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German Pages 338 Year 2018
Roman Kuhn Wahre Geschichten, frei erfunden
WeltLiteraturen/ World Literatures
Schriftenreihe der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien Herausgegeben von Jutta Müller-Tamm, Andrew James Johnston, Anne Eusterschulte, Susanne Frank und Michael Gamper Wissenschaftlicher Beirat Ute Berns (Universität Hamburg), Hans Ulrich Gumbrecht (Stanford University), Renate Lachmann (Universität Konstanz), Ken’ichi Mishima (Osaka University), Glenn W. Most (Scuola Normale Superiore Pisa), Jean-Marie Schaeffer (EHESS Paris), Stefan Keppler-Tasaki (University of Tōkyō), Janet A. Walker (Rutgers University), David Wellbery (University of Chicago), Christopher Young (University of Cambridge)
Band 15
Roman Kuhn
Wahre Geschichten, frei erfunden
Verhandlungen und Markierungen von Fiktion im Peritext
Die Entstehung dieser Arbeit wurde gefördert durch ein Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien an der Freien Universität Berlin.
ISBN 978-3-11-057629-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-057894-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-057794-5 ISSN 2198-9370 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Gestaltet von Jürgen Brinckmann, Berlin, unter Verwendung einer Graphik von Anne Eusterschulte Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorbemerkungen Die folgende Studie ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Januar 2016 unter dem Titel »Do(n’t) Judge a Book by Its Cover. Geschichte und Theorie der peritextuellen Fiktionsmarkierung im Roman« vom Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften an der Freien Universität Berlin angenommen wurde.
Dank Eine Vorbemerkung zum Zweck der Danksagung kommt in einer Untersuchung, die sich mit Paratexten befasst, beinahe zwangsläufig in die missliche Lage, sich auf einer Metaebene mit dem paratextuellen Status der Danksagung und den speziellen Dynamiken dieser Paratextsorte zu befassen. Dieser Versuchung will ich hier widerstehen, denn es handelt sich in der Tat, wie Genette festhält, um eine delikate Materie,1 bei der Ausführung und Reflexion auf diese Ausführung vielleicht besser getrennt bleiben. Umso leichter fällt der Verzicht auf diese Metareflexion, als ich in einer Fußnote (einem Paratext zum Paratext also) auf einen Sammelband verweisen kann, dessen Thema genau dies ist: »Dank sagen«2. Und weil sich unter den Mitherausgebern dieses Bandes eine Person befindet, der mein Dank an zentraler Stelle gebührt, bin ich bereits beim konkreten Dank sagen angelangt: Ich danke Prof. Dr. Remigius Bunia für die Begleitung des Projektes von der ersten Idee an, für zentrale Hinweise und Anregungen sowie nötige Kritik. Ohne diese Anregungen und ohne die fortwährende Unterstützung wäre dieses Buch nicht zustande gekommen. PD Dr. Irina O. Rajewsky danke ich für die äußerst gewissenhafte Lektüre und geduldige Diskussion insbesondere der theoretischen Überlegungen. Manche theoretisch-argumentative Feinheit wäre ohne diese klärenden Gespräche (auch mir selbst) unklar, manch problematische Stelle wäre stehen geblieben. Prof. Dr. Ulrike Schneider danke ich nicht nur für die freundliche Übernahme des Zweitgutachtens, sondern insbesondere für kritische Nachfragen zu einzelnen Aspekten und für wichtige darstellungspraktische Hinweise. Prof. Dr. Klaus W. Hempfer hat nicht nur die folgenden fiktionstheoretischen Überlegungen durch seine Schriften zum Thema entscheidend beeinflusst, sondern das Projekt über einen längeren Zeitraum begleitet und meine Überlegungen im besten Sinne kritisch kommentiert: Ich danke ihm für das beständige Interesse an meiner Arbeit. Allen TeilnehmerInnen des romanistischen Oberseminars unter der Leitung von Prof. Dr. Klaus W. Hempfer und Prof. Dr. Ulrike Schneider danke ich für wertvolle Ratschläge und Kritik sowie für das Interesse und
1 Vgl. Genette (1987): Seuils, S. 196 f. 2 Binczek, et al. (Hg.) (2013): Dank sagen. Politik, Semantik und Poetik der Verbindlichkeit. Hinter dem »et al.« verbergen sich: Remigius Bunia, Till Dembeck und Alexander Zons.
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Vorbemerkungen
die Geduld, die sie meinen mitunter langen Ausführungen entgegenbrachten. Meinen KommilitonInnen an der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien habe ich in allen Bereichen zu danken: Vom ganz Kleinen (Hinweise auf einzelne Texte und interessante Beispielfälle) bis zum ganz Großen (Gesamtanlage und -gliederung der Studie) reichen die Einflüsse, die dieses Buch zu einem nicht geringen Teil ausmachen. Der Friedrich Schlegel Graduiertenschule danke ich für die finanzielle und vielfältige administrative Unterstützung, ohne die insbesondere mein Studienaufenthalt an der University of Cambridge nicht möglich gewesen wäre. Dem Department of German & Dutch sowie dem Gonville & Caius College danke ich für die freundliche Aufnahme. Den HerausgeberInnen der Reihe Weltliteraturen danke ich für die Möglichkeit, meinen Text in diesem Kontext zu publizieren. Dr. Rebecca Mak danke ich für die Vermittlungsarbeit zwischen Autor, Verlag, Setzer und HerausgeberInnen. Eine ganze Reihe von Personen haben diesem Buch zum Entstehen verholfen, sei es, indem sie direkt das Manuskript kritisiert, kommentiert und verbessert haben, sei es, indem sie mir wertvolle Anregungen oder – vielleicht noch wichtiger – Ablenkungen geboten haben: Alexander, Bernd, Carolin, Cynthia, Dani, Dominik, Elisabeth, Evi, Mahaut, Markus, Matthias, Michael, Philipp, Roland, Thomas, Veit und viele andere mehr. Meinen Eltern danke ich für das beständige Vertrauen, das sie mir und meiner Arbeit entgegenbringen. Eine Person hat diese Studie und mich während der Abfassung beständig begleitet und unterstützt – auf eine Weise, die alle ausschweifend-rhetorischen Dankes bekundungen zum Scheitern verurteilt: Danke, Birgit!
Hinweise zur Zitierweise Wo möglich, wurden bei Quellen Originalausgaben oder faksimilierte Reproduktionen verwendet; diese werden in der Regel mit vollständigen bibliographischen Angaben und (ggf. nur auszugsweise zitierten) Langtiteln in der Bibliographie aufgeführt, im Text aber mit Kurztiteln zitiert; bei Langtiteln und Verlagsangaben wurde die Großund Kleinschreibung den heutigen Konventionen der jeweiligen Sprache angepasst. Schriftauszeichnungen in Titeln werden in der Regel nicht reproduziert. Zitate erfolgen weitgehend zeichengetreu – mit folgenden Ausnahmen: Langes ›ſ‹ wird als ›s‹ wiedergegeben. Umlaute, die als ›u, o, a‹ mit hochgestelltem ›e‹ gedruckt sind, werden als ›ü, ö, ä‹ zitiert. Frakturschrift wird nicht reproduziert. Hervorhebungen etwa durch Unterstreichungen oder Sperrungen werden mittels Kursivierung dargestellt. Lange Kursivierungen (etwa bei vollständig kursiv gesetzten Vorworten) werden in der Regel nicht reproduziert. Peritexte finden sich häufig in unpaginierten Bereichen eines Buches. Wird daher aus Peritexten zitiert, die aufgrund ihrer Stellung im Buch leicht aufzufinden und darüber hinaus von geringem Umfang sind (etwa Disclaimer), so wird auf die Angabe
Vorbemerkungen
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einer Seitenzahl verzichtet. Bei umfangreicheren Paratexten (etwa Vorworten) wird, sofern nicht eine Paginierung im Druck vorhanden ist, grundsätzlich mittels römischer Ziffern in eckigen Klammern zitiert, wobei ›[i]‹ dann auf die erste Seite beispielsweise eines Vorwortes verweist. Eine ursprünglich anonyme oder pseudonyme Veröffentlichung einer Quelle wird bei Zitatangaben und in der Bibliographie durch ›*‹ hinter dem Namen des Autors angezeigt. Online-Quellen wurden (sofern nicht anders vermerkt) zuletzt im Oktober 2017 eingesehen.
Inhalt 1
Einleitung 1
2 Paratext- und Fiktionstheorie 19 Paratext 24 Fiktion 37 3 Titelei 78 Autorname 82 Titel und Gattungsbezeichnungen 96 Verlags- und bibliographische Angaben 109 4
Vorworte und andere ›Liminarien‹ 120
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Disclaimer 191
6 Piktoriale Peritexte 223 Karten 227 Faksimiles 246 Photographien 259 7
»The End« – »Fin« – »Ende« 287
Literaturverzeichnis 300 Abbildungsverzeichnis 324 Register der besprochenen Autoren und Werke 325
1 Einleitung Da ich nun der Eitelkeit nicht widerstehen kann, der Nachwelt auch ein Werkchen von meiner Fasson zu hinterlassen, und wiewohl ich nichts wahres zu erzählen habe, (denn mir ist in meinem Leben nichts denkwürdiges begegnet) nicht sehe warum ich nicht eben so viel Recht zum Fabeln haben sollte als ein andrer: so habe ich mich wenigstens zu einer ehrenfestern Art zu lügen entschlossen als die meiner Herren Mitbrüder ist; denn ich sage doch wenigstens Eine Wahrheit, indem ich sage daß ich lüge; und hoffe also um so getroster, wegen alles übrigen unangefochten zu bleiben, da mein eignes freywilliges Geständniß ein hinlänglicher Beweis ist, daß ich niemanden zu hintergehen verlange. Ich urkunde also hiemit, daß ich mich hinsetze um Dinge zu erzählen, die mir nicht begegnet sind; Dinge, die ich weder selbst gesehen noch von andern gehört habe, ja, was noch mehr ist, die nicht nur nicht sind, sondern auch nie seyn werden, weil sie – mit Einem Worte – gar nicht möglich sind, und denen also meine Leser […] nicht den geringsten Glauben beyzumessen haben.1
So lautet die Erklärung, die Lukian im ersten Teil seines bezeichnenderweise mit »Αληθῶν Διηγημάτων«2 (»Wahre Geschichten«) überschriebenen Texts dem Leser an die Hand gibt. Er bezieht sich damit bereits im 2. Jahrhundert unserer Zeit auf eine Unterscheidung und auf ein Verfahren, diese Unterscheidung nahezulegen, die sich in vollem Umfang vielleicht erst im beginnenden 18. Jahrhundert herausgebildet haben: Die Rede ist von der Unterscheidung von faktualem und fiktionalem Erzählen und von den (para)textuellen Verfahren, die zu einer solchen Unterscheidung auffordern und eine Seite der Unterscheidung präferieren (oder zu präferieren vorgeben). Der Widerspruch, der zwischen Titel und Vorrede aufscheint, wird hier, so scheint es, überschrieben durch eine besonders markierte Sprachhandlung, in der der Verfasser ›urkundet‹, er erzähle von Dingen, die er weder gesehen noch sich habe berichten lassen und die mithin nicht wirklich, vielmehr geradezu unmöglich seien. Diese Aufforderung zum Unglauben ist zugleich aber die Aufforderung, sich dieses
1 Lukian von Samosata (1971): »Der wahren Geschichte erstes Buch«, S. 148. »διόπερ καὶ αὐτὸς ὑπὸ κενοδοξίας ἀπολιπεῖν τι σπουδάσας τοῖς μεθ’ ἡμᾶς, ἵνα μὴ μόνος ἄμοιρος ὦ τῆς ἐν τῷ μυθολογεῖν ἐλευθερίας, ἐπεὶ μηδὲν ἀληθὲς ἱστορεῖν εἶχον – οὐδὲν γὰρ ἐπεπόνθειν ἀξιόλογον – ἐπὶ τὸ ψεῦδος ἐτραπόμην πολὺ τῶν ἄλλων εὐγνωμονέστερον· κἂν ἓν γὰρ δὴ τοῦτο ἀληθεύσω λέγων ὅτι ψεύδομαι. οὕτω δ’ἄν μοι δοκῶ καὶ τὴν παρὰ τῶν ἄλλων κατηγορίαν ἐκφυγεῖν αὐτὸς ὁμολογῶν μηδὲν ἀληθὲς λέγειν. γράφω τοίνυν περὶ ὧν μήτε εἶδον μήτε ἔπαθον μήτε παρ’ ἄλλων ἐπυθόμην, ἔτι δὲ μήτε ὅλως ὄντων μήτε τὴν ἀρχὴν γενέσθαι δυναμένων. διὸ δεῖ τοὺς ἐντυγχάνοντας μηδαμῶς πιστεύειν αὐτοῖς«; Lukian von Samosata (1972): »Ἀληθῶν Διηγημάτων Α«, S. 83 2 Alternative, aber im Grunde synonyme Titel lauten: »ἀληθοῦς ἱστορίας λόγος πρῶτος«, sowie: »περὶ ἀληθοῦς ἱστορίας«; vgl. Lukian von Samosata (1972): »Ἀληθῶν Διηγημάτων Α«, S. 82, Anm. Welcher dieser Titel (und ob überhaupt einer) direkt auf Lukian zurückgeht, ist unsicher. Möllendorff nennt (unter Verweis auf den Herausgeber der hier verwendeten Ausgabe, Macloed) in seiner grundlegenden Studie die hier verwendete Variante (»Αληθῆ Διηγήματα«) als diejenige, die »aller Wahrscheinlichkeit nach für Lukian reklamiert werden darf«; Möllendorff (2000): Auf der Suche nach der verlogenen Wahrheit, S. 33. https://doi.org/10.1515/9783110578942-001
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Einleitung
Unglaubens für den Moment zu entledigen und so die »Erholung«3 des Geistes zuzulassen, die ein buntes Allerlei von Lügen biete, sofern es »im traulichen Ton der Wahrheit«4 vorgetragen sei. Solche Lügen, so Lukian, sind Legion und diejenigen Homers nur die Spitze des Eisbergs; was jedoch das Neuartige an seinen Geschichten sei, sei eben die Versicherung, dass es sich um Lügen handle, während die übrigen Lügenerzähler ohne solche Erklärung auskommen und man sich nur wundern könne, »wie sie sich einbilden konnten, ihre Leser würden nicht merken, daß kein wahres Wort an ihren Erzählungen sey.«5 Was bei Lukian als Vorwurf an die literarischen (aber auch: philosophischen und historiographischen) Produzenten formuliert ist, findet sich immer wieder auch als Vorwurf an Rezipienten, die sich durch ›Fehllektüren‹ dem Spott ausgesetzt sehen: Wer eine Fiktion nicht als solche erkennt und ihr blind vertraut, ohne die ›Warnhinweise‹ zu beachten, gilt als inkompetenter Leser. Eben dies illustriert Lukians Text mit dem performativen Widerspruch zwischen der Behauptung von Wahrheit im Titel und deren Negation im Text. Die Fähigkeit, den fiktionalen oder faktualen Status eines Textes zu erkennen, scheint Lukian bei den Lesern, von denen er spricht, vorauszusetzen, denn er kritisiert die Autoren ja gerade dafür, dass sie meinen, ihre Leser täuschen zu können. Vielleicht ist dies aber auch einfach der Tatsache geschuldet, dass in den Texten, die er anführt, wie auch in seinem eigenen ›offensichtlich‹ unmögliche Dinge geschehen. Er erwähnt etwa, dass bei Homer einäugige Menschenfresser (Polyphem) und ähnliche Dinge vorkommen, und seine eigene Erzählung ist wohl am besten charakterisiert als Versuch, auf möglichst knappem Raum möglichst viele möglichst haarsträubende Einfälle unterzubringen. Was aber, wenn solche Momente fehlen? Woran lässt sich erkennen, ob ein durch und durch ›realistischer‹6 Text eine wahre Begebenheit schildert oder eine solche mit den Freiheiten der Fiktion ausgestaltet – oder gänzlich auf einer erfundenen Begebenheit basiert? In aller Regel geben Paratexte,7 also Begleittexte, die den Text ›rahmen‹, darüber Auskunft: Wenn auf dem Umschlag des Buches, in
3 Lukian von Samosata (1971): »Der wahren Geschichte erstes Buch«, S. 146; »ἀνάπαυσις«; Lukian von Samosata (1972): »Ἀληθῶν Διηγημάτων Α«, S. 82 4 Lukian von Samosata (1971): »Der wahren Geschichte erstes Buch«, S. 146; »πιθανῶς τε και ἐναλήθως«; Lukian von Samosata (1972): »Ἀληθῶν Διηγημάτων Α«, S. 82 5 Lukian von Samosata (1971): »Der wahren Geschichte erstes Buch«, S. 148; »εἰ ἐνόμιζον λήσειν οὐκ ἀληθῆ συγγράφοντες«; Lukian von Samosata (1972): »Ἀληθῶν Διηγημάτων Α«, S. 83 6 Unter einem ›realistischen‹ Text sei an dieser Stelle zunächst im Sinne von Zipfels Definition von »Realistik« (und nicht: Realismus) ein Text verstanden, dessen »Geschichte […] in Bezug auf das jeweils gültige Wirklichkeitskonzept möglich ist«; Zipfel (2001): Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. 107. 7 Genette unterscheidet bekanntlich innerhalb der Paratexte zwischen Peri- und Epitexten, wobei erstere »autour du texte, dans l’espace du même volume«, letztere hingegen »à l’extérieur du livre« angesiedelt sind; Genette (1987): Seuils, S. 10 f. Der vorliegenden Untersuchung geht es ausschließlich um Peritexte. Diese sind auch dann gemeint, wenn aus Gründen der Abwechslung allgemein von ›Paratexten‹ die Rede ist.
Einleitung
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dem der Text erscheint, das Wort ›Roman‹ (oder ›novel‹ oder ›roman‹) abgedruckt ist, so ist sehr wahrscheinlich mit einer Fiktion zu rechnen – wahrscheinlich, aber nicht notwendigerweise, denn das Verwirrspiel mit Paratexten ist vermutlich so alt wie die Institution Peritext selbst. Und so bleibt es, selbst wenn die Aussagekraft der Paratexte in vielen Fällen sicherlich relativ eindeutig ausfällt, dabei: Auch den paratextuellen Fiktionsmarkierungen ist nicht blind zu vertrauen. Die Frage, wie sie sich einbilden können, ihre Leser erkennten die Fiktion nicht als solche, ist – unter freilich völlig veränderten Umständen – an Autoren wie Defoe tatsächlich gestellt worden, als sie Fiktionen präsentierten, als wären sie Fakten. Und dies mitunter mit einer ebenso feierlichen Beurkundung, wie sie sich bei Lukian findet,8 nur dass eben hier die ›Vorzeichen‹ umgekehrt sind und nicht die Unwahrheit der folgenden Geschichte bezeugt werden soll, sondern ihre Wahrheit: I Robinson Crusoe being at this Time in perfect and sound Mind and Memory […] do affirm, that the Story, though Allegorical, is also Historical […] and to this I set my Name.9
Nun ist es freilich nicht angezeigt, eine direkte Verbindung von Lukian zu Defoe zu ziehen und die historische Entwicklung der Literatur sowie die ihrer gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu unterschlagen. Es wird sich im Verlauf dieser Untersuchung vielmehr herausstellen, dass sowohl die Unterscheidung faktual/fiktional als auch die (para)textuellen Signale und Markierungen, die sie aufrufen, einerseits in einer innerliterarischen Traditions- und Evolutionsgeschichte zu verorten sind, dass sie andererseits aber an gesellschaftliche, rechtliche und ökonomische Entwicklungen sich anpassen und auf diese reagieren. So führt ebenfalls kein direkter Weg von Defoes (oder vielmehr: Robinson Crusoes) Versicherung, eine wahre Geschichte zu erzählen, zu solchen paratextuellen Elementen wie dem Disclaimer, der sich im 20. Jahrhundert finden lässt und sich zumindest von der Seite der Unterscheidung, die er präferiert (oder zu präferieren vorgibt), scheinbar wieder an Lukian annähert. In der Standardformulierung lauten solche Disclaimer etwa folgendermaßen: ›All characters appearing in this text are purely fictional, any resemblance to real persons, events or places is purely coincidental‹. Eine direkte Verbindung zwischen diesen ›Instruktionen‹ an den Leser lässt sich zunächst allein deshalb nicht angeben, weil sie auf unterschiedlichem ›Terrain‹ spielen. Lukians Erklärung ist in einer Vorrede situiert, die sich vom Text kaum abgrenzen lässt: Es ist derselbe Erzähler, der, nachdem er die Unwahrheit des Folgenden
8 Streng genommen findet sich diese Formulierung natürlich nur in Wielands Übersetzung. Dies ist möglicherweise als inter(para)textueller Bezug des Übersetzers zu werten, der auf Defoe und vergleichbare Paratexte, die eine Form der ›Beurkundung‹ einführen, verweisen könnte. 9 Defoe* (1720): Serious Reflections, S. [ii] f.
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Einleitung
e ingestanden hat, beginnt, seine phantastische Geschichte zu erzählen.10 Das Vorwort zu Serious Reflections, dem weithin unbeachteten dritten Band von Robinson Crusoe, ist mit »Robinson Crusoe’s PREFACE« überschrieben und setzt sich so vom ›eigent lichen‹ Text ab, der daneben noch über eine weitere Vorbemerkung, »the Publisher’s Introduction«, verfügt. Ein Disclaimer begegnet ebenfalls in aller Regel typographisch abgesetzt vor oder nach dem ›eigentlichen‹ Text. Die Ausdifferenzierung und gleichzeitige Fixierung und Standardisierung dessen,11 was seit Genettes Studie Seuils als Paratext bezeichnet wird,12 beginnt in vollem Umfang erst mit der Erfindung des Buchdrucks und der Begriff lässt sich nicht ohne Weiteres auf frühere Epochen übertragen. Sie hält aber auch nach dem »Rise of the Novel«13 im frühen 18. Jahrhundert nicht inne und entwickelt Formen wie den soeben in seiner Standardform zitierten Disclaimer, der völlig andere Implikationen mit sich führt als Defoes (respektive Robinsons) ›testamentarische‹ Verfügung. Die Pluralisierung und Standardisierung des Paratextes verweist zugleich auf eine Form der inter(para)textuellen Traditionsbildung, die innerhalb bestimmter literarischer Epochen (oder diese übergreifend)14 sehr ähnliche paratextuelle Elemente und Verfahren einführt und beibehält. Dies ist so einleuchtend wie problematisch: Einerseits ist der Paratext, qua seiner Stellung außerhalb des Textes, in der Lage, diesen zu kommentieren und eine Lektüre in bestimmte Bahnen zu lenken; andererseits aber ist er selbst, wie der literarische Text, den er begleitet, bestimmten Konventionen und Codes unterworfen, die konditionieren, wie er gelesen werden ›soll‹. Wenn man so will, kollidieren hier zwei Mechanismen des Paratextes, der einerseits wörtlich genommen werden muss, weil er außerhalb derjenigen Sphäre steht, der die Interpretation gilt, der aber andererseits selbst einen (oft hochgradig) interpretationsbedürftigen und konventionsbeladenen Text darstellt. Genette hat den ersten Mechanismus auf die konzise Formel gebracht, dass der Paratext grundsätzlich wörtlich genommen werden muss, einem »principe général« folgend, »qui veut que l’on prenne le paratexte au mot et à la lettre, toute incrédulité, voire toute aptitude herméneutique suspendues«.15 Selbstverständlich aber steht dies in einem mitunter auffälligen Widerspruch zur alltäglichen
10 Auch das Adjektiv ›phantastisch‹ ist an dieser Stelle im Sinne von Zipfels Unterscheidung zwischen Phantastik und Realistik zu lesen (und nicht etwa im Todorov’schen Sinne); vgl. Zipfel (2001): Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. 109–113. 11 Zur These von der Ausdifferenzierung des Paratextes in der frühen Neuzeit vgl. von Ammon/ Vögel (Hg.) (2008): Die Pluralisierung des Paratexts in der frühen Neuzeit. Kritisch gegenüber diesem Ansatz und stärker die Fixierung betonend äußert sich Ott (2010): »Die Erfindung des Paratextes«. 12 Zur Genette’schen Entwicklung des Begriffs siehe unten S. 24. 13 Watt (1957): The Rise of the Novel. 14 So ist es vielleicht kein Zufall, dass es ausgerechnet Wieland, selbst ein herausragender ›Paratexter‹, ist, dem wir die oben zitierte Übersetzung Lukians verdanken. 15 Genette (1987): Seuils, S. 168.
Einleitung
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Leseerfahrung, ja zu etwas, das didaktisch ›Medienkompetenz‹ genannt wird –16 und nicht zuletzt steht es in eklatantem Widerspruch zu Genettes Studie selbst. Das ›Prinzip‹ ist dennoch nicht einfach falsch. Es enthält in nuce vielmehr die Problematik des Paratextes, der – die Vorsilbe ›para‹ zeigt es an – zugleich diesseits und jenseits einer ›Interpretationsschwelle‹ liegt.17 Ernsthaft die Frage zu stellen, ob beispielsweise Robinson Crusoes Vorrede und seiner Versicherung der Wahrheit zu trauen sei, bedeutet daher einerseits sicherlich, eine ›dumme Frage‹ zu stellen, die in einer Reihe steht mit solchen »silly questions«18, wie sie Walton anführt. Es ist jedoch zugleich eine ›silly question‹, die nach den Wider sprüchen fragt, auf die es ankommt – und damit vielleicht doch keine so dumme Frage. Sie lässt sich letztlich auf die Frage zurückführen, wie eine Rhetorik funktioniert, die deklarativ das eine sagt, aber (mehr oder weniger offen) durchscheinen lässt, dass etwas anderes (mitunter: das Gegenteil) der Fall ist oder zumindest der Fall sein könnte.19 Zugleich, und dies gilt letztlich auch für solche Fälle, in denen ein Paratext offenbar ganz ›durchsichtig‹ und ›zuverlässig‹ den Status eines Textes anzeigen soll, ist »Aufrichtigkeit« selbstverständlich auch in Paratexten schlichtweg »inkommunikabel«, denn: »alles Beteuern und Beschwichtigen regeneriert nur den Verdacht.«20 Luhmann erklärt dies damit, dass in jeder Kommunikation Information und Mitteilung voneinander geschieden sein müssen, was allerdings bei einer Selbstauskunft nicht zu garantieren sei:
16 Die Literaturdidaktik interessiert sich bisher nur marginal für Paratexte. Als eine der wenigen Ausnahmen von dieser Regel sei aus jüngerer Zeit erwähnt: Baum/Laudenberg (Hg.) (2012): Illustration und Paratext. Mit dem Problem der Fiktionalität setzt sich keiner der darin enthaltenen Beiträge dezidiert auseinander. Allerdings bespricht Kümmerling-Meibauer das Vorwort zu Erich Kästners Emil und die Detektive und dessen »Fiktionalitätsspiel«; Kümmerling-Meibauer (2012): »Didaktik der Paratexte«, S. 58. Der Beitrag von Pauldrach untersucht Inszenierungen von Autorschaft in popliterarischen Texten und steht damit ebenfalls in Zusammenhang mit der Fiktionalitätsproblematik; vgl. Pauldrach (2012): »Kunst oder Kommerz? Paratexte und Autorschaft in der deutschsprachigen Popliteratur«. 17 Vgl. Miller (1979): »The Critic as Host«, S. 219. Genette zitiert Millers Diskussion des Präfixes ›para‹ mit dem Zusatz: »C’est une assez belle description de l’activité du paratexte«; Genette (1987): Seuils, S. 7, Anm. 2. Rolls und Pratt weisen darauf hin, dass Genette mit dem Verweis auf Miller den Boden seiner strukturalistischen Studie zu verlassen droht – wenn auch nur in einer Fußnote; vgl. Rolls/Pratt (2011): »Introduction: Unwrapping the French Paratext«, S. 5. Für das vollständige Zitat Millers siehe unten S. 28. 18 Walton (1990): Mimesis as Make-Believe, S. 176. Vgl. dazu auch Bareis (2008): Fiktionales Er zählen, S. 159. 19 In der rhetorischen Tradition wäre dabei neben dem Begriff der Ironie insbesondere an das Begriffspaar simulatio/dissimulatio zu denken; vgl. Bettrich/Krautter (2007): »Simulatio«. 20 Luhmann (2010[1984]): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, S. 207.
