper erübrigt. Gerade beim Krebspatienten geht es darum, dass er durch die Auseinandersetzung und Veränderung mit seiner meist ichfeindlichen Persönlichkeit lernt, zu einer gelasseneren, zuverlässigen, ja friedvolleren Haltung sich selbst gegenüber zu finden. Zeitlosigkeit, was Persönlichkeit und Krebs betrifft Unsere äußeren Rahmenbedingungen, Hightech-Angelegenheiten, rasanter Fortschritt in der Medizin, ausgeklügelte Ernährungs- und Bewegungsstrategien, psychosomatische Behand-
lungsstrategien und so weiter, entwickeln sich in schwindelerregender Schnelligkeit, doch die menschliche Psyche, das Zusammenspiel von Körper, Geist und Seele sind sich gleich (natürlich individuell) geblieben. Nach 40 Jahren Erfahrung und Arbeit mit Krebspersönlichkeit komme ich zum Schluss, dass psychogenetische Faktoren zeitlos sind. Aufgrund dieser Überlegung fasse ich Studien verschiedener Forscher zusammen, mit denen ich mich an den internationalen EUPSYCA-Kongressen (Brixen 1981, Helsinki 1984, Zaragoza 1985) ausgetauscht habe. Krebstypische Persönlichkeits eigenschaften Unterdrückung von Aggression und Bedürfnis D. Beck und Kollegen (1975) haben Brustkrebsmit anderen Patientinnen verglichen, die sicher nicht an Krebs erkrankt waren, und dabei festgestellt, dass erstere ihre familiäre Situation idealisieren, sowohl was die Vergangenheit als auch was die Gegenwart betrifft. Sie lassen dadurch auch keine eigenen Bedürfnisse oder Wünsche aufkommen, weil sie sich ausschließlich auf ihr Gegenüber konzentrieren. Auch D. M. Kissen (1969), Direktor der Universität Glasgow, hat nachgewiesen, dass Krebspatienten ihre Probleme dermaßen verbergen, dass bei ihnen Aggression nicht aufkommen kann. Prof. Le Shan bringt das Unterdrücken von Bedürfnissen in Zusammenhang mit der vorausgegangenen Lebensgeschichte. Wenn äußere Umstände ihnen den Lebensinhalt, ein Ziel oder ein Ideal entreißen, reagieren die Betroffenen darauf mit Resignation. Es fehlt an Mut, an innerer Sicherheit und Vertrauen, ihre Situation zu ändern. Es ist auch beobachtet worden, dass die Krebsprognose unmittelbar mit zu großer Selbstaufgabe in Verbindung steht. Je angepasster das Verhalten ist, desto schlechter sind Prognose und Verlauf.
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Helmut Hoffmann-Menzel
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Abgewehrte Depression Der seelisch krebsgefährdete Mensch ist nicht derjenige, der apathisch, müde oder nicht zu begeistern ist, sondern derjenige, der sich einem Ideal hingibt, das heißt, der äußerlich Strahlende, innerlich Verzweifelte. Er ist selbstaufopfernd, was die Anliegen der Umgebung betrifft. Überfordernde Leistung, Selbstvorwürfe, Schuldgefühle und Selbstbestrafungstendenzen sind für seine depressive Stimmung charakteristisch. Einer der Gründe, warum Niedergeschlagenheit abgewehrt oder in Leistung ausgelebt wird, ist auch der immense Anspruch an sich, angepasst zu sein. Sicherheit wird geschaffen, indem sich Krebsdisponierte durch überdurchschnittliches Engagement unentbehrlich zu machen versuchen. Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit Leukämie bricht oft nach Verlusten aus, auf die der Erkrankte mit extremer Trauer, Angst, Gefühlen der Hoffnungslosigkeit reagiert. Für die Krebsentwicklung scheint weniger das persönliche Verstricktsein in Konflikte ausschlaggebend zu sein als vielmehr eine tiefe Hoffnungslosigkeit und eine auffällige Angst, die auf das Verlusterlebnis erfolgt. Der Betroffene kann sich nicht neu orientieren, weil er von seinem Verlust verein-
nahmt ist. Le Shan (1956) hat nachgewiesen, dass Krebspatienten es im Vergleich zu anderen Kranken auch viel schwerer haben, intensive Beziehungen einzugehen, aus Angst vor dem Schmerz, den geliebten Menschen und damit den Lebensinhalt wieder zu verlieren. Problematische Kindheit Von verschiedenen Forschern wurden wesentliche Komponenten während der Kindheit, die bei der Krebsentstehung eine Rolle spielen, beobachtet. Ein Beispiel findet sich bei H. J. Baltrusch und K. Austarheim (1963), die meinen, dass Erschütterungen im Kindes- und Jugendalter (Tod eines Elternteils oder Scheidung) Gefühle der Unsicherheit und Isolation wecken. Es existiert nur noch eine Person und an die klammert sich das Kind umso mehr. Diese Beziehung wird oft idealisiert. Spannungs-, Angst- oder Depressionszustände werden aus Verlustangst unterdrückt oder nicht wahrgenommen. Die Anpassung an die Umwelt ist überdurchschnittlich. Konflikte werden hinter Ausgeglichenheit verborgen. Auslösende Situationen für den Krebs können folgende sein: Verlust dieser Person oder eines Ich-Ideals, gleichzeitig entsteht Verzweiflung und nach gewisser Zeit Resignation. Somit ist es zu einer Häufung von Risikofaktoren gekommen.
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7 2 G a b r i e l e Ve t t e r
Stress
In welchem Leben gibt es keinen Verlust? Beim Krebskranken fehlt jedoch die Fähigkeit, mit diesem Verlust so umzugehen, dass das Leben wieder lebenswert wird. Auslöser für den Krebs können folgende sein: Verlust dieser nahestehenden Person oder eines Ich-Ideals, gleichzeitig entsteht Verzweiflung und nach einer gewisser Zeit auch Resignation. Versuche, sich neu zu orientieren, werden unterlassen, weil man sich unfähig fühlt. Somit kommt es zu einer Häufung von Risikofaktoren. Diese Summierung hat einen chronischen Erschöpfungszustand zur Folge. Ein unerwarteter Schicksalsschlag kann die letzte Abwehrkraftreserve aufzehren. Der Krebs bricht aus. Ich erinnere mich an eine vierzigjährige Frau aus Osteuropa, die mit ihren drei Kindern in die Schweiz übersiedelte. Die Kinder wurden ihr weggenommen und sofort in ein Internat gesteckt. Die Frau war völlig isoliert, hatte weder einen Freundeskreis, noch beherrschte sie die Sprache der neuen Heimat. Innerhalb kurzer Zeit erkrankte sie an Leukämie und starb.
Negative Einstellung sich selbst gegenüber wird nicht als solche empfunden, sondern durch Stress, das heisst durch Überforderung an sich überspielt. Eine erste Stressquelle zeigt sich in der Kindheit, wenn Eltern ihr Kind wiederholt zurückweisen, sein Verlangen nach Zuwendung nicht erfüllen. Gleichzeitig wird ein angepasstes Verhalten ohne Widerspruch gefordert. Daraus entsteht meist Mangel an Eigenliebe oder gar Stumpfheit. Die zweite Stressquelle sind lebensgeschichtliche Ereignisse. Oft brechen mit großer Anstrengung aufrechterhaltene Beziehungen ab, was zu Einsamkeit führt. Anstatt sich und seine Bedürfnisse durchzusetzen, entsteht Verunsicherung. Dies führt oft zu übertrieben pflichtbewusstem und konfliktscheuem Verhalten. Beide Arten von Stress werden Auslöser für chronisch krebsdisponierendes Verhalten. Der so krebsdisponierte Mensch lebt in ständiger Überforderung seiner Kräfte. Er hat Angst, nicht zu genügen. Bricht sein Immunsystem als Folge der Erschöpfung zusammen?
© Hans-Georg Roth
Verlust
Für seelische Begleiter sollte immer gegenwärtig bleiben, den Patienten unabhängig von der Prognose auch in eine Richtung der friedvollen Atmosphäre mit seinem Körper und seinem geL E I D FA D E N – FAC H M AG A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D, T R AU Egangenen R H e f t 4 / 2Lebensweg 017 zu lenken.
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Ist Krebs aufgrund der Persönlichkeit vorprogrammiert? Jeder differenzierte, sensible Mensch weist krebstypische Persönlichkeitsmerkmale auf, doch wie lebt er damit? Wie gehäuft kommen diese Merkmale vor? Lässt der Betroffene sie in sein Bewusstsein gelangen? Wie ernst nimmt er psychisches Unbehagen? Ich habe Patienten mit schlechter medizinischer Prognose begleitet, die nach vielen Jahren krebssymptomfrei leben. Ich habe ebenso Patienten mit guter medizinischer Prognose begleitet, welche unerwartet schnell gestorben sind. Die Frage muss lauten: Was steht in unseren Möglichkeiten, den aus seiner Harmonie geratenen Organismus wieder in sein Gleichgewicht zurückzuführen, um zu vermeiden, dass er mit einer Krebsdiagnose rebellieren muss? Was ist damit konkret gemeint? Weil Immunsystem, Nervensystem und Psyche eng gekoppelt sind, gehört zu Prophylaxe und Heilung auch das tägliche, wohlwollende Pflegen von Körper, Seele und Geist. Mit Pflege des Köpers meine ich nicht nur das Waschen. Den körperlichen und seelischen Bedürfnissen gebührt mehr Achtsamkeit, als sie meist erfahren. Wichtig sind Ernährung, Schlaf, Bewegung und bewusstes Entspannen von Psyche und Körper. Die Psyche darf vor lauter Funktionieren nicht vernachlässigt oder vergessen werden. Wer aufgrund seiner Persönlichkeit krebsdisponiert ist, kann auf der Suche nach genannter Harmoniewiederherstellung vorbeugen. Was in der Begleitung Krebskranker vor lauter Befassen mit Persönlichkeit und Krebs nicht unterlassen werden darf Federico, mein Freund, den ich eingangs erwähnt habe, hat an mich geschrieben: »Mir ist, als würden zwei Pferde in mir nebeneinander galoppieren. Das schwarze des Todes und das weiße der psychischen Genesung. Ich möchte nicht, dass
das erstere das zweite überholt. Ich will nicht, dass der Körper stirbt, bevor meine Seele gesund ist.« Federico ist in totaler Auflehnung gestorben. Für seelische Begleiter sollte immer gegenwärtig bleiben, den Patienten unabhängig von der Prognose auch in eine Richtung der friedvollen Atmosphäre mit seinem Körper und seinem gegangenen Lebensweg zu lenken. Dies gelingt oft nicht oder kann nur angestrebt werden und ist sehr achtsam und anspruchsvoll anzugehen. Der seelische Schmerz muss wohl zugelassen werden, aber der Betroffene sollte die Möglichkeit erhalten, aufgrund der fachlichen Begleitung sich selbst trösten, beruhigen und aufrichten zu lernen. Gabriela Vetter, Studium in klinischer Psychologie und Psychopathologie in Zürich, Dissertation in Essen, Onkopsychologische Psychotherapeutin in eigener Praxis, Buchautorin, Gesprächgruppenleiterin, Supervisorin und Referentin zu psychoonkologischen Themen. E-Mail: [email protected] Literatur Baltrusch, H.-J. F.; Austarheim, K. (1963). Psyche – Nervensystem – Neoplastischer Prozeß: Ein altes Problem mit neuer Aktualität. Teil I: Historische Entwicklungen, Soziologie und psychosomatische Epidemiologie der Krebskrankheit, psychosomatische Aspekte der experimentellen Krebsforschung. In: Zeitschrift für Psychosomatische Medizin, 9, 4, S. 229–245. Beck, D.; König, U.; Blaser, P.; Meyer, R.; Styk, J.; Ryhiner, O. (1975). Zur Psychosomatik des Mamma-Carcinoms. In: Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychoanalyse, 21, 2, S. 101–117. Kissen, D. M. (1969). Personality characteristics in males conductive to lung cancer. In: Annals of the New York Academy of Sciences, 164, S. 822–826. Le Shan, L. L. (1966). An emotional life history pattern assiciated with neoplastic disease. In: Annals of the New York Academy of Sciences,125, S. 780–793. Schubert, C. (2015). Psychoneuroimmunologie und Psychotherapie. Interview. In: Forum Psychosomatik, 24, 1, S. 16–23. Vetter, G. (1982). Krebs-Resignation? Resignation-Krebs? Was nun? Emotionalität und Kognition Krebskranker im Vergleich zu prognostisch ähnlich andersartig Kranker. Essen. Zorn, F. (1977). Mars. München.
