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German Pages [185] Year 2016
Marie-Luise Raters (Hg.)
Warum Religion? Pragmatische und pragmatistische Überlegungen zur Funktion von Religion im Leben
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495808375
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Marie-Luise Raters (Hg.) Warum Religion?
VERLAG KARL ALBER
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https://doi.org/10.5771/9783495808375 .
Die meisten Religionen versprechen ein Leben nach dem Tod, in dem es glücklicher oder gerechter oder sonst wie besser zugehen soll als auf der Erde. Wie schön wäre es, wenn wir wirklich auf ein ewiges Leben in der Gegenwart Gottes oder auf ein neues Leben in einem unverbrauchten Körper hoffen könnten! Wir könnten gelassener mit irdischem Scheitern umgehen und eher loslassen, wenn wir sicher sein könnten, dass alles, was uns hier widerfährt, nur ein Übergang in eine bessere Existenz ist. Aber lenken die Religionen mit solchen Versprechungen nicht nur von irdischen Missständen ab? Mit solchen Argumenten sind die Religionen als Opium des Volkes in Sippenhaft genommen worden. Jenseits dessen stellt sich das Problem des szientistischen Zweifels. Wie soll mich eine religiöse Überzeugung durch mein Leben tragen, wenn die Überzeugung nicht überzeugend ist? Ist es wirklich glaubwürdig, dass Jesus von Nazareth nach drei Tagen im Grab wieder auferstanden sein soll? Wenn ich das nicht glauben kann, kann ich auch nicht an meine eigene Auferstehung glauben. Wohl kaum eine andere Religionsphilosophie stellt eine so enge Beziehung zwischen religiösem Glauben und irdischem Wohlergehen her wie die des amerikanischen Pragmatismus: Bei William James heißt es ausdrücklich, dass ein religiöser Glaube das Leben »leicht und glücklich« machen könne. Und kaum eine Religionsphilosophie benennt so deutlich das Problem des szientistischen Zweifels. Im ersten Teil des Buches, Religion, pragmatisch betrachtet, befassen sich Johann Ev. Hafner, Michael Blume, Christian Thies und Christoph Türcke mit der Funktion von Religion in unserer Gesellschaft und in unseren konkreten Lebensvollzügen. Im zweiten Teil stellen Matthias Jung, Ludwig Nagl und Marie-Luise Raters Positionen der pragmatistischen Religionsphilosophie auf den Prüfstand.
Die Herausgeberin: Marie-Luise Raters ist Apl. Professorin und feste wiss. Mitarbeiterin für Philosophie an der Universität Potsdam.
https://doi.org/10.5771/9783495808375 .
Marie-Luise Raters (Hg.)
Warum Religion? Pragmatische und pragmatistische Überlegungen zur Funktion von Religion im Leben
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495808375 .
Gefördert von der Philosophischen Fakultät und der Forschungsabteilung der Universität Potsdam.
© VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48681-8 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-80837-5
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Vorwort
Wie viele Bände dieser Art ist auch der vorliegende Band aus einer Tagung hervorgegangen. Die Tagung war mit dem Titel Warum Religion? Pragmatistische Religionsphilosophie auf dem Prüfstand überschrieben; sie hat am 25. und 26. Oktober 1913 am Neuen Palais der Universität Potsdam stattgefunden. Eingeladen hatte das Institut für LER in Zusammenarbeit mit dem Institut für Philosophie und dem William-James-Center der Universität Potsdam. Anlass der Tagung war das 20-jährige Bestehen des grundständigen Lehramtsstudienganges LER (Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde). Bei der Fachschaft LER, bei meinen Kolleginnen und Kollegen von den Instituten für LER und Philosophie der Universität Potsdam und speziell bei Frau S. Erxleben, Frau J. Vorpahl, Frau C. Celebi, Frau K. Valeske und Frau P. Lenz bedanke ich mich für die tatkräftige Unterstützung bei der Durchführung der Tagung. Dem William-James-Center und Herrn Prof. L. Gunnarsson, dem Institut für Philosophie und Herrn Prof. H. P. Krüger, der philosophischen Fakultät und Herrn Dekan Prof. H. Hafner sowie der Forschungsabteilung der Universität Potsdam und den Herren Prof. Dr. R. Seckler und Dr. N. Richter möchte ich für großzügige Finanzierungshilfen für die Tagung und für diesen Band danken. Bei Herrn P. Naderer sowie bei Herrn L. Trabert und den Lektoren und Lektorinnen des Alber-Verlags bedanke ich mich für die Unterstützung bei der Drucklegung dieses Bandes. Mein besonderer Dank gilt den Autoren dieses Bandes. Marie-Luise Raters, Potsdam im Januar 2015.
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Inhalt
Marie-Luise Raters Religion in pragmatischer und pragmatistischer Betrachtung. Eine Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
I. Religion – pragmatisch betrachtet Christian Thies Religion und Moral – die Urszene . . . . . . . . . . . . . . .
27
Michael Blume Die Wiederkehr der Einhörner. Eine pragmatische Analyse einer neureligiösen Glaubensbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
50
Christoph Türcke Religionskritik zweiten Grades . . . . . . . . . . . . . . . . .
71
Johann Ev. Hafner Funktionalisierung von Religion. Eine Auseinandersetzung mit Luhmanns Religionstheorie . . . .
82
II. Religion – pragmatistisch betrachtet Matthias Jung Die Religion innerhalb der Grenzen gewöhnlicher Erfahrung . .
105
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Inhalt
Ludwig Nagl Religion als optionaler Handlungshorizont. William James und Josiah Royce . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
127
Marie-Luise Raters Don’t worry – be happy? Das Problem des religiösen Zweifels bei William James . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
153
Über die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
179
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Marie-Luise Raters
Religion in pragmatischer und pragmatistischer Betrachtung. Eine Einleitung
Einer Erhebung der Bundeszentrale für Politische Bildung zufolge waren im Jahr 2012 zwei Drittel der Bevölkerung 1 in Deutschland Mitglied einer Religionsgemeinschaft. Nun ist natürlich noch längst nicht jeder Angehörige einer Religionsgemeinschaft religiös bzw. gläubig. Manch einer mag zu bequem, zu traditionsbewusst oder auch zu abergläubisch sein, um aus der Religionsgemeinschaft auszutreten, in die er hineingeboren wurde. Aus den statistischen Daten lässt sich aber dennoch schließen, dass Religion allen Totsagungen zum Trotz für viele Menschen unserer Gesellschaft einen hohen Stellenwert hat. Religiös sein heißt nun aber, an die Existenz und die Wirkmacht von etwas zu glauben, das man (im alltäglichen Sinne) weder sehen noch hören kann. Zudem kann das Leben nach religiösen Regeln entbehrungsreich und anstrengend sein. Dennoch aber unterwerfen sich religiöse Menschen den Regeln, welche die jeweiligen Religionsgemeinschaften vorgeben. Was haben die religiösen Menschen davon? Gewinnen sie etwas, das die Entbehrungen und Anstrengungen des religiösen Lebens aufwiegt? Dieser Band fragt nach der Funktion von Religion im Leben. Welche Auswirkungen hat Religiosität auf die konkreten Lebensvollzüge und auf das Verhältnis der religiösen Menschen zur Welt? Warum glauben manche Menschen an eine oder mehrere transzendente Instanzen, von deren Existenz es aus der Perspektive der nichtreligiösen Menschen (wenn man vom Glauben der religiösen Menschen einmal absieht) keine Spuren in unserer Wirklichkeit zu geben scheint? Sind die Gründe der religiösen Menschen auch für diejenigen nachvollziehbar, die mit Religion prima facie nichts anfangen können? Geben die Religionen etwas, das nicht-metaphysische Weltanschauungen nicht geben Am 27. 9. 2012 lag der Prozentsatz der Konfessionslosen bei 33,06 %. Bundeszentrale für Politische Bildung. http://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/ soziale-situation-in-deutschland/145148/religionszugehoerigkeit. Zugriff 29. 8. 2013.
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Marie-Luise Raters
könnten? Erfüllen Religionsgemeinschaften psychologische, politische oder soziale Funktionen, die säkulare Institutionen so nicht erfüllen könnten? Oder sind sie lediglich Instanzen der politischen Unterdrückung und der Versklavung des Geistes? Wie schaffen es die religiösen Menschen, etwas zu glauben, das vom Standpunkt der modernen Naturwissenschaften häufig doch sehr unwahrscheinlich zu sein scheint? Kann man etwas glauben, nur weil man es glauben will? Und was verliert ein religiöser Mensch, wenn sein Glauben von Zweifeln zerfressen wird? Der Band stellt sich solchen Fragen, indem er die Religion(en) erst pragmatisch und dann pragmatistisch betrachtet.
1.
Religion, pragmatisch betrachtet
Wer Religion pragmatisch betrachtet, blendet die klassische religionsphilosophische Frage nach der Wahrheit religiöser Lehrmeinungen aus. Die Beweisbarkeit oder die Plausibilität bestimmter religiöser Überzeugungen interessiert ihn nicht. Er konzentriert sich einzig auf die Frage, aus welchen Bedürfnissen und Handlungskontexten heraus eine bestimmte Religion oder das generelle Phänomen der Religiosität vielleicht entstanden sein könnte. Dabei kann die Religion generell in den Blick genommen werden, aber auch einzelne Religionen oder singuläre religiöse und pseudoreligiöse Strömungen. Welche Bedürfnisse kann Religion erfüllen? Müssen sich die Religionen anpassen, wenn sich die Bedürfnisse der Menschen ändern? Oder liegt es gerade im Wesen von Religion, dass sie bei allem Wandel auf einen gleichbleibenden Kern von religiösen Wahrheiten beharrt? Kann es ›Moden‹ und ›Zeitgeisterscheinungen‹ im Gebiet der Religion geben oder widerspricht das dem Kern des Religiösen? Im ersten Teil des Bandes werden Überlegungen zur Funktion von Religion in Geschichte und Gesellschaft angestellt. 1.1. Christian Thies widerspricht in seinem Essay Religion und Moral – die Urszene der verbreiteten Auffassung, dass Religion letztlich moralische Bedürfnisse erfülle. Gezeigt wird, dass Religion und Moral zwar vergleichbar unabtrennbar zur menschlichen Lebensform gehören (Verankerungsthese), dass sie aber dennoch verschiedenen Quellen entsprungen sind (Unabhängigkeitsthese), die zudem in sich vielfältig sind (Pluralismusthese). Während die Moral ihre Quellen erstens in der gegenseitigen Angewiesenheit der Menschen aufeinander, zweitens in ihrer Fähigkeit zu einem starken Altruismus, drittens 10 https://doi.org/10.5771/9783495808375 .
Religion in pragmatischer und pragmatistischer Betrachtung
in sozialen Gefühlen und viertens in der praktischen Vernunft habe, verwurzelt Thies die Religion erstens in unserer kognitiven Tendenz, erklärungsbedürftige Phänomene und Vorgänge auf das Wirken übernatürlicher Instanzen oder Kräfte zurückzuführen, zweitens in überwältigenden Naturerfahrungen, drittens in ekstatischen Rauschoder kontemplativen Tranceerfahrungen und viertens in der Erfahrung des Todes. Obgleich es noch keine Gottesvorstellungen (aber immerhin doch heilige Gegenstände, Lebewesen und Orte) gegeben haben soll, werden diese Thesen am Beispiel des Jungpaläolithikums veranschaulicht. Mit der Pluralismusthese lässt sich nach Thies erklären, warum es innerhalb der Sphäre der Moral zu Dilemmata und in der Sphäre der Religion zu Konversionen kommen kann. Aus der Unabhängigkeitsthese folge, dass Moral und Religion nicht aufeinander zu reduzieren sind, weil Religion und Moral unabhängig voneinander entstanden seien, und weil die Wurzeln der Moral menschheitsgeschichtlich deutlich früher als die Wurzeln der Religion gelegen hätten. Aus der Verankerungsthese folge schließlich, dass Moral und Religion Bestand haben werden, weil beide tief in der Menschennatur verwurzelt seien. 1.2. In seinem Essay Die Wiederkehr der Einhörner. Eine pragmatische Analyse einer neureligiösen Glaubensbewegung erklärt Michael Blume die hohe Konjunktur von neureligiösen Bewegungen mit dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einer spirituellen Gemeinschaft, das solche Bewegungen mittels des Internets heutzutage auf bisher nicht gekannte Weise erfüllen könnten. Blumes Beispiel ist die ›Einhornszene‹ aus den USA, deren Anhänger(innen) glauben, ›wiedergeborene Elementargeister‹ bzw. ›inkarnierte Einhörner‹ zu sein. Eine starke Kommerzialisierung scheint der Spiritualität keinen Abbruch zu tun: Während der Einhorn-Sommer-Camps werden nicht nur Gesprächs- und Meditationskreise angeboten, sondern auch Einhorn-Essenzen und Einhorn–Kunst zum Kauf. Blumes Essay zeigt zunächst, dass die Einhorn-Symbolik auf kirchengeschichtlich gewachsene Traditionen zurückgreift. Dann zeigt er, dass Unverständnis und Häme von den Anhänger(inne)n als Zeichen des Auserwähltseins begriffen werden. Schließlich lenkt Blume die Aufmerksamkeit auf das Internet, das in seinen Augen eine große Herausforderung für die professionelle Theologie wie auch für die naturwissenschaftlich argumentierende Religionskritik darstellen muss, weil es sich von ambitionierten Individuen als Quelle für populärkulturelle Mythen zur Schöpfung neuer Sinnstiftungsmodelle und vor allem zur Selbst11 https://doi.org/10.5771/9783495808375 .
Marie-Luise Raters
darstellung und zur Vernetzung zu neuen quasi-religiösen Gemeinschaften nutzen lässt. 1.3. In seinem Essay Religionskritik zweiten Grades führt Christoph Türcke die Entstehung der Religionen auf das Bedürfnis des Menschen nach Erlösung vom Schrecken als einem wesentlichen Bestandteil der verletzlichen und vom Tod bedrohten menschlichen Existenz zurück. Unter Verweis auf entsprechende Höhlenmalereien zeigt Türcke im ersten Teil, dass sich dieses Bedürfnis schon vor weit mehr als 30.000 Jahren in sakralen Opferungen manifestiert habe: Opfer hätten als rituelle Wiederholungen von Schrecklichem den Schrecken erträglicher erscheinen lassen und ihm außerdem den Anschein von Sinn verliehen, indem sie an höhere und mächtigere Instanzen gerichtet gewesen seien. Diese Instanzen seien zunächst als diffuse Naturgottheiten und dann als menschenähnliche Lokalgottheiten vorgestellt worden, bis sich in der Achsenzeit des sechsten vorchristlichen Jahrhunderts die monotheistischen Religionen mit ihrem Glauben an eine einzige, allmächtige und allgütige Gottheit herausgebildet hätten. Im zweiten Teil grenzt Türcke seine Religionskritik ›zweiten Grades‹ von der traditionellen Religionskritik eines Feuerbach, Marx oder Freud ab: Nach Türcke ändert deren richtige Einsicht, dass die menschlichen Gottesvorstellungen ihren Ursprung in menschlichen Bedürfnissen haben, nämlich nichts an der ›Gottbedürftigkeit‹ des Menschen. Deshalb müsse sich die Religionskritik zweiten Grades der Tatsache stellen, dass die Menschen Religion(en) weiterhin als Bollwerk gegen den Schrecken bräuchten. Der existentielle Schrecken bliebe, und deshalb bliebe auch das Bedürfnis nach Religion bzw. nach einer allmächtigen und allgütigen Gottheit. Das erklärt nach Türcke allerdings hinreichend, warum die moderne ›Neurotheologie‹ starke Erregungszustände des Gehirns bei betenden oder meditierenden religiösen Menschen messen kann, ohne dass man deshalb spezielle religiöse Erfahrungen oder gar einen Kontakt mit transzendenten Instanzen behaupten müsse. 1.4. Der Essay Funktionalisierung von Religion. Eine Auseinandersetzung mit Luhmanns Religionstheorie von Johann Ev. Hafner versteht die leitende Frage des Bandes ›Warum Religion?‹ mit Niklas Luhmann als Frage danach, durch welche Leistungen sich Religion ihren Bestand in sozialen Systemen gesichert hat. In einem ersten Schritt stellt Hafner ausführliche systemtheoretische Grundsatzüberlegungen an. Im Zuge dessen betont er erstens, dass es eine konstruktive Vorentscheidung des Wissenschaftlers sei, wenn die Religion als 12 https://doi.org/10.5771/9783495808375 .
Religion in pragmatischer und pragmatistischer Betrachtung
Funktion des Sozialen betrachtet würde, weil das Soziale umgekehrt auch als Funktion der Religion angesehen werden könne. Weil Funktionen generell von Wissenschaftlern mit ihrem selektiven Blick auf die vorhandene Informationsflut aus der Innenperspektive des jeweiligen Systems sichtbar gemacht würden, könnten Funktionsbestimmungen zudem keine Repräsentationen von Realität, sondern immer nur mehr oder weniger passfähige Realitätsfiktionen sein. Drittens hebt Hafner hervor, dass speziell unter der ›Funktion für ein soziales System‹ keine monokausale Relation zwischen aus der Retrospektive beobachteten Leistungen und einer einzigen Ursache verstanden werden könne, weil es für soziale Probleme immer verschiedene Lösungsmöglichkeiten gäbe. Zur Bestimmung einer sozialen Funktion müsse deshalb ein komplexes Schema anvisiert werden, mit dem sich verschiedene mögliche Ursachen in eine Äquivalenzbeziehung setzen lassen. Weil jede konkrete Funktionsbestimmung die Frage nach der ›übergeordneten Funktion dieser Funktion‹ evoziere, sei schließlich auch das Problem der sukzessiven Abstraktion unvermeidbar, so dass die Frage nach der sozialen Funktion von einzelnen religiösen Praktiken zwangsläufig in der Frage nach der Funktion von Religion im kulturellen Ganzen münden müsse. Nach diesen Grundsatzüberlegungen rekonstruiert Hafner die Position des späten Luhmann, dem zufolge die Religion(en) gegen die frustrierende Unüberschreitbarkeit der menschlich-partikularen Perspektive auf die überkomplexe soziale Wirklichkeit einen absoluten Standpunkt einer ganzheitlichen Betrachtung anvisieren. Davon distanziert sich Hafner mit dem Einwand der Ausblendung der lebensweltlichen Bedürfnisse religiöser Menschen zugunsten von wissenschaftlicher Abstraktion. Hafner selbst spricht von ›Religion‹, wenn die Existenz von etwas Über-Empirischem neben, über oder jenseits der empirischen Wirklichkeit behauptet wird. Ausgehend von dieser Definition bestimmt er die Funktion von Religion schließlich als ›Abschlussgedanke‹, der (im Sinne einer Pforte) die Möglichkeit des ›Überstiegs‹ über die Erfahrungswelt hinaus in andere Sphären des Denkens bzw. der Wirklichkeit eröffne.
2.
Pragmatistische Religionsphilosophie im Überblick
In einem Band über die pragmatischen Funktionen von Religion im Leben muss die pragmatistische Religionsphilosophie einen besonderen Stellenwert einnehmen, weil die pragmatische Betrachtung von 13 https://doi.org/10.5771/9783495808375 .
Marie-Luise Raters
Religion hier geradezu Programm ist. Das mag vielleicht in der Geschichte des amerikanischen Pragmatismus begründet sein: Als Ursprungsort gilt gemeinhin der Metaphysical Club, den Charles S. Peirce im Jahr 1871 in Opposition zum religiösen Transcentalism Circle um Ralph W. Emerson im amerikanischen Boston gegründet hatte. Die Transzendentalisten glaubten, dass alle Menschen am Leben, an der Güte und am Wissen der alles beseelenden Allseele teilhaben, so dass naturwissenschaftliches und moralisch-theologisches Wissen nicht etwa erworben, sondern im kontemplativen Gebet wiederentdeckt wird. 2 Dagegen formulierte Peirce die ›pragmatische Maxime‹: »Überlege, welche Wirkungen, die denkbarerweise praktische Relevanz haben können, wir dem Gegenstand unseres Begriffs in unserer Vorstellung zuschreiben. Dann ist unser Begriff dieser Wirkungen das Ganze unseres Begriffes des Gegenstandes«. 3 Gemeint ist, dass wir Wissen im interessegeleiteten Umgang mit den Gegenständen erwerben: Hilary Putnam spricht auch von einem »Primat der Praxis« 4 für das pragmatistische Philosophieren. Ein weiteres Kennzeichen pragmatistischen Philosophierens ist nach Putnam die antiskeptische Haltung, dass Überzeugungen nur aufgrund von sich tatsächlich aufdrängenden Zweifeln in Frage gestellt werden dürfen. Allerdings soll dieser Antiskeptizismus mit einem Fallibilismusvorbehalt gepaart sein, dem zufolge es keine unantastbaren Überzeugungen gibt. Als viertes Kennzeichen pragmatistischen Philosophierens wäre schließlich noch die Zurückweisung jeder Fakten-Werte-Dichotomie zu exponieren. Gemeint ist die Überzeugung, dass wir Fakten niemals ›rein sachlich‹ als ›reine Fakten‹ wahrnehmen können, weil wir je schon immer auch bewerten und nach Maßgabe unserer Interessen interpretieren. 5 Unter diesen methodischen Vorzeichen steht allen Unterschieden im Detail zum Trotz auch die pragmatistische Religionsphilosophie: Für den pragmatistischen Religionsphilosophen müssen sich religiöse Überzeugungen im Zuge unserer praktischen Lebensvollzüge bewähren, wenn wir an ihnen festhalten wollen, weil es irrational (und damit letztlich unmöglich) wäre, an Überzeugungen festzuhalten, die sich in der Praxis nicht bewähren.
Vgl. Raters 2005, 470–479. Peirce 1878, 195 (CP 5.402). 4 Es heißt im englischen Wortlaut: »Practice is primary in philosophy«. Putnam 1994, 152. Vgl. dazu auch Peirce 1976, 155 f. (CP 5.369). 5 Putnam 1994, 152. 2 3
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Religion in pragmatischer und pragmatistischer Betrachtung
Gleichzeitig würde es im Pragmatismus aber auch als irrational gelten, an religiösen Überzeugungen nicht festzuhalten, nur weil sie sich wissenschaftlich nicht beweisen lassen, insofern sich nicht massive Zweifel aufgedrängt haben, weil sich die Überzeugungen im Leben nicht bewähren konnten. Diese methodischen Richtungsweisungen wurden schon sehr früh vorgenommen. 2.1. So plädiert schon die sogenannte, ›Gründungsschrift‹ des Pragmatismus The Fixation of Belief von Charles S. Peirce aus dem Jahr 1877 für einen methodischen Fallibilismusvorbehalt, und das bezeichnenderweise mit dem Argument, dass das Denken durch die »Methode der Beharrlichkeit« eingeengt würde, welche von den »frühesten Zeiten an eines der hauptsächlichen Mittel gewesen« sei, »gültige theologische und politische Lehren aufrechtzuerhalten und in ihrem universalen oder katholischen Charakter zu bewahren« 6. In einem Brief an William James vom 23. Juli 1905 verteidigt der späte Peirce seine anthropomorphe Gottesvorstellung dementsprechend dann auch mit den »Wirkungen« einer solchen Gottesvorstellung »auf unser Verhalten«. Weil sich der Mensch »Tag für Tag« mit seinen »Missetaten und Unzulänglichkeiten« konfrontiert sähe, sei es naheliegend, wenn sich der »menschliche Geist und das menschliche Herz« in einer Art »Kindschaftsverhältnis« zu Gott verorten und in Gott schlicht alles das sehen würden, »was wir alle lieben und verehren, das gänzlich Bewundernswerte« 7. Weitere Bestimmungen verbieten sich nach Peirce: Unsere menschlichen »Ideen vom Unendlichen« müssten »notwendig extrem vage« bleiben, weil sie erfahrungsgemäß »widersprüchlich« würden in »dem Moment, wo wir versuchen, sie zu präzisieren«. Die begriffliche Nichtfassbarkeit sei jedoch unerheblich gegenüber der Tatsache, dass die Lehre von Gott als »ästhetischehmi Ideal« eine extrem »tröstliche Lehre« sei, von der eine »lebendige Kraft« ausginge. Deshalb sei es dem möglichen Einwand der Naivität zum Trotz ein »guter, gesunder, solider, starker Pragmatismus«, an einer anthropomorphen Gottesvorstellung festzuhalten. 8 2.2. Peirces Weggenosse William James ist dem Metaphysical Club als junger Mann in Opposition zum Transzendentalismus seiner
Peirce 1877, 162 (CP 5.379). Peirce 1905, 548 (CP 8.262). 8 Tatsächlich ist Charles S. Peirce allen Vorbehalten gegenüber allen Institutionalisierungen von Religion zum Trotz zeit seines Lebens Mitglied der Episcopal Church geblieben. Oehler 2002, 338. 6 7
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Eltern beigetreten. In seinem Essay Is the Life Worth Living? von 1895 spricht er von einer ›religiösen Krankheit‹, welche durch religiösen Zweifel verursacht würde und zum Selbstmord führen könne. 9 Der vielzitierte Essay The Will to Believe von 1896 vertritt dann die Auffassung, dass es rational sei, an einer religiösen Überzeugung festzuhalten, obgleich sie sich wissenschaftlich nicht beweisen lässt, weil sich religiöse Überzeugungen nun einmal per definitionem nicht beweisen ließen, aber zu einem glücklicheren Leben führen könnten. 10 Im Essay Human Immortality aus demselben Jahr 1896 diskutiert James die Glaubwürdigkeit der religiösen Hoffnung auf die Unsterblichkeit der Seelen. 11 Mit den Gifford-Lectures The Varieties of Religious Experience von 1901/02 setzt James dann einen Meilenstein der empirischen Religionsforschung, indem er eine schier unübersichtliche Anzahl von Zeugnissen religiöser Erfahrung analysiert, um seine beiden leitenden Thesen zu plausibilisieren, dass religiöse Erfahrungen »leicht und glücklich« 12 machen können und dass sie durch Verschiebungsprozesse im menschlichen Unterbewusstsein zustande kommen. In seinen späten Schriften ringt James mit ganz persönlichem Duktus um die Glaubwürdigkeit der religiösen Überzeugungen eines Pluralismus von höheren Wesenheiten, in die er sich selbst gern fallen lassen würde. 13 2.3. Im deutlichen Gegensatz zum Harvard-Pragmatismus nimmt der Chicago-Pragmatismus 14 als die zweite Generation des klassischen Pragmatismus nicht die individuelle, sondern die soziale Funktion von Religion in den Blick. So ist zweifellos James gemeint, wenn George Herbert Mead in einem Brief vom 4. März 1918 schreibt, dass sich »die Psychologen und Philosophen, die sich mit der emotionalen Seite der Religion beschäftigt haben«, durch »religiöse Schwärmer« hätten »irreführen lassen«. Wer das Wesen von Religion erfassen will, müsse sich auf ihre soziale Funktion konzenJames 1895. James 1896a. 11 James 1896b. 12 James 1901, 84. 13 Vgl. pars pro toto James 1907 sowie James 1909. Vgl. zu James Religionsphilosophie u. a. auch Lamberth 1999 sowie Krämer 2006. 14 Der Chicago-Pragmatismus hat sich im Kontext der University of Chicago etwa um die Jahrhundertwende etaliert. Religionsphilosophisch ging es weniger um eine Auseinandersetzung mit dem Transzendentalismus, als um die hegelianische Religionsphilosophie eines Edward Green beispielsweise. 9
10
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Religion in pragmatischer und pragmatistischer Betrachtung
trieren: Tatsächlich sei Religion nämlich nichts anderes als der »Reflex« der emotionalen »Haltung« eines Menschen »gegenüber seinen Mitmenschen«. Sie diene damit der Ausbildung von gemeinschaftsfördernden Haltungen wie Mitgefühl und Güte, welche durch religiöse Institutionen, Praktiken und Rituale verfestigt würden und sich idealerweise auf die gesamte Menschheit richten. Und sollte es tatsächlich einmal eine Gemeinschaft geben, in der »die Menschen sich in ihren Handlungen uneingeschränkt als ihre Nächsten erfahren können«, würde »die gesellschaftliche Notwendigkeit eines Gottes verschwinden«, womit das »wirkliche Problem des Verhältnisses von Kirche und Staat« 15 benannt sei. Der posthum edierten Abhandlung Mind, Self and Society zufolge kann die Religion dieselbe Funktion einer globalen Vernetzung wie die Wirtschaft erfüllen: Allen Verschiedenheiten zum Trotz sind Religion und Wirtschaft ›universal‹ in dem Sinne, dass sie jeden Menschen einbeziehen können, bis im Idealfall schließlich die gesamte Menschheit erfasst und integriert ist. Das Telos beider Prozesse ist jeweils eine Gemeinschaft, in welcher der einzelne seinen individuellen Platz findet, indem er sich »in anderen« dadurch »realisiert«, dass er für andere genau das tut, »was er als typisch für sich selbst tut« 16. 2.4. Wenn John Dewey in A Common Faith von 1934 wie James die religiöse Erfahrung ins Zentrum stellt, interessiert er sich als Chicago-Pragmatist nicht für ihre emotionale Wucht, sondern für ihre religionsübergreifende Universalität. Im ersten Teil unterscheidet Dewey ›das Religiöse‹ als (genuin religiöse) Erfahrung einer mystisch-tiefgreifenden Harmonie zwischen Mensch und Umwelt (engl. adjustment) von den ›Religionen‹ u. a. mit den Argumenten, dass die einzelnen Religionen trennend wirkten und dass ihre partikularen Lehrmeinungen vom universalen Gehalt der religiösen Erfahrung ablenkten. Im zweiten Teil beansprucht Dewey, mit seiner vorurteilsfreien pragmatistischen Analyse der religiösen Erfahrung den Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft beenden zu können, indem er mit dem Begriff ›Gott‹ nicht mehr im Sinne der doktrinären Religionen ein übernatürliches »besonderes Sein« bezeichnet, sondern die wirklichkeitsimmanente »Summe aller ideellen Ziele«, durch »die in uns Wünsche geweckt werden und die uns zum Handeln auf-
15 16
Mead 1918, 393–398. Mead 1934, 336.
17 https://doi.org/10.5771/9783495808375 .
Marie-Luise Raters
fordern‹ 17. Im dritten Teil vertritt Dewey die These, dass nicht etwa der wissenschaftliche Zweifel am Wahrheitsgehalt der Religionen deren gegenwärtige Krise verursacht habe, sondern die historisch neue Möglichkeit einer individuellen Wahl bzw. eines Wechsels der Religion. Ihre traditionelle gesellschaftliche Funktion könnten die Kirchen aber dennoch behalten, falls sie sich weniger als Hüter von engen Moralvorstellungen und exklusiven Lehren über das Übernatürliche präsentierten, sondern sich für die Ausbildung der natürlichen sozialen Intelligenz aller Menschen mit dem Telos einer einzigen, gerechten und befriedeten Menschengemeinschaft einsetzten. 2.5. Nachdem Dewey zwar nicht dem Religiösen, aber doch den konkreten Religionsgemeinschaften ablehnend gegenübergestanden hatte, geht das Interesse sowohl an den Religionen als auch an der religiösen Erfahrung im Neopragmatismus zunächst einmal zurück. Seine ersten Vertreter stellen religionsphilosophische Überlegungen eher beiläufig im Kontext anderer Fragestellungen an, indem sie Religionen als historisch gewachsene Lebensformen diskutieren, die gegenüber der Dominanz wissenschaftlicher Weltbilder einen schweren Stand haben. So vertritt Hilary Putnam in der siebten Vorlesung seiner Gifford-Lectures Renewing Philosophy von 1990 (veröff. 1992) in Anlehnung an Ludwig Wittgenstein die Auffassung, dass sich das religiöse Sprachspiel bzw. »der religiöse Diskurs« nur verstehen ließe, »wenn man die Lebensform begreift, der er angehört« 18. Im Jahr 1997 greift Putnam den Faden wieder auf. Der Essay On Negative Theology thematisiert in Anknüpfung an Maimonides die Grenzen des menschlichen Sprechens und Denkens über das Göttliche. 19 Und in God and the Philosophers aus demselben Jahr betont Putnam dann, dass man vernünftigerweise für keine existentielle Verpflichtung (sei sie religiös oder nicht-religiös) von den Grundprinzipien des Pragmatismus ablassen sollte, wobei er in leichter Abweichung von seinen vergleichbaren Äußerungen aus dem Jahr 1994 (vgl. den Anfang von Abschnitt 2) das Experiment-Prinzip (›ideas must be tested in praxis‹), das Fallibilismusprinzip (›no human being and no body of
Dewey 1934, 191. Vgl. zu Deweys Religionsphilosophie u. a. auch Kestenbaum 2002. 18 Putnam 1992, 187 bzw. 196. Bezug Wittgenstein 1966. 19 Putnam 1997a. 17
18 https://doi.org/10.5771/9783495808375 .
Religion in pragmatischer und pragmatistischer Betrachtung
human opinions is infallible) und das Prinzip der Kommunikation (›truth by its very nature aspires to be public‹) exponiert. 20 2.6. Richard Rorty erwähnt religiöse Überzeugungen jahrzehntelang nur als Beispiel für nicht beweisbare Verabsolutierungen. 21 Wenn er sich in dem (mit Gianni Vattimo erstellten) Band Il future della religione von 2004 dann als »religiös unmusikalisch« 22 bezeichnet, sagt das nicht nur, dass Rorty als Antiessentialist an keinen Gott glauben kann, sondern auch, dass er sich für religionsphilosophische Fragen letztlich nicht interessiert. Wie schon für Dewey, sind auch für den späten Rorty die Wahrheitsansprüche der Religionen unhaltbar und die religiösen Institutionen in ihren exklusiven Tendenzen demokratiegefährdend. Zudem glaubt er weder an angeborene »religiöse Sehnsüchte« 23 noch an heilige Personen. Wiederum ganz im Sinne von Dewey bekennt er abschließend, dass sich sein »Gefühl für das Heilige« in einem politisch-säkularen Sinne lediglich auf die »Hoffnung« reduziere, dass wir »eines Tages« in einer »globalen Zivilisation leben werden, in der Liebe so ziemlich das einzige Gesetz ist« 24. 2.7. Einige Neopragmatisten der zweiten Generation wie Robert Brandom und James Conant treten in Rortys Fußstapfen, indem sie sich für religionsphilosophische Fragen nicht weiter interessieren. Andere Neopragmatisten wie beispielsweise Felicitas Krämer und David Lamberth, aber auch ich selbst oder das William-James-Center der Universität Potsdam, versprechen sich eine Erneuerung der pragmatistischen Religionsphilosophie vor allem durch die Theorie der religiösen Erfahrung von William James. 25 Einen ganz neuen Weg zeigt Hans Joas der pragmatistischen Religionsphilosophie auf. Sein Buch Die Entstehung der Werte von 1999 exponiert zunächst die Religionsphilosophien von James und Dewey als Kontrapunkte zu den »Debatten über Wertewandel und Werteverlust«, von denen Joas die »westlichen Gesellschaften« beherrscht sieht. 26 Dann aber weist Putnam 1997, 182 f. Vgl. zu Putnams Religionsphilosophie auch Quante 2002 sowie Oehler 2002. 21 Vgl. z. B. Rorty 1898, 50 oder Rorty 1999. 22 Rorty 2004, 34. 23 Rorty 2004, 46. 24 Rorty 2004, 47. 25 Vgl. Lamberth 1999 sowie Krämer 2006. Vgl. aber auch Kestenbaum 2002 zur Religionsphilosophie von John Dewey. 26 Joas 1999, 12. Zu James vgl. a. a. O. 58–87; zu Dewey vgl. a. a. O. 162–195. 20
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Joas die religiöse Erfahrung als diejenige Spielart der ›Erfahrungen der Selbsttranszendenz‹ aus, die mit den Deutungsmustern der Religion(en) interpretiert werden. 27 Nachdem die psychologisch-heilende und die gemeinschaftsfördernde Funktion der religiösen Erfahrung im Pragmatismus schon bekannt waren, verleiht Joas der religiösen Erfahrung also neue Bedeutung, indem er sie als Spielart derjenigen Erfahrungen ausweist, die wegen ihrer wertebindenden Funktion sowohl für die individuelle Identitätsbildung als auch für die Etablierung kollektiver Wertesysteme unverzichtbar sind.
3.
Religion, pragmatistisch betrachtet
Die Autoren dieses Bandes geben der pragmatistischen Religionsphilosophie neue Impulse, indem sie unterschiedliche Aspekte der Religionsphilosophie des klassischen Pragmatismus von Dewey und James in den Fokus rücken. 3.1. Mit seinem Essay Die Religion innerhalb der Grenzen gewöhnlicher Erfahrung ergänzt Matthias Jung die Palette pragmatistischer Funktionsbestimmungen von Religion mit der These, dass Religionen das Bedürfnis nach existentiell umfassender Weltdeutung erfüllen. Deshalb müssen sich religiöse Weltdeutungen nach Jung ebenso wie alle anderen umfassenden Weltdeutungen in den Grenzen der gewöhnlichen Erfahrung bewegen, wobei unter der ›gewöhnlichen Erfahrung‹ der handlungsorientierte Weltzugang verstanden wird, in dem (anders als in den methodischen Erfahrungen der Wissenschaften) die emotionalen und volitionalen Dimensionen von der kognitiven Dimension nicht separiert werden. Zur näheren Klärung des problematischen Verhältnisses von gewöhnlicher und wissenschaftlicher Erfahrung rekonstruiert Jung im ersten Abschnitt die Theorie des ›vollständigen Substrats‹ in John Deweys Logic von 1938. Wie Jung hervorhebt, basiert diese Theorie auf der Prämisse, dass sich die Bedeutung von etwas nicht auf das reduzieren lässt, was in verifiFür Joas sind ›Erfahrungen der Selbsttranszendenz‹ diejenigen »Erfahrungen, in denen eine Person sich selbst übersteigt«, im »Sinne eines Hinausgerissenseins über die Grenzen des eigenen Selbst, eines Ergriffenwerdens von etwas das jenseits meiner selbst liegt, einer Lockerung oder Befreiung von der Fixierung auf mich selbst.« Für Joas gilt: »Alle Menschen kennen solche Erfahrungen«, wenngleich sie natürlich nicht per se in den Deutungsmustern der Religionen interpretiert sein müssen. Joas 2004, 17.
27
20 https://doi.org/10.5771/9783495808375 .
Religion in pragmatischer und pragmatistischer Betrachtung
zierbaren wissenschaftlichen Sätzen über das Etwas ausgesagt werden kann, weil Bedeutung immer auch vom Wollen, Fühlen und Bewerten abhängig sei: Das, was ein wahrer Satz aussagen könne, sei wie eine Insel in einem ganzen Ozean von Bedeutungen. Wenn Dewey also das ›gewöhnliche Weltverhältnis‹ als das ›vollständige Substrat der Erfahrung‹ bezeichne, sei ausdrücklich keine vorwissenschaftliche Unmittelbarkeit gemeint, sondern die geglückte Integration der vorwissenschaftlichen Unmittelbarkeit mit all ihren volitionalen und emotionalen Anteilen und dem szientistisch gerierten Wissen zu dem neuen Ganzen des gewöhnlichen Weltverhältnisses, das als gelungene Synthese sowohl kognitive als auch emotionale und volitionale Dimensionen hat. (Religiöse) Weltanschauungen sind Hypothesen zur Bedeutung des Ganzen. Vom Standpunkt der Theorie des ›vollständigen Substrats der Erfahrung‹ heißt das nach Jung, dass neue wissenschaftliche Erkenntnisse bestehende Weltanschauungen zwar durchaus irritieren, aber für sich genommen nicht hinreichend für die Entwicklung einer alternativen Weltanschauung sein können. Der zweite Abschnitt wird eingeleitet mit dem Hinweis darauf, dass es für Menschen regelrecht unvermeidlich sei, zumindest eine implizite Weltanschauung zu entwickeln, weil Menschen anders als Tiere ›existentielle Gefühle‹ haben (die sich auf das Verhältnis des Selbst zur Welt richten) und weil Menschen zudem die Tendenz zur Generalisierung von Erfahrungen haben. Sobald solche impliziten Weltanschauungen dann mit den Mitteln der Sprache explizit gemacht wurden, treten sie in Konkurrenz zueinander und werden zur bloßen ›Option‹. Wie Jung im zweiten Abschnitt zeigt, gilt das auch für wissenschaftliche Weltanschauungen, was bedeutet, dass sie ebenfalls als bloße Optionen anzusehen sind. Und das wiederum bedeutet, dass wissenschaftliche Weltbilder nicht per se einen Rationalitätsvorsprung gegenüber religiösen Weltanschauungen haben, weil religiöse Weltanschauungen (insofern es sich nicht um fundamentalistische Religionen handelt) der Theorie des ›vollständigen Substrats‹ zufolge ja aus einer geglückten Integration der vorwissenschaftlichen Unmittelbarkeit und dem szientistisch gerierten Wissen hervorgehen sollen. Im dritten Abschnitt hält Jung Dewey schließlich entgegen, dass er den optionalen Charakter seiner eigenen naturalistischen Weltanschauung nicht erkannt habe. 3.2. In seinem Essay Religion als optionaler Handlungshorizont. William James und Josiah Royce verortet Ludwig Nagl die pragmatistische Suche nach den verallgemeinerbaren Gehalten der Religio21 https://doi.org/10.5771/9783495808375 .
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nen zunächst mit Charles Taylor historisch als Gegenbewegung zu allgemeinen Säkularisierungstendenzen der westlichen Gesellschaften seit der Aufklärung. Wie sich am Beispiel der Religionsphilosophie von William James zeigen ließe, sei es für die pragmatistische Religionsphilosophie charakteristisch, szientistische Standpunkte zu berücksichtigen, ohne sie im Sinne einer atheistischen Wissenschaftsgläubigkeit zu verabsolutieren. Der zentrale Gegenstand der pragmatistischen Religionsphilosophie sei insofern die religiöse Erfahrung, die sich zwar einerseits methodisch analysieren lasse, die andererseits aber im Gegensatz zu den vielen ›toten Optionen‹ der Wissenschaften für viele Menschen eine überaus ›lebendige Option‹ zur Lebensgestaltung eröffnen könne. Im dritten Abschnitt hebt Nagl würdigend hervor, dass die religiöse Erfahrung das Leben nach James leichter und altruistischer machen soll, weil sich das menschliche Ich als in einem übergeordneten guten göttlichen Ganzen eingebettet erfährt. Obgleich Religion auch pathologische Erscheinungsformen entwickeln könne, verteidige James die Vielfalt des Religiösen nachvollziehbar mit dem Argument der Vielfalt der menschlichen Lebensformen. Mit kritischem Duktus verweist Nagl dann darauf, dass die metaphysische Frage nach dem Wahrheitsgehalt der religiösen Erfahrung offen bliebe, weil sich James lediglich darauf festlegen ließe, dass unser Unterbewusstes gegebenenfalls der Einstiegsort für eine oder mehrere göttliche Instanzen sein könnte. Im Schlussteil schließt sich Nagl zudem der semiotisch gestützten Kritik von James’ Kollegen Joshiah Royce in Harvard an, der zufolge das Religiöse durch die Analyse der religiösen Erfahrungen in ihrer unmittelbaren Wirkung auf das Subjekt der Erfahrung nicht hinreichend erfasst werden könne, weil der soziokulturelle Kontext jeder Religion und jedes religiösen Erfahrens ausgeblendet würde. 3.3. Mein eigener Beitrag Don’t Worry, Be Happy? Zum Problem des religiösen Zweifels bei William James schließt an Nagls Ausführungen an, indem er fragt, ob man als Pragmatistin im Sinne der Gifford-Lectures von William James auch dann irdisches Glück in Form von Selbstvertrauen, Gelassenheit und einem Gefühl der Geborgenheit im Kosmos durch einen religiösen Glauben finden kann, wenn sich gravierende szientistische oder logische Zweifel an der Glaubwürdigkeit der religiösen Lehrmeinungen aufdrängen?
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Religion in pragmatischer und pragmatistischer Betrachtung
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I. Religion – pragmatisch betrachtet
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Christian Thies
Religion und Moral – die Urszene
Religion und Moral werden oft in einem Atemzuge genannt; religiöse Würdenträger gelten mancherorts noch immer als Experten für Moral; in vielen Bundesländern ist ›Ethik‹ das sogenannte Ersatzfach für den Religionsunterricht. Solche Auffassungen über das Verhältnis von Religion und Moral sind aus meiner Sicht der Aufklärung bedürftig. Das möchte ich in dieser philosophischen Skizze mittels dreier Thesen begründen. Erstens, so behaupte ich, sind Moral und Religion tief in der menschlichen Lebensform verankert; in beiden Fällen handelt es sich um anthropologische Universalien wie Sprache und Technik. Nicht jeder Mensch ist auf die gleiche Weise moralisch oder im besonderen Maße religiös musikalisch, aber Dispositionen für beide Eigenschaften finden sich bei Mitgliedern menschlicher Gemeinschaften in jeder Epoche und in jedem Kulturkreis. Die konkrete Gestalt von Moral und erst recht von Religion ist immer soziokulturell bedingt; teilweise aber lassen sich sogar genetische Vorprogrammierungen finden. Für diese Verankerungsthese spricht auch, dass es proto-religiöse und proto-moralische Phänomene bei hoch entwickelten Tieren gibt, vor allem bei den Affen als unseren nächsten Verwandten. Zweitens haben Moral und Religion unterschiedliche Quellen. Am Beginn der Menschheitsgeschichte hatten sie eigentlich gar nichts miteinander zu tun; sie entspringen, um im Bild zu bleiben, in voneinander weit entfernten Regionen. Erst in späteren Epochen (was ich in diesem Artikel nicht mehr ausführen kann) konvergieren die beiden Sphären und verschmelzen sogar, so dass für lange Zeit die unterschiedliche Herkunft beider unsichtbar wurde. Einige Implikationen dieser Unabhängigkeitsthese, wie auch der anderen beiden Behauptungen, werde ich am Ende des Textes darstellen. Die dritte These lautet, dass sowohl Moral als auch Religion nicht aus einer einzelnen, sondern aus mehreren Quellen entsprungen sind. Nach meiner Auffassung gibt es derer jeweils vier. Mit die27 https://doi.org/10.5771/9783495808375 .
Christian Thies
ser Pluralismusthese verdoppele ich also das Angebot, das uns Henri Bergson auf ganz andere Weise 1932 unterbreitete. Die religiösen und moralischen Phänomene können selbstverständlich auf mehrfache Weise miteinander verwoben sein. Zudem mag es weitere Quellen geben, die erst in späteren Epochen zu sprudeln begannen. Den weiteren Verlauf der acht Ströme möchte ich an einigen Stellen wenigstens andeuten. Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ich hier keine normativen Überlegungen anstelle. Die zentralen Fragen der Ethik (›Was sollen wir tun?‹, ›An welchen moralischen Prinzipien sollten wir uns orientieren?‹) bleiben ausgeklammert. Es ist jedoch einzuräumen, dass grundlegende normative Differenzierungen, vor allem die zwischen Gut und Böse, vorausgesetzt sind. Stattdessen bleibe ich im Felde einer philosophischen Anthropologie, die sich konstruktiv auf die ganze Vielfalt empirisch-humanwissenschaftlicher Erkenntnisse bezieht. 1 Für die Fragestellung dieses Beitrags sind vor allem soziobiologische, neurobiologische, paläoanthropologische, ethnologische und religionshistorische Forschungsergebnisse wichtig. 2 Die metaphorische Redeweise von den Quellen (oder Wurzeln) bedarf ebenso der Konkretisierung wie die sonst üblichen pauschalen Hinweise auf eine ›Urgesellschaft‹, auf ›Stammesgemeinschaften‹ oder auf ›archaische Kulturen‹. Die Indizien für meine Thesen beziehen sich größtenteils auf die jüngere Altsteinzeit, das Jungpaläolithikum. Nach allgemeinem Verständnis begann diese Epoche vor über 40.000 Jahren und endete vor ca. 15.000 Jahren. Mit einer Dauer von 25.000 Jahren ist sie also erheblich länger als die gesamte folgende Menschheitsgeschichte! Dass wir alle ein Erbe dieser Zeit in uns tragen, kann man insofern schwerlich bestreiten. Im Jungpaläolithikum lebten die Menschen als Jäger und Sammler, mancherorts auch als Fischer. Mit Landbau und Tierhaltung begannen unsere Vorfahren erst einige Jahrtausende später in der Jungsteinzeit; deshalb wird dieser wichtige Übergang auch als neolithische Revolution bezeichnet. Sicher änderten sich in den einfachen Agrargesellschaften die moralischen und religiösen Vorstellungen in ähnlicher Weise, wie es auch nach der industriellen Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts geschehen ist. Ich möchte mich hier aber auf das Jungpaläolithikum Vgl. allgemein Thies 32013 sowie Handbuch Anthropologie 2009. Für Überblicksdarstellungen vgl. Voland 42013, Vaas/Blume 32012, Schrenk 32001, Bosinski 2006, Harris 1989, Kohl 22000, Hock 2002, Antes 2006.
1 2
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Religion und Moral – die Urszene
konzentrieren, in dem ich die Urszene des Verhältnisses von Religion und Moral zeitlich verorte. Zusätzlich könnte man, obschon mit Vorsicht, auch Beobachtungen heranziehen, die Ethnologen in den letzten Jahrzehnten bei rezenten Wildbeutern machten. 3
1.
Die vier Quellen der Moral
Beim ersten Phänomenbereich kann ich mich relativ kurz fassen, weil ich meine diesbezüglichen Überlegungen bereits mehrfach publiziert habe. 4 Ich stütze ich mich dabei auf eine breite Literaturbasis aus unterschiedlichen Wissenschaften. 5 Die Abfolge der vier ›Bausteine‹ spiegelt deren Stärke wider; die erste Quelle ist die stärkste, die letzte wohl die schwächste. 1.1. Die erste Wurzel der Moral ist die Gegenseitigkeit. In unterschiedlichen Formen ist sie weltweit verbreitet, zwischen Individuen und Gruppen, im Austausch von Gütern und Dienstleistungen, von Informationen und Menschen. Dabei ist nicht nur positive, sondern auch negative Gegenseitigkeit möglich, wofür Strafen und Racheaktionen als Beispiele stehen. Wenn es funktioniert, dann ist das ›do ut des‹, ›tit-for-tat‹ und ›Auge um Auge‹ wohl die stabilste Grundlage für unser Zusammenleben. In dieser Annahme konvergieren Soziobiologie, Ethnologie und Sozialwissenschaften. Vorstufen finden sich bei vielen Tieren. In Schimpansenhorden spielen etwa Systeme wechselseitiger Hilfe eine große Rolle. Allerdings vergrößert sich beim Menschen wegen der höheren kognitiven Fähigkeiten der zeitliche Abstand, der zwischen der Gabe und der Gegengabe liegen kann. Dies kann von Stunden bis zu Jahren dauern. Noch indirekter sind Ringtausch-Formen der Gegenseitigkeit: A gibt B etwas, weil dieser C etwas gegeben hat, der wiederum A etwas geben wird. Das berühmteste Beispiel ist der rituelle Kula-Handel zwischen den TrobriandInseln vor der Küste Papua-Neuguineas. In allen diesen Fällen kann man von einem reziproken Altruismus sprechen.
Kelly 22013. Vgl. insb. Thies 2013 sowie Thies 32013, Kap. 3.2. 5 Grundlegend Gehlen 1986b. Vgl. zum Stand der Forschung Bischof 2012, Haidt 2012, Pinker 2011, de Waal 2008, de Waal 2011. 3 4
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Noch grundlegender ist die Gegenseitigkeit in kooperativen Interaktionen, genannt Mutualismus. Dieser Ausdruck wurde in der Biologie früher nur auf das Zusammenwirken von Angehörigen verschiedener Arten bezogen; ein Musterbeispiel wäre die Symbiose. Inzwischen steht er für Kooperationen mit simultanem Nutzen für alle beteiligten Parteien, etwa bei einer arbeitsteilig organisierten Jagd mehrerer Affen, bei der alle etwas von der Beute abbekommen. Höchstwahrscheinlich müssen sich zunächst einmal mutualistische Interaktionsformen entwickeln, um Vertrauen zu schaffen. Erst auf diesem Fundament ist dann reziproker Altruismus möglich. Für den Mutualismus wiederum (so lautet Tomasellos grundlegende Überzeugung) sei ein wechselseitiges Verstehen notwendig, eine gemeinsame Intentionalität. 6 Es kann keinen Zweifel geben, dass sich die Menschen im Jungpaläolithikum mutualistisch-kooperativ und reziprok-altruistisch verhalten haben. Insbesondere die Jagd auf größere Tiere ist nur in komplexer Zusammenarbeit möglich; im alltäglichen Leben war man in extremer Weise aufeinander angewiesen. Störrische Kooperationsverweigerer wird man ausgeschlossen haben. Für die Existenz reziprok-altruistischer Handlungsformen sprechen Tauschbeziehungen: mit Muscheln und Bernstein, gewiss auch mit Ideen und Liedern, vor allem aber (wegen der instinktiv verankerten Inzestscheu) mit jungen Frauen. Austauschbeziehungen gab es wahrscheinlich sogar zwischen dem Homo sapiens und dem Homo neanderthalensis, die bis vor ca. 27.000 Jahren in Europa und im Vorderen Orient noch nebeneinander lebten. Diese Quelle der Moral lässt sich kontinuierlich erweitern: Bei günstigen Rahmenbedingungen und der Unterstützung durch Kommunikationstechnologien, angefangen bei der Schrift, können wir mit immer mehr Menschen immer öfter interagieren. Der weltweite Handel und das globale multi-mediale Kommunikationsnetz (Internet) sind dafür gute Beispiele. Insgesamt handelt es sich bei den aus der Gegenseitigkeit entspringenden Verhaltensweisen um einen schwachen Altruismus: Man tut dem Anderen etwas Gutes, weiß aber, dass dieser es erwidern wird. 1.2. Hingegen ist der zweite Baustein ein starker Altruismus, der von einer einfachen Hilfeleistung bis zur Selbstaufopferung gehen kann 6
Tomasello 2010.