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Einleitung
Man kann gleichwohl nicht sagen, daß man meint, was man sagt. Man kann es zwar sprachlich ausführen, aber die Beteuerung erweckt Zweifel, wirkt also gegen die Absicht.21
Selbst dann noch, wenn sich ein Kommentar zu einem Text dadurch Autorität zu geben versucht, dass er sich außerhalb des Textes (im Paratext) situiert und somit dem Problem der Selbstauskunft entgehen könnte, wird er potentiell zum Problem, denn das Verhältnis von einem ›Außen des Textes‹ und einem ›Innen des Textes‹ lässt sich ebenfalls nicht ohne Weiteres bestimmen. Es ist genau das charakteristische ›Dazwischen‹, das den Paratext auszeichnet: Weder ist er einfach in der Umwelt eines Textes angesiedelt, noch ist er in diesem Text selbst zu verorten. Genau dieses ›Dazwischen‹ muss aber auf die eine oder andere Art und Weise aufgelöst werden, wenn es um die Frage geht, ob Statusbehauptungen im Paratext relevant und ›bindend‹ sind, oder nicht. Es handelt sich dabei letztlich um die Frage danach, wo die Fiktion beginnt: Vor oder nach dem Paratext? Im Falle Robinson Crusoes, der sein eigenes Vorwort verfasst, scheint der Fall relativ klar – aber vielleicht auch nur, weil der Fall bekannt ist. Bei weniger bekannten Fällen stellt sich die Frage mitunter tatsächlich – und nicht nur unerfahrenen Lesern. Zurückführen lässt sich die Frage, um erneut Luhmann zu bemühen, letztlich auf das Problem der ›doppelten Rahmung‹, wobei unter einer Doppelrahmung eine »Täuschung, die zugleich auf Grund besonderer Anhaltspunkte als solche durchschaut wird«22, zu verstehen ist. Entgegen Genettes Diktum, beim Paratext sei auf hermeneutische Spitzfindigkeit zu verzichten, bestätigt sich also das genaue Gegenteil. Es ist vielmehr akribisch auf Anhaltspunkte zu achten, um nicht der Täuschung zu erliegen – oder besser: um die Täuschung gegebenenfalls als doppelte wahrzunehmen. Die Aufforderung, ein Buch nicht unkritisch nach seinem cover, einen Text nicht nach seinem Paratext zu beurteilen, ist deshalb ernst zu nehmen. Sie lässt sich zudem historisch zurückverfolgen: »fronti nulla fides« warnt das Monthly Magazine im Jahr 1780 seine Leser und übersetzt: »No trusting to Title-pages«.23 Andere haben – vordergründig – das Gegenteil behauptet. So beispielsweise Samuel Butler etwa ein Jahrhundert vor dem Monthly Magazine:
21 Luhmann (2010[1984]): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, S. 208. 22 Luhmann (2011[1997]): Die Kunst der Gesellschaft, S. 178. Luhmann argumentiert an dieser Stelle vornehmlich mit Blick auf das Theater und die Malerei. Dass er den Begriff der doppelten Rahmung aber auch im engeren Sinne auf hier relevante Rahmungen von Texten bezieht, macht eine Bemerkung zum Don Quixote und den Lettres portugaises deutlich; vgl. Luhmann (2011[1997]): Die Kunst der Gesellschaft, S. 414 f. Zur Anwendung des Begriffs der doppelten Rahmung auf Paratexte vgl. auch Wirth (2004): »Das Vorwort als performative, paratextuelle und parergonale Rahmung«, S. 605. 23 Div. (1780): The Monthly Review.
Einleitung
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There is a kind of Physiognomy in the Titles of Bookes no less then [sic] in the faces of men, by which a Skilful Observer will as well know what to expect from the one as the other.24
Allein, was zeichnet einen solchen skilful observer aus, wenn nicht die Tatsache, dass er eben auch den Paratext so genau liest, wie den ›eigentlichen‹ Text und sich nicht von möglicherweise falschen Statusbehauptungen ablenken lässt? Worauf aber achtet er dabei? Welche Bereiche des Paratextes sind vertrauenswürdig und welche nicht? Welchen Aussagen ist eher zu trauen, welchen weniger?25 All dies sind Fragen, die sich an einen skilful observer stellen ließen – ob dieser nun im heutigen literaturdidak tischen Sinne gedacht wird oder aus der Perspektive eines dem »sceptical reading«26 verpflichteten Zeitgenossen Defoes. Die Fiktionstheorie geht inzwischen wohl mehrheitlich (sofern sich in einem so diffusen Debattengeflecht Mehrheiten ausmachen lassen) davon aus, dass sich fiktionale Texte nicht an der ›Textoberfläche‹ von faktualen Texten unterscheiden lassen. Searles bekannte Zusammenfassung dieses Sachverhalts lautet: »There is no textual property, syntactical or semantic, that will identify a text as a work of fiction.«27 Als eine Antwort auf die Frage, was stattdessen erkennen lässt, ob Fiktion vorliegt oder eben nicht, ist immer wieder ein Verweis auf paratextuelle Signale zu finden. So etwa bei Eco: We usually recognize artificial narrative thanks to the ›paratext‹ – that is, the external messages that surround a text. A typical paratextual signal for fictional narrative is the designation ›A Novel‹ on the book’s cover. Sometimes even the author’s name can function in this way; thus,
24 Butler (1979): Prose Observations, S. 132. 25 Wenn hier ein »skilful observer« beschrieben wird, dann allein aus Gründen der Anschaulichkeit. Weder ist es explizites Anliegen dieser Arbeit, rezeptionsästhetische Erkenntnisse darüber zu liefern, wie Paratexte gelesen werden und wurden, noch ist dies für den größten Teil des Untersuchungszeitraums überhaupt möglich: Wenn schon das Wissen darüber, wie im 18. Jahrhundert Texte gelesen wurden, immer noch sehr spärlich ist (vgl. etwa Darnton (1996): The Forbidden Best-Sellers of PreRevolutionary France, S. 85), so ist das Wissen darüber, wie Paratexte historisch rezipiert wurden, gleichsam nichtexistent. 26 Zum »sceptical reading« und dem personifizierten Gegenmodell in der Gestalt des »vulgar reader«, der sich von Texten täuschen lässt, vgl. Loveman (2008): Reading Fictions 1660–1740, S. 19–46. 27 Searle (1975): »The Logical Status of Fictional Discourse«, S. 325. Dieser Aussage ist – anhand Searles eigener Beispiele – widersprochen worden; vgl. Cohn (1990): »Signposts of Fictionality«, S. 784 f. Sie lässt sich aber möglicherweise unter der Einschränkung, dass identifizierende Merkmale zwar möglich, aber nicht notwendig vorhanden sind, aufrechterhalten. Die Kritik Hempfers an Searle bezieht sich zentral auf die Folgerung, die Searle aus dieser Feststellung zieht: »the identifiying criterion for whether or not a text is a work of fiction must of necessity lie in the illocutionary intentions of the author«; Searle (1975): »The Logical Status of Fictional Discourse«, S. 325. Dieser Folgerung wirft Hempfer (zu Recht) »naiven Intentionalismus« vor; Hempfer (1990): »Zu einigen Problemen einer Fiktionstheorie«, S. 121.
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nineteenth-century readers knew that a book whose title page announced it was ›by the author of Waverly‹ was unmistakably a piece of fiction.28
Selbstverständlich ist die Markierungsfunktion paratextueller Elemente in vielen, vielleicht sogar der Mehrzahl der Fälle recht eindeutig – und vor allem: praktikabel. Nur gibt es eben Gegenbeispiele (und Eco weiß dies selbstverständlich nicht zuletzt aus eigener Praxis: »things are not as clear-cut as they may seem«29), die nahelegen, dass sich Searles Feststellung reformulieren und ausweiten lässt: ›There is no (para)textual property, syntactical or semantic, that will identify a paratext as (part of) a work of fiction.‹ So wie sich eine Grenze zwischen Text und Paratext nicht zweifelsfrei bestimmen lässt, so lässt sich auch nicht bestimmen, ›wo‹ Fiktion anfängt und ›wo‹ sie aufhört. Ebensowenig ist davon auszugehen, dass Paratexte (im Unterschied zu fiktionalen Texten) darauf verpflichtet sind, wahre oder auch nur wahrheitsfähige Aussagen über den ihnen folgenden Text zu treffen. Damit aber geraten sie erneut in Verbindung zu den ›eigentlichen‹ fiktionalen Texten und deren Theoretisierung.30 Diese Verbindung und die ›Interaktion‹ von Peritext und Fiktion ist einer der Kernpunkte der vorliegenden Studie. Eines der zentralen und wahrscheinlich am wenigsten umstrittenen Axiome der Fiktionstheorie lautet, dass Fiktion von Lüge unterschieden werden muss. Gebraucht Lukian das Verb »lügen« noch, um seine Tätigkeit und die anderer Geschichtenerzähler zu charakterisieren, so nimmt Philip Sidney den Dichter und seine Produktion von der Kategorie der Lüge aus: Now for the poet, he nothing affirms, and therefore never lieth. For, as I take it, to lie is to affirm that to be true which is false […]. The poet never maketh any circles about your imagination, to conjure you to believe for true what he writes.31
Dass der Dichter überhaupt nicht lügen könne, weil er nicht ernsthaft etwas behaupte, das lässt sich ebenso bei Searle lesen, der »two quite different senses of ›pretend‹«32 unterscheidet: Einmal gebe jemand etwas vor, behaupte etwas, in der Absicht zu täuschen; das andere Mal tue einer so, ›als ob‹ etwas der Fall sei, behaupte es aber nicht und wolle vor allem niemanden damit täuschen. Letzteres ist etwa im Kinderspiel der
28 Eco (2004): Six Walks in the Fictional Woods, S. 120. 29 Eco (2004): Six Walks in the Fictional Woods, S. 120. 30 Konzise zusammengefasst findet sich dies in Bezug auf Vorworte etwa bei Rigolot: »En outre, il est malaisé en pratique de décider si telle ou telle pièce de l’appareil préfaciel est un ›discours‹ à l’extérieur du ›texte‹ ou, contrairement à ce qu’on est normalement en droit d’attendre, fait partie intégrante du ›texte‹ proprement dit. En d’autres termes, le discours préfaciel n’est pas nécessairement ›l’autre du texte‹. Si le texte est un lieu de fictions […], la préface n’est pas obligatoirement un lieu de vérité où les fictions n’auraient plus cours«; Rigolot (1987): »Prolégomènes«, S. 10. 31 Sidney (1965[1595]): An Apology for Poetry, S. 123 f. 32 Searle (1975): »The Logical Status of Fictional Discourse«, S. 324.
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Fall, bei einer Scharade – oder eben in der Fiktion. Ein Problem dieser Darstellung ist (erneut)33 der Rekurs auf Intention, bindet Searle den zentralen Unterschied zwischen den beiden Lesarten von ›pretend‹ doch an einen »intent to deceive«34, der im zweiten Fall abwesend sei. Eine alternative Lösung des Problems liegt in der – ebenfalls in der Fiktionstheorie weit verbreiteten – Annahme, dass im Falle von Fiktion eine Trennung der Verantwortung zwischen Autor und einer Erzählinstanz vorauszusetzen sei. Damit lassen sich im Text weiterhin Sprechakte ausmachen, die Behauptungen aufstellen, Fragen stellen und diversen anderen Kategorien von Sprechakten entsprechen, die aber nunmehr nicht mehr einem Autor zugeschrieben werden können, der damit, um erneut auf Sidney zurückzukommen, eben nichts behauptet, sondern gleichsam von einer selbst schon fiktiven Instanz ›behaupten lässt‹. Genettes konzise Fassung dieser Fiktionsdefinition lautet: Reste à considérer la relation entre l’auteur et le narrateur. Il me semble que leur identité rigoureuse (A = N), pour autant qu’on puisse l’établir, définit le récit factuel […]. Inversement, leur dissociation (A ≠ N) définit la fiction […].35
Wie aber lässt sich diese Identität oder Nicht-Identität feststellen? Genette deutet die Frage an und lässt offen, ob sie sich je zweifelsfrei entscheiden lasse. Genau hier wird erneut der Paratext relevant, als ›Übergangsort‹, an dem auch bei fiktionalen Texten von einem tatsächlichen Autor überhaupt die Rede ist (jedenfalls dann, wenn der Text nicht pseudonym oder anonym veröffentlicht wird).36 Nur, eben weil dies so ist, eignet er sich auch als privilegierter Ort für ein Spiel mit dieser Konvention, das bis zur Subvertierung gehen kann. Dabei lassen sich alle nur denkbaren Formen finden: Von der bereits erwähnten Möglichkeit der pseudonymen oder anonymen Publikation abgesehen, sind insbesondere die ›Rollenspiele‹ zu nennen, die einen Autor nicht in seiner tatsächlichen Funktion erscheinen lassen, sondern beispielsweise in einer
33 Siehe Anm. 27. 34 Searle (1975): »The Logical Status of Fictional Discourse«, S. 324. 35 Genette (1991): Fiction et diction, S. 80. Genette hält diese Bestimmung der Fiktion für eine alternative – aber letztlich gleichbedeutende – Erklärung dessen, was Searle und damit in gewisser Hinsicht auch Sidney meinen, wenn sie sagen, dass der Dichter nicht behauptet (und also nicht lügt): »dire, comme Searle, que l’auteur […] ne répond pas sérieusement des assertions de son récit […], ou dire que nous devons les rapporter à une fonction ou instance implicite ou distincte de lui (le narrateur […]), c’est dire la même chose de deux manières différentes, entre lesquelles seul le principe d’économie nous fait choisir, selon les nécessités du moment«; Genette (1991): Fiction et diction, S. 80 f. 36 Die Relevanz des Paratextes für Fragen nach der Fiktionalität eines Textes wird auch von Genette in Seuils immer wieder gestreift – so häufig, dass das Vorwort zur englischen Übersetzung des Buches darauf explizit verweisen kann: »in its complex meditations between author, publisher, and audience it broaches issues related to the adjacent realms of fiction and fact«; Macksey (1997): »Foreword«, S. xvii, vgl. auch: S. xix.
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Rolle als Herausgeber, Übersetzer oder gar Drucker. Die Spiele mit dem Namen des Autors und seiner Erwähnung im Paratext unter diversen, von seiner tatsächlichen Funktion abweichenden Rollenbeschreibungen funktionieren häufig im Modus der »Wahrheitsbeteuerung«; doch auch hier gilt oftmals Harald Weinrichs Vermutung: »Je fiktiver die Geschichte, um so zahlreicher die Wahrheitsbeteuerungen.«37 Aber auch auf diese Faustregel ist leider kein Verlass, und sie kann in diverse Richtungen falsch angewendet werden. So sind etwa die Leser, die beim Erscheinen der Geschichte des Fräuleins von Sternheim davon ausgingen, dass der Text von Wieland selbst stammt, der jedoch auf dem Titelblatt als Herausgeber fungiert, nachträglich eines Besseren belehrt worden: Er ist in diesem Fall tatsächlich ›nur‹ Herausgeber – was freilich nicht bedeutet, dass es sich nicht um eine Fiktion handeln würde, sie ist nur eben keine aus der Feder Wielands.38 Die Fiktion setzt also gleichsam eine Ebene ›tiefer‹ ein: Bei der ebenfalls auf dem Titelblatt angegebenen Versicherung, die Briefe seien »von einer Freundin derselben [i. e. des Frl. v. Sternheim] aus Original-Papieren und anderen zuverläßigen Quellen gezogen«.39 Diese Beispiele und grob angerissenen theoretischen Implikationen stecken den Umkreis der folgenden Untersuchung ab. In einer ›katalogartigen‹ Weise, die nicht zufällig an die Gliederung der Argumentation in Genettes Studie Seuils erinnert, soll anhand diverser peritextueller Elemente der Zusammenhang von Fiktion und Paratext untersucht werden – in historischer ebenso wie in theoretischer Perspektive. Der ›Katalog‹ eignet sich deshalb besonders, weil sich diese Geschichte viel weniger als chronologisch-lineare Entwicklung beschreiben lässt denn als eine Geschichte in Etappen, die sich abwechselnd einzelnen Segmenten des Paratextes verstärkt zuwendet, während andere im gleichen Zeitraum vergleichsweise stabil bleiben. Dabei ist nicht nur die Veränderung, sondern auch die Stabilität mancher Elemente signifikant, weil es, wie etwa Magné mit Hinblick auf Disclaimer formuliert, gerade die (vermeintliche) Stabilität und Konventionalität des Peritextes ist, die Abweichungen und Modifikationen besonders interessant, aber auch besonders problematisch macht.40 Die katalogartige Anlage hat zum einen den Vorteil, dass sich Veränderungen getrennt voneinander beschreiben lassen, die nicht synchron in allen Bereichen des Paratextes auftreten. Vor allem aber erlaubt sie, den Fokus darauf zu lenken, dass alle Elemente des Paratextes für eine Einschätzung des fiktionalen oder faktualen Status eines Textes relevant sind oder es zumindest sein können. Überblickscharakter ist also eher angestrebt, was die Fülle peritextueller Möglichkeiten der Fiktionsmarkierung a ngeht,
37 Weinrich (1994): Tempus. Besprochene und erzählte Welt, S. 88. 38 In einer Rezension scheint Albrecht von Haller davon überzeugt, dass Wieland der Verfasser ist, während Herder in einem Brief zumindest die Möglichkeit, dass dem so ist, kontempliert; vgl. Dane (1996): »Sophie von La Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim«, S. 172 f., Anm. 4. 39 La Roche* (1771): Geschichte des Fräuleins von Sternheim. 40 Vgl. Magné (2001): »Toute ressemblance …«.
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als was die historisch-chronologische Vollständigkeit betrifft – letztere ist ohnehin schlichtweg nicht zu leisten. Keine ›Geschichte‹ im Sinne einer umfassenden Beschreibung der Evolution ›des‹ Paratextes und seiner Beziehungen zur Fiktion ist das Ziel, sondern vielmehr eine Geschichte in Schlaglichtern, die versucht, anhand besonderer (literatur-)historischer Konstellationen die Relevanz und Funktionsweisen des Paratextes herauszustellen. Dem historischen Vergleich ist dabei immer der komparatistische Vergleich zwischen deutsch-, französisch- und englischsprachiger Literatur zur Seite gestellt – auch dieser freilich weniger, um eine ›vollständige‹ Geschichte zu schreiben, denn vielmehr, um die innerliterarische Dynamik des Peritextes deutlich zu machen, wenn etwa Wanderungsbewegungen aus der einen in die andere Literatur nachzuzeichnen sind. Ein Nachteil des Katalogs sei nicht unerwähnt, denn er führt dazu, dass sich innerhalb der einzelnen Abschnitte des Folgenden immer wieder Verweise und Vorwegnahmen oder Nachträge finden: Paratexte funktionieren selten als Einzelelemente, sondern in aller Regel als Ensemble. Paratextuellen ›Auskünften‹ zum fiktionalen oder faktualen Status eines Textes ist nicht blind zu trauen – vor allem dann nicht, wenn sie isoliert auftreten. Sie müssen vielmehr mit allen anderen Elementen korreliert und auf eventuelle Widersprüche hin abgetastet werden – und die Widersprüche zwischen einzelnen Elementen (oder zwischen einzelnen Elementen und dem Text) sind Legion. Daher wird, insbesondere wenn einzelne (Para)Texte näher untersucht werden, immer wieder auch auf andere paratextuelle Elemente verwiesen werden müssen, wenn sich beispielsweise Herausgeberfiktionen auf dem Titelblatt bereits ankündigen, aber erst im Vorwort ausgeführt werden, wenn ein Disclaimer im Text zurückgenommen wird41 oder wenn sich beispielsweise zwei Vorbemerkungen widersprechen.42 Während sich die Anlage zwar an Genettes Seuils orientiert, weicht sie in einigen Punkten deutlich davon ab. Genette weist zwar immer wieder auf die Verbindung von Fiktion und Paratext hin, in seiner Untersuchung wird dies allerdings nicht systematisch ausgearbeitet. Im Hinblick auf die Anlage der Untersuchung und ihren Gegenstand ist der zentrale Unterschied zu Genette, dass hier ausschließlich Peritexte und nicht Peri- und Epitexte behandelt werden. Dies geschieht zum einen aus praktischen Erwägungen (neben der schlicht unübersehbaren Fülle von Epitexten stellt sich, zumal bei älteren Texten, das Problem ihrer Auffind- und Verfügbarkeit), zum anderen aber – und dies ist zentral –, weil bei Genette wegen des Einschlusses von Epitexten in die Untersuchung potentiell jeglicher Kontext als Paratext gefasst werden kann: »tout contexte fait paratexte«43. In diesem Sinne wäre das Wissen um die Fiktionalität eines
41 Vgl. etwa die Ausführungen zu Wallace (2011): The Pale King, unten S. 200 ff. 42 Vgl. die beiden Vorbemerkungen zu Robbe-Grillet (1965): La maison de rendez-vous, unten S. 200. 43 Genette (1987): Seuils, S. 13. Zur Kritik an der Verbindung von Peri- und Epitext bei Genette vgl. Bunia (2010): »Mythenmetz und Moers in der ›Stadt der träumenden Bücher‹«, S. 196: »Dass Genette Peri- und Epitext als ein Phänomen, den Paratext, begriffen hat, erscheint inzwischen als Missgriff […].«
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Textes (zumal eines kanonischen Textes wie Robinson Crusoe) ein ›Epitext‹, der die Lektüre bereits von Beginn an konditioniert. Es soll nicht abgesprochen werden, dass dies natürlich der Fall sein kann (und häufig auch ist), dies aber betrifft andere Fragen, als die der vorliegenden Untersuchung. Der Erweiterung des Paratextbegriffs, die Genette andeutet, der er aber weiter nicht nachgeht, wird hier eine Verengung entgegen gesetzt: Nur Peritexte interessieren und nur solche, die Genette als ›originale‹ bezeichnet hätte, also solche, die mit dem ersten Erscheinen des Textes vorliegen (wobei hier freilich im Einzelfall komplizierteren Editionslagen nachgegangen werden muss und in manchen Fällen frühe zeitgenössische Editionen herangezogen werden, wenn sie auch nicht die Erstausgabe sind). Damit sei nicht gesagt, dass Genettes Erweiterung grundsätzlich falsch ist. Sie scheint als Befund in vielen Fällen tatsächlich zuzutreffen: Woher ›wir‹ wissen, dass beispielsweise Robinson Crusoe ein fiktionaler Text ist, lässt sich vermutlich nicht auf einen einzelnen (Para-)Text zurückführen. Vielmehr ist ein komplexes Gefüge aus literatur- und populärkulturellem Wissen dafür verantwortlich, wie wir einen Großteil kanonischer und weniger kanonischer Werke als Fiktion oder Nicht-Fiktion rezipieren. Dieses gilt es – ›für die Dauer der Untersuchung‹ – nach Möglichkeit zurückzustellen, um die Paratexte selbst sprechen zu lassen. Dabei soll nicht gesagt werden, dass damit einem historischen Rezeptionsprozess näher zu kommen sei, als wenn man Epitexte und kulturelles Wissen berücksichtigte: Kein Rezeptionsvorgang kommt gänzlich ohne diese aus. Abgesehen davon, dass die historischen Epitexte und kulturellen Wissenskonstellationen in vielen Fällen schlicht nicht überprüf- und feststellbar sind, lässt sich auf diese Art ein Spiel der Peritexte nachstellen, die gleichsam ›so tun‹, als seien sie autonom. Wie sich Texte mittels ihrer Peritexte ›präsentieren‹, interessiert hierbei, und weniger, wie aufgrund von kontextuellen Informationen mit Texten umgegangen wird. Im Sinne von Waltons »silly questions«44 könnte man dies wie folgt reformulieren: Die Untersuchung stellt sich gegenüber Text und Peritext zunächst ›dumm‹. Innerhalb der Peritexte ergeben sich aufgrund der Fragestellung wiederum Abweichungen gegenüber Genettes Anlage der Studie Seuils. Der ›Titelei‹ ist, nach theoretischen Vorüberlegungen, das erste Kapitel gewidmet. Unter diesem Begriff, der dem Buchwesen entliehen ist, sollen Autornamen, Titel und Gattungsbezeichnungen ebenso untersucht werden wie Verlags- und bibliographische Angaben. Diese Zuordnung versteht sich daher als rein lokale: Der Begriff ›Titelei‹ zeigt an, wo im Text sich diese paratextuellen Elemente befinden, und sagt noch nichts über deren Funktion oder ›Herkunft‹ aus – so ist es beispielsweise durchaus denkbar, dass Titel von einem Verleger stammen; oder aber dass Angaben, die eher einem Verlag zugeordnet werden, vom Autor ›manipuliert‹ wurden. Der im engeren Sinne verlegerische Paratext, der anschließend behandelt wird, unterscheidet sich zumindest in Teilen von dem, was Genette unter dieser Rubrik versteht: Ähnlich wie in Seuils, wird es hier am Rande
44 Siehe Anm. 18.
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auch um Verlagsreihen gehen, darüber hinaus aber auch um schlichte Verlagsangaben, die in bestimmten historischen Konstellationen durchaus relevante Hinweise auf den fiktionalen/faktualen Status eines Textes liefern können. So fügen etwa die falschen Verlagsangaben zur Zeit der »proscription des romans«, des Romanverbots im Frankreich des 18. Jahrhunderts, der Fiktion der Texte noch diejenige ›Fiktion‹ hinzu, dass sie außerhalb Frankreichs gedruckt wurden – oder aber in selbst gänzlich fiktiven Städten und von fiktiven Verlegern. Darüber hinaus werden neuere Formen der Katalogisierung und bibliographischen Erfassung von Büchern in deren Peritexten diskutiert, die ebenfalls Hinweise auf die Fiktionalität des Textes aufnehmen können. Vorworten ist ein eigenes Kapitel gewidmet, das die Funktionsweisen und ›Moden‹ dieser mitunter ausschweifenden peritextuellen Gattung beschreibt. Sie sind insbesondere in den früheren Phasen des hier untersuchten Zeitraums ein zentraler Ort nicht nur der Inszenierung und Markierung von Fiktion, sondern auch der Reflexion über Fiktion im Allgemeinen und über die Gattung des Romans im Besonderen. Zentrale Texte der Romandiskussion sind Vorworte zu Romanen oder erscheinen zusammen mit diesen im Peritext, wie etwa schon Huets einflussreicher Traitté de l’origine des romans.45 Vorworte sind dabei insbesondere derjenige Ort des Übergangs (oder, um Genettes Titel aufzugreifen: Schwellen), an dem sich mit Herausgeber und Manuskriptfiktionen jener Transfer von Autor zu Erzähler manifestiert, der für Fiktion gerade charakteristisch ist. Zugleich sind sie der Bereich, in dem Statusbehauptungen vielleicht am kategorischsten ausgesprochen werden – sieht man einmal von den späteren Disclaimern ab. Letzteren ist ein eigenes Kapitel gewidmet, denn sie lassen sich, wie zu zeigen sein wird, aufgrund der ihnen eigenen Dynamik nicht einfach unter die Vorworte subsumieren. Dabei wird, anders als bei Genette, der den Begriff Disclaimer sorgsam meidet und stattdessen die Bezeichnung »protestation de fictivité«46 (in etwa, aber im Deutschen noch etwas ungelenker: Fiktivitätsbeteuerung) prägt, auf den englischen Begriff zurückgegriffen, der den rechtlichen Aspekt dieser Peritexte reflektiert: Ein Disclaimer ist immer ein legal disclaimer und beruft sich zumindest auf eine rechtliche Relevanz, wenn er sie auch möglicherweise nicht erreicht. Als ›piktoriale Peritexte‹47 lassen sich Abbildungen in Paratexten beschreiben, die einen Text begleiten. Faksimilierte Abbildungen, Photographien, Kartendarstellungen sind Beispiele piktorialer Elemente, die einen Anspruch der Texte auf Faktizität (oder eine Abweichung davon) zumindest unterstützen können. Die Einbeziehung dieser peritextuellen Elemente erweitert die Diskussion daher um eine medienspezifische
45 Huets Abhandlung erscheint im Peritext zu Madame de La Fayettes Roman Zayde; La Fayette* (1670): Zayde: Histoire Espagnole par Monsieur de Segrais. Avec un traitté de l’origine des romans, par Monsieur Huet. Der Roman erscheint unter dem Namen des mit der Autorin befreundeten Segrais. 46 Genette (1987): Seuils, S. 200. 47 Zu diesem Begriff siehe Kap. 6, Anm. 1.