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Münchhausen-Syndrom: Vorsätzlich krank Wiebke Raue Menschen mit Münchhausen-Syndrom täuschen gezielt Krankheiten vor, um eine medizinische Behandlung zu erhalten – oder sie erzeugen Beschwerden selbst, indem sie sich verletzen oder ihrem Körper auf andere Weise Schaden zufügen. Vor unnötigen Untersuchungen und Therapien schrecken die Betroffenen nicht zurück – manche drängen sogar darauf, sich operieren zu lassen, obwohl der Eingriff überflüssig ist. Personen, die am Münchhausen-Syndrom leiden, sind Meister der Täuschung. Sie geben zum Beispiel vor, starke Bauchschmerzen zu haben, und erzählen dem Arzt eine abenteuerliche Geschichte über den Verlauf ihrer vermeintlichen Erkrankung. Andere Betroffene schneiden sich absichtlich mit dem Messer, um einen Grund zu haben, die Ambulanz aufzusuchen. Wieder andere haben aufgrund einer Erkältung leichten Husten – behaupten jedoch in der Notaufnahme, an starker Atemnot zu leiden und gleich zu ersticken. Das Münchhausen-Syndrom hat viele Gesichter – aber alle haben etwas gemeinsam: Die Betroffenen würden nahezu alles dafür tun, um in medizinische Behandlung zu kommen. Selbst wenn die Untersuchungsergebnisse ohne Befund geblieben sind, beharren Menschen mit dieser Erkrankung weiter darauf, dass sie einer Behandlung bedürfen. Mitunter wirken sie dabei so überzeugend, dass sie operiert werden – doch in Wahrheit sind sie körperlich gesund. Typischerweise wechseln die Patienten von Krankenhaus zu Krankenhaus, um nicht aufzufallen, oder
sie suchen nach kurzer Zeit einen anderen Arzt auf. Insbesondere wenn ein Mediziner die Möglichkeit einer psychischen Erkrankung anspricht, brechen die Betroffenen die Behandlung ab. Wie oft das Münchhausen-Syndrom vorkommt, ist nicht genau bekannt. Allerdings kann schon ein einzelner Fall weite Kreise ziehen: So kann ein Patient unter Umständen mehrere hundert Krankenhausbehandlungen beanspruchen, ohne körperlich krank zu sein. Eine Sonderform ist das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom: Dabei fügt ein Elternteil – meist die Mutter – seinem Kind absichtlich Schaden zu oder täuscht bei ihm eine Erkrankung vor, um medizinische Untersuchungen und Behandlungen zu erzwingen. Kein Simulant – sondern psychisch krank Wer unter dem Münchhausen-Syndrom leidet, ist strenggenommen kein Simulant. Letzterer ist in der Regel psychisch gesund und verfolgt mit seiner Täuschung ein bestimmtes Ziel – etwa die Absicht, berentet zu werden. Im Gegensatz zum Simulanten liegt beim Menschen mit Münchhausen-Syndrom eine psychische Störung mit zwanghaftem Charakter vor – er verspürt einen starken Drang, sich in medizinische Obhut zu begeben und dadurch Aufmerksamkeit zu bekommen. Die genauen Ursachen des Münchhausen-Syndroms sind unbekannt. Es gibt mehrere Theorien darüber, welche Faktoren es begünstigen. Viele der Betroffenen sind beispielsweise unter psychisch belastenden Bedingungen aufgewachsen oder sie haben in ihrer Vergangenheit ein Trauma erlitten, was sie manchmal durch ihre Hand-
Leidfaden, Heft 4 / 2017, S. 74–78, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202
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lungen neu in Szene setzen. Auch leiden sie häufig an Persönlichkeitsstörungen (zum Beispiel emotional-instabile, narzisstische oder dissoziale Persönlichkeitsstörung) oder weisen unreife Persönlichkeitszüge auf. Möglicherweise streben die Betroffenen nach Zuwendung, die sie durch die medizinische Betreuung bekommen, oder aber sie versuchen, durch ihr Handeln innere Spannungen abzubauen. Das Münchhausen-Syndrom ist nach einem deutschen Adeligen benannt – nach dem Baron Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen (1720–1779), dem zahlreiche Lügen geschichten zugeschrieben werden und der als »Lügenbaron« legendär wurde. Was sind typische Symptome? Das Münchhausen-Syndrom zählt zu den sogenannten artifiziellen Störungen (artifiziell = künstlich). Diese zeichnen sich dadurch aus, dass eine Person • vortäuscht, körperlich oder psychisch krank zu sein, und/oder • bestehende Beschwerden beim Arzt übertrieben darstellt und/oder • eine Krankheit bewusst künstlich herbeiführt. Das Münchhausen-Syndrom ist eine ausgeprägte Form der artifiziellen Störung. Zusätzlich zu deren typischen Symptomen kommen beim Münchhausen-Syndrom weitere Merkmale hinzu: • Die Betroffenen neigen zu Lügengeschichten und vermischen Wahrheit und Lüge miteinander; oft schildern sie ihre Krankengeschichte übertrieben dramatisch und bizarr und können dabei nicht mehr zwischen Realität und Erfundenem unterscheiden (sogenannte Pseudologia phantastica).
• Häufig entlassen sie sich selbst gegen ärztlichen Rat wieder aus dem Krankenhaus. • Beziehungen werden wiederholt abgebrochen, soziale Kontakte immer wieder aufgegeben, Krankenhäuser und Ärzte häufig gewechselt, wozu viele Patienten exzessiv reisen. Auch kann es vorkommen, dass sie unter verschiedenen Namen auftreten oder neue Lebensläufe angeben. Die Patienten verspüren ein starkes Verlangen, sich immer wieder in ärztliche Behandlung zu begeben und die Krankenrolle einzunehmen. Menschen mit Münchhausen-Syndrom fügen sich auf unterschiedliche Weise Schaden zu beziehungsweise täuschen diesen vor, wie folgende Beispiele verdeutlichen: • Sie spritzen sich infektiöse Substanzen unter die Haut, damit Abszesse entstehen. • Sie täuschen heftige Schmerzen vor und erfinden dazu eine besonders dramatische Geschichte. • Sie fügen sich Schnitt- oder Schürfwunden zu. Die Selbstverletzung wird ganz bewusst herbeigeführt, um medizinisch versorgt zu werden, und ist nicht mit anderen Erkrankungen wie etwa dem Borderline-Syndrom zu verwechseln. Bei Borderline dient die Selbstverletzung zum Beispiel dazu, ein Verlassenwerden zu vermeiden oder sich selbst wieder zu spüren. • Sie verabreichen sich Insulinspritzen, sodass eine Unterzuckerung entsteht. • Sie drängen auf aufwendige Untersuchungsverfahren. • Sie fordern immer wieder Operationen, die eigentlich nicht notwendig sind.
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Gefährliche Variante: Das MünchhausenStellvertreter-Syndrom Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom (auch: Münchhausen-by-proxy-Syndrom) ist eine Sonderform des Münchhausen-Syndroms, die besonders problematisch sein kann – denn andere Menschen werden dabei in Mitleidenschaft gezogen. Im Gegensatz zum Münchhausen-Syndrom fügen Menschen mit Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom sich selbst keinen Schaden zu, sondern einem Stellvertreter – in der Regel einem Kind. Nahe Angehörige, meist Mütter, geben beim Arzt vor, das Kind habe eine Krankheit, oder sie misshandeln ihr Kind beziehungsweise manipulieren seinen Gesundheitszustand ganz gezielt. Einige Beispiele hierzu sind: • Sie brechen dem Kind absichtlich die Knochen. • Sie fälschen Messdaten (beispielsweise Fieberkurven). • Sie mischen dem Urin des Kindes selbst abgenommenes Blut oder Zucker bei, damit der Arzt eine Krankheit vermutet. • Sie verabreichen dem Kind bewusst Arzneimittel, die zu bestimmten Symptomen führen, etwa Abführmittel, damit Durchfall auftritt. • Sie spritzen dem Kind infektiöse Flüssigkeiten, damit es Fieber oder auch eine Blutvergiftung bekommt. Häufig begeben sich Menschen mit Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom mit ihrem Kind in die Notaufnahme. Sie fordern aufwendige Untersuchungen und -behandlungen. Manchmal drängen sie auch darauf, das Kind einer eigentlich unnötigen Operation zu unterziehen. Durch all dies erscheinen sie sehr fürsorglich, was für die behandelnden Ärzte besonders trügerisch ist. Diese schöpfen oft lange Zeit keinen Verdacht, können aber auch keine Ursache für die Beschwerden des Kindes finden.
Die meisten Menschen mit Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom haben eine schwere Persönlichkeitsstörung. Sie sind in medizinischen Berufen tätig oder waren schon in der Kindheit oder Jugend häufig krank und hatten daher viel Kontakt zu Medizinern, was möglicherweise auch zu einem gestörten Verhältnis zum eigenen Körper führte. Sie kennen sich entsprechend gut mit verschiedenen Erkrankungen und Symptomen aus, sodass sie diese leicht vortäuschen können. Möglich ist, dass die Betroffenen als Kind selbst Missbrauch oder Gewalt erlebt haben und keine gesunden Bindungen zu anderen Menschen aufbauen können. Sie können sich nicht in andere hineinversetzen und empfinden auch für die eigenen Kinder kein Mitgefühl. Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom ist eine schwere Form der Kindesmisshandlung, die für das Kind gravierende körperliche und seelische Folgen haben kann – und manchmal tödlich endet. Der Schutz eines betroffenen Kindes hat oberste Priorität: Sobald Hinweise auf Misshandlungen vorliegen, sollten Außenstehende wie zum Beispiel Ärzte umgehend das Jugendamt informieren. Das Münchhausen-Stellvertreter- Syndrom kommt Schätzungen zufolge zwar eher selten vor – viele Fälle werden jedoch nicht oder erst spät erkannt. In seltenen Fällen nutzt der Betroffene nicht ein Kind, sondern einen anderen Erwachsenen für seine Zwecke. Ärzte sprechen dann von einem Münchhausen-by-adult-proxy-Syndrom. Intensive Therapie notwendig Das Münchhausen-Syndrom verläuft fast immer chronisch. Die Betroffenen sind zwar häufig wegen diverser Beschwerden in Behandlung. Die Störung an sich ist dabei aber in der Regel nicht
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Mädchen mit einem Körper und zwei, 1650 / akg-images / bilwissedition
Inhalt der Therapie – im Gegenteil: Menschen mit MünchhausenSyndrom entziehen sich meist dem Angebot des Arztes, psychologische oder psychiatrische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Sobald der Mediziner einen Verdacht äußert oder gar Beweise für die Täuschung erbringt, wechseln sie den Arzt.
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Frau S. ist pharmazeutisch-technische Angestellte. Immer wieder klagt sie bei ihrem Hausarzt über Schwindel, Kopfschmerzen und Schwäche – bis hin zur Ohnmacht. Ergebnis des Blutbilds: Die Dreißigjährige leidet an massiver Blutarmut. Eine wiederholte Blutabnahme bringt dasselbe Resultat. Alle anderen Blutwerte liegen hingegen im grünen Bereich. Beim Versuch, dem Grund der Blutarmut auf die Spur zu kommen, bleibt der Hausarzt ratlos. Zahlreiche Untersuchungen – darunter eine Magen- und Darmspiegelung und eine Knochenmarkuntersuchung – geben keine Hinweise auf eine Erkrankung. Schließlich überweist der Arzt Frau S. in eine Klinik, wo sie komplett »durchgecheckt« werden soll. Bereits nach kurzer Zeit im Krankenhaus bessern sich die Werte schlagartig. Dem behandelnden Arzt fällt auf, dass Frau S. sich gar nicht über die guten Blutergebnisse zu freuen scheint. Er hegt einen Verdacht: Hat Frau S., die über umfassende medizinische Kenntnisse verfügt, sich möglicherweise selbst so viel Blut abgenommen, dass eine vorübergehende Blutarmut entstanden ist? Als der Arzt sie vorsichtig nach einer psychischen Erkrankung fragt, lässt sich Frau S. umgehend auf eigenen Wunsch entlassen. Um eine erkrankte Person dazu zu bewegen, sich freiwillig in Therapie zu begeben, muss ein Arzt daher äußert vorsichtig vorgehen. Es kann sinnvoll sein, dass er in Zusammenarbeit mit einem Psychiater den Patienten zunächst über einen Zeitraum von mehreren Wochen stationär weiterbehandelt, um eine vertrauensvolle Bindung herzustellen – die im Idealfall eine Psychotherapie möglich macht. Meist sind mehrere stationäre Aufenthalte nötig, die sich mit ambulanten Therapiephasen abwechseln. Dabei können verschiedene therapeutische Ansätze zum Tragen kommen, so beispielsweise aus der Verhaltenstherapie. Um festzustellen, ob wirklich das Münchhausen-Syndrom vorliegt, muss der Arzt zunächst
ausschließen, dass organische Erkrankungen vorliegen. Eine gründliche körperliche Untersuchung ist zudem wichtig, um mögliche Folgeschäden zu behandeln – Schäden, die sich die Person selbst zugefügt hat. Um die Diagnose Münchhausen-Syndrom zu sichern, sind weitere Untersuchungen notwendig. So kann sich der Psychologe beziehungsweise Psychiater beispielsweise durch ausführliche Gespräche mit dem Patienten, mithilfe von Fragebögen zur Persönlichkeit wie auch durch eine ausgiebige Verhaltensbeobachtung ein Bild machen. Zur Prognose des Münchhausen-Syndroms liegen keine allgemeingültigen Daten vor. Schätzungen zufolge ist sie jedoch eher ungünstig und die Erkrankung bedarf einer langwierigen und intensiven Therapie, zumal viele der Erkrankten zusätzlich an anderen schwerwiegenden psychischen Erkrankungen wie Persönlichkeitsstörungen leiden. Dipl.-Päd. Wiebke Raue M. A. studierte Erziehungswissenschaft mit den Schwerpunkten Beratungspsychologie und Erwachsenenbildung/Weiterbildung bis zum Diplom. Im anschließenden Studium »Educational Media« vertiefte sie ihre Kenntnisse und Fertigkeiten rund um das Thema E-Learning/Mediendidaktik. Die ausgebildete Fachjournalistin ist Redakteurin beim Online-Gesundheitsportal Onmeda (www.onmeda.de). E-Mail: [email protected] Literatur Fröhlich, W. (2010). Wörterbuch Psychologie. München. Görz, M. (2013). Kranksein zum Schein. In: Die PTA in der Apotheke, 11, S. 82 f. Laux, G.; Möller, H. (2011). Memorix Psychiatrie und Psychotherapie. Stuttgart. Leucht, S.; Förstl, H. (2012). Kurzlehrbuch Psychiatrie und Psychotherapie. Stuttgart. Masuhr, K.; Masuhr, F.; Neumann, M. (2013). Duale Reihe Neurologie. Stuttgart. Möller, H.; Laux, G.; Deister, A. (2015). Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. Stuttgart. Münchhausen-Syndrom. Online-Informationen des Pschyrembel (2017). www.pschyrembel.de (Stand: 19.1.2017). Payk, T.; Brüne, M. (2013). Checkliste Psychiatrie und Psychotherapie. Stuttgart. Sonnenmoser, M. (2010). Artifizielle Störungen: Rätselhaft und gefährlich. In: Deutsches Ärzteblatt, 9, S. 417–420.