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Religion und Moral – die Urszene
und der nach Ansicht der meisten Soziobiologen nur unter genetisch verwandten Organismen funktioniert: Daher rührt der Ausdruck ›nepotischer Altruismus‹. Wenn Jane Goodall Recht hat, setzen sich allerdings Schimpansen uneigennützig für nicht-verwandte Artgenossen ein. 7 Beim Menschen hat sich diese Moral-Wurzel von verwandtschaftlichen Beziehungen abgelöst und ist generell auf Zugehörigkeitsgruppen übertragbar. Aus dieser Quelle der Moral entspringen die Gefühle der Gruppenzugehörigkeit und Loyalität, die eher egalitär oder eher hierarchisch ausgerichtet sein können. Auf der einen Seite gibt es einen Sinn für Gleichberechtigung innerhalb der eigenen Gruppe, auf der anderen Seite die Neigung zur Unterordnung unter die anerkannten Autoritäten, die wir als proto-egalitäre und proto-hierarchische Tendenzen schon im Tierreich finden. Die Kehrseite unseres gruppenbezogenen Verhaltens, gleichsam die dunkle Seite des Guten, sind negative Gefühle gegenüber Außenstehenden und strenge Strafen gegen gruppeninterne Abweichler, die es unter Tieren nicht gibt. Dass die Menschen des Jungpaläolithikums in Gruppen lebten und nur gemeinsam überleben konnten, ist offensichtlich. Deshalb wurden wohl interne Konflikte eher vermieden. Vor allem aber wurde schwächeren Gruppenmitgliedern geholfen. Einen Beleg dafür liefert der Zustand vieler der aufgefundenen Skelette. Beispielsweise konnte der im Neandertal 1856 gefundene ca. 60-jährige Mann viele Jahre seinen gebrochenen linken Arm nicht bewegen; er war also auf Unterstützung durch Gruppenangehörige angewiesen, die er offensichtlich erhalten hat. Allerdings finden sich selten Knochenbrüche an den Beinen: Wer nicht mehr gehen konnte, wurde wahrscheinlich einfach zurückgelassen – so weit ging die Unterstützungsbereitschaft nun doch nicht. Der aus dieser Quelle entspringende Strom hat sich im Laufe der Menschheitsgeschichte diskontinuierlich erweitert: Innerhalb weniger Jahrtausende erstreckte er sich von der Familie und der Horde über die Siedlungseinheit und den Stadtstaat bis zu den Imperien der alten Welt. In der Neuzeit können vor allem Nationen auf Loyalität zählen. Dafür waren aber besondere Integrations- und Legitimationsideologien erforderlich, zu denen man auch die Volks- und Universalreligionen zählen muss. Im 21. Jahrhundert stellt sich die Frage,
7
Goodall 1991b, 243 f.
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ob der »expanding circle« (Peter Singer) sich bereits auf die Menschheit insgesamt bezieht, um globale Herausforderungen bewältigen zu können. 1.3. Der dritte Baustein sind unsere sozialen Gefühle. Diese können negativ oder positiv sein; im Sinne eines normativen Moralbegriffs sind vor allem die positiven Emotionen wichtig. Diese beginnen mit einfacher Sympathie und steigern sich bis zu bedingungsloser Liebe. Die Kehrseite sind Antipathie und Hass. Das Paradebeispiel für ein moralisches Gefühl ist das Mitleid. Wer Mitleid empfindet, sorgt sich um andere, wenn diese leiden. Das bezieht sich keineswegs nur auf Angehörige unserer eigenen Gruppe oder auf Personen, mit denen wir in einem wechselseitigen Austausch stehen. Mitleid empfinden wir auch für ein fremdes Kind; sogar das Mitglied einer feindlichen Gruppe kann uns sympathisch sein. Grundlage der sozialen Gefühle ist die Einfühlung bzw. die Empathie. Eine ihrer Bedingungen sind möglicherweise die jüngst entdeckten Spiegelneuronen. Wie Studien an kleinen Kindern zeigen, ist Empathie an ein Bewusstsein der eigenen Identität gekoppelt, das bei uns Menschen in der Mitte des zweiten Lebensjahres erworben wird. Auf dieser Grundlage ist ein affektives Betroffensein von der Situation anderer möglich. Leistungsfähiger ist aber die kognitive Empathie, d. h. die Kompetenz zu einem Perspektivenwechsel. Diese ermöglicht es, dass man sich Konzepte davon macht, wie die anderen die Welt wahrnehmen, strukturieren und bewerten (theory of mind). Kinder sind dazu ab dem vierten Lebensjahr in der Lage. Es ist jedoch umstritten, ob auch Affen diese Entwicklungsstufe erklimmen können. Wir Menschen können uns jedenfalls durch diese Fähigkeit in andere hineinversetzen und insofern eine »exzentrische Position« (Plessner) einnehmen. Empathie ist aber nicht nur die Grundlage der positiven, sondern auch die der negativen sozialen Gefühle, etwa von Schadenfreude und Missgunst. Insbesondere der grausame Sadist muss genau wissen, was dem Anderen Leid zufügt: Er muss sich also in sein Opfer einfühlen können. Die Erweiterungsmöglichkeiten dieser Wurzel der Moral sind gering. Mitleid empfinden wir eigentlich nur für einzelne Lebewesen, deren Schmerz uns klar vor Augen steht. Immerhin lassen sich Gefühle kultivieren. Man kann sich daran gewöhnen, sein Mitleid zu verdrängen oder zu einem passiven Bedauern zu degradieren. Man kann es aber auch von einer emotionalen Anteilnahme über aktiv 32 https://doi.org/10.5771/9783495808375 .
Religion und Moral – die Urszene
werdende Einzelfallhilfe zur habitualisierten Großzügigkeit weiterentwickeln. 1.4. Der vierte Baustein ist die praktische Vernunft. Wenn wir diesen Begriff heute alltagssprachlich für den Bereich unseres Handelns verwenden, ist in der Regel Zweckrationalität oder einfach Effizienz gemeint, also die Wahl der besten Mittel für geeignete Ziele. Auch diese Kompetenz kann moralisch wichtig sein, etwa um die eigenen Gruppenmitglieder erfolgreich zu schützen oder ihnen in Not wirksam zu helfen. Drei Spielarten der Vernunft kommen aber hinzu. Zunächst ist die praktische Vernunft als sozial-kognitive Urteilskraft zu nennen, mit der wir komplexe intersubjektive Beziehungen angemessen analysieren und deuten können. Schon die Affen sind, im Vergleich mit anderen Säugetieren, insofern sehr soziale Wesen, als sie den größten Teil ihrer kognitiven Fähigkeiten für die Beobachtung der anderen Hordenmitglieder und die Analyse ihrer Beziehungen untereinander einsetzen. 8 Mit seinem ›sozialen Hirn‹ ist der Mensch aber sogar ein super-soziales Wesen. 9 Sodann ist die praktische Vernunft die Kompetenz, im normativen Bereich rational zu denken und zu argumentieren. Schließlich gibt es noch Vernunft als rationales Wollen, das sich autonom moralische Zwecke setzt und diese mit seinen Handlungen zu verwirklichen sucht. Insbesondere zur Lösung schwieriger Probleme sozialer Gerechtigkeit wird man sich nicht allein auf Gegenseitigkeit, Wohlwollen und Empathie stützen können. Dazu brauchen wir unsere praktische Vernunft. Da der Homo sapiens im Jungpaläolithikum fast dieselbe genetische Ausstattung besaß wie wir, kann man auch ihn als vernunftbegabtes Tier (animal rationabile) oder, noch besser, als vernunftund sprachbegabtes Tier (zoon logon echon) ansprechen. Es wird sogar darüber spekuliert, ob sein Gehirn nicht größer war als das unsrige. Aber wie dem auch sei, wer einmal anfängt, kritisch und systematisch nachzudenken, kann damit nicht aufhören und wird seine Reflexionen immer weiter ausdehnen. Das nennt Peter Singer die »Rolltreppe der Vernunft«. Oder handelt es sich doch um eine ganz normale Treppe mit einer begrenzten Zahl von Stufen? Das ist die These derjenigen, die die Stadienmodelle der Entwicklungspsycho-
8 9
Fischer 2012, 10 f., 28 ff., 136 ff., 162, 249 ff. Dunbar 1998 sowie Fuchs 42013.
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logie (Piaget, Kohlberg) von der Ontogenese auf die Phylogenese (die Menschheitsgeschichte) übertragen wollen. Nun könnte man einwenden: Wenn es immer und überall diese vier ›Bausteine‹ gibt, warum bietet die Menschheitsgeschichte so ein grauenhaftes Bild von Krieg, Mord, Raub, Betrug usw.? Woher kommt das Böse? Dazu ist als erstes auf die schon erwähnten negativen Aspekte der vier Bausteine zu verweisen: Gegenseitigkeit führt zu fortdauernden Racheaktionen; Wohlwollen bezieht sich nur auf die Angehörigen der eigenen Gruppe; Empathie ist auch Voraussetzung negativer sozialer Gefühle; Vernunft lässt sich missbrauchen. Darüber hinaus gibt es neben den Quellen des Guten auch die des Bösen. Auch hier muss man sich vor zu simplen Schemata hüten; wie das Gute ist auch das Böse ein Plural. Man kann sogar sechs Formen unterscheiden. Bereits Aristoteles nennt gleich drei Phänomene, die wir heute zum Bösen rechnen würden. Das erste ist die tierische Rohheit, gleichsam die Barbarei, aus der sich eine soziale Gruppe noch gar nicht herausentwickelt hat. Das zweite ist die Unbeherrschtheit, also der momentane, aber immer wieder auftretende Verlust der Kontrolle über die aggressiven und destruktiven Affekte, die jeder Mensch in sich trägt. Das dritte ist die Lasterhaftigkeit, also die Habitualisierung schlechter Gewohnheiten wie etwa Feigheit, Geiz oder Unfreundlichkeit. 10 Drei weitere Spielarten des Bösen hat uns spätestens das 20. Jahrhundert gelehrt. Zunächst gibt es das von Kant so bezeichnete radikale Böse, das darin besteht, die moralischen Maximen bewusst zu verkehren, das Böse also um des Bösen willen zu wollen. In den Dienst des radikal Bösen kann sich sodann die kalte Grausamkeit stellen, die höchst bedacht und kontrolliert zu Werke geht: Die Vorgehensweise von Folterknechten und KZ-Schergen müsste man hier einordnen. Letztlich gibt es noch das banale Böse, ein Handeln ohne Urteilskraft und Mitgefühl, mit dem man seinen vermeintlichen Pflichten nachkommt, ohne zu bedenken, was man damit anderen antut.
10
Aristoteles 1995, 1145a15 ff.
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2.
Religion im Jungpaläolithikum
Kommen wir jetzt zur Religion. Wenn wir nach deren Quellen suchen, können wir nicht einfach die heutigen Formen bis zu ihren Ursprüngen zurückverfolgen. Irgendwann reißt nämlich der Faden der Überlieferungen: Religion entsteht im Dunkel der Geschichte. Wir müssen den Sprung in fernste Zeiten (und Räume) wagen und dort religiöse Phänomene identifizieren. Manche meinen, dass dies in vorhochkulturellen Zeiten gar nicht möglich sei und dass der Begriff der Religion lediglich ein europäisches Konstrukt darstelle. Andere wollen das Religiöse vollständig auf andere Phänomene (etwa Sexualität, Ökonomie oder Politik) reduzieren. Wer jedoch nach den Ursprüngen sucht (was zumindest die Philosophie nicht aufgeben darf), wird am Religionsbegriff auch für die Anfänge der Menschheitsgeschichte festhalten wollen. Die generelle Skepsis, wir wüssten viel zu wenig über frühere Epochen, hilft uns nicht weiter. 11 Richtig ist jedoch, dass zwei scheinbar konstitutive Merkmale von Religionen im Jungpaläolithikum nicht zu finden sind. Zum einen gibt es keine Götter. Erst recht steht am Anfang der Menschheitsgeschichte kein Urmonotheismus; der entsprechende Nachweis ist jedenfalls Wilhelm Schmidt mit seiner Wiener Schule nicht gelungen. Der Monotheismus tritt offensichtlich, wie schon Hume vermutete, historisch später als der Polytheismus auf, ohne dass hier eine unausweichliche Evolution vorliegen muss. Nicht jedes Ensemble von Göttern wird im Laufe der Zeit durch den Einen ersetzt. Aber auch die Verehrung einer Vielzahl von Gottheiten hat sich wohl erst nach der neolithischen Revolution entwickelt. Insofern spricht vieles für die Ansicht der älteren Religionsgeschichte (vor allem von Tylor), dass alles mit dem Animismus oder anderen nichttheistischen Formen der Religiosität begann. Immerhin kennen die meisten Wildbeutergesellschaften mehrere ›Übergeistmächte‹ männlichen oder weiblichen Geschlechts, die über bestimmte Tierarten herrschen und für diese sorgen. Ein Beispiel ist Sedna, in der die Inuit die auf dem Meeresboden lebende Herrin ihrer Jagdtiere sahen. 12 Zum anderen kann man Religionen auch nicht durch ihren Bezug auf Transzendenz definieren. Zwar wird in den Weltbildern archaischer Gesellschaften zwischen dem Sichtbaren und dem Unsicht11 12
Zu einer solchen Skepsis tendiert beispielsweise Leroi-Gourhan 1988. Duerr 1984. Vgl. auch Müller 1997, 18, 23, 55 f., 116 f.
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baren, zwischen dem Körperlichen und dem Geistigen unterschieden. Oft findet man auch Dreiteilungen: beim Menschen in seine physischen, vitalen und psychischen Bestandteile; für den gesamten Kosmos in drei ›Stockwerke‹: in der Mitte die eigene Lebenswelt, umgeben von einer Oberwelt und einer Unterwelt. Dennoch sind alle Sphären prinzipiell mit denselben Kategorien erfassbar; es gibt Übergänge und Zwischenzonen, die vor allem von guten und bösen Geistern sowie den Schamanen genutzt werden. Zwischen Transzendenz und Immanenz wird also nicht klar getrennt; zudem dient die Oberwelt nicht als normative Orientierung. Noch die Götter der Griechen, Römer und Germanen waren ja keineswegs moralische Vorbilder. Eine ideale transzendente Welt (man denke an Platons ›Ideenhimmel‹) ist wahrscheinlich eine Errungenschaft der sogenannten Achsenzeit vom achten bis dritten vorchristlichen Jahrhundert. Den besten Zugriff auf das Religiöse bietet, zumindest für meine Fragestellung, der Begriff des Heiligen. Dabei ist zu bedenken, dass das Heilige in der Urgesellschaft sicherlich ein Plural, ja ein Sammelsurium war – vieles und sogar sehr Unterschiedliches war heilig. Es gab heilige Räume und heilige Zeiten, heilige Lebewesen und heilige Dinge, heilige Zustände und heilige Eigenschaften. 13 Was aber ist das Heilige? Zwei Begriffsmerkmale sollen hier ausreichen. Erstens tritt es nie ohne seinen Gegensatz auf. Wenn es das Heilige gibt, muss auch das Profane existieren; neben heiligen Räumen muss es beispielsweise immer auch profane Örtlichkeiten geben. Dies ist bei den frankokantabrischen Höhlen tatsächlich gegeben. Denn die wunderbaren Malereien, die etwa Altamira, Lascaux oder die Grotte Chauvet berühmt machten, finden sich fast immer in schwer zugänglichen Abschnitten der oft verzweigten Höhlen. Es wird ersichtlich zwischen zwei Arten von Räumen unterschieden, eben den profanen (für das alltägliche Leben) und den sakralen (für religiöse Verrichtungen). Zweitens ist das Heilige auf besondere Weise verehrungswürdig. Das bedeutet keineswegs, dass es ausschließlich positiv besetzt ist: Wie Rudolf Otto 1917 überzeugend beschrieb, kann es ambivalente Gefühle auslösen, anziehend und abstoßend, faszinierend und erschreckend sein. Das Heilige ist nämlich nicht in erster Linie gut, sondern vor allem mächtig. Seine bezwingende Kraft übersteigt die von uns Menschen. Das Heilige ist also nicht über-
13
Eliade 1998 sowie Colpe 1990.
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natürlich, aber doch übermenschlich. Inwiefern dies für die vier Wurzeln des Religiösen zutrifft, wird gleich deutlich werden.
3.
Vier Quellen der Religion
3.1. Die erste Quelle der Religion sind kognitive Mechanismen, die uns dazu verleiten, in natürlichen Vorgängen mehr zu sehen, als sie wirklich sind. Vor allem neigen wir dazu, in der belebten, aber auch in der unbelebten Natur ›Subjekte‹ zu vermuten, die analog zu uns Menschen gedacht sind. Der Hintergrund ist die schon erwähnte ultra-soziale Struktur der menschlichen Lebensform. Das führt beispielsweise zur Pareidolie, also der fälschlichen Wahrnehmung von Gesichtern in Wolken, Bäumen und Felsformationen. Noch wichtiger ist aber, dass wir dazu neigen, verborgene Mächte für empirische Prozesse verantwortlich zu machen. Dieses Phänomen gibt es schon bei Tieren: Darwin schildert in seinem zweiten Hauptwerk anschaulich, wie sein Hund auf die durch einen leichten Windzug ausgelösten Bewegungen eines Sonnenschirms mit einem Knurren und Bellen so reagierte, als ob er annähme, dass eine unbekannte Wesenheit dieses Geschehen bewusst herbeigeführt habe. Dies sei vergleichbar mit dem »Glauben an unsichtbare oder geistige Kräfte« 14, für den Tylor im selben Jahr den Ausdruck Animismus einführte. Aus der Sicht einer funktionalistischen, nämlich evolutionstheoretisch argumentierenden Biologie ist ein kognitives Phänomen dieser Art zweckmäßig: Für eine Gazelle ist es besser, zwanzigmal fälschlicherweise im Rauschen des Laubwerks einen Löwen zu vermuten, als dies einmal nicht zu tun, wenn dort wirklich einer lauert. Auch unsere Sprache mit ihrer Subjekt-Prädikat-Struktur ist davon geprägt: Wo es einen Prozess gibt, ausgedrückt durch ein Verb, erwarten wir auch ein Subjekt. Solche »subjektivistische(n) Deutungen« 15 sind zunächst einmal völlig unabhängig von religiösen Gehalten. Dies gilt auch dann, wenn unpersönliche Kräfte postuliert werden (Dynamismus). Bedeutsam für das, was wir heute ›Religion‹ nennen, wird eine solche »Außenwelt-Beseelung« 16 erst, wenn die überempirischen Wirkkräfte immer 14 15 16
Darwin 21992, 103. Mirow 2009, 105. Gehlen 1986a, Kap. 34.
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weiter aus unserer Lebenswelt herausgerückt, vergrößert und idealisiert werden – bis es zur Annahme anthropomorpher Gottheiten kommt, die die Welt regieren und mit denen wir in Interaktion treten können. Da diese Mächte Gutes und Böses bewirken, besteht zu ihnen die oben angesprochene ambivalente Haltung. Wenn der Animismus die einzige Quelle der Religion wäre, stünde es heute schlecht um diese. Die Wissenschaften liefern so überzeugende Erklärungen fast aller Naturvorgänge (und deren Anwendung in der Technik einen so guten Schutz), dass diese Strömung religiösen Lebens nahezu ausgetrocknet ist. Was früher unerklärlich war, wird nun schon in der Schule gelernt. Keiner glaubt mehr an einen Gott, der Blitze schleudert, oder an Geister, die die Jagd (oder heutige Arbeitsvorgänge) beeinflussen. Der Animismus ist nichts weiter als eine frühe Stufe unserer kognitiven Entwicklung. Piaget ordnete ihn dem prä-operationalen Stadium von zwei- bis siebenjährigen Kindern zu, die glauben, dass Kugeln rollen wollen und dass der Mond sie auf ihren Nachtspaziergängen begleitet. Zu Recht wurde das von ihm auch als eine Form des Egozentrismus gedeutet. 17 Schon im konkret-operationalen Stadium wird dies alles überwunden. 3.2. Die zweite Quelle ist der ambivalente Eindruck außerordentlicher Naturphänomene. Jane Goodall hat beobachtet, dass Schimpansen angesichts eines überwältigenden Wasserfalls Gefühle wie ehrfurchtsvolles Erstaunen zeigen und bei einsetzendem Gewitter manchmal in eine Art des kollektiven Regentanzes verfallen. 18 Wenn sich diese Beobachtungen bestätigen lassen, hat Goodall tatsächlich eine Vorstufe unserer Religiosität entdeckt. Denn die unwahrscheinlichen und überraschenden, rätselhaften und faszinierenden Naturphänomene, die auch den dritten Schimpansen (nämlich uns Menschen) beeindrucken, sind ein Paradebeispiel für das von Rudolf Otto analysierte Numinose. Außer Gewittern und Wasserfällen können auch Erdbeben und Stürme solche Phänomene sein. Eine besondere Rolle in der menschlichen Religionsgeschichte haben wahrscheinlich Vulkane gespielt, denn der spätere jüdische Gott Jahwe war wohl ursprünglich ein Vulkan-Gott. 19 Weniger bedeutsam sind statische Phä-
17 18 19
Piaget 1940, 171 ff. Goodall 1991a, 69 ff. sowie Goodall 1991b, 16, 277 f. Freud 1986, 484.
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nomene derselben Art wie große Wasserflächen, hohe Berge, weite Landschaften oder der bestirnte Nachthimmel. Im Unterschied zum Animismus geht es hier nicht um die unsichtbare Welt, sondern explizit um die sichtbare. Nicht eine verborgene Kraft löst die ambivalenten Gefühle aus, sondern das offen zu Tage liegende Phänomen selbst. Dessen Dimensionen überragen alles Menschliche so weit, dass man gar nicht anders kann, als sich klein und ohnmächtig zu fühlen, ohne jedoch direkt bedroht zu sein. Eine Naturkatastrophe, die alles zerstört, wird nur als schrecklich empfunden, nicht als schrecklich und faszinierend zugleich. Insofern sind numinose Gefühle deutlich von den emotionalen Erschütterungen abzugrenzen, die unsere leiblichen Grenzen gänzlich auflösen und auf die man nur mit Weinen reagieren kann (Plessner). Numinose Erfahrungen erzeugen einen Handlungsdruck, für den es keine genetischen Vorprogrammierungen gibt. Auf die »Appellqualität« des Numinosen reagiere man als Gruppe, so die plausible Spekulation Gehlens, mit rhythmisierten Bewegungen, zum Beispiel solchen Tänzen wie dem von Goodalls Schimpansen. 20 Beim Menschen komme es jedoch zu einer Ritualisierung dieser Akte, die die momentane Erfahrung auf Dauer stellen und als Nachahmung (Mimesis) des Naturereignisses verstanden werden. Die sekundäre objektive Zweckmäßigkeit solcher Riten ist wahrscheinlich die Stärkung der Gemeinschaftsgefühle gewesen. Für Durkheims These aber, dass ohne Riten ein sozialer Zusammenhalt gar nicht möglich sei, gibt es für die frühen Zeiten der Menschheitsgeschichte keine Belege. Erst in den späteren Hochkulturen dienten Religionen auch als sozialer Kitt. Zudem hatten Religionen wohl immer mehrere Funktionen, deren jeweiliges Gewicht sich im Verlauf der Geschichte immer wieder erheblich verschoben hat. 21 Auf die Darstellung des Numinosen durch Tänze könnte die durch Bilder gefolgt sein. Bei den berühmten Höhlenmalereien des Cro-Magnon-Menschen werden jedoch andere Naturphänomene dargestellt, nämlich vorwiegend große Tiere in hinreißender Dynamik. 22 Könnten diese auch in vergleichbarer Weise ambivalente Gefühle ausgelöst haben? Erst die dritte Stufe sind Mythen, durch die der Mensch als animal symbolicum den numinosen Situationen 20 21 22
Gehlen 1986a, 136 f. Diamond 2012, Kap. 9. Bataille 1984.
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einen Sinn verleiht. Die Abfolge vom Mimetischen über das Ikonische zum Mythischen darf man jedoch nicht, ähnlich wie den Weg des Animismus über den Polytheismus zum Monotheismus, als unausweichliche Entwicklung verstehen; zudem ist sie nur ein Strang der Religionsgeschichte. 23 Darüber hinaus gibt es in der Moderne eine Sublimierungsform numinoser Gefühle, die sich von der Sphäre des Religiösen gelöst hat, nämlich die ästhetische Erfahrung des Erhabenen. 3.3. Die dritte Quelle liegt nicht in der Außenwelt, sondern in den Möglichkeiten, unser Inneres zu manipulieren, zu intensivieren und sogar zu verlassen. Erinnerungen an nächtliche Träume, in denen die Seele scheinbar ihren Körper und die gewohnte Umgebung hinter sich lässt, mögen am Anfang gestanden haben. Eine andere Erfahrung sind die kollektiven Ekstasen bei den eben erwähnten Tänzen. Noch wichtiger sind aber die Séancen, die von Schamanen abgehalten wurden und bei denen diese in Trance-Zustände gerieten, sich in Tiere verwandelten und fliegen konnten. Schamanismus wird heute für ein weltweites Phänomen gehalten. 24 Wurde dieser Begriff zunächst nur für sibirische Nomadenvölker verwendet, so wurden bald ähnliche Erscheinungen bei vielen Indianerstämmen, bei den archaischen Jägern Südwestafrikas und in Südostasien beobachtet. Besonders wichtig für unsere Fragestellung ist, dass es Schamanismus auch bei den Cro-Magnon-Menschen gegeben haben soll. 25 Als Beleg dafür gelten jungpaläolithische Darstellungen von Männern mit Tierköpfen, Tiermasken oder Tierkostümen, oft mit erigiertem Penis, also einer sexuellen Erregung, die mit schamanistischen Trance-Zuständen verbunden sein konnte. Berühmte Beispiele sind der Löwenmensch von Hohlenstein-Stadel und die Höhlenmalerei in Trois Frères, aus etwas späterer Zeit der Ziegendämon vom Göbekli Tepe. 26 Der Schamanismus wird oft mit dem Animismus zusammengebracht oder sogar als dessen notwendige Ergänzung betrachtet: Wenn es unsichtbare geistige Wesenheiten gibt, braucht man jemanden, der mit diesen in Kontakt treten kann, einen Mittler zwischen 23 24 25 26
Gegen Bellah 2012. Eliade 1975 sowie Müller 1997. Clottes/Lewis-Williams 1997. Schmidt 2006, 216.
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dem Normalen und dem Transnormalen. Diese Aufgabe übernahmen die Schamanen, die insofern (als Ergebnis sozialer Arbeitsteilung) auch die ersten religiösen Spezialisten waren. Eine politische oder militärische Funktion in ihren sozialen Gruppen besaßen sie nicht. Oft waren sie sogar Außenseiter in ihrer Gemeinschaft, eben Verrückte, auf die man jedoch in besonderen Situationen, vor allem bei schweren physischen oder psychischen Krankheiten, Unglücksfällen oder vor Beginn der Jagdzeit, angewiesen war. Zumindest standen die meisten Gemeinschaftsmitglieder zu den Schamanen in einer spannungsvollen Beziehung, einer Mischung von Bewunderung und Scheu – wie zu allen Phänomenen des Heiligen. Wichtiger sind die oben erwähnten psychischen Zustände der Schamanen. Halluzinationen und trance-ähnliche Zustände mag es schon bei Säugetieren geben. Inzwischen wird auch über die neurobiologischen Grundlagen dieser Prozesse geforscht. 27 Entscheidend aber ist, dass die Schamanen als Meister der Ekstase solche psychischen Zustände willentlich herstellen konnten. Tanz und Musik unterstützten dies; zur Ausstattung der Schamanen gehörte fast immer eine Trommel. Die archaische Ekstase ließ sich in zwei Richtungen weiterentwickeln. 28 Der eine Weg führt in den durch Drogen erzeugten Rausch. Dabei konnte man sich halluzinogener Pflanzen bedienen, die sicher von den Altpflanzer-Kulturen nach der neolithischen Revolution entdeckt und gezüchtet wurden. Für religiöse Erfahrungen war jedoch der andere Weg wichtiger, nämlich die psychische Disziplinierung und mentale Konzentration ohne weitere Hilfsmittel, die zu religiösen Praktiken wie Gebet und Meditation sublimiert wurden. Das Heilige wird nicht in der Außenwelt gesucht, sondern in den unheimlichen Tiefen unserer Innenwelt. In allen Kulturkreisen entstanden daraus mystische Strömungen, die die Selbstversenkung bis zur Selbstauflösung ins Nichts weiterentwickelten. Mystik ist also gewissermaßen das Resultat einer Rationalisierung der schamanistischen Ekstase. 3.4. Es bleibt noch eine vierte Quelle. Diese entspringt aus der Begegnung mit dem Tod und den menschlichen Bemühungen, diesen zu verstehen und zu überwinden. Die Vorstufen bei den Tieren sind hier 27 28
Clottes/Lewis-Williams 1997, 12 ff., 81 ff. Gehlen 1986a, Kap. 44.
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ganz spärlich. Die großen Affen scheinen ein ambivalentes Verhältnis zu Leichnamen von Artgenossen zu haben; Trauer läßt sich aber kaum feststellen. Ein schwer ausrottbarer Mythos sind zudem die sogenannten Elefantenfriedhöfe. Zwar verfügen Elefanten über erstaunliche Fähigkeiten, ein gutes Erinnerungsvermögen und eine bemerkenswerte Intelligenz. Dass es jedoch ausgewählte Orte gibt, an denen sich die Mitglieder einer Herde zum Sterben hinbegeben, ist nur in Tarzan-Filmen der Fall. Tatsächlich ist es wohl so, dass bei älteren Elefanten das Gebiss stark abgenutzt ist und sie daher auf weichere Nahrung angewiesen sind, die sich eher in sumpfigem Gelände abseits der üblichen Routen einer Herde findet. Dort verenden alte und schwache Elefanten dann überproportional oft, so dass der Mythos entstehen konnte, dort befände sich ein ›Friedhof‹, der von den Tieren bewusst aufgesucht worden sei. 29 Bereits die Neandertaler haben hingegen ihre Toten nicht einfach entsorgt, sondern gewissenhaft bestattet, oft in kleinen Höhlen, die mit rotem Ocker (vielleicht als Symbol für Blut) sowie mit Grabbeigaben wie Tierknochen, bearbeiteten Steinen und Perlen ausgestattet wurden. Die anrührende Geschichte, dass die Leichname in ein Blumenbett gelegt wurden, stellt man heute wieder in Frage; es könnte sein, dass die gefundenen Blütenpollen eher zufällig von Wühlmäusen hineingetragen wurden. 30 Dass es sich aber um geplante Grabanlagen handelt, wird nicht bezweifelt. Möglicherweise haben die Neandertaler ihre Bestattungsbräuche sogar vom Homo sapiens, unseren direkten Vorfahren, übernommen, von denen wir sogar die älteren Gräber kennen. Signifikante Unterschiede in den Bestattungsbräuchen beider Arten gibt es jedenfalls nicht. Bemerkenswert ist zunächst einmal, dass tote Mitglieder der eigenen Gemeinschaft nicht einfach liegen gelassen oder beseitigt, sondern mit bemerkenswerter Sorgfalt bestattet wurden, und zwar in eigens dafür angelegten Grabstätten innerhalb des Siedlungsgebietes, oft sogar sehr nahe bei zeitweiligen Lagerstätten. Das ist zunächst einmal ein Akt der Pietät, abkünftig vom moralischen Phänomen des Wohlwollens (des starken Altruismus), der hier nicht nur die lebenden, sondern sogar die toten Mitglieder der eigenen Gemeinschaft einbezieht. Lässt sich aus den Grabanlagen auch auf religiöse Auffassungen schließen? Man kann nur interpretieren und spekulieren. Zunächst 29 30
Elefantenfriedhof 2014. Schrenk/Müller 2005, 80, 98.
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einmal ist es wichtig, dass keineswegs alle Verstorbenen bestattet wurden, höchstwahrscheinlich auch nicht nur herausragende Individuen. Es gibt nämlich relativ viele Grabstätten mit den Leichnamen von Kindern, Neugeborenen oder sogar Föten. Insofern handelt es sich gewiss nicht um eine Vorstufe des späteren Ahnenkults. Wurden nur wenige Menschen stellvertretend für alle beigesetzt? Sodann ist auffällig, dass viele Skelette in eine Art Embryonalstellung gebracht wurden und entsprechend dem Sonnenlauf in einer Ost-West-Richtung liegen. Es liegt nahe, dies als Verbundenheit mit dem zyklischen Geschehen der Natur und als eine Hoffnung auf Wiedergeburt zu deuten. In diesen Zusammenhang ist ein weiteres Phänomen des Jungpaläolithikums zu stellen: die vielen kleinen Skulpturen (Figurinen) aus Stein, Knochen, Elfenbein oder gebranntem Ton, die man inzwischen gefunden hat. Dargestellt sind immer Frauen mit ausladendem Gesäß, dickem Bauch und großen Brüsten. Berühmte Beispiele sind die Venus von Willendorf und die Venus vom Hohle Fels. Sind das Darstellungen einer Schwangerschaft? Auffällig ist, dass die Frauenstatuetten kein Gesicht haben. Daraus kann man wohl schließen, dass es nicht um konkrete Individuen geht, sondern um das Weibliche überhaupt. An Höhlenwände und auf frei stehende Felsplatten wurden oft Vulven gezeichnet. Dabei handelt es sich wohl kaum um das Geschmiere eines pubertierenden Steinzeitmenschen. Auch die feministische These, die sogenannten Venusfigurinen seien ein Beleg für ein steinzeitliches Matriarchat, gilt als widerlegt. 31 Am weitesten verbreitet ist die Meinung, es handle sich um einen Fruchtbarkeitskult. Allerdings war Fruchtbarkeit im Sinne einer hohen Kinderzahl bei nomadisierenden Gruppen keineswegs ein hoher Wert. Zu viele kreischende Babys, die noch nicht einmal laufen konnten, waren für Horden, die von Ort zu Ort ziehen mussten, eine Gefahr; deshalb regulierte man die Geburtenzahl und brachte unerwünschte Säuglinge gnadenlos um. Das könnte uns zurückbringen zu der Idee, dass es sich um die symbolische Darstellung der kosmischen Regeneration handelt. 32 Die Grabstätten und die Frauenstatuetten wären dann separate, aber zusammengehörige religiöse Symbole zum Tod und zur Geburt, den beiden Endpunkten des Lebenszyklus. Die Venusfigurinen ver31 32
Göttner-Abendroth 1980. Vierzig 2009, 40, 88, 155, 178 f.
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körpern die »Liebe zum Leben« (Duerr). Der Schrecken des Todes wird gedämpft oder überwunden durch die Hoffnung auf eine Wiederentstehung, die allerdings nicht im Sinne einer individuellen Wiedergeburt vorgestellt wurde, weil es Individualismus in unserem Sinne im Paläolithikum noch gar nicht gab. Für die Vorstellung einer zyklischen Erneuerung des Lebens spricht auch die oft zu findende Mond-Symbolik, die nach der neolithischen Revolution durch die Sonnen-Symbolik abgelöst wird. Das jungpaläolithische Weltbild wäre somit ein zyklischer Ur-Vitalismus, dessen wirkungsvollste Macht eine sich permanent regenerierende Lebenskraft ist. Eine solche wird in vielen späteren Hochkulturen postuliert: Qi in China, prana in Indien, mana in Polynesien, orenda bei den Irokesen, muntu in Afrika. Diese Lebenskraft ist für Geburt und Tod verantwortlich. Ihr zyklisches Wirken gibt eine erste unklare Antwort auf die noch gar nicht explizit formulierte Frage nach dem Sinn des Lebens. Später, nach der Geburt der Götter, wird daraus das Theodizee-Problem.
4.
Was folgt aus alledem?
Sicher bleiben noch viele Fragen offen; einiges ist kontrollierte Spekulation; manches wird man wohl niemals klären können. Dennoch, so meine ich, ist deutlich geworden, dass sich Religion und Moral in unterschiedlichen Lebenszusammenhängen entwickelt haben. Während Moral immer ein konstitutives Moment sozialer Gruppen war, wird mit Religion eher auf die Natur reagiert, auf die Übermacht, Rätselhaftigkeit und Kontingenz der Außenwelt sowie auf die geheimnisvollen Tiefen unserer Innenwelt. Moral regelt das alltägliche Zusammenleben, Religion hingegen ist unsere Antwort auf das Außeralltägliche. Je stärker aber das Außeralltägliche ins Alltägliche eindringt, umso wichtiger wird wahrscheinlich die Rolle der Religion. Das sind alles kaum mehr als Stichworte, vielleicht ein anthropologisches Forschungsprogramm. Sollten meine Überlegungen jedoch zutreffen, dann hätten sie massive Implikationen für Themenkomplexe, die immer wieder diskutiert werden. Dazu gehe ich die drei Hauptthesen noch einmal in umgekehrter Reihenfolge durch. 4.1. Zwei Konsequenzen der Pluralismusthese liegen auf der Hand. Zum einen verfehlen alle uni-linearen Geschichten der Moral und der Religion die Komplexität ihrer Gegenstandsbereiche. Es wurde 44 https://doi.org/10.5771/9783495808375 .
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oben angedeutet, wie unterschiedlich die Fließgeschwindigkeit in den vier moralischen Strömen ist; im Bereich der Religion scheint die Geschichte noch komplexer zu sein; zudem wären die wechselhaften Beziehungen der beiden Sphären einzubeziehen. Zum anderen kann man auf sehr unterschiedliche Weise moralisch und religiös sein. Darauf lassen sich gewiss manche moralische Dilemmata und religiöse Konversionen zurückführen: Im Extremfall versteht man die Moralität oder Religiosität des anderen gar nicht, so dass es zu starken Konflikten in den beiden Bereichen kommt. Ein Beispiel aus der religiösen Sphäre sind die Mystiker, die oft von denjenigen angefeindet werden, die Religion als große Welterklärung oder als Glauben an Gott definieren. Man denke heutzutage an die Sufis in der islamischen Welt. Im Bereich der Moral kann es zu Spannungen zwischen Mitleid und Gerechtigkeit oder zwischen Loyalität und Vernunft kommen. Aufgabe der Ethik und der Religionsphilosophie ist es, solche Auseinandersetzungen in einen rationalen Diskurs zu überführen und nach den besseren Argumenten zu suchen. 4.2. Was sind die Implikationen der Unabhängigkeitsthese? Wenn Kernelemente unserer Moral wie Gegenseitigkeit, Altruismus und Mitleid älter als alle großen Religionen der Menschheit (Hinduismus, Buddhismus, Judentum, Christentum, Islam usw.) sind, dann ist es falsch, genau diese moralischen Haltungen im Nachhinein wieder aus den Religionen als deren Quintessenz herauszulösen. Das scheint mir ein Fehler des ansonsten noblen und gelehrten Weltethos-Projekts von Hans Küng zu sein. Auch die Rede von den ›jüdisch-christlichen Wurzeln‹ unserer Moral trifft nicht zu. Die Wurzeln liegen viel tiefer. Man kann bestenfalls sagen, dass unsere moralischen Vorstellungen durch Judentum und Christentum in einer bestimmten Weise gestützt, gefördert und weiterentwickelt wurden. Ein Beispiel ist die Idee der Menschenwürde, die es ganz sicher im Jungpaläolithikum noch nicht gab. Allerdings hat diese Idee auch säkulare Wurzeln, etwa im Stoizismus. Ganz falsch ist schließlich der Satz »Falls Gott nicht existiert, ist alles erlaubt«. Nicht nur achsenzeitliche Ethiken wie die von Aristoteles und Konfuzius, sondern auch alle Ansätze einer neuzeitlichen Moral- und Rechtsphilosophie, von Hobbes über Kant bis zu Rawls, sind säkular. Das bedeutet nicht, dass religiöse Menschen, Gemeinschaften oder Institutionen nicht viel zu moralischen Diskussionen beitragen könnten. Eine eigene Betrachtung wären unsere Kirchen wert. Als moderne Institutionen sind diese überdeterminiert, 45 https://doi.org/10.5771/9783495808375 .
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d. h. auf eine Vielzahl von Zwecken ausgerichtet, eben nicht nur auf religiöse, sondern auch auf moralische und politische. Insofern betrachte ich die Kirchen in Deutschland nicht als heilige Institutionen, sondern als hierokratische Verbände und zivilgesellschaftliche Akteure. 4.3. Zum Schluss komme ich zu den Folgerungen aus der Verankerungsthese. Entgegen aller kulturpessimistischen Unkenrufe muss man sich um die menschliche Moralität keine großen Sorgen machen. Sie ist viel älter als andere anthropologische Universalien. Der Mensch ist zwar das grausamste, aber auch das sozialste Tier, was auf Erden lebt. Und ohne verbindliche soziale Normen, d. h. ohne Moral, hätten die kleinen Horden unserer Vorfahren schon vor dem Jungpaläolithikum nicht überleben können. Auch in Zukunft werden eine funktionale Marktintegration und ein strafbewehrtes Rechtssystem allein den sozialen Zusammenhalt nicht sichern können: Deshalb werden wir Menschen weiterhin auf Moral angewiesen sein. 33 Zudem bleiben alle Wurzeln der Moral lebendig. Bei der Religion sieht es etwas anders aus. Wie ich gezeigt habe, ist sie jünger als die Moral, zumindest vor dem Jungpaläolithikum noch nicht stark entwickelt. Dennoch aber scheint das Ende der Religion unwahrscheinlich zu sein. Sie beruht auf der Endlichkeit des Menschen, vor allem angesichts der überwältigenden Größe der Natur, der Tiefe seines Innenlebens und seiner Suche nach dem Sinn des Negativen. Allerdings sind die Ströme, die aus den Quellen der Religion sprudelten, teilweise in andere Richtungen gelenkt worden. Die kognitiven Mechanismen, die zum Animismus führten, spielen in der wissenschaftlich-technischen Zivilisation keine Rolle mehr. Erfahrungen des Numinosen wird es immer geben, aber sie werden heute eher als ästhetische denn als religiöse gedeutet. Erhalten geblieben ist ohne Frage die dritte Quelle, der Weg ins Innere. Aber der schmale Pfad der Mystik ist wohl nur eine Sache für Minderheiten. 34 Ebenso wird die vierte Quelle weiter sprudeln, als Frage nach dem Sinn des Todes und dem Sinn des Lebens. Ob die Religionen darauf überzeugende Antworten haben, steht jedoch auf einem anderen Blatt. 35
33 34 35
Habermas 1981. Thies 2009. Thies 2008.
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Religion und Moral – die Urszene
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Michael Blume
Die Wiederkehr der Einhörner Eine pragmatische Analyse einer neureligiösen Glaubensbewegung
Über ein soziales Netzwerk erreichte mich im Sommer 2013 ein kurzer Videoschnipsel von knapp zwei Minuten, von dem inzwischen mehrere, meist hämisch kommentierte Kopien mit jeweils Tausenden von Zugriffen zirkulieren. Darin bekennt eine junge Frau in das Mikrofon eines offensichtlich aufmerksamen Interviewers, dass sie »schon immer das Gefühl gehabt hat, anders zu sein« und sich »in unserer Schule und Gesellschaft nie wirklich zuhause gefühlt« zu haben. Ihre Reise von vielen Jahren auf der Suche nach Antworten »endete« dann »in Irland«, als sie von »Zeichen« geführt, daran erinnert wurde, dass sie »schon einmal als Einhorn auf der Erde gelebt« habe. Die junge Erwachsene erklärte weiter: »In dem Moment wusste ich einfach, das ist die Antwort, nach der ich die ganzen Jahre vorher gesucht hatte. Also, ich hatte immer eine Ahnung, dass ich auf die Erde geschickt worden bin.« Inzwischen habe sie auch »schon vereinzelt andere inkarnierte Einhörner getroffen« 1.
1.
Lässt sich Einhorn-Glauben religionswissenschaftlich analysieren?
Nun ist man(n) auch als Religionswissenschaftler nicht immer auf alles gefasst, und ich darf einräumen, dass mir diese Ausdrucksform von Religiosität im ersten Eindruck kurios und befremdlich erschien. Die Perspektive, unter der ich seit vielen Jahren Religionen erforsche, ist die interdisziplinäre Evolutionsforschung, die bis auf Charles Darwin selbst zurückgeht. Der Entdecker der Evolutionstheorie, der seinen lebenslang einzigen Studienabschluss in anglikanischer Theologie erworben hatte, hatte in seiner Abstammung des Menschen von 1871 bereits Begriffe und Thesen formuliert, wonach kognitive 1
In meinem letzten Leben war ich ein Einhorn 2014.
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Die Wiederkehr der Einhörner
Veranlagungen etwa zur Überwahrnehmung von Wesenhaftigkeit und der Zuschreibung von Geisteszuständen (Mentalisierung) die Vorstellung höherer Wesen hervorgerufen hätten. Auf Basis dieser biologisch veranlagten, instinktiven Religiosität seien dann kulturelle, religiöse Traditionen möglich geworden, deren evolutionäres Erfolgspotential in einer Stärkung der glaubenden Gemeinschaften und der Verinnerlichung bewährter Regeln läge. Die evolutionäre Entwicklung verlaufe dabei von der intuitiven Vorstellung »unsichtbarer und spiritueller Wesenheiten« wie »Geister« bis hin zum Glauben an eine einzige, gute Gottheit. »Viele noch jetzt existierende abergläubische Züge sind die Überbleibsel früherer falscher religiöser Glaubensansichten. Die höchste Form der Religion – die großartige Idee eines Gottes, welcher die Sünde hasst und die Gerechtigkeit liebt – war während der Urzeiten unbekannt.« 2 In den vergangenen Jahrzehnten ist gerade auch in der Zusammenarbeit von Neuro- und Evolutionsbiologen mit Kognitions- und Sozialpsychologinnen, Soziologen, Historikerinnen und Religionswissenschaftlern an diese Forschungsperspektive wieder angeknüpft worden. Dabei wird zunehmend sorgsam unterschieden zwischen der von Darwin bereits ausführlich beschriebenen Religiosität (als Glauben an höhere Wesen, supernatural agents, ausgedrückt etwa im Gebet), der Spiritualität (als Fähigkeit zu beglückenden Entgrenzungserfahrungen, etwa in der nicht notwendig religiösen Meditation) und magischem Denken (als intuitiver Annahme von Zusammenhängen, etwa in der Homöopathie). In der Religionsgeschichte werden diese Aspekte zwar regelmäßig in religiösen Traditionen ›zusammengebacken‹, können aber auch unabhängig voneinander auftreten, werden von verschiedenen Gehirnregionen prozessiert und erfüllen evolutionär auch verschiedene Funktionen. Mein persönlicher Forschungsschwerpunkt ist der Zusammenhang von Religion und Demografie, der die durchschnittlich höhere Kinderzahl religiös vergemeinschafteter Menschen (besonders sichtbar bei Gruppen wie den Old Order Amish, Haredim, Mormonen etc.) erkundet. 3 Es erschien mir jedoch zunächst sehr fragwürdig zu sein, ob eine religionswissenschaftlich-evolutionäre Analyse auch den ›EinhornGlauben‹ überhaupt beschreiben könnte oder ob hier nur (um Darwins Formulierungen zu leihen) »abergläubische Züge« einer einzel2 3
Darwin 2005. Vgl. Blume 2013a. Gott, Gene und Gehirn 32012, 65–93.
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Michael Blume
nen Frau als »Überbleibsel früherer falscher religiöser Ansichten« zu konstatieren wären. Zugleich war mir aber auch bewusst, dass die Religionswissenschaft – im Gegensatz zu normativ und lehramtlich verorteten Theologien und Philosophien – auf solche Vor-Urteile und Vor-Wertungen religiöser Phänomene zu verzichten und diese stattdessen zunächst wissenschaftlich zu erfassen und zu beschreiben hat. Und unter den vielen überwiegend höhnischen Kommentaren unter dem Video stach einer heraus, mit dem sich ein Familienvater gegen den Shitstorm stellte. »Schön! Sie scheint mit ihrer Erkenntnis ihren inneren Frieden gefunden zu haben und das ist doch wohl ohne Zweifel die Hauptsache«, argumentierte er. Das erinnert an die pragmatistische Perspektive von William James (1842–1910), religiöse Aussagen nicht nur nach extern zugänglichen Wahrheits-, sondern nach individuellen Nutzwerten zu beurteilen. 4 Und tatsächlich gibt es religionswissenschaftlich zunehmend Anhaltspunkte, dass ein solcher individueller Pragmatismus nicht nur als wissenschaftliche These fruchtbar gemacht werden kann, sondern für vergleichsweise frei, sicher und wohlhabend lebende Menschen auch zunehmend handlungsleitend wird. So hat zuletzt Sebastian Murken Phänomene einer wachsenden, individualistischen »Wunschreligiosität« beschrieben, die nicht mehr den Dienst an oder auch nur die gegenseitig verbindliche Beziehung zu höheren Wesen in den Mittelpunkt stellt, sondern die eigenen Ansprüche. So würden »Engel«, aber auch »das Universum« selbst zu Wunscherfüllenden, wenn nur ausreichend stark an sie geglaubt würde: »Mein Wille geschehe!«. Murken zitiert Ulrich Becks Beobachtung dabei als zutreffend: »Die religiöse Postmoderne geht davon aus, dass die Wahl zwischen ›Wahrheiten‹ intellektuell unbegründbar ist und insofern pragmatisch getroffen werden kann und muss – und zwar unter dem Gesichtspunkt: ›was tut mir gut‹.« Um Randphänomene handelt es sich dabei längst nicht mehr. So verkaufte sich allein das Buch Bestellungen beim Universum. Ein Handbuch zur Wunscherfüllung von Bärbel Mohr nach seinem Erscheinen auf Deutsch 1998 binnen zehn Jahren 1,5 Millionen Mal; zudem haben sich eigene Publikationsreihen wie das Engelmagazin erfolgreich am Markt etabliert. 5 Selbst wenn eine evolutionär-funktionale Analyse zunächst wenig naheliegend schien, entschloss ich mich daher doch, auf den 4 5
James 1975. Murken 2009. Zu Engeln vgl. auch Blume 2013b.
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Die Wiederkehr der Einhörner
Spuren von William James religionspsychologisch zu erkunden, inwiefern die Selbstentdeckung als ›inkarniertes Einhorn‹ der jungen Frau als pragmatisch-individuelle Antwort auf die geschilderten Erfahrungen der gesellschaftlichen Entfremdung und Sinnlosigkeit erschienen war. Immerhin gehörte die Identifikation mit Totemtieren, die Menschen individuell und kollektiv auf ihren Lebensreisen begleiten, zu einem klassischen, schamanistischen Motiv und hat sich u. a. in den Wappentieren von Nationalstaaten, Sportteams und USamerikanischen Parteien (Elefant und Esel für Republikaner und Demokraten) gehalten. Und so entschloss ich mich, erkenntnisoffen und neugierig den (Huf-)Spuren zu folgen.
2.
Die Kultur- und Religionsgeschichte des Einhorns
Dass sich Einhorn-Symboliken in einem eigenartigen Spannungsfeld zwischen säkular-kindlichen und religiös-mythischen Bezügen befinden, wurde interessanterweise schon in der Frühzeit des Internets von religionskritischen Akteuren erspürt. Ab 1990 entfaltete sich mit der Kirche des Unsichtbaren Rosafarbenen Einhorns in Internetforen eine Religionsparodie, die mit der ›Verkündigung‹ von Einhorn-›Gebeten‹ und ›Ritualen‹ (wie dem opferreichen Ausmisten der himmlischen Ställe) transzendente Gottesvorstellungen veralberte. In eine Art ›theologische Krise‹ geriet das Spott-Projekt jedoch, als sich herumsprach, dass das Einhorn im kirchlichen Mittelalter tatsächlich als ein Symbol für Christus verstanden wurde, dem ja nun gerade nicht gedient werden sollte. Daraufhin setzten sich statt des Einhorns dann doch andere Religionsparodien wie vor allem die Kirche des fliegenden Spaghettimonsters auch im Netz stärker durch. 6 Historisch sind Sichtungsberichte über ›Einhörner‹ schon in der griechischen, ägyptischen und chinesischen Antike belegt. Beschrieben werden dabei vor allem indische Nashörner, auf Beobachter imposant-kraftvoll wirkende und nicht leicht zu erlegende Tiere, deren ›krönenden‹ Hörnern daher bis heute (magisches Denken!) heilende und erotisierende Wirkung zugeschrieben wird. Um diese Wesen seiner europäischen Leserschaft vorstellbar zu machen, verglich sie etwa der griechische Arzt Ktesias, der um etwa 400 v. Chr. am persischen Königshof diente, mit »wilden Eseln, so groß wie Pferde«. Beim chi6
Suckling 2007, 94–98.
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Michael Blume
nesischen Einhorn, dem Qilin, setzte sich dagegen als Vergleich und Vorstellung ein Hirschkörper durch. Auch schon Julius Cäsar (100– 44 v. Chr.) berichtete so in seinem Bericht vom Gallischen Krieg, gehört zu haben, dass solche Tiere in den germanischen Wäldern lebten. Aelian (ca. 170–235 n. Chr.) erwähnte nicht nur, dass »die Inder aus diesem vielfarbigen Horn« tränken, da dieses heile und gegen Gifte immunisiere, sondern berichtete auch, dass nur ein Einhorn-Weibchen den männlichen Einzelgänger zähmen könne. 7 In die religiös-kirchlichen Traditionen floss das Einhorn ein, da es mit dem Hebräischen ›rem‹ in Hiob 39,9 identifiziert und also biblisch ›kanonisiert‹ wurde. In der griechischen Bibelübersetzung der Septuaginta wurde es als ›Monoceros‹ übersetzt, in der lateinischen Vulgata als ›Rhinocerus‹ und ›Unicornus‹. Aufgrund seiner Vergesellschaftung mit einer Krippe identifizierte bereits Bischof Basilius von Caesarea (330–379) bei einer Auslegung des Hiob-Buches das Tier dann sogar mit dem Erlöser selbst: »Christus ist die Macht Gottes, darum ist er das Einhorn genannt.« 8 Und auch Martin Luther übersetzte die Stelle im Buch Hiob: »Meinst du, das Einhorn werde dir dienen und werde bleiben an deiner Krippe? Kannst du ihm ein Joch anknüpfen, die Furchen zu machen, dass es hinter dir brache in Gründen?« 9
Die Verknüpfung weltlich-magischer und religiöser Bezüge bescherte dem Einhorn in der europäischen Geistesgeschichte stetig weiter wachsende Popularität. Schon in antiken und mittelalterlichen Legenden und Bestiarien (Buch-Zusammenstellungen spektakulärer Tiere) gehörte es zu den zunehmend populären Wesen. Aber auch zum Beispiel Hildegard von Bingen (1098–1178) benennt die Heilkraft von Einhorn-Zutaten. Vermeintliche Einhorn-Hörner (bei denen es sich etwa um die Zahn›hörner‹ von Narwalen handelte) wurden bis ins 18. Jahrhundert an Fürstenhöfen hoch geschätzt. Der Mythos um das halb-legendäre Tier wurde dabei in Wechselwirkungen volkstümlicher und theologischer Erzählungen immer weiter ausgearbeitet: So lebt das Einhorn frei und glücklich (wie Christus beim Vater), bis es von einer reinen Jungfrau (wie Maria) gezähmt (in die Welt geboren) wird. Damit aber ist sein tragisches Schicksal
7 8 9
Cherry 1997, 72. Cherry 1997, 74. Luther 1534/1912, Hiob 39, 9–11.