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Komponente, die anerkennen muss, dass Fiktion und Nicht-Fiktion einerseits kein auf nur ein Medium – das des Texts – beschränktes Phänomen darstellen, und dass sich andererseits die verschiedenen48 Medien in einer Medienmischung49 der jeweils anderen ›bedienen‹ können, um ihren fiktionalen/faktualen Status zu beeinflussen, mit ihm zu spielen oder ihre Rezeption diesbezüglich zu manipulieren. In einem abschließenden Kapitel soll es um peritextuelle Elemente gehen, die den Schluss, das Ende markieren. Ausgehend von der verschiedentlich formulierten Beobachtung, dass fiktionale Textformen ihr Ende anders zu markieren scheinen als nichtfiktionale, wird ein Blick auf die Geschichte dieser ›terminalen‹50 Paratexte nötig sein, um diese Einschätzung zwar nicht zu verwerfen, sie aber auf eine konkrete historische Situation einzuschränken. Ein Nachteil (und zugleich vielleicht eine Tugend) der ›katalogartigen‹ Anlage ist der, dass deutlicher hervortritt, was bei der Katalogisierung außen vor bleibt, was nicht aufgenommen oder schlicht übersehen wird. Da sicherlich einiges übersehen worden ist, sollen hier zumindest zwei Bereiche angesprochen werden, die wissentlich nicht aufgenommen wurden: Kapitelüberschriften und Fußnoten. Damit soll nicht abgesprochen werden, dass beide zumindest potentiell durchaus relevante Hinweise für die Frage nach Fiktion oder Nicht-Fiktion geben können.51 In einer großen Zahl der Fälle sind dies aber Hinweise, die sich auch anderweitig in den Peritexten realisieren. So spielen etwa diverse Kapitelüberschriften in Tom Jones zwar immer wieder auf die ›Gemachtheit‹ des Textes an, dies gilt aber ebenso für die Überlegungen des Erzählers in jedem der Eröffnungskapitel der achtzehn Bücher.52 Ebenso finden sich beispielsweise in den Fußnoten im dritten Band von Robinson Crusoe Distanzierungen einer Herausgeberinstanz, die den Authentizitätsanspruch des (und das heißt an dieser Stelle: Robinsons) Erzähldiskurses untergraben – dies aber leisten bereits
48 Trotz kritischer Positionen, die eine Differenzierung der Medien Text und Bild für unzulässige Vereinfachungen, ja »unhaltbare Essentialisierungen« (Vosskamp/Weingart (2005): »Sichtbares und Sagbares«, S. 9) halten, wird hier von dieser basalen Unterscheidung ausgegangen. Die verschiedenen ›Medienmischungen‹ werden dabei als Konstellationen von »konventionell als distinkt angesehenen Ausdrucks- oder Kommunikationsmedien« betrachtet; Wolf (2013): »Intermedialität«, S. 44; vgl. auch: Rajewsky (2004): »Intermedialität ›light‹?«, S. 72. 49 ›Medienmischung‹ soll an dieser Stelle einfach einen möglichst ›breiten‹ Begriff für das Zusammenspiel oder die Verbindung verschiedener Medien in einem Träger darstellen. Die Diskussion, ob diese Mischung als inter-, poly-, trans- oder multimedial zu bezeichnen ist, hängt vom Einzelfall ab – und noch mehr vom jeweiligen theoretischen Rahmen. 50 So die treffende Bezeichnung Shermans; vgl. Sherman (2011): »The Beginning of ›The End‹«. 51 Vgl. Dürrenmatt (2004): »Ce que les notes disent de la fiction«. 52 Nicht nur die kontinuierliche ironische Distanz der Inhaltszusammenfassungen lässt darauf schließen, es finden sich auch explizite Bezüge auf die Art und Weise der Darstellung, wie etwa in der Überschrift zum 7. Kapitel des 6. Buches: »A picture of formal Courtship in Miniature, as it always ought to be drawn, and a Scene of a tenderer Kind, painted at full length«; Fielding (1749): The History of Tom Jones, Bd. 2, S. 269.
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die Vorworte.53 Darüber hinaus können sich literarische Texte durch einen Fußnotenapparat oder durch eine Literaturliste den typographischen Anschein eines wissenschaftlichen Textes geben –54 aber auch in diesem Fall werden sie sich selten allein auf dieses typographische Dispositiv verlassen.55 Zudem erscheint dies bei genauerem Hinsehen als historische Vereinfachung, sind Fußnoten doch beispielsweise in literarischen Texten des 18. Jahrhunderts keine Seltenheit und damit kein ›Fremdkörper‹, der automatisch Signalwirkung hinsichtlich der Faktualität des Textes entfalten würde. Der historische Fokus dieser Untersuchung liegt auf dem 18. Jahrhundert einerseits und dem 20. Jahrhundert andererseits. Damit soll keineswegs nahegelegt werden, dass Fiktionsmarkierungen im 19. Jahrhundert keine entscheidenden Veränderungen erfahren. Etwa Gattungsbezeichnungen wie ›Roman‹ entwickeln sich gerade in diesem Zeitraum entscheidend weiter und auch bei Herausgeberfiktionen finden sich im 19. Jahrhundert Beispiele, die neue Maßstäbe setzen.56 Diese Phänomene werden hier am Rande berücksichtigt, bilden aber nicht das Zentrum der Überlegungen. Denn die Entwicklungen im 18. Jahrhundert sind demgegenüber von fundamentaler Natur, betreffen sie doch den »rise of the novel«57 in seinem Innersten. Der Roman als Gattung ist im 18. Jahrhundert von einer Diskussion begleitet, die seine moralische und ästhetische Rechtfertigung betrifft. An zentraler Stelle geht es dabei immer auch um die Frage nach der Fiktion, denn mit dem Roman – und insbesondere der ›Realistik‹ des Romans –58 wird die Frage nach der Tatsächlichkeit der dargestellten Ereignisse akut, die zuvor nur eine untergeordnete Rolle gespielt hatte.59 Der Vorwurf der Lügenhaftigkeit gegenüber dem Roman verschärft sich gerade vor dem Hintergrund eines neuen Wirklichkeitsbegriffs, der eine scharfe Trennung von fiktionalen und faktualen Darstellungen erst ermöglicht:60 Der Rückgriff auf die Theoriegeschichte kann […] zeigen, daß ein strenger Fiktionsbegriff, der scharf die Grenze zwischen Tatsachen und Erfundenem betonte, keine starke Tradition hatte und vielmehr erst mit der Genese neuer Wirklichkeitsbegriffe zu Beginn des 18. Jahrhunderts an Einfluß gewann. Die Positionen der radikalen Fiktionskritik resultieren deutlich aus dem neuen,
53 Siehe Kap. 4. 54 Deutlich ironische Beispiele finden sich etwa in: Perec (1991): Cantatrix sopranica L. et autres écrits scientifiques. 55 Zum Begriff des ›typographischen Dispositivs‹ vgl. Wehde (2000): Typographische Kultur, S. 14. 56 Siehe die Ausführungen zu Hoggs Private Memoirs, unten S. 248. 57 Watt (1957): The Rise of the Novel. 58 Watt bestimmt als zentralen Aspekt des Romans des 18. Jahrhundert dessen »formal realism«; Watt (1957): The Rise of the Novel, S. 34 u. passim. Ähnlich May: »Aucune allégorie, aucun masque historique ou géographique ne vient plus s’interposer entre son univers [sc. du lecteur] et celui que lui offre le romancier«; May (1963): Le dilemme du roman au XVIIIe siècle, S. 49. Zum Begriff ›Realistik‹ siehe Anm. 6. 59 Vgl. Berthold (1993): Fiktion und Vieldeutigkeit, S. 62. 60 Vgl. Davis (1983): Factual Fictions, S. 71.
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in kalvinistischer Tradition gereiften und verbreiteten Realitätsbegriff, der die Welt des Faktischen, das der Fall ist, klar abzugrenzen gestattete gegen alles Erdichtete und Fiktive.61
Mit dem Aufkommen eines solchen Wirklichkeitsbegriffs und der damit verbundenen Abwertung alles ›Erfundenen‹ verschärft sich auch die Kritik am Roman noch einmal, die zuvor stärker an moralische Kategorien gebunden war. McKeon hält als eine der zentralen Herausforderungen für den Roman fest, dass er eine Reaktion auf die sich nun in aller Schärfe stellende Frage der Wahrheit finden müsse: It [i. e. the novel] attains its modern, »institutional« stability and coherence at this time because of its unrivaled power both to formulate, and to explain, a set of problems that are central to early modern experience. These may be understood as problems of categorial instability, which the novel, originating to resolve, also inevitably reflects. The first sort of instability with which the novel is concerned has to do with generic categories […]. The instability of generic categories registers an epistemological crisis, a major cultural transition in attitudes toward how to tell the truth in narrative.62
Bevor allerdings mit dem Roman eine stabile Kategorie geschaffen ist, findet sich eben jene Instabilität gerade auch in der paratextuellen Selbstreflexion und Selbst betrachtung des Romans (der sich noch nicht so bezeichnen will). Mit Zawisza, die das 18. Jahrhundert auch als Age d’or du péritexte bezeichnet, lässt sich konzise festhalten: »la polémique autour du roman et de la fiction trouve son terrain principal dans la préface et le titre«63 – im Paratext also. Eine der zentralen Reaktionen auf die Legitimationsproblematik ist nicht etwa, dass diese scharfe Trennung in Frage gestellt wird, sondern vielmehr, dass in den Paratexten ihrerseits die Trennung zwischen Fakt und Fiktion stärker betont wird – allerdings freilich nicht in dem Sinne, dass die Fiktion des Textes offen eingestanden wird, sondern genau im Gegenteil. Die klassische Forderung nach Wahrscheinlichkeit wird radikalisiert: Die aus der literarischen Tradition überlieferte Möglichkeit, den Legitimationsvorwürfen mit der ›Verwahrscheinlichung‹ der Erzählliteratur zu begegnen, wurde nun noch zur Radikalität der Faktizitätsbehauptung und gänzlichen Selbstverleugnung des literarischen Erzählens gesteigert. […] Diese, Tatsächlichkeit vortäuschende, Erzählweise unterstrich wiederum gerade die Differenz von Fiktion und Realität.64
61 Berthold (1993): Fiktion und Vieldeutigkeit, S. 68. Vgl. Vosskamp (1973): Romantheorie in Deutschland, S. 121–133. 62 McKeon (1987): The Origins of the English Novel, S. 20. 63 Zawisza (2013): L’Âge d’or du péritexte, S. 305. 64 Berthold (1993): Fiktion und Vieldeutigkeit, S. 74. Vgl. auch: Geissler (1984): Romantheorie, S. 25, McKeon (1987): The Origins of the English Novel, S. 53.
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Es wird im Folgenden zu zeigen sein, wie sich dies in den Paratexten widerspiegelt und welche Entwicklungen sich in diesen Verfahren ausmachen lassen. Dabei wird auch gezeigt, wie gerade aus den paratextuellen Inszenierungen ein Modell von Fiktion emergiert, das schließlich erst einen offenen Umgang mit der Fiktion erlaubt. Gerade die (Selbst-)Reflexion über den eigenen Status ist für den Roman des 18. Jahrhunderts charakteristisch, der sich in einer Atmosphäre bewegt, die sich nur als »clairement hostile«65 bezeichnen lässt. Von ganz anderer Art ist die Entwicklung im 20. Jahrhundert, die jedoch erneut die Selbstreflexion der Gattung (gerade in Paratexten) ins Zentrum rückt. Während sich für den Roman des 18. Jahrhunderts argumentieren lässt, dass er ein Moment einer Entwicklung darstellt, in der die Trennung von Fiktion und Nicht-Fiktion neu ›sortiert‹ wird (wenn auch das Verfahren zunächst gerade darin besteht, diese Grenze ›überspielen‹ zu wollen), treten im 20. Jahrhundert vermehrt Positionen auf, die genau diese Grenze und die damit verbundenen narrativen Traditionen problematisieren. Diese Verfahren reichen vom (postmodernen)66 Spiel bis hin zu durchaus ›ernsten‹ Verhandlungen etwa der autobiographischen Möglichkeiten des Romans. In diesem Umspielen der Grenzen von faktualen und fiktionalen narrativen Texten ist erneut der Paratext ein zentrales Element.67 Sowohl im 18. als auch im 20. Jahrhundert lässt sich daher vermehrt eine Selbstreflexion der Gattung Roman beobachten, deren zentraler ›Ort‹ der Paratext ist. Die Beobachtung geht in diesem Zusammenhang zurück auf unterschiedliche Verfahren der Lektüre und, damit verbunden, unterschiedlich enge beziehungsweise weite Perspektiven auf literarische Texte. Während im Kapitel zu Vorworten und anderen ›Liminarien‹ ein close reading von – mehr oder weniger – kanonischen Texten im Vordergrund steht, werden beispielweise im Kapitel zur Titelei auch schlicht Bibliographien auf Entwicklungen hin durchsucht. Diese Verfahren, die sich vielleicht als dem distant reading,68 wie es derzeit im Kontext der digital humanities diskutiert und praktiziert wird,69 verwandt beschreiben lassen (wobei sie hier nicht auf digitalen V erfahren
65 May (1963): Le dilemme du roman au XVIIIe siècle, S. 6. 66 Zum Begriff der ›Postmoderne‹ siehe unten S. 35. 67 Der Begriff ›Umspielen‹ soll an dieser Stelle auch anzeigen, dass, wenn im Folgenden von ›Spiel‹ die Rede ist, damit nicht notwendig ein rein ludisches Moment gemeint ist. Vielmehr ist das Umspielen der Grenze und das Spiel mit (beispielsweise) traditionellen Erwartungen an eine Gattung zunächst in einer (in der Etymologie des Spielbegriffs angelegten; vgl. »Spiel«, in: Paul (2002): Deutsches Wörterbuch, S. 937) Verwendungsweise des Wortes zu verstehen, die sich in der Formulierung ›Spiel haben‹ oder im Begriff ›Spielraum‹ erhalten hat. Es geht also vorrangig darum, dass etablierte Kategorisierungen hinterfragt und möglicherweise ›gelockert‹ werden – ob dies dann für ein vergnügliches Spiel funktionalisiert wird oder sich als ›ernster‹ Beitrag zu drängenden Problemen versteht, ist damit noch nicht gesagt. 68 Vgl. Moretti (2013[2000]): »Conjectures on World Literature«, S. 47–49. 69 Einen Überblick über diverse digitale Verfahren bieten Jänicke, et al. (2015): »On Close and Distant Reading in Digital Humanities«.
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beruhen), sind dem Untersuchungsgegenstand geschuldet. Moretti hatte bereits in einem vergleichsweise frühen Aufsatz latent auf die Verbindung von distant reading und Paratexten hingewiesen: »A larger literary history requires other skills: sampling; statistics; work with series, titles, concordances, incipits […].«70 Explizit wird hier auf die Beschäftigung mit Paratexten verwiesen als Möglichkeit, eine umfassendere literaturhistorische These zu stützen, deren Absicherung durch ein close reading – aus ganz pragmatischen Gründen –71 nicht machbar wäre. Das Ziel der folgenden Überlegungen ist allerdings weniger, mittels Paratextlektüren etwas über eine allgemeinere Entwicklung der Literatur auszusagen, sondern vielmehr den Paratext selbst als Gegenstand zu betrachten, in dem eine Selbstreflexion der Gattung Roman und eine Reflexion auf die Möglichkeiten und Grenzen von Fiktion stattfindet. Um diese Selbstreflexion allerdings adäquat beschreiben zu können, ist dezidiert beides nötig: einerseits der an einem breiteren Ausschnitt der literarischen Produktion geführte Nachweis, dass sich paratextuelle Elemente in einem bestimmten historischen Abschnitt verändern, während sie in anderen Zeiträumen weitgehend konstant bleiben, und andererseits die genaue Lektüre einzelner Paratexte. Dass bestimmte paratextuelle Konfigurationen zur Norm werden können, dass sie in einem bestimmten Zeitraum topisch werden, lässt sich nur in einem breit angelegten Überblick feststellen. Wie aber im Einzelfall Paratexte auf diese Norm reagieren, wie sie den zitierbar gewordenen Topos aufgreifen und sich vielleicht davon absetzten: Dies kann nur die genaue Lektüre zeigen. Ziel und Anspruch der folgenden Überlegungen ist also eine (notwendig selektive) Verbindung von beiden Verfahren, close und distant reading, umfangreichere Materialsichtung und genauere Lektüre einzelner Paratexte. Es soll nicht nur anhand eines kleinen, kanonisch gewordenen Ausschnittes diskutiert werden, wie sich die paratextuelle Markierung, Signalisierung und Selbstreflexion von Fiktion entwickelt – zugleich wird es kaum gelingen, »the great unread«72 detailliert aufzuarbeiten. Indem zwei unterschiedlich weite Perspektiven miteinander verbunden werden, wird jedoch eher sichtbar, worin die Leistung und Entwicklung einzelner (Para-)Texte besteht – schlicht weil der Hintergrund, von dem sie sich absetzen, in den sie sich einschreiben, mit dem sie interagieren oder den sie kommentieren, besser ausgeleuchtet ist.
70 Moretti (2000): »The Slaughterhouse of Literature«, S. 208 f. 71 »Reading ›more‹ seems hardly to be the solution. Especially because we’ve just started rediscovering what Margaret Cohen calls the ›great unread‹. ›I work on West European narrative, etc. ….‹ Not really, I work on its canonical fraction, which is not even 1 per cent of published literature. And again, some people have read more, but the point is that there are thirty thousand nineteenth-century British novels out there, forty, fifty, sixty thousand—no one really knows, no one has read them, no one ever will«; Moretti (2013[2000]): »Conjectures on World Literature«, S. 45. 72 Cohen (1999): The Sentimental Education of the Novel, S. 23.
2 Paratext- und Fiktionstheorie Paratext- und Fiktionsforschung haben in den vergangenen Jahren eine durchaus reiche Forschungs- und Diskussionslandschaft entfaltet; sie sind jedoch kaum je systematisch gemeinsam ins Blickfeld gerückt. Dies ist umso erstaunlicher, als der Zusammenhang zwischen beiden nicht nur in Genettes Studie Seuils nahegelegt wird, sondern sich auch in anderen Zusammenhängen immer wieder Verweise auf die intrikate Verbindung der beiden Bereiche finden. So hält etwa Fludernik in einem Kontext, der sich weder explizit mit Fiktions- noch mit Paratexttheorie, sondern mit Identität und Alterität in narrativen Texten beschäftigt, fest: Alterity plays a role even formally in narratives. This is the case most strikingly in paratextual formats and framing techniques. Paratexts such as title pages and chapter headings, marginalia and annotations or footnotes provide a frame that gives access to, or mediates between, the world of the reader and the interior of the (fictional) world. […] In particular, the deployment of framing techniques often serves to prevaricate on the truth conditions of the tale, thereby thematizing the alterity of the narrative.1
Dass es neben solchen und ähnlichen beiläufigen Bemerkungen, die aber bereits zentrale Aspekte und offensichtliche Probleme herausgreifen, kaum systematische Verbindungen zwischen Paratext- und Fiktionstheorie gibt, ist vermutlich nicht zuletzt in der unterschiedlichen Dynamik der Forschungsgebiete begründet, die über eine je eigene Geschichte verfügen und damit auch – jedenfalls teilweise – in verschiedenen Theorietraditionen stehen. Während die Fiktionsforschung am Rande immer wieder auf die Funktion von Paratexten bei der Signalisierung von Fiktion hingewiesen hat (mitunter bevor der Begriff ›Paratext‹ zur Verfügung stand), so besteht weiterhin ein deutliches Defizit an detaillierteren Untersuchungen. Hoops Klage aus dem Jahr 1979 bleibt aktuell: Als Fiktionalitätsindikatoren, mit deren Hilfe dem Leser signalisiert wird, daß es sich um einen fiktionalen Text handeln soll, kommen in erster Linie traditionelle literarische Gattungsbezeichnungen wie »Roman« usw., […] entsprechende Vorwörter, bestimmte Vorkommenskontexte wie »Theater« oder »Dichterlesung«, schließlich so schwer exakt fixierbare Faktoren wie Verlag, Titel, Aufmachung des Buches (Klappentext), Länge und Untergliederung usw. in Frage. Zu diesen Problemen liegen bisher noch keine brauchbaren empirischen Forschungsergebnisse vor […]. Schwierig dürfte insbesondere die Feststellung von Fiktionalitätsindikatoren für weiter zurückliegende Epochen sein.2
1 Fludernik (2007): »Identity/Alterity«, S. 266. 2 Hoops (1979): »Fiktionalität als pragmatische Kategorie«, S. 297 f. https://doi.org/10.1515/9783110578942-002
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Genettes Paratextbegriff ermöglicht dabei eine Herangehensweise, die diese von der Fiktionstheorie aufgeworfenen Fragen unter einem Begriff behandelt. Die Paratextforschung beginnt sicherlich nicht erst mit Genettes Studie Seuils, zuvor aber widmet sie sich in aller Regel lediglich Teilgebieten dessen, was Genette konzeptuell als Paratext fasst. Auf diese Untersuchungen soll hier zunächst nicht systematisch eingegangen werden, auf ihre Ergebnisse wird allerdings in den folgenden Kapiteln zurückgegriffen werden, da sie zentrale Hinweise zur historischen Entwicklung von, beispielsweise, Titeln und Vorworten liefern. Erst mit Genettes Studie allerdings rückt das ›Ganze‹ des Paratextes in den Blick. Es ist eine der zentralen Leistungen von Seuils, dass Genette darin eine allgemeine Formulierung für durchaus disparate Bereiche findet, zwischen denen jedoch funktionale und strukturelle Äquivalenzen bestehen, die eine gemeinsame Betrachtung erlauben. Im Anschluss an Genette hat sich ›der Paratext‹ als eigener und einheitlicher Forschungsgegenstand etablieren können: »Der Genettesche Begriff des Paratextes setzt eine Unterscheidung, wo vorher viele herrschten«3. Der Paratext ist inzwischen mit einer Fülle an Publikationen bedacht worden, die den Blick auf andere Medien oder historische Teilaspekte lenken, oder aber auf die theoretischen Implikationen und Probleme des Genette’schen Paratextbegriffs.4 Die Fiktionsforschung hingegen ist selbstverständlich wesentlich älter als die Paratextforschung im engeren Sinne. Müsste man einen Beginn des Nachdenkens über Fiktion angeben, so würde die Antwort wohl spätestens mit Aristoteles’ Poetik einsetzen.5 Diese Geschichte ist im Einzelnen kaum nachzuzeichnen, weshalb hier vorrangig neuere Untersuchungen thematisiert werden sollen – und auch diese nur, soweit sie Anschlussmöglichkeiten für die Paratexttheorie liefern.6 Dabei sind insbesondere solche Untersuchungen von Belang, die ›Erfundenheit‹ thematisieren, eine Unterscheidung der Verantwortungsbereiche (zwischen fiktionsexternem Autor und fiktionsinternen Instanzen) verlangen oder Konzepte von möglichen Welten einführen. Zentrale Aspekte sind darüber hinaus die Frage nach der ›Erkennbarkeit‹ von Fiktion und, damit zusammenhängend, die Thematisierung von Fiktionssignalen. Beide sind auf den Rezeptionsprozess bezogen, der immer wieder mit Vertragssemantiken in Verbindung gebracht worden ist oder auch mit einem Institutions-Begriff. Dies deutet auf
3 Dembeck (2007): Texte rahmen, S. 7. 4 Nicht weiter thematisiert werden hier Forschungen, die einen Paratextbegriff zugrunde legen, der sich auf denjenigen Genettes vor der ›Reformulierung‹ in Palimpsestes beziehen. Diese Begriffsverwendung findet sich beispielsweise noch in einem jüngeren Sammelband; vgl. Alexander/Lange/ Pillinger (Hg.) (2010): In the Second Degree. Die einzelnen Beiträge weichen allerdings teilweise von dieser Begriffsverwendung ab und verwenden den Paratextbegriff, wie er in Genettes Seuils gefasst ist; vgl. Ambühl (2010): »Trojan Palimpsests«, S. 101, Anm. 8. 5 Rösler beleuchtet die ›Vorgeschichte‹ und beschreibt eine Entwicklung von Homer bis Aristoteles; vgl. Rösler (1980): »Die Entdeckung der Fiktionalität in der Antike«. 6 Umfassendere Hinweise auf die ›Forschungslandschaft‹ der Fiktionstheorie finden sich beispielsweise in Zipfel (2001): Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität sowie Bunia (2007): Faltungen, S. 29–98.
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eine Konventionalisierung beziehungsweise Habitualisierung (oder auch: Erziehung) im Umgang mit Fiktion hin, die daraufhin zu befragen ist, ob sie sich auf Paratext traditionen abbilden lässt. Nicht zuletzt ist die historische Dimension der Fiktion von Belang, die im Verhältnis zur Geschichte des Paratextes zu beschreiben ist. Ferner soll ein kurzer Ausblick auf gegenwärtige psychologische beziehungsweise kognitions wissenschaftliche Forschungen zur Fiktion hinweisen, die beginnen, die Frage zu untersuchen, wie Leser mit (paratextuellen) Hinweisen zum Status eines Textes umgehen und welche Auswirkungen diese auf die Rezeption haben könnten. Zunächst aber sollen vorab einige terminologische Bemerkungen erfolgen, denn die Geschichte insbesondere der Fiktionsforschung hat immer wieder erwiesen, dass Missverständnisse gerade aus dem ungeklärten Gebrauch zentraler Termini resultieren. Im Falle der Paratexttheorie stellt sich dies dagegen aufgrund der eben bereits angesprochenen Rolle von Genettes Studie Seuils sehr einfach dar: Dort finden sich die zentralen Begriffe in der Form, wie sie auch hier verwendet werden. Die basale Unterscheidung in Epi- und Paratext etwa wird begrifflich beibehalten, wenn sie auch inhaltlich problematisiert wird (siehe unten S. 26 f.). Im Falle der Fiktionstheorie scheint dagegen eine Explikation bestimmter zentraler Begriffe umso notwendiger, als diese in den herangezogenen Theorien nicht notwendigerweise einheitlich und übereinstimmend gebraucht werden, was durch die mitunter gravierenden Unterschiede in den verschiedenen Sprachen noch verstärkt wird: im Englischen etwa bedeutet fiction mitunter schlicht ›Belletristik‹. ›Fiktion‹ soll demgegenüber hier generell als Oberbegriff dienen für ein (literarisches)7 Phänomen, das bei näherem Hinsehen auf einer komplexen, historisch gewachsenen Möglichkeit eines bestimmten Umgangs mit Texten beruht, die es im Einzelnen zu beschreiben gilt. Oberbegriff ist ›Fiktion‹ deshalb, weil einerseits ein konkretes Werk als ›Fiktion‹ bezeichnet werden kann,8 andererseits aber die Konvention selbst mit diesem Begriff belegt werden kann – dies erschließt sich aus dem Kontext. Andererseits – und dies ist die zentrale Unterscheidung – lässt sich Fiktion in der hier verwendeten Terminologie zum einen mit Hinblick auf die Ebene der Erzählung untersuchen als ›Fiktionalität‹, zum anderen aber mit Hinblick auf die Ebene der Geschichte als ›Fiktivität‹. 9
7 Damit soll nicht nahegelegt werden, dass Fiktion ein ausschließlich literarisches Phänomen ist: Selbstverständlich können auch andere Medien und Kunstformen Fiktionen hervorbringen. Die vorliegende Studie beschäftigt sich jedoch vorrangig mit literarischen Fiktionen und bezieht Filme nur dann mit ein, wenn die jeweiligen Aspekte denen der Literatur vergleichbar erscheinen. Weder soll also Literatur als einziger Ort der Fiktion begriffen werden, noch soll Fiktion als Phänomen verstanden werden, das sich transmedial durch identische Funktionsweisen und Mechanismen auszeichnet. 8 Dies ist dann in der Regel eine ›verkürzte‹ Formulierung für ›fiktionales Werk‹. 9 Diese Terminologie darf inzwischen im deutschsprachigen Raum als gängige Unterscheidung gelten und ist in aller Klarheit etwa bei Zipfel (2001): Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. 68–181 formuliert. In der englischen- und französischsprachigen Forschung ist die Unterscheidung weniger gebräuchlich, sodass fictional beziehungsweise fictif mitunter beide Seiten der Unterscheidung bezeichnen können.