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Genderkompetenz im Umgang mit Psychosomatik Karin Kress Eine engere Verbindung zwischen der Genderperspektive in Medizin und Psychologie als der Blick auf psychosomatische Reaktionen und Erkrankungen lässt sich kaum herstellen. Die Tendenz zur Selbstoptimierung in der modernen Leistungsgesellschaft verarbeitet wissenschaftliche Erkenntnisse zu dem komplizierten Zusammenspiel von Körper und Psyche vor allem unter der Frage, wie eine Work-Life-Balance geschaffen werden kann als Gegenentwurf zu psychischen und körperlichen Erschöpfungszuständen. Das hat nicht zuletzt mit Rollenbildern zu tun, nach denen wir uns orientieren und über die wir uns selbst als Persönlichkeiten entwerfen. Sohn oder Tochter zu sein, die Vorgesetzte, der große Bruder, Kassenwart im Vereinsvorstand, Vater sein, Mutter sein … Über unsere Geschlechtsidentität entwerfen wir ein Set an Regeln, nicht nur nach welchen Werten wir uns richten, wie wir uns verhalten, sondern auch, was und wie wir fühlen dürfen, welche Wünsche und Lebensentwürfe wir verwirklichen können, ohne zu glauben, mit sozialer Ächtung rechnen zu müssen. Mit dem englischen Lehnwort »gender« wird das sozial und kulturell geprägte Rollenverständnis bezeichnet. Von Gender im Unterschied zum biologischem Geschlecht (sex) zu sprechen, ermöglicht, Geschlechterrollen hinterfragbar zu machen, ihre historische Veränderlichkeit und Verbindung zu Machtstrukturen wahrzunehmen, vor allem aber zwischen gesellschaftlichen Rollenbildern und individuellen Persönlichkeiten zu unterscheiden. Die Genderperspektive zielt darauf, sensibel mit den Rollenerwartungen umzugehen, die Menschen für sich selbst als sozial und kulturell
geprägte Geschlechtsvorstellungen annehmen, und Personen dabei zu unterstützen, eigene Rollenvorstellungen zu verändern und zu erweitern, um individuelle und soziale Handlungsspielräume zu eröffnen. »Normative soziale Erwartungen werden und können aus verschiedenen Gründen von den Individuen erfüllt oder nicht erfüllt werden. Mit gesellschaftlichen Normen autonom umzugehen, z. B. bezogen auf Individualität (…) heißt, daß Erwartungen und Anforderungen für die biographische Bilanzierung reguliert werden müssen: hier treten die selektiven Mechanismen der Wahrnehmungs- und Interpretationsraster auf, und zwar als Deutungsmuster, Stereotype usw. Sie dienen der Aufrechterhaltung oder – nach Krisen und Brüchen – der Neuordnung des Selbstgefühls als Bestandteil des Selbstbildes, das sich in biographischen Darstellungsweisen ausdrückt« (Schlüter 1999, S. 80). Geschlechtsbezogene Rollenbilder haben also gleichermaßen das Potenzial, zu stützen wie einzuschränken. Eine erlebte Inkongruenz zwischen eigenen Wünschen und Bedürfnissen auf der einen Seite und verinnerlichten Anforderungen auf der anderen kann selbst psychische Erkrankungen hervorrufen. Am eindrücklichsten zeigt sich dies vermutlich am Krankheitsbild der Anorexie (Magersucht). In der Öffentlichkeit wird vor allem der schädigende Einfluss eines unrealistischen weiblichen Schönheitsideals auf junge Frauen diskutiert. Dabei wird oft übersehen, dass vor allem Sportler/-innen, die nach einem leistungsoptimierenden Diätplan leben, mit zu der Hochrisikogruppe für diese Erkrankung gehören. Dies kann als die besonders weitreichende Ausprägung eines Phänomens beschrieben wer-
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Egon Schiele, Kauernde, 1918 / akg-images
den, das in der Gendertheorie als »Doing Gender« bezeichnet wird. Durch das eigene Verhalten, die Reaktionsweisen und Interaktionen von und mit anderen wird das soziale Geschlecht erst hergestellt, fortgeschrieben und immer wieder neu verfestigt. »Dem Doing Gender auf der Spur
Der Körper ist nicht nur unsere Verortung im Hier und Jetzt, sondern auch Projektionsfläche für den Versuch, unter Kontrolle zu bringen, wie wir auf andere wirken und wer wir sind.
zu sein, bedeutet v. a. deren Eingebundenheit in kulturelle Verknüpfung zu erkennen, denn der Inhalt ist auch mit Ethnizität und Milieu als gesellschaftliche Strukturprinzipien verwoben (vgl. Volk 2010)« (Schlüter 2016, S. 672). Geschlechtsstereotype sind mit kulturellen und anderen sozialen Rollenbildern eng verwoben. In der »Intersektionalitätstheorie« wird davon ausgegangen, dass sich Rollenbilder im Individuum überlagern, miteinander im Widerspruch stehen können, aber auch Schutzfunktionen übernehmen können (Schlüter 2010, S. 161). So können Erfahrungen von Diskriminierung, die Personen durch die Zugehörigkeit zu der einen sozialen oder kulturellen Gruppe widerfahren, durch positive Erlebnisse und Rollenerfahrungen in anderen Bereichen zur Verarbeitung dienen. Entscheidend ist für diesen positiven Effekt aber, dass die Person von ihrem Umfeld nicht auf ein Merkmal reduziert wird. Der Körper ist nicht nur unsere Verortung im Hier und Jetzt, sondern auch Projektionsfläche für den Versuch, unter Kontrolle zu bringen, wie wir auf andere wirken und wer wir sind. »Alle unsere Erfahrungen werden leiblich eingeschrieben – man denke nur an Mimikfalten, die Gesichtsausdrücke nachzeichnen, an Narben von Verletzungen, an Körperhaltungen, die Abbild der Art des In-der-Welt-Stehens sein können, oder die engrammierten Gedächtnisinhalte im Gehirn. (…) So ist der Leib der Ort, an dem Materielles (Genetik, Anatomie, Physiologie) sich mit Transmateriellem (Gefühle, Erinnerungen und Erfahrungen, Einstellungen und Haltungen gegenüber der Welt etc.) verbindet (Petzold 2009c)« (Schigl 2012, S. 78). Es gibt statistische Verteilungen geschlechterbezogener Ausprägungen von psychosomatischen Erkrankungen. Darüber informiert zu sein, gehört ebenso zur Genderkompetenz, wie jederzeit bereit zu sein, diese zu hinterfragen. Denn kaum etwas ist so stark geprägt von geschlechtsbezogenen Rollenvorstellungen wie unsere Begriffe von Gesundheit und Krankheit.
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Die groß angelegte epidemiologische »Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland« (DEGS)1 hat ergeben, dass 33,3 Prozent der repräsentativ befragten Erwachsenen zwischen 18 und 79 Jahren an psychischen Störungen erkrankten. Davon entfallen lediglich 3,3 Prozent auf die sogenannten somatoformen Störungen, also psychosomatische Erkrankungen im engeren Sinne. Psychische Erkrankungen gehen jedoch ebenfalls mit einer Vielzahl von körperlichen Symptomen einher und manifestieren den Leidensdruck der Patientinnen und Patienten. Denkt man etwa an die Panikattacken einer Angststörung, Appetitund Schlaflosigkeit bei Depression oder die Begünstigung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei chronischem Stress. Auf den drei oberen Plätzen, was die Häufigkeit psychischer Erkrankungen insgesamt angeht, finden sich: Angststörungen (16,2 Prozent), Alkoholstörungen (11,2 Prozent) sowie unipolare Depression (8,2 Prozent). Die Zahlen unterscheiden sich aufgeschlüsselt nach Frauen und Männern jedoch noch einmal deutlich. Mit 22,6 Prozent sind Angststörungen bei Frauen deutlich häufiger vertreten als bei Männern (9,7 Prozent). Demgegenüber ist der Anteil von Alkoholstörungen bei Männern deutlich höher (18,4 Prozent) als bei Frauen (3,9 Prozent). Auch bei der Diagnose von Depressionen zeigt sich ein Unterschied zwischen Frauen (11,4 Prozent) und Männern (5 Prozent). Diese auch in anderen Studien auftretenden Geschlechterverteilungen haben dazu geführt, dass die Genderperspektive stärker berücksichtigt wird. So hat sich gezeigt, dass Frauen häufiger und früher Hilfesysteme im Gesundheitswesen in Anspruch nehmen. »Es fällt Frauen leichter, sich als therapie- oder beratungsbedürftig zu definieren und zu zeigen als Männern. Patientinnen suchen häufig Hilfe im Zusammenhang mit Beziehungsproblemen, Patienten präsentieren eher Schwierigkeiten im beruflichen Umfeld (z. B. Burn-out). Dementsprechend kommen PatientInnen zu unterschiedlichen Therapiezielen und -vereinbarungen« (Schigl 2012, S. 111).
Die 2016 ins Leben gerufene und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Informationsplattform GenderMed-Wiki2 unter der Leitung von Professor Dr. Dr. Bettina Pfeiderer hilft in mehreren Artikeln, diese Befunde unter Einbezug der Genderperspektive möglichst ausgewogen einzuordnen. Bezogen auf die unterschiedlichen Zahlen zu Depressionen, wird hier sowohl auf den Umstand verwiesen, dass Phasen hormoneller Umstellung wie Pubertät, Schwangerschaft oder die Wechseljahre für Frauen eine höhere Vulnerabilität für das Auftreten einer Depression bedeuten können. Ebenso werden jedoch Vorschläge aufgegriffen, die eine Erweiterung der Diagnosekriterien fordern, um die Unterschiede von Frauen und Männern bei der Früherkennung einer Depression besser berücksichtigen zu helfen: »Häufig verdrängen betroffene Männer ihre psychischen Beschwerden und führen Befindlichkeitsstörungen auf momentanen Stress und/ oder berufliche Belastungen zurück. Depressive Frühsymptome wie erhöhte Erschöpfbarkeit oder Schlafstörungen werden dabei ignoriert und geeignete Behandlungsschritte können nicht eingeleitet werden. Männer neigen bei psychischen Problemen eher dazu, ihre Beschwerden auf die Umwelt zu projizieren und Krankheitsgefühle nicht korrekt zu interpretieren. So konsultieren sie einen Arzt oder eine Ärztin häufig erst dann, wenn körperliche Beschwerden wie starke Erschöpfungszustände oder Gefühle eines ›Burnouts‹ eindeutige Auswirkungen auf ihre Alltagsgestaltung haben. Oft führt auch paralleler Alkohol- und/oder Nikotinkonsum zu gesundheitlichen Folgen und damit zu einem steigenden Behandlungsdruck.«3 Die Autorinnen und Autoren sprechen von einer »Depressionsblindheit« in der Früherkennung von Depressionen bei Männern und fordern eine Erweiterung von Diagnosekriterien, die sich an der »Gotland Male Depression Scale« orientiert und etwa Kriterien wie das »Abstreiten von Kummer und Traurigkeit«, die »zunehmend ri-
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Photographie von Becker & Maass. Berlin. Um 1935 / akg-images / Imagno / Austrian Archives
gide Forderung nach Autonomie (in Ruhe gelassen werden)«, die »zunehmende Intensität oder Häufigkeit von Ärgerattacken« oder auch die Tendenz, »andere für eigene Probleme verantwortlich (zu) machen«, einbezieht. Da erscheint es schon nicht mehr als Zufall, dass ausgerechnet Alkohol- und Substanzmissbrauch bei Männern im Verdacht stehen, eine depressive Erkrankung zu verdecken, während die Werbeindustrie auf die Wünsche nach Autonomie, Rückzug und Kompromisslosigkeit in der Tabak- und Alkoholwerbung abzielt. Geschlechterbilder können jedoch umgekehrt beeinflusst sein durch eine gesellschaftliche Überformung von traumatisierenden Erfahrungen. Neuere therapeutische Ansätze wie zum Beispiel die transgenerationale Therapie, die sich mit der unbewussten Weitergabe von Traumata über Generationsgrenzen hinweg beschäftigt, versprechen Aufschlüsse darüber, inwiefern auch aktuelle Geschlechterbilder in Deutschland noch immer davon geprägt sind, wie die unmittelbaren Kriegsgenerationen Verhaltensmuster in ihren Familien weitergegeben haben. Dies ist für Geschlechtsstereotype von Stärke, Fürsorglichkeit und Durchhaltevermögen, aber auch die noch immer eher Männern zugeschriebene Distanziertheit und Sprachlosigkeit vor dem Hin-
tergrund nicht verarbeiteter Gewalterfahrungen und vermutlich zahlloser nicht diagnostizierter Fälle Posttraumatischer Belastungsstörung nach dem Zweiten Weltkrieg schnell nachvollziehbar. Aber auch familiäre Leitsätze wie zum Beispiel: »Stell dich nicht so an!«, die vermutlich zu einem nicht unerheblichen Anteil mit dafür sorgen, wenn Stresssymptome des Körpers langfristig übergangen werden, lassen sich vor diesem Hintergrund deuten. Verglichen mit den Schrecken von Kriegserfahrungen wird so jedem Gefühl von Überforderung und Schwäche unterschwellig die Berechtigung entzogen (Lohre 2016). Gender kann für Individuen persönlich eine ganz unterschiedliche Relevanz entwickeln, ja sogar eher Abwehrreaktionen hervorrufen, sich gerade nicht über eine Geschlechtszugehörigkeit definieren zu wollen. Über die Biographie gesehen, kann sich die Bedeutsamkeit der eigenen Geschlechtszugehörigkeit verändern. Für die Durchführung von Beratung ist es daher wichtig, den Ratsuchenden Entfaltungspotenzial zu lassen: »Wenn Gendereinflüsse in der Beratung ignoriert werden, können Kommunikation und Interaktion geschlechtliche Ungleichheiten reproduzieren, statt deren Grenzziehungen aufzubrechen« (Schlüter 2016, S. 672). Bei allen gesellschaftlich vorhandenen Geschlechtsstereotypen, mit denen wir uns im Alltag immer wieder auseinandersetzen müssen, entscheidet sich doch im persönlichen Beziehungskontakt, wie frei wir mit ihnen umgehen können. »Bedeutung entsteht in einem Prozess des Benennens, Auslegens und Entscheidens zwischen Interagierenden« (Schlüter 2010, S. 164). Deswegen kann die Interaktion zwischen Ratsuchenden, Therapeutinnen und Therapeuten, Ärztinnen und Ärzten, Pflegemitarbeiterinnen und -mitarbeitern zum Ausprobieren und Neuentwerfen von Einstellungen und Verhaltensoptionen werden. »In das Alltagswissen ist auch das Selbstbild eingebunden. Selbstbilder enthalten (…) übernommene und für zutreffend erachtete Zuschreibungen durch als relevant erachtete andere Menschen«
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(Schlüter 1999, S. 81). Diese als »relevant erachteten anderen Menschen« können gerade in Krisensituationen auch Beraterinnen und Berater oder therapeutisches oder medizinisches Fachpersonal sein. Vor allem Berufsgruppen, die nicht unmittelbar mit medizinischen oder therapeutischen Vorgängen assoziiert werden, können eine wichtige Informationsfunktion übernehmen. Manchmal reicht es schon aus, in Krisensituationen einem Menschen zu begegnen, der oder die anders als nach den bekannten eingespielten Schemata auf die typischen Durchhalteparolen wie: »Was muss, das muss«, »Ein Indianer kennt keinen Schmerz«, »Augen zu und durch« reagiert und lieber noch einmal nachfragt: »Wie ist es denn gerade für Sie? Hat Ihnen dieser Satz schon einmal geholfen? Wie geht es Ihnen im Augenblick damit, wenn Sie sich das sagen hören? Ziehen Sie Kraft daraus oder verstärkt es eher die Belastung?« Sensibler Umgang mit echten Beziehungskontakten, die sich nicht durch Rollenklischees von der Individualität der Betroffenen ablenken lassen, helfen den Menschen, eigene Kompensationswege zu finden und im Zweifelsfall früher Hilfen aufzusuchen und anzunehmen. Der Verzicht auf Selbstfürsorge ist unabhängig vom Geschlecht nach wie vor ein positiv akzeptiertes Rollenbild. Dies macht auch vor den beruflichen Selbstbildern der Helfer/-innen nicht Halt. Nicht umsonst sind pflegende und helfende Berufe selbst weit vorn in den Statistiken zu Stress- und Burn-out-Erkrankungen. Genderkompetenz meint nicht zuletzt, auch eigene Rollenbilder zu hinterfragen. Denn so wie ich mein Gegenüber über Genderkategorien wahrnehme, wird auch mein eigenes Berufsbild und mein persönliches Selbstverständnis durch Rollenvorstellungen mitgeprägt. Zur Professionalität zählt daher auch die Integration der Genderperspektive in Supervisions- und Intervisionsprozesse, die nicht zuletzt helfen, die eigene Fachkultur und ihre Auswirkungen auf die Beziehungskontakte mit meiner Zielgruppe und in den Anforderungen, die ich an mich selbst stelle, zu reflektieren.