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Die Wiederkehr der Einhörner
besiegelt, denn gierige, gnadenlose Jäger (die Mächte des Bösen) können es nun hetzen, fangen, ja verwunden und töten. Darstellungen des Todes durch die Lanze eines Jägers beziehen sich dabei oft auf die Bildsymbolik der Heiligen Lanze, mit der der Heilige Mauritius Jesu Tod am Kreuz überprüft und dabei dessen Seite geöffnet habe. Das Einhorn (Christus) siegt aber wunderbar und auch dank des ausharrenden Glaubens treuer Anhängerinnen und Anhänger, Erlösung und Wiedergeburt der gesamten Schöpfung symbolisierend. Im Zuge dieser Deutungen wird das Einhorn – bei aller bleibenden Wildheit, Stärke und Schnelligkeit – in den Darstellungen zunehmend mit dem Jesuslamm verbunden und also immer häufiger weiß und lieblich vorgestellt. Entsprechend finden sich Einhorn-Darstellungen nicht nur auf mittelalterlich gewachsenen Wappen und Heilkunde- bzw. Apothekenschildern, sondern auch in alten katholischen Kirchen. Erst im Zuge der Gegenreformation verbot das Tridentinische Konzil ab 1563 seine Verwendung als Mittel der Verkündigung und überließ das Motiv damit der ›weltlichen‹ Kultur. Diese konnte schon an die mittelalterliche Minne anknüpfen, die das Einhorn als Symbol zarter Liebe auch »säkular« verwendet hatte, beispielsweise in poetischen, musikalischen und künstlerischen Darstellungen oder auch als minnehafte Applikation etwa auf Geschenken oder Möbeln. Nun konnte es, identifiziert mit der Liebe selbst wie auch mit der minnehaft Verehrten, auch zunehmend als weiblich vorgestellt werden. Während das symbolische Wesen in den kirchlichen Theologien also weitgehend in Vergessenheit geriet (und zunehmend auch aus den Hiob-Übersetzungen getilgt wurde), wurde es so zu einem in Märchen und Romanen beliebten Fabeltier. 10 Über den breiten Bereich populärkultureller Fantastik entfaltete sich das Einhorn gerade auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem beliebten Identifikationsobjekt der Alltagskultur, das in Filmen, Büchern, Spielen, Plüschfiguren, Kunst und Werbung nicht nur für Kinder immer wieder aktualisiert wird. Es vermag dabei nicht zuletzt Erinnerungen und Emotionen auch Erwachsener anzusprechen, weil es einerseits an biografisches sowie vorbewusstes, mythisches ›Wissen‹ anknüpft, aber nicht ausdrücklich als religiös erkannt und bewertet wird. Das Einhorn bildet gewissermaßen eine implizite Brücke zwischen den Sphären der romantisierend-säkularen 10
Cherry 1997, 68–111.
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Fantastik und mittelalterlich-christlichen Hoffnungen – und verkörpert damit zugleich gerade auch für moderne Menschen eine schwer artikulierbare Sehnsucht nach einer entschwindenden, »wiederverzauberten« Weltdeutung.
3.
»The Last Unicorn« von 1982
Stellvertretend für den anhaltend großen Erfolg des mythischen Fabelwesens sei der Fantasy-Roman von Peter Beagle Das letzte Einhorn von 1968 genannt, der in zahlreichen Auflagen und Sprachen erschien. 1982 wurde der Roman unter gleichem Titel als Zeichentrickfilm zu einem Dauererfolg, dessen effektvolle Filmmusik von Jimmy Webb das Motiv von Hoffnungslosigkeit, Sterben und Wiedergeburt besingt. Dabei wechseln traurige und hoffnungsfrohe Passagen, kulminierend im jubelnd-triumphierenden Lachen des Einhorns: »I’m alive!«. Auch die Filmhandlung selbst, die in einem Fantasy-Mittelalter mit Rittern, Hexen und Zauberei spielt, orientiert sich eng am Mythos mittelalterlicher Minne und scheut religiös-mythische Anklänge auch in der teuflisch-feurigen Darstellung des jagenden ›roten Stieres‹ nicht. Die Mächte des Bösen sind hier nicht nur auf Herrschaft und Vernichtung aus, sondern wollen die Welt ihrer Natürlichkeit, Lebendigkeit und liebevollen Verzauberung berauben; niemand soll mehr auf ein Einhorn hoffen dürfen. Dabei gilt von Anfang an, dass nur jene das Einhorn als Einhorn erkennen können, die auch an Einhörner ›glauben‹ – Nichtglaubenden erscheint das Tier nur als schöne, aber gewöhnliche, weiße Stute. Auch das Internet scheint dabei die anhaltende Wirkung der Einhorn-Symbolik nicht aufzulösen, sondern eher zu verstetigen: Eine auf YouTube im August 2012 eingestellte, deutschsprachige Kopie des Films wurde bis Anfang Januar 2014 bereits über dreihunderttausendmal abgerufen. Von 1388 abgegebenen Voten (Daumen rauf oder runter) dazu fielen 1320 (95,5 %) positiv aus. Auch in den über zweihundert Kommentaren dominiert begeisterte Zustimmung. So schreibt eine Userin namens Daniela Gippner (Orthographie jeweils im Original): »das letzte einhorn ist der schönste Film den ich je gesehen habe.« Eine weitere (Sophie Arndt) stimmt zu: »Ein Muss für mich zu Heilig Abend. Ich liebe den Film & das Lied« Und ein Stephan Krings ergänzt: »du das geht mit 33 auch noch. liebe diesen film seit meiner kindheit … und ich gestehe ich heul schon beim intro rotz 56 https://doi.org/10.5771/9783495808375 .
Die Wiederkehr der Einhörner
und wasser das schaffen nicht viele filme.« Und einzelne Stimmen wie Theinuyashagirl17 bekennen schließlich: »also ich glaube an einhörner. Da kann mir niemand das gegenteil beweisen. Der schmetterling sagt ja, dass einhörner für die sichtbar sind, die daran glauben, und sie suchen« 11.
4.
Einhorn-Mythen in Vergemeinschaftungen
An dieser Stelle der Recherchen vertrat ich noch die Hypothese, wonach die interviewte Frau wie vielleicht auch andere Fantasy- und Filmfans den Einhorn-Mythos aus der Fantastik einfach individuell für sich adaptiert und dabei möglicherweise auf Kindheitserfahrungen zurückgegriffen hätte. Doch es stellte sich heraus, dass diese individualisierende Annahme nicht zu halten war. So handelte es sich bei dem vielfach kopierten Videoschnipsel um einen Ausschnitt aus einem längeren Interview, das im Rahmen des Einhorn-SommerCamps 2012 in Kassel aufgenommen worden war. In diesem seit 2011 jährlich von Melanie Missing (Kassel) ausgerichteten, mehrtägigen Veranstaltungsformat bieten überwiegend weibliche Verkünderinnen einer ebenfalls überwiegend weiblichen Anhängerschaft EinhornVorträge, -Meditationen und Gesprächskreise an. Im Zentralsymbol der Veranstaltungsreihe erscheint ein Einhorn vor einem blühenden Apfelbaum, eingehegt in einen Regenbogen. Die Beschriftung dazu lautet ›Garten Eden‹ und spielt also verheißungsvoll auf den Paradiesgarten der biblischen Genesis an. Melanie Missing weiß dabei auf ihrer Homepage von einem Verkündigungsauftrag, begonnen »am 09. 09. 2009«, zu berichten, der durch den »Hohen Rat der Einhörner« an drei Frauen als »Schwestern Avalons« 12 ergangen sei: »Die Einhörner verbinden uns mit dem Goldenen Zeitalter Avalons und übergeben uns den Schlüssel um unser Vermächtnis anzunehmen. Wir können nun in diese Welt eintreten um sie in unserer Zeit wieder sichtbar zu machen. Der Hohe Rat der Einhörner rief uns Schwestern Avalons – Melanie Missing, Jeanne Ruland und Anne-Mareike Schultz – zusammen um dieses Vermächtnis in die neue Zeit zu bringen und die Energien in Form der Essenzen wieder zu erfahren. In der Verbindung zu Avalon be11 12
The Last Unicorn 2014. Vgl. Zimmer-Bradley 1987.
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ginnt eine Melodie in unserem Herzen zu spielen die unsere Seele in den Klang der Erinnerung versetzt. Hörst auch Du die Melodie, den Ruf Avalons in Dir dann bitten Dich die Einhörner Dein eigenes Vermächtnis wieder anzunehmen und die Nebel zu lüften von denen es umgeben ist. Die Feuer der Insel leuchten strahlend hell und zeigen Dir den Weg, auf Deine inneren Schätze zu vertrauen und sie in Liebe getragen in die Welt zu bringen.« 13
Viele der angebotenen Veranstaltungen und auch Interviews werden dabei per Webcam aufgezeichnet und über den YouTube-Kanal DelphinTV ins Netz gestellt, wo sie teilweise mehrere Tausend Zugriffe verzeichnen. DelphinTV versteht sich dabei als Ein-Mann-»Kanal für alle Themen der Neuen Zeit« und bekennt das Internet als Chance, diese Botschaft zu verbreiten. »Unser Ziel ist es, möglichst viele Information der neuen Zeit möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen und der einfachste Weg dorthin sind Videos. Das erste Ziel, dieses dann für die Zuschauer auch noch kostenlos zu bewerkstelligen, war einfach durch YouTube zu erreichen.« Die Finanzierung erfolge durch einen »Sockelbetrag« der Aufgezeichneten sowie durch Spenden. 14 So zeichnete beispielsweise das Video Melanie Missing – Heilreise in das Land der Einhörner – Meditation eine von Musik begleitete Gruppenmeditation vom Einhorn-Sommer-Camp 2012 auf, wobei neben der Schwester Avalons und dem Musiker auch die in einem Veranstaltungszelt versammelten Meditierenden aufgenommen wurden. Es handelt sich um rund einhundert überwiegend weibliche Teilnehmende vor allem mittleren Alters, aber auch um einige Männer, Seniorinnen und Kinder. Sie werden von Melanie Missing eingeladen, sich mit geschlossenen Augen auf eine halbstündige »Reise in das Land der Einhörner« zu begeben, wo ihnen die himmlischen Tiere begegnen, sie in »ihrer Herde begrüßen« und ihnen »Licht« sowie »Wärme« und »Farben« schenken. Anfang Januar 2014 verzeichnete das Video knapp 3.800 Zugriffe. 15 Die Veranstalterin Melanie Missing bewirbt die Einhorn-Sommer-Camps sowie verschiedene Produkte wie Einhorn-›Essenzen‹ (u. a. gesegnet von Erzengeln, Mutter Maria und Jesus) sowie Ein13 14 15
http://www.einhornessenz.de am 18. 1. 2014. Orthografie so im Original. http://www.delphintv.de am 19. 1. 2014. Melanie Missing – Heilreise in das Land der Einhörner – Meditation 2013.
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Die Wiederkehr der Einhörner
horn-Kalender und Einhorn-Kerzen über ihre bereits erwähnte Homepage www.einhornessenz.de sowie über soziale Netzwerke wie Facebook. Sie und die anderen Schwestern Avalons bieten zudem Seminare und Schulungen in Tagungszentren und Buchhandlungen in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Italien an. Und sie sind damit längst nicht mehr alleine: Die Angebote auf den Sommer-Camps wurden von einer ganzen Reihe weiterer Verkünderinnen geleistet, die jeweils wiederum eigene Home- und Fanpages unterhalten. So schöpft beispielsweise Sonja Ariel von Staden auf ihrer Facebook-Präsenz nicht nur das Freundschaftspotential von 5.000 Kontakten voll aus, sondern verfügt darüber hinaus über 3.000 überwiegend weibliche Abonnierende. Auch sie bietet viel religiösspirituellen Zuspruch und Produkte wie Seminare, Bücher, Gemälde und bedruckte Tassen mit Einhorn- und Engelsymboliken an. 16
Die interviewte Einhorn-Bekennerin: Julia Jannsen Und hier löst sich auch das ›Rätsel‹ um das Video, mit dem die Studie eröffnet worden war: Bei der Interviewten, die sich zu mindestens einem früheren Leben als Einhorn bekannte, handelt es sich ebenfalls um eine Verkünderin namens Julia Jannsen. Sie wohnt in Hamburg und betreibt die Online-Präsenz www.unicorn-network.de, auf der sie spirituelles Coaching, Seminare, Energiearbeit, aber auch verschiedene »Essenzen« (Einhorn, Meerjungfrau etc.) anbietet. Einhörner benennt sie als »Träger der Christusenergie« und führt in ihrer Selbstvorstellung aus: »In der Indigo & Regenbogenenergie geboren, besitze ich schamanische Wurzeln & mediale Fähigkeiten, die ich von meinem Großvater geerbt habe. Mit dieser Gabe, meinen hellsichtigen & hellfühlenden Fähigkeiten, ist es mir möglich seelische, körperliche und geistige Blockaden zu erkennen. Als Kanal für universelle Energie werden somit Transformationen, spirituelle Prozesse, sowie Selbstheilungskräfte aktiviert und/oder initiiert. Als Medium channele ich Seeleninformation, die mir von dem höheren Selbst oder der geistigen Welt für die Person übermittelt werden. Ich diene hier als Brücke zwischen den Dimensionen und öffne damit den Zugang zu dem persönlichen spirituellen Tor.
16
https://de-de.facebook.com/sonja.ariel.von.staden am 19. 1. 2014.
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Michael Blume
Ich arbeite mit der Energie der Elementarwesen (Einhörner, Meerjungfrauen, Drachen, Elfen, Feen etc.), den Erzengeln, aufgestiegenen Meistern sowie den Elementen und den Essenzen der Natur. Meine Ausrichtung ist die göttliche Liebe & Wahrheit, daher werden die geführten Sitzungen, Readings und Energiebehandlungen in einem heiligen Raum ausgeführt.« 17
Um 2010 legte Julia Jannsen im Wagner Verlag ihre erste Autobiografie mit dem Titel: Sternenkind. Die Reise zurück zu (m)einer Wahrheit vor. Darin schildert sie ihren Weg als junge Frau auf der Suche nach Halt, Sinn und Zugehörigkeit: »Ganz allmählich erahnte ich den Sinn meines kunterbunten Werdegangs. Da dieser nichts mit vorgegebenen Konventionen zu tun hatte, musste ich eine Menge einsame Momente in Kauf nehmen und immer wieder Vorurteile durchbrechen. Mein Leben schenkte mir jede erdenkliche Möglichkeit, um zu erfahren, zu sehen und zu lernen. Ich lebte mit Punks auf der Straße, drückte mit ›Bonzenkids‹ die Schulbank, während meine Ratten im Nacken schliefen. Ich kokste mit Werbern, kiffte mit Hippies, um immer wieder an denselben Punkt zu gelangen. Es musste doch um mehr im Leben gehen als das, was sich gerade vor meinen Augen präsentierte. Ich unterhielt mich mit Studierten und mit Künstlern, Verrückten und Verkorksten sowie Geschniegelt und Gestriegelten, ein jeder gefangen in seiner Fasson. Ich durchstreifte jede Schublade, die unsere moderne Gesellschaft bereithält, ohne jemals Bestandteil einer speziellen zu werden. […] Doch wo war nun der Platz für mich? Für diese Antwort hatte ich nicht nur alte Leben, sondern auch Vertrautes, Freunde und Familie hinter mir lassen müssen, getrieben von der Suche nach meiner Realität und meiner Wahrheit.« 18
Auf dieser Reise, die durch mehrere Stationen und oft als eintönig beschriebene Arbeitsplätze sowie europäische Länder führte, verpflichtete sich Julia Jannsen selbst zum Verzicht auf alle Drogen, um »sich selbst« tatsächlich »zu spüren«. Und doch schilderte sie den Bedarf, die individuell als passend erlebten Narrative auch sozial bestätigen zu lassen. »Wann immer ich auf Engel oder Elfen zu sprechen kam, wurde ich entweder mit einem milden Lächeln oder genervten Reaktionen konfrontiert: »Ach, du mit deinem Esokram«, und damit war dann jegliche Konversation im Keim erstickt.« 19
17 18 19
http://www.unicorn-network.de am 19. 1. 2014. Jannsen 2010, 54–55. Jannsen 2010, 111.
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Umso kostbarer sei die Begegnung mit Menschen, die »sie auch sehen könnten«, woraus unmittelbar eine »Verbindung« entstehe: »Wenn man plötzlich seine eigene Wahrheit bejaht, egal, wie abwegig diese für andere auch aussehen mag, und dann eine Bestätigung bekommt, ist man mit einem Mal nicht mehr der schräge Außenseiter, nur weil man mit Bäumen spricht oder Engel in den Wolken erkennt. Diese Erlösung fühlt sich an wie Weihnachten, Geburtstag, Ostern und ein Lottogewinn zusammen, nur besser, denn es handelt sich dabei nicht um eine materielle Erfüllung, sondern um das Verbinden alten spirituellen Wissens, das seit Jahrtausenden existiert. Dann jubelt die Seele, denn es ist ihre Sprache, die endlich Gehör findet.« 20
Neben Büchern und Gesprächen nutzte die Suchende dabei »natürlich« auch das »Internet«, denn die (zunächst) »drei Personen, mit denen ich meinen Glauben teilte, wohnten alle nicht in Hamburg.« 21 Und so gewann das Web zunehmend an Bedeutung, wie die Autorin berichtet: »So surfte ich im Netz auf der Suche nach Botschaften und Hintergründen über unser Dasein auf der Erde. Hier fand ich oft Bestätigungen, was meinehni eigenen Prozessen und vor allem auch Gedanken entsprach, und es tat gut zu wissen, dass es anderen Menschen ähnlich erging wie mir. Das Erwachen in die neue Energie sowie die Herausforderungen, die diese Transformation mit sich brachte, waren eben Informationen, die ich weder in einer Tageszeitung noch in einem Geoheft hätte finden können.« 22
Und so entdeckte sich Frau Jannsen als Bestandteil einer »neuen Generation«, die sich als »Indigo- oder Regenbogengeneration« sowie auch als »Sternenkinder« verstünden, die »so genannten Lichtarbeiter«. Zu diesen Wesen schreibt sie: »Alle folgen sie einer göttlichen Mission und sind hier, um dem Planeten und der Menschheit zu dienen. […] Wir kommen aus den unterschiedlichsten Teilen des Universums und treffen uns auf der Erde, dem Planeten des freien Willens, für unser Seelenwachstum. Doch gibt es eben auch »Menschen«, die Engelanteile oder Elementaranteile in ihrer Seele tragen, und zu denen gehöre ich.« 23
Sie selbst habe dabei nicht nur den Kampf gegen Drogen, sondern auch die Aussöhnung mit ihren – inzwischen getrennt lebenden – 20 21 22 23
Jannsen 2010, 110. Jannsen 2010, 138. Jannsen 2010, 174. Jannsen 2010, 187.
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Eltern leisten müssen. 24 Auch mit der neuen Partnerin ihres Vaters, die »offen für spirituelle Glaubensansätze« gewesen sei, gelang die Konstruktion einer gemeinsamen narrativen und emotionalen Basis, als die beiden feststellten, dass Julia »wohl in einer vorangegangenen Inkarnation ihre Tochter gewesen« war. 25 Und so konnte die Autorin den ersten Teil ihrer Autobiografie (eine Fortsetzung ist angekündigt) mit einer Schilderung ihres »Erwachens« schließen, denn sie habe »den letzten Puzzlestein gefunden, die Antwort, nach der ich all die Jahre gesucht hatte. […] Von nun an würde ich mein ›Anderssein‹ als Segen empfinden können und der lange, mühsame oft steinige, durch Missverständnisse gekennzeichnete Weg hatte sich gelohnt. Dieser Erkenntnis lag eine Erlösung zu Grunde, die in Worte kaum zu fassen ist. […] Nun konnte ich meiner Vergangenheit mit offenem Herzen begegnen, den göttlichen Plan, der sich hinter ihrer Geschichte verbarg, erkennen, denn ich hatte die Antwort auf alle meine Fragen gefunden: die göttliche Liebe!!!« 26 Wie auch immer Außenstehende also diese spezielle, religiöse Mythologie bewerten wollen; nach William James wird man ihr die Qualität subjektiver religiöser Erfahrung sowie individuellen und sogar sozialen »Nutzwert« nicht absprechen können. Aus der religiösen Innenperspektive handelt es sich beim Verkündigungsauftrag der »Sternenkinder« ohnehin um ein Generationen überspannendes Projekt, sodass ein kleiner, aber tendenziell wachsender Kreis aus Zustimmenden ausreicht, die Mythologie zu beglaubigen.
5.
Warum auch noch Einhörner?
Zum Einhorn-Sommer-Camp 2012 trug Frau Jannsen – inzwischen auch selbst Mutter eines Sohnes – neben dem eingangs erwähnten Interview auch einen etwa 45-minütigen, biografischen Vortrag bei, der von Delphin-TV aufgezeichnet wurde und auf YouTube inzwischen knapp 5.000 Zugriffe verzeichnet. Hier also bekennt sie, umlagert von Zuhörerinnen und vereinzelten Zuhörern, ein inkarniertes Unicornus zu sein und verkündet: »Die Einhörner kommen zu24 25 26
Jannsen 2010, 190. Jannsen 2010, 129. Jannsen 2010, 200–201.
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rück!«. 27 Warum aber Einhörner, wo doch auch bislang schon Engel, Außerirdische und Elementarwesen verfügbar gewesen sind? In ihrem Vortrag betont Frau Jannsen wie viel »Mut« es erfordere, sich gerade auch zu diesem Fabelwesen »zu äußern« – ein Motiv, das sie auch auf ihrer Homepage ausführt: »Die Einhörner gelten vielerorts als Fabeltiere und sind wie die Elementarwesen, zu denen Elfen, Feen, Trolle, Kobolde, Meerjungfrauen, Wassernymphen etc. zählen aus dem menschlichen Bewusstsein und unserer westlichen Kultur verschwunden. Viele Jahre waren die Engel, wenn überhaupt, die einzigen Bezugswesen aus feinstofflichen Ebenen (höheren Dimensionen, wobei hier die Energieschwingung als »höher« bezeichnet wird) für die Menschen. In der Gesellschaft ist der Glaube an ihre Existenz »gesellschaftsfähig« und wer von Engeln spricht, kann sich immer noch frei und respektiert in seinem Umfeld bewegen. Doch sobald man das Lebensalter von 5 Jahren überschritten hat und weiterhin sehr überzeugt von Feen und Einhörnern spricht, wird man meist nur mit einem milden Lächeln konfrontiert. Die Folge davon, man entschließt sich dann irgendwann den Mund zu halten. Dies mag dann auch ein paar Jahre, oder sogar Jahrzehnte hervorragend funktionieren. Doch irgendwann stellt man erinnernd fest, dass »etwas« ganz wichtiges fehlt … doch was? Mühsam, denn der Nebel ist über all die Jahre sehr dicht geworden, macht man sich auf die Suche. Langsam und mit viel Mut verbunden, lichtet sich der Dunst. Die Blumen leuchten in ihren ursprünglichen Farben, die Bäume erkennt man als wissende Wesen und der Wind erzählt endlich wieder seine Geschichten. Das Herz öffnet sich für die Sprache der Elementare und man fängt an zu begreifen: Magie! Die ›kleinen‹ Freunde aus längst vergangen Tagen klopfen an die Tür und jetzt kann man sie wieder willkommen heißen. Dankbar, dass sie einen nicht vergessen haben, so wie der Mensch. Doch dann kommt die größte Prüfung, denn natürlich möchte man seine Welt mit anderen teilen- und dann erinnert man sich, warum man unsere Freunde aus dem Feenreich vergessen hat.« 28
Es ist also gerade der Umstand, dass mit dem gläubigen Bekenntnis zu Einhörnern Reputationsverlust und soziale Isolation riskiert und in Kauf genommen wird, der diese Glaubensaussage zur ›größten Prüfung‹ werden lässt! Die gegenseitige Bereitschaft, Einhorn-Wahrheiten einerseits auszusprechen und andererseits gelten zu lassen wird damit zum Sig-
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Die Einhörner kommen zurück 2012. http://www.unicorn-network.de am 18. 1. 2014.
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nal, zu einer bereits spirituell besonders gereiften, wenn nicht gar auserwählten Schar (bzw. Herde) zu gehören. Damit wird die Unterscheidung zwischen vertrauenswürdigen Mit-Glaubenden und Nichtglaubenden über das Wagnis der gesellschaftlich verlachten, symbolischen Erzählung erreicht, die in den gewachsenen, etablierten Religionen durch gemeinsame Glaubensbekenntnisse, Rituale, Kleidungs-, Speise- und Opfergebote hergestellt wird. 29 Religionsgeschichtlich neu ist diese bestätigende Umdeutung von Hohn und vermeintlicher ›Torheit‹, die nur von den Glaubenden als ›Weisheit‹ erkannt werden kann, dabei gerade nicht. So äußert sich auch schon Paulus im ersten Korintherbrief über den Spott sowohl jüdisch wie hellenistisch gebildeter Zeitgenossen, den der Glauben an einen gekreuzigten und doch wieder auferstandenen Messias hervorruft: »Denn Juden fordern ein Zeichen und Griechen suchen Weisheit, wir aber verkündigen Christus, den Gekreuzigten, für Juden ein Ärgernis, für Griechen eine Torheit; denen aber, die berufen sind, Juden wie Griechen, [verkündigen wir] Christus als Gottes Kraft und Gottes Weisheit. Denn das Törichte Gottes ist weiser als die Menschen und das Schwache Gottes ist stärker als die Menschen.« 30
Ganz abgesehen davon, dass einige Glaubende – wie wir gesehen haben – das Einhorn direkt mit Jesus, Maria, Erzengeln und »Christusenergie« in Verbindung bringen, beschreibt gerade der letzte, zitierte Paulus-Sitz so etwas wie ein Grundmotiv der Einhorn-Netzwerke: Gegen das als materialistisch und reduktionistisch, nur geld- und leistungsorientiert empfundene Weltwissen wird eine höhere, göttliche Weisheit in Anspruch genommen, die sich schließlich durchsetzen und so die heute herrschenden Eliten beschämen werde. Solange eine ausreichend große oder gar wachsende Zahl von Unterstützerinnen und Unterstützern diese alternative Weltdeutung aufrechterhält, ist sie damit auch gegen Kritik immunisiert, schließlich »bewahrheitet« sie sich im Erleben der Glaubenden.
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Norenzayan 2013. 1. Kor. 1, 22–25.
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Die Wiederkehr der Einhörner
6.
Religionsgeschichtliche Wurzeln in den Engel- und UFO-Szenen der USA
Gerade aber bei solcherart ausgearbeiteten Mythologien, Vergemeinschaftungs- und auch Produktformen, wie sie hier entgegen dem ersten Anschein hervortraten, liegt es religionswissenschaftlich nahe, nach den Traditionsströmen zu suchen, aus denen sie geschöpft wurden. So beruft sich Julia Jannsen sowohl in ihrem Buch wie auch in ihrem Einhorn-Vortrag auf die US-amerikanische Bestsellerautorin Diana Cooper, deren Buch Das Wunder des Einhorns: Begegnung mit den erleuchteten Wesen der siebten Dimension im Jahr 2008 (und damit ein Jahr vor der Berufung der ›Schwestern Avalons‹) ins Deutsche übersetzt wurde und inzwischen mehrere Auflagen erzielt hat. Von einigen ihrer Zuhörerinnen beim Einhorn-Camp 2012 wurde dabei die Berufung auf dieses Buch mit sicht- und hörbarer Zustimmung quittiert. 31 Tatsächlich finden sich bei Cooper nicht nur bereits die wesentlich ausgearbeiteten Motive sowie die Veranstaltungs- und Produktpaletten ihrer späteren, deutschsprachigen Schwestern, sondern auch die Verknüpfung der Einhorn-Symbolik mit Engeln einerseits und mit anderen Planeten und ›multidimensionalen‹ Orten wie Sirius und Atlantis andererseits. Die Namen, Begriffe und Motive schöpft sie dabei aus dem Bereich der esoterischen Engelstraditionen und der bereits von Carl Gustav Jung als »Engel in Raumanzügen« gedeuteten UFO-Religionen – und ergänzt sie um Motive der Fantasy-Literatur, insbesondere Einhörner. 32 Besonders starke, inhaltliche Bezüge werden zu Traditionen der bis heute bestehenden UFO-Religionsgemeinschaft der UnariusAkademie sichtbar, die 1954 in Los Angeles, Kalifornien, von dem Elektrotechniker Ernest Norman (1904–1971) ins Leben gerufen wurde und den Anspruch erhebt, eine »interdimensionale Wissenschaft« zu erkunden. Darin bekennen sich die (überwiegend männlichen) Glaubenden zu »Einsichten« in ihre früheren Leben auf fernen, hoch technologisierten Planeten und Raumflotten, die jedes einzelne Mitglied – teilweise über Millionen von Jahren hinweg – für seine besonderen Aufgaben auf der Erde vorbereitet habe. Höhere Wesenheiten wie besonders Engel wurden hierbei konsequent als 31 32
Die Einhörner kommen zurück 2012. Cooper 2008., Vgl. Blume 2013b.
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Außerirdische (bzw. Außerdimensionale) gedeutet, die fortlaufend Botschaften an ihre »Sternengeschwister« übermittelten. Ernest Norman selbst erinnerte sich an sein Vorleben als Jesus Christus. Diese Botschaften und Erinnerungsberichte aus früheren Leben wurden von glaubenden Unariern zunehmend nicht nur erzählt und verschriftet, sondern in Kleinkunstwerken wie Gedichten und Gemälden zum Ausdruck gebracht und auch der Öffentlichkeit angeboten. Nach Normans Tod übernahm seine Frau Ruth als »Königin der Erzengel« die Führungsrolle, auf die wiederum nach ihrem Ableben 1993 Louis Spiegel als »Sternenfürst Antares« folgte. Seit dessen Verscheiden 1999 verantwortet ein 16-köpfiger Unarius-Rat die Leitung der längst international operierenden Gemeinschaft, der unter anderem Männer und Frauen mit Verkündigungen beauftragt. 33
7.
Fazit: Einhörner als produktiver Aspekt von Religionsgeschichte
In der Summe komme ich also – entgegen meiner Ausgangshypothese – zu dem Schluss, dass es sich bei den inzwischen auch im deutschsprachigen Raum entfaltenden Formen des Einhorn-Glaubens gerade nicht nur um individuelle Konstruktionen handelt, sondern um die gemeinschaftliche Aneignung und Auslegung vor allem in den angelsächsischen Ländern gewachsener Engels- und UFO-Traditionen. Dabei nahm die Erweiterung und Verwandlung dieser Erzählmotive um Einhörner den generellen, populärkulturellen Aufschwung von Fantasy-Literatur seit der Mitte des 20. Jahrhunderts auf, der sich durch Erfolgsautoren wie J. R. R. Tolkien, C. S. Lewis (Jesus als Löwe in Narnia!), Peter Beagle und Marion Zimmer-Bradley manifestierte. Interessanterweise werden Einhorn- und Avalon-Symboliken, Erzähl- und Ritualformen stärker von weiblichen Suchenden aufgegriffen, wogegen in der Anhängerschaft gewachsener UFO-Religionen Männer und ein Science-Fiction-Jargon überwiegen. Während manche Glaubende auch die Einhörner durchaus im Sinne einer nur individuellen »Wunscherfüllungsreligiosität« nach Murken interpretieren dürften, scheint für das auch soziale Phänomen insgesamt das Konzept des »spirituellen Wanderers« ergiebiger zu sein,
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Partridge 2003, 62–82.
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wie es Christoph Bochinger, Martin Engelbrecht und Winfried Gebhardt 2009 vorschlugen. Dabei würden die zunehmend realisierte Religionsfreiheit und die Möglichkeiten neuer Medien zur Information und Vernetzung genutzt, um den je »eigenen Weg« zu finden und sich aber auch sozial bestätigen zu lassen: »Die Situation der Spirituellen Wanderer unterscheidet sich zunächst darin grundlegend von der ihrer historischen Vorgänger, dass es viel mehr Weggenossen gibt. Das Wandern ist nicht mehr allein eine Sache von Eliten (wie noch in der Goethezeit), sondern eine Sache der Alltagskultur bzw. Alltagsreligion geworden.« 34 Wo die klassische Esoterik (aus griechisch = innere Lehre) noch einen abgeschirmten Kreis Eingeweihter adressierte, nutzen heutige Formen dabei gerade auch die Partizipationsmöglichkeiten der neuen Medien, um möglichst vielen Interessierten die eigenen Narrative möglichst umfassend anzubieten; bis nun auch zum kostenpflichtigen Engagement spezialisierter Anbieter, die Videoaufzeichnungen anfertigen und auf YouTube kostenfrei und werbewirksam zur Verfügung stellen. Jede und jeder ›spirituelle Wanderer‹ erlebt sich dabei eingeladen, individualisierte, religiöse Selbsterzählungen beizutragen, die jedoch dadurch strukturiert werden, dass sie innerhalb der (je nach Bedarf engeren oder loseren) Gemeinschaft und also Tradition auch akzeptiert werden müssen. Ausschlaggebend ist dabei nicht eine etwa logische oder gar wissenschaftliche Stimmigkeit, sondern – pragmatisch – die je subjektive, lebensweltliche Erfahrung: »An die Stelle der Rechtgläubigkeit (sei sie dogmatisch oder ethisch begründet) tritt die Frage der Authentizität, ob etwas »wirklich meines« ist, ob es »für mich stimmt«. Soweit es dabei Dissonanzen zwischen verschiedenen adaptierten Symbolsystemen gibt, werden sie kreativ durch eigene laientheologische Legitimationsprozesse bearbeitet.« 35
Gerade auch das Internet ermöglicht es also, Einhorn-Botschaften schnell und kostengünstig zu streuen und inmitten von dominierendem Spott und Hohn auch jene anzusprechen, die für diese »(m)eine Wahrheit« 36 ansprechbar sind. Die Einhorn-Verkünderinnen nutzen dabei einerseits die modernen Kommunikationstechniken unbefangen, entwerfen aber andererseits eine Gegengewalt, in der auch Men-
34 35 36
Bochinger, Engelbrecht & Gebhardt 2009, 148. Bochinger, Engelbrecht & Gebhardt 2009, 152. Jannsen 2010.
67 https://doi.org/10.5771/9783495808375 .
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schen mit gebrochenen Biografien und wenig materiellen, gesellschaftlichen oder akademischen Statusmitteln dennoch wechselseitige Anerkennung, Ausdrucksformen für Gefühle und Sehnsüchte sowie Sinnerzählungen zu finden vermögen. Sie greifen damit explizit auf kognitive Veranlagungen zur Ausprägung von Religiosität, Spiritualität und magischem Denken zurück und vermögen sogar mitunter entsprechende Funktionen im Leben der Glaubenden zu erfüllen. Insofern fügen sich die Einhorn-Mythen doch überraschend gut in die kognitions- und evolutionswissenschaftliche Perspektive, aus der heraus zum Beispiel Pascal Boyer »das Dilemma der Theologen« (und inzwischen auch: der Atheisten) benannt hat: Demnach nehmen sich Menschen unter den Bedingungen von Freiheit zunehmend das Recht, einfach jene religiösen oder auch wissenschaftlichen Erzählungen zu ignorieren, die ihnen nicht zusagen – und suchen und organisieren sich stattdessen Mythen, Rituale und Vergemeinschaftungsformen, die ihren Intuitionen entsprechen. Die gewachsenen scholastischen Lehrgebäude der Hochtheologien einerseits oder die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse andererseits vermögen dagegen kaum mehr unbedingte Verbindlichkeit zu beanspruchen, sondern dienen eher als weitere Angebote zur Möblierung der eigenen, durch Veranlagungen, Sozialisation und Biografie geprägten Innenwelt. Die fortschreitende Säkularisierung löst die gewachsenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften nicht auf, sondern verflüssigt verwertbare Teile ihrer Lehren zu alternativ schillernden und gegen theologische oder auch wissenschaftlich-empirische Kritik weitgehend immunisierten Strömen. 37 Über die Vermutung einer nur individuellen Wunscherfüllungssehnsucht hinaus zeigte sich schließlich entgegen meinen Anfangserwartungen, dass auch die Einhorn-Mythen in Ansätzen evolutionär funktional sein können: Etwa, indem sie die Glaubenden auch in sozialen Netzen verankern, Drogenkonsum als Verstoß gegen die Selbst-Authentizität und Natürlichkeit ächten, kreative Lösungswege zur Bewältigung biografischer und familiärer Brüche ermöglichen und darüber hinaus auch das Zeugen und Aufziehen von ggf. auch »schwierigen« (Sternen-)Kindern als Teil einer universalen, göttlichen Mission adeln. Gerade auch die Rolle von zum Beispiel allein-
37
Vaas, Blume 2012, 215–218.
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erziehenden oder nicht berufstätigen Müttern kann hierdurch soziale und religiöse Weihen erhalten, die ihnen weite Teile der Öffentlichkeit, Wirtschaft und auch der etablierten Kirchen eher versagen. Aktuell treten Einhorn-Mythen in nur vergleichsweise losen Netzwerken, die sich im Netz sowie in Seminaren und Tagungen verbinden, auf. Es ist aber durchaus denkbar, dass Einhörner – analog zu den Erzengeln und UFOs des 20. Jahrhunderts – mit der ebenfalls (auch touristisch) steigenden Beliebtheit von Elfen-, Troll-, Druidenund Feenmythen zur Herausbildung neuer, zwischen Fantastik, ökologischer Esoterik und Religion schillernder Subkulturen und gar Religionsgemeinschaften beitragen werden. Dass so mancher Wald wieder als verzaubert erlebt und die »Wiederkehr der Einhörner« von einer wachsenden Schar von – insbesondere weiblichen – Erwachsenen begrüßt wird, dürfen, ja müssen wir mit William James im weiten und bunten Bereich der pluralisierten, religiösen Erfahrung verorten.
Literatur Blume, M. (2013a): Evolution und Gottesfrage. Charles Darwin als Theologe. Freiburg 2013. Blume, M. (2013b): Engelkunde – Einführung in Geschichte, Wirkung und Wissenschaft. Filderstadt 2013. Bochinger, C., Engelbrecht, M., Gebhardt, W. (2009): Die unsichtbare Religion in der sichtbaren Religion. Stuttgart 2009. Cherry, J. (1997): Fabeltiere. Von Drachen, Einhörnern und anderen mythischen Tieren. Stuttgart 1997. Cooper, D. (2008): Das Wunder des Einhorns: Begegnung mit den erleuchteten Wesen der siebten Dimension. München 2008. Darwin, C. (2005): Die Abstammung des Menschen. London/Köln 1871. Zit. 2005. Die Einhörner kommen zurück (2012). http://youtube/0UnVUkiyEQo am 18. 01. 2014. James, W. (1975): Pragmatism and the Meaning of Truth. London 1907. Zit. 1975. Jannsen, J. (2010): Sternenkind. Die Reise zurück zu (m)einer Wahrheit. Gelnhausen 2010. Luther, M. (1545/1912): Die Luther-Bibel. Originalfassung 1545 und revidierte Fassung 1912. Zit. Neuausgabe Berlin 2006. Missing; M.: Heilreise in das Land der Einhörner – Meditation (2013). http:// youtube/7o_w78WVPSM am 08. 01. 2014.
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Michael Blume Murken, S. (2009): Mein Wille geschehe. Religionspsychologische Überlegungen zum Verhältnis von Religion und Wunscherfüllung. In: Zeitschrift für Religionswissenschaft 17. Marburg 2009, 165–187. Norenzayan, A. (2013): Big Gods. How Religion Transformed Cooperation and Conflict. Princeton University Press 2013. Partridge, C. (2003): UFO religions. London 2003. Suckling, N. (2007): Unicorns. Facts, Figures & Fun. New York 2007. The Last Unicorn (2014): The Last Unicorn / Das letzte Einhorn. http://you tube/rWy_Kudf_8 am 8. 1. 2014. Vaas, R., Blume, M. (32012): Gott, Gene und Gehirn. Warum Glaube nützt. Die Evolution der Religiosität. Stuttgart 2009/22012. Zimmer-Bradley, M. (1987): Die Nebel von Avalon. Frankfurt a. M. 1897.
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Christoph Türcke
Religionskritik zweiten Grades
So 1 wenig wir vom Menschheitsanfang auch wissen, eines ist sicher: Zur Menschwerdung gehört die Ausbildung von Sitten und Gebräuchen und die haben ihren Ursprung in sakralen Riten. Die wiederum haben eine gemeinsame Wurzel: das Opferritual. Wo immer wir archäologisch auf Spuren früher Menschheit stoßen, stoßen wir auf Rückstände, Beigaben der Opferdarbringung. Siedlungsplätze sind um ein sakrales Zentrum, einen Opferstein, einen Totempfahl, einen Berg, eine Grabstelle gruppiert, und Begräbnis ist von Opferung nicht trennscharf zu unterscheiden. Und wo wir mythologisch auf die Spuren früher Menschheit stoßen, also auf alte Erzählungsschichten, da ist ebenfalls das Opfer entweder die zentrale Handlung selbst oder aber diejenige, die alle anderen rituellen Handlungen begleitet bzw. die literarische Handlung wie ein Leitmotiv durchzieht. ›Ich opfere, also bin ich Mensch.‹ Töten – das tun auch Tiere, gelegentlich auch ihresgleichen. Aber rituell töten, in feierlicher Versammlung an einem bestimmten Ort nach einem festgelegten Schema: Das ist eine Besonderheit der Spezies homo sapiens. Das griechische Verb rezein ist das Wortgedächtnis für diesen Sachverhalt. Es bedeutet sowohl ›Opfer darbringen‹ als auch generell ›handeln, tätig sein‹ und drückt damit aus, dass Opfern der Inbegriff menschlichen Handelns, die menschenspezifische Tätigkeit schlechthin ist – ganz ähnlich übrigens wie das lateinische operari, aus dem im Deutschen ebenso ›operieren‹ wie ›opfern‹ geworden ist. 2 Wie das angefangen hat? Sicherlich sehr allmählich, sporadisch, diffus. Es mag tausende von Jahren gedauert haben, bis sich feste Opferrituale formierten. Jedenfalls dürften die menschlichen Kollektive, die vor etwa 30.000 Jahren in der Lage waren, die Wände der 1 Der Beitrag entspricht in weiten Teilen dem Essay Religionskritik zweiten Grades in Kritik der Religion 2006, 319–328. 2 Burkert 1997, 9 f.
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Christoph Türcke
Höhlen von Chauvet so zu bemalen, dass wir heute noch sprachlos davor stehen, schon einen hoch entwickelten Opferkult praktiziert haben. Nicht unwahrscheinlich, dass dessen Anfänge, je nach Weltgegend, weitere zehn, vielleicht aber auch zwanzig oder vierzig Jahrtausende zurückreichen. Man kann sich hier leicht um ein paar Jahrzehntausende verrechnen. Eines freilich ist gewiss: Opfer sind kein Restmüll. Sie bestehen im Teuersten, was man hat. Man schlachtet Menschen und kostbarste Tiere. So etwas tut man nicht aus Spaß, sondern nur unter äußerstem Druck: weil man sich anders nicht zu helfen weiß, weil man sich damit Entlastung zu verschaffen glaubt. Nur: Was ist am Opfer entlastend? Es wiederholt doch Grauen und Leiden, tut doch das, wovon es entlasten will. Das ist absurd. Nur hat diese Absurdität eine geheime Logik. Man kommt ihr auf die Spur, wenn man ein Verhalten genauer untersucht, das wir nur noch als pathologisches kennen: den traumatischen Wiederholungszwang. Freud war aufgefallen, dass Leute, die im Krieg oder bei Eisenbahnunfällen einen traumatischen Schock erlitten hatten, im nächtlichen Traum immer wieder in die schockierende Situation zurückkehrten, sie immer wieder durchlebten, immer wieder schweißgebadet und zitternd aufwachten. Warum verdrängten sie das Schreckliche nicht einfach, warum veranstalteten sie es im Traum eigens neu? Offenbar weil es viel zu mächtig war, um sich verdrängen zu lassen. Und das brachte Freud auf einen Verdacht. Wie, wenn die absurd erscheinende Wiederholung ein verzweifelter Behandlungsversuch des Traumas wäre, der Versuch, gegen das Übermächtige, gegen dessen Eindringen man sich nicht wehren konnte und das man nicht aushält, nachträglich Abwehrkräfte zu mobilisieren? So dass der nervenzerrüttende Wiederholungszwang eigentlich ein Selbstheilungsversuch des Nervensystems wäre: ein Versuch, geeignete Nervenbahnen anzulegen, in denen ein ungeheurer, unerträglicher Erregungsschwall kanalisiert und erträglich gemacht werden könnte? 3 Der traumatische Wiederholungszwang ist nervliche Notwehr. In der modernen Kultur erscheint er nur als pathologisches Ausnahmephänomen, als Nervenleiden einer Minderheit, die durch sogenannte Schicksalsschläge aus dem kulturell eingefahrenen Gleis geworfen wurde. Wo es die Gleise der Kultur, ihre abgefederten Lebenszusammenhänge aber noch nicht gab, da dürfte diese Ausnahme die Regel gewesen sein. Durch ständige Wiederholung sollte das Un3
Freud 1975, 222 f.
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Religionskritik zweiten Grades
erträgliche allmählich erträglich, das Unfassliche fasslich, das Ungewöhnliche gewöhnlich werden. Wiederholungszwang hat sich anfangs reflexartig vollzogen, ähnlich wie bei manchen Tierarten, wenn sie in Lebensgefahr sind und Flucht nicht mehr hilft, Mimikry einsetzt: eine Kehrtwende zur Flucht nach vorn, der Versuch, sich ausgerechnet der Umgebung, aus der die Gefahr droht, bis zur Ununterscheidbarkeit anzugleichen und so zu überleben. Wiederholungszwang ist raffinierte Mimikry. Er gleicht sich dem Schrecken an, um ihn zu überstehen. Wo er die Gestalt des Opfers annimmt, ist er allerdings schon nicht mehr Wiederholungszwang pur. Der nämlich hat bloß zwei Elemente: den Schrecken und seine Wiederholung. Von sakralem Opfer aber kann erst die Rede sein, wo Darbringung stattfindet, und darin wirkt dreierlei zusammen: der Darbringer, das Dargebrachte und jenes gewisse Etwas, dem dargebracht wird. Und wie wird aus dem Zweier- ein Dreierverhältnis? Nun, der pure, der grund- und zwecklose Wiederholungszwang hält es auf die Dauer nicht bei sich aus. Er ist zwar Notwehr gegen den Schrecken, aber doch selbst schrecklich. Die Linderung, die er gibt, bedarf selbst dringend der Linderung, und er ist schon erträglicher, wenn er von dem Gefühl begleitet ist, dass es eine höhere Macht gibt, die verlangt, dass er stattfindet. Dann nämlich hat er einen Sinn. Er ist zu etwas gut. Und so gibt sich der Wiederholungszwang einen Adressaten, ein höheres Wozu, das ihn rechtfertigt. Indem er aber beginnt, sich als Darbringung an eine solch höhere Macht auszulegen, wird aus einem mimikryähnlichen Reflex allmählich ein hermeneutisches Verfahren und eine kulturelle Einrichtung. Die ersten Adressaten von Opferdarbringungen kann man sich kaum diffus genug vorstellen. Bis daraus fest umrissene Gottheiten wurden, dürften Jahrtausende verflossen sein. Wie kleine Kinder auch unter Hochkulturbedingungen erst lernen müssen, Gegenstände zu fixieren und als konkrete, konstante Gestalten wahrzunehmen, so lernt es sich dort, wo diese Bedingungen noch gänzlich fehlen, ungleich viel mühsamer, schemenhaft dämmernde Vorstellungen von höherer Gewalt in klar konturierten menschenähnlichen Gestalten mit eigenem Charakter und Namen festzustellen. Und als das schließlich gelungen war, war man erst bei den primitiven mittelsteinzeitlichen Stammes- und Lokalgottheiten angelangt, die nicht weiter reichten als der Horizont des jeweiligen Kollektivs, also kaum über den nächsten Bergrücken hinaus. Vorstellungen einer universalen Gottheit waren außerhalb jeglicher Reichweite. Selbst Jahwe, 73 https://doi.org/10.5771/9783495808375 .
Christoph Türcke
der Gott Israels, war zunächst ein lokaler Wüsten-, Vulkan- und Kriegsgott. Seine Erhebung vom einzigen Gott, den man verehren darf, zum einzigen, der überhaupt existieren soll, seine Läuterung vom Kriegsherrn, der alle Beute für sich verlangt, zum ruah, jenem übernatürlichen Wind, Hauch, Atem, Geist, aus dem die Welt hervorgegangen und von dem sie getragen sein soll: das sind anspruchsvolle Abstraktionsleistungen, die bei den älteren Propheten noch im Anfangsstadium waren und erst in den Spätschichten des Alten Testaments zur vollen Durchsetzung kamen. Strenger Monotheismus? So etwas konnten zunächst nur Intellektuelle denken. »Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde. […] Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. […] Und Gott schuf den Menschen sich zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn.« Priester im babylonischen Exil haben diese ersten Sätze der Bibel geschrieben – mit einem geradezu Brechtschen Lakonismus. Das liest sich, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. Dabei ist es ein äußerster Extrakt spekulativer Denk- und Formulierkunst. Die Weltschöpfung sprachähnlich vorzustellen, als verhalte sich die Natur zu Gott wie der Stimmlaut zu seiner Bedeutung, die ja tatsächlich im sinnlichen Laut präsent ist, ihm seinen Sinn gibt und zugleich als Unsinnliches strikt davon unterschieden ist: das war ein erstrangiger Kunstgriff, die Rückführung von ›Himmel und Erde‹ auf einen einzigen übersinnlichen ruah der Durchbruch dazu, die Welt als eine zu denken. Nahezu zeitgleich, aber ohne jeglichen geistigen Austausch mit den Juden in Babylon, arbeiteten in Kleinasien die ersten abendländischen Philosophen daran, die Vielfalt der sinnlichen Welt auf eine einheitliche arché (Urgrund, Anfang, Prinzip) zurückzuführen. Der Drang zum Monismus, zu einem einzigen, von aller Vielheit und Sinnlichkeit losgelösten Weltgrund, markierte im sechsten vorchristlichen Jahrhundert eine besondere geistige Blüte. Er regte sich in verschiedenen, voneinander durchaus unabhängigen Hochkulturen und gehört zur Signatur einer Epoche, die Jaspers ›Achsenzeit‹ genannt hat. »In diesem Zeitalter wurden die Grundkategorien hervorgebracht, in denen wir bis heute denken, und es wurden die Ansätze der Weltreligionen geschaffen, aus denen die Menschen bis heute leben.« 4 Was zu seiner Zeit geistiger Höchststand war, muss deshalb freilich noch nicht wahr sein. Und die Gestehungskosten des Monotheismus sind offensichtlich. Um einen Gott, der den Menschen ›sich zum 4
Jaspers 1949, 20 f.
74 https://doi.org/10.5771/9783495808375 .
Religionskritik zweiten Grades
Bilde‹ geschaffen hat, überhaupt denken zu können, mussten erst einmal lange Zeit Menschen für die Vorstellung dieses Gottes Modell stehen. Um ruah als den übernatürlichen Geisthauch zu fassen, der die Welt hervorgebracht hat und trägt, musste man erst einmal die unsinnliche Bedeutung im physischen Stimmhauch als ›Geist‹ begreifen lernen. Dann erst ließ sich der menschliche Geist zu einem göttlichen Übergeist hochrechnen. Es ist diese sich selbst nicht offen legende Hochrechnung, griechisch: Hypostasierung, lateinisch: Projektion, an der die Klassiker der Religionskritik, Feuerbach, Marx und Freud, bei allen sonstigen Unterschieden einmütig Anstoß nahmen. Das Wort ›Religionskritik‹ war zu ihrer Zeit noch nicht so verschwommen wie heute, wo es für jedes Herummäkeln an allem, was einem an religiösen Praktiken oder Ideen nicht passt, verwendet wird, wo selbst Fundamentaltheologen sich als Religionskritiker geben, wenn sie mit gefalteter Sorgenstirn vor Sektenwesen und Fundamentalismus warnen, also vor der Konkurrenz. Religionskritik ging anfangs an die Substanz. Sein oder Nichtsein Gottes: das war ihre Frage. Sie verstand unter Religion vornehmlich die monotheistische, in erster Linie die christliche, wog sie auf der Waage intellektueller Redlichkeit und befand sie als zu leicht. Ihre Diagnose: Unterschlagung des Denkwegs, der zur Idee eines allmächtigen, guten Gottes führte, Hochrechnung dieser Idee zur absoluten Realität, und dann auch noch Verkehrung von Ursache und Wirkung, als sei die Gottesidee den Menschen von Gott persönlich eingegeben worden: als seine gnädige und rettende Offenbarung. Doch alle intellektuellen Winkelzüge und Subtilitäten helfen der Theologie im Entscheidenden nicht voran. Die Offenbarung Gottes ist immer noch nicht mehr, als sie von Anfang an war: bloße Beteuerung. Erst wenn ohne Wenn und Aber eingeräumt ist, dass Feuerbach, Marx und Freud, jeder auf seine Weise, hier ins Schwarze getroffen haben, dass ihr entscheidender Einwand unwiderlegt ist, dass die weltweite religiöse Renaissance, das hartnäckige Festhalten an nicht haltbaren Glaubensbekenntnissen und Fasziniertsein von Ufos, Astralleibern und höheren kosmischen Energien nicht das Geringste für die Existenz von Göttern beweist – dann darf das Unzulängliche der klassischen Religionskritik thematisiert werden. Dann ist davon zu sprechen, dass ihre Hoffnung, von aller Religion loszukommen, selber illusionär war. Theologie in Anthropologie auflösen, wie es Feuerbach vorschwebte? Das ginge nur dann, wenn die Menschheit sich selbst genug sein könnte, und zwar nicht nur als Gattung, son75 https://doi.org/10.5771/9783495808375 .