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Ein Umgang mit Texten nach dem Muster der Fiktion behandelt diese also (um auch die jeweiligen Adjektive einzuführen) als ›fiktionale‹ Texte; Entitäten ›in‹ diesen Texten (also Figuren, Gegenstände, Orte, Geschehnisse) werden als ›fiktive‹ Entitäten bezeichnet. Dabei soll davon ausgegangen werden, dass diese Entitäten in einer ›fiktiven Welt‹ zu verorten sind (siehe S. 67). Anders formulieren lässt sich der Zusammenhang durch die jeweiligen Abhängigkeitsverhältnisse: Ein Roman bringt eine fiktive Welt und in dieser Welt ›befindliche‹ fiktive Entitäten hervor, ist selbst jedoch fiktional und nicht fiktiv – er lässt sich in unserer, tatsächlichen Welt lesen, während seine Figuren in der fiktiven Welt existieren. Selbstverständlich ist dabei eine Verschachtelung der Ebenen möglich:10 Ein fiktionaler Text kann eine fiktive Welt evozieren, die wiederum Texte enthält, die selbst eine (weitere) fiktive Welt hervorbringen; diese Texte wären dann auf einer ersten Ebene als fiktiv (mit Bezug auf die tatsächliche Welt), auf einer weiteren Ebene aber als fiktional (innerhalb der fiktiven Welt des ersten Texts) zu bezeichnen – sie sind zudem innerhalb dieser Welt real. Als Gegenbegriff zu ›fiktional‹ soll hier der Terminus ›faktual‹ verwendet werden; Gegenbegriff zu ›fiktiv‹ ist, wie bereits angedeutet, ›real‹, wobei beide Begriffe immer mit Bezug auf die jeweilige Welt gedacht sind, also letztlich eine verkürzte Formulierung darstellen für ›real/fiktiv in einer bestimmten Welt‹; erfolgt keine genauere Bestimmung, so ist als Bezugspunkt die tatsächliche Welt anzunehmen. Nun existieren jedoch selbstverständlich fiktionale Texte, die (unter anderem oder gar ausschließlich) reale Entitäten beschreiben, deren Welt also mitunter bis ins Detail der realen ähneln kann. Entgegen einigen gängigen Fiktionstheorien sollen diese Entitäten jedoch dennoch als ›fiktiv‹ bezeichnet werden. Dies hat diverse Gründe: Zum einen ist es im Sinne der »Weltsemantik«11 folgerichtig, dass eine Welt als abgeschlossenes Kontinuum gedacht werden sollte, das keine ›Mischwesen‹ enthält (also etwa reale Figuren in fiktiven Welten). Wenn ein Text daher als fiktionaler rezipiert wird, so wird eine fiktive Welt angenommen. Damit ist zugleich gesagt, dass ›Erfundenheit‹ und ›Fiktivität‹ nicht gleichbedeutend sind.12 Als ›erfunden‹ soll bezeichnet werden,
10 Texte, die innerhalb einer fiktiven Welt vorliegen, können dabei fiktional und fiktiv sein – oder auch fiktiv, aber faktual. Ein Beispiel für ersteres wären etwa die fiktiven Romane Sebastian Knight’s in Nabokovs The Real Life of Sebastian Knight, ein Beispiel für letzteres etwa das folgende: »The Chill of Inspiration: Spontaneous Reminiscences by Seventeen Pioneers of DT-Cycle Lithiumized Annular Fusion, ed. Prof. Günther Sperber, Institut für Neutronenphysik und Reaktortechnik, Kernforschungszentrum Karlsruhe […]«; Wallace (2006 [1996]): Infinite Jest, S. 1034, Anm. 208. Die englischsprachige Wikipedia verfügt über eine Liste fiktiver Bücher (wegen des Fehlens der Unterscheidung im englischsprachigen Raum heißt sie »List of fictional books«). Spitzenreiter ist dort Mark Z. Danielewski, in dessen House of Leaves nicht weniger als 92 fiktive Bücher und Texte erwähnt werden; vgl. »List of fictional books«, Wikipedia, . 11 Bunia (2007): Faltungen, S. 81. 12 Eine knappe Darstellung der Tatsache, dass gerade an dieser Frage diverse fiktionstheoretische Ansätze in ihrer Begriffsverwendung auseinanderdriften, findet sich bei Rajewsky/Enderwitz (2016): »Einleitung«, S. 2.
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was sich in der realen Welt nicht (oder nur sehr unwahrscheinlich) belegen lässt (siehe S. 44). Die potentielle Erfundenheit ihrer Elemente zeichnet damit nicht nur Fiktion aus, sondern beispielsweise auch Lügen oder Gedankenexperimente. Die Konstruktion einer fiktiven Welt ist dabei ein spezifischer Umgang mit Texten und den in ihnen dargestellten erfundenen Geschehnissen und Entitäten, der es ermöglicht, mit Erfundenheit produktiv umzugehen: Es lässt sich über Erfundenes sprechen, ohne dass dies Probleme bereitet, denn man kann sich darauf beziehen, als sei es real, ohne doch einen Abgleich mit der realen Welt vornehmen zu müssen.13 Dass dieser jedoch dennoch erfolgen kann, ist davon gänzlich unabhängig. Er ist zudem wahrscheinlicher in Fällen, in denen die Welt, die der Text beschreibt, nahe an die reale angelehnt ist; in solchen Fällen soll, im Anschluss an Zipfel, von ›Realistik‹ gesprochen werden, während in Fällen, in denen die fiktive Welt deutlich von der realen abweicht, von ›Phantastik‹ gesprochen werden kann.14 Erfundenheit ist hier also ein Indiz für Fiktion: Wenn etwas offensichtlich erfunden ist, dann liegt es nahe, mit diesen Entitäten als fiktiven umzugehen – wenn dagegen davon auszugehen ist, dass nichts erfunden wurde, liegt es zunächst auch nahe, keinen Unterschied zwischen den dargestellten Entitäten und der realen Welt anzunehmen. Es ergibt sich also in der Folge, dass Erfundenheit und Fiktivität nicht synonym zu verwenden sind, dass sie aber dennoch eng zusammenhängen. Wenn daher im Folgenden an manchen Stellen etwa schlicht von ›fiktiven Figuren‹ oder Ähnlichem die Rede ist, so ist dies nicht so zu verstehen, dass die übliche Sprechweise übernommen wird, die die beiden Aspekte nicht differenziert. Vielmehr ist damit in aller Regel gemeint, dass nicht (oder nicht primär) der Status der Figur als erfundener oder nicht erfundener interessiert, sondern der Umgang mit dieser Figur als fiktiver.15 Die Bezeichnung einer Figur als ›fiktiv‹ erfolgt immer schon aus der Perspektive eines bestimmten Umgangs mit einem Text. Aus dem bisher Explizierten wird deutlich, dass die Annahme von fiktiven Welten im Umgang mit einem literarischen Text davon abhängig ist, ob dieser als fiktionaler und damit den Regeln der Fiktion folgend rezipiert wird. Während im Prinzip jeglicher Text als fiktionaler gelesen werden kann, so ist dieser Umgang selbstverständlich in einigen Fällen ›angemessener‹ als in anderen – und zwar in der Regel, weil diese Texte Merkmale aufweisen, die einen Umgang nach dem Muster der Fiktion nahelegen und dies auch signalisieren beziehungsweise markieren. Dies ist der zentrale Aspekt der folgenden Analysen. Dabei werden ›Fiktionssignale‹ thematisiert, die sich entweder auf der Ebene der Geschichte (›Fiktivitätssignale‹) befinden können, oder aber auf der
13 Vgl. Bunia (2007): Faltungen, S. 84 f. 14 Vgl. Zipfel (2001): Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. 106–113. 15 Siehe etwa unten Kap. 6, Anm. 183: Der angebliche Sohn Johann Sebastian Bachs, um den es an dieser Stelle geht, ist zunächst einmal (offensichtlich) erfunden – und es liegt (aufgrund diverser paratextueller und textueller Signale) nahe, mit ihm als fiktiver Figur umzugehen und nicht eine Musikgeschichtsfälschung zu vermuten. Die Bezeichnung als ›fiktiver Bach-Sohn‹ schließt also Er fundenheit mit ein und ist als Kurzform zu verstehen.
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Ebene der Erzählung (›Fiktionalitätssignale‹) (siehe S. 43). Paratextuelle Fiktionssignale sollen gesondert betrachtet werden, wobei hier der Begriff ›Fiktionsmarkierung‹ eingeführt wird (siehe S. 54), der die spezifische Funktionsweise paratextueller Hinweise auf den Status eines Textes beschreibt.
Paratext In Genettes Forschungen finden sich zwei grundverschiedene Verwendungen des Paratextbegriffs, von denen lediglich die zweite, spätere eine breite Rezeption gefunden hat. Ursprünglich hatte Genette den Begriff in Introduction à l’architexte (1979) eingeführt und dort als eine Form der transtextualité bestimmt, die etwa in Pastiche oder Parodie vorliege und die Imitation und Transformation eines Ausgangstextes bezeichne.16 Seit Palimpsestes (1982) bezeichnet er diese Form der Imitation als hypertextualité und als paratexte bereits dasjenige, was in Seuils (1987) ausgiebig untersucht werden sollte: titre, sous-titre, intertitres; préfaces, postfaces, avertissements, avant-propos, etc.; notes marginales, infrapaginales, terminales; épigraphes; illustrations; prière d’insérer, bande, jaquette, et bien d’autres types de signaux accessoires, autographes ou allographes, qui procurent au texte un entourage (variable) et parfois un commentaire, officiel ou officieux, dont le lecteur le plus puriste et le moins porté à l’érudition externe ne peut pas toujours disposer aussi facilement qu’il le voudrait et le prétend.17
Diese Fassung des Paratextbegriffs, die in Palimpsestes entworfen und in Seuils ausgearbeitet wird, ist inzwischen weitgehend durchgesetzt und hat ein weites Forschungsfeld erschlossen. Bemerkenswert ist, dass Genette bei dieser frühen Beschreibung des Paratextbegriffs ausschließlich solche Elemente auflistet, die er später unter dem Teilbegriff ›Peritext‹ klassifiziert. Es stellen sich hier also bestimmte Probleme gerade (noch) nicht, die aus der Zusammenfassung von Peri- und Epitexten unter dem Begriff ›Paratext‹ resultieren – hierauf ist sogleich zurückzukommen. Zu betonen ist zuvor jedoch, dass es bereits vor Genette Ansätze gegeben hat, die Ähnliches beschreiben und die zudem im Umfeld von Untersuchungen zur Fiktionalität entstanden sind. So analysiert etwa Davis in seiner Studie über Factual Fictions eine ganz ähnliche Reihe von Phänomenen, die er unter der Überschrift »Frame, Context, Prestructure« zusammenfasst, welche bereits deutlich macht, dass hier noch um
16 Hinzugefügt sei, dass Genette an dieser Stelle den Begriff bereits »faute de mieux« verwendet; Genette (1979): Introduction à l’architexte, S. 87. 17 Genette (1992[1982]): Palimpsestes, S. 10.
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einen Begriff gerungen wird, der die diversen Aspekte zusammenfasst.18 Ausgehend von der Erwartung, die Leser an einen Text stellen, formuliert Davis: This expectation, this totality of elements in the presentation of a book, is itself significant and important to my purpose in determining the total structure of a work. One might conceive of this expectation as a kind of conceptual aura, a presentational context, which surrounds the book as object and which for the sake of convenience I will call the »prestructure« of the work.19
Die Formulierung und die weiteren Ausführungen, in denen Davis die unterschiedliche ›Präsentation‹ von Defoes Roxana und Cervantes’ Don Quixote beschreibt, deuten an, dass es ihm weniger um die Erwartungen seitens des Rezipienten geht als vielmehr um die Elemente eines Textes (oder seiner Umgebung), die zu diesen Erwartungen ›berechtigen‹: um den Paratext (avant la lettre). Die Bedeutung dieser prestructure hebt Davis explizit hervor: »The term is used to indicate that this presentational context is actually as much a part of the work as the elements of plot, character, development, and so on.«20 Hier ist also bereits ein Aspekt angesprochen, der auch später zentrale Bedeutung in der Diskussion einnehmen sollte: Die Zugehörigkeit des Paratextes zum Werk, beziehungsweise die intrikate Verbindung der beiden – die freilich bei Genette bereits wesentlich differenzierter beschrieben ist. Für die Frage nach Fiktionsmarkierungen in Paratexten ist Davis’ Studie hingegen von fundamentaler Bedeutung, indem sie auch einen Einwand gegen die Beschäftigung mit diesen aufgreift: One objection to what I have been saying so far might be that I am taking too seriously the prefatory statements of the author’s intentions. Why not just consider these prefaces as playful conventions which do little more than express the author’s whimsy? Such an objection wields a kind of Occam’s razor by suggesting that the simplest explanation must be the best, and that to call a literary structure a convention ends the problem.21
Während Davis also nicht abstreitet, dass der Paratext (respektive die prestructure) bestimmten Konventionen folgen kann, so ist doch vor allem sein Hinweis darauf, dass mit dem Verweis auf eine Konvention noch nicht viel erklärt ist, ernst zu nehmen. Trotz solcher ›Vorläufer‹ in der Bestimmung der ›Umgebung‹ von Texten ist Genette zu Recht als ›Erfinder‹ des Paratextes zu nennen. Ihm ist nicht nur eine Typologie von paratextuellen Phänomenen zu verdanken, sondern insbesondere eine theoretische Etablierung und Umgrenzung eines Forschungsgegenstands, die sich als außerordentlich anschlussfähig erwiesen hat – wenn auch vermutlich nicht zuletzt deshalb, weil sich eine klare und trennscharfe Definition bei Genette kaum ausmachen lässt. Diese
18 Vgl. Davis (1983): Factual Fictions, S. 11–24. Davis’ Studie erscheint ein Jahr nach Genettes Palimpsestes. Es ist davon auszugehen, dass Davis den Begriff ›Paratext‹ zu dieser Zeit nicht kannte. 19 Davis (1983): Factual Fictions, S. 12. 20 Davis (1983): Factual Fictions, S. 12. 21 Davis (1983): Factual Fictions, S. 15.
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Unsicherheit in der Definition ist einerseits sicherlich dem Phänomen selbst geschuldet, andererseits aber resultiert sie aus der Anlage der Genette’schen Studie, die im Wesentlichen als Katalog paratextueller Phänomene funktioniert, deren Zusammengehörigkeit unter dem Dach des Paratextbegriffs zwar impliziert, aber kaum begründet wird. Am deutlichsten wird dies bei Genettes Unterscheidung von Peri- und Epitext, die beide unter den Begriff Paratext subsumiert werden (nach der einfachen Formel: »paratexte = péritexte + épitexte«22). Die Unterscheidung ist bekanntlich zunächst eine rein räumliche: Paratexte, die gemeinsam mit dem Text erscheinen (Titel, Vorworte, Widmungen etc.), werden als Peritext, solche, die vom Text räumlich getrennt erscheinen (Autoreninterviews, Briefe und Tagebücher des Autors etc.), als Epitext bezeichnet. Epitextuelle Phänomene aber lassen sich nur schwerlich unter eine der zentralen Definitionen des Paratextbegriffs fassen, die Genette gleich zu Beginn von Seuils aufstellt: »Le paratexte est donc pour nous ce par quoi un texte se fait livre et se propose comme tel à ses lecteurs, et plus généralement au public.«23 Dies gilt sicherlich für Titel und andere Peritexte, nicht aber (oder nur sehr vermittelt) für Epitexte. Ein Text wird zum Buch durch die peritextuelle Ausstattung mit Autorname, Titel etc. Epitexte können auf dieses Buch hinweisen und reagieren, sie können jedoch kaum ein solches ›schaffen‹. Auch die zweite (produktivere) Unsicherheit in Genettes Fassung des Paratextbegriffs gilt für Peritexte in anderem Maße als für Epitexte: L’œuvre littéraire consiste, exhaustivement ou essentiellement, en un texte […]. Mais ce texte se présente rarement à l’état nu, sans le renfort et l’accompagnement d’un certain nombre de productions, elles-mêmes verbales ou non […], dont on ne sait pas toujours si l’on doit ou non considérer qu’elles lui appartiennent, mais qui en tout cas l’entourent et le prolongent, précisément pour le présenter, au sens habituel de ce verbe, mais aussi en son sens le plus fort: pour le rendre présent, pour assurer sa présence au monde […].24
Während sich die schwächere Form des Verbs ›präsentieren‹ auch für Epitexte noch verwenden ließe, so ist nicht klar, in welchem Sinne sich die stärkere Form, ›etwas präsent machen‹, auf Epitexte beziehen ließe. Ebenso wenig lässt sich die hier angesprochene zentrale Problematik des Paratextes, dass nämlich nicht ohne Weiteres zu klären ist, ob er Teil des Textes ist oder nicht, auf den Epitext anwenden. Dieser ist – jedenfalls in der Regel – sicher nicht Teil des Werks. Dembeck argumentiert schlüssig, dass dem Zusammenschluss von Epitext und Peritext unter dem Begriff Paratext bei Genette ein unausgesprochener Wechsel des Bezugspunkts zu Grunde liegt: Diese beiden ›Sorten‹ Paratext unterscheiden sich nämlich hinsichtlich ihres definitorischen Bezugspunkts. Dieser ergibt sich beim Peritext aus der Einheit des Buchs, beim Epitext hingegen
22 Genette (1987): Seuils, S. 11. 23 Genette (1987): Seuils, S. 7. 24 Genette (1987): Seuils, S. 7.
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aus der Einheit von Autor und Werk. Erst vom bestehenden Werk aus kann etwas zum Epitext werden.25
Bei Peritexten kann folglich der Status zwischen Text und ›Nicht-Text‹ (also: Para-Text) oszillieren. Bei Epitexten ist dies nicht oder jedenfalls nicht regelmäßig Fall. Eben diese Schwierigkeit der Zurechnung eines Elements zum Text oder zum Paratext ist jedoch, wie gezeigt, schon bei Genette als konstitutives Merkmal hervorgehoben; sie steht neben der funktionalen Bestimmung des Paratextes als Lektürelenkung (die Peri- und Epitext gleichermaßen betrifft). Vor diesem Hintergrund und auch, weil die weitere Forschung kaum an den Epitext-Begriff angeschlossen hat,26 soll es hier vorrangig um Peritexte gehen; Epitexte dienen, sofern sie überhaupt erwähnt werden, lediglich zur Unterstützung der Argumentation, die grundsätzlich von Peritexten ausgeht. Der Oberbegriff Paratext wird gebraucht, wo es keiner weiteren Klarstellung bedarf. Ein weiteres Problem der Genette’schen Definition ist der implizite Bezug auf Autorintention: »Il est nécessaire à la définition d’un paratexte de toujours porter une responsabilité, de la part de l’auteur ou de l’un des ses associés, mais cette nécessité comporte des degrés.«27 Auch wenn Genette hier eine Gradierung der Verantwortung des Autors im Sinne hat, bleibt die Bindung an die Autorintention dennoch eine problematische, denn, so wäre zu fragen: Wie ließe sie sich bestimmen, ohne auf die letztlich zirkuläre Begründung zu verfallen, dass sie eben im Paratext ausgedrückt ist?28 Ebenso ist die Verbindung des Autors mit seinen ›Verbündeten‹, womit wohl vorrangig Verleger oder Herausgeber gemeint sind, problematisch, denn es lässt sich – insbesondere bei älteren Texten – schlicht kaum überprüfen, inwiefern beispielsweise ein Verleger im Sinne des Autors handelt oder nicht. Um die Definition des Paratextes von der Autorintention abzulösen, aber auch um weiteren Unsicherheiten in der Abgrenzung von Paratexten zu begegnen, ist eine typographische Definition von Paratext vorgeschlagen worden, der auch hier gefolgt wird: the problem of Genette’s notoriously hazy definition of ›paratexts‹ can be alleviated by […] insisting on a separation of paratexts from the main text on the levels of layout and/or typography as major criteria […].29
25 Dembeck (2008): »Text ohne Noten?«, S. 157. 26 Vgl. Dembeck (2007): Texte rahmen, S. 15, Anm. 42. 27 Genette (1987): Seuils, S. 14. 28 »Der Paratext ist also Paratext, weil der Autor es so will; doch zugleich ermöglicht erst der Paratext die Bezugnahme auf diese Instanz, die ihn autorisiert. Dieser Zirkel grundiert die […] Analysen einzelner Paratexte, die Genettes Buch bietet«; Dembeck (2008): »Text ohne Noten?«, S. 157. 29 Wolf (1999): »Framing Fiction«, S. 108. Vgl. zu ähnlichen Vorschlägen: Bunia (2005): »Die Stimme der Typographie«, S. 379, Bunia (2007): Faltungen, S. 287 f., sowie Dembeck (2007): Texte rahmen, S. 16.
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Als Paratext ist demnach zu begreifen, was sich aufgrund von Layout und Typographie als vom ›eigentlichen‹ Text unterschieden erkennen lässt. Dass hiermit eine in der Praxis gut handhabbare Definition von Paratext vorliegt, kann jedoch die weitere Problematik des Paratextes nicht auflösen – und soll es auch nicht, denn diese Problematik ist außerordentlich produktiv (und dies gerade im Zusammenhang mit Fiktion). Genettes Feststellung nämlich, dass oft nicht so genau zu entscheiden ist, ob ein Element zum ›eigentlichen‹ Text oder zum Paratext ›gehört‹, ist nicht einfach einer unpräzisen Definition geschuldet, sondern ist dem Phänomen Paratext inhärent. Während also eine typographische Definition in der Praxis paratextuelle Elemente deutlich herausgreifen und vom ›eigentlichen‹ Text trennen kann, so besteht in Bezug auf die Funktionsweise dieser Elemente weiterhin die Frage, ob sie zum Text ›gehören‹ oder nicht. Genette hat dies klar gesehen, worauf nicht zuletzt seine zweite Fußnote verweist, in der er Millers Beschreibung der Funktionsweise des Präfixes ›para‹ zitiert (hier im Original, Genette übersetzt das Zitat): »Para« is a double antithetical prefix signifying at once proximity and distance, similarity and difference, interiority and exteriority, […] something simultaneously this side of the boundary line, threshold, or margin, and also beyond it, equivalent in status and also secondary or subsidiary, submissive, as of guest to host, slave to master. A thing in »para,« moreover, is not only simultaneously on both sides of the boundary line between inside and out. It is also the boundary itself, the screen which is a permeable membrane connecting inside and outside. It confuses them with one another, allowing the outside in, making the inside out, dividing them and joining them.30
Im Anschluss an Überlegungen Derridas haben neuere Arbeiten zum Paratextbegriff eben dieses »Ablöseproblem«31 in den Vordergrund gestellt.32 In Auseinandersetzung mit Kants dritter Kritik und der Verwendung des Parergon-Begriffs hält Derrida die
30 Miller (1979): »The Critic as Host«, S. 219. Dass Genette damit eine zentrale Bestimmung seines Gegenstandes in eine Fußnote verschiebt, mag darin begründet sein, dass dies einer der Aspekte ist, die Genette im Folgenden kaum wieder aufgreift, wenn er stattdessen der funktionalen Analyse von Paratexten nachgeht. Nicht unplausibel ist allerdings auch, dass Genette sich hier einen ›performativen‹ Spaß erlaubt, indem er eine zentrale Definition eben in einen Paratext verschiebt. Zu einer ähnlichen paratextuellen ›Finte‹ Genettes vgl. Bareis (2010): »The State of the Art«. 31 Dembeck (2007): Texte rahmen, S. 46; Bunia (2007): Faltungen, S. 320. 32 Weitere Arbeiten beziehen sich auf Derridas Parergon-Begriff und Genettes Paratext-Begriff, orientieren sich dabei aber an der vergleichbaren Funktion und nicht an einem Paratextbegriff, wie er hier verfolgt wird. So etwa Heller-Andrist: »The interaction between ergon and parergon is indiscernible from, and sometimes even independent of, the textual constellation. This means that we do not necessarily need a paratextual composition in order to encounter parergonality […]«; Heller-Andrist (2012): The Friction of the Frame, S. 55.
Paratext
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Frage nach der ›Ablösbarkeit‹ (die Begriffe découpage und détacher finden sich bei Derrida)33 von ergon und parergon, von Gerahmtem und Rahmen für zentral: Le parergon se détache à la fois de l’ergon (de l’œuvre) et du milieu, il se détache d’abord comme une figure sur un fond. Mais il ne s’en détache pas comme l’œuvre. […] Le cadre parergonal se détache […] sur deux fonds, mais par rapport à chacun de ces deux fonds, il se fond dans l’autre. Par rapport à l’œuvre qui peut lui servir de fond, il se fond dans le mur, puis, de proche en proche, dans le texte général. Par rapport au fond qu’est le texte général, il se fond dans l’œuvre qui se détache sur le fond général.34
Es hängt also gewissermaßen allein von der Blickrichtung ab, ob ein Rahmen als Bestandteil eines Werks gesehen wird (im Unterschied beispielsweise zur Wand, vor der das Bild hängt) und damit mit diesem eine Figur bildet, die sich von einem Hintergrund ablöst, oder aber, ob ein Rahmen als nicht zum Werk gehörig betrachtet wird und somit selbst zum Hintergrund, zur Umwelt gehört. Die Rahmung ließe sich in diesem Sinne, je nach Blickwinkel, als »intrinsisch und/oder extrinsisch motiviert«35 beschreiben. Damit verbindet sich in Bezug auf literarische Texte die Frage nach der Zuordnung des Paratextes zu einem textinternen oder einem textexternen Kommunikationszusammenhang.36 Spricht im Paratext der Autor oder aber eine Instanz, die Teil der Fiktion ist? Ohne Bezug auf den (noch nicht geprägten) Paratextbegriff und mit Fokus auf die Zuordnung von ›Stimmen‹ im Text hält etwa Lanser bereits 1981 fest: It is important and not always simple to begin such exploration of extrafictional voice by distinguishing this historical persona from its fictional counterparts. The lines between fiction and extrafiction, sometimes tenuous, may not be discernible on the basis of formal categories alone. A preface, for instance, may be part of the fiction; a direct message from the author; or a quasihistorical or mock-historical play with conventions, ostensibly fact, but obviously […] a fiction.37
Auf eine ganz ähnliche Weise beschreibt Wirth, im Anschluss an Genette und Derrida, wie die Frage, ob Vorworte als Teil eines Werkes zu gelten haben oder nicht, an die Frage gekoppelt ist, »welchen logischen Status die im Vorwort vollzogenen Sprechakte haben«38. Fiktion und Paratext sind also in diesem Sinne parallele und zugleich wech-
33 Vgl. Derrida (1978): La Vérité en peinture, S. 69. 34 Derrida (1978): La Vérité en peinture, S. 71. 35 Dembeck (2007): Texte rahmen, S. 45. 36 Sehr allgemein formuliert findet sich eine ähnliche Überlegung bei Retsch, die dabei Paratext und Textanfang parallelisiert: »Der Textanfang ist als der Übergang aus der realen Kommunikationssituation des Autors in die von ihm geschaffene ›Textwelt‹ zu verstehen. Erkennbar ist diese an der Initiierung einer bestimmten Kombination von Zeit, Ort und Person, die es in der realen Welt des Schriftstellers ›nicht/noch nicht/nicht mehr‹ gibt. Diese Konstellation kann aber auch schon durch die Paratextelemente Titel oder Vorwort erfüllt werden […].« Retsch (2000): Paratext und Textanfang, S. 14. 37 Lanser (1981): The Narrative Act, S. 130. 38 Wirth (2004): »Das Vorwort als performative, paratextuelle und parergonale Rahmung«, S. 609.
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Paratext- und Fiktionstheorie
selseitig verschränkte Phänomene: Ist ein Paratext Teil der Fiktion, so ist er Teil des Werkes selbst, ist er letzteres nicht, so kann er nicht Teil der Fiktion sein. So jedenfalls lautet die Vermutung, die nahegelegt wird einerseits durch die grundsätzliche pragmatische Scheidung von Äußerungsakten in prätendiert-fiktionale und »ernsthafte Sprechakte«39 und andererseits die bereits angesprochene Erwartung an den Paratext, ›ernsthaft‹ zu sprechen: Wenn, wie Genette darstellt, der Paratext verlangt, ernst genommen zu werden,40 so muss er außerhalb der Fiktion stehen. Wenn dagegen umgekehrt, Äußerungen im Paratext nicht als »Regieanweisungen«41 durchaus ernst genommen werden sollen, sondern selbst schon zum ›eigentlichen‹ Text gehören, dann müssen sie als Teil der Fiktion betrachtet werden. Die Fiktionstheorie hat mittels verschiedener Instrumente gerade die (problematischen) Abgrenzungen von fiktionaler und nicht-fiktionaler Rede oder von fiktiven und realen Welten zu beschreiben versucht – es ist daher zu prüfen, wie sich dieses Beschreibungsinventar auf Fragen anwenden lässt, die den ›logischen Status‹ von Äußerungen in Paratexten betreffen, beziehungsweise, wie die beiden Rahmungen Fiktion vs. Nicht-Fiktion und Paratext vs. ›eigentlicher‹ Text miteinander interagieren. Ohne zu sehr auf die genaueren Ausführungen zur Fiktionstheorie vorzugreifen, lässt sich hier zumindest eine Parallele in den Beschreibungsversuchen von Paratext und Fiktion feststellen, die beide als Rahmungsfunktionen beschrieben werden und dabei jeweils die Möglichkeiten einer doppelten Rahmung einschließen:42 Bei der Fiktion im Sinne einer Sprachverwendung, die nicht ›wahr spricht‹, aber eben auch nicht täuscht, beim Paratext im Sinne eines Sprechens über, das möglicherweise aber eben Teil dessen ist, worüber es zu sprechen scheint.43 Auch in einer nicht auf literarische Phänomene beschränkten Perspektive, die beispielsweise das Theater als ein zentrales Beispiel heranzieht,44 wurden Verfahren
39 Wirth (2004): »Das Vorwort als performative, paratextuelle und parergonale Rahmung«, S. 609. 40 Siehe oben S. 4. 41 Wirth (2004): »Das Vorwort als performative, paratextuelle und parergonale Rahmung«, S. 609. 42 Zur Rede von Fiktionalität als Rahmen vgl. Wolf (2006): »Introduction: Frames, Framings and Framing Borders«, S. 14. 43 Schmitz-Emans beschreibt das Problem, dass Fiktion auf Markierungen im Paratext angewiesen ist, diese aber wiederum nicht auf »›innere‹ Intentionen« festlegbar sind, als Potenzierung: »Werke der Fiktion müßten auf eindeutige Weise in nicht-fiktionale Rahmen eingebettet sein, wenn der Leser klare Vertragsbedingungen vorfinden und sich die Frage nach der ›Wahrheit‹ der Darstellung erübrigen soll. Doch das Problem verschiebt sich damit offensichtlich nur: Denn nun müßte über die ›NichtFiktionalität‹ des paratextuellen Rahmens entschieden werden, womit die Suche nach weiteren Rahmungen eingeleitet wäre – und so weiter …«; Schmitz-Emans (2001): »Im Zwischenreich«, S. 192 f. 44 Es kann hier nicht diskutiert werden, inwiefern das Theater als diejenige Institution, die mittels ausgeprägter institutioneller Rahmen (vgl. Goffman (1974): Frame Analysis, S. 124–155) den »Gegensatz von Täuschung und Verstellung« (Esposito (2009[2007]): Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität, S. 16) inszeniert und die immer wieder als zentraler Einfluss auf den frühen Roman genannt wird, eine ähnliche Doppelrahmung vollzieht; vgl. Bayer (2011): »Paratext and Genre«, S. 203–205.