Karin Kress arbeitet seit 2006 als freiberufliche Trainerin in der Erwachsenenbildung. Neben unterrichtsbezogenen Themenschwerpunkten in der Lehrer fortbildung bietet sie Seminare zu Stressprävention und Life-Work-Balance an. Sie ist personzentriert-integrativer Coach (DACB) und seit 2015 als Lehrkraft für besondere Aufgaben im Fachbereich Erwachsenenbildung/Bildungs beratung der Universität Duisburg-Essen beschäftigt. E-Mail: [email protected] Literatur Depression, in: GenderMed-Wiki: https://gendermedwiki. uni-muenster.de/mediawiki/index.php?title=Depression/ Einf%C3 %Bchrungsartikel#cite_note-13 (abgerufen am 09. Juli 2017). Lohre, M. (2016). Das Erbe der Kriegsenkel. Was das Schweigen der Eltern mit uns macht. Gütersloh. Schigl, B. (2012). Psychotherapie und Gender. Konzepte. Forschung. Praxis. Welche Rolle spielt die Geschlechtszugehörigkeit im therapeutischen Prozess? Wiesbaden. Schigl, B. (2014). You never can stop Doing Gender! Gender-Aspekte bei Essstörungen und in deren Behandlung. Vortrag beim Vernetzungstreffen Essprobleme Graz. http://www.frauengesundheitszentrum.eu/wp-content/ uploads/2014/10/Gender-und-Essst%c3 %b6rungenGraz-2014.pdf (abgerufen am 09. Juli 2017) Schlüter, A. (1999). Bildungserfolge. Eine Analyse der Wahrnehmungs- und Deutungsmuster und der Mechanismen für Mobilität in Bildungsbiographien. Opladen. Schlüter, A. (2010). Didaktische Kompetenz und Intersek tionalität. In: Auferkorte-Michaelis, N.; Ladwig, A.; Stahr, I. (Hrsg.), Hochschuldidaktik für die Lehrpraxis. Interaktion und Innovation für Studium und Lehre an der Hochschule (S. 157–168). Opladen u. a. Schlüter, A. (2016). Beratung unter Genderaspekten im biografischen Verlauf. In: Gieseke, W.; Nittel, D. (Hrsg.), Handbuch Pädagogische Beratung über die Lebensspanne. Weinheim. Übersicht über Veröffentlichungen zur DEGS-Studie: https:// www.degs-studie.de/deutsch/ergebnisse/degs1/degs1-basispublikation.html (abgerufen am 09. Juli 2017). Wittchen, H.-U.; Jacobi, F.: Was sind die häufigsten psychischen Störungen in Deutschland? http://www.aiaatr.com/ resources/degs_psychische_stoerungen.pdf (abgerufen am 09.07.2017) Anmerkungen 1
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Eine Übersicht über die bereits erschienenen Auswertungen der Studie als Basispublikationen findet sich unter: https://www.degs-studie.de/deutsch/ergebnisse/degs1/ degs1-basispublikation.html (abgerufen am 09. Juli 2017). Speziell zu psychischen Störungen siehe auch Wittchen und Jacobi. https://gendermedwiki.uni-muenster.de (abgerufen am 09.07.2017). https://gendermedwiki.uni-muenster.de/mediawiki/index.php?title=Depression/Fachartikel (abgerufen am 09.07.2017).
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Mensch ärgere dich nicht Ärger als Risikofaktor für den Ausbruch einer schwerwiegenden Herzerkrankung
Karl-Heinz Ladwig Als John Hunter, einer der Gründungsväter der akademischen Medizin, gleichermaßen erfolgreich als Anatom, Chirurg und Physiologe, sich am Abend vor dem 16. Oktober 1793, seinem Todestag, in sein Studierzimmer in London zurückgezogen hatte, dachte er mit einer dunklen Vorahnung an den kommenden Tag und notierte in sein Tagebuch, dass sein Leben in der Hand eines jeden Schurken liegen würde, der ihn zur Raserei bringen könne. Er hatte dabei die ehrenwerten Mitglieder der Fakultät des Londoner St. Georg Hospitals vor Augen. Tatsächlich trat diese Vorahnung am nächsten Tag ein – Hunter regte sich furchtbar auf, verließ wutentbrannt die Fakultätssitzung und starb unmittelbar darauf in einem Nebenzimmer (Allan 2014). Aus heutiger Sicht können wir an diesem vorzeitigen und unnötigen Todesfall festhalten, dass Hunter zweifelsohne der erste Wissenschaftler war, der einen plötzlichen Tod, hervorgerufen durch eine schwerwiegende negative Gefühlsregung (»an instantaneous death from a violent affection of the mind«), beschrieben hat (Kobler 1961). Nach heutigem Wissensstand aus epidemiologischen und klinischen Studien kann als gesichert gelten, dass akute Stresskonditionen – zu denen in erster Linie starke negative Affekte wie Ärger, Angst und Trauer zählen – in der Lage sind, schwerwiegende und potenziell tödliche Herzerkrankungen zu verursachen. Im Folgenden wird zunächst die epidemiologische Evidenz für diesen Zusammenhang dargestellt und dann gezeigt, welche Herz-Kreislauf-Erkrankungen durch Ärgerreaktionen auftreten können, und schließlich
werden einige Überlegungen zur Psycho-Pathologiephysiologie dargelegt. Epidemiologie Das am intensivsten untersuchte »starke« negative Gefühl ist der Ärger, also ein spontaner, innerer negativ-emotionaler Affekt als Reaktion auf eine frustrierende, häufig kränkende Situation, deren Intensitätsspektrum von Unmut bis zu Wut reichen kann. Yoichi Chida und Andrew Steptoe haben 2009 eine Metaanalyse zu der Bedeutung von Ärger als Risikofaktor für die koronare Herzerkrankung vorgelegt, in der sie 25 Studien zusammentragen konnten, die den ätiologischen Zusammenhang von Ärger in nichtselektierten Bevölkerungsstudien zum Gegenstand hatten, und 19 Studien, die den gleichen Zusammenhang als prognostischen Faktor bei bereits an einer Herzerkrankung leidenden Patienten untersucht haben. Die Autoren konnten auch nach Kontrolle der wichtigsten somatischen Risikofaktoren (wie Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörung, Rauchen, Diabetes) belegen, dass Ärger sowohl bei scheinbar gesunden Personen aus der Bevölkerung wie auch bei bereits Erkrankten einen messbaren Einfluss als Risikofaktor besitzt. Interessanterweise war dieser Effekt bei Männern stärker ausgeprägt als bei Frauen (Chida und Steptoe 2009). Eine nachfolgende Metaanalyse von Mostofsky und Kollegen (2012) belegt, dass ein kardiales Ereignis innerhalb eines Zeitfensters von zwei Stunden nach einer Ärgerreaktion besonders häufig
Leidfaden, Heft 4 / 2017, S. 84–88, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202
Markus Lüpertz, Untitled, from the series »Style Paintings«, ca. 1978 / Bridgeman Images / VG Bild-Kunst, Bonn 2017
ist. Eine Publikation aus der Interheart-Studie (Smyth et al. 2016), hier mit 12.461 eingeschlossenen Infarktpatienten, konnte zeigen, dass eine Stunde vor dem Infarkt-Ereignis rund 14 Prozent der Patienten entweder anstrengende körperliche Aktivitäten unternommen hatten oder sich emotional aufgeregt hatten. Beides war fatal: Körperliche Aktivitäten erhöhten das Risiko über ein
zweifaches Maß – der Einfluss von Ärger war aber noch stärker als der von körperlicher Aktivität. Schließlich steuerten Davidson und Mostofsky (2010) mit Daten des Nova Scotia Health Surveys einen interessanten Befund bei: Sie zeigen, dass auch in dieser Studie destruktive Ärgerreaktionen ein hohes Herz-Kreislauf-Risiko beinhalten, dass aber von »konstruktiven« Ärgerreaktionen,
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also Streitereien, die zur Klärung eines Konfliktes beigetragen haben, keinerlei gesundheitliche Gefahren ausgehen. Es gibt also Hoffnung, dass Ärgerreaktionen, die ja unzweifelhaft zu unserem Alltagsleben gehören, nicht unbedingt zu gesundheitlichen Risiken führen müssen. Klinische Folgen einer akuten Ärgerreaktion Eine intensive spontane, innere, emotionale Reaktion hochgradiger Unzufriedenheit auf eine Situation, eine Person oder eine Erinnerung, die der Verärgerte lieber anders gesehen hätte, kann also innerhalb eines sehr engen Zeitfensters von ein bis zu vier Stunden nach der Ärgerreaktion zu Herz-Kreislauf-bedingten schwerwiegenden Erkrankungen führen. Drei zentrale Krankheitsbilder können die kardialen Folgen einer solchen akuten »Stresssituation« sein: • Myokardiale Ischämie: Anstieg des systemischen vaskulären Widerstands bei gleichzeitigem Anstieg des myokardialen Sauerstoffbedarfs • Tako-Tsubo-Kardiomyopathie: akute, jedoch reversible kontraktile mikro-zirkulatorische Dysfunktion (mikrovaskuläre Spasmen); direkter katecholamin-toxischer Myozytenuntergang • Ventrikuläre Arrhythmien: Lateralisierung der zerebralen Aktivität durch emotionalen Stress – asymmetrische Hirnaktivität – asymmetrische Herzstimulation – Felder inhomogener Repolarisation – elektrische Instabilität Über die tatsächliche Häufigkeit von ärgerbedingten Herzerkrankungen können keine wirklich verlässlichen Aussagen gemacht werden. Aber vermutlich sind stressinduzierte Herzmuskel ischämien (die im schlimmsten Fall in einen Infarkt münden können) am häufigsten. Allerdings sind gerade in jüngster Zeit viele Forschungs-
arbeiten zu der Tako-Tsubo-Kardiomyopathie publiziert worden, die unter anderem zeigen, dass dieses Krankheitsbild deutlich häufiger ist als früher angenommen. Bei diesem Krankheitsbild verkrampft der Herzmuskel aus bislang nicht ausreichend verstandenen Gründen und schnürt sich selbst ab, so dass der Herzmuskel nach Auffassung seiner japanischen Erstbeschreiber die Form eines Tongefäßes annimmt, mit dem in der Vergangenheit in Japan Tintenfische gefangen wurden. Wer ist gefährdet? Zweifellos sind kränkende oder frustrierende Situationen im Alltag keineswegs ungewöhnliche Ereignisse, sondern gehören anscheinend eher regelhaft zum bürgerlichen Alltagsleben dazu. Zum Glück führen nur die wenigsten dieser Konfliktsituationen zu schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen. Dies liegt einmal daran, dass auf eine potenziell frustrierende Situation nicht alle Betroffenen gleichermaßen mit Frustration reagieren. Das Spektrum reicht bei Exposition einer kränkenden Situation von dem Erleben keinerlei Gefühlsregung bis zu sehr starken »Anfällen«
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Eine intensive spontane, innere, emotionale Reaktion hochgradiger Unzufriedenheit kann also innerhalb eines sehr engen Zeitfensters von ein bis zu vier Stunden nach der Ärgerreaktion zu Herz-Kreislauf-bedingten schwerwiegenden Erkrankungen führen.