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dern auch jeder einzelne Mensch sich und allen andern. Davon kann, solange es schreiendes soziales Elend gibt, nicht die Rede sein, wandte schon Marx gegen Feuerbach ein und setzte dagegen: Erst wenn dieses Elend einer solidarischen Gesellschaft gewichen ist, wo sich jeder nach seinen Fähigkeiten entfalten kann und jedem nach seinen Bedürfnissen gegeben wird, hat Religion keinen Grund mehr und wird verschwinden. Und selbst Freud, der ans Gelingen einer solidarisch freien Gesellschaft ebenso wenig glaubte wie an den vollständigen Sieg des vernünftigen Ich übers triebhafte Es, war doch nicht ohne Zuversicht, dass eine mündige Menschheit ohne jenen Gottvater auskommen könnte, den er als die Urillusion aller Religion erachtete. Umso schneidender nimmt sich die Frage aus, die der späte Horkheimer stellte: »Bedarf es nicht immer der Religion, weil die Erde, auch wenn die Gesellschaft in Ordnung wäre, das Grauen bleibt?« 5 In der Tat: Unter allen historischen Umständen werden Menschen verletzliche, gebrechliche, sterbliche Naturwesen bleiben und mit diesem Status hadern – sich nach einer höheren Macht sehnen, die sie davon befreit. Anders gesagt: Sie werden gottbedürftig bleiben. Religionskritik hat zwar nicht den geringsten Grund, zu Kreuze zu kriechen und die Existenz Gottes anzunehmen. Aber sie hat allen Grund, die Gottbedürftigkeit des Menschen anzunehmen. Insofern muss sie in sich gehen, reflexiv werden: zu einer Religionskritik zweiten Grades, die ermessen lernt, wie tief Religion im menschlichen Nervensystem verankert ist. Wo dieses Nervensystem spezifisch menschlich wurde, wo es erste Anzeichen von Geist zeigt, da geht es ihm ums Äußerste, was ein Nervensystem leisten kann: die Bewältigung tödlichen Schreckens. Genau darum bemühte sich der traumatische Wiederholungszwang. Schaut man ihn genau an, so erweist er sich als die Keimform allen Geistes. Wenn er den Schrecken durch dessen unablässige Wiederholung zu dämpfen versucht, so kommt er zwar vom Schrecklichen nicht los, wohl aber von dessen Hier und Jetzt. Der wiederholte Schrecken ist nicht mehr der ursprüngliche, nicht mehr die Sache selbst, sondern deren Abzug, Vervielfältigung, Zitat, Echo, mit anderen Worten, ihr ›Geist‹, nur dass dieser Geist noch weit davon entfernt ist, als etwas Separates, als ein Numen, Schemen, Gespenst, Dämon oder gar Gott vorgestellt zu werden. Seine Vorstellung ist vielmehr seine Darstellung, seine performance. Geist existiert hier lediglich im Vollzug; wo immer ein 5
Horkheimer 1974, 127.
76 https://doi.org/10.5771/9783495808375 .
Religionskritik zweiten Grades
Kollektiv über ausgesuchte Menschen und Tiere herfällt, wird er aufgeführt. Er ist zunächst nichts von dieser Aufführung Abgelöstes, aber die Aufführung selbst löst sich vom Hier und Jetzt des Ereignisses ab, welches sie darstellt. Sie ist nicht mehr dieses Ereignis, sie bedeutet es nur noch, schematisiert es, subsumiert es einer rituellen Struktur, verallgemeinert es zu einer wiederholbaren Verlaufsform – und ist damit zugleich die Elementarform von menschlichem Gedächtnis. Denken begann als Gedenkveranstaltung. Heute prägt man sich Dinge durch Wiederholung ein. Anfangs war es gerade umgekehrt. Die zwanghafte Wiederholung tödlichen Schreckens war gerade die verzweifelte Anstrengung, davon loszukommen. Menschliches Gedächtnis entstand beim Versuch, zu vergessen. Damit nicht genug. Mit seiner Flucht nach vorn, seiner Triebumwendung vollzieht der traumatische Wiederholungszwang eine Umwertung größter Tragweite. Vom Schrecklichen loszukommen, indem man es reproduziert, statt vor ihm zu fliehen, ist eine Form, es gutzuheißen. Der Schrecken wird als das genommen, was von ihm errettet. Das Gegenteil seiner selbst wird in ihn hineingedeutet. Er tritt auseinander in Vorder- und Hintergrund, in ›Erscheinung‹ und ›Wesen‹: in das Schreckliche, als das er wirkt, und das Rettende, das darin steckt. Ihn vergegenwärtigen heißt also nicht nur, ihn von seinem singulären Hier und Jetzt ablösen, ihn vervielfältigen, schematisieren, sondern ihm zugleich seine Eindeutigkeit rauben, ihn mit einer zweiten Dimension versehen: der eines höheren, rettenden Sinns. Dessen Behauptung, die Geburtsanstrengung jeglicher Metaphysik und Theologie, ist von der Anstrengung der Triebumwendung, der Anstrengung der Menschwerdung zunächst nicht unterschieden. Und in dieser elementaren Form hat sie den unschätzbaren Vorzug, schlagartig klarzumachen, was an entwickelteren Formen undeutlich wird: wie innig die sogenannten ›ersten‹ mit den ›letzten‹ Dingen verbunden sind, wie sehr es bei der Triebumwendung zugleich um Rettung und Erlösung geht. Physiologie und Theologie sind darin noch ungeschieden, Gedächtnis, Gedanke, Schema, Begriff, Geist, Gott noch einerlei. Insofern ist tatsächlich ›Gott‹ erster Inhalt des menschlichen Nervensystems. Es ist übervoll davon, und sein Wiederholungszwang versucht nichts anderes, als diese Fülle abzuarbeiten. Er wiederholt ›Gott‹ unablässig, um ›Gott‹ loszuwerden. Der traumatische Wiederholungszwang will ja von sich selbst erlöst werden. Erlösung aber wäre erst dort, wo man keinen Gott mehr braucht. Um solcher Er77 https://doi.org/10.5771/9783495808375 .
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lösung willen wird nach Gott gerufen. Gott ist benannter Schrecken. Insofern hat menschliche Namens- und Begriffsbildung tatsächlich ›um Gottes willen‹ begonnen: als schaudernde Anrufung des Schrecklichen zum Behufe seiner Bannung. Benennung, Anrufung, Gebet sind anfangs ungeschieden. Und benannter Schrecken ist schon ein Stück weit gebannter Schrecken. Schreckliches benennen aber ist zunächst nichts anderes, als es zuzudecken beziehungsweise vor ihm in Deckung zu gehen. Namen beginnen als Decknamen, wie Gedächtnis als Schutzmaßnahme gegen das Erinnerte. Und Decknamen sind heilige Namen, Namen, die den Schrecken heiligen. Die Urform des Heiligen ist der geheiligte, der gewendete Schrecken. Das aber hat Konsequenzen für alles, was aus dem Namen hervorgegangen ist. Worte, Begriffe, Gedanken waren zur Zeit ihrer Entstehung nicht etwa neutrale Behälter oder Schubladen, in denen man Dinge und Ereignisse ordnet, sondern Schreckableiter, Schreckwender. Ihr physiologischer Impuls ist zugleich ein theologischer Impuls: der der Errettung von allem, was schreckt. Die Tiefe der Symbiose von ›Gott Denken‹ und ›Denken überhaupt‹ ist der klassischen Religionskritik nicht aufgegangen. Wenn es Gott nicht gibt, so folgerte sie, ist auch sein Gedanke nichtig – als könne man die theologischen Gedanken fein säuberlich aus dem Bewusstsein heraustrennen, ohne alle anderen anzutasten. Das aber heißt einen Schnitt durchs menschliche Nervensystem machen, was dessen Arbeitsweise ganz fremd ist. Wie es keine religiösen und profanen Gefühle kennt, sondern nur stärkere und schwächere, lustvolle und peinvolle Erregungen, so kennt es auch keine abstrakte Trennung theologischer und profaner Begriffsbildung. Das Heilige ist nämlich selbst schon erstes und vornehmstes Produkt der Profanisierung: nicht mehr Schrecken pur, schlechterdings inkommensurabel, sondern geheiligter Schrecken, gedämpfter Schrecken, schon ein ganz klein wenig seiner schrecklichen Fremdheit beraubt, ein winziges bisschen bekannt, vertraut, gewöhnlich gemacht. Die Heiligung des Schreckens und seine Profanisierung sind ein und dasselbe. Die Profanisierung des Heiligen setzt nur einen Prozess fort, der mit der Konstitution des Heiligen begann. Diese Zusammenhänge haben sich in der jüngsten Debatte um ›Neurotheologie‹ noch nicht recht herumgesprochen. Die Neurophysiologen Andrew Newberg und Eugen d’Aquili zum Beispiel, die sich für den genauen Sitz religiöser Gefühle und Erfahrungen im Gehirn interessierten, zeichneten mit tomographischen Methoden die Hirn78 https://doi.org/10.5771/9783495808375 .
Religionskritik zweiten Grades
aktivitäten von Buddhisten und Franziskaner-Nonnen auf, während sie meditierten bzw. beteten. Sie entdeckten, dass im Moment des Transzendierens eine kleine Region im hinteren Teil des Neokortex ihre Aktivitäten einstellt. Diesen Höhepunkt der spirituellen Trance schildern die Teilnehmer als ein Gefühl der Offenheit und Verbundenheit mit den Menschen, den Dingen und den Ereignissen. Gefühlsmäßig löst sich die Grenze zwischen ihnen und dem Rest der Welt auf. Zu diesem Zeitpunkt nehmen die neuronalen Aktivitäten im Bereich […] des hinteren oberen Parietal-Lobus ab. Dieses sogenannte Orientierungsareal des Gehirns sorgt dafür, dass ein IchGefühl entsteht und die Grenze zwischen dem Ich und der Welt bestimmt wird. Dadurch, dass die Aktivität in diesem Bereich reduziert wird, verliert der Meditierende dieses Ich-Gefühl und hat den Eindruck, mit dem Gegenstand der Meditation zu verschmelzen.« Stattdessen ließen sich im so genannten Mandelkern, der als ›Zentrum für Emotionen‹ gilt, Bewegungen ausmachen, die »eng mit religiösen Ritualen verknüpft« 6 waren. Nur was ist damit bewiesen? Dass es bestimmte Hirnregionen gibt, die besonders dafür disponiert sind, dass Gott, das Heilige, das Unbedingte sich in ihnen offenbart? Oder dass das, was Theologen Gott, das Heilige, das Unbedingte nennen, bloß ein neurologisch lokalisierbares Hirngespinst ist? Die beiden Forscher waren vorsichtig genug, sich hier nicht festzulegen. Aber sie waren so unvorsichtig, das, was religiöse oder spirituelle Erfahrung genannt wird, für bare Münze zu nehmen: als ein Faktum, das sich neurophysiologisch testen lässt. Das scheinbare Faktum ist aber selbst bloß eine Interpretation. Was die Betroffenen tatsächlich gehabt haben, sind Gefühle und Eindrücke, die sie als derart durchdringend, erschütternd, erhebend oder beglückend empfanden, derart aus dem Rahmen ihres gewöhnlichen nervlichen Erregungshaushalts herausfallend, dass sie folgerten: Etwas so Besonderes kann kein bloß profanes Erlebnis sein; da muss Gott, das Heilige, das Unbedingte selbst mich angerührt haben. Natürlich gibt es Erlebnisse mit Ritualen, Reliquien, Fetischen – mit allem, was eine Gesellschaft zu ihrem Religionsarsenal rechnet. Aber nicht unmittelbar religiöse Gefühle, Erlebnisse, Erfahrungen. Wo immer jemand behauptet, sie gehabt zu haben, hat er bereits das tatsächlich Ge-
6
Söling 2002, 31 f. Verweis auf Newberg/d’Aquili. 2000.
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fühlte, Erlebte, Erfahrene durch ein gedanklich-begriffliches Schlussverfahren als religiös ausgelegt. Im neurotheologischen Diskurs droht ein Spiel mit falschen Karten. Neurophysiologen nehmen unbesehen die Karte ›religiöse Erfahrung‹, die Theologen ihnen hinhalten, verorten sie im menschlichen Gehirn, und die Theologen nehmen dann die besonderen Gehirnaktivitäten, die die Neurophysiologen mit ›religiöser Erfahrung‹ assoziiert haben, dankbar wieder auf als den fortgeschrittensten Forschungsbeweis dafür, nein, nicht dafür, dass Gott existiert, das wagen sie dann doch nicht, wohl aber dafür, dass das menschliche Gehirn gleichsam auf Gott ausgerichtet ist und ganze Areale aufweist, worin um seinetwillen Erregungsströme fließen, so dass es mit dem Teufel zugehen müsste, wenn er nicht existierte. Natürlich ist das nur eine neue Variante des alten Versuchs, den Schöpfer aus der Schöpfung zu erweisen, bei dem sich die Theologie stets überhoben hat – und sich diesmal zudem unter Wert verkauft. Sucht sie sich doch im profanen Erregungshaushalt des Gehirns eine besondere, für spirituell-religiöse Erfahrung zuständige Region als ihre eigene geistige Pfründe zu sichern, ganz wie die Kirche ihre materielle Pfründe in der säkularen Welt, statt Ernst damit zu machen, dass die Säkularisierung ebenso real wie Schein ist, und zwar nicht minder in gesellschaftlicher Hinsicht als in neurophysiologischer. Wie sämtliche Erregungsvorgänge im menschlichen Nervensystem gleichsam theologisch infiziert sind, so stehen noch die profansten Vorgänge des modernen Arbeits- und Geschäftslebens im Bann eines globalen Marktkults, allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass der Marktkult durchaus, wenn die Menschheit sich dazu entschlösse, zugunsten einer solidarischeren Gesellschaftsform verschwinden könnte, die zwar nicht paradiesisch wäre, aber immerhin in der Lage, menschliche Bedürfnisse und Fähigkeiten so ineinander greifen zu lassen, wie es weite Teile der hochtechnologischen Maschinerie jetzt schon tun, während die theologische Infektion des menschlichen Sensoriums nicht verschwinden kann, solange Menschen verletzlich und sterblich, also gottbedürftig sind. Wie der klassischen Religionskritik schwebt auch der Religionskritik zweiten Grades als Fluchtpunkt all ihrer Intentionen eine erlöste, befriedete, nicht mehr gottbedürftige Welt vor, also eine im wohlverstandenen Sinne gottlose. Der Atheismus ist ihre Sehnsucht, aber sie hat gelernt, dass er nirgends konsequent praktiziert wird, solange das ›Seufzen der Kreatur‹ anhält. Solange gibt es übrigens auch kein 80 https://doi.org/10.5771/9783495808375 .
Religionskritik zweiten Grades
›nachmetaphysisches Denken‹. Stattdessen gilt Nietzsches berühmter Stoßseufzer: »Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben …« 7. Grammatik ist ja mehr als bloß Regelwerk. Sie macht, dass die Worte zusammenstimmen, dass in ihre Vielfalt Einheit, in ihre Disparatheit Sinn kommt. Sinn aber können Worte und Sätze schwerlich haben, wenn ihre Umgebung vollkommen sinnlos ist. Sprachsinn verlangt Weltsinn. Und den muss jeder schon unterstellen, der spricht; er könnte sich sonst nicht verständlich machen. Freilich lebt diese Sinnprätention von etwas, was in den Worten pulsiert: von neuronaler Erregung, oder, erlebnisterminologisch ausgedrückt, von Wünschen. Worte und Begriffe sind geronnene, Freud würde sagen, ›durchgebrannte‹ Wünsche. Der unerloschene Glutkern aber, aus dem sie stammen, ist der Wunsch, von allem Schrecken errettet zu werden. Gott existiert nur als dieser Wunsch. Es ist der Wunsch schlechthin: derjenige, der, theologisch gesprochen, Erlösung will, oder physiologisch, dass Leid vergeht und Lust nicht aufhört. Und für den gilt Adornos Satz: »Der Gedanke, der den Wunsch, seinen Vater, tötet, wird von der Rache der Dummheit ereilt.« 8
Literatur Adorno, Theodor W. (1976): Minima Moralia. Frankfurt a. M. 1976. Burkert, Walter (21997): Homo Necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen. Berlin/New York 21997. Freud, Siegmund (1975): Jenseits des Lustprinzip. Studienausgabe Bd. III, Frankfurt a. M. 1975. Horkheimer, Max (1974): Notizen. Frankfurt a. Main 1974. Jaspers, Karl (1949): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. München 1949. Kritik der Religionen (2006): Hrsg. I. Dalferth, H. P. Grosshans. Tübingen 2006. Newberg, A./d’Aquili, E. (2000): The Neuropsychology of Religious and Spiritual Experience. In: Journal of Consciousness Studies. O. O. 2000. Nietzsche, Friedrich (1988): Götzen-Dämmerung. Kritische Studienausgabe Bd. 6. Hrsg. v. G. Colli/M. Montinari. München 1988. Söling, Caspar (2002): Der Gottesinstinkt. Bausteine für eine Evolutionäre Religionstheorie. Gießen 2002. Türcke, Christoph (2006): Religionskritik zweiten Grades. In: Kritik der Religion. A. a. O. 319–328.
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Nietzsche 1988, 78. Adorno 1976, 158.
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Johann Ev. Hafner
Funktionalisierung von Religion – eine Auseinandersetzung mit Luhmanns Religionstheorie Die Frage ›Warum Religion?‹ kann nur der stellen, der in gewisser Weise außerhalb der Religion steht. Wäre Religion selbstverständlich, wären ihre Gründe nicht interessant. Deshalb sind Religionsbegründungen dort entstanden, wo eine Religion als gefährlich, unsittlich oder unvernünftig kritisiert wurde. Im Falle des Christentums begann das im zweiten Jahrhundert im Zuge der Auseinandersetzungen mit staatlichen Behörden und platonischer Philosophie. Von solcher Art Religionsbegründung – der Verteidigung einer religiösen Behauptung mit Hilfe philosophischer Argumente – ist die funktionale Bestimmung von Religion zu unterscheiden. Sie beantwortet die Frage ›Warum Religion?‹ mit der möglichen Leistung von Religion. Der Funktionalismus dreht die Kausalität sozusagen um, indem er ein Phänomen als Resultat eines Prozesses versteht, bei dem ein späterer Zustand der ›Grund‹ für den gegenwärtigen Zustand ist. Was sich bewährt, hat Bestand. Was aber eine bewährte Leistung ist, lässt sich nur angeben, wenn die Sphäre des Religiösen und die Sphäre des Sozialen auseinandergetreten sind. 1 Solange sich Zielangaben innerhalb derselben religiösen Semantik bewegen (›weil wir durch Religion in den Himmel kommen‹), sprechen wir noch nicht von Funktion. Erst unter den Bedingungen gesellschaftlicher Differenzierung werden die Leistungen des Religiösen nach außen sichtbar. Aber was heißt ›sichtbar werden‹? Wenn es gerade die nicht-religiösen Aspekte sind, die mit dem Funktionsbegriff gefasst werden, dann sind sie den religiös Praktizierenden nicht vor Augen, sondern ereignen sich quasi hinter deren Rücken. Ein Betender sieht nicht, dass sein Gebet die Funktion der Frustrationsbewältigung besitzt; er
»Mit der (institutionalen) Identifizierbarkeit der beiden Sphären [des religiösen Glaubens und allgemeiner sozialer Praxis A. d. A.] beginnt der lange Weg wechselseitiger Verwertbarkeit und faktischer Indienstnahme.« Homann 1997, 15.
1
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Funktionalisierung von Religion
glaubt vielmehr, dass er durch Beten Hilfe erlangt. Eine Nonne sieht nicht, dass ihre Arbeit im Kloster die Funktion der gesellschaftlichen Arbeitsteilung erfüllt. Es ist der Wissenschaftler, der solche Funktionen entdeckt, genauer: der religiöse Handlungen reinterpretiert, indem er sie auf soziale Handlungen bezieht. Grundsätzlich könnte die Funktionalisierung auch umgekehrt erfolgen, indem das Soziale als Funktion des Religiösen interpretiert wird. So könnte man beispielsweise sagen, dass sich Gemeinschaften bilden, um eine Heilsgeschichte voran zu treiben; dass Erziehungssysteme entstehen, damit Menschen beten lernen. Dann wäre das Soziale eine Leistung, die dem Bestand des Religiösen dient. Also: Ob das Religiöse eine Funktion des Sozialen ist oder umgekehrt, hängt davon ab, wo der Betrachter die abhängige und wo die unabhängige Variable ansetzt. Jedem Verknüpfen von Beobachtungen haftet diese letztlich willkürliche Konstruiertheit an. Tatsächlich ist das funktionale Verknüpfen eine enge Verbindung mit dem Konstruktivismus eingegangen, der es zum Prinzip gemacht hat, alles Faktische im Vollsinn des Wortes als ›selbstgemacht‹ zu begreifen. Dass Wahrgenommenes nicht so ist, wie es wahrgenommen wird, sondern in den Bedingungen des Wahrnehmenden erscheint, ist keine neue Erkenntnis des Konstruktivismus. Der antike Skeptizismus, der Frühnominalismus, Kants Transzendentalphilosophie, Schopenhauers Willensphilosophie, der Pragmatismus von William James, alle teilen die Auffassung, dass der Mensch Dingaffektionen zu kategorialen Gegenständen macht, dass er sie raumzeitlich fasst, kausal und final verknüpft, den Intentionen gemäß verwendet und der sozialen Ordnung entsprechend bewertet. Dieser Gedanke wurde materialiter und formaliter immer weiter ausgedehnt: materialiter, indem die Konstitution durch den Erkennenden nicht nur auf die empirischen Dinge bezogen wurde, sondern auch auf Begriffe. Formaliter fand eine Ausdehnung statt, als man in der Vormoderne das erkennende Subjekt (in der Moderne auch die sozialen Bedingungen) als Apriori hinzunahm. Wenn die Wissenssoziologie seit Durkheim beschreibt, wie die individuellen Weltwahrnehmungen durch soziale Weltbegriffe konstituiert werden, trifft sich die Erkenntnistheorie der klassischen Philosophie mit der verstehenden Soziologie. Neu aber ist die Behauptung des modernen Konstruktivismus, dass jeglicher Zugang zur Außenwelt und zu den Anderen kognitiv unzugänglich bleibt und dass alle Informationsverarbeitung eine 83 https://doi.org/10.5771/9783495808375 .
Johann Ev. Hafner
Funktion der Selbsterhaltung ist. 2 Es gibt weder Objektivität noch Intersubjektivität, sondern nur mehr oder weniger stabile Realitätsfiktionen. Neu ist zudem die Behauptung, dass dies auf nicht-triviale, also rückgekoppelte Maschinen ebenso zutrifft wie auf Organismen, Bewusstseine oder Gesellschaften. Dieses Paradigma hat sich in den verschiedensten Wissenschaften etabliert, so beispielsweise in der Biologie (Maturana), in der Logik (von Foerster), in der Psychologie (von Glasersfeld), in der Therapie (Watzlawick) und wurde durch Niklas Luhmann als Universaltheorie auf die verschiedensten Wissensbereiche angewandt.
1.
Autopoiesis als leere Selbstzwecklichkeit
Welches Modell steht dahinter? Festzuhalten ist erstens, dass jede informationsverarbeitende Einheit – sei es ein Nervensystem, ein Gehirn oder eine Gruppe – nur mit den Daten hantiert, die sie selbst generiert (Reize, Wahrnehmungen, Sätze). Zudem läuft deren Verarbeitung nicht danach ab, ob man die Welt richtig abbildet, sondern ob man sich in einer Umwelt verlässlich bewegen kann (Passung statt Wahrheit). Insofern gibt es von Anfang an keinen Wirklichkeitskontakt, sondern nur selbstbezügliche Systeme, welche alle Daten, mit denen sie operieren, mit Daten selegieren, die sie in vorhergehenden Selektionen gewonnen haben. Von einer ›Außenwelt‹ kann ein solches System nicht sprechen, weil es nur Inneninformationen besitzt. Die Vorstellung, die sich ein System von seinem Außen macht, kann nicht einmal – wie in der klassischen Epistemologie üblich – als Repräsentation gedacht werden, da es keine Ur-Impression oder ErstAffektion gibt und folglich nichts re-präsentiert wird. Die Umwelt bietet keine Information, sondern tritt allenfalls als Störung, Irritation auf. Sie hinterlässt kein Bild, aber sie verformt die bisherigen Bilder. Daher ist der Aufbau von Wissen eine Reaktion auf eine dauernde Überforderung, auf das nicht enden wollende Rauschen von Eindrücken. Die Informationsverarbeitung bildet einen integralen Teil im Systemaufbau, der als ein Zirkel der Selbsthervorbringung vor-
2
Vgl. von Glasersfeld 2006, 50.
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Funktionalisierung von Religion
gestellt wird. 3 Die autonome Selbsterhaltung wird zunächst als Verinwendigung außengerichteter Zweckhaftigkeit gedacht. Zwecke richten sich nicht mehr auf die Welt, sondern auf sich selbst. Diese Zwecke sind aber nicht ein neues, diesmal nur privates Telos. Bereits im Laufe der Neuzeit hat die anfängliche Inversion der Teleologie zur Entteleologisierung überhaupt geführt, so die These Robert Spaemanns. 4 Ein selbstzweckliches Wesen hat demnach als Ziel nicht seine Selbsterhaltung, sondern es ist das Resultat eines autonomen und zudem automatischen Vorgangs. Die objektive Funktion subjektiven Strebens wird dann als Erhaltung dessen beschrieben, was war und ist, und nicht als Akt der Freiheit. Der Inhalt des Strebens besteht allein im Vollzug der Systemstabilisierung durch Anpassung an neue Situationen. Die radikalste Aufgipfelung dieses Gedankens ist die Autopoiese. Solange Selbsterhaltung die Verlängerung des Bisherigen war, musste sie als Ausfaltung eines ihr vorgelagerten (Gründungs-)Zweckes und damit teleologisch gedacht werden. Autopoietische Systeme dagegen gliedern sich ihren eigenen Ursprung als Teilfunktion in ihren Selbstvollzug ein. Sie sind nicht, weil sie entstanden sind. Die Logik verläuft umgekehrt: Sie sind entstanden, weil sie sind. Sie verdanken sich nicht einem heteronomen Schöpfungsgeschehen, sondern der Schöpfungsgedanke ist selber nur ein Mittel innerhalb der Verständigung des Systems mit sich. Insofern ist Schöpfung Resultat oder Medium, nie aber Grund von Selbsterhaltung. Philosophisch fraglich ist dann der Anfang. Wie lässt sich die erste informationsverarbeitende Selektion denken, die ja noch auf keine Eigenwerte zurückgreifen kann, mit deren Hilfe Irritationen sortiert werden könnten? Wie soll ein System unterscheiden zwischen relevanten Daten, die innen weiterverknüpft werden, und irrelevanten Daten, die es nicht zu beachten braucht, wenn noch keine Erwartungsstrukturen aufgebaut sind? Womit beginnt die Selbstorganisation, wenn noch kein Selbst vorliegt? Das ist der unerklärte Rest, der vielzitierte »blinde Fleck« jeder Systembildung noch vor dem blinden Fleck der Beobachtung. Bei Maschinen darf man die Zwecksetzung des Ingenieurs annehmen; bei Organismen muss man
Strenggenommen ›ist‹ ein System nichts anderes als die Information, die es aus der System-Umwelt-Differenz gewinnt. Es gibt keine Ontologie vor der Epistemologie. 4 Vgl. Spaemann 1989. 3
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Johann Ev. Hafner
die Selbst- und damit Gattungserhaltung unterstellen. Was aber ist das Erstmotiv in sozialen Systemen?
2.
Funktion: vom kausalen Begriff zur Selektionsanweisung
In der funktionalen Systemtheorie wird der Begriff ›Funktion‹ von einem kausalen Begriff in einen Selektionsbegriff verwandelt. Gemeinhin dient der Begriff dazu, den Bestandswert bei der Selbsterhaltung eines Organismus oder einer Gruppe zu bezeichnen. Dann ist Funktion noch ganz kausalwissenschaftlich gedacht: Bestimmte Ursachen bewirken ein Resultat, das im Fortbestand des handelnden Systems liegt. Das Modell ist der Biologie entnommen: Das Hungergefühl hat die Funktion der Nahrungsaufnahme, die Brutpflege die Funktion der Reproduktion und letztlich des Gattungserhalts. 5 Hier spricht man besser von Zweck. Schwieriger wird es bei sozialem Verhalten: Weil hier die Zwecksetzung der Individuen zum Zweckhaben der Organismen und Gruppen dazukommt, wird in diesem Bereich zwischen latenter und manifester Funktion unterschieden. Die Ethnologie folgt methodisch aber immer noch der Biologie: Ein Regentanz hat in der Eigenbeschreibung den Zweck, Regen hervorzubringen. In der ethnologischen Beobachtung hat er aber die latente Funktion, den Zusammenhalt des Stammes zu stärken. Die Verehrung Jesu Christi als inkarnierten Gott hat den manifesten Zweck, an seinem Heil teilzuhaben. In einer ethnologischen Perspektive erfüllt die Verehrung aber die Funktion, die religiöse Gruppe zu stabilisieren. Jedoch, worin besteht die Stabilisierung von Gruppen genau? In der Einbindung der Einzelindividuen (Sozialisation)? Dann wäre die Christusverehrung ein Mittel, jeden Gläubigen auf die Nachfolge Christi, als ›Christ‹ zu verpflichten und jeden Armen als alter Christus zu sehen. In der Symbolisierung der Gemeinschaft (Solidarisierung)? Dann bildete die Christusverehrung ein Mittel, den Zusammenhalt durch ein Gemeinschaftsmahl auszudrücken und zu vertiefen. Oder in der Abgrenzung von anderen Gemeinschaften (Selbstdefinition)? Dann müsste die Christusverehrung als Mittel verstanden werden, andere Erlöserfiguren wie Halbgötter oder deifizierte Kaiser abzulehnen. Es gibt für soziale Endfunktionen keine eindeutige Zielangabe. Vgl. die Stufenleiter der Bedürfnisse bei Malinowski: basic – instrumental – symbolic – integrative. Vgl. den klassischen Aufsatz Malinowski 1939.
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Funktionalisierung von Religion
Die modernen Naturwissenschaften haben sich gänzlich von der Vorstellung verabschiedet, dass der Kosmos teleologisch gebaut sei und dass causae finales die innerweltlichen Wirkungen steuern. Zu sehr war der scholastische Begriff mit Intentionalität besetzt. An dessen Stelle hat die Biologie einen zweckfreien Funktionsbegriff gesetzt: Alles, was zur Erhaltung eines Organismus dient, wurde als Funktion verstanden. Die Anthropologie hat nachgezogen, indem sie alles, was zur Erhaltung einer Gruppe dient, als Funktion bestimmt. Erhaltung wird dann entweder als Gleichgewicht in einem Umweltsystem oder im Organismus oder aber als Bedürfnisbefriedigung angesetzt. Die Besonderheit bei sozialen Systemen liegt darin, dass sie nicht das Letztkriterium des Todes bzw. des Aussterbens haben. Ein Sozialsystem kann sich beliebig umformen, so dass unklar bleibt, ob eine Revolution oder die Reformation das Ende oder die Fortsetzung einer Gesellschaft bedeutet. Man kann von einer beobachteten Leistung nicht eins zu eins auf ein Bedürfnis schließen. Wie bestimmt man dann die Funktion von sozialen Größen? Anstatt häufig vorkommende Zusammenhänge zwischen Ursachen und Resultaten zu beschreiben, muss man einen Äquivalenzbereich festlegen. Bei Luhmann heißt es dazu: »Die Funktion ist keine zu bewirkende Wirkung, sondern ein regulatives Sinnschema, das einen Vergleichsbereich äquivalenter Leistungen organisiert. Sie bezeichnet einen speziellen Standpunkt, von dem aus verschiedene Möglichkeiten in einem einheitlichen Aspekt erfasst werden können.« 6 Der Wissenschaftler legt fest, woraufhin er die Leistung eines Systems untersucht. Das bedeutet, dass er verschiedene Möglichkeiten unterstellt, ein Problem zu lösen. Das Problem liegt nicht einfach vor, sondern wird in der Betrachtung als solches konstituiert, und das zwar möglichst nah am Material, aber doch als konstruktive Entscheidung. Interessant für den Betrachter ist nur, wo sich mehrere Lösungsmöglichkeiten vorstellen lassen. Hunger kann durch verschiedene Nahrung gestillt werden; der Wunsch nach Fortexistenz kann durch verschiedene Vorstellungen erfüllt werden; Tradition kann durch verschiedene Regulierungen garantiert werden. Zwischen den Ursachen (hier Bedürfnissen) und den Wirkungen (hier Befriedigungen) muss kein festes Kausalverhältnis, sondern eine Unbestimmtheitsrelation bestehen. Nur wenn die Beobachtung auch so weich angelegt ist, dass sie Äquivalente zulässt, kann man Funktionen for6
Luhmann 2005a, 14.
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Johann Ev. Hafner
mulieren. Wo Ursache und Wirkung invariant zusammenhängen, würde man nur einen Prozess beschreiben. 7
3.
Das Problem der zunehmenden Abstraktion
Wie kommt man zum Bezugsproblem, auf das man verschiedene Möglichkeiten beziehen will? Laut Luhmann muss der Beobachter »diejenigen Problemgesichtspunkte [finden], welche die Variationsmöglichkeiten eines Systems steuern.« 8 Wo hat ein System mehrere Möglichkeiten, sich zu entwickeln? Wo kann eine Religion sich für eine Alternative entscheiden? Mögliche Gelenkstellen wären beispielsweise die Kanonfestlegung (durch Definition oder Rezeption), die Identifikation von religiöser Erfahrung (ekstatisch oder vernünftig), die Auswahl von Personal (Voll- oder Teilrolle) oder die Festigung von Autorität (Prestige, Wissen, Amt). Prinzipiell kann man immer weiter zurückfragen: Wozu dienen Kanones, Erfahrungen, Rollen? Um ihre Funktion zu bestimmen, muss man wiederum fragen: Welches Problem lösen sie? Und welche Alternativen hätte es gegeben? Es gibt dann auch keine Dysfunktionen, sondern nur gewählte oder nicht-gewählte Alternativen. Dysfunktionalität setzt voraus, dass man weiß, was für ein System gut ist. Daraus ergibt sich die Eigenart und Schwäche der funktionalistischen Analyse: Sie lässt sich nicht empirisch verifizieren, denn historische und soziale Vorgänge lassen sich nicht wiederholen. Die Äquivalenz verschiedener Wirkungen kann nur hypothetisch und mehr oder weniger gut begründet behauptet werden. Insofern bietet die Systemtheorie keine empirische Methode, die kausalwissenschaftlich arbeitet. Sie ist auch keine hermeneutische Methode, die Zeugnisse der Religionsgeschichte auf die Intention ihrer Autoren oder Leser hin deutet. Sie ist eine heuristische Methode, ein formales Suchinstrument. Allerdings zerfließt dieses Instrument in zunehmende Abstraktion, wenn es auf materiale Kriterien verzichtet. Wie oben gesehen, beginnt man bei einem Einzelphänomen und behandelt es als eine
»Die funktionalistische Analyse betrifft nicht eine Beziehung von Ursache und Wirkung, sondern ein Verhältnis mehrerer Ursachen zueinander bzw. mehrere Wirkungen zueinander, also die Feststellung funktionaler Äquivalenzen.« Luhmann 2005a, 18. 8 Luhmann 2005a, 19. 7
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Funktionalisierung von Religion
mögliche Lösung für ein Bezugsproblem. Nichts hindert, weiter zurückzufragen, wofür das Bezugsproblem (Kanonbildung) die Lösung war (Abbruch der Augenzeugenketten) und wofür dieses wiederum die Lösung war (Sicherung von Tradition usw.). Die Funktionsangaben werden mit dem Rückschritt immer abstrakter. Formal kann jede Funktion ›f(x) = y‹ wieder als Argument einer höheren Funktion eingesetzt werden ›f2 [f1(x)] = y‹. Am Ende gelangt man zu der Frage, wozu das System überhaupt dienen soll. Im vorliegenden Kontext würde die Frage lauten, worin die Funktion von Religion im Ganzen bestehe. Die drei bekannten Funktionsbeschreibungen Luhmanns sollen hier nicht ausgebreitet werden: Bestimmung des Unbestimmbaren, 9 Entfaltung des Paradoxes der Beobachtung, 10 Formgebung des Sinnmediums. 11 Uns geht es um den Status solcher Funktionsbestimmungen. Sie befinden sich theoretisch ganz nahe an einer Religionsphilosophie, mit dem Unterschied, dass diese Begriffe im Durchgang durch Funktionsebenen gewonnen werden. Sie führen dazu, dass man letztlich nur mit einer Religion (sprich: dem einen Religionssystem) rechnen muss. 12 Alle Weltreligionen, Spiritismen und magischen Heilverfahren sind strukturelle Anpassungen dieses einen Religionssystems an die kulturellen Gegebenheiten. In allen Religionen findet sich dieselbe Differenzierungslogik. Und in allen Fällen bleibt Religion als Religion erkennbar. Das klingt nach Hegel, der ebenso die zunehmende Entfaltung des Religiösen aus Magie und Weisheit beschrieben hat, allerdings unter der wertenden Prämisse, dass diese Evolution im protestantischen Christentum seine Spitze gefunden hat. Damit der Funktionalist nicht frei phantasiert, muss er schauen, wo das ähnliche Problem anders gelöst wird. Der Willkürverdacht (wonach er z. B. das Phänomen der Kanonbildungen dadurch erklärt, dass woanders etwas anderes anstelle des Kanons entstanden ist) zwingt den Forscher dazu, möglichst generalisierbare Strukturgesetze zu formulieren, die zwar nicht die Zwangsläufigkeit der Entstehung einer bestimmten Variante, wohl aber das Spektrum aller Varianten zwangsläufig erklären. Hierfür hat Luhmann ein sehr technisches Vokabular aus der Kybernetik, der Logik und der Infor-
Vgl. Luhmann 1977, 26. Vgl. Luhmann 2000, 127. 11 Vgl. Luhmann 1997, 167. 12 Luhmann nimmt am Ende von »Die Religion der Gesellschaft« auch ein einziges, nur segmentär differenziertes Religionssystem an. Vgl. Luhmann 2000, 346f. 9
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Johann Ev. Hafner
mationstheorie bereitgestellt (Code-Unterscheidung, Programmierung am Anschlusspol, Inflationsbegrenzung bei den Medien, Reflexion zur Paradoxiebearbeitung usw.) Sie erklären, wie die Erstunterscheidung eines Systems (im Fall der Religion ›transzendent vs. immanent‹) scharf gehalten wird und der Zweifel, dass sie so und nicht anders erfolgt ist, verunsichtbart wird. Auf diesem Abstraktionsniveau kann der Funktionalist solch generelle Gesetze auch im Wirtschafts- oder Politiksystem auffinden, um von dort aus das Religionssystem als eine Variation allgemeinster Kommunikationsprobleme darzustellen. Religion wird dann zum Unterfall einer rein formalen Funktionslogik.
4.
Die Unverzichtbarkeit einer materialen Festlegung
Wir kommen auf die Frage zurück, worin das Erstmotiv eines Systems liegt. Niklas Luhmann hat dieses Problem meist in den ersten Kapiteln seiner Bücher behandelt. Für die erste Unterscheidung gibt es zwar kein Motiv im engeren Sinne, weil ein System nicht von außen motiviert wird, sondern externe Irritationen in Eigenwerte übersetzt. 13 Es gibt jedoch ein Bezugsproblem, welches aus einer Art Überforderung durch überkomplexe Umwelten resultiert. Für die Religion hat Luhmann in seinen frühen Werken das Problem des Unvertrauten identifiziert. 14 Es wäre aber zu einfach gedacht, wenn man darunter die Unsicherheitslage biographischer (Krankheit, Tod) oder naturhafter Krisen (Dürre, Flut) verstehen wollte. Die philosophische Anthropologie, welche die Funktion von Religion in der Kontingenzbewältigung sah, hat das stets behauptet. Das Unvertraute mag ein Ausgangspunkt sein, es kann aber auch durch Diät (gesünderes Essen) oder Architektur (erdbebensichere Häuser) behoben werden und so zu nicht-religiösen Kulturformen führen. Wann aber wird Unvertrautes als »religiös« identifiziert? Es genügt nicht, Menschen wie eine biologische Art mit naturhaften Bedürfnissen zu beschreiben.
›Motive‹ im landläufigen Sinn werden in systemtheoretischer Betrachtung erst nach erfolgreicher Stabilisierung nachgereicht, um teilnehmenden Individuen Unterscheidungen als eine Art Entscheidung, als intentionalen Akt zu plausibilisieren. 14 Luhmann 2005a. Luhmann kommt in späteren Werken aber nie mehr darauf zurück. Der Grund könnte sein, dass er diese Funktionsbestimmung nur für archaische Gesellschaftsformen zutreffend hielt. 13
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Funktionalisierung von Religion
Will man den Anfangsgrund von Religion bestimmen, kann man dies Luhmann zufolge nur als Teil der Selbstbeschreibung von Gesellschaft tun. Dabei muss man sich allerdings der Tatsache bewusst sein, dass man deren Wissenschaftssprache verwendet, dass man mit dieser Theorie die funktionale Differenzierung weitertreibt und dass man keinen privilegierten Standpunkt innerhalb der Gesellschaft einnimmt. Was Habermas kritisiert hat, gehört für Luhmann zum Programm der funktionalen Beschreibung. Sie erhebt keinen Anspruch auf Wahrheit, da doch Wahrheit selbst nur eine »Funktion der Erzeugung von Gewissheit« 15 ist. Unter diesem Vorzeichen der Selbstfunktionalisierung sind alle systemtheoretischen Ausführungen zur Funktion der Religion zu lesen. Auch Luhmanns Werk ist nur eine Beobachtung zweiter Ordnung (also eine Perspektive auf die Perspektive anderer). Eine Beobachtung dritter Ordnung – das wäre eine letztinstanzliche Beschreibung – gibt es nicht. 16 Aber gerade damit stoßen wir an den Anfangsgrund der Religion. Sie übernimmt in jeder Gesellschaft die Aufgabe, ja, sie ist die Bearbeitung des Problems, warum das gegenseitige Beobachten zweiter Ordnung nicht noch einmal von einer Metaperspektive aus beobachtet werden kann. Das ist das eigentlich Unvertraute in einer ausdifferenzierten Gesellschaft: das Fehlen einer Gesamtübersicht. Für sie gab es in der europäischen Tradition zwei große Namen: nous/ratio und theos/deus, die Vernunft und Gott. Beide wurden auf ihre Beobachtungsleistung hin immer wieder identifiziert: der nous als von oben und außen kommende göttliche Vernunft und der deus als nicht-willkürlicher, vernünftiger Gott. An dieser Vernunft/GottFigur hat die Philosophie durchdacht, was in der Systemtheorie abstrakt verhandelt wird. Wenn es einen obersten Beobachter gäbe, würde er alles sehen: sich selbst und die Welt und alle, die in der Welt Habermas/Luhmann 1971, 228. Wenn der Wahrheitsanspruch entfällt, die Wirklichkeit so zu erfassen, dass Wesen sich mit allgemeinen Vernunftgründen darüber auseinandersetzen können, und wenn zudem der Unterschied zwischen diesen und autoritären (Gehorsam) und personalen (Vertrauen) und Nützlichkeitsgründen nicht kritisiert und bewertet werden kann, dann ist das ›wahr‹, was stabil kommuniziert wird. Das führt zu der selbstbezüglichen Figur: Wer über Funktionalismus schreibt, bestätigt, dass er ›wahr‹ ist. 16 Es gibt allenfalls die ringförmige Kette von Beobachtern, die so weitläufig ist, so dass sie vergessen macht, dass sie sich selbst beobachtet. Der Text von Lars Qvortrup The Concept ›Knowledge‹ in the Knowledge Society and Religion as 4th Order Knowledge begeht den Fehler, jede Beobachtung als neue Ordnung zu sehen. Vgl. Qvortrup 2006. 15
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Johann Ev. Hafner
über ihn nachdenken. Das wiederum würde bedeuten, dass er auch unterscheiden können müsste: sich selbst als Beobachter vs. als Beobachteter (Gott und sein Logos); sich selbst vs. die Welt (Schöpfer und Schöpfung); sein Selbstwissen vs. das Wissen über ihn (Gott und Mensch). In jedem Fall entsteht eine Zweiseiten-Form. Weil die Welt nur eine Seite der Erstunterscheidung der Vernunft (bzw. der Selbstdifferenzierung Gottes) bildet, kann von dort aus nie die Gesamtunterscheidung beobachtet werden. Die Welt ist geschaffen, endlich, relativ. Vom Relativen kann nicht auf das Absolute geschlossen werden, weil Relativität erst unter der Annahme eines Absoluten (sub specie divinitatis) kommuniziert werden kann. Man müsste einen Begriff von einem Gott vor dem sich-unterscheidenden Gott (bzw. einen Begriff von einer Vernunft vor der unterscheidenden Vernunft) haben. Formtheoretisch gesprochen: Man müsste das Unterschiedslose (bei Luhmann unmarked space) bezeichnen können, in dem die Unterscheidung getroffen wird. 17 Religiös gesprochen: Der Mensch müsste Gott so denken können, wie er war, bevor er sich der Welt zugewandt hat; der Mensch müsste eine Vernunft benutzen. Und hier wiederholt sich das Problem: Wenn man eine Unterscheidung vor dem Akt des Unterscheidens beobachten möchte, muss man die beobachtete Unterscheidung einer der beiden Seiten der eigenen Unterscheidung zuschlagen. Damit bringt man die beobachtete Unterscheidung in einen Gegensatz zu etwas anderem. 18 Sie wird zu einer Möglichkeit neben einer anderen, ausgeschlossenen Möglichkeit. Das ist genau das Gegenteil von dem, was erreicht werden sollte: Die Erstunterscheidung wird zu einer von vielen möglichen. Gott hätte auch eine andere Welt erschaffen oder keine erschaffen können; die Vernunft könnte auch irrational sein, könnte das Gleiche unterschiedlich begreifen. Mit der Binnenlogik der Welt lässt sich ein Gott nicht denken. Man kann also die erste, alles sehende Beobachtung nicht wieder beobachten, ohne sie zu einer kontingenten Perspektive
Luhmann hat dieses Problem in unterschiedlichen Kontexten diskutiert und unterschiedlich benannt: Er spricht von »Autopoiesis«, vom »blinden Fleck«, von »Selbstimplikation« oder auch vom »Sinn«. Besonders bündig wird das Problem in Luhmann 1997 entfaltet. Im Laufe der Jahre nimmt sein Blick für das philosophische Paradox zu. Während »Autopoiesis« das Anfangsproblem einfach als Systemoperation setzt und damit auch übergeht, entfaltet er am Thema »Sinn« die alle Systeme plagende Unmöglichkeit, das Anfangsproblem überhaupt als solches zu reflektieren. 18 Vgl. Luhmann 2005b, 256. 17
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Funktionalisierung von Religion
unter anderen zu machen. 19 Es bleibt nur, das zu akzeptieren und einen Kommunikationsstopp zu verhängen. Frag nicht, was Gott vor der Schöpfung getan hat! Glaube nur, dass er schon war, bevor er sie erschaffen hat! So lautet denn auch der erste Satz im christlichen Credo. In dieser abstrakten Fassung wäre die Funktion des Religiösen in Luhmanns später Theorie dann folgendermaßen zu bestimmen: Religion formuliert in theologischer Sprache die Frustration der unübersichtlichen Gesellschaft, alle Beobachtungen, die in ihr vorkommen, nicht auf einmal beobachten zu können. Die verschiedenen Funktionssysteme bestehen geradezu in der Ablehnung, von anderer Warte aus beurteilt zu werden. Die Ökonomie will nicht moralisch beurteilt und das Recht will nicht ökonomisch evaluiert werden. Vergleichbar akzeptiert die Wissenschaft keine religiösen Gründe. 20 Jedes Teilsystem tut, was es tut, kann aber keinen Erstgrund angeben und muss zugeben, dass es auf einem anfänglichen Willkür- oder Freiheitsakt beruht, der sich der eigenen Beobachtung entzieht. Das Recht kann nicht entscheiden, ob die Unterscheidung in Recht und Unrecht recht oder unrecht ist. Die Moral kann nicht entscheiden, ob die Unterscheidung in Gut und Böse gut oder böse ist. Im Religionssystem jedoch (und das ist der große Unterschied) ist klar entschieden, dass die Unterscheidung in Jenseits (Transzendenz) und Diesseits (Immanenz) jenseitig ist, auch wenn sie mit diesseitigen Mitteln kommuniziert wird. Sie ist keine Festlegung, die in der Welt getroffen wurde, sondern die als von Gott inspiriert geglaubt wird. Kurz: Wer Gott ist, das hat Gott den Menschen mitgeteilt. Die Menschen haben sich das nicht selbst ausgedacht. Wie gezeigt wurde, hat Luhmann im Laufe seines Werkes die Luhmann hat darauf hingewiesen, dass in der Theologie derjenige der Teufel sei, der fragt, ob Gott alles richtig unterschieden hat. Vgl. Luhmann 1991. Auch der Begriff ›Welt‹ komme nicht in Frage, weil er nur anzeige, dass ein System (noch) nicht in der Lage ist, Daten entweder sich oder der Umwelt zuzuordnen. ›Welt‹ sei nur ein Synonym für ›unscharfer Rand‹. Vgl. Luhmann 2005a, 19. 20 Das führt in der Religionswissenschaft zur Diskussion, ob die Religionswissenschaft (wie die Theologie) eine Reflexionsfunktion des Religionssystems oder Teil des Wissenschaftssystems ist. In letzterem Fall darf sie keine transzendenten Verursachungen in der Religionsgeschichte annehmen und muss sich zwingen, Bekehrungserzählungen beispielsweise auf psychologische und soziologische Faktoren zurückzuführen. Während Theologie stets auch die Explikation und Stärkung religiöser Identitäten verfolgt, kann die Religionswissenschaft vermeintlich zweckfrei (d. h. nur dem Wissenschaftsideal unterstellt) arbeiten. 19
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materiale Funktion (Bewältigung des Unvertrauten) durch die sehr formale Funktion ersetzt, ein grundsätzliches Erkenntnisproblem sozusagen stellvertretend in der Gesellschaft zu entfalten. Damit wurde der Religion zwar eine gesellschaftlich unverzichtbare Funktion gegeben, das allerdings zu dem Preis höchster Abstraktion und einer Entkoppelung von personalen Bedürfnissen. Es gibt die Religion demzufolge nicht, weil die einzelnen Menschen Religion ›brauchen‹, sondern weil irgendwo in der Gesellschaft kontrafaktisch ein Gesamtbeobachter imaginiert werden muss, gerade weil es ihn in der Gesellschaft nicht gibt. Diese Funktion der Religion ist damit komplett erfahrungsfrei beschrieben. Das ist theoretisch elegant, provoziert aber die Frage, ob tatsächlich über Religion kommuniziert wird, wenn die lebensweltlichen Bedürfnisse der Subjekte weder Anlass noch Inhalt sind. Hier soll nicht die übliche Kritik an der ›Abschaffung des Menschen‹ wiederholt werden, aber dennoch muss man die Frage stellen: Kann Religion auf die Lösung eines beobachtungstheoretischen Problems mit symbolischen Mitteln reduziert werden? Luhmann selbst hat eingeräumt, dass Beobachtungen zweiter Ordnung (hier: die Funktionsbestimmung des Religiösen durch Religionstheoretiker) zeitweilig die Befeuerung durch Beobachtung erster Ordnung (Beobachtung der gemeinsamen Welt) benötigt. Soziale Systeme drohen sich in Selbstbezüglichkeit zu erschöpfen, wenn sie nur auf sich selbst reagieren. Sie benötigen ab und zu Realitätskontakt, wobei unter ›Realität‹ die Selbstaussagen von Religionsteilnehmern verstanden wird. Alles Reden über Religion und ihre Funktion schwimmt sozusagen auf dem Ozean der Mikrodiversitäten, 21 dem Gesamt aller Stimmen, welche die Bedeutung einer religiösen Praxis für die eigene Lebensführung persönliche Funktion mitteilen. Dazu gehören sowohl jene, die religiöse Überzeugungen vertreten, wenn sie z. B. die Existenz einer höheren Welt für wahr oder wahrscheinlich halten, als auch jene, die ihr Leben im Engagement für eine höhere Wirklichkeit führen. Während die Engagierten erwarten, dass ihr Leben ein Modell für andere ist und dass man dem Ziel ihrer Hingabe glaubt, bleiben die Überzeugten zueinander in Distanz, weil sie allenfalls erwarten, dass man ihren Äußerungen als authentisch glaubt, auch wenn man ihre Inhalte ablehnt. Beides sind Ausdrucksweisen von ›etwas‹, das allgemein einem eigenen inhaltlichen Bereich namens ›Religion‹ zugerechnet wird. 21
Vgl. Luhmann 1998, 141.
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Funktionalisierung von Religion
Auch wenn die funktionale Sprache sich möglichst formal und unreligiös gibt, so muss sie doch auf die Semantik der kursierenden Selbstaussagen der Überzeugten und Engagierten zurückgreifen. Damit ergibt sich freilich ein weiteres Problem, was ›das Religiöse‹ ist, auf das sich Selbstaussagen von Menschen beziehen. Kann man den faktischen Gebrauch des Wortes »Religion« in einer Gesellschaft zur Grundlage machen? Dies berührt eine der Basisfragen der Religionswissenschaft, wie sich Religion definieren lässt und ob es möglich ist, sie nicht nur funktional, sondern auch material (d. h. unter Hinzunahme inhaltlicher religiöser Selbstaussagen) festzulegen.
5.