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der Rahmung thematisiert, die dem verwandt erscheinen. Goffmans bahnbrechende Studie Frame Analysis geht von der nur augenscheinlich einfachen Frage aus, die jegliche Wahrnehmung innerhalb sozialer Gefüge immer schon strukturiert: »What is it that’s going on here?«45 Neben dem Begriff des Rahmens, mit dem etwas bezeichnet wird, das Wahrnehmungen strukturiert (und beispielsweise bedeutet, dass etwas als ein Spiel, eine Theater-Aufführung oder als ärztliche Untersuchung ›gerahmt‹ werden sollte), führt Goffman den Begriff des »key« beziehungsweise »keying« ein. Als »key« beschreibt Goffman a set of conventions by which a given activity, one already meaningful in terms of some primary framework, is transformed into something patterned on this activity but seen by the participants to be something quite else.46
Hier wird also eine bestimmte Aktivität in einen anderen Rahmen transformiert. Übertragen auf die Literatur wäre etwa an die Modellierung eines Romans in der ersten Person nach den Mustern einer Autobiographie zu denken, oder aber an Herausgeberfiktionen, die sich der Konventionen des (authentischen) Herausgeberdiskurses bedienen. Einen solchen (Para-)Text als Roman beziehungsweise als Herausgeberfiktion zu lesen, bedeutet ein keying, mithin einen »Rahmenwechsel«47. Was dabei allerdings in der Übertragung auf literarische Texte unklar bleibt, ist die Rede von einem (definierten) Satz von Konventionen, die dieses keying seitens eines möglichen Lesers hervorrufen; hier begegnen ähnliche Fragen wie bei einer Institutions-Theorie der Fiktion (siehe unten S. 37). Was Goffmans Studie allerdings darüber hinaus auszeichnet und was neben dem Rahmenbegriff selten hervorgehoben wird,48 ist, dass es ihm – wenn auch nicht an zentraler Stelle – neben den Rahmungen und keyings auch um die Zeichen und Hinweise geht, die zu einem solchen keying anregen. Er bezeichnet diese Hinweise als »brackets«, die entweder temporale oder spatiale Abgrenzungen anzeigen. Die Beschreibung dieser »brackets« bei Goffman weist erstaunliche Ähnlichkeiten zur Theorie des Paratextes bei Genette auf: Activity framed in a particular way […] is often marked off […] by a special set of boundary markers or brackets of a conventionalized kind. These occur before and after the activity in time and may be circumscriptive in space […]. These markers, like the wooden frame of a picture, are presumably neither part of the content of activity proper nor part of the world outside the activity but rather both inside and outside, a paradoxical condition […] not to be avoided just because it cannot easily be thought about clearly.49
45 Goffman (1974): Frame Analysis, S. 8. 46 Goffman (1974): Frame Analysis, S. 43 f. 47 Wirth (2008): Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion, S. 54. 48 Vgl. aber Wolf (1993): Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst, S. 35 f. 49 Goffman (1974): Frame Analysis, S. 251 f.
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Paratext- und Fiktionstheorie
Wie dem Paratext ist also auch den brackets oder boundary markers eine spezifische Zwischenstellung eigen, und Goffman erwähnt diverse Beispiele aus dem Bereich der Literatur und insbesondere des Theaters, die dies illustrieren.50 Problematisch ist allerdings auch hier der einfache Hinweis auf Konvention. Dies verlangt im Einzelnen eine detaillierte Analyse, eben weil die brackets Teil und zugleich nicht Teil der Aktivität sein und darüber hinaus ihre eigene Funktion als brackets aufgreifen und problematisieren können.51 Die paratextuellen Konventionen müssen keineswegs so durchsichtig sein, dass auf den ersten Blick klar wird, ob beispielsweise eine Autobiographie oder ein Ich-Roman vorliegt; die Frage »What is it that’s going on here« muss nicht so einfach zu beantworten sein. Die Möglichkeiten des paratextuellen Rahmens und damit der keyings, die er anregen kann, sind vielmehr so vielfältig, wie diejenigen der Alltagskommunikation, bei der es stets zu Rahmenwechseln kommen kann, die dem explizit Gesagten mitunter diametral widersprechen können. Mit einem Beispiel aus der Alltagskommunikation illustrieren MacLachlan und Reid die Möglichkeit, dass explizite Rahmungen andere Rahmungen implizit aufrufen: The source of possible confusion here would seem to stem from the fact that, generally speaking, frames as metamessages are not explicitly signaled to the interlocutor. […] Thus, if one frames a talk with a statement like, »I’d like to have a little chat with you«, a meta-metamessage of serious discussion may be conveyed rather than the literal meaning.52
Das Problem beziehungsweise das Indiz ist, dass hier ein Rahmen explizit aufgerufen wird, der überflüssig erscheint, denn sich ›einmal kurz zu unterhalten‹ wird in der Regel nicht ausdrücklich als solches gerahmt – im Gegenteil: es passiert einfach. Indem es explizit angekündigt wird, zieht die Rahmung zu viel Aufmerksamkeit auf sich und wird damit verdächtig, etwas ganz anderes zu rahmen, als das, was sie ankündigt. Hier ist also ein ähnliches Phänomen am Werk wie das oben bereits
50 Die Unterscheidung zwischen temporalen und spatialen brackets ist allerdings nur schwerlich auf die Untersuchung von Paratexten übertragbar, denn diese sind per se ein lokales Phänomen. Während Wolf als spatiale brackets etwa Bilderrahmen oder den Sockel einer Säule begreift, Gattungsangaben am Beginn und Markierungen wie »The End« am Ende von Romanen aber als temporale (vgl. Wolf (1993): Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst, S. 36), so werden hier Paratexte als spatiale brackets verstanden, denn es hängt, anders als bei einem Prolog auf der Theaterbühne, von der individuellen Lektüre ab, ob ein Vorwort vor oder nach dem Text gelesen wird, ebenso wie ein »The End« sich in erster Linie durch den Ort auszeichnet, an dem es steht, und weniger durch den Zeitpunkt, zu dem es ›gelesen‹ wird: »The End« bedeutet zunächst ›Dieses Buch ist hier zu Ende‹ und nicht ›Dieses Buch ist jetzt zu Ende‹. Zum ›Ende‹ siehe Kap. 7. 51 Goffman illustriert dies performativ in seinem Vorwort zu Frame Analysis, das eine Spirale aufbaut mit immer weiteren »comments on the preface and […] comments on the comments on the preface«; Goffman (1974): Frame Analysis, S. 18. 52 MacLachlan/Reid (1994): Framing and Interpretation, S. 64 f.
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mit Luhmann angesprochene (siehe S. 5), dass nämlich die Beteuerung, die einen bestimmten Rahmen setzen will, immer Zweifel hervorruft. Dass Ähnliches bei Herausgebervorworten der Fall sein kann, bezeugen etwa die Vorworte zu Robinson Crusoe, bei denen die Wahrheitsbeteuerungen des Herausgebers von Band zu Band umfangreicher, zugleich aber fragwürdiger werden (siehe unten S. 128 ff.). Der Herausgeber nimmt hier eine Rolle ein, die derart in den Vordergrund gerückt ist, dass fragwürdig wird, ob sie der üblichen Herausgeberrolle entspricht, zu der es gehört, sich professionell im Hintergrund zu halten – oder ob eine ganz andere Funktion vorliegt, die sich nur der Herausgeberrolle als Maske bedient. Nicht nur bei so traditionsreichen und vielfältig abgewandelten Verfahren wie der Herausgeberfiktion lässt sich derartiges beobachten. Um darüber hinaus deutlich zu machen, dass dies kein Bereich ist, der auf das Medium Buch und auf literarische Texte beschränkt ist, sei an dieser Stelle auf eine aktuelle TV-Serie verwiesen. So finden sich in Fargo zu Beginn jeder Episode die Zeilen: This is a true story. The events depicted took place in Minnesota in 2006. At the request of the survivors, the names have been changed. Out of respect for the dead, the rest has been told exactly as it occurred.53
Nicht nur ist dieser Disclaimer (oder vielmehr: claimer) expliziter als die vertraute Standardformel, die nur angibt, dass eine Geschichte auf einer wahren Begebenheit ›beruhe‹, er ist auch derart plakativ in den ›Titel‹ der Serie gesetzt, dass er allein deshalb auffällt. Die Einblendung des Textes erfolgt eben nicht versteckt in Vor- oder Abspann, sondern nimmt auf vier aufeinanderfolgenden ›Texttafeln‹ eine zentrale Rolle ein. Bei der ersten ist das Wort »true« zudem besonders betont, da es langsamer ausgeblendet wird als der Rest des Satzes. Die Einblendung des gesamten Textes nimmt so etwa im Finale der ersten Staffel über 40 Sekunden in Anspruch – während im Hintergrund für den Zuschauer zu diesem Zeitpunkt noch rätselhafte Bilder gezeigt werden, die auf das Ende der Episode verweisen. Die Wahrheitsbehauptung ersetzt gleichsam den Vorspann der Serienepisode (zum Vergleich: Titel und Produktionsfirma werden einige Minuten später für kaum mehr als zehn Sekunden eingeblendet) und ist derart hervorgehoben, dass sie allein aus diesem Grund suspekt erscheint. Für den (wahrheitsgemäßen) Disclaimer muss der Zuschauer hingegen auf das Ende des Abspanns warten und auf einer Texttafel, die kaum eine Sekunde lang eingeblendet wird, unter diversen anderen Informationen die folgende entziffern: The characters and incidents portrayed and the names used herein are fictitious, and any similarity to the name, character or history of any person is entirely coincidental and unconditional.54
53 »Morton’s Fork« (2014). Fargo, Staffel 1, Episode 10, Regie: Shakman, Drehbuch: Noah Hawely. 54 »Morton’s Fork« (2014). Fargo, Staffel 1, Episode 10, Regie: Shakman, Drehbuch: Noah Hawely.
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Paratext- und Fiktionstheorie
Dass dem vermutlich so ist, wird freilich – spätestens – deutlich durch den kurz davor eingeblendeten Verweis darauf, dass die Serie auf dem Film Fargo (1996) beruhe. Dieser zeigte bereits die gleiche Opposition zwischen Faktizitätsbeteuerung zu Beginn und Disclaimer am Ende.55 In beiden Fällen ist die Hervorhebung des einen und die relative Marginalität des anderen auch ein Hinweis darauf, was eher als intrinsische Rahmung – die dann Teil der Fiktion ist – gelten kann und was als extrinsische, juristische Absicherung zu begreifen ist. Der Verweis auf eine Fernsehserie und einen Film macht zudem deutlich, dass der Begriff ›Paratext‹ inzwischen plausibel und ertragreich auch auf andere M edien übertragen wurde. Stanitzek hält es für eine der zentralen Beschränkungen der Genette’schen Konzeption, dass sie von einer unterschwellig »biblionome[n]«56 Ausrichtung ausgeht und so die möglichen funktionalen Äquivalenzen in anderen Medien nicht in den Blick nehmen kann. Damit sind nicht nur beispielsweise audiovisuelle Medien gemeint, sondern auch Texte und Werke, die dem Leser eben nicht in einer »buchförmigen Präsentation« entgegentreten und bei denen zu fragen wäre: »Verfügen nicht einzelne Lieder oder Gedichte etwa, Notizzettel, Karteikarten, Zeitungsartikel, Briefe, Blog-Beiträge, Hypertexte jeweils über eine paratextuelle Formenwelt […]?«57 Dies wird im Folgenden insofern berücksichtigt, als stellenweise die Fortsetzungs fassungen von Romanen in Zeitschriften und deren paratextuelle ›Ausstattung‹ thematisiert werden. In der Paratextforschung zeichnet sich eine deutliche Präferenz für längere, allein aufgrund des Umfanges bereits ›werkähnliche‹ Paratexte und insbesondere Vorworte ab. Demgegenüber sollen hier die diversen unterschiedlichen paratextuellen Elemente gleichermaßen in den Fokus rücken, wobei sich herausstellen wird, dass die beschriebene Ambivalenz zwischen intrinsischer und extrinsischer Verankerung potentiell für alle diese Elemente gilt: Zwar finden sich häufiger Vorworte, deren Status in Bezug zum ›eigentlichen‹ Text und zur ›Umwelt‹ problematisch ist, als etwa Verlagsangaben oder Gattungsbezeichnungen – letztere sind dabei aber, eben weil sie vergleichsweise selten begegnen, umso wirkmächtiger beziehungsweise irritierender. Das Irritationspotential hängt also zugleich von der Verbreitung und Konven tionalisierung diverser paratextueller Praktiken ab und, damit verbunden, von der Habitualisierung der Leser mit diesen Verfahren. Jede Kontextualisierung muss daher auch vom historischen Material und den jeweiligen ›Moden‹ in der paratextuellen Gestaltung ausgehen. Dabei ist einerseits zu beachten, was jeweils in einzelnen paratextuellen Elementen ›erwartbar‹ ist, aber zugleich ist das eigentümliche Verhältnis von Stereotypisierung und Bruch mit eben diesen stereotypen Mustern nicht zu v ergessen.
55 Vgl: Fargo (1996). Regie: Coen/Coen. 56 Stanitzek (2004): »Texte, Paratexte, in Medien: Einleitung«, S. 7. 57 Stanitzek (2007): »Paratextanalyse«, S. 201.
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Nicht nur hat jedes Element des Paratextes seine eigene Geschichte,58 diese Geschichte kann vielmehr selbstreflexiv in weiteren Paratexten aufgegriffen werden. So ist etwa bei Disclaimern das ganz spezifische Wechselspiel von stereotyper Formulierung (»All persons appearing in this text are purely fictional …«) und Abweichung von eben dieser Floskel charakteristisch. Ohne Kenntnis der Standardformel ist die Abweichung von dieser nicht zu verstehen.59 Statt allgemein von einer Konventionalisierung zu sprechen und so die Notwendigkeit einer genauen Lektüre in Frage zu stellen, ist je am Einzelfall genau zu prüfen, wie das Wechselspiel von Konvention und Innovation entfaltet ist. Doch auch die spezifisch-historische Fassung dessen, was Fiktion ›ist‹, ob sie erlaubt sei und wie sie sich gegebenenfalls präsentieren soll, ist selbstverständlich nicht vom Paratext zu lösen, denn genau an diesem Ort vollzieht sich nicht nur ein Großteil der Diskussion um Fiktion, sondern es lassen sich eben auch diverse historische Muster ausmachen, die beispielsweise für Vorworte einen deutlichen Bruch im 18. Jahrhundert erkennen lassen.60 Dabei, so die These, die weiterhin von einer engen Verschränkung von Paratext und Fiktion ausgeht, ist nicht einfach nur eine Entwicklung oder ›Mode‹ des Paratextes zu beobachten. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sich in diesen Veränderungen Entwicklungen in der jeweils historischen Fiktionskonzeption und deren zeitgenössischer Diskussion abzeichnen. So lässt sich etwa für das 18. Jahrhundert argumentieren, dass zentrale Momente des Fiktionsverständnisses gerade aus ihrer ›Inszenierung‹ im Paratext emergieren. Im 20. Jahrhundert wiederum findet gerade die für die ›Postmoderne‹61 immer wieder als zentrale Kategorie diskutierte Selbstreflexivität einen prominenten Ausdrucksort eben in den Paratexten. Es ließe sich argumentieren, dass eine für diese Form charakteristische
58 Vgl. Genette (1987): Seuils, S. 18. Genette betont ausdrücklich, dass es sich bei Seuils nicht um eine diachrone Studie handle, erwähnt aber an diversen Stellen konkrete historische Konstellationen und spricht mehrfach als Forschungsdesiderat von einer historischen Paratextforschung. 59 Vgl. Magné (2001): »Toute ressemblance …«. 60 Vgl. etwa für die Diskussion, die die deutschsprachige Romantradition betrifft: Dembeck (2007): Texte rahmen, S. 101 f. 61 Der Begriff ›Postmoderne‹ wird hier vergleichsweise unspezifisch verwendet, gerade weil eine unumstrittene Definition kaum angegeben werden kann, wie etwa Ickstadt festhält; vgl. Ickstadt (1992): »Die unstabile Postmoderne«, S. 39–42. Die unter diesem Begriff gefassten Texte können dabei höchst disparat sein. Ickstadt beschreibt beispielsweise narrative Verfahren im amerikanischen Roman, die die ›klassischen‹ Merkmale der Postmoderne nicht mehr erfüllen, sondern sich als »Mittelweg« zwischen »postmoderner Innovationsästhetik« und realistischem Roman begreifen lassen; auch in diesen Texten allerdings finde sich »ein selbstreflexives Umspielen von Referentialität, eine spielerisch-reflektierte Vermittlung zwischen realistischen und postmodernen Modellen des Erzählens«; Ickstadt (1992): »Die unstabile Postmoderne«, S. 46. Bezogen auf die selbstreflexive Problematisierung des eigenen Status als Fiktion sind damit auch diese Texte für die vorliegende Untersuchung interessant, mögen sie nun als ›postmodern‹ bezeichnet werden oder nicht (als Beispiel ließen sich etwa die hier behandelten Texte David Foster Wallace’ anführen; siehe unten S. 200).
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Paratext- und Fiktionstheorie
»Oberflächenzentrierung«62 nicht nur dazu führt, dass die Oberfläche des Textes in den Blick gerät, sondern gleichzeitig auch die Oberfläche des Buches – der Paratext. So hält etwa Hutcheon fest, dass »self-consciousness […] about the act of narrating«63 eng mit der Inszenierung eben dieses Aktes im Paratext zusammenhängt. Dabei s pielen postmoderne Paratexte in einem spezifischen Verfahren, das sich als »doubled useand-abuse of conventional expectation«64 beschreiben lässt, genau mit jenen bereits angesprochenen Erwartungen und Habitualisierungen im Umgang mit paratextuellen Elementen. Eine »moderne (postmoderne?) Tendenz des literarischen Textes, seinen Paratext vorzuzeigen«65, lässt sich dabei im gesamten 20. Jahrhundert feststellen.66 Sie findet einen ihrer Höhepunkte in einem Text aus dem Umfeld der OuLiPo-Gruppe, der ausschließlich aus paratextuellen Elementen (Fußnoten, Index etc.) besteht, aber keinen ›eigentlichen‹ Text enthält.67 Dass damit auch eine Beschäftigung mit oder gar Problematisierung von Fiktionalität einhergeht, ist nicht notwendigerweise der Fall, jedoch ist auch dies als eines der wesentlichen Merkmale postmoderner Literatur ausgemacht worden. So zeichnet postmoderne Literatur nach McHale eine »ontological dominant«68 aus: Ontologische Fragen – prominent die nach Fakt und Fiktion – werden in den Vordergrund gerückt, während für die Moderne zentrale epistemologische
62 Regn (1992): »Postmoderne und Poetik der Oberfläche«, S. 53. 63 Hutcheon (2002[1989]): The Politics of Postmodernism, S. 68. 64 Hutcheon (2002[1989]): The Politics of Postmodernism, S. 82. 65 Dugast (2001): »Parerga und Paratexte«, S. 109. 66 Dies lässt sich nicht nur in der Belletristik, sondern auch in anderen Bereichen beobachten, wie etwa dem sogenannten Künstlerbuch; vgl. Schavemaker (2004): »Playing with the Paratext«. 67 Die Rede ist von Paul Fournels Banlieue. Vgl. hierzu: Gascoigne (2011): »Paratext Rules OK«. Der ›Text‹ enthält neben Titel, Impressum, Disclaimer, Widmung und Motti diverse Fußnoten, Vor- und Nachworte und ein »Dossier pédagogique«. In letzterem wird die Frage formuliert, die Banlieue als Kommentar zur Paratextualität erscheinen lässt, indem sie den Zusammenhang zwischen Banlieue, der unmittelbaren Umgebung der ›eigentlichen‹ Stadt, und der ›Umgebung‹ des Textes explizit macht: »Le texte de fiction possède-t-il ses banlieues?«; Fournel (1990): »Banlieue«, S. 205. Ein weiteres paratextuelles Element ist hier zudem einer Veränderung unterworfen, die vergleichsweise selten anzutreffen ist: die ISBN-Nummer. Auf dem ›Umschlag‹ von Banlieue (der in der hier verwendeten Anthologie-Ausgabe allerdings kein Umschlag, sondern eine bedruckte Seite ist, die nur von der typographischen Gestaltung an einen solchen erinnert) ist ein Strichcode und die 13-stellige ISBN 9782232102844 abgedruckt. Diese Nummer (oder vielmehr: ihre 10stellige Entsprechung 223210284X) ist allerdings laut dem Katalog der BNF bereits seit 1989 (also ein Jahr vor dem Erscheinen von Banlieue) vergeben: An ein Buch mit dem Titel Grammaire turbulente du français contemporain von Pierre Fasola und Jean-Charles Lyant; vgl. BNF, . Handelt es sich hierbei um eine ›Werbung‹ für einen Text, an dem Fournel Gefallen gefunden hat (er erschien in der Collection Mots beim Verlag Ramsay, deren Leiter Fournel zu dieser Zeit war)? Und wenn ja: Warum eine Werbung derart verstecken, dass sie kaum jemand entschlüsselt haben wird? Vermutlich handelt es sich um eine Anspielung, deren Humor sich nur dem insider entdeckt. Zu einem weiteren Beispiel für eine Manipulation einer ISBN-Nummer vgl. Ramtke (2012): »Ohne Begleitschutz – Texte auf der Schwelle«, S. 108–110. 68 McHale (1987): Postmodernist Fiction, S. 10.
Fiktion
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Fragen weniger dominant werden. Eine auch nur annähernd vollständige und umfassende Geschichte dieser Entwicklung lässt sich freilich kaum schreiben, es soll dennoch in den folgenden Kapiteln ein Versuch unternommen werden, einige Episoden aus dieser Geschichte aufzuzeigen. Dabei liegt ein besonderer Schwerpunkt auf den soeben angesprochenen Zeiträumen und Aspekten, anhand derer sich Veränderungen und Brüche aufzeigen lassen.
Fiktion Die Diskussion um eine Theorie der Fiktion hat die Literaturwissenschaft spätestens seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kontinuierlich beschäftigt, und wenig deutet darauf hin, dass sich daran in naher Zukunft etwas ändern wird. Fiktion, so scheint es, hat in der Forschung Dauerkonjunktur. Dabei haben sich allerdings die Forschungsansätze und theoretischen Anschluss- und Ausgangspunkte mitunter so weitgehend ausdifferenziert, dass fraglich ist, ob hier überhaupt sinnvoll von einer Diskussion gesprochen werden kann. Der Klage über die »Heterogenität der Begriffsbestimmungen«69 ist allerdings in jüngerer Zeit entgegnet worden, dass eine Bestimmung der Funktionsweise von Fiktion sich gerade der Vielfalt der Ansätze bedienen könne – ohne die jeweils spezifischen Leistungen und Beschränkungen der Ansätze einzuebnen: So kann der Begriff Fiktion sinnvoll nur in einer komplexen Bestimmung erläutert werden, die weder versucht, die Erklärung auf einen Beschreibungszusammenhang zu reduzieren, noch die Unterschiedlichkeit der Beschreibungskomponenten in einer globalen Formulierung zu ignorieren und zu überspringen.70
Mit dieser Warnung sollen hier denn auch mehrere Bestimmungen von Fiktion aufgegriffen werden und auf ihre Affinität zur Struktur von Paratexten hin untersucht werden. Fiktion ist dabei in jüngerer Zeit in Formen beschrieben worden, die einen umfassenderen Erklärungsansatz anbieten, der explizit als »eine Art Rahmenmodell«71 beschrieben wurde, das sich mit diversen theoretischen Bausteinen füllen lasse: Die Beschreibung von Fiktion als »Institution«, also einer historisch gewachsenen sozialen Praxis.72 Rezipienten sollen in der Institutions-Theorie gegenüber fiktionalen Texten
69 Zipfel (2001): Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. 14. Zu einer frühen Kritik der divergierenden Begriffsbestimmungen und der »Kommunikationsunfähigkeit« zwischen ihren Vertretern vgl. Hempfer (1990): »Zu einigen Problemen einer Fiktionstheorie«, S. 109 f. 70 Zipfel (2001): Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. 18. 71 Köppe (2014): »Die Institution Fiktionalität«, S. 44. 72 Der Fokus liegt hier auf der Beschreibung von Fiktion als historisch gewachsener sozialer Praxis – ob diese mit dem Begriff ›Institution‹ adäquat getroffen ist, ist demgegenüber zweitrangig.
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Paratext- und Fiktionstheorie
eine »fiktionstypische Rezeptionshaltung«73 einnehmen, bei der die Bedingungen ›normaler‹ Sprechakte teilweise ausgesetzt seien: The fictive story-teller, making up a story, makes and presents sentences (or propositions, i.e. sentence-meanings) for a particular kind of attention: The aim […] is this: / for the audience to make-believe (imagine or pretend) that the standard speech act commitments associated with the sentences are operative even while knowing that they are not. / Attending to sentences in this way is to adopt the fictive stance towards them.74
Sowohl von Seiten der Produktions- als auch von Seiten der Rezeptionsinstanz wird also auf eine institutionalisierte Umgangsweise mit Texten verwiesen, die dann an einem konkreten Text aktualisiert wird – wie genau dieser Umgang auszusehen hat, ist im Sinne der Rede von Fiktion als Institution noch nicht definiert, wenngleich beispielsweise Lamarque und Olsen selbstverständlich sehr klare Vorstellungen davon haben, wie dies im Einzelnen zu beschreiben ist.75 Diese interessieren hier jedoch vorläufig weniger als die Möglichkeiten, die eine Beschreibung von Fiktion als Institution allgemein bereithält. Sie erlaubt, dass Fiktion als historisch gewachsene und damit historisch wandelbare Praxis im Umgang mit Texten beschrieben werden kann, ohne bereits vorab festzulegen, welche Funktionen und Merkmale diesen Umgang im Einzelnen auszeichnen, oder welche Rezipienten mit welchen Texten (zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt) überhaupt nach diesem Muster verfahren – und wenn ja, wie sie zu diesem Umgang angeregt werden. Genau an dieser Stelle jedoch offenbart sich eine gravierender Beschränkung bestehender fiktionstheoretischer Überlegungen, die von einem Institutionsmodell ausgehen: Zwar lässt sich damit allgemein ein Modell formulieren, das Fiktion und den Umgang mit ihr beschreibt, jedoch wird dabei selten erwähnt, welche Hinweise einen Rezipienten überhaupt dazu veranlassen, eine fiktionstypische Rezeptionshaltung einzunehmen und die Konventionen der Institution Fiktion anhand eines bestimmten
73 Köppe (2014): »Die Institution Fiktionalität«, S. 35. Dies ist die Übersetzung von »fictive stance«; Lamarque/Olsen (1994): Truth, Fiction and Literature, S. 35 u. passim. 74 Lamarque/Olsen (1994): Truth, Fiction and Literature, S. 43. Mit »fictive story-teller« ist hier nicht etwa eine fiktive Erzählerfigur gemeint, sondern der Autor. Die Verwendung des Begriffs des »makebelieve« schließt an diejenige bei Kendall Walton an. Auch seine Theorie spricht von Fiktion als einer »institution«; Walton (1990): Mimesis as Make-Believe, S. 88. Sie soll hier jedoch wegen der Ausweitung des Fiktionsbegriffs auf alle Formen der Darstellung nicht näher erläutert werden; vgl. Bunia (2007): Faltungen, S. 30 f. Vielleicht der konziseste Punkt, an dem Waltons Identifikation von Fiktion und Darstellung deutlich ins Auge fällt, ist seine Erklärung von non-fiction: Diese ist für ihn, entgegen der hier und andernorts vertretenen Annahme, nämlich nicht eine bestimmte Art der Darstellung (etwa: von Sachverhalten in der realen Welt und geäußert von Sprechern, die Verantwortung für das Gesagte übernehmen), sondern schlicht identisch mit »not fiction«, also mit der realen Welt, wie sie außerhalb von jeglicher Darstellung begegnet; vgl. Walton (1990): Mimesis as Make-Believe, S. 72. 75 Eine Zusammenfassung des Fiktionalitätsbegriffs bei Lamarque und Olsen findet sich bei Köppe (2014): »Die Institution Fiktionalität«, S. 40.