von Wut und Ärger. Emotional instabile Menschen sind einem besonders hohen Risiko ausgesetzt, mit unkontrollierbaren Impulsdurchbrüchen zu reagieren. Wenn man bei Patienten im Zustand nach einem akuten Myokardinfarkt einen Stresstest durchführt, indem diese Menschen einer kurzfristig belastenden standardisierten Situation ausgesetzt werden (wie zum Beispiel dem Trier-Rechentest), dann wird man eine Untergruppe von Infarktpatienten herausfiltern, die physiologisch besonders stark auf diese Stressoren reagieren und sogar Zeichen einer vorübergehenden Herzmuskelischämie zeigen. Langzeituntersuchungen dieser Patienten, die Sheps und Mitarbeiter 2002 publiziert haben, zeigen, dass diese über einen fünfjährigen Nachbeobachtungszeitraum ein deutlich erhöhtes Mortalitätsrisiko aufweisen. Eine kürzlich publizierte Arbeit (Wokhlu und Pepine 2016) hat belegen können, dass junge Frauen ein Exzess-Risiko aufweisen, solche Episoden von stressinduzierten Herzmuskelischämien zu entwickeln. Anders als man möglicherweise gefühlsmäßig denkt, sind es also gerade die jungen Frauen, die eine Veranlagung haben,
in akuten Stress- (oder wie hier diskutiert: Ärger-/ Wut-) Reaktionen überschießend zu reagieren. Aber es gibt auch empirische Belege dafür, dass Menschen mit einem gegenteiligen Reaktionsmuster in wichtigen Herz-Kreislauf-Parametern vorteilhaft reagieren: In einer im American Journal of Cardiology publizierten Arbeit hatten sich die Forscher auf der Suche nach einem »Antidot« zu dem kardiotoxischen Einfluss von Ärger und Feindseligkeit gemacht und waren bei der Persönlichkeitseigenschaft »Vergebungsbereitschaft« (forgiveness) fündig geworden. Sie konnten in einer Untersuchung an 308 jungen Frauen zeigen, dass über einen 24-stündigen Beobachtungszeitraum Menschen, die diese Eigenschaft aufwiesen, in Ärgerreaktionen mit niedrigerer Herzfrequenz und Bluthochdruckspitzen reagierten als Menschen mit einer gegenteiligen Persönlichkeit (May et al. 2014). Jenseits einer religiösen Färbung, die der Begriff der »Vergebungsbereitschaft« hat, beinhaltet er so etwas wie Gelassenheit und die Fähigkeit, in Stresssituationen mit einem geringeren physiologischen Arrousal (also der Hochregulierung von körperlichen Stressreaktionen) zu reagieren. Neben einer Veranlagung für die verschiedenen Formen von Impulskontrolle spielt auch der Grad eines bereits vorgeschädigten Herzens eine wichtige Rolle bei der Beurteilung der Gefährdung durch Ärger und Wutanfälle. Die Bedeutung eines vorgeschädigten Koronarsystems konnte eindrucksvoll bei den Folgen eines schweren Erdbebens in der kalifornischen San Francisco Bay nachgewiesen werden. Hier führte das Naturereignis (über die Auslösung von Schreck und akuter Angst) zu einer Häufung von Fällen mit plötzlichem Herztod (Leor, Poole und Kloner
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1996). In den Folgemonaten starben aber deutlich weniger Menschen an diesem Krankheitsbild, sodass geschlussfolgert werden kann, dass die starke Emotion bei Menschen, die bereits ein hohes Risiko hatten, einen plötzlichen Herztod zu erleben, zu dem vorzeitig eingetretenen fatalen Ereignis geführt hat und daher der Begriff einer »Übersterblichkeit« gerechtfertigt ist. Dies galt im Übrigen auch für John Hunter, der bereits mit 45 Jahren an pektanginösen Brustschmerzen litt, die sein Schüler Edward Jenner als Zeichen einer koronaren Herzerkrankung deutete, aber erst nach dem Tod von Hunter publizierte. John Hunter war aber nicht nur durch ein pathologisch verändertes Koronarsystem vorgeschädigt, sondern auch durch seine psychologische Konstitution. Seine Biographen schildern ihn als einen »getriebenen Mann«, der exzessiv arbeitete, immer unter Zeitdruck war und sich kaum Ruhepausen gönnte und Zeit seines Lebens ein Gefühl von tiefverwurzelter Unsicherheit durch suchtartige Mehrarbeit zu kompensieren suchte (Allan 2014). Fazit Unser Stresssystem ist ein komplexes Netzwerk von Körperfunktionen und mentalen Prozessen, die darauf gerichtet sind, in einer akuten Stresssituation angemessen reagieren zu können. Unser Körper ist also darauf eingerichtet, innerhalb kürzester Zeit notfalls alarmartig mit einem massiven Anstieg an Funktionen zu reagieren, die uns eine Flucht vor oder einen Kampf gegen einen Eindringling oder potenziellen Feind ermöglicht. Dies gilt auch für die Ärgerreaktion, die jeder Mensch kennt, an sich und anderen erlebt hat und Teil der menschlichen Natur ist. Unter Umständen kann dieser Reaktionsstereotyp allerdings gesundheitsschädigend werden: bei Menschen, die vermutlich genetisch bedingt die Tendenz zu einer physiologischen Hyperreagibilität aufweisen; bei Menschen, die sich immer wieder und sehr häufig in Ärgerreaktionen verstrickt sehen, und bei Menschen, die bereits ein vorge-
schädigtes Herz-Kreislauf-System aufweisen. Besonders die Letztgenannten sollten den häufig zu hörenden Ratschlag von engen Angehörigen sehr ernst nehmen, der dazu auffordert, sich nicht aufzuregen, weil das nicht gut für das Herz ist …! Prof. Dr. Karl-Heinz Ladwig leitet die Forschergrupe »Seelische Gesundheit« im Institut für Epidemiologie, Helmholtz Zentrum München, German Research Center for Environmental Health, Institute of Epidemiology II, Neuherberg, Germany und ist Research Professor an der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Klinikum rechts der Isar und Deutsches HerzZentrum München, Technische Universität München. E-Mail: [email protected]
Literatur Allan, R. (2014) John Hunter: Early association of Type A behavior with cardiac mortality. In: American Journal of Cardiology, 114 (1), S. 148–50. Chida, Y.; Steptoe, A. (2009). The association of anger and hostility with future coronary heart disease: A meta-analytic review of prospective evidence. In: Journal of the American College of Cardiology, 53 (11), S. 936–946. Davidson, K. W.; Mostofsky, E. (2010). Anger expression and risk of coronary heart disease: Evidence from the Nova Scotia Health Survey. In: American Heart Journal, 159 (2), S. 199–206. Kobler, J. (1961). The reluctant surgeon. The Life of John Hunter. In: British Journal of Surgery, 48 (210), S. 467. Leor, J.; Poole, W. K.; Kloner, R. A. (1996). Sudden cardiac death triggered by an earthquake. In: New England Journal of Medicine, 334 (7), S. 413–419. May, R. W.; Sanchez-Gonzalez, M. A.; Hawkins, K. A.; Batchelor, W. B.; Fincham, F. D. (2014). Effect of anger and trait forgiveness on cardiovascular risk in young adult females. In: American Journal of Cardiology, 114 (1), S. 47–52. Mostofsky, E.; Maclure, M.; Sherwood, J. B.; Tofler, G. H.; Muller, J. E.; Mittleman, M. A. (2012). Risk of acute myocardial infarction after the death of a significant person in one’s life: The determinants of myocardial infarction onset study. In: Circulation, 125 (3), S. 491–496. Sheps, D. S.; McMahon, R. P.; Becker, L.; Carney, R. M.; Freedland, K. E.; Cohen, J. D.; et al. (2002). Mental stress-induced ischemia and all-cause mortality in patients with coronary artery disease: Results from the psychophysiological investigations of myocardial ischemia study. In: Circulation, 105 (15), S. 1780–1784. Smyth, A.; O’Donnell, M.; Lamelas, P.; Teo, K.; Rangarajan, S.; Yusuf, S.; et al. (2016). Physical activity and anger or emotional upset as triggers of acute myocardial infarction: The INTERHEART Study. In: Circulation, 134 (15), S. 1059–1067. Wokhlu, A.; Pepine, C. J. (2016). Mental stress and myocardial ischemia: Young women at risk. In: Journal of the American Heart Association, Aug 24, 5 (9), pii: e004196.
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Nachsterben Wenn die Trauer zu groß ist
Sabine Buchebner-Ferstl Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang, nur vor dem Tode derer, die mir nah sind. Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind? Allein im Nebel tast ich todentlang und lass mich willig in das Dunkel treiben. Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben. Der weiß es wohl, dem gleiches widerfuhr; – und die es trugen, mögen mir vergeben. Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur, doch mit dem Tod der andern muss man leben. Mascha Kaléko (aus: Verse für Zeitgenossen) Der Tod eines nahestehenden Menschen kann wohl als eines jener Ereignisse bezeichnet werden, welches das eigene Leben zumeist in seinen Grundfesten erschüttert. Während die meisten der davon Betroffenen dennoch nach einer gewissen Zeit wieder »in die Welt zurückfinden« und in der Lage sind, den Verlust zu bewältigen, gibt es auch eine Gruppe von Menschen, die wenige Wochen oder Monate nach diesem Ereignis – aus unterschiedlichen Ursachen – ebenfalls verstirbt. Um diese Menschen, die dem verstorbenen Angehörigen gleichsam in den Tod nachfolgen, geht es im Folgenden. Der Artikel konzentriert sich dabei auf den Aspekt der Verwitwung, das heißt den Verlust des Partners oder der Partnerin. Die meisten der referierten Erkenntnisse können jedoch im Wesentlichen auch auf den Verlust anderer naher Bezugspersonen umgelegt werden.
Stark erhöhte Sterbewahrscheinlichkeit in den ersten Monaten nach der Verwitwung – Daten und Fakten Seit den 1960er Jahren wird eine erhöhte Sterblichkeit nach dem Tod des (Ehe-)Partners beziehungsweise der (Ehe-)Partnerin durch eine Vielzahl an Studien belegt (zum Beispiel Manor und Eisenbach, 2003; Sullivan und Fenelon 2013). Subramanian et al. (2008, S. 873) bezeichnen dieses als »widowhood effect« titulierte Phänomen sogar als »one of the best-documented effects of social relationship on health«. Typischerweise kann insbesondere in den ersten sechs Monaten eine starke Erhöhung der Sterbewahrscheinlichkeit verwitweter Personen im Vergleich zu verheirateten Personen gleichen Geschlechts und gleichen Alters ausgemacht werden. Je nachdem, welche Faktoren mitberücksichtigt werden (zum Beispiel das Alter), kann für diesen Zeitraum eine bis zu fünfmal so hohe Mortalitätsrate im Vergleich zu einer gleichaltrigen verheirateten Referenzgruppe desselben Geschlechts beobachtet werden. Nach dem ersten halben Jahr nach dem Tod des Partners oder der Partnerin sinkt das Sterberisiko wieder deutlich ab, bleibt zumeist aber auf einem höheren Niveau als bei nichtverwitweten Personen. Woran sterben verwitwete Männer und Frauen? Verschiedene Studien belegen, dass die Sterbewahrscheinlichkeit für alle Todesursachen erhöht ist – verwitwete Personen begehen nicht nur häufiger Suizid als jene gleichen Alters, die
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mit einem Partner oder einer Partnerin zusammenleben, sondern versterben auch häufiger an Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie verschiedenen Krebsarten und erleiden häufiger tödliche Unfälle (vgl. etwa Brenn und Ytterstad 2016). Eine etwas ältere, jedoch in Hinblick auf die Todesursachen sehr differenzierte Studie von Martikainen und Valkonen (1996), die von 1986 bis 1991 an 1,58 Millionen verheirateten Männern und Frauen im Alter von 35 bis 84 Jahren durchgeführt wurde, dokumentiert die erhöhten Sterblichkeitsraten für einzelne Erkrankungen über einen Beobachtungszeitraum von fünf Jahren. Daraus geht hervor, dass die Wahrscheinlichkeit für diverse Erkrankungen bei verwitweten Personen beider Geschlechter zum Teil drastisch erhöht ist. So stieg die Wahrscheinlichkeit, an einer Herz-Kreislauf- Erkrankung zu versterben, bei Männern im Alter von 35 bis 64 Jahren um 108 Prozent an, bei Frauen dieser Altersgruppe um 71 Prozent. In der Untersuchung wurde aber auch deutlich, dass der Anteil der Todesfälle, die auf eine gescheiterte Bewältigung des Todesfalls hinweisen, am stärksten ansteigt. Dies betrifft einerseits alkoholbezogene Erkrankungen, welche sich bis zum Alter von 74 Jahren bei beiden Geschlechtern stark auswirken, andererseits auch Suizidfälle sowie – mit Einschränkungen – als »sonstige Unfälle und Gewalteinwirkungen« klassifizierte Todesfälle. Was Suizide betrifft, so konnten etwa Ajdacic-Gross et al. (2008) nachweisen, dass das Risiko der Selbsttötung in der ersten Woche nach dem Verlustereignis am stärksten erhöht ist, danach absinkt, aber im ersten Jahr dennoch auf einem erhöhten Level verbleibt. Das Risiko des »Nachsterbens« ist, wie in den bisherigen Ausführungen bereits deutlich geworden ist, nicht gleichmäßig verteilt. Alter und Geschlecht stellen wichtige Einflussfaktoren dar. Was das Geschlecht betrifft, so ist eine erhöhte Mortalität vor allem bei jüngeren Männern feststellbar. Im höheren Alter gehen die Geschlechtsunterschiede zurück. Insgesamt sind jüngere Betroffene einem höheren Risiko ausge-
setzt als ältere. Bei der Betrachtung der Altersunterschiede ist allerdings zu berücksichtigen, dass diese immer in Relation zur nichtverwitweten Bezugsgruppe gleichen Alters zu sehen sind. Da die Gesamtsterblichkeit bei jüngeren Altersgruppen naturgemäß deutlich niedriger liegt als bei älteren, wirkt sich eine Zunahme an Todesfällen in jüngeren Altersgruppen stärker auf die Sterberate aus. Gründe für das erhöhte Sterberisiko nach Verwitwung Während Alkoholmissbrauch und dessen Folgen sowie Suizid sich als plausible Gründe für erhöhte Mortalitätsraten verwitweter im Vergleich zu verheirateten Personen anbieten, liegt die Erklärung für eine Reihe weiterer Todesursachen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebs nicht so klar auf der Hand. Eine Erklärung für diesen Zusammenhang bietet die Psychoneuroimmunologie, welche davon ausgeht, dass chronische Belastungen und damit einhergehende Emotionen sich in physiologischen Veränderungen manifestieren. Stressereignisse, vor allem wenn sie so einschneidend sind wie der Verlust des Partners/der Partnerin, haben eine Schwächung der unspezifischen und spezifischen Immunabwehr zur Folge, was sich beispielsweise in einer Abnahme der Lymphozyten im Blut manifestiert (vgl. zum Beispiel Schulz und Gold 2006). Dies begünstigt die Entwicklung verschiedenster Erkrankungen. So erwiesen sich in klinischen Tests Personen, die schwerwiegenden psychischen Belastungen ausgesetzt waren, deutlich anfälliger für Virenerkrankungen aller Art (vgl. zum Beispiel Padgett et al. 1998). Eine weitere mögliche Begründung liegt im geänderten Gesundheitsverhalten, welches bei starker psychischer Belastung häufig beobachtet werden kann (vgl. Schulz und Gold 2006). Dies umfasst etwa eine verminderte Nahrungsaufnahme aufgrund Appetitverlusts, einen erhöhten Nikotin-, Kaffee- und Alkoholkonsum, aber auch
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eine Reduktion der körperlichen Bewegung und Sportausübung. Was schützt? Wenig überraschend stellt soziale Unterstützung den Dreh- und Angelpunkt für eine Reduktion des Sterberisikos nach Verwitwung dar – dies in dreierlei Hinsicht: • … indem sie im Sinne von Krisenintervention unmittelbar nach dem Verlust unter anderem als Suizidprävention von Bedeutung ist, • … indem sie ungeeigneten Bewältigungsstrategien (Alkoholmissbrauch, Selbstvernachlässigung und Ähnlichem) entgegenzuwirken vermag, • … indem die negativen immunologischen Effekte des Verlusterlebnisses nachweislich abgemildert werden (vgl. zum Beispiel Cohen et al. 1998).
nish cohort. In: American Journal of Public Health, 86 (8), S. 1087–1093. Padgett, D. A.; Sheridan, J. F.; Dorne, J.; Berntson G. G.; Candelora, J.; Glaser, R. (1998). Social stress and the reactivation of latent herpes simplex virus type 1. In: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America, 95 (12), S. 7231–7235. Schulz, K.-H.; Gold, S. (2006). Psychische Belastung, Immunfunktionen und Krankheitsentwicklungen. Die psychoneuroimmunologische Perspektive. In: Bundesgesundheitsblatt, Gesundheitsforschung, Gesundheitsschutz 49 (8), S. 759–772. Subramanian, S. V.; Elwert, F.; Christakis, N. (2008). Widowhood and mortality among the elderly: The modifying role of neighborhood concentration of widowed individuals. In: Social Science & Medicine, (1982) 66 (4), S. 873– 884. Sullivan, A. R.; Fenelon, A. (2013). Patterns of widowhood mortality. In: The Journals of Gerontology Series B: Psychological Sciences and Social Sciences, 69B (1), S. 53–62.