Funktionale und andere Versuche, Religiöses zu definieren
Um den eigenen Bereich des Religiösen zu strukturieren, verwenden wissenschaftliche Beschreibungen des Religiösen zwei Programme, nämlich Methoden und Theorien. Während Methoden Bedingungen innerhalb des Systems angeben (»sich selbst zu überraschen« 22), bestimmen Theorien asymmetrisch, indem sie »eine (stets natürlich interne) Externalisierung der Referenz der Operationen des Systems« 23 leisten und dadurch den Betrachtungsraum öffnen. Der Theorie-Satz ›x ist dann religiös, wenn eine überempirische Wirksamkeit erwartet wird‹ limitiert das Mögliche, aber bezieht sich auf noch unidentifizierte Sachverhalte in der Umwelt. Theorien geben an, wo es sich lohnen könnte, methodisch zu arbeiten und stehen in der Form von Hypothesen am Anfang der Forschung und nicht erst als Syntheseleistung am Ende. Daher folgen sie nicht der wahr/unwahr-Codierung, sondern sind redundante, letztlich unentscheidbare »Suchanweisungen« 24, deren Funktion darin besteht, Vergleiche zu ermöglichen, wo offensichtliche Ungleichheit besteht. Bei religiösen Artefakten wie Altären lässt sich die MethodeTheorie-Differenz aufrechterhalten. Sie können sich nicht wehren und werden vom Forscher nach einer bestimmten Methode identifiziert und sortiert, nachdem er eine Theorie vorgelegt hat, warum er einen Tisch oder einen Stein für einen Altar hält. Schwieriger wird es, wenn er hierzu die Aussagen von Kultteilnehmern hinzunimmt, wa22 23 24
Luhmann 1990, 37. Luhmann 1990, 405. Luhmann 1990, 408.
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rum sie einen Tisch oder einen Stein für einen Altar halten, denn nun muss er noch das Verständnis Dritter in seine Theorie mit einbeziehen. Noch schwieriger wird es bei Selbstaussagen über religiöse Erfahrungen, die wie alle Erfahrungen kognitiv unerreichbar sind. Hier gibt es nur Theorie, aber keine Methode. Der Wissenschaftler kann nicht in die Köpfe der Menschen schauen. Leute können alles Mögliche sehen, denken, hören. Aber erst, wenn sie darüber sprechen und schreiben (d. h. wenn Interviews oder Texte vorliegen), kann die Wissenschaft mit den Erfahrungsprotokollen arbeiten. Über die ›Wahrheit‹ der Erfahrung könnten Wissenschaftler nur urteilen, wenn sie dieselbe Erfahrung machen oder einen neuronalen Zustand als eindeutig religiös sortieren könnten. 25 Aber auch dazu müsste man sich austauschen, ob die Erfahrung des Probanden und des Wissenschaftlers dieselbe ist. Und dazu muss man wieder Texte produzieren. Die Autointerpretationen der religiösen Zeugnisse sind immer ›wahr‹, d. h. wir nehmen sie als Zeugnis ernst, weil unterstellt bleibt, dass der Erfahrende auch Religion meint, wenn er ›Religion‹ sagt. Am schwierigsten wird es mit Aussagen, die selbst den Charakter von Universaltheorien haben. Beispiele wären Sätze wie ›Die Welt ist eine Schöpfung‹ oder ›Alles Leben ist Leiden‹. Sie ähneln den Aussagen der Metaphysik wie ›Sein und Denken sind dasselbe‹ oder ›Alles Seiende ist endlich‹. Hier ist methodische Gegenstandsbegrenzung nicht möglich. 26 Wird der Satz ›Es gibt eine höhere Wirklichkeit/Gott‹ oder ›Es gibt das Überempirische‹ als bloß kontingente über etwas Nicht-Kontingentes Aussage qualifiziert, entfällt für die Religionswissenschaft der Bezug zu ihrem eigenen Gegenstand, der einen Begriff des Transempirischen (nennen wir es nun: das Transzendente 27) zumindest theoretisch impliziert. Auch die exakt wissenschaftliche Beobachtung von neuronalen Zuständen muss auf die Selbstaussagen der Erfahrenden bezogen werden. Damit kann auch die Neurotheologie nicht auf Verständigung (»Was haben Sie gefühlt, als Ihr Schläfenlappen erhöhte Aktivität zeigte?«) verzichten; Experimente allein sind nicht aussagekräftig: Auch die empirische Forschung erreicht die ›Realität‹ nicht. Vgl. Luhmann 1990, 414. 26 Das Argument, in exakten Wissenschaften gelte das Gebot der schlankesten Theorie, trifft hier nicht zu. Ockhams Rasiermesser gilt für den Satz ›Es gibt eine überempirische Wirklichkeit‹ nicht, wenn er als Theorie formuliert ist, deren Funktion ja gerade darin besteht, redundant zu sein und das bisher Ausgeschlossene anzudenken. 27 Luhmann hat der Unverzichtbarkeit des Religionsbegriffs entsprochen, indem er die Codierung der Religion mit der Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz formuliert hat. Diese formalen Codewerte stehen für die Verdoppelung von Welt in 25
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Funktionalisierung von Religion
Wie alle Wissenschaften beobachtet die Religionswissenschaft methodisch alles, was der Fall ist, und stellt Theorien darüber auf, was dahintersteckt. 28 Jedoch legt sie mit ihrer Perspektive fest, was sie interessiert. Wenn sie sich der Architektur oder der Geographie zuwendet, dann nur unter der Hinsicht, dass es religiöse Architektur ist oder dass Geographie auf religiöses Verhalten Einfluss nimmt. Um nicht mit anderen Disziplinen zu verschwimmen, muss die Religionswissenschaft einen Vorbegriff von ›Religion‹ unterstellen. Biologie kann ihre Gegenstände voraussetzen, der Ornithologie geht es um Vögel. Im Bereich des Religiösen wird der Gegenstand nun aber konstituiert aus einer Mischung von Vorerfahrungen, was faktisch für Religion gehalten wird, und einem Vorbegriff, was idealerweise als Religion gelten soll. Will man sich nicht ganz auf die Etymologie verlassen, die letztlich ein westlich-lateinisches Modell sedimentiert, muss man fragen, wie sich Begriffe bilden, um sie kontrolliert zu verwenden. Daher beginnen Handbücher für Religionswissenschaft mit einem Grundkurs in der Kunst der Definition, der meist drei Arten vorschlägt, nämlich die substantiale, die funktionale und die akzidentale Definition. Wer substantial definiert, geht von einem Vorbegriff über das Wesen als einer idealen Vollform aus, z. B. das Heilige, das Erhabene, das Unvertraute. Als religiös gelten danach alle kulturellen Erscheinungen, die implizit oder explizit einen Bezug zum Heiligen haben. Meist zieht diese Form die Kritik am Essentialismus auf sich, weil der Begriff ›Wesen‹ stets einen normativen Kern enthalte und weil der Bezug vom Betrachter hergestellt würde, was ihn unter Projektionsverdacht bringt. Allerdings ist solche Kritik billig, wenn sie ›Wesen‹ als überzeitlichen, phänomenunabhängigen Begriff versteht. Zwar standen Begriffe wie eidos, species, essentia in Antike und Mittelalter für das Erinnern an ewige Ideen bzw. für die Abstraktion aus den geschaffenen Dingen. Jenseits dessen wurde der Wesensbegriff im Laufe der modernen Metaphysik mit Hegel und Husserl jedoch zu eine anschlussfähige, sichtbare und eine abschließende, unsichtbare, nur reflexiv erreichbare Seite. Die Religionswissenschaft kann beobachten, wie der Code angewendet wird: implizit zur Bezeichnung von Alltags- und Biographieunterbrechungen (erwartbar/unerwartbar) oder explizit wie im Falle von reflexiven Religionen (programmierbar/nicht-programmierbar). Letztere drehen den Code um: Indem sie beanspruchen, über die unsichtbare Seite Aussagen machen zu können, legen sie den Anschlusspol auf den Transzendenzwert. 28 Der folgende Abschnitt ist Teil meines Beitrages in: Weidner, Daniel (Hrsg.): Handbuch Literatur und Religion, Stuttgart 2015 (im Erscheinen).
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einem flüssigen Begriff, der festhält, dass Ähnlichkeiten in der Empirie nur dann vernünftig ausgesagt werden können, wenn vorausgesetzt wird, dass auch Aussagen ähnlich sind. Wer funktional definiert, geht von einem Vorbegriff über die Leistung aus. Diese kann in der Bewältigung individueller Lebenslagen (z. B. Trost angesichts des Todes) ebenso bestehen wie in der Stabilisierung sozialer Strukturen (z. B. Gemeinschaftsbildung durch das Bewusstsein kollektiver Erwählung). 29 Auch hier erhebt sich der Projektionsverdacht, dass ein Außenbetrachter Funktionen (er-)findet, die eine religiöse Praxis begleiten, sie aber nicht begründen, wie z. B. die höhere Nachkommenschaft von religiösen Gemeinschaften. Es gehört aber zum Begriff der ›Funktion‹, dass er latente Wirkungen bezeichnet, die den Religionsteilnehmern nicht bewusst sind. Die Funktion des Regentanzes oder der Eucharistiefeier liegt nicht im Regen bzw. der Eingliederung in den Christusleib, sondern in der Sammlung des Stammes bzw. der Gemeinde. 30 Vermeintlich weniger voraussetzungsreich sind akzidentale, polythetische Definitionen: Sie legen ein Ensemble von hinzukommenden (akzidentellen) Merkmalen zugrunde, die man bei Religionen findet, welche gemeinhin schon als Religion gelten. 31 Man geht dann vom faktischen Wortgebrauch bzw. von einem oft unbewussten Alltagsverständnis aus. So entsteht eine offene Liste aus Charakteristika wie z. B. wirkende Kraft, Wunder, Vorsehung, Lohn, Strafe, Rituale, heilige Sachen, Feste, Amtsträger … Diese Liste bleibt offen, weil durch die Anwendung der Liste eventuell (bei Zutreffen der Mehrzahl von Charakteristika) neue Religionen hinzukommen, aus denen man wiederum neue Charakteristika gewinnt. 32 Hier liegt ein kontrollierter Zirkelschluss vor. Allerdings wird damit das Problem nur vertagt, weil nicht angegeben wird, welches Detail an Religionen merkmalsfähig ist. Die Fertilität, der Gottesbezug, das Spendenwesen, der Ressourcenverbrauch? Man kommt nicht umhin, wiederum eine Voraussetzung zu machen, die religiöse Merkmale von ökoVgl. Bourdieu 2011, 30–38. Freilich verlieren Funktionen dort ihre Wirkung, wo ihre Latenz den Teilnehmern sichtbar wird. Welcher Kranke ließe sich von einem Pfarrer trösten, der ihm erklärt, dass er deshalb vom ewigen Leben erzähle, weil es üblicherweise tröstlich sei? Den so Ent-täuschten bleibt dann die Flucht in die Ästhetisierung der Rituale: Dann wird Religion zur Traditionspflege und zur Erbauung an sakralen Texten und Gesten. 31 Vgl. Bergunder 2011. 32 Vgl. Wilson 1998, 116 f. sowie Saler 2000. 29 30
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Funktionalisierung von Religion
nomischen beispielsweise unterscheidet. Selbst radikal ökonomische Ansätze wie das Modell von Stark und Bainbridge, das Religion vor dem Hintergrund des sozialen Austauschs von Vergünstigungen und Kosten als postulierte Kompensationen erklären will, muss auf den Begriff »supernatural« zurückgreifen, um religiöse von nicht-religiösen Kompensatoren abzuheben. 33 Das Merkmal ›Übernatürlichkeit‹ wird aus dem religiösen Bereich importiert, was freilich zur Tautologie führt, da der religiöse Bereich durch einen religiösen Begriff definiert wird. 34 Man kann das Merkmal verteidigen, indem man sich darauf zurückzieht, hier werde nur ex negativo definiert: ›Übernatürlich‹ beziehe sich nur auf das nicht-Empirische, ohne sich festzulegen, worin dasjenige bestehe, welches das Sinnliche übersteigt. Allerdings bleibt unklar, wie das Empirische als Ganzes abgegrenzt werden kann, ohne es unter Zuhilfenahme eines Begriffs vom Nicht-Empirischen zu bezeichnen. Auch Begriffe für das Empirische wie Kausalität, Identität oder Materie werden immer schon vorausgesetzt und durch nachträgliche Bewährung erhärtet, sind aber keineswegs das Ergebnis von empirischer Erfahrung. Zwar kann Empirisches empirisch definiert werden, nicht aber die Grenze des Empirischen. Religion liegt formal dann vor, wenn der Begriff ›Nicht-Empirisches‹ nicht etwa auf dasjenige reduziert wird, das sich empirisch nicht beweisen lässt (A und nicht-A), sondern als Bezeichnung für ein Über-Empirisches (A und B) verwendet wird, das neben oder über dem Empirischen oder auch jenseits des Empirischen existiert, was immer dann ›existieren‹ heißt.
6.
Ergebnis
Gerade als Teil des Wissenschaftssystems muss eine funktionale Beschreibung des Religiösen wenigstens an einer Stelle, nämlich in der theoretischen Bestimmung ihres Gegenstands, einen religiösen Begriff importieren. Dieser erfüllt seine Funktion – nämlich die Ermöglichung einer Suchbewegung, in der funktionale Äquivalente sinnvoll verglichen werden können – nur dann, wenn er selbst nicht weiter funktionalisierbar ist und (mathematisch ausgedrückt) die Gleichung 33 34
Vgl. Stark/Bainbridge 1987. Vgl. Luhmann 1989.
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Johann Ev. Hafner
beschreibt, in deren Variable verschiedene Argumente eingesetzt werden können. Wird sie als Funktion innerhalb einer weiteren (z. B. ökonomischen oder juristischen) Funktion verstanden, muss man die Disziplin wechseln. ›Religion‹ ist für die Religionswissenschaft ein Abschlussgedanke, den sie selbst nicht herstellt, sondern akzeptiert. Daher bleibt auch die distanziert beobachtende Funktionalisierung an einen materialen Begriff seines Gegenstandes gebunden. Erst damit kann der Funktionalist bestimmte Texte, Gesten, Übungen als religiös identifizieren. Er tut dies, indem er Selbstbeschreibungen übernimmt, die einen Überstieg über die Erfahrungswelt andeuten. Sein theoretisches Arbeiten wird damit über Gebühr gefordert, muss er doch damit rechnen, dass sein eigenes Wirklichkeitsverständnis enger ist als das der von ihm Beobachteten. Aber es ist ja gerade die Aufgabe von Theorien, nicht nur wahrscheinliche Zusammenhänge zwischen methodisch erhobenen Daten herzustellen, sondern auch mögliche Zusammenhänge mit möglichen Welten zu vermuten. Empirisch beobachtbare Riten, philologisch analysierbare Texte sind als religiös zu bezeichnen, wenn in ihrer Erwartungsstruktur das Wirken einer anderen Welt 35 inbegriffen ist – oder negativ ausgedrückt – das Wirken der hiesigen Welt aufgehoben, verstärkt, unterbrochen werden kann. Dieses importierte Merkmal ist kein unschuldiger Begriff. Er enthält vielmehr selbst wiederum die Funktion, das Empirische zu übersteigen! Um die Funktion des Religiösen angemessen zu beschreiben, muss dies mitformuliert werden. Man kennt das bereits aus der philosophischen Anthropologie, wo von einem Sinn- oder metaphysischen Bedürfnis des Menschen gesprochen wird. 36 Solches Bedürfnis ist gerade nicht darauf aus, innerhalb der eigenen Erwartungshorizonte erfüllt zu werden, sondern öffnet sich für eine bedürfnisunabhängige, die eigenen Erwartungen überraschende ›Erfüllung‹. Insofern muss die Funktion der Erfüllung sich sozusagen selbst überbieten. Das Jenseits muss mehr sein als Befriedigung der Sehnsucht nach ihm. Wie oben gesehen ›funktioniert‹ die Rede von einem Gott oder von einem ewigen Gesetz nur dann, wenn sie nicht durch eine Funktion bestimmt ist, wohl aber die Funktion bestimmt. Sie
Auch John E. Smith hält den Bezug auf eine andere Welt (»cosmic rootage«) für ein Proprium des Religiösen. Quasireligionen hingegen entwerfen Zustände in der empirischen Welt, nicht eigene Welten. Vgl. Smith 1994, 36. Wäre das Nirvana ein Zustand neben anderen innerweltlichen Zuständen, würde es unter diese Kritik fallen. 36 Vgl. Bolz 2008. 35
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Funktionalisierung von Religion
funktioniert, wenn das Gesetz oder Gott die unabhängige Variable bilden und Welt oder Mensch als abhängige Variablen eingesetzt werden können. Diese funktionale Ersetzbarkeit wird im Bereich des Religiösen als Selbstrelativierung (Geschöpflichkeit, Scheinbarkeit, Nichtigkeit) ausgedrückt 37 und auf einen höheren, stabileren, wahreren Zustand bezogen. In religiöser Sprache wäre das die Erlösung im Himmel oder die Erleuchtung zum Nirvana. Diese Zustände werden zwar als grundsätzlich erreichbar in Aussicht gestellt, aber mit dem Vorbehalt, dass sie nicht einfach durch die Verlängerung der eigenen Absichten erlangt werden. Religiös sind demnach solche Kommunikationen in einer Gesellschaft, welche die Funktionslogik unterbrechen. Freilich kann man dieses auf individueller Ebene nicht-funktionale Erleben und Handeln als eine auf gesellschaftlicher Ebene notwendige Funktion darstellen, die hilft, funktionales von nichtfunktionalem Erleben und Handeln zu unterscheiden, dann aber nur noch mit einem analogen Gebrauch des Wortes ›Funktion‹. Auf soziale Systeme übertragen könnte man von einer Funktion der Funktionsunabhängigkeit sprechen.
Literatur Bolz, Norbert (2008): Das Wissen der Religion. Betrachtungen eines religiös Unmusikalischen. München 2008, 85–93. Bourdieu, Pierre (2011): Religion. Schriften zur Kultursoziologie, Bd. 5. Berlin 2011. Habermas, Jürgen/Luhmann, Niklas (1977): Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Was leistet die Systemtheorie? Frankfurt a. M. 1977. Homann, Heinz-Theo (1997): Das funktionale Argument. Konzepte und Kritik funktionslogischer Religionsbegründung. Paderborn 1997. Luhmann, Niklas (1977): Funktion der Religion. Frankfurt a. M. 1977. Luhmann, Niklas (1989): Die Ausdifferenzierung von Religion. In: Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 3. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1989. Luhmann, Niklas (1990): Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1991.
Dies setzt voraus, dass ›Welt‹ und ›Mensch‹ noch andere Alternativen (andere Welten wie Himmel und Sphären bzw. andere Wesen wie Geister oder Engel) als solche haben, die zusammen die Menge der Argumente bilden, welche man in die abhängige Variable einsetzt.
37
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II. Religion – pragmatistisch betrachtet
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Matthias Jung
Die Religion innerhalb der Grenzen gewöhnlicher Erfahrung 1
Es klingt ein wenig anmaßend, Kants berühmte Religionsschrift im Titel meines Beitrags zu paraphrasieren. Meine einzige Entschuldigung besteht darin, dass es inhaltlich so gut passt. Ich möchte nämlich zeigen, dass wir ein differenziertes Verständnis von gewöhnlicher Erfahrung in ihrem Verhältnis zur Wissenschaft brauchen, um auf die Herausforderung reagieren zu können, die szientistische Weltbilder für religiöse Wirklichkeitsdeutungen darstellen. Und ich möchte weiter zeigen, dass jede umfassende Deutung des menschlichen Wirklichkeitsverständnisses, also auch der Naturalismus, sich innerhalb der Konfinien gewöhnlicher Erfahrung 2 bewegen muss. Hier liegt natürlich der Einwand nahe, dass religiöse Haltungen und Überzeugungen gerade nicht aus gewöhnlichen, sondern aus außeralltäglichen Erfahrungen hervorgehen, in denen das Selbst über seine normalen Grenzen und gewöhnlichen Interessen hinausgeführt wird. Im weiteren Sinn ›mystische‹ Erfahrungen spielen hier offen1 Dieser Beitrag geht teilweise auf mein Buch Gewöhnliche Erfahrung (Jung 2014), besonders dessen zweites und viertes Kapitel, zurück. 2 Ein wichtiger Gewährsmann für meinen Ansatz ist John Dewey, für den die im alltäglichen, gewöhnlichen Handeln gewonnene Erfahrung gewöhnlicher Menschen den unhintergehbaren Ausgangspunkt des Philosophierens bildet. Allerdings arbeitet Dewey, besonders in Kunst als Erfahrung (Dewey 1980), auch mit dem Kontrast zwischen gewöhnlicher (dann im Sinne von monotoner, bedeutungsarmer) und emphatischer ästhetischer Erfahrung. Dieser Kontrast ist wichtig, bewegt sich aber innerhalb des weiteren, grundsätzlichen Begriffs von gewöhnlicher Erfahrung, denn Dewey geht es gerade um die »Wiederherstellung der Kontinuität zwischen der ästhetischen Erfahrung und den gewöhnlichen Lebensprozessen« (Dewey 1980, 18). Anders formuliert: Dewey verwendet einen weiten und einen engen Begriff gewöhnlicher Erfahrung. Der enge Begriff (gewöhnliche Erfahrung als Kontrast zu ästhetischer) bezeichnet eine von mehreren möglichen Unterarten des weiteren. Dieses begriffslogische Schema greife ich auf und arbeite selbst mit einem weiteren (die umfassende Gattung) und einem engeren (eine Unterart, die noch mit anderen integriert werden muss, um die Gattung zu instantiieren) Begriff gewöhnlicher Erfahrung.
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Matthias Jung
kundig eine besondere Rolle. William James hat daher in seinem epochalen Werk The Varieties of Religious Experience gerade diesen Aspekt ins Zentrum gerückt. »Personal religious experience«, so heißt es gleich zu Beginn des (zusammen mit XVII) zentralen Kapitels XVI, »has its root and centre in mystical states of consciousness.« 3 Doch hier gilt es zu differenzieren: Dass außeralltägliche Erfahrungen der Ganzheit, Einheit und Sinnhaftigkeit für Religion zentral sind, scheint mir unbezweifelbar. Damit ist aber erstens noch nicht geklärt, wie sich solche herausgehobenen Erfahrungen zum ›Tagesgeschäft‹ des In-der-Welt-Seins verhalten. Reinhard Margreiter argumentiert in seiner bedeutenden Studie Erfahrung und Mystik dafür, dass »Mystik – die mit besonderer Emotionalität verbundene Wahrnehmung der Wirklichkeit als ›ichlos‹, ›differenzlos‹ und ›kategorienlos‹ – keinen genuin anderen Zugang zur Welt darstellt […], sondern sich aus der Logik des allgemeinen Erfahrungs- bzw. Symbolprozesses strukturell ergibt« 4. Zweitens werden solche Erfahrungen offensichtlich nur dann habitusbildend wirksam, wenn sie in irgendeiner Weise in die unspektakuläre Lebensform des Alltags integriert werden können. Drittens schließlich verstehe ich die Rede von gewöhnlicher Erfahrung eben aus dem Kontrast (nicht mit ungewöhnlicher, sondern) mit der methodischen Erfahrung der Wissenschaften heraus. Das ist der wichtigste Punkt. Gewöhnliche Erfahrung ist jene holistische, verkörperte, an unser Handeln gebundene Form des Weltzugangs, in der emotionale, volitionale und kognitive Dimensionen noch gar nicht klar unterschieden werden. 5 Weil Menschen verkörperte Symbolverwender sind und insofern in einem Spannungsverhältnis von lokalem Erleben und globalem Sinnhorizont existieren, gehört hierzu notwendig ein Bezug auf die Totalität von Erfahrung und mithin eine religiöse oder auch weltanschauliche Dimension. In diesem präzisierten Sinn sind auch die ekstatischen Einheitserlebnisse des Mystikers Möglichkeiten gewöhnlicher Erfahrung. Es sind nun die Philosophen des klassischen Pragmatismus (hier vor allem James und Dewey), denen wir die tiefsten Einsichten in die Grundstruktur gewöhnlicher Erfahrung und in ihr Verhältnis zum James 1990, 342. Margreiter 1997, 170. 5 Diese Unterscheidung entsteht erst in einer kritischen Reflexion auf die (im Vollzug unthematischen) Komponenten der Erfahrung, d. h. immer dann, wenn der Fluss der Erfahrung stockt und deshalb eine Rekonstruktion (Mead) des Erfahrungsgegenstands stattfinden muss. 3 4
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Die Religion innerhalb der Grenzen gewöhnlicher Erfahrung
wissenschaftlichen Denken verdanken. Ich werde mich in meinem Beitrag hauptsächlich an Dewey orientieren. Mit seiner ›Theorie des vollständigen Substrats‹ hat er in seiner späten Logik 6 eine Konzeption entwickelt, die mir geeignet erscheint, um zahlreiche Missverständnisse und reduktionistische Auffassungen zu korrigieren. Allerdings fällt Dewey selbst hinter seine Einsichten zurück, wenn er – beispielsweise in der Religionsschrift 7 – suggeriert, seine eigene, nichtreduktionistische Variante des Naturalismus habe nicht den Status einer weltanschaulichen Option unter anderen, sondern sei in gewisser Weise alternativlos. Damit ist die Gliederung meines Beitrags vorgezeichnet: Ich werde zunächst die Theorie des vollständigen Substrats skizzieren (1), dann die gewonnenen Merkmale gewöhnlicher Erfahrung nutzen, um weltanschauliche Sinndeutungen als strukturell unvermeidlich zu charakterisieren (2), um schließlich Deweys eigene Position zu dieser Frage kritisch zu durchleuchten (3). Schon hier im Vorfeld möchte ich jedoch auf die notorische Schwierigkeit hinweisen, zwischen Weltanschauungen und Religionen trennscharf zu unterscheiden. So würde sich beispielsweise der Versuch, einen Transzendenzbezug als konstitutives Merkmal von Religionen im Unterschied zu Weltanschauungen einzuführen, als nicht zielführend erweisen, wie etwa Buddhismus und Konfuzianismus zeigen. Ich verwende hier daher hilfsweise den nicht sehr glücklichen, aber doch unentbehrlichen Begriff der ›Weltanschauung‹ als Gattungsbegriff für alle umfassenden Sinndeutungen der Wirklichkeit, die sich nicht auf eine kognitive Weltbeschreibung beschränken, sondern auch eine emotionale Grundeinstellung und eine Orientierung des Handelns artikulieren. Dieser Gattungsbegriff enthält als Unterarten sowohl Religionen als auch Weltanschauungen im engeren Sinn.
1.
Die Theorie des vollständigen Substrats
Die szientifische Infragestellung religiöser Wirklichkeitsdeutungen liefert das wichtigste Beispiel für die problematisch gewordenen Beziehungen zwischen gewöhnlicher Erfahrung und den Wissenschaften. In aller Kürze gesagt, besteht für Dewey die Lösung dieses Ent6 7
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fremdungsproblems darin, dass die Wissenschaften zum gewöhnlichen holistischen Weltverhältnis in ein Art-Gattungs-Verhältnis gebracht werden. Das vollständige Substrat der Erfahrung und damit die übergeordnete Gattung ist das gewöhnliche Weltverhältnis nicht in seiner vorwissenschaftlichen Unmittelbarkeit, sondern erst nach einer geglückten Integration des in der Unterart Wissenschaft generierten Wissens. Letzterem gesteht es auf seinem Terrain Autonomie und Souveränität zu, weiß aber gleichzeitig um seine Unvollständigkeit und vor allem darum, dass Wissen erst durch eine Emotion und Wille einbeziehende Extrapolation von Erfahrung weltanschauliche Relevanz gewinnt. Gewöhnliche Erfahrung und wissenschaftliche Erkenntnisse konkurrieren also nach Dewey nicht auf der Ebene ArtNebenart miteinander. Vielmehr stehen Letztere in einem vertikalen Bezug zu Ersterer als der übergreifenden Gattung. Das hat unmittelbar zwei wichtige Konsequenzen: Die Autorität der Wissenschaften kann erstens auf ihrem Terrain durch gewöhnliche Erfahrung nicht in Frage gestellt werden und umgekehrt bringen zweitens Totalisierungen wissenschaftlicher Erfahrung (also z. B. szientifische Weltsichten) unweigerlich einen Übergang zu gewöhnlicher Erfahrung mit sich, können also die Autorität der Wissenschaften nicht mehr für sich beanspruchen. Eine andere hilfreiche Weise, diesen Punkt zu verdeutlichen, ist Deweys Unterscheidung zwischen Sinn/Bedeutung und Wahrheit. Für Dewey können wahrheitskonditionale Bedeutungstheorien unser sprachliches Weltverhältnis in gewöhnlicher Erfahrung nicht erfassen, weil sie mit der assertorischen Funktion eine bestimmte Sprachfunktion verabsolutieren. Das Explizit-Machen erlebter Qualitäten, die Schaffung eines öffentlichen Raums und die Erzeugung kontrastiver Maßstäbe für Bewertungen jedoch sind (wie auch Charles Taylor 8 zeigt) ebenfalls fundamentale Funktionen der Sprache, die schlicht übersehen werden, wenn der Wahrheitsbezug des Aussagesatzes als Messlatte für die Sprache im Ganzen herhalten muss. Das Sprachspiel der Wissenschaften hingegen ist unbestreitbar primär wahrheitskonditional (enthält allerdings immer auch evaluative Komponenten). Wissenschaften erzeugen systematisch miteinander verbundene Aussagesätze (Theorien), deren Wahrheitswert das ent-
Zur ›Herder-Humboldt-Hamann-Theorie‹ der Bedeutung vgl. Taylor 1992, insb. 63–74.
8
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Die Religion innerhalb der Grenzen gewöhnlicher Erfahrung
scheidende Kriterium ihrer Anerkennung und Geltung ist. 9 Eine wahrheitskonditionale Bedeutungstheorie legt also bereits durch ihre Form die Überzeugung nahe, dass Sprechen im Kern die Formulierung von Aussagesätzen ist, und dass die (Natur-)Wissenschaften demzufolge das Wesen unserer sprachlichen Weltbeziehung besonders deutlich zum Ausdruck bringen. Gegen den damit verbundenen Reduktionismus hatte Taylor seine expressivistische Bedeutungstheorie in Stellung gebracht. Ihr geht es ja nicht darum, die Behauptungs- und Aussagefunktion der Sprache zu leugnen. Das wäre absurd und vor allem selbstwiderlegend, weil eine solche These selbst nur in Aussagesätzen zur Sprache gebracht werden könnte. Taylor will vielmehr deutlich machen, dass assertorische Sätze nur innerhalb des größeren Kontexts expressiver Sprachfunktionen verständlich gemacht werden können. Die logische Struktur ist hier wiederum die Beziehung der Gattung zu einer Unterart. Und genau diesen Punkt hebt auch Dewey heraus, wenn er Sinn oder Bedeutung (als Gattungsbegriffe) 10 und Wahrheit (als Artbegriff) klar unterscheidet: »Sinn oder Bedeutung ist von größerem Umfang und höherem Wert als Wahrheit. […] Selbst im Hinblick auf Wahrheiten ist Sinn oder Bedeutung die umfassendere Kategorie; Wahrheiten sind nur eine Klasse von Bedeutungen, nämlich diejenigen, in denen ein Anspruch auf Verifizierbarkeit durch Konsequenzen ein immanenter Teil ihrer Bedeutung ist. Jenseits dieser Insel von Bedeutungen, die ihrer eigenen Natur nach wahr oder falsch sind, liegt der Ozean der Bedeutungen, für die Wahrheit und Falschheit irrelevant sind.« 11
Szientistische Naturalisten und Vertreter wahrheitskonditionaler Bedeutungstheorien (so könnte man diesen Passus deuten) begehen einen mereologischen Fehlschluss, indem sie die Eigenschaften der Insel mit denen des Ozeans gleichsetzen, in dem sich die Insel befinDiese Aussage ist selbstverständlich, wie die Einsichten der historischen Epistemologie von Kuhn über Feyerabend bis in die Gegenwart gezeigt haben, eine idealisierende Stilisierung – allerdings von solcher Art, dass ohne sie wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn unverständlich bliebe. 10 Seit Frege zwischen Sinn (der »Art des Gegebenseins« eines Gegenstands) und Bedeutung (dem Gegenstand, auf den Bezug genommen wird) sprachlicher Zeichen unterschieden hat, spielt diese Differenz (mit unterschiedlichen Bezeichnungen wie meaning und reference etc.) eine wichtige Rolle in der analytischen Sprachphilosophie. Dewey unterscheidet jedoch zwischen »Sinn« und »Bedeutung« gar nicht. Seine Unterscheidung zwischen ›Sinn/Bedeutung‹ einerseits und ›Wahrheit‹ andererseits weist allerdings gewisse Parallelen zu Freges Unterscheidung auf. 11 Dewey 2003, 8 f. 9
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det. Zusätzliches Gewicht gewinnt die Insel-Metapher dadurch, dass sie eine zentrale Metapher Kants aus der Kritik der reinen Vernunft aufgreift und ihr eine neue Wendung gibt. Auch bei Kant gibt es nämlich ein Land, das als ›Insel der Wahrheit‹ bezeichnet wird. Umgeben ist es allerdings »von einem weiten und stürmischen Ozeane, dem eigentlichen Sitz des Scheins« (B 295; A 236). Dewey weist die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Schein keineswegs zurück; er würde ihre Geltung aber (um im Bild zu bleiben) auf das Inselinnere beschränken. Nichtpropositionale Bedeutungen, die bloß scheinbar sind, kann es hingegen gar nicht geben. Dass etwas als bedeutsam erlebt wird, stellt eine hinreichende Bedingung dafür dar, dass es in genau diesem Maß für das Erfahrungssubjekt auch tatsächlich bedeutsam ist. Es kann natürlich sein, dass die erlebte Bedeutsamkeit im Artikulations- und Reflexionsprozess (also auf dem Weg zur expliziten Bedeutung) verschwindet: Das Bauchgefühl kann trügen, das Begehrte kann sich als das nicht tatsächlich Begehrenswerte erweisen usw. Damit dieser Klärungsprozess überhaupt zustande kommen kann, muss es dem Subjekt der Erfahrung aber zunächst wirklich und wahrhaftig als bedeutsam erschienen sein. Daraus ergibt sich im Übrigen auch, dass ›Sinn‹ oder ›Bedeutung‹ in Deweys Sprachgebrauch ihre Gegenteile wie ›Sinnentzug‹ und ›Bedeutungslosigkeit‹ (nicht aber ›Sinn- oder Bedeutungsfreiheit‹) einschließen. Der für die Entstehung von Bedeutungen entscheidende Punkt ist, dass in der Interaktion mit der Umwelt das Wohl und Wehe des Organismus tangiert wird. Irrelevant hingegen ist, ob dies in positiver oder negativer Weise geschieht. Nun gibt es natürlich eine Unterart von Bedeutungen, die tatsächlich wahrheitskonditional ist. Sie wird von denjenigen Bedeutungen gebildet, die Objekte des Wissens werden können, weil sie eine isolierende Bestimmung der Referenz (sprich: des Bezugs auf einen außersprachlichen Gegenstand) erlauben. Dieser Gegenstandsbezug taucht zwar in Deweys Formulierung gar nicht auf, ergibt sich aber aus seinem Bestehen auf Verifizierbarkeit durch Konsequenzen. Der Wahrheitsbegriff und mit ihm die möglichen Objekte des Wissens kommen ins Spiel, sobald der referentielle Aspekt der Interaktionsbedeutung in den Vordergrund tritt. Das kann zum einen okkasionell und in einer Form geschehen, die vom Erfolg unserer nichtkognitiven Ziele dominiert wird. Tatsächlich testen wir in gewöhnlicher Erfahrung ja unentwegt den Wahrheitsgehalt von Überzeugungen, indem wir uns im Handeln von ihnen leiten lassen. Dabei geht es uns aber 110 https://doi.org/10.5771/9783495808375 .
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nicht darum, zu wissen, welche Eigenschaften den uns umgebenden Dingen an sich zukommen; wir möchten vielmehr für uns erfolgreich handeln. Das wiederum können wir nur, wenn wir auf die dafür relevanten physischen Bedingungen Rücksicht nehmen. Die Bestimmung der Referenz kann (wie in den Wissenschaften) zum anderen aber auch eine systematische, vom Lebensvollzug abgekoppelte Form annehmen. Deweys Pointe besteht nun darin, den Wahrheitsbegriff zwar als schlechthin zentral herauszuheben, wenn es um interaktionsunabhängige Eigenschaften von Gegenständen und Ereignissen geht (wobei, um es noch einmal zu betonen, für Pragmatisten diese Unabhängigkeit nur durch die Interaktion überhaupt sichtbar wird), für qualitativ erfahrene Bedeutungen aber seine Zuständigkeit zu bestreiten. Deweys Beispiele sind kulturelle Artefakte. Wenn wir uns für die griechische Zivilisation oder für Shakespeares Hamlet interessieren, spielt die Referenz der Sprache auf sprachunabhängige Gegenstände und deren kausale Beziehungen untereinander einfach keine Rolle. Gegenstand des Verstehens sind vielmehr die artikulierten Qualitäten und kulturellen Werte, an denen sich durch Beschäftigung mit den jeweiligen Ausdrucksformen teilhaben lässt. Um die kulturellen Bedeutungen der Ilias und der Odyssee verstehen zu können, ist es zum Beispiel nicht wichtig, wo Troja lag, ob Homer tatsächlich gelebt hat etc. Referentielle, verifizierbare Bedeutungen (d. h. Objekte des Wissens) und nicht-wahrheitskonditionale Bedeutungen zerfallen jedoch nicht in zwei getrennte Klassen. So zu denken liefe wieder auf den begriffslogischen Fehlschluss hinaus, eine Unterscheidung, die vertikal von der Gattung zur Art verläuft, horizontal als Differenz zwischen verschiedenen Arten zu deuten. Die Insel wahrheitsfähiger Sätze liegt im Ozean der Bedeutungen. Nur dann lässt sich auch die pragmatistische Grundthese plausibel machen, die Objekte der Wissenschaften stünden in einem genetischen Zusammenhang zu den Gegenständen des Gebrauchs und Genusses, wie Dewey das nennt. An dieser Stelle der Argumentation tut sich eine entscheidende Weggabelung auf: Bedeutung und Referenz sind bis jetzt unterschieden, aber nicht getrennt worden. Ein breiter Strom des neuzeitlichen Denkens hat nun (mit den entsprechenden Folgen für das Verhältnis von gewöhnlicher Erfahrung und Wissenschaft) die nichtreferentiellen Bedeutungskomponenten subjektiviert und den kognitiven Wert von Erfahrung auf die referentielle Komponente beschränkt. Daraus resultiert eine Ontologie, in der das Reale mit Gegenständen und Er111 https://doi.org/10.5771/9783495808375 .
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eignissen sowie deren kausalen Beziehungen untereinander gleichgesetzt wird, während Interaktionsbedeutungen als der Natur fremde, subjektive Zutaten erscheinen. Dem entsprechen die materialistischen Positionen von Demokrit bis in die Gegenwart, die heute meist mit dem Zusatz auftreten, es seien die Naturwissenschaften, denen sich entnehmen lässt, was im Bereich dieser Ontologie so alles existiert. Für den Naturalismus Deweys hingegen ist entscheidend, dass die aus den Beziehungen des Gebrauchs und Genusses hervorgehende alltägliche Erfahrung als ebenso realitätserschließend wie die Erkenntnisse der Naturwissenschaften zu betrachten ist. Es gibt demnach »Erfahrung sowohl von der Natur wie in der Natur« 12, und beides ist gleichermaßen natürlich. Dewey vertritt innerhalb seines Naturalismus also eine analoge Ontologie, indem er im Unterschied zu szientifischen Naturalisten die alte aristotelische Einsicht sehr ernst nimmt, dass »das Sein in mehreren Bedeutungen ausgesagt wird« 13: Für ihn offenbart sich die Natur durch Werte nicht weniger als durch Atome: »Wenn die Erfahrung wirklich ästhetische und moralische Eigenschaften aufweist, dann darf man annehmen, dass diese Eigenschaften tief in die Natur hineinreichen und etwas bezeugen, das ebenso wahrhaft zur Natur gehört wie die mechanische Struktur, die ihr in der Physik beigelegt wird. […] Die Eigenschaften, die die Gegenstände der Erfahrung besitzen, sind ebenso echt wie die Eigenschaften der Sonne und der Elektronen. Sie werden gefunden, erfahren, und sie können nicht durch einen logischen Trick aus der Wirklichkeit verdrängt werden.« 14
Damit widerspricht Dewey der unter Naturwissenschaftlern wie auch gesamtgesellschaftlich weit verbreiteten Vorstellung, dass menschliche Erfahrungen und Werte lediglich Projektionen seien, die einen dünnen Schleier von Sinn über ein intrinsisch sinnfreies Universum würfen. Die prägnanteste, unverkennbar existenzialistisch geprägte Metapher hierzu stammt von dem Biochemiker und Nobelpreisträger Jacques Monod, der den Menschen als »Zigeuner am Rande des Universums […], das für seine Musik taub ist« 15 beschrieb. Bei Monod gehen Wissenschaft und Weltanschauung unkontrolliert ineinander über. Weil die Wissenschaft undurchschaut vorab mit lebenswelt12 13 14 15
Dewey 1995, 18. Aristoteles 21982, 1019a 4 f. Zit. nach Bekker-Zählung. Dewey 1995, 19. Monod 1971, 211.
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lichen Deutungen aufgeladen worden ist, kann im szientifischen Selbstmissverständnis der Eindruck entstehen, Weltanschauung sei als bloße ›Kopfgeburt‹ möglich, die ohne interpretierende Zwischenschritte bereits im fertigen Zustand aus der Wissenschaft hervorgehen kann. Das pragmatistische Verständnis unseres Weltverhältnisses, in dem die Realität nicht mit den möglichen Objekten propositionalen Wissens identifiziert wird, legt hier eine grundsätzlich andere Deutung nahe: Bedeutungen – in dem ganzen Spektrum von gefühlten Qualitäten bis zu artikulierten und sozial institutionalisierten Werten – sind nicht bloß unverdächtige Bestandteile des Naturprozesses, sondern auch ontologisch relevant und damit nicht weniger substanziell als Atome und deren Wechselwirkungen. Wir erfahren durch sie etwas über reale Eigenschaften der Wirklichkeit, das wir durch propositionales Wissen nicht erfahren können. Überall dort freilich, wo methodisch gewonnenes Wissen möglich ist, muss sich gewöhnliche Erfahrung von Wissenschaft belehren lassen. Die Entfremdung zwischen Wissenschaft und gewöhnlicher Erfahrung ist also für Dewey keineswegs das unvermeidliche Ergebnis der Rationalisierungs- und Differenzierungsprozesse moderner Gesellschaften. Sie ist vielmehr das Resultat einer kontingenten Entwicklung, die prinzipiell auch korrigiert werden kann. Auf begrifflicher Ebene besteht diese Korrektur in der Konzeption des vollständigen Substrats. Der entscheidende Gedanke findet sich in der Logik von 1938: »(1) Wissenschaftliches Substrat und wissenschaftliche Verfahren erwachsen aus den direkten Problemen und Methoden des gesunden Menschenverstands, des praktischen Gebrauchs und Genusses und wirken (2) auf Letztere in einer Weise zurück, die Inhalt und Wirkung, die dem gesunden Menschenverstand zur Verfügung stehen, enorm verfeinern, erweitern und befreien. Wird das wissenschaftliche Substrat vom Substrat des gesunden Menschenverstands abgetrennt und ihm entgegengesetzt, dann erzeugt diese Opposition, wenn sie als endgültig aufgefasst wird, jene kontroversen Probleme der Epistemologie und Metaphysik, die immer noch die Philosophie heimsuchen. Sobald deutlich erkannt wird, dass das wissenschaftliche Substrat in einem genetischen und funktionalen Verhältnis zum Substrat des gesunden Menschenverstandes steht, verschwinden diese Probleme. Das wissenschaftliche Substrat ist eine Zwischenstufe, es ist weder endgültig noch an sich vollständig.« 16
16
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Hier wird deutlich, dass im Deweyschen Naturalismus das vollständige Substrat der Erfahrung (verstanden als Überbegriff für die gewöhnliche Erfahrung und die methodischen Formen der Wissenschaften) nicht die von der Art abstrahierende Gattung sein kann. In einer Welt, die entscheidend von Wissenschaft geprägt ist, gilt es, den unhintergehbaren Bezugsrahmen gewöhnlicher Erfahrung mit dem ›wissenschaftlichen Substrat‹ in Beziehung zu setzen. Es geht um eine Form des Qualitativen, der eine Integration des Nichtqualitativen gelungen ist. Dabei muss der Begriff ›Integration‹ allerdings vorsichtig verwendet werden. Im Rahmen einer analogen Ontologie kann er gerade nicht bedeuten, dass ein univoker Seinsbegriff gewöhnliche und wissenschaftliche Erfahrungen schlicht überspannt. Die Sehnsucht nach einem monistischen Weltbild muss sich versagen, wer eine pluralistische Erfahrungstheorie vertritt. Realistischer wäre es, eine gelungene Integration daran festzumachen, dass die unaufhebbare Spannung zwischen quantitativen und qualitativen Perspektiven anerkannt und Brückenprinzipien entwickelt würden, die eine unterscheidende In-Beziehung-Setzung beider erlaubten. Aus der Tatsache, dass das wissenschaftliche Substrat der Erfahrung mit dem vollständigen Substrat der Erfahrung nicht gleichzusetzen ist, folgt nun, dass das wissenschaftliche Substrat nach Dewey lediglich eine Zwischenstufe ist, die nicht vollständig ist. Das Letztere, nicht aber das Erstere gilt auch von gewöhnlicher Erfahrung, wenn sie sich denn in einer Welt vollzieht, in der es Wissenschaft gibt. Zwar ist die Realität dessen, was sich uns in qualitativen Situationen erschließt, durch die von solchen Situationen absehende Wissenschaft nicht im Mindesten gefährdet. Sobald jedoch die im holistischen Weltzugang implizit enthaltene Referenz im propositionalen Sprechen expliziert wird (d. h. wenn die interaktionsunabhängige Komponente ausdrücklich gemacht wird), kann die Korrekturfunktion der Wissenschaften greifen und uns beispielsweise darüber belehren, dass die phänomenale Realität des Sonnenaufgangs in ihrer physikalischen Gestalt als Effekt der Erdrotation verstanden werden muss. Durch diese Erkenntnis wird der Referenzpol der holistischen Erfahrung explizit gemacht und dabei neu bestimmt. Eine Rückkehr zur vorwissenschaftlichen Naivität ist damit ausgeschlossen. Den Erfahrungsqualitäten selbst wird aber durch diese Neubestimmung nichts genommen. Komplizierter liegen die Dinge, wenn es nicht um direktes Erleben und seine lebensweltliche Verarbeitung geht, sondern um welt114 https://doi.org/10.5771/9783495808375 .
Die Religion innerhalb der Grenzen gewöhnlicher Erfahrung
anschauliche oder religiöse Gesamtdeutungen, wie sie ja in der Struktur gewöhnlicher Erfahrung bereits angelegt sind. Technisch-funktionale (Beispiel: Klonen) und überfunktional-wissensbezogene (Beispiel: Evolutionstheorie) Innovationen erzeugen hier in der Regel in den traditionellen, vor der Entstehung der Wissenschaften etablierten Weltbildern einen erheblichen Druck zur Neuartikulation. Hier verhält es sich ja nicht so, dass eine vorher nur implizite Referenz wissenschaftlich expliziert wird (wie im Fall des Sonnenaufgangs), sondern es liegen bereits propositional verfestigte Referenzannahmen vor, die nun mit wissenschaftlichem Wissen kollidieren (können). Beispielsweise kollidiert die Phänomenologie des Sonnenaufgangs nicht mit dem heliozentrischen Weltbild, wohl aber das geozentrische, weil es sich bereits auf explizite Referenzannahmen festgelegt hat. Diesen Unterschied festzuhalten ist sehr wichtig, weil er häufig nicht beachtet wird. Das zeigt sich immer dann besonders deutlich, wenn aus szientifischer Perspektive lebensweltliche Selbstdeutungen als unhaltbar entlarvt werden sollen. Dabei verhält es sich nämlich oft so, dass unsere Selbstverständigungsvokabeln behandelt werden, als ob sie direkt und unauflösbar mit einer bestimmten unhaltbaren Ontologie verknüpft wären. Wenn man diese Unhaltbarkeit demonstrieren kann, ist das lebensweltliche Selbstverständnis gleich mit erledigt. Ein Beispiel für diese Vorgehensweise findet sich zu Beginn von Thomas Metzingers Der Ego-Tunnel. Dort wird die Überzeugung, ein Selbst zu sein oder zu haben, mit der Verpflichtung auf eine Ontologie der Seelensubstanz so eng zusammengebracht, dass jenes mit dieser steht und fällt. Weil die Seelensubstanz unhaltbar sei, gelte dasselbe dann auch für das Selbst-Gefühl. 17 Wohlgemerkt: Mein Vorschlag, zwischen impliziter und implizierter (ontologischer) Referenz zu unterscheiden, ist keine Immunisierungsstrategie, die lebensweltliche Überzeugungen vor wissenschaftlicher Infragestellung abschirmen soll. Er behandelt den Zusammenhang unseres alltäglichen Selbstverständigungsvokabulars (z. B. der Überzeugung, ein Selbst zu sein/zu haben) mit den korrespondierenden ontologischen Verpflichtungen (z. B. auf eine immaterielle Seelensubstanz) schlicht als eine offene, von Fall zu Fall zu überprüfende Frage. Es könnte durchaus sein, dass bestimmte unserer Alltagsüberzeugungen mit einer unhaltbaren Ontologie so eng verknüpft sind, dass sie revidiert wer17
Metzinger 2010, 13.
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Matthias Jung
den müssen. Ob dies aber tatsächlich der Fall ist, lässt sich nur dann überprüfen, wenn man nicht von vornherein die Verpflichtung auf bestimmte ontologische Annahmen als analytische Wahrheit über diese Überzeugungen behandelt. Wie verhält es sich nun, wenn man von der Ebene unseres alltäglichen Selbstverständigungsvokabulars zu der Ebene expliziter Weltanschauungen übergeht? Dass die Evolutionstheorie sowie die Entdeckung des Alters, der Größe und der Expansionstendenz des Universums religiöse Weltbilder unter massiven Reartikulationsdruck gesetzt haben, versteht sich von selbst. Denn je stärker ein Weltbild theologisch expliziert wird, desto enger wird natürlich die Bindung an bestimmte ontologisch nicht mehr flexible Kategorien. Die sich hier stellende Aufgabe besteht jedoch nicht einfach darin, irrige Tatsachenbehauptungen einer Art durch wahre Tatsachenbehauptungen einer anderen Art zu ersetzen. Das wäre wieder das ›horizontale‹ Missverständnis, von dem oben die Rede war. Es geht vielmehr darum, propositional verfasste Erkenntnisse (Art) in qualitative Deutungen (Gattung) so neu zu integrieren, dass die veränderte Referenzbasis wieder Teil eines einheitlichen (wenn auch unaufhebbar multiperspektivisch erfahrenen) Ganzen werden kann. Das ist der Ansatzpunkt des Weltanschauungsproblems.
2.
Weltanschauung
Gewöhnliche Erfahrung ist integraler Teil der Handlungsprobleme, die wir als mit unserer Umwelt interagierende Organismen lösen müssen. Im Unterschied zu anderen Organismen sind Menschen aber Wesen, deren Bewusstsein sich nicht nur auf dieses oder jenes, sondern auch auf das Ganze des Zusammenhangs von Selbst und Welt beziehen kann. Menschen haben beispielweise sogenannte ›existenzielle Gefühle‹ 18, die gar keine konkreten intentionalen Gehalte aufDie Debatte um existential feelings wurde vor allem durch Matthew Ratcliffe angestoßen. Dabei geht es um affektive Zustände, die das Selbst und die Welt in einer spezifischen Weise verbinden oder trennen, also unseren Realitätssinn im Ganzen prägen und den Hintergrund zu spezifischeren Emotionen, Denkakten und Handlungen bilden. Einen Überblick über die Debatte gibt der Sammelband Feelings of Being Alive 2012. Solche Zustände gehen unvermeidlich (wie z. B. Dilthey schon in seiner Analyse der Weltanschauungen gezeigt hat) in die Artikulation weltanschaulicher Deutungen ein, zu denen sie aufgrund ihres Totalitätsbezugs eine innere Affinität aufweisen (Dilthey 21960). Weltanschauungen sind schon deshalb nie rein kognitive
18
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Die Religion innerhalb der Grenzen gewöhnlicher Erfahrung
weisen, sondern anzeigen, wie das Weltverhältnis eines Menschen als solches beschaffen ist. Es fühlt sich immer auf eine bestimmte Weise an, nicht nur auf dieses oder jenes bezogen, sondern Teil einer Welt zu sein. Während nun intentionale Gefühle auch vielen anderen Lebewesen zugeschrieben werden können, sind existenzielle Gefühle humanspezifisch. Wir können sie nur deshalb haben, weil wir Sprachverwender sind, also über symbolisch-expressive Fähigkeiten verfügen, die das Hier und Jetzt ikonischer und indexikalischer Erfahrung 19 prinzipiell transzendieren können. Aus der Verschränkung des qualitativen und des symbolischen Bezugs aufs Ganze ergibt sich, dass ein totalisierendes Hinausgehen über jede konkrete Erfahrung zwar sehr unterschiedliche Grade der Explikation aufweisen kann, aber doch zur Form unseres Weltzugangs notwendig hinzugehört. William James hat den Akzent stark auf die qualitative Totalität gelegt, wenn er von »our individual way of just seeing and feeling the total push and pressure of the cosmos« 20 spricht. Explizite Weltanschauungen und Religionen lassen es dabei allerdings nicht bewenden: Sie artikulieren ein Weltverhältnis im Ganzen und grenzen sich dabei von alternativen Optionen ab. Vor allem bei den monotheistischen Religionen werden dabei auch explizite propositionale Geltungsansprüche formuliert und vertreten, die dann in einen harten Gegensatz zu konkurrierenden Geltungsansprüchen treten können. Hierbei ist (wie schon betont) entscheidend, dass in allen Weltanschauungen über das direkt Erfahrene und Erfahrbare generalisierend hinausgegangen wird. Dies betrifft alle drei Dimensionen des holistischen Weltverhältnisses. Das existenzielle Gefühl, wie es ist, in der Welt zu sein, geht über alle situativen Gefühle hinaus; universale Handlungsregeln transzendieren die lokalen Erfordernisse jeder einzelnen Situation und damit jedes individuelle Leben; kognitive Weltbilder legen über jeden spezifischen Realitätskontakt hinaus fest, was überhaupt als Wirklichkeit gelten kann. Die Frage, auf die Religionen bzw. Weltanschauungen antworten wollen, kann man deshalb Generalisierungen. Vgl. Jung 2012 für einen Versuch, die aktuelle Debatte um existential feelings für die Weltanschauungsfrage fruchtbar zu machen. 19 Mit dem Hinweis auf Ikonizität und Indexikalität greife ich die Peircesche Semiotik auf, in der herausgearbeitet wird, dass symbolische Zeichen sich zwar auf alles Mögliche beziehen können, aber immer in einer funktionalen Verschränkung mit nichtsymbolischen Zeichen stehen, die direkte, also an unseren Leib und dessen Dasein in Raum und Zeit gebundene Erfahrung zum Ausdruck bringen. 20 James 41988, 7.