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Einzeltextes zu aktualisieren. Dies ist zum einen ein Problem, das allgemein die Funktion von ›Hinweisen‹ auf Fiktion in Texten und Paratexten betrifft (siehe die Ausführungen zu Fiktionssignalen, S. 43), zum anderen aber ein breiteres, historisches Problem. Letzteres immerhin erwähnen Lamarque und Olsen. Es betrifft die Frage, wie die Institution Fiktion historisch hat entstehen können, deren Bedingungen und Folgen sich kaum nicht-zirkulär beschreiben lassen: »fictive utterance presupposes the practice of story-telling but that practice is explained in terms of fictive utterance and response.«76 Die Institution muss also immer schon bestehen, damit etwas als Fiktion produziert und rezipiert werden kann, denn genau diese Produktion und Rezeption beruhen auf den Möglichkeiten, die nur die Institution zur Verfügung stellt – und dennoch entsteht die Institution erst aus dieser Praxis. Der etwas lapidare Verweis von Lamarque und Olsen darauf, dass hier ein zentrales Problem aller Sprachtheorien angesprochen ist, dehnt die Frage allerdings zu weit aus – und lässt sie zugleich unbeantwortet. Stattdessen wäre es angezeigt, im Sinne einer historischen Entwicklung zu untersuchen, welche Wege und Signale Texte finden, um eine Rezeption als fiktionaler Text – wie auch immer diese im Einzelnen historisch aussehen mag – anzuregen. Dabei wird sich zeigen, dass Aspekte einer Theorie der Fiktion aus den Umgangsmöglichkeiten mit Texten emergieren, die diese selbst – beziehungsweise ihre Paratexte – thematisieren. Die Untersuchung von Paratexten weist dabei allerdings einen Weg, der keineswegs immer so klare Unterscheidungen anzeigt, wie es Lamarque und Olsen nahelegen. Sie sprechen davon, dass die Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion eine gleichsam unumstößliche, mit beinahe schlafwandlerischer Sicherheit zu treffende sei: The fact that works of fiction, of the paradigmatic kind, are so easily recognized should not detract from the importance of making a distinction between fiction and non-fiction. Those who fail to draw the distinction in particular cases […] are often figures of fun; but that is only because the distinction is so familiar and secure. The truth is that the classification of narrative into fiction and non-fiction is of the utmost significance; not only is it a precondition for making sense of a work but it determines how we should respond both in thought and action.77
Während natürlich richtig ist, dass die Rezeption eines Textes als Fiktion gravierende Folgen darauf hat, wie mit dem Text umgegangen werden kann und darf, so ist die Abgrenzung sicherlich nicht immer so einfach zu treffen – insbesondere dann, wenn man in der Geschichte weiter zurückgeht.78 Nicht nur begegnet hier erneut die bereits erwähnte schlichte Ausgrenzung der ›schlechten‹ Leser, die für Belustigung sorgen,
76 Lamarque/Olsen (1994): Truth, Fiction and Literature, S. 44. 77 Lamarque/Olsen (1994): Truth, Fiction and Literature, S. 30. 78 Lamarque und Olsen verweisen freilich darauf, dass ihre Annahme nur für ›paradigmatische‹ Fälle gelte. Es wird sich allerdings sogleich an einem Beispiel, Robinson Crusoe, erweisen, dass durchaus fraglich ist, was als paradigmatisch gelten kann und was nicht.
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sondern Lamarque und Olsen wenden sich an anderer Stelle zudem einem historischen Beispiel zu, das auch hier genauer analysiert werden soll. Gegenstand ihrer Überlegungen ist das Vorwort zum ersten Teil von Robinson Crusoe, in dem ein Herausgeber behauptet, die folgende Erzählung sei eine »just history of fact«79. Lamarque und Olsen schildern, dass der Zweck dieses Vorwortes nicht sei, Leser zu täuschen, sondern darin bestehe, sie durch den Verweis auf die Tatsächlichkeit dazu zu bewegen, den Text mit derselben Aufmerksamkeit und Ernsthaftigkeit zu lesen wie einen historischen Bericht.80 Allerdings übersehen Lamarque und Olsen, dass just in dem Teil des Vorwortes, den sie zitieren, die Rede davon ist, dass Texte wie Robinson Crusoe hastig, ja flüchtig gelesen werden (siehe unten S. 132) – was ihrer Deutung diametral widerspricht. Die Frage nach der Funktion des Defoe’schen Vorwortes ist also in jedem Fall wesentlich komplexer, als Lamarque und Olsen es schildern, und dies betrifft auch die Frage nach der Institution Fiktion, denn es wird an diesem und anderen Beispielen im Folgenden zu zeigen sein, wie Paratexte immer wieder neu die Unterscheidung Fakt/Fiktion umspielen und welche Hinweise sie dabei den Lesern geben. Der mit der Institutionstheorie der Fiktion aufgerufene Fokus auf die sozialen und kulturellen ›Regeln‹ der Fiktion kommt dem durchaus entgegen – vorausgesetzt, dass diese nicht als statische begriffen werden, sondern als Regeln, die immer wieder neu ausgehandelt und aktualisiert werden. Der Verweis auf eine Institution dient in der Praxis allerdings häufig gerade dazu, eben diese Aushandlungsprozesse und historischen Verästelungen zu eskamotieren, und nicht dazu, eine genaue Lektüre zu betreiben, die feststellen müsste, dass zu dem Prozess, der in der Retrospektive als Etablierung einer Regel erscheint, neben dem Erwartbaren häufig genug Missverständnisse, Fehlgänge und Ambivalenzen gehören. Als ein idealer Austragungsort dieser Auseinandersetzungen hat sich der Paratext erwiesen, der dabei jedoch immer schon zwischen fiktionaler Praxis selbst und der ›noch‹ nicht-fiktionalen Aushandlung der Regeln derselben oszillieren kann. Mögliche Lösungen für das angedeutete Problem, dass mit der Rede von der Institution der Fiktion noch nicht geklärt ist, wie eine Rezeption, die den Regeln und Konventionen dieser Institution folgt, zustande kommt, sind in der Geschichte der Fiktionstheorie in verschiedenen Zusammenhängen vorgeschlagen worden. Bei Lamarque und Olsen wird als zentrales Kriterium auf Intention rekurriert. In dem oben angesprochenen Zitat wird dies deutlich: Der Autor »makes and presents sentences […] for a particular kind of attention: The aim […] is […] for the audience to make-believe […].«81 Explizit als distinktives Merkmal für fiktionale Texte fasst Köppe dies auf, wenn er, Lamarque und Olsen zusammenfassend, formuliert:
79 Defoe* (1719): Life and Adventures. 80 Vgl. Lamarque/Olsen (1994): Truth, Fiction and Literature, S. 268 f. 81 Lamarque/Olsen (1994): Truth, Fiction and Literature, S. 43.
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T ist genau dann ein fiktionaler Text, wenn gilt: / (1) T wurde von seinem Verfasser mit der Absicht A verfasst, dass für den Leser das Vorliegen von A ein hinreichender Grund ist, […] sich vorzustellen, dass […].82
Auf die einzelnen Bedingungen kommt es an dieser Stelle nicht an, zentral ist nur die Bindung an Intention. Eine ähnlich starke Rolle spielt Intention in den fiktionstheo retischen Überlegungen Searles.83 In allen Fällen aber bleibt unklar, woran sich die Intention des Autors, beziehungsweise das ›Vorliegen‹ einer solchen, festmachen ließe, wenn nicht am Text selbst (beziehungsweise am Paratext). Ähnlich verhält es sich mit einer weiteren häufig vorgetragenen Überlegung, die beschreibt, wie die Rezeption eines Textes als Fiktion zustande kommen soll; die Rede ist vom ›Fiktionsvertrag‹. Der Vertrag als Beschreibungsinstrument für Fiktion wird häufig auf die bekannte Formulierung Coleridges bezogen, bei der Rezeption fiktionaler Texte komme es zu einer »willing suspension of disbelief«84: The basic rule in dealing with a work of fiction is that the reader must tacitly accept a fictional agreement, which Colderidge called »the suspension of disbelief.« The reader has to know that what is being narrated is an imaginary story, but he must not therefore believe that the writer is telling lies.85
Worauf sich dieser Vertrag stützen soll, bleibt allerdings unklar. Immerhin verweist Eco auf paratextuelle Signale, die Leser zum Eingehen eines solchen Vertrags ermutigen sollen.86 Letztlich aber bleibt auch hier die Metapher von einem Vertrag dunkel. Denn einerseits lässt sich die Rede von einem Fiktionsvertrag als Beschreibung der Text rezeption im Sinne von »kointentionale[n] Umdeutungsoperationen auf Rezipient(inn) enseite«87 verstehen, die beschreibt, wie Fiktion rezipiert wird, sind die Teilnehmer
82 Köppe (2014): »Die Institution Fiktionalität«, S. 40. 83 »[T]he identifiying criterion for whether or not a text is a work of fiction must of necessity lie in the illocutionary intentions of the author«; Searle (1975): »The Logical Status of Fictional Discourse«, S. 325. 84 Coleridge (1939[1817]): Biographia Literaria, S. 6. 85 Eco (2004): Six Walks in the Fictional Woods, S. 75. 86 Vgl. Eco (2004): Six Walks in the Fictional Woods, S. 120. Ähnlich auch Warning (2009): »Fiktion und Transgression«, S. 34: »Als wesentlich relational […] ist Fiktionalität wesentlich kontraktuell, d. h. sie beruht auf einem Vertrag, der nicht förmlich geschlossen wird, sondern der sich ergibt aus dem Widerspiel von entsprechenden Selbstanzeigen des Textes (im Prolog, im Epilog, im Kommentar oder auch über metafiktionale mises en abyme auf Inhalts- oder Vermittlungsebene) einerseits und der Einübung entsprechender Rezeptionshaltungen andrerseits.« 87 Nickel-Bacon/Groeben/Schreier (2000): »Fiktionssignale Pragmatisch«, S. 282. Nickel-Bacon, Groeben und Schreier beziehen sich hierbei auf Landwehrs vergleichsweise frühe Studie, die bereits von »kointentionale[n] Veränderungen des Rezipienten in Übereinstimmung mit den Intentionen des Produzenten« fiktionaler Texte spricht; Landwehr (1975): Text und Fiktion, S. 162. Nicht nur ist der Rekurs auf Intention problematisch (siehe Kap. 1, Anm. 27), der Rekurs auf die Vertragsrhetorik ist
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an der textuellen Kommunikation einmal auf den ›Vertrag‹ eingegangen. Dies erklärt aber weiterhin nicht das Zustandekommen des Vertrags (sofern die Vertragsrhetorik überhaupt trägt) und insbesondere nicht die formalen und textuellen Hinweise, die in Analogie zum Vertragstext gesetzt werden müssten. Ein Kandidat hierfür ist sicherlich der Paratext, es erweist sich jedoch bei genauerem Hinsehen, dass die paratextuellen Möglichkeiten, wenn es darum geht, auf den fiktionalen Charakter des Textes hinzuweisen (oder diesen im Gegenteil abzustreiten), wesentlich komplexer sind, als es eine Analogisierung zu Vertragstexten zulässt. Insgesamt scheint daher das Modell des Vertrags zu unklar, um als Modell für Rezeptionsvorgänge und ihr Zustandekommen zu dienen. Dem Paratext wurde in diesem Kontext immer wieder die Rolle zugeschrieben »recht eindeutige«88 Hinweise zu geben. Dies jedoch unterschätzt die beschriebene Ambivalenz des Paratextes. Zunächst scheint einleuchtend, dass etwa Gattungs bezeichnungen wie ›Roman‹ eine fiktionale Rezeption konditionieren, gleichzeitig aber ist bekannt, dass eine nicht geringe Zahl von Paratexten beispielsweise behauptet, dass der folgende Text ein Tatsachenbericht sei – obwohl dies nachweislich nicht der Fall ist. Diesen Behauptungen kommt dabei eben jene Sonderstellung des Paratextes zu, die mit der bereits erwähnten (siehe S. 4) Genette’schen Formulierung treffend beschrieben ist, die besagt, dass dem Paratext ein Prinzip eigen sei, nach dem er beim Wort genommen werden will, eben weil er qua seiner Stellung eine gleichsam objektive, vom potentiell fiktionalen Text getrennte und rein der Information dienende Funktion habe. Zugleich aber schränkt Genette, dessen Studie in wesentlichen Teilen darin besteht, Paratexte eben nicht beim Wort zu nehmen, ein: la thèse officielle qui préside au statut du paratexte se présente dans certains cas comme une fiction officielle que le lecteur n’est pas plus (et sans doute encore moins) invité à prendre au sérieux que, par exemple, tel prétexte ›diplomatique‹ destiné par consensus à couvrir une vérité que chacun perçoit ou devine, mais que nul n’a intérêt à dévoiler.89
Genette scheint hier den (zweifelsohne häufig anzutreffenden) Fall eines fiktionalen Paratextes vor Augen zu haben, der so offensichtlich im Widerspruch zu anderen (para)textuellen Elementen steht, dass seine Fiktionalität ins Auge fällt. Die Beispiele, die er kurz darauf anführt und bei denen etwa die Nennung eines Autornamens damit konfligiert, dass im Paratext die Textgenese einer fiktiven Figur zugeschrieben wird,
es ebenso. In diesem Sinne potenzieren sich hier die Probleme, da zunächst von einer intentionalen Erklärung der Fiktion ausgegangen wird, die dann aber, um überhaupt zustande kommen zu können, noch an einen Vertragsbegriff geknüpft werden muss, der sich kaum explizieren lässt. Letztlich bleibt also unklar, was mit der Metapher vom Vertrag für eine theoretische Erklärung gewonnen ist. 88 Zipfel (2001): Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. 242. 89 Genette (1987): Seuils, S. 169.
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deuten in diese Richtung.90 Allerdings lassen sich selbstverständlich Fälle anführen, bei denen die Fiktion des Paratextes keineswegs so ›offiziell‹ ist, dass der Umgang mit ihr als allenfalls ›diplomatisches‹ Anerkennen eben dieser paratextuellen Verfahren erscheint. Hinter der ›diplomatischen Fiktion‹ steht auch bei Genette an dieser Stelle ein Modell von Fiktion als »contrat – bilatéral – de fiction«91, als Vertrag zwischen Leser und Autor also. Wie dieser Vertrag jedoch zustande kommen soll, ist an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt, und es ist fraglich, wie ein Vertrag aussehen könnte, der einerseits explizit und unmissverständlich formuliert sein müsste (sonst wäre es eben kein Vertrag – jedenfalls nicht in einem juristischen Sinne) und andererseits eben jene ›diplomatischen‹ Spiele erlauben würde, die Genette beschreibt.92 Während also die Institutionstheorie durchaus eine Art Rahmenmodell liefern kann, fiktionale Texte und ihre Rezeption zu beschreiben, so weist sie zugleich eine Leerstelle auf, die auch die Vertragstheorie auszeichnet, wenn es darum geht, ob und wie ein Text als Fiktion ›erkennbar‹93 ist oder sein kann. Es wurde in dieser Hinsicht verschiedentlich – und unter diversen Begriffen –94 als Lösung vorgeschlagen, von ›Fiktionssignalen‹ auszugehen, mit denen ein Text eine fiktionale Rezeption anrege.95 Unter ›Fiktionssignalen‹ soll damit nicht etwas verstanden werden, das einen Text eindeutig und gleichsam unfehlbar als fiktionalen ausweist, sondern vielmehr Indizien für den Status eines Textes, »mit Hilfe derer man im konkreten Fall die Entscheidung, einen Text als fiktional anzusehen, begründen kann.«96 Es handelt sich dabei also um »epistemische Kriterien, auf die wir uns stützen, wenn wir herausfinden wollen, ob ein Text fiktional ist oder nicht«97. Als ›epistemische Kriterien‹ oder heuristische Kriterien sind Fiktionssignale grundsätzlich der Abwägung und Unsicherheit unterworfen: Sie alleine garantieren nicht, dass eine fiktionale Rezeption ein sinnvoller Umgang mit dem Text ist; umgekehrt ist ihre Abwesenheit nicht notwendigerweise ein Hinweis darauf, dass der Text als faktualer gelesen werden muss. Die Rede von »Symptome[n]
90 Vgl. Genette (1987): Seuils, S. 169 f. 91 Genette (1987): Seuils, S. 170. 92 Es sei nicht unerwähnt, dass Genette an anderer – freilich wenig prominenter – Stelle die Tragweite des Vertragsbegriffs zur Beschreibung der Rezeption von fiktionalen Texten durchaus kritisch sieht: »Le terme [sc. ›contrat‹] est évidemment fort optimiste quant au rôle du lecteur, qui n’a rien signé et pour qui c’est à prendre ou laisser«; Genette (1992[1982]): Palimpsestes, S. 10, Anm. 2. 93 ›Erkennbarkeit‹ soll hier nicht nahelegen, dass Texte an sich fiktional sind und ein Rezipient dies bloß richtig erkennen muss. Vielmehr ist damit gemeint, welche Merkmale ein (Para-)Text bereithalten kann, um eine fiktionale Rezeption ›anzuregen‹. 94 Vgl. für eine Auflistung der Begriffe Zipfel (2014): »Fiktionssignale«, S. 97, Anm 1. 95 Der Begriff geht zurück auf Weinrich (1975): »Fiktionssignale«. 96 Zipfel (2014): »Fiktionssignale«, S. 103. 97 Gertken/Köppe (2009): »Fiktionalität«, S. 240. Gertken und Köppe machen an dieser Stelle unmissverständlich deutlich, dass sie mit dem Begriff ›Kriterium‹ in diesem Zusammenhang weder notwendige noch hinreichende Bedingungen meinen.
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oder Indizien«98 wäre folglich mitunter besser geeignet, die Funktionsweise dieser Hinweise zu beschreiben, es soll hier jedoch aufgrund seiner Verbreitung am Begriff ›Fiktionssignal‹ festgehalten werden. Fiktionssignale sind in der Forschung häufig in diverse Kategorien unterteilt worden. Eine der groben Einteilungen, die sich finden lässt, ist diejenige zwischen textuellen und paratextuellen Fiktionssignalen.99 Desweiteren wird zwischen »Fiktiona litätssignalen« und »Fiktivitätssignalen« unterschieden, wobei erstere auf der Ebene der Erzählung angesiedelt sind, letztere hingegen auf der Ebene der Geschichte.100 Beide Kategorisierungen sind intuitiv einleuchtend, bedürfen aber der weiteren Bestimmung. Mit Fiktionalitätssignalen sind Eigenschaften eines Textes gemeint, die diesen als fiktionalen erscheinen lassen, also etwa bestimmte Formen eines deictic shift101 (wie im Satz »Morgen war Weihnachten«102) oder ein Erzähler, der Einsicht in die Gedanken von Figuren hat. Auf der Ebene der Geschichte können Fiktivitätssignale das Dargestellte als fiktiv erscheinen lassen – in diesem Fall schlicht, weil beispielsweise Einhörner in der Textwelt existieren. Fiktivitätssignale sind also ein Hinweis darauf, dass die Welt, die der Text beschreibt, eine fiktive ist und damit in einer weiteren, sekundären Instanz ein Signal dafür, dass der Text als fiktionaler zu lesen ist: Wenn in der Geschichte einer Erzählung sich Dinge ereignen, die nach den Vorstellungen der herrschenden Wirklichkeitskonzeption als nicht möglich angesehen werden müssen, wird der Leser die erzählte Geschichte als fiktiv ansehen und damit den Erzähltext als fiktionalen rezipieren.103
Fiktivitätssignale sind also in letzter Instanz auch Signale für Fiktionalität. Die Fiktionsforschung hat Fiktivitätssignale kaum je explizit thematisiert.104 Ebenso selten wird ausdrücklich die Kategorie der ›Erfundenheit‹ thematisiert,105 die eng mit Fiktivität zusammenhängt, jedoch von ihr unterschieden werden sollte. Unter ›Erfundenheit‹ soll verstanden werden, dass Elemente einer Geschichte sich in der realen Welt nicht nachweisen lassen: »Eine Begebenheit soll erfunden heißen, wenn unwahrscheinlich ist, daß sie sich belegen lässt.«106 Damit allerdings ist Erfundenheit mitunter nur indirekt zu begegnen, im Rekurs auf Zeugen und Quellen beispiels weise.107 Dies ist nicht weiter problematisch, denn es bildet durchaus einen Rezeptions-
98 Zipfel (2014): »Fiktionssignale«, S. 103. 99 Vgl. Zipfel (2014): »Fiktionssignale«, S. 98. 100 Zipfel (2001): Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. 234 f. 101 Vgl. Galbraith (1995): »Deictic Shift Theory and the Poetics of Involvement in Narrative«. 102 Dies ist das ›klassische‹ Beispiel bei Hamburger (1968): Die Logik der Dichtung, S. 65. 103 Zipfel (2001): Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. 234. 104 Vgl. Zipfel (2001): Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. 234. 105 Vgl. dagegen Bunia (2007): Faltungen, S. 136–140. 106 Bunia (2007): Faltungen, S. 136; Herv. i. O. kursiv und gesperrt. 107 Vgl. Bunia (2007): Faltungen, S. 136.
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vorgang ab, der sich immer wieder beobachten lässt, wenn beispielsweise nach dem Besuch eines Kinofilm recherchiert wird, was von der gezeigten Geschichte auf überprüfbaren, festgehaltenen Ereignissen beruht – und was nicht. Dies ist zudem keines wegs eine neue Entwicklung, sondern lässt sich, wie gleich an einigen Überlegungen zu zeigen sein wird, bis zur Romandiskussion im 18. Jahrhundert zurückverfolgen. Erfundenheit kann Signalcharakter für Fiktivität (und in der Folge für Fiktionalität) besitzen: Wenn offensichtlich erfundene Entitäten in einer Geschichte vorkommen, so ist naheliegend, dass eine fiktive Welt angenommen werden kann, der diese Entitäten angehören. Offensichtlich erfunden sind Elemente der Geschichte dann, wenn sie den Vorstellungen über Wirklichkeit ostentativ widersprechen, oder anders formuliert: wenn ins Auge fällt, dass (sehr) unwahrscheinlich ist, dass sie sich in der Realität belegen lassen.108 Texte, deren dargestellte Welt Erfundenheit deutlich sichtbar werden lässt, lassen sich als ›phantastische‹ Texte beschreiben, während Texte, die eine Welt beschreiben, die mit der tatsächlichen zumindest möglicherweise kompatibel ist, als ›realistisch‹ beschrieben werden können.109 Erfundenheit ist außerhalb der literaturwissenschaftlichen Fiktionsforschung eine der zentralen Assoziationen mit dem Begriff Fiktion. Sie schließt an die alltagssprachliche Verwendung des Begriffs an, der demnach etwas bezeichnet, das ›erfunden‹ ist oder auf ›Erfindung‹ beruht. So beschreibt etwa der Duden »Fiktion« als »(bildungsspr[achlich]) etw[as], was nur in der Vorstellung existiert; etw[as] Vorgestelltes, Erdachtes«110. Und auch das Oxford English Dictionary beschreibt »fiction« als »something that […] is imaginatively invented; feigned existence, event, or state of things; invention as opposed to fact.«111 Beziehungsweise mit engerem Bezug auf literarische Fiktionen: »The species of literature which is concerned with the narration of imaginary events and the portraiture of imaginary characters«112. Der Larousse wiederum definiert: »Création, invention de choses imaginaires«113. Als zentrales Kriterium all dieser Bestimmungen lässt sich etwas ausmachen, das man als ›Erfundenheit‹ bezeichnen könnte: Ob es nun im Einzelnen als »erdacht«, »imaginary«, »feigned« oder
108 Dass dies selbstverständlich von historisch bedingten Wirklichkeitsvorstellungen abhängig ist, zeigt etwa die Diskussion um Drachen in der mittelalterlichen Literatur; vgl. Glauch (2014): »Fiktionalität im Mittelalter«, S. 401 f. 109 Zu dieser Definition von »Realistik« und »Phantastik« vgl. Zipfel (2001): Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. 106–113. 110 »Fiktion«, in: Wörterbuch der deutschen Sprache, Bd. 3, S. 1231; i. O. kursiv. 111 »fiction«, in: Oxford English Dictionary, . 112 »fiction«, in: Oxford English Dictionary, . Dabei sei auch auf das Problem hingewiesen, dass fiction im englischsprachigen Raum auch schlicht das meinen kann, was im Deutschen Belletristik heißt. Die Definition des OED verweist aber darauf, dass auch in dieser Verwendung Erfundenheit gleichsam als Voraussetzung mitschwingt. 113 »fiction«, in: Grand Larousse, Bd. 3, S. 1938.
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ganz explizit als »invention« bezeichnet wird, gemeint ist stets ein ›Etwas‹, das von jemandem nicht etwa in der Realität vorgefunden, sondern erfunden wurde. Während in all diesen Definitionen nicht speziell oder nur in zweiter Instanz auf literarische Fiktionen eingegangen wird, finden sich auch in der literaturwissenschaftlichen Forschung mitunter Verweise auf Erfundenheit in literarischen Fiktionen – dies allerdings häufig am Rande.114 Dass dieses Kriterium ein vergleichsweise selten bemühtes bleibt, ist umso auffälliger, als es in keiner der Wörterbuchdefinitionen fehlt. Bunia weist auf die potentielle Rolle von Erfundenheit in Fiktionen hin, schränkt aber zugleich die Tragweite der Korrelation ein: »Erfundenheit ist stets ein Indiz für Poiesis und für Fiktion; Fiktion dagegen kommt mit wenig oder gar keiner Erfindung aus.«115 Diese Beschreibung ist auf einer theoretischen Ebene durchaus adäquat, es muss jedoch betont werden, dass das Fehlen von Erfundenheit und damit das Fehlen von Indizien durchaus zu Problemen führen kann. Ein Text, der ausschließlich belegbare Begebenheiten schildert, stellt die Frage, ob diese Begebenheiten in einer fiktiven Welt zu situieren sind oder ob vielmehr der Text als faktualer die tatsächliche Welt beschreiben soll. Fehlen also Fiktivitätssignale im Sinne einer ›auffälligen‹ Erfundenheit oder ist gar alles im Text Geschilderte überprüfbar, so stellt sich die Frage nach dem Umgang mit dem Text in aller Radikalität. Gerade in Abwesenheit solcher Indizien ist dabei immer wieder auf den Paratext als Instanz verwiesen worden, der zugeschrieben wird, dennoch eine Rezeptionslenkung anzubieten.116 Diese Diskussion wird weiter unten wieder aufgegriffen. Zuvor aber soll überlegt werden, warum Erfundenheit in der literaturwissenschaftlichen Diskussion über Fiktion eine so geringe Rolle gespielt hat. Einerseits mag dies im latenten Bezug auf Intention begründet sein, der im Begriff ›Erfundenheit‹ mitschwingt (etwas, das erfunden ist, setzt voraus, dass jemand es in einem intentionalen Akt erfunden hat). Stärker mag jedoch die vergleichsweise unspezifische Verbindung zwischen Fiktion und Erfundenheit wiegen, denn letztere ist weder notwendig eine Eigenschaft von Fiktion, noch ist sie hinreichend für die Annahme, dass Fiktion vorliegt, denn sie kann auch in Lügen oder Gedankenexperimenten begegnen. Der gewichtigste Grund allerdings dürfte sein, dass in der literaturwissenschaftlichen Fiktionsforschung häufig die Frage nach der ›Erkennbarkeit‹ von Fiktion ausgeklammert wird zugunsten einer Beschrei-
114 Gertken und Köppe beispielsweise verweisen – in einer Fußnote – auf die »Intuition, dass Fik tionen mit dem Ausdenken oder Erfinden von etwas zu tun haben«; Gertken/Köppe (2009): »Fiktionalität«, S. 254, Anm. 77. 115 Bunia (2007): Faltungen, S. 136. Vgl. auch: »Deshalb kann der Autor eines fiktionalen Textes von ihm oder anderen Erdachtes und Erfundenes zum Gegenstand seiner Darstellung machen, aber hierzu besteht keinerlei Notwendigkeit. Er kann auch erzählen wie jeder andere Autor und Wahres berichten«; Kablitz (2008): »Literatur, Fiktion und Erzählung«, S. 36. 116 »Dabei kann umso stärker auf Fiktionsmarkierungen verzichtet werden, je deutlicher die Erfundenheit zu Tage tritt, also je eindeutiger die Unwahrscheinlichkeit der Belegbarkeit ersichtlich wird«; Bunia (2007): Faltungen, S. 137 f.