Sabine Buchebner-Ferstl ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Österreichischen Institut für Familienforschung an der Universität Wien tätig. Sie ist promovierte Psychologin sowie eingetragene Gesundheitspsychologin. John Byam Liston Shaw, Boer War, 1900 / 1901 / Bridgeman Images
E-Mail: sabine.buchebner-ferstl@ oif.ac.at Literatur Ajdacic-Gross, V.; Ring, M.; Gadola, E.; Lauber, C.; Bopp, M.; Gutzwiller, F.; Rossler, W. (2008). Suicide after bereavement: An overlooked problem. In: Psychological Medicine, 38 (5), S. 673–676. Brenn, T.; Ytterstad, E. (2016). Increased risk of death immediately after losing a spouse: Cause-specific mortality following widowhood in Norway. In: Preventive Medicine 89, S. 251–256. Cohen, S.; Doyle, W. J.; Skoner, D. P.; Rabin, B. S.; Gwaltney, J. M. Jr (1998). Social ties and susceptibility to the common cold. In: International Journal of Gynecology & Obstetrics, 60 (1), S. 103. Manor, O.; Eisenbach, Z. (2003). Mortality after spousal loss. Are there socio-demographic differences? In: Social Science & Medicine, 56 (2), S. 405–413. Martikainen, P.; Valkonen, T. (1996). Mortality after the death of a spouse: Rates and causes of death in a large fin-
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AUS DER FORSCHUNG
Jugendliche und junge Erwachsene in einer Verlustsituation Wie das Body Awareness Programme dabei hilft, mit den körperlichen Auswirkungen umzugehen
Heidi Müller und Hildegard Willmann Kari E. Bugge, Karen T. S. Haugstvedt, Eline G. Røkholt, Philip Darbyshire, Sølvi Helseth (2012): Adolescent bereavement: embodied responses, coping and perceptions of a body awareness support programme. In: Journal of Clinical Nursing, Vol. 21, Nr. 15–16, S. 2160–2169. Die Trauer von Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist nicht vergleichbar mit der Trauer anderer Personengruppen. Denn das Verlusterleben ist eingebettet in die Lebensphase der Adoleszenz. Eine Zeit, in der die Jugendlichen und jungen Erwachsenen wichtige physische und psychische Entwicklungen durchlaufen (zum Beispiel die Herausbildung einer eigenen Identität). Somit stellen Verlusterfahrungen junge Menschen vor eine besondere Herausforderung, auf die sie oft mit körperlichen Symptomen (zum Beispiel mit Unruhe, Konzentrationsproblemen, Schlafschwierigkeiten) reagieren. Ein Forscherteam aus Norwegen wollte wissen, welche körperlichen Auswirkungen die Jugendlichen und jungen Erwachsenen wahrnehmen und ob ihnen das »Body Awareness Programme« (BAP) dabei hilft, mit diesen Folgen umzugehen. Die Studie An der Studie nahmen 7 Personen im Alter zwischen 13 und 18 Jahren teil. Bei 4 Personen ist ein Elternteil, bei einer Person sind beide Elternteile verstorben. 2 Personen haben ein Geschwisterkind verloren. Die Verluste lagen zwischen 8 Mo-
naten und 2 Jahren zurück. 3 Teilnehmer hatten einen plötzlichen Verlust erlebt. Alle Teilnehmer nahmen an dem 10 Treffen umfassenden Body Awareness Programme teil und wurden danach in Tiefeninterviews dazu befragt. Ergebnisse Körperliche Symptome Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen erlebten die Verlustverarbeitung als überaus anstrengend und ermüdend. Sie fühlten sich viel kraftloser als vorher. Ein Grund hierfür waren unter anderem die Schlafprobleme, die viele Teilnehmer/-innen erlebten. Weiterhin berichteten einige auch von Angstattacken, Appetitlosigkeit oder dem Rückgang an Optimismus. Die jungen Menschen erzählten zudem, dass das Sprechen über die verstorbene Person oder unangenehme Gedanken (zum Beispiel die Krankheitsphase) zu körperlichen Schmerzen (zum Beispiel Kopf-, Rücken- und Nackenschmerzen) führten. Viele spürten eine innere Unruhe, hatten Atemprobleme oder ernährten sich schlechter. Alle Teilnehmer nahmen körperliche Symptome wahr, wussten aber nicht, wie sie mit ihnen umgehen sollten. Umgang mit dem Verlust Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen versuchten auch in der Zeit der Trauer das zu tun,
Leidfaden, Heft 4 / 2017, S. 92–93, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202
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Wahrnehmung des Body Awareness Programme Das BAP wurde an die junge Personengruppe angepasst und nennt sich Adolescent Bereavement Support Programme, kurz ABSP. Es und umfasst drei Themenbereiche: Bewältigungsstrategien, Integration des Verlustes, Trauer und Beziehungen. Nach der Teilnahme sagten die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, dass sie ihren Körper und die körperlichen Symptome ernster nähmen. Sie entwickelten ein Verständnis dafür, was der Verlust in ihrem Körper auslöst und wie Gedanken, Gefühle und körperliche Auswirkungen zusammenhängen. Dankbar waren sie vor allem für die neuen Strategien, die ihnen dabei halfen, mit den körperlichen Reaktionen besser umzugehen. Beispielsweise war der gut gemeinte Rat »Leg dich eine Weile hin« für viele einfach nicht umsetzbar. Denn gerade in den Momenten tauchten unangenehme Gedanken und Gefühle auf. Erst das Erlernen und Anwenden spezieller Entspannungstechniken half ihnen dabei, zur Ruhe zu kommen. Hinzu kommt, dass die meisten Teilnehmer es auch angenehmer
und leichter fanden, über die körperlichen Auswirkungen des Verlustes zu sprechen, als ihre Gefühle in Worte zu fassen. Als übergeordnetes Fazit nahmen die Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit, dass Selbstfürsorge sehr wichtig ist. e kenonu / photocase.d
was von ihnen erwartet wurde. Sie gaben ihr Bestes in der Schule, halfen den Eltern, lernten fleißig weiter und kümmerten sich um ihre Freunde. Einige wollten es sogar besser machen als vorher und setzen sich damit zusätzlich unter Druck. Keiner bat direkt um Hilfe. Um sich besser zu fühlen, griffen die Jugendlichen und jungen Erwachsenen häufig auf Strategien zurück, die sich in anderen Situationen schon als wirkungsvoll erwiesen haben. Dazu zählten zum Beispiel Sport oder das Vermeiden von unangenehmen Gesprächen.
Zusammenfassung Die körperlichen Auswirkungen eines Verlustes erleben Jugendliche und junge Erwachsene als schwer und lähmend. Sie tun ihr Bestes, doch oft fehlt es ihnen an Wissen und geeigneten Strategien, um gut damit umgehen zu können. Fachkräfte, die mit dieser Personengruppe zu tun haben, sollten den körperlichen Reaktionen mehr Beachtung schenken. Denn sie stellen einen wertvollen Zugang dar, um junge Menschen wirkungsvoll zu unterstützen.
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Heidi Müller, Diplom-Politologin, Herausgeberin des Newsletters »Trauerforschung im Fokus«. E-Mail: heidi.mueller@trauerforschung.de Hildegard Willmann, Diplom-Psychologin, Herausgeberin des Newsletters »Trauerforschung im Fokus«. E-Mail: [email protected]
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FORTBILDUNG
Einsatz von Placebos Mittel für Körper und Geist
Lukas Radbruch Die folgende Unterrichtseinheit ist konzipiert für Fort- und Weiterbildungskurse für Ärzte und Medizinstudierende, mit geringen Abwandlungen auch für Pflegepersonal. Zum Beispiel kann eine solche Einheit in die Fallseminare für die ärztliche Weiterbildung zur Zusatzbezeichnung Palliativmedizin integriert werden.
Als Eingangsaufgabe sollen die Teilnehmer/-innen mit ihrem Nachbarn im Kurs über wenige Minuten diskutieren, wie in ihrem Setting (Krankenhaus, Stadt oder Region) die Versorgung von Patienten mit psychiatrischer Grunderkrankung und akuter körperlicher Erkrankung organisiert ist.
Bienenkorb: Patienten mit Schizophrenie und Krebserkrankung Frage: Wie ist in Ihrem Krankenhaus bzw. in Ihrer Stadt/Region die Versorgung von Patientinnen und Patienten mit Schizophrenie, bei denen jetzt eine Krebserkrankung diagnostiziert worden ist, organisiert? Wie gut funktioniert die onkologische und die psychiatrische Versorgung bei diesen Patienten? Welche Erfahrungen haben Sie selbst in der Versorgung von solchen Patienten gemacht? Aufgabe: Diskutieren Sie diese Fragestellung mit Ihrem Nachbarn im Kurs für fünf Minuten.
In diesem Leidfaden-Heft wird in vielen Beiträgen gezeigt, wie eng Körper und Geist zusammengehören und wie sie sich gegenseitig beeinflussen können. Im klinischen Alltag bei der Versorgung von kranken Menschen wird diese enge Verflechtung aber oft als Entweder-oder dichotomisiert, und zwar meist in einer klaren Reihenfolge: Wenn eine körperliche Ursache der Beschwerden vollständig ausgeschlossen ist, dann handelt es sich um eine psychische Ursache. Oft ist dies mit der vagen Vorstellung beim Personal verbunden (und manchmal auch bei Patienten und Angehörigen), dass es sich dann auch um keine »richtigen« Schmerzen (oder um welche Beschwerde es gerade geht) handle, sondern eben »nur um eingebildete Schmerzen«. Gerade am Beispiel von Schmerzen wird aber deutlich, dass sich körperliche und psychische Anteile am Schmerzempfinden bei keinem Patienten trennen lassen. In der Behandlung von chronischen Schmerzen hat sich mittlerweile das
biospsychosoziale Modell der Schmerzempfindung durchgesetzt, in dem sowohl biologische wie auch psychische und soziale Ursachen beteiligt sind, in der Palliativversorgung ist es das Konzept des »Totalen Schmerzes«, nach dem körperliche, psychische, soziale und spirituelle Anteile zum Schmerzempfinden beitragen. Eine einseitige Behandlung nur mit Medikamenten, oder auch nur mit Psychotherapie, wird in aller Regel erfolglos bleiben. Im Gesundheitssystem herrscht aber eine klare Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen den auf die verschiedenen Organsysteme orientierten Fachabteilungen und den Einrichtungen für psychosomatische oder psychiatrische Behandlung. Diese Dichotomie wird besonders sichtbar bei Patienten und Patientinnen, die beides benötigen, also zum Beispiel bei Patienten mit psychiatrischer Erkrankung (etwa Schizophrenie), die jetzt akut somatisch erkrankt sind (zum Beispiel mit einer Tumorerkrankung). Diese Pa-
Leidfaden, Heft 4 / 2017, S. 94–97, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202
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tienten werden immer wieder zwischen der Psychiatrie und der Onkologie hin und her geschoben, weil die Behandlungskonzepte sich zu sehr unterscheiden (siehe Eingangsaufgabe).
Für die Auseinandersetzung mit den Einstellungen zum Zusammenspiel von Psyche und Soma wird eine Fallvignette in Kleingruppen diskutiert.
Fallvignette: Placebo im Nachtdienst im Krankenhaus Ausgangslage: Sie sind Stationarzt/-ärztin in der geriatrischen Abteilung. Bei der morgendlichen Übergabe mit dem Pflegepersonal wird berichtet, dass Frau Schmitz auf Zimmer 14 die ganze Nacht so unruhig war und immer wieder laut gejammert hat wegen Schmerzen, obwohl sie doch ein Schmerzpflaster (Fentanyl TTS 12,5 µg/h) hat und sogar noch um 22 Uhr eine Bedarfsmedikation mit bukalem transmukösem Fentanyl 100 µg erhalten habe. Die Nachtschwester habe deshalb um 1 Uhr nachts ein Placebo gegeben. Das habe sehr gut geholfen, die Patientin sei daraufhin eingeschlafen. Vom Pflegeteam wird deshalb diskutiert, ob die Patientin wirklich Schmerzen habe und ob die Schmerzmedikation (sowohl Dauer- wie Bedarfsmedikation) nicht reduziert werden müsste und stattdessen regelhaft Placebo-Tabletten zur Nacht eingesetzt werden sollten. Hintergrund: Die 79-jährige Patientin ist zur geriatrischen Frührehabilitation aufgenommen worden. An Vorerkrankungen sind eine chronische Herzinsuffizienz NYHA III, Cox- und Gonarthrose beidseits bei Zustand nach Hüft-TEP links vor 5 Jahren, Diabetes mellitus II, Hypertonus und Zustand nach Mammakarzinom vor 10 Jahren bekannt. Sie nimmt eine umfangreiche Medikation für diese Vorerkrankungen ein. Beim Aufnahmebefund ist dokumentiert, dass die Patientin vor allem nachts und morgens Schmerzen in beiden Knien, aber auch im unteren Lendenwirbelbereich angibt. Aufgabe: Diskutieren Sie in Ihrer Kleingruppe die mögliche Schmerzursache, den Einsatz von Placebos bei dieser Patientin und eine mögliche Anpassung der Schmerztherapie.