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Matthias Jung
mit Thomas Nagel folgendermaßen formulieren: »Wie lässt sich in das eigene individuelle Leben die vollständige Anerkennung der eigenen Beziehung zum Universum im Ganzen einbringen?« 21 Dass Weltanschauungen aus kontingenten Erfahrungen erwachsen, über diese aber generalisierend hinausgehen, ist nun sicher keine originelle, aber doch eine wichtige Einsicht. Das bedeutet nämlich, dass der Gewissheitsgrad der jeweiligen kontingenten Erfahrungsbasis nicht auf die Weltanschauung transferiert werden darf. Eine wissenschaftliche Weltanschauung beispielsweise kann es dann nur in dem sehr eingeschränkten Sinn geben, dass die Ergebnisse bestimmter Wissenschaften als Ausgangspunkt einer Generalisierung genommen werden, die ihrerseits dann keinen wissenschaftlichen Charakter mehr hat, sondern der holistischen Totalitätsperspektive gewöhnlicher Erfahrung entspringt. Eine Weltanschauung zu haben, ist demnach etwas sehr Gewöhnliches. In dem minimalen Sinn eines Bezugs zum Ganzen, wie er in existenziellen Gefühlen vorliegt, ist es sogar ganz unvermeidlich. Viele Menschen spüren jedoch darüber hinaus das Bedürfnis, diese Grundhaltung zur Wirklichkeit explizit zu machen, und sie greifen dafür auf die religiösen und weltanschaulichen Möglichkeiten zurück, die ihnen ihr kulturelles Umfeld bereitstellt. In demokratisch-pluralistischen Gesellschaften treten dabei jene sozialen Sanktionen weitestgehend zurück, die in traditionellen Gesellschaften für die Unterordnung individueller gewöhnlicher Erfahrung unter die vorgegebenen Sinndeutungen und Praktiken sorgten. Das läuft natürlich auf eine enorme sozialstrukturelle Aufwertung der Erfahrungen der Vielen hinaus, denn diese bestimmen nun immer mehr darüber, ob die vorhandenen ›Angebote‹ lebendige Möglichkeiten bleiben oder nur in traditionalistisch erstarrten Nischen und Sondermilieus überleben können. Hegemoniale oder gar monopolistische Deutungen gibt es nicht mehr. Religiöse Sinndeutungen erscheinen ebenso wie naturalistische als Optionen. 22 Heiß umstritten ist dabei, ob es sich bei Weltdeutungen, die sich auf naturwissenschaftliches Denken berufen, im selben Sinn um Optionen handelt wie bei traditionelleren religiösen. Wenn als Totalisierungsbasis, wie ich hier argumentiert habe, nur gewöhnliche, nicht aber methodische Erfahrung herangezogen werden kann, muss diese 21 22
Nagel 2013, 342. Vgl. dazu Joas 2012.
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Frage offensichtlich bejaht werden. Ein Rationalitätsgefälle besteht dann nur zu fundamentalistischen Formen von Religion, die sich der Neuartikulation ihrer Weltdeutung angesichts weltbildrelevanter naturwissenschaftlicher Einsichten (etwa in Evolutionstheorie und physikalischer Kosmologie) verweigern. Es gäbe jedoch kein generelles Rationalitätsgefälle zwischen Religion und Wissenschaft. Umgekehrt steigt die Sensibilität gegenüber Extrapolationen wissenschaftlicher Erfahrung, die ihren weltanschaulichen Charakter nicht ausweisen und deshalb beispielsweise meinen, Werte aus Wissen destillieren zu können. Hier liegt nun der Einwand nahe, dass ein szientifischer Naturalist mit einer schlankeren Ontologie auskommt und sich deshalb geringere Begründungslasten aufbürdet als etwa ein Theist. Das ist zwar richtig, aber nur eine Seite der Medaille. Die andere Seite besteht darin, dass eine Totalisierung der naturwissenschaftlichen Ontologie (im Unterschied zu ihrer Bedeutung im Rahmen der Wissenschaften) sich zwangsläufig darauf verpflichtet, für alles prinzipiell eine Erklärung anbieten zu können. Je schlanker aber eine Ontologie ausfällt, desto schwieriger wird es auch, mit ihrer Hilfe höherstufige Phänomene (wie Bewusstsein, Freiheitserfahrung, Werte und Normen, semantischen Sinn etc.) zu erklären. Ontologische Sparsamkeit ist damit keine intrinsische, sondern eine relationale Qualität. Wenn sie dazu führt, dass bestimmte basale Phänomene (wie etwa unsere Selbsterfahrung als – zumindest gelegentlich – frei handelnde und erlebende Subjekte) nicht mehr expliziert werden können, hat das fatale Konsequenzen. 23 Wenn meine These tragfähig sein sollte, dass existenzielle Gefühle (und nicht etwa kognitive Systematisierungsinteressen oder Ähnliches) die Artikulation von expliziten Weltanschauungen motivieren und anleiten, dann kann es ohnehin keine allein auf einer Epistemologie basierende Weltanschauung geben. In der Sprache Deweys ausgedrückt: In Weltanschauungen geht es um die Bedeutung des Ganzen und um Wahrheit nur als deren unselbständigen Teil. Um nochmals an Deweys Umdeutung des kantischen Bilds vom Ozean des Scheins zu erinnern: Die Insel der Wahrheit liegt im Ozean der Bedeutungen. Sie gehört zu ihm, aber eine Insel allein macht noch keinen Ozean.
23
Tetens 2013 hat diesen Punkt kürzlich in aller Deutlichkeit herausgearbeitet.
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Matthias Jung
3.
Deweys Fehleinschätzung seines eigenen Naturalismus
Dewey hatte dieses Bild im Kontext seiner Überlegungen zur Rolle der Philosophie in der modernen Gesellschaft entwickelt. Er sieht diese Rolle darin, die in gewöhnlicher Erfahrung entstandenen Werte und Sinndeutungen aufzugreifen, klarer zu artikulieren und in ihrem Verhältnis zum wissenschaftlichen Wissen zu bestimmen. Dabei übersieht er in meinen Augen jedoch zweierlei, nämlich erstens die Ubiquität weltanschaulicher Generalisierungen in gewöhnlicher Erfahrung und zweitens den Optionsstatus seines eigenen Naturalismus, soweit dieser weltanschauliche und nicht bloß forschungsmethodologische Züge trägt. Beide Aspekte werden in seiner Schrift A Common Faith deutlich, in der Dewey durchgängig bemüht ist, das Religiöse (als zentrale und reale Eigenschaft menschlicher Erfahrung) von den positiven Religionen scharf zu unterscheiden und so jenes zu retten, diese aber ideologiekritisch zu verabschieden. Seine Argumentation leuchtet in vielem ein, besonders was seine unnachgiebige Gegnerschaft zu dogmatischen Fixierungen aller Art betrifft. Dennoch weist sie einen entscheidenden Mangel auf, aus dem die beiden eben genannten Schwächen seiner Argumentation resultieren: Sie trennt die religiöse Qualität von ihrer Artikulation, statt beides als unselbständige Aspekte einer übergreifenden Struktur zu betrachten. Deweys Beispiel sind persönliche Erfahrungen der Reintegration, des ›Heilwerdens‹ nach einer Lebenskrise. Hier macht er zu Recht darauf aufmerksam, dass qualitatives Erleben und Deutung unterschieden werden müssen: »Die besondere Deutung […] ist der Erfahrung selbst nicht inhärent«. 24 Wer die Überwindung einer tiefen psychischen Krise nun beispielsweise als Wirken und Manifestation Gottes deutet, bildet damit natürlich keineswegs ab, was dem Erlebnis als solchem bereits auf der Stirn geschrieben steht. Sie oder er interpretiert die eigene psychische Situation vielmehr auf symbolische und das heißt immer auf fallible Weise. Dass Situationsdeutungen nur durch Interpretationen zustande kommen, ist schließlich eine direkte Konsequenz aus der Einsicht, dass Bedeutungen die Wirklichkeit (genauer: unsere Interaktionseinheit mit dieser) artikulieren und nicht einfach abbilden. Ein symbolisches Weltverhältnis ist stets transformativ und interpretativ. Damit ist Interpretation ein ubiquitäres Merkmal unseres Weltverhältnisses. Dewey kann deshalb zwar 24
Dewey 2004, 238.
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Die Religion innerhalb der Grenzen gewöhnlicher Erfahrung
mit guten Gründen dafür argumentieren, dass es naiv und unterkomplex wäre, eine eigene noch so feste Überzeugung als unmittelbar durch ein Erleben (etwa Gottes) hervorgebracht zu verstehen, also den Zeichen- und Deutungscharakter von Erfahrung fundamentalistisch zu unterlaufen. Er kann aber nicht bereits aus der Tatsache, dass überhaupt interpretiert worden ist, auf die Obsoletheit der Interpretation schließen. Eine solche Argumentation wäre schließlich ihrerseits eine Interpretation und damit selbstwiderlegend. Genauer betrachtet, muss man hier allerdings zwei Fälle unterscheiden, nämlich Interpretation mit und ohne weltanschauliche Generalisierung. Die von Dewey ins Auge gefassten Fälle eines psychischen Prozesses, in dessen Verlauf die existenziellen Gefühle des Fragmentiert- und Getrenntseins sowie der Sinnlosigkeit einer gespürten Einheit, Verbundenheit und Sinnhaftigkeit weichen, ließen sich natürlich auch weltanschaulich zurückhaltender interpretieren. Von einem eher reduktionistischen Vokabular, in dem vermutlich Neurotransmitter und biochemische Veränderungen ihrer Ausschüttung die Hauptrolle spielen würden, bis zur holistischen Sprache der Gestaltpsychologie stehen hier viele Möglichkeiten offen. Sobald aber – und das ist in diesem Zusammenhang der springende Punkt – durch Interpretation ein Bezug der Situation auf die Wirklichkeit im Ganzen hergestellt wird, kommt eine weltanschauliche Generalisierung ins Spiel, und zwar auf Seiten des Naturalisten nicht weniger als auf Seiten des Theisten. Wer die Bedeutung seines Lebens (bzw. einer herausgehobenen Situation in ihm) durch den Gebrauch symbolischer Zeichen als Wirken Gottes deutet, der extrapoliert das unmittelbar Erfahrbare (im Sinne dessen, was durch ikonische und indexikalische Zeichen allein ausgedrückt werden kann) ebenso sehr wie derjenige, der in ihm einzig einen Naturprozess am Werk sieht. Die Natur als Ganze ist uns ebenso wenig direkt erfahrbar wie ein göttliches Wesen. Dass wir aber als Symbolverwender einen gefühlten Bezug zum Ganzen haben, der zu Artikulation drängt, scheint mir ein nur schwer zu bestreitender anthropologischer Grundsachverhalt zu sein. Ohne ihn wäre die Entstehung religiöser Haltungen ebenso wenig zu erklären wie die Vehemenz, mit der diese Haltungen aus naturalistischer Perspektive kritisiert werden. Die weltanschaulichen Generalisierungen, die so entstehen, extrapolieren Bedeutungen mit symbolischen Mitteln, deren Realitätsbezug doch nur durch ihre Verbindung mit gelebter, direkter Erfahrung hergestellt werden kann. Pluralismus, Fallibilität und Kontin121 https://doi.org/10.5771/9783495808375 .
Matthias Jung
genz sind deshalb Merkmale gewöhnlicher Erfahrung, die keine Weltanschauung oder Religion abstreifen kann. Natürlich ist es vor allem die für die Moderne so typische Konfrontation mit alternativen Sinndeutungen, die diese Merkmale erfahrbar werden lässt. Die reflektierten, nichtfundamentalistischen Vertreter von Weltanschauungen oder Religionen müssen daher den Optionscharakter der eigenen Überzeugungen anerkennen. Das bedeutet keineswegs eine Vergleichgültigung. Wer eine Option ergreift, bejaht vielmehr deren Geltungsansprüche auf der Basis der eigenen Erfahrung und ist zugleich universalistisch davon überzeugt, dass diese Ansprüche auch allen anderen Subjekten auf der Basis von deren je eigener Erfahrung angesonnen werden können. Modallogisch formuliert geht es also darum, die eigene Option nicht als alternativlos, sondern als verwirklichte Möglichkeit zu begreifen. Optionen sind immer von anderen Optionen (Möglichkeiten) gerahmt, weil sie ansonsten keine Optionen wären. Deweys Versuch, gegen die Exklusionsstrategien sich fundamentalistisch verhärtender Religionen einen wahrhaft umfassenden Begriff des ›Religiösen‹ zu etablieren, scheint mir deshalb nicht zu Ende gedacht, weil er den weltanschaulichen Optionscharakter seines eigenen Naturalismus nicht mitreflektiert. Weltanschaulicher Naturalismus ergibt sich aus dem methodischen Naturalismus der Wissenschaften durch die totalisierende Extrapolation von Erfahrung und gerade nicht durch die epistemische Form der Wissenschaften selbst. Allein vom wissenschaftlichen Weltverhältnis aus können sich keine umfassenden Wirklichkeitsdeutungen entwickeln. Diese gehen, wie schon mehrmals betont, immer in zwei Hinsichten über das wissenschaftlich Erkennbare hinaus: Sie bringen das emotionale und das willentliche Weltverhältnis ins Spiel, und zudem transzendieren sie das empirisch Erfahrbare. Diese Transzendenzbewegung beschränkt sich keineswegs auf den kognitiven Bereich, weil auch existenzielle Gefühle jede bestimmte Situationsqualität überschreiten, und weil universelle Werte und Normen den Willen in einer Weise binden, die jede einzelne Erfahrungsepisode übersteigt. Mit der aristotelischen Gattung-Art-Unterscheidung und mit Deweys Theorie des vollständigen Substrats verfügen wir nun bereits über die begrifflichen Mittel, um die Konsequenzen dieser Einsicht für das Verhältnis von Wissenschaft, gewöhnlicher Erfahrung und Weltanschauung einschätzen zu können. Vollständig ist das Substrat (also der Inbegriff dessen, worauf 122 https://doi.org/10.5771/9783495808375 .
Die Religion innerhalb der Grenzen gewöhnlicher Erfahrung
Erfahrung sich beziehen kann) erst dann, wenn es vertikal alle Unterarten integriert, die sich im Lauf der Kulturgeschichte ausgebildet haben, 25 wenn es gleichzeitig aber horizontal die Unterschiede zwischen den Nebenarten nicht verwischt. Der Bezug zwischen Nebenarten läuft dabei immer über den Bezug zur Gattung, also der gewöhnlichen Erfahrung. Nehmen wir die epistemische und die ästhetische Dimension von Erfahrung als Beispiel. In der Moderne haben diese sich zu den gesellschaftlichen Subsystemen von Wissenschaft und Kunst ausdifferenziert, die sich weitgehend unabhängig voneinander entwickeln. Für solche Subsysteme ist es aber ebenso charakteristisch, dass ihre Trägergruppen auch ein Leben diesseits der internen Logik ihres Bereichs führen – eben das Leben ganz gewöhnlicher Erfahrung. Anders formuliert: Den ausdifferenzierten Wertsphären korrespondieren verschiedene soziale Rollen (des Wissenschaftlers, Künstlers etc.), während der gewöhnlichen Erfahrung eben nicht die rollenförmige soziale Existenz der Individuen als solche entspricht. Schon dieser elementare Sachverhalt unterstreicht die Bedeutung gewöhnlicher Erfahrung: Sie ist das einzige uns zur Verfügung stehende Medium, in dem die zunehmend ausdifferenzierten, an spezifische Rollen gebundenen Erfahrungssphären der Moderne miteinander in Beziehung gesetzt werden können. Wo dies systematisch geschieht, sind wir schon im Bereich des Weltanschaulichen. Beim Übergang vom rollengebundenen Habitus des Wissenschaftlers, Künstlers etc. zur rollenübergreifenden Lebensform gewöhnlicher Erfahrung (mit ihrem integrativen Charakter, der für sie spezifischen Kontingenzform etc.) nimmt nun natürlich die Person die Verhaltens- und Denkdispositionen des Rollenträgers in einem gewissen Umfang mit. Das ist der Grund dafür, dass z. B. für Naturwissenschaftler der Weg vom methodischen zum weltanschaulichen Naturalismus naheliegt und nicht selten auch begangen wird. Logisch zwingend ist er aber keineswegs, und beschritten werden kann er eben nur dadurch, dass der epistemische Blick generalisiert und um affektive wie volitionale Dimensionen bereichert wird. Beides setzt natürlich voraus, dass von der spezifischen Berufsrolle zum unspezifischen Weltverhältnis gewöhnlicher Erfahrung übergegangen wird,
Hier wird auch deutlich, dass die Idee eines vollständigen Substrats regulativen Charakter hat. Sie bezeichnet keine mögliche reale Größe, sondern ein die kulturelle Selbstverständigung orientierendes Ideal.
25
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Matthias Jung
die methodischen Stilisierungen und Reduktionen also wieder rückgängig gemacht werden, durch die sich das Subsystem Wissenschaft konstituiert. Für die Frage, ob dieser Übergang reduktionistisch ausfällt (also die Vielfalt menschlicher Erfahrung ausblendet) oder nicht, ist dabei nicht ausschlaggebend, dass die methodischen Einstellungen der Berufsrolle auf die lebensweltliche Deutung abfärben. Das ist ganz unvermeidlich und beinhaltet ja auch viele positive Aspekte wie etwa höhere Rationalitätsstandards. Entscheidend ist vielmehr, ob der weltbildhaft generalisierende Wissenschaftler die wissenschaftliche Erfahrungsform als exemplarisch oder als singulär versteht. Letzteres liefe auf einen dogmatischen Szientismus hinaus, wohingegen Ersteres eine weltanschauliche Option darstellt, die prinzipiell auch anderen Erfahrungsformen Raum geben kann. Der Ausbau der naturwissenschaftlichen Denkform zu einer Weltanschauung, nicht aber die Übertragung ihrer epistemischen Autorität ins Weltanschauliche, ist in dieser Sicht der Dinge eine erfahrungstheoretisch legitime Möglichkeit. Deweys Leitmotiv bei seiner Unterscheidung von Erfahrung und Wissen bestand ja darin, eine reduktionistische Ontologie abzuwehren, die moralische, ästhetische oder religiöse Erfahrungen als unwirklich abwertet. Diese Abwertung geschieht immer dann, wenn ein mereologischer Fehlschluss von der Gattung auf die Art erfolgt bzw. wenn die Art als exklusivistisch verstanden wird. Dagegen legt es Deweys komprehensives Konzept nahe, die Rationalität und auch Humanität einer Weltanschauung/Religion unter anderem auch als Ausdruck ihrer Fähigkeit zu verstehen, die Vielfalt von Erfahrungsformen in sich zu integrieren, also zwischen gewöhnlicher Erfahrung und den ausdifferenzierten Unterarten möglichst reiche Bezüge zu stiften. Das vollständige Substrat ist ja eben gerade nicht die gewöhnliche Erfahrung, die zu den ausdifferenzierten Wertsphären Abstand hält, sondern die Gattung, die sich durch die Eigenschaften ihrer Unterarten bereichern lässt – ohne sie über den Kamm eines univoken Seinsbegriffs zu scheren. Die Konzeption des vollständigen Substrats – von mir hier interpretiert durch die begriffslogische Unterscheidung der Beziehung Art-Gattung von der Beziehung Art-Nebenart – ist also auch normativ sehr anspruchsvoll. Sie verbietet nämlich einerseits vertikal alle Reduktionen der Gattung auf eine ihrer Unterarten und gebietet andererseits im selben Zug horizontal, die Autonomie der jeweils ausdifferenzierten Erfahrungssphäre (verstanden als Selbständigkeit auf 124 https://doi.org/10.5771/9783495808375 .
Die Religion innerhalb der Grenzen gewöhnlicher Erfahrung
der Ebene der Art) in ihrem Bereich zu respektieren. Dewey hat dabei vor allem die (Natur-)Wissenschaften im Auge, aber seine Konzeption lässt sich kritisch gegen alle Weltanschauungen wenden, die einen bestimmten Erfahrungsmodus verabsolutieren wollen: Ästhetizistische und moralistische Weltanschauungen sind strukturell, wenn auch nicht inhaltlich, im selben Sinne reduktionistisch wie Szientismen. Dasselbe gilt für diejenigen religiösen Weltanschauungen, die etwa der Wissenschaft oder der Moral ihre Autonomie abstreiten. Man darf die hier getroffenen Unterscheidungen allerdings eben nicht im Sinne einer Trennung der Sphären verstehen. So sehr es nämlich zutrifft, dass die Moderne Expertenkulturen entwickelt hat, in denen etwa methodisch Wissen gewonnen und systematisch ästhetische Ausdrucksmöglichkeiten exploriert werden, gehen diese Kulturen doch vertikal aus einer Binnendifferenzierung gewöhnlicher Erfahrung hervor. Das Ästhetische und das Epistemische beziehen sich eben nur sekundär auf inhaltlich abgegrenzte Bereiche; primär handelt es sich um adverbiale Dimensionen jeder Erfahrung. Vom Moralischen und Religiösen gilt das noch mehr. Auch hier existieren zwar spezifische Expertenkulturen, die sich aber recht verstanden noch weniger auf isolierbare Gegenstandsbereiche beziehen können. Ihr Gegenstand sind vielmehr mögliche, spezifische Eigenschaften jeder Erfahrung. Und sobald versucht wird, eine umfassende Weltsicht zu artikulieren, muss die Autonomie auf der Ebene der Arten ohnehin mit dem gemeinsamen Bezug auf das Ganze verbunden werden. Die Religion innerhalb der Grenzen der gewöhnlichen Erfahrung zu sehen, ist deshalb keine Einschränkung, sondern eine Befreiung. Gegen Dewey ist allerdings daran festzuhalten, dass der weltanschauliche Naturalismus von A Common Faith sich nicht selbstverständlich aus einem nichtreduktionistischen und nichtszientistischen Konzept gewöhnlicher Erfahrung ergibt, sondern eine Option unter anderen Optionen darstellt, die mit diesem Konzept ebenso vereinbar ist wie (nichtfundamentalistische) religiöse Weltbilder. Mit Dewey gilt nun aber auch: Erfahrung ist die Gattung, Wissen die Art. Diese mit der Gattung zu verwechseln, ist der Kern des Szientismus. Die Theorie des vollständigen Substrats hingegen hilft uns, zwischen Art und Gattung eine rationale Beziehung zu denken, also die Wissenschaften und die gewöhnliche Erfahrung ernst zu nehmen, ohne diese oder jene zu verabsolutieren bzw. die unterschiedlichen Perspektiven beider gewaltsam zu harmonisieren. Das ist der Schlüssel zu einer adäquaten philosophischen Diskussion der Bedeutung von 125 https://doi.org/10.5771/9783495808375 .
Matthias Jung
Religionen und Weltanschauungen, und hierin erweist sich einmal mehr die unerhörte Modernität des klassischen Pragmatismus.
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126 https://doi.org/10.5771/9783495808375 .
Ludwig Nagl
Religion als optionaler Handlungshorizont. William James und Josiah Royce
Wir leben im Westen in einem weitgehend säkularisierten Zeitalter, das durch den Verlust der Unmittelbarkeit eines lebendigen Eingebundenseins in historisch konfigurierte Glaubensformen charakterisiert ist. Diese zutreffende Diagnose von Charles Taylor 1 und anderen gilt unabhängig davon, dass die verlorene Unmittelbarkeit in manchen Segmenten der Bevölkerung präsent bleibt. Sozial manifestiert sich diese Lage nach Taylor in der Auflösung der dichten, »paleo-« und »neo-durkheimischen« 2 Verknüpfungen von Religion und Staat. In der »post-durkheimischen« Formation der Moderne wird das strukturell tiefer werdende Abrücken von der Religion von vielen als »Befreiung« gesehen. Aus reflektierterer Perspektive kann das Abrücken von Religion auch zum Ausgangspunkt für eine durch theoretische Erwägungen gestützte Distanznahme werden, die sich lebenspraktisch in der Einübung in eine intern differenzierte »säkulare Identität« 3 stabilisiert. Vielerorts führt diese Situation jedoch zu einer Reaffirmation religiöser Lebensformen. Durch eine antimodernistische Grundstimmung genährt, tritt diese Neuzuwendung erstens als konservatives Rehabilitierungsprogramm der Religion auf. Es entsteht eine Diskurslage, die das Potential hat, sich zu radikalisieren und unter Umständen sogar fanatisch zu entgleisen, was mit den zentralen Gehalten aller entwickelten Religionen freilich inkompaTaylor 2007. Charles Taylor bestimmt diese beiden Kategorien in seinen James-Lectures Die Formen des Religiösen in der Gegenwart so: »Unter dem paleo-durkheimianischen Glaubenssystem brachte [die] Verbindung mit dem Sakralen die Zugehörigkeit zu einer Kirche mit sich, die im Prinzip mit der Gesellschaft deckungsgleich war. […] Das neodurkheimianische Glaubenssystem erwartete von mir den Eintritt in die Konfession meiner Wahl [und] verband mich mit einem politischen Gemeinwesen, das eine der göttlichen Vorsehung entspringende Rolle zu spielen hat. In beiden Fällen gab es eine Verknüpfung zwischen dem Festhalten an Gott und der Zugehörigkeit zum Staat – deshalb meine Benennung ›durkheimianisch‹«. Taylor 2001, 83. 3 Taylor 2007, 899–989. 1 2
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tibel wäre. Die Neuzuwendung manifestiert sich zweitens in »expressivistischen« Erkundungsbewegungen, nämlich in Versuchen, religiöse Ausdrucksformen experimentell zu »individualisieren« 4. Drittens werden religiöse Lebensformen auch im Rekurs auf philosophische Neu-erkundungen von Religion reaffirmiert. Im Hintergrund steht in der Regel ein volles Aufklärungsprogramm, welches nicht auf Religionskritik eingeengt ist, sondern auf die denkende Resondierung von Religion abzielt. Das Programm schließt an Kant an und geht teilweise über ihn hinaus. Es besteht in dem Versuch, das Zentrum der (in ihren partikularen Anspruchssystemen widersprüchlichen) Religionen zu erkunden. Es handelt sich damit um einen Prozess, der auf eine von parochialen Schlacken gereinigte Rekonfiguration des Religiösen abzielt. In argumentativen Resituierungsprozessen dieser philosophischen Art werden die differenten institutionalisierten Religionen nicht einfach interreligiös zu einem Gespräch in respektvoller Toleranz eingeladen. Es geht vielmehr darum, die diversen (und für sich genommen oft sogar inkompatiblen) religiösen Sprachspiele rekonstruktiv-kritisch auf ihren allgemeinheitsfähigen Gehalt hin zu untersuchen. Im weitesten Sinn gehört die pragmatistische Religionsphilosophie in ihren unterschiedlichen Ausprägungen zu diesem dritten, kritisch-affirmativen Umgangsmodus mit dem »Sprachspiel der Religion.«
1.
William James zur Möglichkeit von Religion ›nach der Religionskritik‹:
Die Distanznahme von Religion, die in vielen Milieus der Gesellschaft heute fast zur Selbstverständlichkeit geworden ist, erfolgt oft in pauschalem Rekurs auf ›die Wissenschaft‹. Dieser wird nachgesagt, dass sie den Abschied von Religion, wenn schon nicht erzwinge, so doch äußerst plausibel mache. 5 Obgleich William James und Josiah Royce nicht nur Freunde, sondern auch Hauptantagonisten in Harvard waren, so waren sich beide doch zumindest in dem Punkt einig, dass jede überdichte Verknüpfung zwischen den methodisch disziplinierten, wissenschaftlichen Vorgehensweisen zur Gewinnung von Taylor 2002, 84 ff. Schon im neunzehnten Jahrhundert kommen solche Auffassungen in Aussagen wie ›Darwin hat die Bibel widerlegt‹ zum Ausdruck. Vgl. Taylor 2007, 17.
4 5
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gesichertem (d. h. operativ brauchbarem, aber falliblem) Wissen einerseits und dem Abrücken von religiösen Hintergrundpostulaten andererseits problematisch ist, da dieser Konnex weder logisch schlüssig noch aus intellektueller Redlichkeit geboten ist. 1.1. Laut Taylor tritt die Identifikation mit Lebensformen, die den Rekurs auf Transzendenz ausschließen, in westlichen Gesellschaften in mindestens zwei Formen auf. Zu nennen wäre erstens ein ethisch aufgeladener »exklusiver Humanismus«, der den Bezug auf alles Nicht-immanente durchstreicht. Diesem stünde seit Nietzsche ein gegenaufklärerischer »Antihumanismus« gegenüber, der das humanistische Bild des Menschen als Zerrbild verdächtigt: Nietzsches Zarathustra spricht vom »letzten Menschen« 6. In beiden Konfigurationen versteht sich die säkularistische Position als die angemessen »illusionslose« Lebenshaltung angesichts einer kontingenten Welt. Die Stützargumente, die die Plausibilität dieser Lebensform demonstrieren sollen, kommen aus verschiedenen Quellen. Primär zu nennen wären real-ontologisch gedeutete (d. h. ›szientistisch‹ fixierte) naturwissenschaftliche Großthesen wie beispielsweise die These, dass die Evolutionstheorie alle Fragen beantworten könne, die sich stimmig stellen lassen. Eine andere Quelle wären Versatzstücke aus philosophischen Theorien, die aus dem philosophischen Kontext gerissen und unhinterfragt übernommen wurden. Ein Beispiel wäre der politisch eingeübte ›Volksatheismus‹, der sich aus ›gesunkenen‹ Formen der klassischen Modi der Religionskritik bei Feuerbach, Marx, Nietzsche oder Freud konstituiert. Diese ›abgesunkene‹ Religionskritik ist freilich nirgendwo resultathaft stabil. Man weiß nur vage, dass sie ›irgendwie‹ im Kontext der aufgeklärten Religionsphilosophien von Kant und Hegel anzusiedeln ist, obgleich diese Religionsphilosophien ja alles andere als nur religionskritisch waren. 1.2. In seinem Vortrag The Will to Believe von 1896 macht William James dieser säkularistischen closure die Gegenrechnung auf und spricht (ähnlich wie der Kant der zweiten Kritik) davon, dass er »unser Recht verteidigen [möchte], uns in religiösen Fragen auf den Standpunkt des Glaubens zu stellen, auch wenn unser rein logischer Intellekt sich nicht dazu gezwungen sieht« 7. Diese Verteidigung folgt einer doppelten Argumentationsstrategie. Zum einen affirmiert James die Leistungen der modernen Naturwissenschaften. Damit si6 7
Taylor 2003, 78–82. James 1975, 128.
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tuiert er sich in jenem modernen Kontext, durch den (mit Blick auf die operativen Gewinne der Naturwissenschaften) die traditionalen Sicherheiten religiöser Weltbilder reflexiv problematisiert werden. Damit ist James für Taylor sogar der paradigmatische Repräsentant jenes aufgeklärten Situiertseins in einem ›open space‹, in dem die Religion zur wählbaren oder meidbaren Option wird. 8 Zum anderen aber kritisiert James die Ansprüche der vom »Wissenschaftsfieber« infizierten »positivistischen Sekte« 9: Für James liegt auf der Hand, dass Wissenschaft als ein sich im Funktionskreis instrumentellen Handelns dynamisch akkumulierender Lernmechanismus eine der zentralen Errungenschaften der Moderne ist. Die These jedoch, dass allein die naturwissenschaftliche Methode (dasselbe gilt für diverse sich ihr angleichende, empirisch-sozialwissenschaftliche Deskriptivismen) real-ontologische Dignität habe, hält James für überausprekär. »Das Universum«, so schreibt er in Die Vielfalt religiöser Erfahrung, »hat mehr Seiten, als irgendeine Sekte, auch die wissenschaftliche Sekte, zulässt. Was sind unsere ganzen Verifikationen am Ende mehr als Erfahrungen, die mit mehr oder weniger isolierten Ideengebäuden oder Begriffssystemen, die unser Geist aufgestellt hat, übereinstimmen? […] [W]arum eigentlich sollte die Welt nicht so komplex sein, dass sie aus vielen sich gegenseitig durchdringenden Realitätssphären besteht, denen wir näherkommen können, indem wir abwechselnd verschiedene Begriffe und verschiedene Haltungen annehmen«? 10 So hält James es beispielsweise für verfehlt, religiöse Lebensformen materialistisch reduktiv unterzubestimmen. Es wäre daher in seinen Augen falsch, die Konversion des Paulus in physiologischer Optik bloß als einen epileptischen Anfall zu qualifizieren, weil die Konfiguration, in der die Bekehrung auftritt, ja zweifellos nicht den eigentlichen Inhalt des Bekehrungsgeschehens darstellt. James geht es darum, religiöse Motivlagen im Ausgang von phänomenologischen Selbst- und Fremdbeschreibungen nachdenkend zu erkunden. Dieses Projekt beschreibt deren konkrete Inhalte, ohne jedoch eine argumentative Rechtfertigung der differenten und potentiell antagonistischen Vorstellungswelten der Religionen zu erbringen. James geht es vielmehr um die universellen Grundzüge der Religionen. Mit Notwendigkeit bewegt sich seine pragmatische ReTaylor 2007, 915. James 1975, 134. 10 James 1997, 150–151. 8 9
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flexion so außerhalb und über den parochialen Geltungsansprüchen der je einzelnen religiösen Lebensformen. James, so könnte man sagen, beerbt das Kantische Projekt, den differenten Religionen (die laut Kant ja historisch »auf uns gekommen« sind und ihre partikulären Inhalte insbesondere durch ›Heilige Bücher‹ erhielten) eine allgemein akzeptierbare Vernunftform abzugewinnen. Als Kritiker jedes transzendentalen Vernunftbegriffs versucht James diese jedoch (anders als Kant) in einer empirisch informierten ›Wissenschaft der Religionen‹ grundzulegen. 1.3. James’ Zugang zum ›reichen‹ Phänomen Religion ist vielgliedrig. Vor allem reduziert er Religion nirgendwo auf ihren ›Nutzen‹. Zur Evaluierung ihres Werts, so schreibt er, »sind unmittelbares Einleuchten, philosophische Verständlichkeit und moralische Nützlichkeit die einzigen brauchbaren Kriterien« 11. Die Phänomene des Religiösen müssen nach James also einer holistischen Evaluation zugeführt werden, die neben den Selbstbeschreibungen der Motivationen religiöser Menschen notwendigerweise auch philosophische und ethische Reflexionen inkludiert. Damit Religion eine ›lebendig‹ motivierende und nicht bloß eine ›tote‹ Option 12 sein kann, ist laut James ihre Gesamteinbettung in das erforderlich, was wir auch sonst außerhalb des Bereichs des Religiösen als kognitive und als ethische Wesen für gültig erachten. Der abstrakte Rekurs auf ein Glück, das durch Religion erzielbar ist, genügt keineswegs. Das begründet James damit, dass »das, was wir im direkten Erleben für das Beste halten«, am »Urteil unserer übrigen Erfahrung« gemessen zweifellos »nicht immer auch das Richtigste« sei. Weiter heißt es: »Wenn das ›gute Gefühl‹ allein entscheidend wäre, wäre der Rausch eine besonders wertvolle Erfahrung des Menschen. Aber was in diesem Zustand nach außen tritt, ist, so befriedigend es für den Augenblick sein mag, eingefügt in ein Umfeld, das ihm auf Dauer die Anerkennung verweigert« 13. In einem hoch vermittelten Sinn enthält freilich jede valide Religion auch für James ein Glücksversprechen. Dieses betrifft jedoch nicht das kleine, trügerische Glück des Rausches. Es partizipiert vielmehr an jener Tiefenanalyse des gebrochenen Verhältnisses zwischen
James 1997, 51. Eine ›tote Option‹ wäre beispielsweise ein philologisches Wissen um vergangene Kultrealitäten wie die Verehrung der Staatsgötter Roms, weil aus einem solchen Wissen kein lebendiger Glaube hervorgehen kann. 13 James 1997, 49. 11 12
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Tugend und Glückseligkeit, die schon Kant interessierte. Die Rede ist von der Einsicht, dass Glückseligkeit für das endliche Handeln zwar jederzeit ein zentraler Wunsch ist, als Realität aber durch das endliche Handeln allein (das beim Unverfügbaren einsetzt und im nicht mehr Gestaltbaren endet) seiner Vollständigkeit nach nicht erzeugt werden kann. Diese Unabgegoltenheit des Glücksversprechens ist eine Grenzerfahrung des Handelns, die die Frage nach dem Unendlichen in Gang bringen kann.
2.
Religiöse Evidenz: Eine erste Sondierung
Kann »religiöse Erfahrung« zum Erfahrungsbegriff der Naturwissenschaften hinzugefügt werden, um so den experimentell konfigurierten Begriff des wissenschaftlichen Erfahrungmachens auszudehnen und kritisch zu erweitern? Wie stark ist der religiöse Glaube an eine versichernde religiöse Erfahrung gebunden? Zugespitzt gefragt: Impliziert authentische Religiosität, dass sich das Göttliche in direkter Erfahrung erschließt? Oder ist die mystische Erfahrung zumindest in ihrer rohen Form (d. h. solange sie noch nicht institutionell zum Ritus oder Sakrament geworden ist) auch im Kontext des gelebten Glaubens eher die Ausnahme als die Regel? Aufgrund seiner Abwehr jedes theoretizistischen ›Intellektualismus‹ ist bei James die Verknüpfung von ›religion and experience‹ zum einen so überaus dicht, dass Taylor die Frage stellt, auf welche Weise James »die religiösen Phänomene dadurch verzerrt oder verengt, dass [er] sie unter dem Gesichtspunkt religiöser ›Erfahrung‹ auffasst« 14. Zum anderen freilich bleibt auch bei James der Rekurs auf unmittelbare Evidenz durchlöchert. Denn Glaubensfestigkeit kann (als situiert in jenem ›open space‹, der durch ein Hin-und Hergerissensein zwischen Säkularismus und Gläubigkeit charakterisiert ist) ja keineswegs einfach nur monokausal von zwingenden Erfahrungen abhängen, die als fraglose Evidenz Glauben eo ipso unnötig machen würden. Glaubensfestigkeit muss vielmehr immer auch das freie Ergreifen der Option sein, glauben zu wollen. Wie James treffend betont, gewinnt diese Option ihre Gültigkeit weder aus »unmittelbarer Intuition« noch aus »übernatürlichen Offenbarungen«
14
Taylor 2002, 24.
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allein, sondern holistisch aus »der Art und Weise, wie sie sich auf das Ganze auswirkt«. Anders als die Positivisten versteht James Empirie also ausdrücklich nicht bloß als die kausale Einwirkung eines »unbezweifelbar Gegebenen« 15. Wird in der Analyse von Religion der Begriff ›Erfahrung‹ verwendet, kann er nicht einfach dem Hypothesenkonzept der natural sciences subsumiert werden. Darauf hat als interessierter James-Leser schon Wittgenstein hingewiesen. 16 James unterscheidet im Blick auf die Differenz, die zwischen wissenschaftlicher Hypothesenbildung und der Affirmation von Religion besteht, zwischen ›unerheblichen‹ und ›bedeutsamen‹ Optionen. Seiner Auffassung zufolge sind die Wissenschaften voll von Optionen der ›unerheblichen‹ Art, während das Totalexperiment Religion dem zweiten Optionenmodus angehört. 17 Religiöse Evidenz (gedeutet als das Hintergrundgeflecht von Erfahrungen und Annahmen, die die Glaubensfestigkeit des Glaubenden stützen) ist von anderer Natur, als das Wort ›Empirie‹ in der Rede von ›religious experiences‹ suggeriert. Obzwar der Glaube fest ist (d. h. vom Glaubenden festgehalten wird), kann er dennoch niemals ›unangefochten‹ sein. Wie Hilary Putnam in seiner Lektüre der Jamesschen und Wittgensteinschen Religionsphilosophie anmerkt, bleibt er jederzeit durchlöchert von Zweifeln. 18 Insofern sie nicht weiter spezifiziert wird, erweist sich die lineare Opposition Erfahrung (experience) vs. Zweifel (doubt) somit bei einer genaueren Analyse des Religiösen als ein massiv unterkomplexes Untersuchungsinstrumentarium.
3.
»Die besten Früchte der religiösen Erfahrung sind das Beste überhaupt, was die Geschichte zu bieten hat.« 19
James erkundet die Phänomenologie des Religiösen detailreich und in mehreren Anläufen. Zwei dieser Anläufe sollen hier näher betrachtet werden. Methodologisch geht er dabei von einem individualistischen Verständnis von Religion aus, in dem das ausgeblendet bleibt, was er
15 16 17 18 19
James 1997, 53. Wittgenstein 2000, 80. James 1975. Putnam 1997, 184–186. James 1997, 273.
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›Derivate der authentischen religiösen Lebensform‹ nennt. Gemeint sind Theologien, kirchliche Institutionen und ähnliches. Religion ist für James bestimmt durch »die Gefühle, Handlungen und Erfahrungen von einzelnen Menschen in ihrer Abgeschiedenheit, die von sich selbst glauben, dass sie in Beziehung zum Göttlichen stehen«. 20 Sie ist eine Lebensform, für die es keine funktionalen Äquivalente gibt. 3.1. James beschreibt ihr Spezifikum in einer ersten Annäherung so: »Es gibt einen Bewusstseinszustand, den ausschließlich religiöse Menschen kennen, in dem an die Stelle unseres Selbstbestätigungsund Selbstbehauptungswillens die Bereitschaft tritt, zu verstummen und zu einem Nichts zu werden in den Fluten und Orkanen Gottes« 21. Durch den Bezug aufs Unendliche ist Religion von Moral unterschieden. Sie bildet den Handlungshintergrund und den Horizont für die einzelnen (potentiell autonomen) Handlungen, indem sie eine »Verzauberung« 22 ins Leben bringt, die wir nur in ihr finden. Damit stiftet die Religion eine »zusätzliche Gefühldimension […] in Bereichen, wo die Moral im strengen Sinn bestenfalls ihr Haupt neigen und verstummen kann« 23. Religion ist durch eine »Feierlichkeit« charakterisiert, die etwas enthält, das (so könnte man an dieser Stelle mit Royce Hegel zitieren) an die »Geduld und den Schmerz des Negativen« 24 gemahnt. James kennzeichnet diese »zusätzliche Gefühlsdimension« so: »Der Zustand der Feierlichkeit ist niemals grob oder simpel – er scheint ein gewisses Maß seines eigenen Gegensatzes in gelöster Form zu enthalten. Die feierliche Freude bewahrt etwas Bitteres in ihrer Süße.« 25 Die spezifische Art dieses religiösen Glücks ist substantiell unterschieden von gewöhnlichen Glückserfahrungen, die James als »Erleichterungen« auffasst, »welche dadurch veranlasst werden, dass wir gerade einem erfahrenen oder drohenden Unglück entkommen sind«. In der religiösen Erfahrung geht es nicht mehr ums Entkommen. Es geht vielmehr um die unverdrängerisch akzeptierte und als versöhnbar gelesene Endlichkeit. James thematisiert diese Leistung der Religion, die in einem nutzenbezogenen Blick auf sie unaufhellbar ist, folgendermaßen: »Wenn Sie mich fragen, wie die Religion das macht, dass sie beim Absturz dem Tod ins Angesicht 20 21 22 23 24 25
James 1997, 63 f. James 1997, 79. James 1997, 80. James 1997. 80. Royce 1891, 505. James 1997, 81.
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schaut und im Akt der Vernichtung diese selbst vernichtet, kann ich es nicht erklären, denn das ist das Geheimnis der Religion« 26. Da in ihr »Selbstaufgabe und Opfer positiv angenommen« werden, »macht die Religion leicht«, was »ohnehin notwendig ist«. Sollte sie »die einzige Instanz sein, die dieses Resultat erreichen kann«, so ist das »die entscheidende Bedeutung, die sie als Fähigkeit des Menschen zweifelsfrei bestätigt« 27. Laut James werden wir zu diesem Schluss durch eine pragmatische Untersuchungsmethode geführt, wobei die Frage nach der Religion »als einer metaphysischen Offenbarung« 28 ausgeklammert bleiben kann. 3.2. James’ zweiter Anlauf 29, die Phänomenologie des Religiösen zu untersuchen, ist seiner Struktur nach pragmatisch-holistisch. »Heiligkeit«, so James, ist der »Sammelname für die reifen Charakterfrüchte der Religion«. Ohne Rekurs auf explizit theologische Geltungsansprüche lassen sich diese Früchte durch vier allgemeine Charakteristika kennzeichnen, die nach James in den verschiedenen Religionen unterschiedlich zusammengesetzt und ausgeprägt sein können. (i) Erstens sei Heiligkeit verbunden mit dem »Gefühl, in einem größeren Lebenszusammenhang zu existieren, der über die selbstsüchtigen kleinen Interessen dieser Welt hinausreicht«. Im Christentum »ist diese Macht als Gott personifiziert«. Sie kann aber auch als unpersönliches Unsichtbares (z. B. als moralisches Ideal) auftreten. 30 Diese weite Interpretation mag unstimmig erscheinen angesichts der Tatsache, dass sich Religion und Moral für James lediglich berühren, aber keineswegs deckungsgleich sein sollen. Dem ist entgegenzuhalten, dass auch moralische Ideale an einem im endlichen Handeln nicht voll Implementierten partizipieren. Wenn nicht das futurische humane Kollektiv mit dem Projekt überfrachtet werden soll, seine Endlichkeit selbst in toto zu überwinden, stellt sich (dasselbe gilt für Religionen ohne Gott) die Frage nach jener ›vollkommenen Macht‹, die sicherstellen könnte, dass unser Handeln nicht in Kontingenz versinkt. (ii) Ein zweites Charakteristikum aller Religion ist nach James das »Empfinden, dass die vollkommene Macht unserem eigenen Dasein freundschaftlich verbunden ist, und die Bereitschaft,
26 27 28 29 30
James 1997, 82 James 1997, 84. James 1997, 84. James 1997, 283 f. James 1997, 283.
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sich ihrer Lenkung zu unterwerfen« 31. (iii) Daraus erwächst drittens eine »gewaltige Begeisterung und ein Gefühl von Freiheit, da die beschränkenden Grenzen des Ichs aufgehoben sind« 32. Der Glaube reorganisiert jenes Ich, das heillos in seine eigenen Defekte verstrickt ist. Diese Entfremdungserfahrungen (die Rede ist von Erfahrungen der Melancholie, des Bösen und des Gefühls persönlicher Sünde) und deren Überwindung im »Zweimalgeborensein« beschreibt James ausführlich in seinen Erwägungen zur »kranken Seele« 33. (iv) Aus diesem Durchgang durchs Negative resultiert viertens die »Verlagerung des Gefühlszentrums zu Empfindungen von Liebe und Harmonie, hin zum ›Ja, Ja‹ und weg vom ›Nein, Nein‹, wenn es um Ansprüche des Nicht-Ich geht« 34. Aus diesen vier Momenten der Heiligkeit ergeben sich laut James Askese, Reinheit und Nächstenliebe als »charakteristische praktische Konsequenzen«. Es handelt sich um Motivationen die nirgendwo auf schnelles Glück, Leidlosigkeit etc. eingeengt sind. Es sind die »besten Früchte« 35, die das menschliche Handeln hervorbringt. 3.3. Zugleich haben sie jedoch das Potential, ans Pathologische grenzende Modi ihrer selbst zu erzeugen. In scherzhafter Weise an Kant anschließend, entwickelt James im Kapitel Der Wert der Heiligkeit eine »Kritik der reinen Heiligkeit« 36. Er kommt dabei en passant auch auf ein Problem zu sprechen, das die Reichweite und das Limit der pragmatischen Methode tangiert: auf die Frage nämlich, ob man denn die Früchte der Religion »nach rein menschlichen Wertbegriffen« messen könne? Im Wortlaut heißt es: »Wie kann eine Religion […], die an zwei Welten und eine unsichtbare Ordnung glaubt, allein danach beurteilt werden, wie ihre Früchte zu dieser Weltordnung passen?« 37 Insofern Religion auf Transzendenz bezogen ist, genügt ein immanentes Evaluationskriterium allem Anschein nach nicht. Wie James treffend betont, muss schließlich folgendes gelten: »Wenn Religion wahr ist, sind ihre Früchte gute Früchte, auch wenn sie sich in dieser Welt als durchgängig schlecht angepasst erweisen
31 32 33 34 35 36 37
James 1997, 283. James 1997, 283. James 1997, 152–187. James 1997, 283. James 1997, 283 f. James 1997, 336. James 1997, 382.
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sollten« 38. Weil er sie für intellektualistisch und unentscheidbar hält, klammert James diese Frage weitgehend aus. Es findet sich lediglich die negativ-limitative Äußerung, dass wir heute »an bestimmte Arten von Göttern nicht glauben« 39. Um eine »belangvolle Option« sein zu können, sind Götter nach James vielmehr an das entfaltete Konzept unserer Moral (und unseres Wissens) rückgebunden. Es heißt: »Die alten Götter sind unter das allgemeine säkulare Niveau gerutscht […]. Würde ein Gott heute zu seiner Besänftigung blutige Opfer fordern, gälte er als zu grausam, um ernst genommen zu werden« 40. Im Sinne einer Inversion der Feuerbachschen Religionskritik könnte man also sagen, dass ein Gott, an den geglaubt werden kann, für uns (hinlänglich) verständlich sein muss. 3.4. Das führt James zur weitreichenden Frage, »ob alle Menschen dieselbe Religion haben sollten?«. Sind »für Harte und Weiche, für Stolze und Demütige, für Strebsame und Faule […] genau dieselben Arten religiösen Ansporns erforderlich« 41? Nein, antwortet James emphatisch. Dass sich religiöse Lebensformen auf vielfältige Weisen ausgebildet haben, ist eindeutig ein Gewinn. Freilich befürwortet James damit keineswegs einen entgrenzten Relativismus. Denn schließlich drängt sich angesichts der Vielfalt des Religiösen unmittelbar die Folgefrage auf, welche Manifestationsformen von Religion zu Recht kritisiert werden und welche nicht. James nähert sich dieser Frage auf mehrfache Weise. (i) Erstens unterscheidet er zwischen authentischen Manifestationsformen des Religiösen einerseits und deren »institutionellen, korporativen oder stammesmäßigen Hervorbringungen« 42 andererseits. Die religiösen Genies wie beispielsweise Buddha oder Jesus ziehen Jünger an. Es bilden sich ›Gruppen‹, die wiederum »zu kirchlichen Institutionen mit eigenen korporativen Ambitionen« werden. Im Verlaufe dieses Prozesses kann es allerdings zu prekären Verzerrungen, ja zu Zerstörungen der ursprünglichen Motive kommen: »Manche Menschen«, so James, »verbinden [daher] mit dem Wort ›Kirche‹ so viel Heuchelei, Tyrannei, Gemeinheit und hartnäckigen Aberglauben, dass sie sich in einer pauschalen, unterschiedslosen Weise der Feststellung rühmen, sie
38 39 40 41 42
James 1997, 382. James 1997, 338. James 1997, 338. James 1997, 343. James 1997, 344.
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seien mit der ganzen Religion fertig.« 43 Der kritische Blick, den James hier auf den Übergang von der originären Religiosität zur korporativ funktionalisierten Religion wirft, ist scharfsichtig. Er behält auch dann Gewicht, wenn Jameskritiker wie Royce mit Recht darauf verweisen, dass schon das als ›authentisch‹ qualifizierte Religiöse (wie beispielsweise das religiöse Wirken von Jesus) nicht ohne positive und negative Rückbezüge auf vorgelagerte ›kommunale‹ Institutionalisierungen sprachlicher und realer Art auskommen kann: Jesus von Nazareth spricht im Tempel und seine Lehre bezieht sich immer wieder – auslegend – auf Gedankenfiguren der Bibel. (ii) Zweitens jedoch beschäftigt sich James in seiner Analyse der Religionsdevianzen mit bestimmten Formen von »Theopathie«. Dabei befasst er sich neben dem »Aszetismus« und der pathologischen »Reinheit« vor allem mit dem gewaltbereiten religiösen Fanatismus als der gefährlichsten negativen Frucht von Religion. Deutlich hebt James hervor, dass die »Niedrigkeiten, die gemeinhin der Religion in Rechnung gestellt werden«, zwar »fast alle nicht der Religion im eigentlichen Sinn zuzurechnen« sind, sondern »eher dem verdorbenen praktischen Partner der Religion, dem Geist korporativer Herrschaft« 44. Dieser Herrschaftsgeist tritt unter der Maske der Religion mit aggressiver Gewalt auf. Dazu heißt es bei James, dass die »Verfolgung der Juden, die Jagd auf Albigenser und Waldenser« ebenso wie »das Steinigen von Quäkern und das Unterdrücken von Methodisten, der Mord an Mormonen und das Massaker an Armeniern« eher »ein Ausdruck der ursprünglichen menschlichen Neophobie, der Streitsucht« seien, »deren Spuren wir alle tragen, und des angeborenen Hasses auf das Fremde und auf alle ausgefallenen und nonkonformistischen Fremdmenschen, als dass sie ein positiver Ausdruck der Frömmigkeit der verschiedenen Täter wären«. Für James ist hier Frömmigkeit lediglich »die Maske, der Stammesinstinkt die treibende Kraft« 45. Die Früchte der Religion werden so auf fürchterliche Art »verdorben« 46. 3.5. Nach seinen Untersuchungen zur Heiligkeit und ihren Pathologien erkundet James den Begriff des ›Mystischen‹, den er (wiederum in Distanznahme von allen ›intellektualistischen‹ Sekundärinterpretationen von Religion) zum zentralen Authentizitätsbegriff 43 44 45 46
James 1997, 344. James 1997, 347. James 1997, 347. James 1997, 349.