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bung der Mechanismen und Charakteristika von fiktionalen Texten, bei denen bereits vorausgesetzt wird, dass sie als fiktionale gelesen werden sollen.117 Besonders deutlich wird dies, wenn es um Fragen der Referenz beziehungsweise der Referentialisierbarkeit fiktionaler Texte geht: Die Werke der Dichter sind fiktional in dem Sinne, dass sie grundsätzlich keinen Anspruch auf unmittelbare Referentialisierbarkeit, d. h. Verwurzelung in einem empirisch-wirklichen Geschehen erheben […].118
Dies beschreibt einen möglichen Bestandteil der Institution Fiktion, setzt jedoch bereits voraus, dass ›erkannt‹ wurde, dass dieser »Anspruch« nicht bestehe. Dass fiktionale Rede grundsätzlich »keinen Anspruch auf Referentialisierbarkeit oder auf Erfülltheit erhebt«119 mag also als theoretisches Postulat angemessen sein, jedoch wäre zu klären, woran dieser fehlende Anspruch sich gegebenenfalls festmachen ließe. In einem Sinne, der diesem Fehlen eines Anspruches auf Referentialisierbarkeit sehr nahe ist, wurde eine Eigenschaft fiktionaler Texte als »Vergleichgültigung« beschrieben: Fiktionale Texte sind also charakterisiert durch eine Vergleichgültigung gegenüber dem Wahrheitswert ihrer Sätze und damit der Wahrheit der in ihnen dargestellten Sachverhalte.120
Dies allerdings beschreibt einerseits eine Rezeptions- und Produktionshaltung im Bezug auf fiktionale Texte (und kaum eine Eigenschaft dieser Texte selbst). Von dieser Rezeptionshaltung auszugehen ist andererseits alles andere als selbstverständlich, denn die Frage nach der Erfundenheit oder, im Gegenteil, Nachprüfbarkeit des Dargestellten ist eine, die sich in der alltäglichen Rezeption durchaus stellen kann. Sie ist zudem – und dies ist der gewichtigere Punkt – in der historischen Diskussion um Fiktion lange ein zentraler Aspekt gewesen. Der Anspruch auf die Wahrheit der dargestellten Sachverhalte darf selbstverständlich auch für Texte wie Robinson Crusoe nicht einfach als gegeben angenommen werden, er ist jedoch zugleich keineswegs ›gleichgültig‹ – das lässt sich an den paratextuellen Wahrheitsbeteuerungen ablesen. Ob diesen nun zu trauen ist oder nicht: Sie sprechen Probleme an, die bestehen und für die Lösungen gesucht werden müssen, weil ohne eine bereits durchgesetzte ›Fiktionskonvention‹ eben nicht davon ausgegangen werden kann, dass ihnen ›gleichgültig‹ begegnet werden kann.
117 Häufig bleibt diese Unterscheidung zudem implizit und mitunter vermengen sich die Fragestellungen. Eine klare Trennung zwischen einer »Ent- und Unterscheidung von Fiktion«, also zwischen der Entscheidung, die ein Leser treffen müsse, und der Unterscheidung, die die Theorie zu formulieren habe, findet sich bei Bareis (2008): Fiktionales Erzählen, S. 74, sowie Bareis (2016): »Randbereiche und Grenzüberschreitungen«, S. 56. Explizit die Differenz der Fragestellungen betont auch bereits Stierle (1975): »Fiktion, Negation und Wirklichkeit«, S. 523. 118 Martínez/Scheffel (2012): Einführung in die Erzähltheorie, S. 15. 119 Gabriel (1975): Fiktion und Wahrheit, S. 28; i. O. kursiv. 120 Kablitz (2008): »Literatur, Fiktion und Erzählung«, S. 16.
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Dies ist auch der Grund, warum hier Erfundenheit als Kategorie verwendet werden soll, denn sie findet sich nicht nur in einer alltagsprachlichen Verwendung des Fiktionsbegriffs, sondern insbesondere auch in den Reflexionen, die fiktionale Texte über ihren eigenen Status anstellen und in paratextuellen ›Statusbehauptungen‹. Diese Statusbehauptungen werden insbesondere dann relevant, wenn es sich in dem hier dargestellten Sinne um ›realistische‹ Texte handelt, Texte also, die nicht durch phantastische und damit offensichtlich erfundene Sachverhalte auf Erfundenheit hinweisen. Treten manifest erfundene Figuren in einem Text auf oder gänzlich unmögliche Ereignisse ein, so ist eine Rezeptionshaltung, die den Text als Fiktion auffasst, jedenfalls eine sehr naheliegende Option. Daneben aber gibt es freilich eine ganze Reihe von Texten, die in aller Regel als fiktionale rezipiert werden, ohne dass sie auf den ersten Blick erkennbar von erfundenen Begebenheiten berichten. Die Vermutung liegt nahe, dass gerade solche Texte auf weitere Signale und Hinweise angewiesen sind, um eine Rezeptionslenkung hinsichtlich der Frage Fakt/ Fiktion bieten zu können.121 Neben Signalen auf der Ebene der Erzählung ist dabei auch an explizite Kommentierungen, die den Fiktionsstatus betreffen, zu denken. Diese finden sich in aller Regel im Paratext oder aber in metafiktionalen Passagen. Sie adressieren in vielen Fällen direkt die Erfundenheit des Dargestellten und beziehen sich dabei häufig auf die oben beschriebene alltagssprachliche Verwendung des Fiktionsbegriffs, die diesen zentral mit Erfindung assoziiert.122 In der Folge verwundert es nicht, dass etwa Wolf als einer der wenigen den Begriff der Erfundenheit in der literaturwissenschaftlichen Diskussion aufgreift, beschäftigt er sich doch explizit mit Mitteln der »Illusionsdurchbrechung« und metafiktionalen Bezügen. Wolf grenzt dabei Erfundenheit von weiteren Aspekten der Fiktion ab: Das Kunstwerk als Fiktion kann sich […] nach dem […] referentiellen Kriterium auszeichnen: in der Frage nach der Herstellung einer Einzelreferenz. Unter ›Fiktion‹ kann bekanntlich etwas – im Gegensatz etwa zu realitätsbezogenen Diskursen […] – nicht unmittelbar ›Wahres‹ und ernsthaft auf die Spezifika der Lebenswelt Bezogenes verstanden werden. […] Ich möchte nun diese potentielle Erfundenheit im Sinne einer fehlenden Einzelreferenz […] im Unterschied zur fictio
121 Als Begründung für die Nachrangigkeit des Kriteriums der Erfundenheit findet sich dies bei Fludernik wieder, nach der »die (oft nicht nachprüfbare) Frage der Erfundenheit nachrangig ist und fiktionale oder faktuale Texte als solche produziert und auch als solche rezipiert werden. Danach liegt das Kriterium für eine Klassifikation im Kontext begründet (Gattung, Publikationsmedium, Autor intention, Lesereinstellung […])«; Fludernik (2015): »Narratologische Probleme des faktualen Erzählens«, S. 115. Neben der recht unspezifischen Verwendung des Kontext-Begriffs, ist dem im hier betrachteten Zusammenhang entgegenzuhalten, dass Erfundenheit jedoch gerade in Paratexten (dies zählt vermutlich zum ›Kontext‹) durchaus immer wieder thematisiert wird und damit nicht immer schon nachrangig ist. 122 Wenngleich metafiktionale Verfahren keineswegs deckungsgleich sind mit paratextuellen Thematisierungen von Fiktion, so lassen sich doch einige Verbindungslinien und Affinitäten entdecken; vgl. Wolf (1993): Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst, S. 260–265.
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mit einer zweiten Ableitung aus dem lateinischen ›fingere‹ […] den ›fictum‹-Aspekt der Kunst nennen.123
Auch in anderen Untersuchungen von Metafiktionalität erscheint immer wieder der Aspekt der Erfundenheit,124 der sich in literaturwissenschaftlichen Beschreibungen von Fiktion anderweitig kaum findet – oder jedenfalls nicht explizit. Metafiktionale Kommentare und paratextuelle Verweise auf die Fiktionalität eines Textes beziehen sich mitunter zentral auf Erfundenheit als Charakteristikum. Während dieses Kriterium oder Merkmal von Fiktion also innerhalb der literaturwissenschaftlichen Theoriebildung eine eher marginale Rolle spielt, findet es sich in paratextuellen oder metatextuellen Reflexionen vergleichsweise häufig und hat daher Eingang in die literaturwissenschaftliche Diskussion metatextueller Phänomene gefunden. In Einzelfällen greifen paratextuelle Verweise auf Erfundenheit dabei sogar – wenn auch leicht ironisch – Wörterbuchdefinitionen auf, die den oben genannten entsprechen, wie die Vorrede zu Célines Voyage au bout de la nuit, die sich auf Littrés Dictionnaire de la langue française bezieht: Notre voyage à nous est entièrement imaginaire. Voilà sa force. Il va de la vie à la mort. Hommes, bêtes, villes et choses, tout est imaginé. C’est un roman, rien qu’une histoire fictive. Littré le dit, qui ne se trompe jamais.125
Die Betonung der Erfundenheit (hier aufgerufen durch imaginaire, imaginé) der beschriebenen Sachverhalte ist dabei selbstverständlich nicht auf den Paratext beschränkt, sie findet sich allerdings vergleichsweise häufig in Vorworten, Disclaimern und anderen paratextuellen Elementen und seltener im Text selbst.126
123 Wolf (1993): Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst, S. 38 f. Wolfs Abgrenzung des fictio vom fictum-Aspekt der Fiktion soll hier nicht weiter verfolgt werden. Sie ist jedoch nicht deckungsgleich mit der Unterscheidung von Fiktionalität (mit Bezug auf die Erzählung) und Fiktivität (mit Bezug auf die Geschichte); vgl. Rajewsky (2015): Medialität – Transmedialität – Narration, S. 560 f., Anm. 55. 124 So definiert Fludernik (in Anlehnung an Wolf): »The term metafiction […] is here limited to selfreflexive statements about the inventedness of the story.« Fludernik (2003): »Metanarrative and Metafictional Commentary«, S. 28. 125 Céline (1932): Voyage au bout de la nuit. 126 Ein Beispiel für letzteres wäre etwa der folgende Erzählerkommentar: »This story I am telling is all imagination. These characters I create never existed outside my own mind«; Fowles (1970 [1969]): The French Lieutenant’s Woman, S. 97. Bei Fowles ist die durchgängige metanarrative und metafiktionale Thematisierung der (auch zeitlichen) Differenz zwischen Erzähler und Figuren zentral. Vergleichbare Fiktionsbeteuerungen eines Erzählers finden sich jedoch auch in Texten, die ohne eine derart in den Vordergrund gerückte Erzählinstanz auskommen. So etwa in folgendem Satz: »Es spielt für den Verlauf der Geschichte keine Rolle, denn sie ist erfunden, und alles, was an ihr wahrhaftig klingen mag, ist demnach unvermeidbar«; Bierbichler (2013): Mittelreich, S. 172. Allerdings ist hierbei bereits eine gewisse Ambivalenz angedeutet, die derjenigen von manchen Disclaimern sehr ähnlich ist (siehe unten S. 219).
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Allerdings, so lässt sich feststellen, unterliegen solche Beteuerungen der Erfundenheit einem historischen Wandel und finden sich in der Literatur des 20. Jahrhunderts häufig, während sie zuvor kaum anzutreffen sind. Zugespitzt formuliert Seiler, daß die Literatur bis weit in das 18. Jahrhundert hinein zumeist vielfältig beteuert hat, alles Erzählte sei wahr, verbürgt, durch Dokumente beglaubigt, obschon dies natürlich keineswegs der Fall war, während sie heute zu einem nicht geringen Teil Wert darauf legt, gerade nicht wahr, nicht verbürgt, sondern völlig frei erfunden zu sein […].127
Célines Beteuerung, dass alles frei erfunden sei, entspricht diesem sehr groben historischen Raster, und auch für den ersten Teil von Seilers Argument lassen sich zahlreiche Beispiele finden. Diese stehen darüber hinaus in einer historischen Tradition, der grundsätzlichen »Fiktionsfeindlichkeit«128, die ebenfalls bis weit ins 18. Jahrhundert hinein existiert und sich zu dessen Beginn noch einmal verschärft. Zwar finden sich bereits vorher immer wieder kritische Stimmen, die auch die Wahrheitsfrage des Romans adressieren, sie sind aber oftmals mit ästhetischen Argumenten verwoben, die etwa den ›niederen‹ Roman als ›wahrer‹ als den heroisch-historischen ausweisen, weil er sich mit lebensnahen Dingen beschäftigt. Dies ändert sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts: Im Unterschied zur ästhetischen Kontrastierung des roman comique mit dem roman héroique […], geht die Romanpolemik des frühen 18. Jhs. jedoch über eine bloße Kritik des literarischen Genres hinaus, indem sie vor allem aufgrund einer calvinistisch oder pietistisch begründeten Phantasie- und Fiktionskritik die Wahrheitsfrage radikal stellt und damit jeder Romanerfindung die Legitimation prinzipiell absprechen kann.129
Auch dies lässt sich jedoch so pauschal formuliert nicht aufrechterhalten. Fiktionsfeindlichkeit muss spezifiziert werden, denn sie ist häufig nicht allgemein auf Erfundenheit bezogen, sondern darauf, dass eben bei fiktionaler Literatur (insbesondere dem Roman) nicht deutlich wird, dass hier erfunden wird. So hält etwa Gotthard Heidegger in seiner 1698 erschienenen Romanschelte Mythoscopia Romantica einen für ihn entscheidenden Unterschied von Roman und Fabel fest: Fernher / so liegen [= lügen] die Poëten / daß es ein jeder mit Händen greifen kan: die alte Fablen tretten in keiner larve der Wahrheit auf: bekennen sich alle selbst / was sie sein / und tragen das Zeichen mit […]. Darum seyen sie minder gefährlich. Hergegen wollen die Roman-Schreiber den Leser zum Narren machen […] und mahlen alles so possierlich vor / daß auch ein verständi-
127 Seiler (1983): Die leidigen Tatsachen, S. 37. Seilers »heute« bezieht sich dabei freilich auf 1983 und es ist durchaus festzustellen, dass die spätere Entwicklung diesem Muster nicht in dieser Eindeutigkeit folgt; vgl. dazu die Beispiele etwa zur Autofiktion (siehe S. 183) oder auch zum Disclaimer etwa bei Wallace (siehe S. 200). 128 Sauder (1976): »Argumente der Fiktionskritik 1680–1730 und 1960–1970«, S. 133. 129 Vosskamp (1973): Romantheorie in Deutschland, S. 121 f.
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ger / in dem er lieset / zuweil in Utopien entrinnet / und dabey ist. Ja es dörffen wol einige / die einfeltige Leser schändlich bespielen / und sie glauben machen / sie hätten etwas wahrhafftig verlauffenes gelesen […].130
Es scheint, als greife Heidegger hier (unter umgekehrten Vorzeichen) die bekannte Formulierung Sidneys, nach der die Dichter nicht lügen, weil sie nicht behaupten, auf, nur um sie zwar für die alte Fabeldichtung gelten zu lassen (die darum zwar nicht für gut befunden, aber wenigstens als weniger schädlich eingeschätzt wird als der Roman), nicht aber für die zeitgenössischen Romane. Während die »Poëten« zwar ebenfalls »lügen«, so tun sie es doch so offensichtlich, dass man es mit Händen greifen kann. Die Lügen der »Roman-Schreiber« hingegen seien ungleich gefährlicher, denn sie geben ihren Texten keine Zeichen bei, die diese offen als Beschreibung von Sachverhalten markieren, die so nicht in der Realität stattgefunden haben. Bei Sidney findet sich eine ganz ähnliche Denkfigur, nur dass eben die Bewertung der Dichtung umgekehrt ist (wobei Sidney freilich nicht den Roman als Bezugspunkt adressiert): Now for the poet, he nothing affirms, and therefore never lieth. For, as I take it, to lie is to affirm that to be true which is false […]. But the poet […] never affirmeth. The poet never maketh any circles about your imagination, to conjure you to believe for true what he writes. He citeth not authorities of other histories, but even for his entry calleth the sweet Muses to inspire into him a good invention; in truth, not laboring to tell you what is or is not, but what should or should not be. And therefore though he recount things not true, yet because he telleth them not for true, he lieth not […].131
Auch Sidney grenzt die Dichtung von der Lüge ab und bezieht sich dabei auf ein S ignal, den Musenanruf, bei dem sich, so Sidney, die Dichter schon am Beginn ihrer Texte (»entry«) auf Erfindung (»invention«) beziehen und somit deutlich machen, dass sie nicht Wahres behaupten, sondern Erfundenes schildern.132 Beim Roman fehlt für Heidegger nun genau ein solches oder ein vergleichbares Signal, das Erfindung anzeigt. Daher ist für ihn die Erfindung in den Romanen nur als gefährliche Lüge zu bezeichnen. Schließlich fehlen bei vielen Romanen aus dem 17. und 18. Jahrhundert nicht nur Hinweise auf die Fiktion, sondern es finden sich dagegen vielmehr paratextuelle Hinweise darauf, dass eine faktuale Erzählung vorliege. An dieser Stelle wird deutlich, dass in solchen paratextuellen Versicherungen der Lügenvorwurf, der, wie gesehen, trotz Sidney bis weit ins 18. Jahrhundert Konjunktur hat, noch einmal problematischer wird. Denn Sidney hält ja gerade fest, dass der Dichter keine Behauptung aufstellt, sondern vielmehr – von den Musen inspiriert – erfindet. Wie aber ließe sich eine
130 Heidegger (1698): Mythoscopia Romantica, S. 80 f. 131 Sidney (1965[1595]): An Apology for Poetry, S. 123 f. 132 Der Musenanruf in den Proömien ist nicht als paratextuelles Element aufzufassen, da er vom folgenden Text allenfalls schwach abgegrenzt ist und diese Abgrenzung nicht typographisch erfolgt.
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aratextuelle Versicherung, dass eine wahre Begebenheit geschildert wird, anders bep zeichnen denn eben als Behauptung, als eine assertive Sprechhandlung? Der Umgang mit solchen Behauptungen ist daher problematisch und dies ist auch – und gerade – immer wieder mit einem Verweis auf Rezeptionskompetenz im Umgang mit Paratexten thematisiert worden. Auch bei Genette scheint dies auf: »nul n’est sérieusement invité à croire à l’existence historique de Tom Jones ou d’Emma Bovary, et le lecteur qui s’aviserait de le faire serait très certainement un ›mauvais‹ lecteur«.133 Wer als ›schlechter‹ Leser gilt und warum, ist sicherlich historisch höchst variabel, jedoch ist die Ähnlichkeit der Zuschreibungen frappierend, die diese Bezeichnung insbesondere für solche Rezipienten bereithält, die sich hinsichtlich des fraglichen Fiktionsstatus eines Textes vermeintlich in die Irre führen lassen. Hatte Heidegger bereits darauf hingewiesen, dass selbst ein »verständiger« Leser bei den zeitgenössischen Romanen in Unsicherheit verfallen könne, so hebt er insbesondere den schädlichen Einfluss auf das weniger verständige Publikum hervor: »Ja es dörffen wol einige / die einfeltige Leser schändlich bespielen / und sie glauben machen / sie hätten etwas warhafftig verlauffenes gelesen«134. Die wertende Einteilung der Leser in verständige und unverständige, wobei sich letztere insbesondere dadurch auszeichnen, dass sie sich durch (Para-)Texte täuschen lassen und den Fiktionsstatus nicht erkennen, existiert spätestens seit dem 17. Jahrhundert und findet sich übergreifend in allen hier behandelten Sprachen.135 Während also ›Erfundenheit‹ in literarischen Texten beispielsweise für Heidegger zunächst unproblematisch (oder wenig problematisch)136 ist und bei Sidney grundsätzlich von der Lüge geschieden wird, bereiten offenbar solche Texte Probleme, die kein oder nur ambivalente ›Zeichen‹ dafür tragen, dass sie Erfundenes erzählen. Mit der nouvelle historique wird weiter unten eine Gattung vorgestellt, bei der dem so ist – und sie ist keineswegs die einzige. Die Literaturgeschichtsschreibung verzeichnet vielmehr für den Zeitraum etwa ab dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts den Aufschwung diverser Verfahren, die Geschichten sehr nahe an einer möglichen Realität
133 Genette (1987): Seuils, S. 169 f. 134 Heidegger (1698): Mythoscopia Romantica, S. 81. 135 Für die englische Literatur und die Kategorie des »vulgar reader« vgl. insbesondere Loveman (2008): Reading Fictions 1660–1740, S. 19–46. 136 In der Tat bevorzugt Heidegger die historia gegenüber der fabula, diese sei aber nicht gänzlich zu verwerfen. Die Kritik an Erzählungen, die Erfindungen beinhalten, ist bei Heidegger tatsächlich weniger eine fundamentale Kritik an diesen, sondern bezieht sich in erster Linie auf solche (Romane), bei denen dies nicht zu erkennen ist: »Lüge liegt nur dann vor, so lässt sich die Mythoscopia interpretieren, wenn die Gattungssignale, welche auf Wahrhaftigkeit hindeuten, in täuschender Absicht benutzt werden«; Kundert (2004): »Lügenvorwurf in fiktionalem Gewand«, S. 58. Dagegen hält die Forschung immer wieder an allgemeinen Formulierungen fest, wonach Heidegger grundsätzlich jegliche nicht-historische Darstellung ablehne; vgl. Trappen (1998): »Fiktionsvorstellungen der Frühen Neuzeit«, S. 145 f.
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konstruieren, sich dabei aber häufig vordergründig ›irreführender‹ paratextueller Hinweise bedienen.137 Diese »pseudofactual novels«138 weisen damit zunächst auf ein Problem hin: Wenn im Text Signale für das Vorliegen von Fiktion fehlen, so wertet dies einerseits den Paratext auf als Ort, an dem dennoch Hinweise gegeben werden können, andererseits aber ist damit nicht gesagt, wie diese Hinweise auszusehen haben. Vor diesem Hintergrund lässt sich nun zusammenfassend auch genauer begründen, warum für die vorliegende Untersuchung die Kategorie der Erfundenheit nicht zu vernachlässigen ist. Zunächst muss schlichtweg anerkannt werden, dass sie in Paratexten und metafiktionalen Passagen immer wieder aufgerufen wird. Darüber hinaus aber zeigt sich in der Differenzierung der Kategorien ›Fiktivität‹ und ›Erfundenheit‹, die in der Fiktionstheorie häufig in eins gesetzt werden, ein historisch wandelbares Verhältnis, das gerade im Paratext seine Spuren hinterlässt. Systematisch ließe sich die Unterscheidung etwa folgendermaßen explizieren: Während Erfundenheit schlicht darin besteht, dass mit Entitäten operiert wird, die sich in der realen Welt nicht finden lassen, so bietet die Kategorie der Fiktivität eine Lösung an, mit diesen Entitäten produktiv umzugehen und den Problemen und Vorwürfen, die aus der Erfindung resultieren können, zu begegnen.139 Auf den Lügenvorwurf (»Das ist doch alles nur erfunden!«) lässt sich dann antworten, dass dem zwar vielleicht so sei, dass aber eben keine Lüge vorliege, weil mit dem Fiktiven eben auf eine andere Art umgegangen werden soll als mit einer Lüge. Diese Möglichkeit zur Lösung des Erfindungsproblems aber ist historisch wandelbar und mitunter durchaus prekär, wie sich etwa an Heideggers Einschätzung gezeigt hat und auch an den im Folgenden zu untersuchenden Para texten bestätigen wird. Was sich an den Paratexten zeigen wird, ist, dass sie diese Lösung zwar aufgreifen können, sie aber einerseits nicht immer schon voraussetzen können (weil sie als Umgangsform mit Texten einen historischen Index besitzt) und andererseits sie nicht verbindlich als einzigen möglichen beziehungsweise angemessenen Umgang mit dem Text setzen können. Umgekehrt können jedoch, und zwar gerade weil Fiktion als Umgangsmöglichkeit mit Erfundenem etabliert ist, solche Texte Probleme bereiten, die sich auf Fiktion berufen, aber kaum oder keine Erfindung e rkennen
137 Vgl. Paige (2011): Before Fiction. 138 Foley (1986): Telling the Truth, S. 107. Foley definiert dieses Genre als: »a genre of prose fiction that invokes an intrinsically ironic, even a parodic contract. According to such a contract, the reader is asked to accept the text’s characters and situations as invented […]. At the same time, however, the writer asks the reader to approach the text as if it were a nonfictional text«; Foley (1986): Telling the Truth, S. 107. Abgesehen von der problematischen Verwendung des Vertragsbegriffs beschreibt dies treffend die paradoxe Rahmensituation. Foleys Beispiele, etwa die Romane Defoes oder auch Aphra Behns Oroonoko, sind auch für diese Untersuchung zentral. 139 Ganz explizit betont Bunia dieses Wechselverhältnis: »Erfundenheit ist nur dann gefragt, wenn die Erfindung Probleme löst. Schafft eine Erfindung Probleme, dann wird sie kritisch beäugt und möglichst in ihre Schranken verwiesen«; Bunia (2007): Faltungen, S. 137. Genau eine solche Schranke bietet die Kategorie der Fiktion.
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lassen; Texte also, die (mehr oder weniger explizit) behaupten, dass man mit den Entitäten, die in ihnen vorkommen, umgehen soll, als könnten sie genauso gut frei erfunden sein. Grundsätzlich hindert nichts daran, diese Entitäten als fiktiv anzusehen und mit ihnen analog umzugehen wie mit frei erfundenen fiktiven Entitäten. In der Praxis zeigt sich jedoch häufig, dass diese systematische Trennung so einfach nicht ist, dass zwischen Fiktivität und Erfundenheit vielmehr eine Art Wahlverwandtschaft besteht: Die beiden gehen Hand in Hand, während einerseits Erfundenheit ohne die Legitimationsfigur Fiktivität Probleme bereiten kann und wiederum die Legitimationsfigur Fiktivität prekär wird, wenn sie von der Kopplung an Erfundenheit vollständig gelöst werden soll. Dass die Paratexte selbst eine solche Unterscheidung aktiv aufgreifen können, ist ein weiteres Problem einer systematisch-kategorischen Trennung. So wird sich etwa bei der Untersuchung der Disclaimer zeigen, dass diese selbst ähnliche Unterscheidungen setzen können und sich dabei möglicherweise gerade der bestehenden Unschärfen bedienen können: Wenn beispielsweise davon die Rede ist, alles im Text sei frei erfunden, und zugleich erkennbar ist, dass dies nicht der Fall ist, so besteht zumindest die Möglichkeit, dass ›erfunden‹ in solchen Fällen als ›fiktiv‹ in diesem Sinne verstanden werden soll – dass dies aber nicht so einfach funktionieren kann, zeigen Beispiele wie Maxim Billers Esra (siehe S. 214). Gerade diese mögliche Überschneidung der Kategorien Fiktivität und Erfundenheit zeigt einerseits die Brüchigkeit der Unterscheidung, andererseits aber die Notwendigkeit, sie zumindest versuchsweise zu treffen – anders ließe sich die spezifische Problematik solcher (Para-)Texte eben gar nicht aufzeigen. Der Fokus auf die Selbstreflexion in Peritexten zeigt damit gerade die Brüchigkeit von Kategorisierungsversuchen auf, die mitunter bis an die Grenzen der Belastbarkeit geführt werden können. Dies resultiert auch aus der eigentümlichen Dynamik des Paratextes – und erklärt, warum hier mit Bezug auf Paratexte neben dem Begriff ›Fiktionssignal‹ derjenige der ›Fiktionsmarkierung‹ verwendet wird. Fiktionssignale wurden definiert als Indizien, die entweder aufgrund von Eigenschaften der Darstellung oder aufgrund von Eigenschaften des Dargestellten dazu ›anregen‹, einen Text als fiktionalen zu rezipieren. Ein Leser schließt in diesen Fällen also von bestimmten Merkmalen auf die Fiktionalität eines Textes. Wenn dagegen im Peritext explizite Statusbehauptungen bezüglich des von ihm begleiteten Textes aufgestellt werden, so schließen wir nicht von (mehr oder weniger subtilen) Signalen des Textes auf seinen fiktionalen oder faktualen Status, sondern der Peritext selbst legt im Vorhinein eine Entscheidung nahe – die Frage ist nur, ob ihr zu trauen ist. Diese Statusbehauptungen sollen als ›Fiktionsmarkierungen‹ bezeichnet werden.140 Dabei ist ›Fiktionsmarkierung‹ ein
140 Wolf verwendet den Begriff ebenfalls und unterscheidet zwischen »natürlichen« und »künstlichen« Fiktionsmarkierungen. Seine Verwendung lässt sich jedoch problemlos in die Terminologie der Fiktionssignale übersetzen; Wolf (1993): Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst, S. 35 f.