In der anschließenden Diskussion können zunächst die unterschwelligen (falschen) Einstellungen bei den Teilnehmenden sichtbar gemacht werden: Psychische Schmerzursachen sind »eingebildete Schmerzen«, die wiederum keine richtigen Schmerzen sind, also auch nicht behandelt werden müssen, die Wirksamkeit eines Placebos beweist, dass die Schmerzen eine psychische und keine körperliche Ursache haben, Placebos haben keine Auswirkungen auf der körperlichen Ebene. In der Diskussion mit den anderen Teilnehmenden können solche Einstellungen reflektiert und in Frage gestellt werden. Mit einem Input des Moderators/der Moderatorin werden Informationen zur Wirkungsweise von Placebos vermittelt. Placebos können (im Gegensatz zu den spezifischen Wirkungen von Pharmaka) unspezifische Wirkungen über verschiedene Wege auslösen, zum Teil als psychologische Konditionierung, zum Teil über Aktivierung des Endorphinsystems im zentralen Nervensystem. So kann zumindest ein Teil der
Placebo-Wirkung durch die Gabe des Opioidantagonisten Naloxon verhindert werden. Es handelt sich also keineswegs nur um Einbildung, sondern durchaus um physiologische Vorgänge. Die Placebo-Wirkung ist nicht auf Tabletten oder andere Applikationsformen von Medikamenten beschränkt, sondern kann auch durch ganz andere Mechanismen erreicht werden. So kann der weiße Kittel des Arztes auch schon eine Placebo-Wirkung erzielen. Die Wirkung hängt immer davon ab, mit welchen Informationen die Gabe eines Placebos verknüpft wird und mit welchen Erwartungen sie beim Patienten zusammenhängt. So kann die Applikationsform oder -farbe eine Rolle spielen: Injektionen sind ein stärkeres Placebo als Tabletten, rote Placebos wirken eher gegen Schmerzen, blaue eher zum Einschlafen. Placebos können nicht nur positive, sondern auch negative Wirkungen haben (Nocebos), wenn zum Beispiel mit der Einnahme eines Placebos vor den starken Nebenwirkungen gewarnt wird. Bekannt ist die (antizipative) Übelkeit von
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alltag entwickelt. Dabei ist wichtig, dass Placebos nicht als diagnostisches Mittel geeignet sind, um eine körperliche Ursache von Beschwerden auszuschließen und eine psychische Ursache feststellen zu können. Von einem Einsatz von Placebos ohne vorherige Information des Patienten ist deshalb abzusehen. Selbst wenn der Patient einen solchen Versuch nicht bemerken würde, wäre damit doch das Vertrauensverhältnis von Patient und Behandlungsteam von der anderen Seite empfindlich gestört, nämlich von Seiten des Personals. Placebos können aber durchaus im Rahmen eines Therapieversuchs nach vorheriger Aufklärung des Patienten oder der Patientin eingesetzt
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Krebspatienten schon beim Betreten der Klinik, lange bevor die Chemotherapie beginnt. Die Wirkungen von Placebos sind jedoch nicht auf bestimmte Schmerzursachen oder auf bestimmte Patienten beschränkt. Die Wirkung von Placebos lag in klinischen Studien bei 30 Prozent, im Mittel wurden die Beschwerden also um ein Drittel gelindert. Es gibt aber keine typischen »Placebo-Responder«, sondern Placebos können bei allen Patienten und Patientinnen wirken, bei Krebspatienten ebenso wie bei Patienten mit psychosomatischen Krankheiten. Auf der Grundlage dieser Informationen werden gemeinsam mit den Teilnehmenden Regeln zum Umgang mit Placebos im eigenen Arbeits-
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werden: »Wir sind uns nicht sicher, wie wir die Schmerzen am besten behandeln können. Wir möchten deshalb eine Nervenblockade einmal mit einem Lokalanästhetikum und einmal mit einem Placebo machen, damit wir die spezifischen Wirkungen der Nervenblockade erkennen können.« Ein Einsatz von Placebos in der in der Fallvignette beschriebenen Form im Nachtdienst ist aber abzulehnen. Hier wäre eine wiederholte Gabe der Bedarfsmedikation von transmukösem Fentanyl sinnvoller gewesen. In der Diskussion mit den Teilnehmenden können die Informationen und Änderungen in der eigenen Haltung in den Leitsätzen für den Umgang mit Placebos im eigenen Arbeitsalltag
aufgenommen werden. Damit wird auch eine offenere Haltung gegenüber dem Zusammenspiel von Körper und Geist – nicht als Dichotomie, sondern als verflochtenes Miteinander – möglich. Prof. Dr. Lukas Radbruch hat den Lehrstuhl für Palliativmedizin an der Universität Bonn inne und ist Chefarzt des Zentrums für Palliativmedizin, Malteser Krankenhaus Bonn/Rhein-Sieg sowie Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin.
Unterrichtseinheit zum Einsatz von Placebos (2 Unterrichtsstunden, insgesamt 90 Minuten) Zeit
Ablauf
Lernziele
5 Min.
Begrüßung, Thema vorstellen
3 Min.
Bienenkorb: Versorgung von Patienten mit Schizophrenie und Krebserkrankung
7 Min.
Reflexion in der Gruppe
10 Min.
Beispiel Schmerz: Input zu biopsycho- sozialem Modell
15 Min.
Fallbeispiel: Placebo im Nachtdienst, Bearbeitung in Kleingruppen
15 Min.
Reflexion und Diskussion in der Gruppe
Teilnehmer/-innen können den Stellenwert von Placebos bewerten (nicht als Beweis, aber als positiven Verstärker von unspezifischen Wirkungen)
15 Min
Input: Vortrag zu Placebo (Wirkungen von Placebos, Umgang mit Placebos)
Teilnehmer/-innen kennen die positiven und negativen Wirkungen von Placebos und Nocebos
15 Min.
Erarbeitung in der Gruppe von einfachen Leitsätzen zum Einsatz von Placebos im eigenen Arbeitsalltag
Teilnehmer/-innen entwickeln Leitsätze für das eigene Arbeitsumfeld zum Einsatz von Placebos Teilnehmer/-innen entwickeln eine offene Haltung zur Kombination von somatischen und psychischen Faktoren im klinischen Alltag
5 Min.
Offene Fragen
Teilnehmer/-innen werden sensibilisiert für die Dichotomie im Gesundheitssystem (»Patienten sind entweder körperlich oder psychisch krank«)
Teilnehmer/-innen kennen das biopsychosoziale Modell und das Konzept des »Totalen Schmerzes«
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REZENSION
Die Dunkelheit der Trauer teilen
Norbert Mucksch durchaus depressive Zeiten haben können, und es nimmt auch die Situationen in den Blick, in denen depressive Menschen nach Verlust eines nahestehenden Menschen zu trauernden Menschen werden. Nach einer sehr erfahrungsbezogenen und zugleich sehr aktuellen Einführung wenden sich Schmidt und Trautwein im ersten Teil des Buches zunächst den beiden zentralen Begriffen zu, um die es in diesem Buch geht: Trauer mit depressiven Zeiten im Unterschied zur Krankheit Depression. Die drei Abschnitte, die dann folgen, machen unmittelbar deutlich, dass hier zwei Praktikerinnen mit umfangreicher Feldkompetenz aus dem Bereich Trauerbegleitung ihre Erfahrungen hilfreich und profund zur Verfügung stellen. Die Überschriften der Abschnitte in diesem ersten Teil: • Trauer macht Sinn • Trauerbegleitung macht Sinn • Trauer und Depression
Uta Schmidt/Bärbel Trautwein: Die Dunkelheit der Trauer teilen. Trauerbegleitung in depressiven Zeiten. Edition Leidfaden. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2017, 134 Seiten Zwei Autorinnen mit einem umfangreichen praktischen Erfahrungshintergrund aus dem Bereich der Trauerbegleitung wenden sich mit diesem Buch einem ebenso wichtigen wie sehr brisanten Thema zu, brisant gerade in Zeiten der aktuellen Diskussion um die Aufnahme einer eigenen Diagnoseziffer für Trauer in die Internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD). Das Buch verleugnet nicht den Umstand, dass trauernde Menschen in ihrem Trauerprozess
bringen zum Ausdruck, mit welchem Blick und mit welcher Haltung die beiden Autorinnen auf Trauer und die Begleitung trauernder Menschen schauen. Schon dieser Einstieg stellt klar, dass Trauer und Depression voneinander abzugrenzen sind und auf keinen Fall »in einen Topf geworfen« werden dürfen. Und ausgehend von dieser wichtigen Feststellung verdeutlichen Schmidt und Trautwein die Bedeutung und auch die Wirksamkeit von Trauerbegleitung auch und gerade bei Menschen, die im Trauerprozess intensive depressive Zeiten erleben, wie auch bei an Depressionen erkrankten Menschen, die nach dem Verlust eines nahestehenden Menschen leiden und um Trauerbegleitung anfragen. Ausgesprochen hilfreich und aufschlussreich sind in diesem ersten Teil die eingefügten kom-
Leidfaden, Heft 4 / 2017, S. 98–99, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202
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primierten Sachinformationen zu depressiven Erkrankungen, die in ihrer Konzentrierung ein klares erstes Verständnis der Erkrankung Depression ermöglichen und dadurch eine hilfreiche Abgrenzung zur Befindlichkeit trauernder Menschen herstellen. Im weiteren Verlauf folgen Tabellen, die einerseits einen Trauerprozess als natürlichen Prozess der Depression als Situation mit Krankheitswert gegenüberstellen. Andererseits ergänzend findet sich in diesem Abschnitt eine aktuelle tabellarische Gegenüberstellung von Trauer mit depressiven Reaktionen und der Krankheit Depression, die deutlich macht, welche Ähnlichkeit bei aller Unterschiedlichkeit im Erleben gegeben ist. Mich hat das Buch sehr angesprochen und ich habe es mit großem Gewinn gelesen, weil es trauernden Menschen gerecht wird und ebenso Menschen, die an Depressionen leiden und trauernd sind. Dabei geht es den Autorinnen nicht darum, Menschen mit depressiven Erkrankungen zu stigmatisieren, indem diese in eine pathologische Ecke gestellt werden. Und ebenso geht es nicht darum, trauernde Menschen um jeden Preis von pathologischen Zuschreibungen fernzuhalten. Schmidt und Trautwein denken offener und weiter und bauen gerade keine Gegensätzlichkeit auf. Im Gegenteil: Sie machen überzeugend deutlich, dass Trauerbegleitung ein wirksames und hilfreiches Handeln ist, welches Menschen in Trauer ernst nimmt und die Trauer von Menschen als grundsätzlich hilfreich und gesund ansieht. Zugleich verkennen die Autorinnen nicht, dass es eine besondere Situation darstellt, wenn Menschen mit Depressionen in Trauer geraten. In einer solchen Situation mag Therapie in vielen Fällen notwendig und unbedingt angezeigt sein, jedoch nicht statt einer qualifizierten Trauerbegleitung, sondern zusammen mit einer solchen Form von Begleitung. Und Schmidt und Traut-
wein machen ebenfalls deutlich, dass besonders gravierende Todesumstände in Einzelfällen dazu führen können, dass trauernde Menschen nicht einen gesunden und hilfreichen Trauerprozess durchleben können, sondern stattdessen im Prozess der Trauer stagnieren und möglicherweise in der Folge erkranken. Für beide Fälle gilt, dass entscheidend wichtig ist, sauber zwischen Trauer und Depression zu differenzieren. Und das gerade deswegen, weil diese Differenzierung nicht immer ganz einfach ist. Das Buch legt hier eine explizite Klarheit an den Tag: Trauer darf nicht mit Depression gleichgesetzt werden. Im letzten Teil des Buches stellen die beiden Praktikerinnen einige Methoden vor, die sie als besonders hilfreich in der Begleitung trauernder Menschen erfahren haben. Da das Buch weder ein Methodenbuch noch ein Lehrbuch zur Vermittlung solcher Ansätze ist, kann dieses Kapitel interessante Ansätze vermitteln, die plastisch verdeutlichen, wie in der Begleitung depressiv trauernder Menschen Zugänge eröffnet werden können, um individuelle Entwicklungsprozesse zu initiieren. Auch in diesem Kapitel wird die tief verinnerlichte Haltung der Autorinnen spürbar. Sie formulieren selbst: »Wir nehmen die Fragen und Themen Trauernder ernst, greifen ihre Sehnsucht nach Veränderung auf und sehen ihre Zielvorstellungen als für uns leitend an, weil sie am ehesten wissen, was hilfreich für sie ist« (S. 103). Das Buch empfehle ich gern und uneingeschränkt sowohl Menschen in der Trauerbegleitung als auch trauernden Menschen und deren Angehörigen. Medizinern und Psychotherapeuten kann dieses Buch wertvolle Impulse geben, die sich bei der Diagnosestellung und Erfassung eines angemessenen Beratungsangebotes als hilfreich erweisen könnten.
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Der Bundesverband Trauerbegleitung (BVT) hat im Rahmen seiner diesjährigen Jahrestagung in Erfurt eine Stellungnahme zur derzeit vorgeschlagenen Diagnoseziffer für die Neufassung I CD-11 (geplant für 2018) verabschiedet und veröffentlicht. Darin betont der BVT, dass Trauer eine natürliche und gesunde Reaktion auf Verluste darstellt. Der BVT hebt die hohe Individualität von Trauerprozessen hervor und stellt heraus, dass diese sehr unterschiedlich lange andauern können. In der Aufnahme einer eigenen Diagnoseziffer für Menschen mit stagnierender, blockierter oder verlängerter Trauer sieht der BVT grundsätzlich Chancen für Menschen, die in einer solchen Situ-
ation sind. Der vorgeschlagene Terminus »anhaltende Trauerstörung« wird aber kritisch und als ambivalent eingeschätzt. Keinesfalls darf er ausschließlich als Aussage über die Dauer der Trauer verstanden werden, sondern vielmehr als Aussage über einen problematischen Verlauf. In diesem Kontext setzt sich der BVT sehr eindeutig ab von einer zeitlichen Festsetzung und einer »anhaltenden Trauerstörung«, die nach sechs Monaten anzunehmen sei. Gesunde Trauer dauert in aller Regel oftmals deutlich länger als das erste Jahr nach dem Tod eines verstorbenen Menschen. Hier der vollständige Wortlaut der BVT-Stellungnahme:
Stellungnahme des Bundesverbandes Trauerbegleitung zur derzeit vorgeschlagenen Diagnoseziffer (»Anhaltende Trauerstörung«) für die ICD.11 2018:
1.
Voraussichtlich 2018 wird die ICD-11 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems), die Neuausgabe des Diagnoseschlüssels der Weltgesundheitsorganisation WHO, erscheinen. Hierin wird wahrscheinlich zum ersten Mal die Diagnose »Anhaltende Trauerstörung« als eine Kategorie psychischer Krankheit enthalten sein. Diese »Störung« wird wahrscheinlich wie folgt beschrieben werden: • »Länger als 6 Monate nach dem Tod einer nahen Bezugsperson besteht schweres und anhaltendes Verlangen und Sehnsucht nach
der verstorbenen Person oder anhaltende Präokkupation (gedankliches Verhaftetsein) mit der/dem Verstorbenen oder den Todesumständen. • Zusätzlich kann die Person aufweisen: –– Verbitterung über den Verlust –– Schwierigkeiten, den Verlust zu akzeptieren –– ein beeinträchtigtes Identitätsgefühl oder Selbst(konzept), z. B. das Gefühl, ein Teil von einem selbst ist gestorben (…) –– Vermeidung von Erinnerungsanlässen den Verlust betreffend
Leidfaden, Heft 4 / 2017, S. 100–102, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017, ISSN 2192–1202
B V T- N a c h r i c h t e n 1 0 1
• Die anhaltende Trauerreaktion ist ausgeprägter, als gesellschaftliche oder kulturelle Normen dies erwarten lassen, und führt zu deutlichen Beeinträchtigungen des persönlichen Funktionierens. • Die Symptome der Anhaltenden Trauerstörung sind nicht behandelbar durch pharmakologische oder psychologische Therapien für Depressionen. • Sie sprechen aber auf psychologische Therapien an, die spezifisch für die Anhaltende Trauerstörung entwickelt wurden.«1
2.
Für uns als Verband der meisten Trauerbegleitungsausbilder*innen in Deutschland und zahlreicher qualifizierter Trauerbegleiter*innen ist Trauer eine natürliche und gesunde Reaktion auf Verluste vielfältiger Art. In der Regel ist der Trauerprozess hierbei die Lösung des Lebenlernens mit einem schweren Verlust nicht das Problem. Trauerprozesse sind dabei höchst individuell und betreffen den ganzen Menschen mit seinen Emotionen, Gedanken, Verhaltensweisen und körperlichen Reaktionen. Sie dauern unterschiedlich lang und enden in der Regel nicht damit, dass für die Hinterbliebenen alles ist wie vor dem Verlust. Trauer ist ein Prozess, der sich in der Regel nicht kategorisieren lässt und keine Diagnose darstellt.