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religiöser Erfahrung aufwertet und als empirischen Grenzbegriff deutet. 47 James bestimmt den Gehalt des Wortes ›mystisch‹ auf vierfache Weise 48. (i) Mystische Erfahrungen sind erstens »unaussprechbar«. Das heißt, dass sie mit Gefühlen vergleichbar sind, die sich nur poetisch approximieren lassen. (ii) Sie haben zweitens »noetische Qualität«. Damit wird gesagt, dass sie für die, die sie erfahren, »Zustände von Erkenntnis zu sein« scheinen. (iii) Drittens sind sie »flüchtig«, und (iv) viertens sind sie »passiv«, da sie sich denen, die sie erfahren, zeigen (d. h. von diesen nicht selbst, aktiv, hervorgebracht werden können). Die »gleichbleibende Grundstimmung« der Erfahrung des Mystischen – so fasst James seine Erwägungen zusammen – »ist Versöhnung«. Weiter heißt es: »Es ist, als wenn die Gegensätze der Welt, die Widersprüchlichkeiten und Konflikte, die die Ursache unserer ganzen Schwierigkeiten und Sorgen sind, zu einer Einheit verschmelzen. […] Ich weiß, dies ist eine dunkle Aussage, wenn man sie in den Begriffen der gebräuchlichen Logik formuliert. […] Aber ich habe das Gefühl […], dass sie etwas Ähnliches meint wie die Philosophie Hegels, wenn man die nur etwas klarer fassen könnte« 49. An diesem Punkt geht James leider nicht weiter, sondern belässt es bei dieser kurzen Bemerkung. Dadurch bleibt die Möglichkeit unerkundet, sich der ›Erfahrung der Versöhnung‹ durch eine transbinäre Dialektik zu nähern, die im Sinne einer semiotisch transformierten triadischen Interpretationstheorie ausgedeutet wird, wie es Royce 50 später versucht. 3.6. Die 18. Vorlesung seiner Studie widmet James der Philosophie. Zunächst zeigt er, dass der Versuch, der Mystik durch argumentierende Rekonstruktion einen allgemeinen Status zu verschaffen, prekär bleiben muss, da Theologie und Philosophie derivative »Übersetzungen eines Texts in eine andere Sprache« sind. Andererseits aber könne dieser Versuch nicht in toto vermieden werden, da der Philosophie die Aufgabe zukommt, »die Religion von ihrer ungesunden PriInteressanterweise findet sich im Zentrum der Jamesschen Erkundung von Religion eine in der James-Literatur kaum wahrgenommene Bezugnahme auf Hegel. Das ist bemerkenswert, weil Hegel derjenige Denker ist, den James wohl nicht zuletzt deshalb besonders abwehrt, weil sich pragmatizistisch gewendete Elemente des Hegelschen Denkansatzes in der religionsphilosophischen Argumentation seines Opponenten Royce wiederfinden. 48 James 1997, 384 f. 49 James 1997, 391. 50 Nagl 2014b. 47
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vatheit zu befreien und ihren Botschaften einen öffentlichen Status […] zu geben« 51. »Garantiesysteme« der theoretisch-deduktiven Art können freilich am Denkort von Religion philosophisch nicht errichtet werden. Die diesbezüglichen Leistungen der Philosophie seien nach Kants Kritik an den theoretischen Gottesbeweisen limitiert: Sie findet lediglich »Argumente für unsere schon bestehenden Überzeugungen« 52. Insgesamt vertraut James auch im religionsphilosophischen Diskurs auf das, was er die ›kritische Methode der englischen und schottischen Denker‹ nennt. Das ist eine Methode, von der James sagt, dass sie in der pragmatischen Maxime von Peirce kulminiere. Diese Maxime gibt er (freilich ohne die für die intellektuelle Entwicklung von Peirce so wichtige Differenz zwischen ›Pragmatismus‹ und ›Pragmatizismus‹ zu berücksichtigen) so wieder: »Gäbe es einen Anteil im Denken, der auf die praktischen Konsequenzen des Denkens keinen Einfluss hätte, gehörte dieser Anteil nicht zu den eigentlichen Bedeutungselementen des Denkens« 53. Bei Berücksichtigung dieses Prinzips wird es uns, James zufolge, möglich, eine große Reihe theoretisch-theologischer Aussagen als belanglos zu verabschieden. Das gilt beispielsweise für das in der Attributenlehre Gottes generierte »metaphysische Monstrum« der Rede von Gottes »Ansichheit« 54. Bei den »moralischen Attributen Gottes« kann eine solche Verabschiedung jedoch nicht funktionieren, weil diese Prädikate »pragmatisch gesehen ganz anders fundiert« seien, da sie »positiv über Furcht, Hoffnung und Erwartung« 55 entscheiden. Doch obwohl die Eigenschaften Gottes bei den Ausspezifizierungsversuchen religiöser Hoffnungslogiken stets mit im Spiel bleiben, lassen auch sie sich intellektualistisch nicht zweifelsfrei herleiten: Dogmatische Theologie, so James, wird als ein metaphysisch-deduktives Geschäft nirgendwo schlüssig. Obgleich das Projekt einer Metaphysik der Religion als verfehlt zu betrachten ist, kommt freilich der Philosophie nach James die wichtige Aufgabe der Umwandlung theologischer Ansprüche in eine »Wissenschaft der Religionen« zu. Durch Vergleich kann die Philosophie nämlich das »Lokale« und »Akzidentelle« aus den menschlichen Redeversuchen vom Göttlichen ausschließen. Zudem kann sie Dog-
51 52 53 54 55
James 1997, 427. James 1997, 431. James 1997, 437 f. James 1997, 438 ff. James 1997, 440.
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men und Kulthandlungen entkrusten (d. h. deren parochiale Absolutheitsansprüche destruieren) und die »spontanen religiösen Konstruktionen« (mit Hegel gesprochen: den bloßen Vorstellungsgehalt der Religionen) einer Nachbesichtigung unterziehen, wobei sie diejenigen Lehren eliminiert, »die sich als wissenschaftlich absurd oder unstimmig« 56 herausgestellt haben. Nach diesem Reinigungsprozess (der in manchem an Kants Projekt einer Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft gemahnt) bleibt, James zufolge, »ein Grundbestand von Begriffen übrig, die zumindest denkbar sind« 57. Weiter heißt es: »Auch nicht-religiöse Menschen könnten [die Ergebnisse der Wissenschaft der Religionen] vertrauensvoll respektieren, so wie blinde Menschen die Tatsachen der Optik hinnehmen« 58. Freilich stützt sich die Optik »auf Tatsachen, die von sehenden Personen erfahren wurden«. Das bedeutet, dass das »religionswissenschaftliche« Destillat aus den Religionen für sich genommen ein abstrakt-allgemeines Kondensat bleibt. Real wird Religion erst in dem, was James die (durch partikulare Glaubensinhalte angereicherten) »over-beliefs« 59 (Über-Glauben) nennt. 3.7. Hier bleiben viele Fragen offen. Wenn James auf einem funktionalen Analyselevel die Fragen ›Existiert Gott wirklich? Wie existiert er? Was ist er?‹ zu irrelevanten Fragen erklärt, da das Ziel der Religion ein reicheres, befriedigteres Leben sei, dann ist in dieser Einklammerung jedes theoretisch-deduktiv herleitbaren Wissens um Gott nicht nur Kants Kritik an den sogenannten ›Gottesbeweisen‹ beerbt. Nein, zugleich wird es unmöglich gemacht, die weiterführende Kantische Frage nach einer im Umfeld der praktischen Vernunft einsetzenden »postulatorischen« Ausdifferenzierbarkeit unseres Hoffnungshintergrunds zu stellen. 60 Kants komplexe, nirgendwo einem entgrenzten Nutzenbegriff zuarbeitende Konzeption der Postulate ›Freiheit‹, ›Gott‹ und ›Unsterblichkeit‹ werden aus der Analyse der Finalitätserfahrungen unserer individuellen und kollektiven Praxis hergeleitet. Das wird bei James zwar gelegentlich kurz angesprochen, doch nirgendwo im nötigen Detail nachuntersucht. Tatsächlich wird James’ Bezugnahme auf Kants Postulatenlehre den komplexen James 1997, 448. James 1997, 448. 58 James 1997, 448. Heute würde man von ›religiös unmusikalischen Menschen‹ sprechen. 59 James 1997, 492. 60 Vgl. auch Nagl 2013. 56 57
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Argumenten in Kants Religionsschriften nicht einmal ansatzweise gerecht. 61 Wie James gegen Ende seiner Studie zur Vielfalt religiöser Erfahrung selbst offen bekennt, lässt sein Rechtfertigungsversuch des ›Ziels‹ der Religion manch wichtige Frage offen. Dazu gehört zum Beispiel das Problem, inwiefern sich das »Gefühl von Geborgenheit« 62, das die Religion vermittelt (es handelt sich um eine »gläubige« Gewissheit, die keine theoretisch-prognostische »Sicherheit« ist), in Übereinstimmung mit der These bringen lässt, dass im entfalteten Denkraum der Moderne jedes Ergreifen von Religion »optionalen« Charakter hat, d. h. volitional dimensioniert ist und ein risikohaltiges, bewährungsbedürftiges »Totalexperiment« beginnt. Es scheint, als hätte sich James (aufgrund der Marginalisierung jener Differenzierungsversuche, die mit und nach Kant in den vor- und außerpragmatischen Religionsdiskurs eingebracht worden sind) wichtiger Mittel entledigt, die zu einer Tiefenerkundung dieser Fragen hätten beitragen können. Anders als James wird der Pragmatizist Royce seinen Blick nicht in ähnlich abrupter Weise von Kant und Hegel abwenden. 3.8. Gegen Ende der 20. Vorlesung sagt James explizit, dass die denkende Resondierung des reichen Materials, das er vor seinen Lesern ausgebreitet hat, zuletzt wohl eher enttäuschend endet. Selbstkritisch schreibt er, dass seine »trockene Analyse« vielen »wie ein Antiklimax, wie ein Auslaufen und Abflachen des Gegenstandes vorkommen« 63 könnte. Angesichts dieses (ihm selbst prekär scheinenden) Resultats greift er die bisher stets eingeklammert gebliebene Frage nach der Validität der inhaltlichen Geltungsansprüche von Religion nochmals auf: »Wir müssen über den Gesichtspunkt bloß subjektiver Nützlichkeit hinausgehen und den intellektuellen Gehalt selbst untersuchen« 64. Der allgemeine Kern der Religionen, so schreibt er nun, besteht aus zwei Teilen, nämlich zum einen in »einem Unbehagen« und zum zweiten in der »Befreiung von ihm«. Auf die einfachste Formel gebracht, ist das Unbehagen das »Gefühl, dass mit uns in unserem natürlichen Zustand irgendetwas nicht stimmt«. Die Befreiung besteht somit »im Gefühl, dass wir von der Unstimmigkeit geheilt werden, wenn wir mit den höheren Mächten in die
61 62 63 64
James 1997, 86 f. und 441. James 1997, 473. James 1997, 484. James 1997, 486.
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richtige Verbindung treten« 65. Bezugspunkt der Religionen ist also nicht eine wie immer geartete Glückstechnik, sondern die Defizitund Endlichkeitserfahrung handelnder Subjekte. Es bleibt jedoch die Frage, inwieweit jenes ›Mehr‹, womit die Gläubigen zur Überwindung ihres Unbehagens in Verbindung treten, eine ›Transzendenz von außen‹ ist. Handelt es sich nicht vielmehr nur um eine ›Transzendenz von innen‹? Tritt der gläubige Mensch mit einem extern realen Unendlichen oder nur mit dem besseren Teil seiner selbst in Beziehung? Laut James sagen Theologen an diesem Punkt alle das gleiche: Sie »stimmen darin überein«, dass dieses Mehr »wirklich existiert, wenn auch einige behaupten, es existiere in Gestalt eines persönlichen Gottes oder Götter, während andere sich damit zufriedengeben, es sich als eine geistige Strömung vorzustellen, die in das ewige Weltgefüge eingebettet ist« 66. Kants Kritik zufolge müsste dieser theologische Geltungsanspruch, wird er als theoretisch demonstrierbar behauptet, als überstark qualifiziert werden. Damit steht die Frage im Raum, inwieweit er sich in der pragmatischen Reflexion kritisch rekonstruieren lässt. Dabei ist natürlich im Auge zu behalten, dass die Einengung auf den bloß subjektiven Nutzen nicht genügt, wenn wir nach dem Realitätsgehalt religiöser Reden fragen. James argumentiert, dass religiöse Lebensformen in einem Totalexperiment verankerte (und insofern vom naturwissenschaftlichen Experimentieren unterschiedene) ›belangvolle‹ Hypothesen sind, die unauflösbar in einem ambivalenten Referenzraum situiert bleiben. Religion ist für James ein auf den gesamten Handlungshintergrund des Handelnden bezogenes »Abenteuer« im »open space« der Moderne. 67 Das ›Mehr‹, auf das die Religionen Bezug nehmen, hat laut James zwei Seiten, von denen nur die eine, psychologische Seite uns klar rekonstruierbar vor Augen tritt: »Das ›MEHR‹, mit dem wir uns in der religiösen Erfahrung verbunden fühlen, ist, was immer es auf der uns abgewandten Seite sein mag, auf der uns zugewandten Seite die unterbewusste Fortsetzung unseres bewussten Lebens« 68. Das Unbewusste wird so für James zum Einstiegs- und Fixpunkt für die Analyse des Religiösen. Es wird zu jenem »doorway« zur religiösen Erfahrung, der sich in einer Wissenschaft der Religionen öffentlich 65 66 67 68
James 1997, 487. James 1997, 489. Taylor 2002 sowie Nagl 2011. James 1997, 491.
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rechtfertigen lässt. Aufgrund dieses gut rekonstruierbaren Eintritts auf der ersten, »uns zugewandten« Seite, so behauptet James weiter, kann die Frage nach der Realität der anderen Seite zumindest im »wissenschaftlichen« Minimalmodell von Religion auch in Zukunft offengehalten werden. 3.9. Religion wird für James freilich erst dann wirklich, wenn das »transmarginale« Bewusstsein (die unbewusste Einfallspforte) in spezifischen »over-beliefs« 69 (in konkreten Formen von ›Über-Glauben‹) inhaltsreich ausgelegt wird. Die Ansprüche dieser partikular strukturierten individuellen Glaubensinhalte und Lebensformen sind für die Gläubigen stimmig und verbindlich: Im publiken Diskurs sind sie jedoch nicht als allgemein valid demonstrierbar. Gleichwohl sollen wir sie, so schreibt James, »mit Verständnis und Toleranz behandeln, solange sie nicht selbst intolerant sind«, weil »das Interessanteste und Wertvollste an einem Mensch meist« sein »Über-Glaube« 70 sei. 71 3.10. Was seinen eigenen ›over-belief‹ angeht, so votiert James selbst für einen auf Transzendenz bezogenen »Supernaturalismus«. Mit seinem Bekenntnis zu einer naturalismusdistanten religiösen Position unterscheidet er sich damit beispielsweise vom späten Dewey, der ein adverbiell gefasstes, naturalistisch-naturfrommes ›Religiöses‹ an den Ort der dogmatismusgefährdeten Religionen zu setzen sucht. 72 Insgesamt deutet James seinen ›Supernaturalismus‹ als polytheismusfreundlich, als »piecemeal supernaturalism«, d. h. als einen Supernaturalismus der »stückhaften oder gröberen Art« 73, für den »endliche Götter« 74 möglich sind. Das freilich goutieren seine Gesprächspartner Peirce und Royce mit interessanten Gründen nur wenig. Tatsächlich bleiben hier viele Fragen offen. Wie James’ »NachJames 1997, 491 f. James 1997, 492. 71 En passant sei erwähnt, dass sich die Pluralismus-Sensibilität dieses Zugangs zur Religion gut mit der heutigen Debatte über die Genese der vielfältigen, identischdifferenten Struktur der sogenannten »Achsenzeitreligionen« (The Axial Age and Its Consequences 2012) ins Gespräch bringen lässt. Der Zugang ist anschlussfähig an die These, dass nicht nur in einer, sondern parallel in einer Reihe von Kulturen unterschiedliche, zugleich in ihrer Orientierung an »Transzendenz« aber nahe miteinander verwandte religiöse und philosophische Weltsichten entstanden sind, die einander differenzieren und erläutern können, insofern sie nicht polemisch gegeneinander zugespitzt werden. 72 Vgl.auch Nagl 2010, 125–166. 73 James 1997, 497 f. 74 Peirce 1995. 69 70
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wort« zu seiner Studie zeigt, war ihm dies selbst klar, beendet er doch seine Untersuchungen mit dem Wunsch, »auf alle diese Fragen in einem anderen Buch zurückzukommen.« 75 Leider hat er diese Ankündigung nicht mehr einlösen können.
4.
Von James zu Royce
Der wichtigste Gesprächspartner von James in Harvard war zweifellos Josiah Royce. Dieser hatte schon früh darauf aufmerksam gemacht, dass die ungelösten Probleme in James’ Religionsphilosophie u. a. darin ihren Grund haben, dass dessen Religionskonzept, als psychologisch fokussiert, um den abstrakten Begriff des ›religiösen Individuums‹ kreise. James’ These vom Unterbewussten als ›Eingangspforte‹ zur Religion »makes religion [in James] a prey to endless psychological caprice« 76, schreibt Royce in seinem Nachruf auf James. Die Vielfalt religiöser Erfahrung ist zweifellos – wie Royce zugleich betont – eines der großen Werke der modernen Religionsphilosophie, da sie »the whole spirit of hopeful unrest, of eagerness to be just to the modern life« zum Ausdruck bringt. Was jedoch die philosophische Erkundung des Themenraums Religion betrifft, sind James’ Untersuchungen – so Royces pointierte Kritik – nicht nur unvollständig, sondern »indeed chaotic« 77. Die These, dass Religion von ›religiöser Erfahrung‹ abhängt, hat einen trivialen Sinn, falls man (Kant folgend) annimmt, dass alles mit der Erfahrung beginnt. (Freilich: schon seit der antiken Philosophie – und auch bei Kant – wird zugleich argumentiert, dass keineswegs alles aus der Erfahrung stammt.) Setzt man beim Erfahrungsbegriff an, dann lässt sich festhalten, dass die religiöse Motivation wie jede andere Motivation in einem primären, trivial-empiristischen Sinne als informiert durch einen entweder positiv affirmierten (d. h. aus der Einübung in das »Sprachspiel« der Religion entstandenen) oder negativen (d. h. über Religionsdistanz und -kritik vermittelten) Erfahrungsbezug angesehen werden kann. Freilich: James gebraucht den Begriff ›religious experience‹ in einem viel stärkeren Sinn. Sein Rekurs auf die Lebenswelten der Religionsstifter und Heiligen will 75 76 77
James 1997, 503. Royce 1911, 22. Royce 1991, 25.
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nämlich das Faktum (d. h. die positive Gegebenheit) des Religiösen durch eine phänomengerechte Beschreibung von Religion aus der Innenperspektive in Sicht bringen. Bei genauerer Betrachtung wird aus dieser ›Gegebenheit‹ (aus dem »fact of the given«) jedoch erst durch Interpretation etwas, das für verbindlich erachtet werden kann. Die letztlich unverständlich bleibende bloße Dokumentation dessen, was andere einmal geglaubt haben, kann keine »lebendige Option« 78 begründen. Es muss um die Schilderung einer Motivlage gehen, die den »Glaubenszustand« 79 derer stützt, die das Berichtete hören. Deshalb kann der Rekurs auf ›Gegebenheit‹ nur durch Interpretation zu einer ›lebendigen Option‹ werden. Da dies so ist, verschleiert das Insistieren auf ›religious experience‹ die Ungesichertheit religiöser Motivation tendenziell: eine Ungesichertheit, die darin besteht, dass die religiösen Inhalte lediglich argumentgestützte Hoffnungspostulate sind, aber ausdrücklich keine ›es gibt‹-Aussagen. Gegen James’ Überakzentuierung der ›religious experience‹ wurden alsbald Einsprüche erhoben. In Harvard geschah dies vor allem durch Josiah Royce, der seine Kritik an James’ Religionsphilosophie mit Rekurs auf die Peircesche Konzeption von ›Semiosis‹ entwickelte. Die Prämisse von Royces Kritik lautet, dass jedes Zeichen seinen Sinn in einem Zeichenprozess erhält, der interpretatorisch und damit kommunal dimensioniert ist. Sein zentraler Kritikpunkt an James’ Religionsphilosophie besagt, dass deshalb auch Religion nicht in toto in der dyadischen Relation ›Individuum-Erfahrung‹ aufgeschlüsselt werden könne, da dabei das soziale Vorfeld eingeklammert bleibt. Tatsächlich erschließt sich, Royce zufolge, Religion in vollerem Sinn erst im Rekurs auf die komplexe triadische Relation zwischen ›Zeichen‹, ›Bezeichnetem‹ und den ›Zeicheninterpreten‹.
5.
Royces pragmatizistische Resondierung des Möglichkeitsraums von Religion
Drei Elemente bestimmen Royces Differenzierungsversuch des Religionsbegriffs. Diese Elemente sind erstens seine Konzeption der »Quellen des Religiösen«, der zufolge religiöse Einsicht nicht durch ein unmittelbar Gegebenes, sondern durch ein multidimensionales 78 79
James 1975, 129. James 1997, 485.
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Geflecht von Bestimmungsgründen dimensioniert wird; zweitens seine Redimensionierung der Religion im Rekurs auf einen latent oder manifest präsenten sozialen Kontext (d. h. deren Verortung in einer Architektur von ›community‹-Begriffen) und das Abrücken von einem Konzept des Religiösen, das exklusiv auf »individuelle Erfahrung« setzt; und drittens die zeichentriadische Dimensionierung der Religionsanalyse, die Royce im Rekurs auf Elemente des ›Pragmatizismus‹ von Peirce entwickelt. 80 Im Folgenden werden diese drei Komponenten des Royceschen Religionskonzepts kurz charakterisiert. 5.1. In seiner Vorlesungsreihe Sources of Religious Insight argumentiert Royce, dass Religion nicht nur eine, sondern mindestens sieben Quellen hat, die auf komplizierte Weisen ineinander fließen. Frank M. Oppenheim fasst in seiner großen Royce-Studie diese Momente so zusammen: »Religious insight [is] 1) individual; 2) social; 3) consistently and cogently rational; 4) decisively volitional; 5) transformed by being genuinely loyal; 6) found in the redemption of the problem of evil; and 7) enlivened by the unity of the Spirit and of Its invisible church.« 81 Für unseren Argumentationszusammenhang ist dabei dreierlei von Relevanz: erstens Royces Akzentuierung des (latenten oder manifesten) Soziokontextes aller Religion; zweitens der »volitionale«, d. h. auf willentliche Entscheidung, auf Praxis und Praxishorizont bezogene Aspekt religiöser Identitätsbildung (die Rede ist von Royces Konzeption der ›Optionalität‹ religiöser Identitätsbildung, die mit der entsprechenden Konzeption von James weitgehend übereinstimmt); sowie drittens seine ambitionierten, über die Jamesschen Reflexionen zur ›kranken Seele‹ hinausgehenden Erkundungen des Endlichkeitsstatus menschlichen Handelns, die Royce in vielen Erwägungen zur »Negativität« und zum Bösen vorlegt. 82 5.2. Wie für Kant und James, so ist Religion auch für Royce keineswegs identisch mit Ethik. In religiösen Hoffnungshorizonten geht es nicht um das »ordinary moral training«, sondern um ein Vorund Nachgelagertes. Es geht um jene Hoffnungspostulate bzw. um jene diskursiv strukturierten Sinngrundierungen, welche (wenn auch nicht in toto, so doch in einigen Hinsichten) argumentativ auslotbar
80 81 82
Vgl. auch Nagl 2010, 221–329. Oppenheim 2005, 258. Vgl. auch Nagl 2014a.
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sind und so die Endlichkeitserfahrung der handelnden Individuen stabilisieren. Anders als James hält Royce all jene Zugangsweisen zur Religion, die primär auf Unmittelbarkeit setzen, für ungenügend. Mystik, so schreibt er, »is the essentially immature aspect of the deeper religious life« 83. Dass James angesichts der modernen Religionskrise vor allem auf »subjektive religiöse Erfahrung« setzt, findet Royce problematisch: »If many […] hold that the modern man should seek to interpret his religion mainly or wholly in a mystical sense […], there are many others who indeed vigorously reject this view« 84. Royce stimmt denen zu, die einen individualisierend-mystischen Zugang zum Religiösen auf Distanz halten, ohne freilich diese Zustimmung (beispielsweise mit Bezug auf die Prävalenzansprüche einer bestimmten ›religious community‹) auf konservativ-parochiale Weise auszulegen. Nach Royce ist das Geschick der »present creeds and present institutions« 85 unter den Konditionen der Moderne unsicher geworden. Das Gültige an den Religionen wird nicht im Rekurs auf das ›Gegebene‹ ausweisbar, sondern allein auf geistige Art: in denkender Resemiotisierung. Weil sich die älteren durkheimischen Verflechtungen von Religion und staatlicher Identität 86 dem Ende nähern, kann das Gültige an den Religionen tatsächlich nur noch ausgewiesen werden, sobald das Religiöse zum Gegenstand philosophisch-argumentierender Reinterpretation gemacht wird. Es heißt dazu: »Once, when the temples and the gods were threatened, all the state rose as one man to defend them. For they were the center of the social order. But henceforth commerce and industry will tend to take the place in men’s minds which religious institutions once occupied. The things of the spirit must now be defended with the sword of the spirit […]. Religion must find its own way to the hearts of the coming generation« 87. Wer ihrer dekonstruierenden Resemiotisierung (der »Bewegung des Begriffs«, so könnte man mit Hegel sagen) dogmatisch entgegenhandelt, der begeht (in der Sprache der christlichen Theologie gesprochen) die ›Sünde wider den Geist‹: die einzig wirklich nicht vergebbare Sünde.
83 84 85 86 87
Royce 2001, 216. Royce 2001, 217. Royce 2001, 225. Taylor 2002, 83. Royce 2001, 213.
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5.3. Das Religiöse erhält seine Dimensionierung im Blick auf das durch endliches Handeln allein unherstellbare ›höchste Gut‹. In einiger Nähe zu Kants Hoffnungspostulat ›Gott‹ bestimmt Royce die ›triadische Struktur‹ des Religiösen wie folgt: »The triadic structure of religious experience lies in being in touch with one’s ideal supreme good, one’s felt impotence to attain it, and one’s sense of union with a Deliverer, who by rescuing one from this barrier, effects union with one’s supreme good.« 88 Ausgehend von einer Analyse unserer praktisch-volitionalen Existenz wird die basale Trias aller pragmatizistischen Semiotik (Zeichen, Objekt, Interpretant) in Royces Religionsphilosophie zu einem Hintergrund-Postulat unseres Handelns ausspezifiziert, das um die Elemente »the Ideal, the Need, and the Deliverer« 89 kreist. Im Gesamtgefüge von Royces religionsphilosophischer Argumentation bleibt dabei zum einen der experimentelle, handlungsbezogene Charakter des Pragmatismus von zentraler Bedeutung. Semiotisch nachbetrachtet bedarf der Pragmatismus, Royce zufolge, jedoch eines ›Supplements‹. Seinen Eröffnungsvortrag zum Heidelberger Weltkongress für Philosophie im Jahr 1908, den Royce in Vertretung des erkrankten William James hielt, nahm er zum Anlass, seine These von der semiotischen Ergänzungsbedürftigkeit des Pragmatismus mit Blick auf die Hauptpositionen der modernen Wahrheitstheorie zu entfalten. Konkret beschäftigte sich Royce dabei mit dem Instrumentalismus von James und Dewey, dem Voluntarismus von Nietzsche und der pragmatizistischen Denkposition von Peirce. 90 Die Peircesche Position überragt für Royce die beiden anderen, die sie freilich zugleich voraussetzt: Erst im semiotisch dimensionierten Pragmatizismus wird die Frage nach dem Realen und Wahren über den zuletzt unbefriedigenden praktikalistischen Ansatz hinausgeführt. Dadurch kommt das im endlichen Handeln vorausgesetzte Unverfügbare (wieder) in Sicht, wodurch die Frage nach »a new synthesis of voluntarism and absolutism« 91 unabweisbar wird.
88 89 90 91
Royce 1912, 28. Zit. nach Oppenheim 2005, 258. Royce 1912, 29. Vgl. auch Nagl 2007. Royce 1969, 690.
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Ludwig Nagl
6.
Konklusion
Die Endlichkeitserfahrungen, vor deren Hintergrund sich diese Frage rekonstituiert, manifestieren sich erstens darin, dass das endliche Handeln voraussetzend und in seinen totalen Langzeitwirkungen unabsehbar ist. Sie manifestieren sich zweitens aber auch darin, dass Handeln »absolut« in jenem prekären Sinn ist, dass es (in einer Situation, die auf identische Weise niemals wiederkehrt) eine Faktizität ein für allemal setzt, die es nie mehr in toto zum Verschwinden bringen kann. Mit einem ironischen Seitenblick auf James’ vorschnelle Dauerdisqualifizierung des ›Absoluten‹ bringt Royce das wie folgt zum Ausdruck: »[I]f anyone wants to be in touch with the ›Absolute‹ – with that reality which the pragmatists fancy to be peculiarly remote and abstract – let him simply do any individual deed whatever and then try to undo it.« 92 Obgleich Handeln finit ist, hat es einen ›unwiderruflichen‹ Charakter. Dieses Nicht-ungeschehen-machenKönnen der intendierten wie der nicht-intendierten Wirkungen des eigenen (limitierten) Tuns (sprich: die prekäre, beunruhigende Absolutheit des Endlichen) speist in religiösen Hoffnungshorizonten die Hoffnung auf ein Unendliches, das die Fixierungen und Defizite des individuellen und kollektiven Handelns reinterpretierend zu einem Ganzen fügen kann. Wie Royce und James mit Kant wissen, gibt es für die Stimmigkeit dieses realitätsbezogenen Hoffens – das in ein optional einsetzendes, praktisches ›Totalexperiment‹ eingebettet ist – keine theoretisch-deduktive Garantie. Dass dieses Hoffen denkmöglich, ja in vorsichtiger Argumentation inhaltlich spezifizierbar ist: An der Positionierung dieser These arbeiten – mit neuen, nachkantischen Mitteln und im Blick auf unterschiedliche Konzepte des Realen – sowohl James als auch Royce.
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92
Royce 1912, 154.
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Religion als optionaler Handlungshorizont Nagl, Ludwig (2007): Hegel, ein »Proto-Pragmatist«? Rortys halbierter Hegel und die Aktualität von Royces »absolute pragmatism«. In: Von der Logik zur Sprache. Stuttgarter Hegel Kongress 2005. Hrsg. R. Bubner, G. Hindrichs. Stuttgart 2007, 390–411. Nagl, Ludwig (2010): Das verhüllte Absolute. Essays zur zeitgenössischen Religionsphilosophie. Teil III, Pragmatismus/Neopragmatismus. Frankfurt a. M. 2010, 73–329. Nagl, Ludwig (2011): »The Jamesian open space«. Charles Taylor und der Pragmatismus. In: Unerfüllte Moderne? Neue Perspektiven auf das Werk von Charles Taylor. Hrsg. M. Kühnlein, M. Lutz-Bachmann. Berlin 2011, 117– 160. Nagl, Ludwig (2013): Erkundungsversuch des »großen Hoffens«. Kants Religionsphilosophie und der Hoffnungsbegriff von »Kant’s children, the Cambridge pragmatists« (James und Royce). In: Der Endzweck der Schöpfung. Zu den Schlussparagraphen (§§ 84–91) in Kants Kritik der Urteilskraft. Hrsg. M. Hofer, C. Meiller, H. Schelkshorn, K. Appel. Freiburg/München 2013, 223–253. Nagl, Ludwig (2014a): Experiencing life and (religious) hope. Pragmatic Philosophies of Religion. In: Human Affairs. Postdisciplinary Humanities & Social Sciences Quaterly, vol. 24, Number 1. O. O. 2014, 103–111. Nagl, Ludwig (2014b): Peirce on Hegel, Pragmaticism, and the »Triadic Class of Philosophical Doctrines«. In: Charles Sanders Peirce in His Own Words. 100 Years of Semiotics, Communication, and Cognition. Hrsg. T. Thellefsen, B. Sørensen. Boston/Berlin 2014, 429–435. Oppenheim, Frank M. (2005): Reverence for the Relations of Life. Re-imagining Pragmatism via Josiah Royce’s Interactions with Peirce, James, and Dewey. Notre Dame, Indiana 2005. Peirce, Charles Sanders (1995): Zwei Briefe an William James. In: Charles Sanders Peirce. Religionsphilosophische Schriften. Hrsg. H. Deuser. Hamburg 1995, 284–285. Putnam, Hilary (1997): Wittgenstein über den religiösen Glauben. In: ders.: Für eine Erneuerung der Philosophie. Stuttgart 1997, 172–200. Royce, Josiah (1891): Review of John Dewey: Outlines of a Critical Theory of Ethics. In: The International Journal of Ethics, vol. 1. O. O. 1891, 505–505. Royce, Josiah (1911): William James and the Philosophy of Life. In: ders.: William James and other Essays on the Philosophy of Life, New York 1911, 3–45. Royce, Josiah (1912): Sources of Religious Insight. New York 1912. Royce, Josiah (2001): The Problem of Christianity. Washington D.C. 2001. Royce, Josiah. (1969): The Problem of Truth in the Light of Recent Discussion. In: The Basic Writings of Josiah Royce, vol. 2. Chicago/London 1969, 681– 709. Taylor, Charles (2002): Die Formen des Religiösen in der Gegenwart. Frankfurt a. M. 2002. Taylor, Charles (2003): Die immanente Gegenaufklärung. In: Religion nach der Religionskritik. Hrsg. L. Nagl. Wien / Berlin 2003, 60–85. Taylor, Charles (2007): Ein säkulares Zeitalter. Frankfurt a. M. 2007.
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Marie-Luise Raters
Don’t worry – be happy? Das Problem des religiösen Zweifels bei William James
Darf man als Pragmatistin religiös sein? 1 Eine Antwort auf diese Frage ist nicht einfach zu geben. Für eine Vereinbarkeit spricht die weltanschauliche Offenheit des Pragmatismus, die William James in seinen Pragmatismus-Vorlesungen von 1907 mit einem »Korridor in einem Hotel« vergleicht, von dem »unzählige Zimmer« abgehen können. Warum sollten nicht einige Zimmer den Religionen vorbehalten sein? Der Pragmatismus ist zunächst einmal nur »eine Methode«, die sich »keineswegs auf bestimmte Ergebnisse« 2 festlegt. Für eine Vereinbarkeit scheint auch das methodische Primat der Praxis zu sprechen: Für eine Pragmatistin müssen sich Überzeugungen im Leben bewähren. Zwar ist Religion (um noch einmal die abgedroschenen Beispiele von Religionskriegen, Geißelungspraktiken und Hexenverbrennungen zu bemühen) in der Geschichte der Menschheit durchaus auch menschenverachtend, aggressiv und grausam in Erscheinung getreten. Jenseits dessen finden aber viele Menschen Trost, Frieden und Sinn in einer Religion. Deutlich gegen eine Vereinbarkeit scheint jedoch der pragmatistische Fallibilismusvorbehalt zu sprechen, dem zufolge keine Überzeugung als unantastbar gelten darf. Zwar muss der Fallibilismusvorbehalt mit einem Antiskeptizismus einhergehen, dem zufolge eine Pragmatistin an ihren Überzeugungen festhalten sollte, solange sich keine wirklichen Zweifel aufdrängen. Aber ist nicht bei vielen religiösen Lehren genau das der Fall? Da soll ein Jesus von Nazareth am dritten Tag von den Toten auferstanden sein. Kann man so etwas wirklich glauben? Im grellen Licht von philosophischer Konsistenzlogik und Naturwissenschaft scheinen viele religiöse Überzeugungen doch wohl eher unglaubwürdig zu sein. 3 Ich danke Ralf Stoecker, Logi Gunnarsson, Helmut Pape und Hans Joas für wertvolle Kritik. 2 James 1907, 32 ff. 3 John Dewey schreibt dazu in A Common Faith von 1934, dass es durch »Zunahme 1
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Marie-Luise Raters
Für den Pragmatisten William James stellte sich das Problem des religiösen Zweifels besonders drängend, weil seine Forschungen im Bereich der Empirischen Psychologie zu dem Resultat geführt hatten, dass religiöse Überzeugungen das Leben »leicht und glücklich« 4 machen können. Das gilt aber offensichtlich nur, wenn man den religiösen Überzeugungen uneingeschränkt Glauben schenken kann und nicht von Zweifeln zerfressen wird. Darf eine Pragmatistin religiöse Überzeugungen für wahr halten, obgleich sich philosophisch-logische oder naturwissenschaftliche Zweifel aufdrängen, weil ihr Leben dadurch leichter und glücklicher wäre? Meine Abhandlung stellt die Antworten zur Diskussion, die William James in den Gifford-Lectures The Varieties of Religious Experience aus dem Winter 1901/02 auf diese zentrale Frage jeder pragmatistischen Religionsphilosophie gibt.
1.
Die Gifford-Lectures im Grundriss
Programmatisch charakterisiert James die Gifford-Lectures als »psychologische Untersuchung«, die nicht die etablierten Religionen, sondern persönliche »religiöse Gefühle und religiöse Antriebe« zu ihrem Gegenstand hätten. Darunter versteht James alle »Gefühle, Handlungen und Erfahrungen von einzelnen Menschen«, die »in ihrer Abgeschiedenheit« von »sich selbst glauben, dass sie in Beziehung zum Göttlichen stehen«. Ausdrücklich muss zu einer Religion kein personaler Gott gehören. Mit dem Argument, dass dasjenige, was man in einem »primären, umfassendsten und tiefsten Sinn« für wahr hält, als »gottähnlich« betrachtet werden könne, plädiert James vielmehr dafür, »die Haltung eines Menschen gegenüber dem, was er als die höchste Wahrheit empfindet«, als »seine Religion« 5 zu bezeichnen. Infolgedessen interessieren sich die Vorlesungen für die »kirchlichen Institutionen« 6 und die »systematische Theologie und ihre Gottes-
an Wissen« sowie durch eine »Verbesserung der Methoden und Testverfahren« der Naturwissenschaften »für kultivierte Männer und Frauen in zunehmend ansteigender Zahl schwieriger – ja bisweilen sogar unmöglich – geworden« sei, die »Lehren« der Religion(en) »zu akzeptieren«. Dewey 1934, 183. 4 James 1901, 84. 5 James 1901, 67. 6 James 1901, 344 (62 f.). Vgl. kritisch Taylor 1999, 26 f. sowie Joas 2004 insg.
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begriffe« 7 nur am Rande. Stattdessen erörtern sie »zwei grundverschiedene Arten von Fragen« zur ›persönlichen Religion‹, nämlich die Frage nach der Genese der religiösen Gefühle und die Frage nach ihrem Wert und ihrer »philosophische(n) Bedeutung« 8. 1.1. Auf die Frage nach der Genese der religiösen Gefühle antwortet James, dass plötzlich »eine Gruppe von Erinnerungen, Gedanken und Gefühlen« in den Fokus des Bewusstseins treten würde, die zuvor »vollkommen extramarginal und außerhalb des primären Bewusstseins« 9 existiert habe. Religiöse Erfahrungen entstehen nach James also durch Verschiebungen im »subliminalen Selbst« 10, wobei »der Unterschied zwischen einem plötzlich und einem schrittweise Bekehrten« darin bestünde, dass die vorbewussten Gehalte bei der plötzlichen Bekehrung sehr »abrupt in das primäre Bewusstsein eindringen und aus dem Gleichgewicht bringen« 11 sollen. 1.2. Seine Antwort auf die ethische Leitfrage nach der Bedeutung der religiösen Erfahrung lautet dann ebenso klar, dass Religion das Leben »leicht und glücklich« machen könne. Anders als die Moral könne »die Religion auf ihren Höhenflügen« nämlich »unendlich leidenschaftlich« machen. Letztendlich sei es diese »Begeisterung«, aus welcher der »religiöse Mensch« den »Mut« und die »Kraft« schöpft, die James das »absolute Glück« im Gegensatz zum ›gewöhnlichen Glück‹ nennt, das nur »Erleichterungen« 12 verschaffe. Dem naheliegenden Einwand, dass nicht alle religiösen Menschen ein ›leichtes und glückliches‹ Leben führen, kann James elegant mit dem Hinweis darauf begegnen, dass religiöse Praktiken pervertierte
James 1901, 62. Dass er Theologie und ›persönliche Religion‹ sogar als Gegensätze auffasst, zeigt sich in einer Passage, der zufolge sich »in jedem Lebensalter« Menschen finden, die sich trotz der »finsteren Theologien, in die sie hineingeboren« worden seien, »leidenschaftlich auf ihr Empfinden für den Sinn des Lebens berufen« würden, weil »ihre Religion« von »Anfang an in der Gemeinschaft des Göttlichen« gestanden habe. A. a. O. 111. Entgegen seiner Ankündigung befasst sich James dann aber doch mit Theologie. (i) Gegen die ›Gottesbeweise‹ der scholastischen Theologie vgl. a. a. O. 434–440. (ii) Gegen die »intellektualistische« oxford-hegelianische Theologie seiner Zeit vgl. a. a. O. 426–429. 8 James 1901, 38 ff. 9 James 1901, 250. 10 James 1901, 250. 11 James 1901, 253. 12 James 1901, 74–84, insb. 84. 7
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Formen annehmen oder zu Herrschaftszwecken missbraucht werden können. 13
2.
Das Problem des fundamentum in re
Den Gifford-Lectures zufolge sollen religiöse Überzeugungen also ›leicht und glücklich‹ machen können. Wenn man bereit ist, die negativen Erscheinungsweisen von Religion mit James als Perversion oder Missbrauch zu betrachten, ist das leicht nachvollziehbar: Die Religionen lehren viel Tröstliches. Pars pro toto seien ihre Verheißungen eines Lebens nach dem Tod herausgegriffen. Dem nordisch-keltischen Sagenkreis zufolge werden tapfere Krieger vom Schlachtfeld in Odins Walhall geführt. Der griechische Orphismus lehrt, dass die Seelen der Menschen in neue Körper eingehen, bis sie endgültig geläutert in ihre eigentliche jenseitige Existenz zurückkehren. Christentum und Islam versprechen ein ewiges Leben im Paradies. Es wäre für unsere Lebensvollzüge zweifellos hilfreich, wenn wir wirklich auf ein neues Leben in der Gegenwart Gottes oder in einem unverbrauchten Körper hoffen könnten. Wir könnten gelassener mit irdischem Scheitern umgehen und eher loslassen, wenn wir sicher sein könnten, dass alles, was uns hier widerfährt, nur ein Übergang in eine bessere Existenz ist. Die Bedingung dafür, dass unser Leben durch solche religiösen Lehren ›leichter und glücklicher‹ wird, besteht allerdings darin, dass man ihnen wirklich Glauben schenken kann, womit der religiöse Zweifel ins Spiel kommt. Jeder weiß, dass menschliche Körper nach dem Tod verfaulen, wenn sie nicht verbrannt werden. Alles, was wir wirklich vom Tod wissen, spricht gegen eine Erneuerung des Lebens. Dennoch muss eine Christin wirklich glauben können, dass Jesus von Nazareth am dritten Tage auferstanden ist, wenn sie auf ihre eigene Auferstehung am Jüngsten Tag vertrauen will. Ansonsten wäre ihrer religiösen Hoffnung der Boden entzogen. Was für christliche Überzeugungen gilt, gilt für alle religiösen Überzeugungen: Sie können nur Trost, Halt und Hoffnung schenken, wenn man glauben kann, dass sie ein fundamentum in re haben. Das wiederum heißt,
Beispiele wären laut James Selbstgeißelungen oder die »pessimistische Askese als Selbstabtötung«. James 1901, 311–318.
13
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dass religiöse Zweifel weniger ein epistemisches als ein ethisches 14 Problem sind. Und als solches haben sie auch James beschäftigt.
3.
Die religiösen Zweifel des William James
Bei einer ersten Lektüre der Gifford-Lectures scheinen sich einige Zweifelsgründe 15 gegenüber religiösen Überzeugungen aufzudrängen. 3.1. So sticht sofort ins Auge, dass nicht die geringste Rücksicht darauf genommen wird, wer die religiösen Erfahrungen gemacht haben soll, deren Berichte die Gifford-Lectures in überwältigender Anzahl versammeln. Literarisch ausgefeilte Reflexionen von namhaften Theologen und Dichtern finden sich neben wahnhaften Schilderungen von Fieberträumen, Drogentrips und Psychosen. Hatte James Zweifel an der Glaubwürdigkeit von religiösen Lehren, weil viele Religionsstifter »Exzentriker« 16 waren? Das Gegenteil ist der Fall. Wie schon gesagt, entstehen religiöse Erfahrungen nach James aus Verlagerungsprozessen im Unterbewusstsein. In Drogen, Meditationspraktiken oder psychischen Krankheiten sieht er mögliche Mittel, um die ›Tore‹ des Unterbewusstseins zur religiösen Erfahrung ›aufzustoßen‹. Deshalb heißt es, dass Religionsstifter »Menschen mit gewöhnlich riesigen Feldern der geistigen Vision« seien, während es »bei gewöhnlichen Leuten« nie »zu einer solchen großartigen, umfassenden Schau einer Sache« 17 käme. Und deshalb wird betont, dass der »letzte Prüfstein für den Wahrheitsgehalt einer Anschauung« einzig »die Art und Weise« sein solle, »wie sie sich auf das Ganze auswirkt«, und nicht ihre gegebenenfalls pathologische »Herkunft« 18. 3.2. Einen religiösen Menschen könnte es irritieren, wenn sich das, was religiöse Menschen als »Wunder« erleben, nach James als Unter ›Ethik‹ verstehe ich im Sinne der Nikomachischen Ethik des Aristoteles die Wissenschaft vom gelungenen Leben. Vgl. zu diesem Begriffsgebrauch Williams 1985, 1 ff., Tugendhat 1984, 43 ff. sowie Habermas 1991, 100–118. 15 Es heißt bei Hans Joas: »It was one of James’ major ambitions to defend the sphere of personal religious belief against the pressure of a modern scientist world view«. Joas 1999b, 217. Joas stellt hier das religionsphilosophische Anliegen von William James dem Anliegen von E. Durkheim gegenüber, die Religion wissenschaftlich verstehen zu wollen. 16 James 1901, 41. 17 James 1901, 248 f. 18 James 1901, 53. 14
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abrupte »Verlagerung des persönlichen Energiezentrums« durch das »Aufleuchten neuer Gefühlsspitzen« und damit hinreichend als »natürlicher Vorgang« 19 erklären lassen soll. Die Überflüssigkeit von transzendenten Instanzen soll damit jedoch auf keinen Fall behauptet werden! James hält es vielmehr für denkbar, dass »höhere Mächte« durch die Randzonen bzw. »Türen« unseres Bewusstseins »Zutritt zu uns erlangen« und auf uns »einwirken« 20. Zwar wird sich der religiöse Leser mit dieser ›Hintertürchentheorie‹ schwer anfreunden können: Wer Gott für allmächtig hält, wird nicht glauben wollen, dass dieser quasi den ›Dienstboteneingang‹ benutzen muss, um sich zu offenbaren. 21 James hatte dieses Erhabenheits-Problem jedoch nicht, und seiner Theorie ist vom Standpunkt der Religionen ja immerhin zugute zu halten, dass sie erklären könnte, wie die transzendente(n) Instanz(en) gegebenenfalls zu uns Kontakt aufnehmen kann (bzw. können), falls es sie tatsächlich geben sollte. 3.3. Genau hier liegt für James allerdings der Hund begraben: Obgleich er gern an transzendente Instanzen glauben wollte, mit denen wir durch unser Unterbewusstsein verbunden sind, so war es ihm (wie er in den späten Hibbert-Lectures von 1909 ausführlich darlegt) jahrelang aus philosophisch-logischen Gründen nicht möglich, tatsächlich an solche Instanzen zu glauben. Die Eltern 22 von William James waren Transzendentalisten. Deshalb ist er mit der optimistischen religiösen Überzeugung aufgewachsen, dass alles in der allgütigen und lebendigen Allseele geborgen ist, so dass es kein endgültiges Sterben und kein sinnloses Leiden gibt. 23 Bald aber wachsen Zweifel, und James schließt sich dem Metaphysical Club um Charles S. Peirce
James 1901, 248, 245. James 1901, 259. 21 Vgl. dazu Raters 2009. 22 Vgl. dazu Herms 1991 sowie (zur Mutter) das autobiographische Zeugnis in James 1901, 183 f. 23 Namhafte Transzendentalisten waren neben Ralph Waldo Emerson (1803–1882) als dem wichtigsten Theoretiker der Pädagoge Amos Bronson Alcott (1799–1868); der Schriftsteller und Unitarierprediger George Ripley (1802–1880), die Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Margret Sarah Fuller (1810–1850) sowie der Schriftsteller Henry David Thoreau (1817–1862). Zum Einfluss der Transzendentalistenbewegung vgl. Packer 1988, 364. Buell 1988, 369 diskutiert, ob es sich beim Transzendentalismus um eine spezifisch amerikanische Philosophie handelt. Nach Rogers 1923, 213 f. waren Sklavenbefreiung und Frauenemanzipation besondere Anliegen. Vgl. zum transzendentalistischen Weltbild Raters 2005, Abschnitt 2.5. 19 20
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an, in dem die Beweise der Transzendentalisten als »Scheinbeweise« 24 entlarvt werden sollen. In den Hibbert-Lectures äußert sich James rückblickend zu seinen religiösen Zweifeln. Die idealistische Identitätslogik seiner Zeit scheint die Annahme zu erzwingen, dass jeder individuelle Bewusstseinszustand letztlich in einem einzigen absoluten bzw. göttlichen Bewusstsein aufgehoben ist. 25 An eine einzige absolute Instanz kann James jedoch nicht glauben. Zum einen scheinen ihm der Transzendentalismus 26 genauso wie das Christentum 27 und der philosophische Vernunftmonismus 28 (das waren die vorranVgl. dazu Walther 1985 21 sowie Oehler 1993, 18. Der Grundgedanke dieser Logik lautet, dass alles Individuelle durch Abgrenzung (bzw. Negation) mit seinem jeweils Anderen bzw. Entgegengesetzten auf einer höheren Ebene eine Einheit bildet, die etwas anderes darstellt als die bloße Summe ihrer Teile. Weil das auch für die menschlichen Bewusstseinszustände gilt, scheint es letztlich ein einziges absolutes Bewusstsein geben zu müssen, das mehr ist als die Summe aller Teilbewusstseinszustände. James 1909, 119. 26 (i) Der frühe James schreibt, dass die transzendentalistische »Naturreligion« so »primitiv« sei, dass sie »aus der Sicht eines Kreises von Leuten Schiffbruch« erleiden musste, zu denen er sich »selbst zähle und der mit jedem Tag größer« würde. James 1895, 55. An anderer Stelle argumentiert James zwar zunächst (gegen die Einwände der Überbevölkerung des Jenseits sowie der Abhängigkeit mentaler Tätigkeiten vom Gehirnorgan) für die Unsterblichkeit des Bewusstseins mit dem Argument, dass das individuelle Bewusstsein nach dem Tod in einem »vorausliegenden größeren Bewusstsein« aufgehoben werden könne. James 1896b, 151; vgl. Emerson 1841. In einem späteren Vorwort betont James jedoch, dass er »alles andere als ein monistischer Pantheist« sei. James 1896b, 151; vgl. auch Letter to E. Puffer Howes. 14. März 1900. In: William James 2001, 159 f. (ii) Die Gifford-Lectures lehnen den Religionsbegriff zwar zunächst ausdrücklich an den »modernen transzendentalen Idealismus« an. James 1901, 64. Dann aber werden Theodore Parker und Ralph Waldo Emerson als Beispiele für die intellektuell schlichten ›Einmalgeborenen‹ angeführt. James 1901, 112 ff., 187. (iii) Der späte James geht ebenfalls deutlich auf Distanz zum Transzendentalismus. James 1909, 21. 27 Einige Einwände des späten James gegen das Christentum seien pars pro toto aufgelistet. (i) Zwar könne die christliche Lehre von der individuell geschaffenen Seele die Individualität der Erfahrungen erklären. Allerdings sei ›Seele‹ nur ein Wort, das nichts erkläre. James 1909, 133. (ii) Unglaubwürdig sei zudem, dass die Menschen den göttlichen Moralgesetzen »mechanisch« gehorchen sollen, »so seltsam sie auch sein mögen«. Mit unverkennbar polemischer Absicht schreibt James, dass »die Ideen des Kriminalrechts eine große Rolle« bei der christlichen »Bestimmung unserer Beziehungen« zum Göttlichen gespielt zu haben scheinen. A. a. O. 15. (iii) Auch die ›stellvertretende Erlösung‹ (engl. vicarious salvation) durch den Kreuzestod des Jesus von Nazareth erschien James unglaubwürdig. Letter to H. W. Rankin. 16. Juni 1901. In: William James 2001, 515. 28 Dem späten James zufolge beruht der philosophische Monismus auf ›leeren Abstraktionen‹, die der lebendigen Erfahrung keine Bedeutung beimessen, dass wir Men24 25
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gigen monistischen Weltanschauungen seiner Zeit) das Kriterium der ›philosophischen Verständlichkeit‹ nicht zu erfüllen. Zum anderen war er als Psychologe überzeugt, dass religiöse Erfahrungen wie alle menschliche Erfahrungen individuelle Erfahrungen sind, so dass es verschiedene individuelle transzendente Instanzen sein müssen, die sich in der religiösen Erfahrung durch unser Unterbewusstsein manifestieren. Damit legt die lebendige Erfahrung für James einen Pluralismus transzendenter Instanzen nahe, während die Logik einen religiösen Monismus zu erzwingen scheint, an den James nicht glauben kann. Und wie er ausdrücklich bekennt, meinte er wegen dieses identitätslogischen Problems lange, nicht glauben zu dürfen, dass »ein höheres Bewusstsein existiert als das unsrige« 29. 3.4. Entscheidend ist, dass für James (wie sein Bekenntnis zeigt) aus dem identitätslogischen Problem unmittelbar das Problem des fundamentum in re folgt. Religiöse Menschen glauben, dass in den »dramatischen Momenten« der religiösen Erfahrung »der Geist Gottes« auf eine »besonders wunderbare Weise« bei ihnen ist und dass ihnen »eine vollkommen neue Natur« eingehaucht wird, wodurch sie »Teilhaber am Wesen Gottes« 30 werden. Ihr religiöses Glück basiert damit auf dem Vertrauen in die Existenz einer (oder mehrerer) transzendenten Instanz(en) als Ursprung und Garant des religiösen Glücks. Laut James gibt es jedoch massive Gründe, an der Existenz von transzendenten Instanzen zweifeln zu müssen, denn wenn sich transzendente Instanzen nicht konsistent denken lassen, scheint ihre Existenz unmöglich zu sein. Für James entstehen religiöse Erfahrungen durch Verschiebungsprozesse im Unterbewusstsein. Wenn es nun die transzendenten Instanzen nicht geben kann, denen der religiöse Mensch in der religiösen Erfahrung zu begegnen meint, scheint die Schlussfolgerung der altehrwürdigen Projektionstheorie unvermeidbar zu sein, dass die religiöse Erfahrung lediglich Projektion unserer unbewussten Wünsche und Ängste ist. Wenn es aus identitätsschen uns als individuelle geistige Instanzen erleben. James 1909, (22–82) 63. An die absolute Vernunft des rationalistischen monistischen Idealismus kann er nicht glauben, weil er es für »unmöglich« hält, »die Besonderheiten unserer« individuellen »Erfahrung damit zu vereinen, dass wir nur vorgestellte Objekte des absoluten Geistes« sein sollen. A. a. O. 122. Fichtes ›transzendentales Ich‹ bezeichnet er als eine »Art zeitloser Seifenblase«, die uninteressant sei gegenüber der »verwirrende(n) Fülle der Erfahrung, in der wir unser Leben zubringen«. A. a. O. 85. 29 James 1909, 82. 30 James 1901, 244.