3.
Unser Ansatz der prozessorientierten Trauerbegleitung ist von einem humanistischen und ganzheitlichen Menschenbild geprägt. Wir versuchen, die Einzelnen mit ihrem ureigenen Umgang mit ihrem Verlust zu verstehen, zu akzeptieren und sie in ihren Selbstheilungskräften zu unterstützen. Unser Ziel ist es dabei, trauernde Menschen zu ermutigen, ihren Verlust in
ihr Leben zu integrieren und dieses entsprechend der Verlusterfahrung neu zu gestalten.
4.
Wie die internationale Trauerforschung seit Jahrzehnten beschreibt, gehen auch wir davon aus, dass es in etwa 10 bis 20 Prozent der Trauerfälle zu einem problematischen Trauerverlauf kommt, der in der Regel professioneller Hilfe bedarf. Dazu haben wir bereits vor einigen Jahren ein differenziertes Klassifizierungssystem entwickelt, dass nicht-erschwerte Trauer beschreibt, erschwerte Trauer als Prognose und traumatische und komplizierte bzw. verlängerte Trauer als Diagnosen beinhaltet.2
5.
Grundsätzlich sehen wir Vorteile in einer neuen Diagnosemöglichkeit für komplizierte oder anhaltende Trauerprozesse. Die psychologische Behandlung von Menschen in problematischen Trauerverläufen wird dadurch mit den Krankenkassen abrechnungsfähig und muss nicht wie bisher unter anderen Diagnosen wie Depression oder Anpassungsstörung geschehen. Eine vermehrte Forschungstätigkeit und die Entwicklung neuer spezifischer Behandlungsmethoden sind zu erwarten und werden von uns begrüßt.
6.
Kritisch sehen wir den Zeitpunkt einer möglichen Diagnose »Anhaltende Trauerstörung« ab sechs Monaten nach dem Verlust. Dies können wir zwar aus pragmatischen Gründen akzeptieren, um zu einem solchen Zeitpunkt eine durch Risikofaktoren geprägte Trauer mit einer problematischen Prognose behandeln zu können. Grundsätzlich jedoch sind wir der Ansicht, dass anhaltende oder komplizierte Trauerprozesse erst deutlich nach dem ersten Jahrestag des Todes zu erkennen sind.
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Wir fürchten, dass die Diagnosemöglichkeit nach sechs Monaten zu einer Normierung des Trauerprozesses führen kann und zu einer Erwartung, dass eine Trauer nach sechs Monaten abgeschlossen zu sein hat, wenn sie gesund verläuft. Dies ist vollkommen unrealistisch und spielt Machbarkeitswahn und dem Druck zum Funktionieren in der modernen Gesellschaft in die Hände.
7.
Auch die für die derzeit vorgeschlagene Diagnose »Anhaltende Trauerstörung« beschriebenen Symptome können grundsätzlich Erlebensweisen eines gesunden Trauerprozesses sein. Erst wenn die Trauerreaktionen über einen längeren Zeitraum keine Bewegung aufweisen und auf Dauer lebenseinschränkende, sich immer wiederholende Abläufe beinhalten, kann man unserer Ansicht nach von anhaltender Trauer sprechen. Somit ist der Begriff der anhaltenden Trauer unserer Ansicht nach nicht ausschließlich eine Aussage über die Dauer der Trauer – auch gesunde Trauer dauert häufig lange –, sondern über einen möglicherweise problematischen Verlauf.
Supervision sind selbstverständliche Bestandteile der qualifizierten Begleitung von Menschen in anhaltenden Trauerprozessen.
9.
Wir halten es für notwendig, dass Psychotherapeut*innen und Berater*innen durch Fort- und Weiterbildung auf die Begleitung von Menschen mit problematischen Trauerverläufen vorbereitet werden. Auch in der Psychotherapie und Beratung sind die Themen Tod, Sterben und Trauer noch häufig tabuisiert. Eine Integration dieser Themen in die Ausbildungsgänge für Psychotherapeut*innen ist deshalb wünschenswert. Anmerkungen 1 Maercker, A. (2015). Die neuen Trauma‐ und Belastungsdiagnosen des ICD‐11: Konsequenzen für das Diagnostizieren und Therapieren. In: http://www.dgtd. de/fileadmin/user_upload/issd/Tagung_2015/nachlese/DGTD_Dresden-2015_Workshop_Maercker.pdf (10.12.2015) 2 Paul, C. (2011). Trauerprozesse benennen. In: Paul, C.: Neue Wege in der Trauer- und Sterbebegleitung (S. 69– 84). Gütersloh 2011.
8.
Trauerbegleiter/-innen mit einer Basisqualifikation und einem grundständigen Beruf im beraterischen, pädagogischen, pflegerischen und therapeutischen Bereich oder im Bestattungswesen sowie mit einer eventuellen therapeutische Zusatzqualifikation halten wir grundsätzlich für geeignete Begleiter*innen und Therapeut*innen von Menschen in problematischen Trauerprozessen. Wir werden die Teilnehmer*innen unserer standardisierten Ausbildungsgänge durch Zusatzmodule auf diese Aufgabe vorbereiten. Kontinuierliche Weiterbildung und
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Vorschau Heft 1 | 2018 Thema: Lebenskunst Ars moriendi
Kunst des Sterbens, Kunst des Lebens im palliativen Kontext
Humor und Lebenskunst Wie kann mein Leben weitergehen? Trauerkunst – Lebensgunst Eigene Räume öffnen, einladen und einlassen
Kultur im Wohnzimmer – Ästhetik des Alltags
Kinder als geborene Lebenskünstler Ich entwerfe mein Leben Biografisches Schreiben
u. a. m.
Impressum Herausgeber/-innen: Monika Müller M. A., KAB-Ring 22, D-53359 Rheinbach E-Mail: [email protected] Prof. Dr. med. Lukas Radbruch, Zentrum für Palliativmedizin, Von-Hompesch-Str. 1, D-53123 Bonn E-Mail: [email protected] Dr. phil. Sylvia Brathuhn, Frauenselbsthilfe nach Krebs e. V., Landesverband Rheinland-Pfalz/Saarland e. V. Schweidnitzer Str. 17, D-56566 Neuwied E-Mail: [email protected] Dipl.-Psych. Thorsten Adelt (Bonn), Dr. Dorothee Bürgi (Zürich), Prof. Dr. Arnold Langenmayr (Ratingen), Dipl.-Sozialpäd. Heiner Melching (Berlin), Dr. Christian Metz (Wien), Dipl.-Päd. Petra Rechenberg-Winter M. A. (Hamburg), Prof. Dr. Reiner Sörries (Erlangen) Bitte senden Sie postalische Anfragen und Rezensionsexemplare an Monika Müller, KAB-Ring 22, D-53359 Rheinbach Wissenschaftlicher Beirat: Dr. Colin Murray Parkes (Großbritannien), Dr. Sandra L. Bertman (USA), Dr. Henk Schut (Niederlande), Dr. Margaret Stroebe (Niederlande), Prof. Robert A. Neimeyer (USA) Redaktion: Ulrike Rastin M. A., Verlag Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen, Tel.: 0551-5084-423, Fax: 0551-5084-454 E-Mail: [email protected] Bezugsbedingungen: Leidfaden erscheint viermal jährlich mit einem Gesamtumfang von ca. 360 Seiten. Bestellung durch jede Buchhandlung oder beim Verlag. Jahresbezugspreis € 68,00 D / € 70,00 A / SFr 85,50. Institutionenpreis € 132,00 D / € 135,80 A / SFr 162,00, Einzelheftpreis € 20 D / € 20,60 A / SFr 27,50 (jeweils zzgl. Versandkosten), Online-Abo inklusive für Printabonnenten. Preisänderungen vorbehalten. Die Bezugsdauer verlängert sich jeweils um ein Jahr, wenn nicht eine Abbestellung bis zum 01.10. erfolgt. Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen; Tel.: 0551-5084-40, Fax: 0551-5084-454 www.v-r.de ISSN 2192-1202 ISBN 978-3-647-40290-1 Umschlagabbildung: William Blake, Illustrations of the Book of Job, The Linnell Set, Satan Smiting Job with Boils Anzeigenverkauf: Anja Kütemeyer, E-Mail: [email protected] Bestellungen und Abonnementverwaltung: HGV Hanseatische Gesellschaft für Verlagsservice mbH, Servicecenter Fachverlage, Holzwiesenstr. 2, D-72127 Kusterdingen; Tel.: 07071-9353-16, Fax: 07071-9353-93, E-Mail: [email protected] Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. © 2017 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Gestaltung, Satz und Lithografie: SchwabScantechnik, Göttingen
Antworten auf konkrete Fragen der systemischen Arbeit bei Verlusterlebnissen
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Für Trauernde
Für Angehörige und Freunde
Chris Paul Ich lebe mit meiner Trauer 240 Seiten / Klappenbroschur € 17,99 (D) / ISBN 978-3-579-07308-8
Chris Paul Wir leben mit deiner Trauer Für Angehörige und Freunde 236 Seiten / Klappenbroschur € 17,99 (D) / ISBN 978-3-579-07309-5
Auch als E-Book erhältlich
Meinen Trauerweg verstehen und gestalten: ein anschaulicher und neuartiger Ratgeber für Trauernde.
Auch als E-Book erhältlich
Das Zusammenleben mit Trauernden gestalten und die Balance finden zwischen Unterstützung und Normalität. Kaleidoskop des Trauerns
»Präzise, einfühlsam, anschaulich und geschöpft aus jahrelangen Erfahrungen in der Trauerbegleitung hat Chris Paul ihre neuen Perspektiven entwickelt.« Dr. Uwe Rieske, Landespfarrer für Notfallseelsorge im Rheinland
– Überleben
Hier geht es zur Website: www.trauerkaleidoskop.de – Wirklichkeit – Gefühle
– Sich anpassen
– Verbunden bleiben
– Einordnen
KERRY EGAN
UTA SCHLEGEL-HOLZMANN
Die Welt in bunt
Die Einsamkeit überwinden
Kerry Egan leben Von Sterbenden lernen, was zählt 192 Seiten / geb. mit Schutzumschlag € 17,99 (D) / ISBN 978-3-579-08686-6
Uta Schlegel-Holzmann Kein Abend mehr zu zweit Familienstand: Witwe 160 Seiten / geb. mit Schutzumschlag € 12,99 (D) / ISBN 978-3-579-08690-3
Auch als E-Book erhältlich
Auch als E-Book erhältlich
Dies ist kein Buch über das Sterben – es ist ein Buch über das Leben! Die erfahrene Hospiz-Seelsorgerin Kerry Egan erzählt Geschichten von Sterbenden. Sie handeln von Hoffnung und Glück, Reue und Trauer, Offenbarung, viel zu lange gehüteten Geheimnissen – und von der Liebe. Gemeinsam ist allen Geschichten das Ringen darum, dem eigenen Leben einen Sinn zu geben, und der unbedingte Wille, die Welt nicht schwarzweiß zu sehen, sondern in all ihren Schattierungen von grau bis bunt.
Uta Schlegel-Holzmann verliert mit 48 Jahren ihren Mann. In diesem Buch spricht sie offen über die schwere Zeit, über hilflose Reaktionen von Freunden und Bekannten und ihre tiefe Einsamkeit. Nach und nach lernt sie, den Tod ihres Mannes als einen Teil des Lebens anzunehmen, und schöpft Mut, wieder selbstständig und optimistisch zu werden. Diese Neuausgabe des erfolgreichen Klassikers ist ergänzt um ein Kapitel dazu, wie sich die Trauer der Autorin über mehrere Jahrzehnte verändert hat.
Hier geht es zur Leseprobe
Mehr zu diesen Büchern erfahrens Sie unter: www.gtvh.de
Tagung:
In Mitleidenschaft gezogen – Empathie und Mitgefühl an der Grenze 15.11.-16.11.2018 Kardinal König Haus, Wien Die Bundesarbeitsgemeinschaft für Trauerbegleitung Österreich veranstaltet gemeinsam mit der in Göttingen beheimateten Leidfaden Academy des Verlagshauses Vandenhoeck & Ruprecht sowie mit dem Kardinal König Haus in Wien eine hochkarätige, zweitägige Fortbildungsveranstaltung für all diejenigen, die Menschen in Krisen und Trauer therapeutisch, medizinisch oder seelsorgerlich begleiten.
TERMIN: 15.11. bis 16.11.2018 BEGINN: Donnerstag, 15.11.2018, 9:30 Uhr ENDE: Freitag, 16.11.2018, 14:00 Uhr TAGUNGSLEITUNG: Monika Müller, Christian Metz ORT: Kardinal König Haus, Kardinal König Platz 3, 1130 Wien TEILNAHMEBEITRAG: € 200,(inkl. Mittagessen am Donnerstag sowie Pausengetränke, Lesung mit Erika Pluhar und Fingerfood zum Ausklang am Donnerstag) FRÜHBUCHERPREIS: € 160,bei Anmeldung bis 30.6.2018 ANMELDUNG BIS: 15.10.2018 [email protected] bzw. http://www.kardinal-koenig-haus.at/anmeldung
Welche Perspektiven bieten Psychotherapieverfahren für die Arbeit mit Menschen am Ende ihres Lebens? Daniel Berthold / Jan Gramm / Manfred Gaspar / Ulf Sibelius (Hg.) Psychotherapeutische Perspektiven am Lebensende 2017. 376 Seiten mit 12 Abb. und 3 Tab., gebunden € 45,– D ISBN 978-3-525-40288-7 eBook: € 37,99 D / ISBN 978-3-647-40288-8
Ausgewiesene Expertinnen und Experten mit unterschiedlichsten psychotherapeutischen Wurzeln richten ihren Fokus auf palliative und hospizliche Arbeit und stellen ihre Erfahrungen dazu vor. Es entsteht ein facettenreiches Bild von bereits etablierten Erkenntnissen und von noch nicht ausgeschöpften Möglichkeiten. Die Vielfalt der psychotherapeutischen Konzepte birgt einen breiten Fundus an therapeutisch-technischer Methodenkompetenz. Daneben zeigen die Autoren und Autorinnen aber auch Grenzen ihrer jeweiligen Verfahren und benennen neuralgische Punkte noch anstehender Entwicklungsschritte. Der Band lädt zum interdisziplinären Dialog ein und gibt wertvolle Impulse für eine Verbesserung der psychosozialen Versorgung von Menschen in palliativer Behandlung.
Verlagsgruppe Vandenhoeck & Ruprecht
www.v-r.de