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logischen Gründen keine transzendenten Instanzen geben kann, kann schließlich auch nichts bzw. niemand durch das Hintertürchen unseres Unterbewusstseins mit uns in Kontakt treten. Das Unterbewusstsein müsste im Sinne der Psychologie des frühen Freud von einem Ort mit offenen Türen für transzendente Instanzen zum Ort unserer verdrängten Wünsche, Fantasien und Ängste profanisiert werden. Weil von unseren eigenen Wünschen, Fantasien und Ängsten nun aber keine religiöse Hoffnung ausgehen kann, stünde man mit der Projektionstheorie vor dem Problem des fundamentum in re, dem zufolge religiöse Überzeugungen nur ›leicht und glücklich‹ machen können, wenn man glauben kann, dass sie ein fundamentum in re haben. Anders ausgedrückt: Wenn man sich wie James zu dem Schluss gezwungen sieht, dass es keine transzendenten Instanzen geben kann, weil sich die Existenz solcher Instanzen nicht konsistent denken lässt, kann man auf die Hilfe solcher Instanzen nicht mehr vertrauen, weil sie nicht existieren können, womit dem religiösen Glück der Boden entzogen wäre, das aus dem Glauben an transzendente Instanzen erwachsen könnte. Es gibt viele mögliche Zweifelsgründe, die religiösem Glück entgegenstehen können. William James hat sich mit philosophischen Zweifeln geplagt.
4.
Die Leichtgläubigkeit der Einmalgeborenen
Es gibt nach James nun durchaus Menschen, die sich in ihren religiösen Überzeugungen niemals von Zweifeln haben anfechten lassen. Diese Menschen werden in den Gifford-Lectures ›Einmalgeborene‹ genannt. James macht keinen Hehl daraus, dass Einmalgeborene in gewissem Sinne zu beneiden sind, weil sie über eine ›einfache Form des religiösen Glücks‹ verfügen, welches durch das »kosmische Gefühl« charakterisiert sei, in »der Gemeinschaft des Göttlichen« 31 geborgen zu sein. 4.1. In dem frühen Essay The Will to Believe von 1896 hatte James eine von Zweifeln unangefochtene Religiosität allerdings als religiöse »Leichtgläubigkeit« 32 bezeichnet, um die Frage in den Raum zu stellen, ob ein selbstverständliches Vertrauen in (eine oder mehre31 James 1901, 111–120. Schon in James 1895, 47 f. werden die schlicht Gläubigen von den intellektuellen Zweiflern unterschieden. 32 James 1896a, 136.
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re) göttliche Instanzen nicht bodenlos naiv ist, weil sich die Existenz und Güte solcher Instanzen nicht beweisen lässt. 33 Der Essay zeigt dann, dass es rational im Sinne von ›lebensklug‹ sein kann, auch ohne Beweise an einer religiösen Überzeugung festzuhalten, da man als religiöser Mensch glücklich werden könne, während man lediglich riskiere, sich geirrt zu haben, falls es keine transzendenten Instanzen gibt. Dem naheliegenden Einwand, dass man sich durch Nutzenkalküle nicht zum Glauben überreden könne, hält James entgegen, dass das Nutzenkalkül von Pascals Wette beispielsweise sowieso nur den beeindrucken könne, der sowieso »eine Tendenz« hat, an »Messen und Weihwasser zu glauben« 34. 4.2. Ein Glauben ohne Gewissheit steht nun aber offensichtlich auf einem anderen Blatt als ein Glauben gegen massive Zweifel: Während das Erste lebensklug sein kann, wäre das Zweite ausgesprochen dumm. In dem Essay Is the Life Worth Living? von 1895 ist von Bergsteigern die Rede, die sich durch einen waghalsigen Sprung nur retten können »wenn sie die Zuversicht haben, dass dieser Sprung gelingen kann«, weil nur dann »auch in ihren Beinen die nötige Kraft« wachsen könne. Wenn sie sich »den Sprung aber nicht zutrauen und an die wissenschaftlichen Gründe denken, die der ›bloßen Möglichkeit‹ eines glücklichen Ausgangs im Wege stehen«, werden sie nach James »solange zögern, bis sie sich schließlich nervös und zitternd in einem Augenblick höchster Verzweiflung abstoßen und in die Tiefe stürzen« 35. Das Beispiel spiegelt eine Erfahrung wieder, die der Volksmund mit dem Sprichwort ›der Glaube versetzt Berge‹ umschreibt. Tatsächlich scheint man manchmal (wie Joas schön formuliert) »den ungesicherten Sprung« wagen zu müssen, wenn man sich nicht »von vorneherein von bestimmten Erfahrungen« abschneiden will, indem man »der Skepsis« und »der Furcht den Vorzug vor der Hoffnung« 36 gibt. Das gilt allerdings nur, wenn sich keine massiven Zweifel aufdrängen. Falls der rettende Felsvorsprung drei Meter entfernt sein sollte, wäre es offensichtlich klüger, nicht zu springen, weil niemand drei Meter weit springen kann. Vergleichbar wäre es Vgl. zu diesem Problem nicht nur James 1896a, sondern auch schon James 1895, 56 f. 34 James 1896a, 132. Taylor 1999, 47 führt dieses Beispiel auf James’ Antikatholizismus zurück. 35 James 1895, 60. Vgl. dazu auch die Analogie zwischen Liebe und Glaube in James 1896a, 150 f. 36 Joas 1999a, 24. Vgl. mit ähnlicher Stoßrichtung auch Taylor 1999, 41–48. 33
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dem pragmatistischen Fallibilismusvorbehalt zufolge irrational, an einer Überzeugung (gleich, ob es sich um eine religiöse Überzeugung handelt oder nicht) festzuhalten, wenn sich echte Zweifel aufdrängen. 37 Dazu heißt es in den Gifford-Lectures, dass der »Wille zum Glauben« nicht »überspannt« werden dürfe: Man könne zwar »Vertrauen entwickeln gegenüber einer Überzeugung«, die man »in Ansätzen« sowieso schon hat, aber man könne ausdrücklich »keine Überzeugung aus dem Boden stampfen«, wenn die »Wahrnehmung« das »genaue Gegenteil versichert« 38. Muss die Suche nach dem religiösen Glück deshalb als aussichtslos gelten, sobald jemand vom Keim des Zweifels befallen ist? Das ist die zentrale Frage der Gifford-Lectures.
5.
Eine zweite Geburt durch Evidenz
Schon 1895 hatte James einen Pessimismus, dem weder eine »Geisteskrankheit« noch ein »psychotischer Schub« zugrunde liegt, als »religiöse Krankheit« bezeichnet, die »durch übermäßiges Studieren« und »zu intensives Fragen gepaart mit wenig praktischer Verantwortungsübernahme« entsteht und an »den Rand des Abgrunds« führen kann, in dem »Pessimismus, Albträume und die Haltung des Selbstmörders lauern« 39. In den Gifford-Lectures äußert er sich ausführlicher zur ›religiösen Krankheit‹: Ein erstes Stadium sei von einem »Gefühl des Versagens« geprägt; ein schlimmeres Stadium von »Melancholie als Unfähigkeit, Freude zu empfinden« gekennzeichnet; und die »schlimmste Art der Melancholie« sei »jene, die die Gestalt panischer Angst annimmt« 40. Als Beispiele werden Paulus und insbesondere Augustinus ins Feld geführt, der nach James lange »zerrissen« vom »Kampf der beiden Seelen in seiner Brust« gewesen sei und Dasselbe lässt sich auch im Bereich der Liebe sagen. Nach James werden viele »Mädchenherzen allein dadurch besiegt«, dass »ein Mann mit Leidenschaft darauf besteht, dass sie ihn lieben müssen«, weil es ihm gar nicht erst in den Sinn kommt, »dass sie es nicht können«. James 1896a, 151. Dagegen drängt sich der Einwand des Stalkers auf, der gegen massive Zweifelsgründe an der Überzeugung festhält, dass eine bewunderte oder geliebte Person seine Aufmerksamkeit schätzt, was offensichtlich nicht klug ist. 38 James 1901, 229. Vgl. dazu auch James 1895, 58. 39 James 1895, 47 f. 40 James 1901, 152–183. 37
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in »tiefster Beschämung über seine Willensschwäche« 41 leben musste. Diejenigen, die von der ›religiösen Krankheit‹ des Zweifelns geheilt werden, bezeichnen die Gifford-Lectures als ›Zweimalgeborene‹. Dabei wird die ›zweite Geburt‹ als »Prozess« beschrieben, im Zuge dessen »ein bisher gespaltenes und sich schlecht und unglücklich fühlendes Selbst seine Ganzheit erlangt und sich jetzt, stärker gestützt auf religiöse Wirklichkeit, gut, überlegen und glücklich fühlt«. Dabei unterscheidet James zwei Typen von zweiter Geburt, nämlich einen »schrittweisen«, »willentlichen« und »bewussten« Prozess gegenüber dem »plötzlichen«, »unwillkürlichen« und »unbewussten« Prozess »der Selbstaufgabe« 42. Die plötzliche Spontanheilung ist der sicherere und leichtere Heilungsweg, weil sie durch ein intensives positives religiöses Evidenzerlebnis bewirkt wird, das alle Zweifel verblassen lässt. Ein Beispiel ist die Bekehrung des Saulus zum Paulus vor Damaskus; James zitiert aber auch John Forsters Essay on Decision of Character zu einer »plötzlichen Bekehrung« vom »Geiz« 43. 5.1. Für Hans Joas ist die religiöse Evidenzerfahrung der Weg, den James in den Gifford-Lectures gegen die ›religiöse Krankheit‹ des Zweifelns stark macht: Während der Essay The Will to Believe noch »gegen die Zwänge des Szientismus« versucht habe, »wenigstens die Möglichkeit des Glaubens offenzuhalten«, sei James mit den GiffordLectures in »die Offensive« gegangen, indem er mit einer überwältigenden Vielzahl von autobiographischen Berichten über religiöse Erfahrungen die These verteidigt habe, dass religiöse Erfahrungen eine derart »intensive Autorität ausstrahlen« 44, dass alle Zweifel an ihrem fundamentum in re verblassen müssen. Nun war James zweifellos tatsächlich fasziniert von der Wucht, mit der religiöse Evidenzerfahrungen Zweifel in Luft auflösen können. Schon 1896 heißt es, »dass es Wahrheit gibt«, von der wir »fühlen«, dass wir ihrer »sicher« sind, weil wir merken: »In unserm Innern schnappt etwas ein« 45. Und die unzähligen Zeugnisse in den Gifford-Lectures haben zweifellos den gemeinsamen Nenner, dass Menschen nach einer Evidenzerfahrung James 1901, 192 f. James 1901, 209, 224. Zugleich betont James, dass »die Religion« nur »einer von vielen Wegen« sei, die »zur inneren Einheit führen«, weil der Prozess der Verganzheitlichung ein »allgemeiner psychologischer Prozess« sei, der »mit jeder Art geistigen Materials stattfinden« könne. A. a. O. 209. 43 James 1901, 199 f. 44 Joas 1999a, 71, 81. 45 James 1896a, 141. 41 42
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fortan ohne den Hauch eines Zweifels darauf vertrauen können, dass in den »dramatischen Momenten« der religiösen Erfahrung der »Geist Gottes« tatsächlich auf eine »besonders wunderbare Weise« 46 bei ihnen ist. 5.2. Allerdings gibt es nach James nicht nur heilende optimistische, sondern auch krankmachende pessimistische Evidenzerfahrungen 47, wobei sich aus der Natur der Erfahrungen selbst kein Grund ableiten lässt, warum man der optimistischen Erfahrung vertrauen sollte und der pessimistischen Erfahrung nicht, da beide Erfahrungen intensive Evidenzerlebnisse sind. Sollte ein Monist beispielsweise beide Arten von Erfahrungen gehabt haben, könnte er schließen, dass er ein- und derselben Instanz mit zwei Gesichtern begegnet ist. Die entscheidende Frage nach dem eigentlichen Gesicht könnte er jedoch nicht beantworten. Ein Pluralist würde sagen, dass er es mit zwei verschiedenen Instanzen zu tun hatte, wobei er wiederum aus der Natur der Erfahrungen heraus nicht entscheiden könnte, welche Instanz die mächtigere ist. Vielleicht sollte man im Zweifelsfall dem optimistischen Evidenzerleben Glauben schenken, weil es optimistisch ist? Das legt Hans Joas nahe, wenn er schreibt, dass James in seinen Gifford-Lectures über The Will to Believe auch insofern hinausgegangen sei, dass er hier konsequent die »pragmatistische Maxime« zur Anwendung gebracht habe, der zufolge »wir den Glauben ebenso wie Sätze der Naturwissenschaft nicht nach ihrem Ursprung, sondern nach ihren Folgen beurteilen sollen« 48. Als Beleg verweist Joas auf die Passage, der zufolge »der letzte Prüfstein für den Wahrheitsgehalt einer Anschauung« nicht »ihre Herkunft« sein solle, sondern »die Art und Weise, wie sie sich auf das Ganze auswirkt« 49. So elegant dieser ›pragmatistische Ausweg‹ zu sein scheint, so wäre es doch eine grobe Reduzierung der pragmatistischen Wahrheitstheorie, wenn man den ›Nutzen‹ einer Überzeugung schlicht damit gleichsetzen würde, dass die Überzeugung ›leicht und glücklich‹ macht. 50 Tatsächlich sollte man mit Dewey besser von einem grundsätzlichen In-die-Welt-Passen (engl. fit in) einer Hypothese sprechen: Mit dem ›Nutzen‹ einer HyJames 1901, 244. Wie in Abschnitt 7.1. gezeigt wird, hat der autobiographische Erfahrungsbericht in James 1901, 183 f. alle Merkmale einer pessimistischen Evidenzerfahrung. 48 Joas 1999a, 75. 49 James 1901, 53. Vgl. auch a. a. O. 44, 336–339, 450 sowie James 1907, 192. 50 Vgl. zur Abgrenzung der oft missverstandenen Wahrheitstheorie von William James von anderen pragmatistischen Wahrheitstheorien Raters 2011. 46 47
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pothese, aus dem man dem Pragmatismus zufolge auf ihre ›Wahrheit‹ schließen kann, ist nämlich gemeint, dass die Hypothese zu erfolgreichem Handeln führt, weil sie den Gegebenheiten der Wirklichkeit entspricht. Dieser Unterschied ist wichtig, weil eine Erkrankung der Seele nach James ausdrücklich ebenfalls zu Annahmen führen kann, die in die Wirklichkeit passen. Tatsächlich heißt es bei James sogar, dass »die kränkliche Geisteshaltung« zumindest gegenüber dem intellektuell schlichten 51 Optimismus der Einmalgeborenen »über eine größere Erfahrungsbreite und einen größeren Überblick« verfüge, weil »die Tatsachen des Bösen« nun einmal »ein echter Bestandteil der Wirklichkeit« 52 seien. Optimistische Überzeugungen sind nach James also nicht allein schon deshalb ›wahrer‹, weil es sich um optimistische Überzeugungen handelt; das kann mit dem Kriterium der ›Auswirkung auf das Ganze‹ nicht gemeint sein. Das wiederum bedeutet, dass der ›glückliche Nutzen‹ der religiösen Erfahrung nach James kein Grund sein kann, dem (nach James per definitionem optimistischen) religiösen Evidenzerleben mehr Glauben zu schenken als dem entgegengesetzten pessimistischen Evidenzerleben. 5.3. Darauf könnte James vielleicht erwidert haben, dass sich das Problem der entgegengesetzten Evidenzerfahrungen nicht stelle, weil die religiöse Evidenzerfahrung per se in einem graduellen Sinne stärker als die pessimistische Evidenzerfahrung sei. Dafür spricht die Beschreibung einer Spontanheilung in den Gifford-Lectures, der zufolge ein dem Pessimismus »entgegengesetzter Affekt« mit derart »überwältigender Macht« über die kranke Seele »hereinbricht« 53, dass sie gar nicht anders könne, als ›leicht und glücklich‹ zu werden. Ich sehe zwar keinen Grund, warum die pessimistische Evidenzerfahrung prinzipiell nicht denselben absoluten Evidenzcharakter wie die optimistische Evidenzerfahrung haben soll. Dennoch möchte ich das Problem der entgegengesetzten Evidenzen auf sich beruhen lassen. 5.4. Das eigentliche Problem der ›Evidenz-Strategie‹ gegen den religiösen Zweifel liegt nämlich darin, dass (wie Joas mit James betont) Evidenzerfahrungen nur »für das Individuum« selbst ein Hinweis auf »Wahrheit« sein können, aber »ansonsten für niemanden« 54.
James 1901, 112 ff., 187. James 1901, 186. 53 James 1901, 229. 54 Joas 1999a, 81. Verweis auf James 1901, 404. Vgl. mit derselben Stoßrichtung auch James 1896a, 141 f. 51 52
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Tatsächlich sind Evidenzerfahrungen so etwas wie ein Geschenk, das nicht jedem vergönnt wird und das man nicht erzwingen kann. James kann in den Gifford-Lectures noch so viele faszinierende Zeugnisse von religiösem Evidenzerleben versammeln: Wer selbst keine religiöse Evidenzerfahrung gemacht hat, den werden diese Dokumente nicht von seinen Zweifeln befreien können. Damit hat die EvidenzStrategie zur ›Heilung‹ von der ›religiösen Krankheit‹ eine deutliche Grenze.
6.
Eine zweite Geburt durch willentliche intellektuelle Anstrengung
Es gibt aber noch die Möglichkeit einer zweiten Geburt als »willentliches, systematisch herbeigeführtes geistiges Gesundsein« durch eigene intellektuelle Anstrengung. Als Beispiel führt James unter anderem den »schrittweisen Weg« 55 von Tolstojs Befreiung von seiner Melancholie an. 6.1. Der Vorteil dieser Strategie besteht darin, dass sie grundsätzlich jedem offen steht: Man muss nicht auf das ›Geschenk‹ einer Evidenzerfahrung warten, sondern man kann sich irgendwann entschließen, den Prozess der ›intellektuellen Heilung‹ von der religiösen Krankheit zu beginnen. Allerdings fordert ein solcher Entschluss eine große psychische Kraft und eine hellsichtige Distanz gegenüber sich selbst. Nach James müssen am Anfang nämlich die Einsichten stehen, dass »die Haltung des Unglücklichseins« »schmerzhaft«, »gemein«, und »eklig« ist, und dass »Selbstvorwürfe, Selbstmitleid und Gram« 56 unwürdige Selbsterniedrigungen darstellen. Das wirft ein erstes Problem auf: Man muss sich bewusst machen, dass ein Verabscheuen des eigenen Selbst verabscheuungswürdig ist, um in einen Prozess eintreten zu können, der das Resultat haben soll, dass man sich nicht mehr verabscheut. Kann man sich aber tatsächlich mögen, weil man eingesehen hat, dass es erbärmlich wäre, sich nicht zu mögen? Man kann ja auch nicht beschließen, spontan zu sein. 6.2. Nun gibt James aber durchaus eine klare Strategie vor, wenn er den Zweimalgeborenen des willentlichen Typs als jemanden charakterisiert, der sich »Stück für Stück« ein »neues System mora55 56
James 1901, 203–206. James 1901, 121.
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lischer und spiritueller Gewohnheiten« 57 errichtet hat. Das konfrontiert jedoch mit der Schwierigkeit, dass das neu konstruierte optimistische Weltbild nach James die Kriterien »unmittelbares Einleuchten, philosophische Verständlichkeit und moralische Nützlichkeit« 58 erfüllen muss. (i) Das Kriterium der ›moralischen Nützlichkeit‹ mag einfach zu erfüllen sein, weil es ja um ein optimistisches Weltbild gehen soll. (ii) Das Kriterium des ›unmittelbaren Einleuchtens‹ scheint mir schon problematischer zu sein. »Der systematisch vorgehende gesunde Geist«, der »das Gutsein als den wesentlichen und universalen Aspekt des Seins« begreifen will, muss einen Weg finden, das Böse (das James ja nicht ableugnet) willentlich »aus seinem Gesichtskreis« 59 auszuschließen. Einem geborenen Optimisten mag das leicht fallen, aber der religiös Erkrankte soll ja ein Pessimist sein. (iii) Für regelrecht aussichtslos halte ich das Unterfangen, ein ›philosophisch verständliches‹ Weltbild konstruieren zu wollen. Ein ›philosophisch verständliches Weltbild‹ darf keine Annahmen über die Wirklichkeit machen, die sich widersprechen oder denkunmöglich sind. Wie schon das XII. Buch der Metaphysik des Aristoteles gezeigt hat, stößt der menschliche Geist aber zwangsläufig auf Aporien, sobald er sich über religiöse Fragen wie nach dem Anfang des Kosmos oder der Existenz Gottes Gedanken macht. Wenn alles eine Ursache hat – welche Ursache hat dann Gott? Wenn der Kosmos eine Grenze hat – was liegt dann jenseits des Kosmos’? Die genuin religiösen Fragen überschreiten nun einmal die Kapazitäten des menschlichen Geistes. 6.3. Philosophische Unverständlichkeit ist vor allem deshalb ein massives Hindernis auf dem Weg zur zweiten religiösen Geburt, weil sich der Suchende nach James irgendwann in das Weltbild »fallen« lassen muss, sei es aus freien Stücken oder weil er »vom Kampf so erschöpft« ist, dass er »einhalten« 60 muss. Wie aber soll man sich (insbesondere als dem Fallibilismusvorbehalt verpflichteter Pragmatist) in ein Weltbild fallen lassen, welches das Kriterium der philosophischen Verständlichkeit nicht erfüllt? Tatsächlich dürfte das ›Fallenlassen‹ die größte Hürde auf dem sowieso schon steinigen Weg zur zweiten religiösen Geburt durch intellektuelle Anstrengung sein. 57 58 59 60
James 1901, 224. James 1901, 51. James 1901, 119. James 1901, 229. Vgl. dazu auch Taylor1999, 226.
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7.
Der späte William James als Zweimalgeborener durch intellektuelle Anstrengung
Dennoch hat sich der späte William James allem Anschein nach selbst auf diesen Weg zu einer zweiten religiösen Geburt gemacht. 61 Wie im dritten Abschnitt skizziert, legt die lebendige Erfahrung für James einen Pluralismus transzendenter Instanzen nahe, während die philosophische Logik einen religiösen Monismus zu erzwingen scheint, an den James nicht glauben kann. Deshalb meint er lange, nicht glauben zu dürfen, dass »ein höheres Bewusstsein existiert als das unsrige«. »Jahrelang« habe er »hunderte von Seiten mit Notizen und Bemerkungen« gefüllt, um das »Problem« zu lösen, wie »viele Bewusstseinsprozesse« aller Individualität und Verschiedenheit zum Trotz »gleichzeitig ein einziges Bewusstsein sein« können, zu dessen Annahme er sich durch sein »logisches Gewissen« ja gezwungen gesehen hatte. Zwischenzeitlich habe es ihn sogar mit »Zorn und Neid« 62 erfüllt, dass Hegelianer so fest an ihr seltsam abstraktes Absolutes glauben können. Um 1867 herum muss James von religiösen Zweifeln so sehr gequält worden sein, dass er in eine tiefe Depression fällt, die bis etwa 1872 anhält. 63 7.1. Tatsächlich gibt es Anhaltspunkte dafür, dass die depressive Erkrankung in Zusammenhang mit einer pessimistischen Evidenzerfahrung der Art stand, von der im Abschnitt 5.1. die Rede war. Dafür spricht der sogenannte ›Erfahrungsbericht des Franzosen‹ in den Gifford-Lectures, hinter dem die James-Forschung William James selbst vermutet. 64 Der Franzose berichtet, dass er während seiner Tätigkeit als klinischer Psychologe eines »Abends in der DämmeAuch für Taylor 1999, 53 sowie für Joas 1999a, 69 tragen die Gifford-Lectures autobiographische Züge. 62 James 1909, 82, 131 f., 125. 63 Der Zusammenhang zwischen James’ Depression und seinen Zweifeln wird hergestellt in Joas 1999a, 69. Nach Joas hat sich James nicht nur mit der »Frage nach der Möglichkeit des religiösen Glaubens« gequält, sondern auch mit dem Problem der Willensfreiheit in einem streng deterministischen naturwissenschaftlichen Weltbild. A. a. O. 65. 64 Nach Joas hat James den ›Erfahrungsbericht des Franzosen‹ als »Reminiszenz der Depression« mit aufgenommen, welche »für James’ Denkweg so entscheidend war und die als dunkler Hintergrund für seine inspirierten Beschreibungen der Heiterkeit der Gläubigen erhalten bleibt«, um zu einem »Gedankenexperiment« einzuladen, welches »die vitale Unmöglichkeit einer Abstraktion von den sinngebenden Wertgehalten in unserer Welterfahrung« durch den Aufweis demonstrieren soll, dass »wir 61
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rung in einen Ankleideraum« gegangen sei, »um einen dort befindlichen Gegenstand zu holen«. Dabei habe er sich in einem »Zustand von philosophischem Pessimismus und allgemeiner Niedergeschlagenheit« befunden, womit das Kriterium aus The Will to Believe erfüllt wäre, dass man die Tendenz zu einer Weltanschauung haben muss. 65 Dann habe ihn »plötzlich, ohne irgendeine Warnung, als käme sie direkt aus dem Dunkel« eine »entsetzliche Existenzangst« überfallen, womit auch das zweite Kriterium der Plötzlichkeit des Evidenzerlebens erfüllt gewesen zu sein scheint. Aus dieser Angst heraus muss es dann zu den für Evidenzerlebnisse typischen Verschiebungsprozessen im Unterbewusstsein gekommen sein: James lässt den ›Franzosen‹ berichten, dass »das Bild eines Epileptikers«, den er früher einmal »in der Anstalt gesehen hatte«, mit seiner »Angst« eine »Art Verbindung« eingegangen sei. Anschließend lässt James den Franzosen sagen, dass »das Universum« nach diesem Erlebnis »völlig verändert« gewesen sei: Er sei ein »dauernder Angsthaufen« geworden, der »jeden Morgen mit einer entsetzlichen Angst in der Magengrube« und »mit einem Gefühl von Unsicherheit« aufwachte. Nach Joas befreit die religiöse Erfahrung zu einem neuen, stärkeren Selbst 66. Auch der ›Franzose‹ hat sich in ein ›neues Selbst‹ verwandelt – das allerdings kränker und schwächer war als sein altes. Abschließend bekennt James als ›Franzose‹, dass das Erlebnis »wie eine Offenbarung« gewesen sei, so dass er »immer gewusst« habe, »dass diese Schwermut einen religiösen Sinn hat« 67. 7.2. Nachdem er die Wucht einer quasi-religiösen pessimistischen Evidenzerfahrung also vermutlich am eigenen Leibe erfahren hat, muss James gehofft haben, dass ein »entgegengesetzter Affekt« mit derart »überwältigender Macht« über seine kranke Seele »hereinbricht« 68, dass sie gar nicht anders kann, als ›leicht und glücklich‹ zu werden. Folgt man dem Biographen Perry, hat James entsprechend heilende »außergewöhnliche mentale Zustände« 69 jedoch nicht erlebt. Ein Drogenexperiment soll enttäuschend verlaufen sein. Der einzig in einer bloßen Welt der Tatsachen nicht handeln, nicht leben können«, weil eine solche Welt »für uns nicht einfach neutral, sondern tot« wäre. Joas 1999a, 82. 65 Vgl. Anm. 34. 66 Joas 1999a, 84. 67 James 1901, 183 f. 68 James 1901, 229. 69 Es heißt im englischen Wortlaut: »How far did James himself experience ›exceptional mental states‹?«. Perry: The Thought and Character of William James,.
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echte Kandidat für eine optimistische religiöse Erfahrung scheint ein Naturerlebnis im Juli 1898 gewesen zu sein, von dem James an seine Frau schreibt, dass es »die glücklichste allein verbrachte Nacht seiner Existenz« 70 gewesen sei. Allerdings scheint diese Erfahrung wenig nachhaltig und damit keine wirkliche religiöse Erfahrung gewesen zu sein, denn sonst hätte James nicht 1904 geschrieben, dass er alle »beneiden« würde, die anders als er selbst in einem »lebendigen Austausch mit einem Gott« stehen, weil das »enorm hilfreich« 71 wäre. 7.3. Wenn man nicht an eine Heilung durch Heirat glauben will 72, bleibt nur die Möglichkeit, dass sich James durch intellektuelle Anstrengung selbst geheilt hat. Ist es James irgendwann gelungen, eine Weltanschauung zu konstruieren, die seinen Kriterien »unmittelbares Einleuchten, philosophische Verständlichkeit und moralische Nützlichkeit« 73 entspricht? Die Gifford-Lectures kommen als Sammlung von Fremdzeugnissen religiösen Erlebens nicht infrage. 74 In Briefen kündigt James die »metaphysische Konstruktion« 75 eines Es heißt im englischen Wortlaut: »It was one of the happiest lonesome nights of my existence, and I understand now what a poet is.« Perry 1935, 364. Der vollständige Brief findet sich in The Letters of William James 1920, 76 f. 71 Es heißt im englischen Wortlaut: »My personal position is simple. I have no living sense of commerce with a God. I envy those who have, for I know the addition of such a sense would help me immensely.« Letter to James Henry Leuba. 18. April 1904. In: The Letters of William James 1920, 211. Bei Perry heißt es: »He did in fact have experiences of the type called mystical; adding that these experiences were infrequent, lacked the character of overwhelming authority with which they are commonly invested, and played only a minor role in his philosophy as a whole«. Perry 1935, 364. 72 Nach Diaz-Bone/Schubert 1996, 3 hat sich James’ »Gesundheitszustand« im Jahr 1878 durch die Heirat mit Alice Howe Gibbins »entschieden« verbessert. 73 James 1901, 51. 74 In Briefen bemängelt James den Eklektizismus der Gifford-Lectures. Es heißt: »In the nature of things it can have no special originality, but it’s pretty certain to be more popularly entertaining than most previous Gifford courses have been.« Letter to A. S. Pringle Pattison. 27. September 1900 aus Bad Nauheim in Deutschland. In: William James 2001, 323. Vgl. auch Letter to Frances Rollins Morse. 12. April 1900. A. a. O. 186. 75 Es heißt im englischen Wortlaut: »To you, my dear Seth, I may say that I trust to be able to write out this second course in which I am deeply interested and which will be my first and last effort of original metaphysical construction, and publish it as a book as rapidly as my health allows the work to be done. It will be called The Tasks of Religious Philosophy.« Letter to A. S. Pringle-Pattison. 27. September 1900. In: William James 2001, 323. Ein Jahr später heißt es: »The second, my own will and testament, setting forth the philosophy best adapted to normal religious needs.« Letter to S. W. Whitemann. 5. Oktober 1899. A. a. O. 105. Vgl. Auch Letter to S. W. Whitmann. 26. Dezember 1900. A. a. O. 397. 70
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eigenen Weltbildes unter dem Titel The Task of Religious Philosophy an. Es gibt kein Buch mit diesem Titel, aber in einem Brief von 1901 äußert James die Hoffnung, »nach der Veröffentlichung seiner Vorlesungen über die religiöse Erfahrung eine systematischere Abhandlung über seine Weltanschauung (deutsch im Original; M.-L. R.) auf einer radikal empiristischen und pluralistischen Basis schreiben zu können« 76. Damit geraten die Hibbert-Lectures A Pluralistic Universe von 1908/9 ins Visier. Weil der späte James hier wohl tatsächlich sein religiöses Bekenntnis 77 entfaltet, sei der Gedankengang (der Gefahr grober Verfälschung zum Trotz) kurz skizziert. (i) Nach Auseinandersetzungen mit diversen monistischen Philosophien seiner Zeit wendet sich James im vierten Kapitel der Weltanschauung des deutschen Naturphilosophen Gustav Theodor Fechner (1801–1887) zu, die ihn aus zwei Gründen interessiert. Zum einen sei Fechner im Alter von 38 Jahren an einer schweren Neurose erkrankt, von der er nach drei Jahren »wie durch ein göttliches Wunder« überraschend wieder genesen sei, was Fechner als »Lohn« für ein festes »Ausharren im Glauben« betrachtet habe. (Die Parallelen zu James’ depressiver Erkrankung sind offensichtlich.) Vor allem aber meint James, in Fechners Abhandlung Zend-Avesta von 1836 die Weltanschauung gefunden zu haben, an die er selbst glauben will. Dabei steht James’ Rekonstruktion zufolge im Zentrum die Überzeugung, dass das Universum ein Gefüge ist, in dem jeweils unendlich viele Geister niederer Ordnungen mit Geistern höherer Ordnung in Verbindung stehen. 78 (ii) Aber steht dieser Überzeugung, dass sich Bewusstseinsinstanzen in »freier Weise miteinander verbinden und sich ebenso trennen können« 79, nicht die idealistische Identitätslogik entgegen? Das disEs heißt im englischen Wortlaut: »After my lectures on religious experience are published, I hope to write a more systematic attempt at a Weltanschauung on a radical empiricist and pluralistic basis, seeking to destroy the monistic Absolute of any sort.« Letter to Carl Stumpf. 6. August 1901. In: William James 2001, 526. Vgl. auch folgende Äußerung: »Sie sehen also, dass der Pragmatismus religiös genannt werden kann, wenn Sie zugeben, dass die Religion pluralistisch und melioristisch sein darf.« James 1907, 93. 77 Taylor rückt die Religiosität des späten James allerdings in die Nähe des Christentums und des Buddhismus. Taylor 1999, 36. (i) Zu James’ Distanz zum Christentum vgl. jedoch Anm. 27. (ii) Die buddhistische Reinkarnationslehre passt m. E. nicht zu der Überzeugung, dass das individuelle menschliche Bewusstsein nach dem Tod in ein höheres individuelles Bewusstsein eingehen soll. Vgl. dazu schon James 1896b, 151. 78 James 1909, 83–122. 79 James 1909, 112. 76
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kutiert James ausführlich, bis er im 6. Kapitel auf Bergsons Idealismuskritik zu sprechen kommt. (iii) Dieses Kapitel ist die Gelenkstelle, weil sich James unter dem Einfluss Bergsons schließlich entschieden haben will, »die Logik aufzugeben, ehrlich, ohne Umschweife und unwiderruflich«. 80 Dadurch habe er sich zu der Einsicht durchgerungen, dass »es letzten Endes eine die Gesamtheit der Erfahrungen in sich vereinigende All-Form gar nicht zu geben braucht«, weil die Annahme eines distributiven Systems von ineinander verflochtenen Einzelwesen »ebenso logisch annehmbar und empirisch wahrscheinlich« 81 sei. (iv) Damit ist der Weg frei, dass sich James zu einem pluralistischen Weltbild bekennen kann, dem zufolge Bewusstseinseinheiten synchron und diachron ineinander übergehen und miteinander in Verbindung stehen können sollen, ohne dass es ein einziges absolutes Bewusstsein geben müsste. Nach vielen Jahren intellektueller Bemühungen erlaubt sich der späte James der Hibbert-Lectures also endlich, zu glauben, was er immer schon glauben wollte, nämlich »dass die Welt in der Zeit unvollendet existiert«, und dass sich »ihre Teile aneinandergereiht« als »Anhäufung einer unendlichen Anzahl von Einzelexistenzen« 82 darstellen, ohne dass die größte Zusammenfassung der Teile ein einziges absolutes Ganzes bilden würde.
8.
Nützlichkeit, Einleuchten und philosophische Verständlichkeit
Die Gifford-Lectures haben die Kriterien »unmittelbares Einleuchten, philosophische Verständlichkeit und moralische Nützlichkeit« 83 vorgegeben, welche die ›metaphysische Konstruktion‹ des Zweimalgeborenen durch intellektuelle Anstrengung erfüllen muss. Der euphorische Ton der Hibbert-Lectures kann nun nicht darüber hinwegtäuschen, dass (wie er übrigens selbst bekennt) der Pluralismus des
James 1909, 135. Weiter heißt es: »Hätte ich Bergson nicht gelesen, ich hätte wahrscheinlich immer noch zahllose Blätter für mich vollgeschrieben, in der Hoffnung, Dinge logisch zusammenzubringen, die niemals zusammengebracht werden können.« A. a. O.137. 81 James 1909, 17. 82 James 1909. 62. 83 James 1901, 51. 80
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späten James zumindest das letztgenannte Kriterium nicht wirklich erfüllt. 8.1. Zum Kriterium der ›moralischen Nützlichkeit‹ heißt es, dass es doch zu »fühlen« sei, dass es »gut« wäre, wenn der Pluralismus »wahr wäre«. Schließlich wäre der pluralistische Kosmos ein »Multiversum«, in dem alles »miteinander in vielen Weisen verknüpft« wäre und »jeder Teil« zumindest »in einer möglichen oder mittelbaren Verbindung mit jedem anderen noch so entfernten Teile« stünde. Das menschliche Bewusstsein wäre in einem mächtigeren Selbst geborgen, von dem es in alltäglicher Perspektive zwar nichts ahnen mag, das sich aber in »Augenblicken höchster Verzweiflung« als »Hilfsquelle in uns« offenbaren würde. Wir wären in »einer unsichtbaren Geisteswelt eingefügt«, aus der »Hilfe« 84 käme, wenn wir sie brauchen. Es ist hier nicht der Raum, James’ Pluralismus zu diskutieren 85, aber der religiöse Pessimist (der James selbst einmal war) könnte einwenden, dass sein ›mächtigeres Selbst‹ auch eine dämonische Instanz sein könnte, falls er denn an eine solche Instanz glauben kann. 8.2. Zur Lösung des Problems des ›unmittelbaren Einleuchtens‹ ohne eigenes Evidenzerleben zieht der späte James die religiösen Erfahrungen anderer als »direkte empirische Verifikation« von »Fechners Gedanken« 86 heran. Dieses Vorgehen kündigt sich in den Pragmatismus-Vorlesungen von 1907 schon an, wo es heißt, dass man aufgrund der »von der religiösen Erfahrung gelieferten Beweise glauben« dürfe, dass es »höhere Mächte gibt und dass sie am Werk sind, die Welt in derjenigen idealen Richtung zu erlösen, die unseren Idealen entspricht« 87. Nun können Evidenzerfahrungen allerdings nur »für das Individuum« selbst ein Hinweis auf »Wahrheit« sein, aber »ansonsten für niemanden« 88. Damit scheint der Rückgriff auf fremde Evidenzerfahrungen eher den Charakter einer Notlösung zu haben. James 1909, 213, 208–211, 196, 198. Vgl. dazu u. a. Lamberth 1999 sowie Krämer 2006. 86 James 1909, 198 f. Vgl. auch a. a. O. 194. Die Hibbert-Lectures heben hervor, dass »diejenigen, die solche Erfahrungen deutlich und oft genug gemacht haben, um in ihrem Licht zu leben«, fortan »völlig unberührt von jeder Kritik« blieben, »woher sie auch kommen mag«. Sie hätten »ihre Offenbarung gehabt« und »das genügt ihnen«, um zu wissen, »dass wir einer unsichtbaren Geisteswelt eingefügt sind, von der uns Hilfe kommt, indem unsere Seele in geheimnisvoller Weise eins ist mit einer weiteren Seele, deren Werkzeuge wir sind«. A. a. O. 198 f. 87 James 1907, 193. 88 James 1901, 404. Vgl. Abschnitt 4.3. 84 85
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8.3. Solche Probleme treten aber zurück vor der Tatsache, dass James sein Leitproblem der ›philosophischen Verständlichkeit‹ nie wirklich hat lösen können. Das räumt er ausdrücklich ein, wenn er bekennt, sich irgendwann entschieden zu haben, die identitätslogischen Probleme des Pluralismus zu ignorieren, weil er sich nicht mehr durch »furchtsame Erwägung davon abhalten« lassen wollte, an die Einbettung des Selbst in ein höheres Selbst zu glauben, da ihm dieser »Weg« für »die Religion« 89 am »verheißungsvollsten« erschien.
9.
Der steinige Weg der Intellektuellen zum religiösen Glück
Es ist nun kein spezielles Problem von James’ spätem Pluralismus, das Kriterium der ›philosophischen Verständlichkeit‹ nicht zur vollen intellektuellen Zufriedenheit zu erfüllen. Bekanntlich münden alle großen »metaphysische(n) Konstruktion(en)« 90 der Philosophiegeschichte seit Aristoteles irgendwann in Aporien, und wie die eingangs gestellten skeptischen Fragen zeigen, konfrontieren auch die gewachsenen Religionen mit philosophischen Problemen. Das aber bedeutet, dass die eingangs erwähnte Pragmatistin vermutlich nicht allzu lange im glücklichen Zustand der Einmalgeborenen verharren kann, falls sie in eine Religion hineingeboren sein sollte. Ihre religiösen Überzeugungen werden vielmehr irgendwann durch logisch-philosophische oder naturwissenschaftliche Zweifel angefochten werden, welche die Pragmatistin wegen ihrer methodischen Verpflichtung auf einen Fallibilismusvorbehalt selbst dann bitter ernst nehmen muss, falls die Zweifel ihrem religiösen Glück den Boden entziehen sollten. Wenn die Pragmatistin ›Glück im Unglück‹ ihrer religiösen Erkrankung hat, wird ihr die ›Medizin‹ eines religiösen Evidenzerlebens geschenkt, die schnell und nachhaltig von Zweifeln befreit. Das Problem dieser ›Therapie‹ besteht allerdings darin, dass sie nicht frei verfügbar ist: Die Pragmatistin kann die religiöse Evidenzerfahrungen nicht herbeizwingen. In diesem ungünstigsten Fall bliebe ihr nur der intellektuelle Weg einer eigenen ›metaphysischen Konstruktion‹. Die Hibbert-Lectures zeigen nun aber stellvertretend für unzählige andere Versuche dieser Art, dass dieser Weg nicht nur besonders anstren89 90
James 1909, 204. Vgl. Anm. 75.
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gend, sondern insgesamt auch wenig erfolgversprechend ist. Wie ein Brief von 1904 zeigt, war sich James dessen deutlich bewusst: Es heißt hier, dass eine intellektuell konstruierte Religion zwangsläufig »nur schwach« sein kann »im Vergleich zu dem, was das Gefühl der unmittelbaren Gegenwart Gottes bewirken könnte« 91. Allem faszinierenden Kampfgeist zum Trotz hat die pragmatistische Religionsphilosophie von William James damit einen melancholischen Unterton – aber gerade das macht sie besonders einleuchtend und attraktiv.
Literatur Buell, Lawrence (1988): The Transcendentalists. In: Columbia History of the United States. Hrsg. E. Elliott. New York 1988. Dewey, John (1934): A Common Faith. New Haven: Yale University Press 1934. In: Later Works. Bd. 9. Hrsg. J. A. Boydston. Carbondale/Edwardsville 21989, 1–58. Der Sinn des Lebens (2010). Hrsg. F. Krämer, H. Pape. Darmstadt 2010. Diaz-Bone, Rainer/Schubert, Klaus (1996): William James. Zur Einführung. Hamburg 1996. Emerson, Ralph Waldo (1841): The Oversoul. Boston 1841. In: Emerson. Hrsg. J. Porte. New York 91983, 383–401. Habermas, Jürgen (1991): Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft. In: Erläuterungen zur Diskursethik. Frankfurt a. M. 1991, 100–118. Herms, Eilert (1991): William James. In: Grundprobleme der großen Philosophen V. Hrsg. J. Speck. Göttingen 1991, 68–114. James, Williams (1895): Is the Life Worth Living? International Journal of Ethics October 1895. Als: Ist das Leben lebenswert? In: Der Sinn des Lebens (2010), 43–63. Es heißt im englischen Wortlaut: »My personal position is simple. I have no living sense of commerce with a God. I envy those who have, for I know the addition of such a sense would help me immensely. The Divine, for my active life, is limited to abstract concepts which, as ideals, interest and determine me, but do so but faintly, in comparison with what a feeling of God might affect, if I had one.« Letter to James Henry Leuba. 18. April 1904. In: The letters of William James 1920, 211. Vgl. Anm. 71.Vergleichbar heißt es in einem Brief von 1901: »The mother sea and fountain head of all religions lies in the mystical experience of the individual, taking the world mystical in a very wide sense. All the theologies, and all ecclesiasticism are secondary growth superimposed and the experiences make such flexible combinations with the intellectual prepossessions of their subjects, that one may almost say that they have proper intellectual deliverance of their own, but belong to a region deeper, and more vital and practical that which the intellect inhabits.« Letter to H. W. Rankin. 16. Juni 1901. In: William James 2001, 515.
91
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Über die Autoren
Christian Thies ist Professor für Philosophie an der Universität Passau. Nach erstem Staatsexamen 1987 und zweitem Staatsexamen 1989 in den Fächern Philosophie und Geschichte wurde er 1996 an der Universität Hamburg mit Die Krise des Individuums. Zur Kritik der Moderne bei Adorno und Gehlen (veröff. Reinbek 1997) promoviert. Es folgte im Jahr 2007 die Habilitation an der Universität Rostock mit Der Sinn der Sinnfrage. Metaphysische Reflexionen auf kantianischer Grundlage (veröff. Freiburg/München 2008). Zwischen 2007 und 2009 war er Stellvertretender Direktor des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover, bis er 2009 an die Universität Passau berufen wurde. Seine Forschungsschwerpunkte sind neben der Religionsphilosophie die Angewandte Ethik und die Philosophische Anthropologie (vgl. dazu u. a. die Einführung in die philosophische Anthropologie Darmstadt 2004/32013). Michael Blume wurde 2005 an der Universität Tübingen mit Neurotheologie. Chancen und Grenzen aus religionswissenschaftlicher Perspektive (erweiterte Neuauflage Marburg 2009) promoviert. Er spezialisierte sich auf die Evolutionsforschung zu Religiosität und Religionen und nimmt derzeit Lehraufträge an den Universitäten Köln und Jena wahr. Für seinen Wissenschaftsblog Natur des Glaubens erhielt er den scilogs-Preis und für seine Arbeiten zwischen Natur- und Geisteswissenschaften den »Vermittlungen«-Preis der Evangelischen Akademie Villigst. Nach diverser Lehrtätigkeit in Tübingen, Leipzig, Heidelberg, Marburg und Jena unterrichtet er seit 2013 in Köln. Christoph Türcke war bis 2014 Professor für Philosophie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Nach einem Studium der Evangelischen Theologie und der Philosophie wurde er im Jahr 1977 mit Zum ideologiekritischen Potential der Theologie. Kon179 https://doi.org/10.5771/9783495808375 .
Über die Autoren
sequenzen einer materialistischen Paulus-Interpretation (veröff. Köln 1979) an der Universität Frankfurt promoviert. Er habilitierte sich 1985 an der Gesamthochschule Kassel. Vor seiner Berufung im Jahr 1993 war er 1987 als Gastregisseur am Jungen Theater Göttingen und von 1991 bis 1993 als Gastprofessor für Philosophie an der Universidade Federal do Rio Grande do Sul in Porto Alegre (Brasilien) tätig. Im Jahr 2009 wurde er mit dem Sigmund-Freud-Kulturpreis ausgezeichnet. Jüngere Veröffentlichungen sind u. a. Philosophie des Traums (München 2008), Jesu Traum. Psychoanalyse des Neuen Testamens (Springe 2009) und Hyperaktiv! Kritik der Aufmerksamkeitsdefizitkultur (München 2012). Johann Ev. Hafner ist Professor für Religionswissenschaft mit dem Schwerpunkt Christentum an der Universität Potsdam. Nach einem Studium der Philosophie und Katholischen Theologie in Augsburg, München und auf den Philippinen wurde er 1995 mit Über Leben. Philosophische Untersuchungen zur ökologischen Ethik und zum Begriff des Lebewesens (veröff. Würzburg 1996) promoviert. Er habilitierte sich 2001 im Feld der Systematischen Theologie mit Selbstdefinition des Christentums. Ein systemtheoretischer Zugang zur frühchristlichen Ausgrenzung der Gnosis (Freiburg/München 2003). Nach einer Gastdozentur am Pontifical Athenaeum of Philosophy and Theology des Dharmaram Vidya Kshetram in Bangalore (Indien) wurde er 2004 an die Universität Potsdam berufen, wo er von 2010 bis 2014 Dekan der Philosophischen Fakultät war. Eine jüngere Veröffentlichung ist u. a. Gegenwärtig Glauben Denken (Paderborn 2009). Matthias Jung ist Professor für Moral- und Rechtsphilosophie an der Universität Koblenz-Landau (Standort Koblenz). Nach einem Studium der Katholischen Theologie und Philosophie in Frankfurt/Main wurde er 1989 mit Das Denken des Seins und der Glaube an Gott – Zum Verhältnis von Philosophie und Theologie im Denken Martin Heideggers (veröff. Würzburg 1990) promoviert. Er habilitierte sich 1996 mit Erfahrung und Religion. Grundzüge einer hermeneutischpragmatischen Religionsphilosophie (veröff. Freiburg u. a. 1999). Nach Lehrtätigkeiten, Forschungsaufenthalten und Gastprofessuren in Chemnitz, Jena, Erfurt, Bochum, Berlin sowie in Atlanta und St. Louis (USA) ging er 2010 an die Universität Koblenz-Landau. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Menschenrechte, der Erfahrungsbegriff, die Begründung von Moral und die Philosophische An180 https://doi.org/10.5771/9783495808375 .
Über die Autoren
thropologie. Jüngere Veröffentlichungen sind u. a. Der bewusste Ausdruck. Anthropologie der Artikulation (Berlin/New York 2009) und Gewöhnliche Erfahrung (Tübingen 2014). Ludwig Nagl ist Außerplanmäßiger Universitätsprofessor im Ruhestand am Institut für Philosophie der Universität Wien. Nach einem Studium der Philosophie, Geschichte und Germanistik an der Universität Wien erfolgte die Promotion im Jahr 1969. Nach diversen Gastdozenturen und Forschungsaufenthalten habilitierte er sich 1981 an der Universität Wien mit Gesellschaft und Autonomie. Studien zur Entwicklung der Gesellschaftstheorie von Hegel bis Habermas (veröff. Wien 1983). Nachdem er 1991 zum Außerplanmäßigen Professor der Universität Wien ernannt wurde, absolvierte er wiederum mehrere Gastdozenturen und Forschungsaufenthalte u. a. an der HarvardUniversity in Boston (USA) und an der Universität St. Petersburg (Russische Föderation). Seine Forschungsschwerpunkte sind Filmästhetik (vgl. u. a. Filmästhetik. Hrsg. Berlin u. a. 1999), Religionsphilosophie (vgl. u. a. Religion nach der Religionskritik Hrsg. Berlin u. a. 2003) und die Philosophie des Pragmatismus (vgl. Charles Sanders Peirce Frankfurt a. M. u. a. 1992 sowie Pragmatismus Frankfurt a. M. u. a. 1998). Eine jüngere Veröffentlichung ist u. a. Das verhüllte Absolute. Essays zur zeitgenössischen Religionsphilosophie (Frankfurt a. M. u. a. 2010). Marie-Luise Raters ist feste wissenschaftliche Mitarbeiterin und Apl. Professorin an den Instituten für Philosophie und für LER der Universität Potsdam. Nach einem Studium der Musik, Philosophie und Germanistik in Hamburg wurde sie 1991 mit Intensität und Widerstand. John Deweys ›Art as Experience‹ als philosophisches System, als politischer Appell und als Theorie der Kunst (veröff. Bonn 1994) promoviert. 2004 habilitierte sie sich an der Universität Magdeburg mit Kunst, Wahrheit und Gefühl. Die Gefühlsästhetik des angelsächsischen Idealismus (veröff. Freiburg u. a. 2005). Zwischen 1986 und 1989 erhielt sie diverse Auszeichnungen bei nationalen und internationalen Chanson-Wettbewerben, sowie 2014 den 1. Preis für hervorragende Lehre der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Pragmatistische Philosophie, Religionsphilosophie, Ästhetik und Ethik. Eine jüngere Veröffentlichung ist u. a. Das moralische Dilemma – Antinomie der praktischen Vernunft? (Freiburg u. a. 2013). 181 https://doi.org/10.5771/9783495808375 .
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