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Oberbegriff für sämtliche Markierungen, die sich – analog zu den Fiktionssignalen – bei genauerer Betrachtung in Fiktionalitäts- und Fiktivitätsmarkierungen scheiden lassen, je nachdem ob sie die Betonung stärker auf die Fiktionalität der Erzählung oder auf die Fiktivität der Geschichte legen. Ein zentrales Beispiel für ersteres wären etwa Gattungsbezeichnungen, die nahelegen, dass der nachfolgende Text als Roman zu gelten hat – und damit als fiktionale Erzählung. Bei Disclaimern oder in manchen Status behauptungen in Vorworten liegt jedoch der Schwerpunkt nicht (oder nicht a llein) auf der Ebene der Erzählung, sondern vor allem auf der Ebene der Geschichte: Es wird beispielsweise behauptet, dass Personen, Orte und Handlungen frei erfunden seien.141 Weil die Statusbehauptungen allerdings auch auf die andere Seite der Unterscheidung Fakt/Fiktion zielen können, ist es – anders als dies bei der Thematisierung von Fiktionssignalen in der Regel geschieht, wo nicht-fiktionales Erzählen oftmals als Standardfall angenommen wird,142 der nicht weiter signalisiert werden müsse –143 nötig, die jeweiligen Gegenbegriffe, ›Faktualitäts-‹ und ›Faktizitätsmarkierung‹, einzuführen. Diese Faktualitäts- und Faktizitätsmarkierungen haben insbesondere im 18. Jahrhundert Konjunktur und sind in diesem Zeitraum vor dem Hintergrund der Fiktionsfeindlichkeit zu lesen. Ein prominenter Ort – wenn auch sicherlich nicht der einzige – für solche Faktualitätsmarkierungen ist spätestens seit der Frühen Neuzeit der Paratext.144 Darunter fallen nicht nur Gattungsbezeichnungen und Titel, die etwa eine (Auto-)Biographie versprechen, sondern auch Vorworte, die die Faktualität der Schilderung markieren. Allerdings ist die Konventionalisierung dieser Praktiken zugleich immer schon ein Motor der Subversion. Vorworte, die auf die Wahrheit der Geschichte und/oder ihrer Vermittlung insistieren, können selbst als Fiktionssignale wirksam werden, wenn sie
141 Die hier vorgeschlagene Terminologie steht im Einklang mit Genettes Vorschlag, der solche Disclaimer oder auch ältere Fiktivitätsmarkierungen in Vorworten, die beispielsweise davor warnen, nach Vorbildern in der Realität zu suchen, als »protestation de fictivité« bezeichnet; Genette (1987): Seuils, S. 200; meine Herv. 142 Dezidiert dagegen vgl. Mahler (2010): »Glauben, Nicht-Glauben, Anders-Sagen«, S. 26–29. Mahler geht davon aus, dass jegliche Rede auf einer ›gedoppelten‹ Pragmatik beruht: »Faktualität und Fiktionalität sind demnach beides Effekte der Pragmatik. Man kann vielleicht sogar soweit gehen, zu sagen, dass Faktualität der enge Sonderfall ist, in dem die grundsätzliche Fiktionalität aller Sprachverwendung strategisch geschickt vergessen ist«; Mahler (2010): »Glauben, Nicht-Glauben, AndersSagen«, S. 29. 143 Zipfel hingegen erwähnt auch Signale für Faktualität; vgl. Zipfel (2001): Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. 243. 144 Die historische Paratextforschung spricht sowohl von einer Pluralisierung als auch einer – zeitgleichen – Standardisierung des Peritextes in der frühen Neuzeit; vgl. von Ammon/Vögel (2008): »Einleitung. Theorie, Formen, Funktionen« sowie, stärker die Pluralisierung betonend, Ott (2010): »Die Erfindung des Paratextes«. Damit ist zugleich die vielfältige Möglichkeit der Fiktionsmarkierung angesprochen, die ebenso auf Standardisierung beziehungsweise Konventionalisierung, zugleich aber auf Innovation beruht, wie im Folgenden zu zeigen sein wird.
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bekannten Mustern folgen. Ähnlich der Standardformel des Märchens, die im Indikativ des Präteritums formuliert, dass es einmal so war, den mit der Konvention vertrauten Rezipienten damit aber keineswegs suggeriert, dass hier eine tatsächlich stattgefundene Vergangenheit erzählt wird, können Faktualitäts- und Faktizitätsmarkierungen als Signal für das exakte Gegenteil dessen, was sie behaupten, dienen. Und dennoch sind etwa die Herausgeberfiktionen des frühen 18. Jahrhunderts nicht einfach als Fiktionssignale zu beschreiben, deren Funktion durchsichtig und eindeutig wäre. Dem Paratext ist in der Forschung immer wieder eine zentrale Rolle dabei zugewiesen worden, wenn es darum geht, eindeutige Signale zu liefern.145 Dabei ließe sich jedoch umgekehrt das exakte Gegenteil behaupten, dass nämlich gerade im Paratext die Grenze verwischt wird, wenn er unzutreffende, potentiell irreführende Signale und Markierungen enthält. Darüber hinaus lassen sich immer wieder Paratexte finden, die ›quer‹ zur Fiktionstheorie stehen: Nimmt man beispielsweise einen Text, der eine Herausgeberfiktion enthält, bei der der tatsächliche Autor behauptet, lediglich der Herausgeber zu sein, so findet Sidneys Trennung von Dichtung und Lüge, die zentral darauf beruht, dass der Autor eben nicht behauptet, nur mehr schwerlich Anwendung: »an author-editor can not be exculpated from lying throughout.«146 Genettes Klassifizierung hält für dieses Beispiel (als mögliche Textgrundlage wäre etwa an Defoes Vorwort zum ersten Band von Robinson Crusoe zu denken) die Bezeichnung »préface dénégative« bereit, die darauf abzielt, dass hier ein realer Autor die Verantwortlichkeit für die Textgenese abstreitet. Allerdings ist diese Paratextsorte nicht ganz leicht einzuordnen: Zwar rangiert sie in Genettes Schema unter den als »authentique« qualifizierten Vorworten (weil sie einer realen Person zuzuschreiben ist), zugleich aber habe sie einen ›Hang‹ zur Fiktion:
145 Sehr früh findet sich eine solche Überlegung bei Gale, der von »context« spricht und den Paratext-Begriff noch nicht kennen konnte: »The context of the speech act usually indicates that it involves a fictive use of language. E. g. it says ›Theatre‹ over the marquee or ›Novel‹ on the cover of the book, or one’s narration is prefaced by the claim that any resemblance to persons living or dead is purely coincidental, etc.«; Gale (1971): »The Fictive Use of Language«, S. 336. 146 Konrad (2015): »›The Poet, he nothing affirms, and therefore never lieth‹?«, S. 12. Ebenfalls die Problematik von Lüge und Paratext aufgreifend, argumentiert Schmitz-Emans allgemeiner: »›Gegenstände‹ paratextueller Aussagen sind zum einen der kommentierte, eingeleitete, etikettierte Text selbst, zum anderen aber auch Bestandteile der Außenwelt. Paratexte sind daher Bindeglieder (›links‹) zwischen Fiktion und derjenigen ›Wirklichkeit‹, in der man mit der Differenz ›Wahrheit‹/›Lüge‹ operiert, Bindeglieder zwischen verschiedenen Sprach-Spielräumen. Wo die Rolle und der Status der Paratexte uneindeutig ist, stellt sich das Lügen-Problem daher unter Umständen wieder für den gesamten Text; der Fiktionscharakter eines Textes kann paratextuell verunklärt werden«; Schmitz-Emans (2001): »Im Zwischenreich«, S. 191, Anm. 11.
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la préface dénégative, quoique authentique, penche vers la fiction (par sa dénégation fictionnelle du texte), et aussi vers l’allographie, qu’elle simule en prétendant, tout aussi fictionnellement, n’être pas de le main de l’auteur du texte.147
Es ist mit Recht zu bezweifeln, ob sich diese Art der Herausgeberfiktion ohne Weiteres als Fiktion beschreiben lässt, zumal dies eben genau nicht mit Genettes Definition von Fiktion zu vereinbaren ist. Genettes Theorie der Fiktion sieht vor, dass bei einem fiktionalen Text grundsätzlich zwischen einem realen Autor und einem fiktiven Erzähler zu unterscheiden sei. Genette greift dabei auf Searles sprechakttheoretische Analyse von Fiktion zurück. Hatte Searle festgehalten, dass ein Autor eines fiktionalen Textes lediglich vorgebe (pretend), illokutionäre Akte zu vollziehen, ohne damit allerdings den Rezipienten täuschen zu wollen,148 so stellt Genette diese Beschreibung um auf die Unterscheidung zwischen einem realen Autor und einem Erzähler (dem dann die Sprechakte zuzuschreiben seien):149 Reste à considérer la relation entre l’auteur et le narrateur. Il me semble que leur identité rigoureuse (A=E), pour autant qu’on puisse l’établir, définit le récit factuel – celui où, dans les termes de Searle, l’auteur assume la pleine responsabilité des assertions de son récit […]. Inversement, leur dissociation (A≠N) définit la fiction […]; ici encore, la relation me semble tautologique: dire, comme Searle, que l’auteur […] ne répond pas sérieusement des assertions de son récit […], ou dire que nous devons les rapporter à une fonction ou instance implicite ou distincte de lui […], c’est dire la même chose de deux manières différentes […].150
Ein ähnlicher Erklärungsansatz ist in etwa gleichzeitig von Cohn vorgetragen worden, die von einem »duplicate vocal origin of fiction« spricht und der daraus folgenden »conception of fiction as embedded discourse«151. Diese für Fiktionalität spezifische »Verdoppelung der Sprachhandlungssituation«152 ist eines der zentralen Charakteristika
147 Genette (1987): Seuils, S. 174. 148 Vgl. Searle (1975): »The Logical Status of Fictional Discourse«, S. 323–325. 149 Es ist fraglich, ob Genettes Fassung wirklich im Grunde identisch ist mit derjenigen Searles. Bunia hält eine der wichtigsten Differenzen fest: »Was ihn [Genette] an Searle bindet, ist die Frage der Verantwortung – nicht der Intention, die für Searle ausschlaggebend ist«; Bunia (2007): Faltungen, S. 94. Zur Kritik an Searles intentionalistischer Bestimmung von Fiktion vgl. Hempfer (1990): »Zu einigen Problemen einer Fiktionstheorie«, S. 120 f. 150 Genette (1991): Fiction et diction, S. 80 f. 151 Cohn (1990): »Signposts of Fictionality«, S. 794. 152 Zipfel (2001): Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. 117. Der Vorschlag Hempfers, der bereits 1977 von der »Notwendigkeit, bei fiktionalen Texten zwischen einer textinternen und einer textexternen Pragmatik zu unterscheiden«, spricht, darf als einer der Ausgangspunkte gelten, die zu dieser Formulierung geführt haben (und die Zipfel erwähnt); Hempfer (1977): »Zur pragmatischen Fundierung der Textsortentypologie«, S. 10. Hempfers Vorschlag einer Konzeption von Fiktionalität als Sprachverwendung, bei der den verwendeten »indexikalischen Ausdrücken nicht bzw. nicht generell
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von Fiktion. Dabei ist sie sowohl eine Folge des Umgangs mit einem Text als fiktionalem (geht ein Rezipient davon aus, dass er eine Fiktion liest, so darf er die Verantwortung für das im Text Geäußerte nicht unmittelbar dem Autor zuschreiben) als auch ein (potentielles) Signal, diesen als fiktionalen zu rezipieren (liegen m anifeste Hinweise vor, dass die reale Person des Autors nicht mit der Vermittlungsinstanz des Textes identisch ist, so ist dies ein Indiz für die Fiktionalität eines Textes)153. Die Beschreibung der fiktionalen Kommunikationssituation, die diesen als eingebetteten, verdoppelten Diskurs begreift, weist gewisse Ähnlichkeiten zum Paratextbegriff auf, insofern beide Kategorien auf eine Rahmungsoperation zurückzuführen sind: Rahmt einerseits der Paratext den Text, so umschließt andererseits eine textexterne (reale) Aussagesituation eine textinterne (fiktive) Aussagesituation.154 Es scheint zumindest auf den ersten Blick naheliegend, die jeweils äußeren, umschließenden Bereiche in diesen beiden Modellen einander anzunähern. In genau diesem Sinne ist Genettes bereits erwähntes Diktum zu verstehen, dass der Paratext ernst genommen werden müsse, eben weil er Teil der äußeren Kommunikationssituation sei, Teil einer Pragmatik, die über den Text informiert, ohne an diesem (und seiner potentiellen Fiktionalität) zu partizipieren. So liefert der Paratext mitunter tatsächlich Hinweise darauf, dass zwischen realem Autor und fiktiver Produktionsinstanz zu scheiden ist, wenn etwa auf dem Titelblatt der (reale) Name des Autors zu lesen ist, dieser aber nicht identisch mit dem des Erzählers ist. Nun ist dies in vielen Fällen durchaus nicht von der Hand zu weisen, und es nehmen an der textexternen Kommunikationssituation im Paratext möglicherweise noch weitere Instanzen teil (etwa ein Verlag, ein Herausgeber etc.), die diese Exteriorität noch unterstreichen, es lassen sich aber selbstverständlich Paratexte finden, bei denen dies nicht oder eben nur eingeschränkt gilt. Gerade die oben gezeigte mögliche Grenzverwischung zwischen fiktionsexterner und fiktionsinterner Kommunikationssituation kann in der ›Zone‹ des Paratextes stattfinden. Das Vorwort ist dafür der paradigmatische Ort. Wie gezeigt ergeben sich nämlich mit Genettes Erklärungsansatz für Fiktionalität
eferenzpunkte zugeordnet werden können«, soll an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden (siehe R aber S. 114); Hempfer (1977): »Zur pragmatischen Fundierung der Textsortentypologie«, S. 11. Vgl. auch bereits Stierle (1975): »Der Gebrauch der Negation in fiktionalen Texten«, S. 238 f. 153 Bunia betont die Äquivalenz, die zwischen den beiden Prozessen gegeben sein muss; vgl. Bunia (2007): Faltungen, S. 97 f. Hinweise darauf, dass Autor und Erzähler zu unterscheiden sind, finden sich sicherlich am deutlichsten in homodiegetischen Erzählungen, bei denen der Erzähler nicht mit dem Autor namentlich identisch ist. Bei heterodiegetischen Erzähltexten ist dies mitunter nicht ohne Weiteres möglich; es lässt sich aber auch in diesem Fall zwischen Autor und textinterner Produktionsinstanz unterscheiden (und mitunter gibt es gute Gründe, dies zu tun). Zipfel beschreibt die Kritiken, die davon ausgehen, dass bei heterodiegetischen Texten kein Erzähler zu identifizieren sei, legt aber dar, dass diese Kritiken sich in großer Mehrheit darauf zurückführen lassen, dass ein anthropomorpher Erzähler angenommen wird und nicht die heuristische Kategorie einer textinternen Instanz: »Man nimmt für den fiktionalen Erzähl-Text eine textinterne Produktionsinstanz an, die man gewohnheitsmäßig Erzähler nennt«; Zipfel (2001): Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. 154. 154 Vgl. das Schaubild bei Zipfel (2001): Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. 119.
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ausgerechnet mit Bezug auf die von ihm ebenfalls untersuchten Paratexte (und insbesondere die préfaces dénégatives) Probleme. Wenn die Äußerungsinstanz eines solchen Vorwortes ›authentisch‹ (also eine reale Person) ist, wie Genette beschreibt, der hinter der Person, die die Verantwortung für den Text ablehnt und behauptet, ›bloß‹ Herausgeber zu sein, den Autor erkennt,155 so lässt sich die Verantwortung für die Aussage eben nicht einem, von dieser Instanz verschiedenen, fiktiven Erzähler zuschreiben. Das ›denegative‹ Vorwort kann also streng genommen kein fiktionales sein im Sinne der Autor/ Erzähler-Unterscheidung. Dabei ist weniger ausschlaggebend, dass die vermeintliche Herausgeberinstanz wiederum von einem anderen fiktiven Erzähler (dessen Text sie herauszugeben vorgibt) unterschieden ist,156 als vielmehr die Tatsache, dass der Autor hier als reale Äußerungsinstanz gedacht wird, die ihre tatsächliche Rolle allerdings falsch darstellt beziehungsweise sich hinter der Rolle des Herausgebers ›versteckt‹.157 Dennoch findet in diesem Manöver eine ›Verhandlung‹ der Verantwortung statt, denn sie spricht den Autor von der Verantwortung für den Text frei (er ist ja ›nur‹ Herausgeber) und schreibt den Text einer anderen, ›dritten‹ Instanz zu. Es scheint also, dass solche und ähnliche paratextuelle Verfahren es zulassen, eine Umgangsmöglichkeit mit Fiktion, die zwischen Autor und Erzähler und den jeweiligen ›Verantwortlichkeitsbereichen‹ trennt, plausibel zu machen, indem sie auf Verfahren etwa der Herausgeberschaft verweisen, die aus faktualen Texten bekannt sind. Solche Verfahren erscheinen somit auch als Beschreibung oder gar implizite Theoretisierungen von Fiktion, die in Peritexten stattfindet und so die Rezeption zu beeinflussen versucht. Gerade in Bezug auf Herausgebervorworte und die fiktionstheoretische Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler ergibt sich dabei eine historische Einordnung, die sich als spezifische ›doppelte Historizität‹ der Fiktion beschreiben lässt. Denn diese ist einerseits historische Praxis, zugleich aber selbst immer schon historische Theoriebildung über eben jene Praxis (oder weniger stark formuliert: Suche nach Beschreibungen für diese Praxis). Die Forschung zur historischen Dimension von Fiktion spricht mitunter mit Emphase von einer »Entdeckung der Fiktionalität«158. Diese
155 Vgl. Genette (1987): Seuils, S. 172. 156 Dies ließe sich durch eine Ebenenverschachtelung erklären, die der Schachtelung von Rahmenund Binnenerzählung analog ist. Insbesondere aber stellt sich das Problem für die fiktionstheoretische Unterscheidung von Autor und Erzähler nicht, denn diese ist unabhängig von einer anthropomorphen Kategorie etwa der (Erzähler-)Stimme. Bunia schlägt aus diesem Grund vor, in fiktionstheoretischen Zusammenhängen von einer Unterscheidung zwischen Autor und Modell-Autor zu sprechen, um keine Anklänge an die narratologische Kategorie des Erzählers und der Erzählstimme herzustellen; vgl. Bunia (2007): Faltungen, S. 97. Der Begriff des »model author« geht zurück auf Eco; Eco (2004): Six Walks in the Fictional Woods, S. 14. Dem wird terminologisch hier nicht gefolgt, allerdings ist, wenn hier von der Autor/Erzähler-Unterscheidung die Rede ist, ›Erzähler‹ nicht als anthropomorphe Sprecherinstanz, sondern als theoretische Kategorie zu verstehen. 157 Vgl. Genette (1987): Seuils, S. 172. 158 So etwa Haug (2003): »Die Entdeckung der Fiktionalität«.
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Entdeckung wird dann aber – in der Regel abhängig vom disziplinären Hintergrund derer, die sie behaupten – teils in die Antike,159 teils ins 12.160 oder gar erst ins 18. Jahrhundert verlegt.161 Für alle drei Varianten lassen sich gute Gründe anführen, die jedoch wohl mindestens ebenso sehr vom jeweiligen Fiktionsbegriff wie vom historischen Material abhängig sind. Darüber hinaus erscheint der Begriff der ›Entdeckung‹ problematisch, wird damit doch nahegelegt, dass etwas bereits Vorfindbares schlichtweg aufgegriffen, erkannt (ent-deckt) wird – ein Modell, das einer so komplexen sozialen und kulturellen Praxis, wie es die Fiktion ist, kaum gerecht wird. Dem Gegenstand angemessener als die Frage nach der Entdeckung ist daher womöglich die Verfolgung historischer »Transformationen des Fiktionsbegriffs«162 und der jeweils spezifischen Ausdrucksformen von Fiktion. Sie müsste die Wechselwirkungen des Phänomens Fiktion und seiner Beschreibung und Theoretisierung berücksichtigen. Ein zentraler Aspekt dabei ist, wie den jeweils zeitgenössischen Lesern signalisiert wird, dass Fiktion vorliegt. ›Signalisieren‹ kann in diesem Fall auch bedeuten, dass schlicht versucht wird, eine Beschreibung zu finden, die einen bestimmten Umgang mit dem Text nahelegt. Dieses Verfahren illustriert erneut die doppelte Historizität des Phänomens Fiktion. Einerseits kann selbstverständlich nur markiert sein, was als historisch beleg- und vorfindbares Fiktionsverständnis gelten kann. Andererseits aber kann die Markierung selbst in historisch höchst unterschiedlichen Formen erfolgen und auf zeitgenössische innerliterarische Konventionen ebenso reagieren wie auf außerliterarische (etwa rechtliche, ökonomische oder moralische) Rahmenbedingungen. Als Problem erweist sich dabei, dass die beiden Aspekte oft nur schwer auseinanderdividiert werden k önnen und zudem nicht notwendigerweise einen parallelen historischen Verlauf nehmen. So ist es beispielsweise ohne Weiteres denkbar, dass tradierte Fiktionsmarkierungen weiterhin verwendet werden, obwohl sich das Fiktionsverständnis grundlegend geändert hat, und umgekehrt lassen sich Fälle denken, wo manche Markierungen (etwa Gattungsbezeichnungen) nicht verwendet werden, dies jedoch nicht (oder nicht ausschließlich) einem Wandel des Fiktionsverständnisses geschuldet ist, sondern aus anderen Gründen geschieht.163
159 Vgl. Rösler (1980): »Die Entdeckung der Fiktionalität in der Antike«. 160 Vgl. Haug (2003): »Die Entdeckung der Fiktionalität«. 161 Vgl. etwa Gallagher (2006): »The Rise of Fictionality«; vgl. auch Paige (2011): Before Fiction. 162 Friedrich (2009): »Fiktionalität im 18. Jahrhundert«, S. 339. 163 So lässt sich etwa vermuten, dass das weitgehende Fehlen der Gattungsbezeichnung »roman« in der französischen Literatur des frühen 18. Jahrhunderts nicht allein auf einen Wandel im Fik tionsverständnis zurückzuführen ist, sondern zumindest ebenso sehr eine Anpassungsleistung an den Publikumsgeschmack darstellt. Die durchaus bekannte und in der Diskussion gebräuchliche Gattungsbezeichnung erscheint nicht in Paratexten – und dies vermutlich nicht nur aufgrund der zunehmend fiktionskritischen Stimmung, sondern auch, weil sie zu sehr mit den galanten oder höfisch-heroischen Romanen des 17. Jahrhunderts assoziiert ist. Für eine statistische Auswertung der Titelblätter des 18. Jahrhunderts in Frankreich, die nur etwa 20 Fälle mit der Gattungsbezeichnung »roman« zählt, vgl. Zawisza/Lessard (2000): »D’une page titulaire au corpus de titres«, S. 88.
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Der Blick auf Paratexte macht deutlich, dass es zu einer komplexen Wechselwirkung zwischen Markierung und Thematisierung (oder gar: Theoretisierung) von Fiktion kommen kann. Hempfer hat auf das damit verbundene grundlegende Problem in seinem Beitrag »Zu einigen Problemen einer Fiktionstheorie« bereits 1990 aufmerksam gemacht, indem er zwischen »Fiktionsmerkmalen« auf der einen und »Fiktionssig nalen« auf der anderen Seite unterscheidet: Fiktionssignale sind kommunikativ relevant und damit notwendig historisch variabel, sie garantieren, dass ein Text von den Rezipienten bei adäquater Kenntnis der zeitgenössisch jeweils gültigen Diskurskonventionen als ein fiktionaler verstanden wird – Fiktionsmerkmale sind demgegenüber Komponenten einer Theorie, die ein solches Verständnis zu rekonstruieren versucht, indem sie explizit die Bedingungen formuliert, die vorliegen müssen, um einen Text als […] fiktional einzustufen.164
Die Frage, was Fiktion einer theoretischen Bestimmung zufolge ist, und die Frage, wie sich ein Einzeltext als Fiktion erkennen lässt, müssen folglich auseinandergehalten werden – und beiden ist eine je unterschiedliche Historizität eigen. In der Praxis ist dies freilich alles andere als einfach zu bewerkstelligen, denn was Fiktion ›ist‹ und wie sie von zeitgenössischen Lesern als solche erkannt wurde, muss – mangels anderer einschlägiger Zeugnisse – oftmals aus ein und demselben Material erschlossen werden: den Auskünften von Texten über sich selbst beziehungsweise den Auskünften von Peritexten über die Texte, die sie begleiten. Denkt man an die Unterscheidung von Autor und Erzähler, so ist diese erst im 20. Jahrhundert ausgearbeitet worden und damit ist die Autor/Erzähler-Unterscheidung als Fiktionssignal, das einfach auf eine etablierte Beschreibung von Fiktion verweist, im 18. Jahrhundert streng genommen ausgeschlossen.165 Hempfer hält in seiner Bestimmung fest, dass Fiktionssignale auf Fiktionsmerkmale abbildbar sein müssen, dies aber umgekehrt nicht der Fall sei.166 In der historischen Praxis allerdings scheinen Interdependenzen zwischen Fiktionssignalen und Fiktionsmerkmalen keineswegs ausgeschlossen, wie etwa das Vorwort zu Robinson Crusoe zeigt. Gerade in der ›Rohform‹ von Herausgeberfiktionen, wie sich sie sich im ersten Vorwort zu Robinson Crusoe finden lässt,167 tritt eine der zentralen Leistungen der Herausgeberfiktion am deutlichsten zu Tage, weil sie nicht durch ein ausgefeiltes Spiel mit dem Topos der Manuskriptfiktion gleichsam überdeckt wird: Die markierte und hinter der Maske der Herausgeberschaft versteckte Autorposition wird eingeführt, und gleichzeitig wird ihre Verantwortlichkeit für den Text negiert, denn sie ist eben nur als Herausgeberposition sichtbar, die für den Diskurs des Erzählers nicht v erantwortlich
164 Hempfer (1990): »Zu einigen Problemen einer Fiktionstheorie«, S. 121. 165 Vgl. Hempfer (1990): »Zu einigen Problemen einer Fiktionstheorie«, S. 123. 166 Vgl. Hempfer (1990): »Zu einigen Problemen einer Fiktionstheorie«, S. 122. 167 Siehe Kap. 4.
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zeichnet. Wolfgang Iser spricht in diesem Zusammenhang von einer »Verbildlichung der auktorialen Instanz«168. Zugleich, so könnte man hinzufügen, wird damit aber auch die Trennung von Autor und Erzähler ›verbildlicht‹. Wenn beispielsweise Hans-Edwin Friedrich die Neuerung in Fiktionstheorie und -praxis des 18. Jahrhunderts als »Duplikation« oder »Explikation der literarischen Kommunikation innerhalb der Texte«169 bezeichnet, so ist dem im Allgemeinen zuzustimmen, jedoch mit der Präzisierung, dass die »Duplikation« sich in den allermeisten Fällen – und übrigens auch in Friedrichs Beispielen – nicht im Text, sondern erst im Zusammenspiel von Text und Paratext ergibt.170 Diese Duplizierung der Kommunikationsstruktur des fiktionalen Textes, die auf die erwähnte Genette’sche Differenzierung von faktualen und fiktionalen Erzählungen zurückgeht, ist freilich als Fiktionsmerkmal erst in jüngerer Zeit theoretisch erfasst worden. Paratexte wie diejenigen Defoes verweisen aber, wenn sie eine Herausgeberinstanz einführen, auf Strategien der Verantwortlichkeitszuweisung, die in eine ähnliche Richtung zielen, wie sie die Trennung von Autor und Erzähler theoretisch expliziert. Es stellt sich also die bereits aufgeworfene Frage, wie das Verhältnis von Fiktionsmerkmalen und Fiktionssignalen beziehungsweise -markierungen historisch am konkreten Material zu verorten ist. Denkbar ist – und Beispiele wie Defoe deuten es an –, dass Fiktionssignale und -markierungen in Paratexten auf Umgangsmodi mit literarischen Texten verweisen, die zeitgenössisch nicht theoretisch erfasst (oder jedenfalls nicht ausdifferenziert) waren.171 In Bezug auf historisch frühere als die hier besprochenen Beispiele formuliert Hempfer eine Vermutung, die mit der hier vorgetragenen durchaus kompatibel ist: »Dies heißt, es ist nicht die Doppelung der Sprechsituation als solche, sondern die in bestimmten Fällen auffällige Ausgestaltung der textinternen Sprechsituation, die zur Ausbildung einer generellen Fiktionalitätskonvention geführt hat«.172 Während es bei den Beispielen, auf die Hempfer mit Rekurs auf Untersuchungen zu italienischen Renaissance-Texten verweist,173 um die Inszenierung
168 Iser (2003): »Auktorialität. Die Nullstelle des Diskurses«, S. 223. 169 Friedrich (2009): »Fiktionalität im 18. Jahrhundert«, S. 339. 170 Eines von Friedrichs Beispielen sind etwa Schnabels Wunderliche Fata, die auch hier näher betrachtet werden sollen; siehe S. 152. 171 Ansätze zu einer solchen theoretischen Ausdifferenzierung mag es freilich gegeben haben. So weist etwa Traninger auf die rhetorische Kategorie der persona hin, die »in der Frühen Neuzeit […] im Kontext der Frage nach der Disjunktion von Autor und textinternem Sprecher« erneut thematisiert wurde – dies allerdings nicht spezifisch im Kontext fiktionaler Texte; Traninger (2013): »Erzähler und persona«, S. 201. 172 Hempfer (1990): »Zu einigen Problemen einer Fiktionstheorie«, S. 123. 173 Vgl. auch mit spezifischen Fokus auf die Lyrik: Schneider (2010): »Parlare in persona propria?«. Schneider geht davon aus, dass in der Lyrik des 16. Jahrhunderts mitunter »eine Differenz zwischen textexternem, empirischen Dichter einerseits und textinternem Dichter-Ich andererseits, und mithin die Kategorie eines lyrischen Ich präfiguriert« sei; Schneider (2010): »Parlare in persona propria?«, S. 156. Dabei sei die »Dichtungspraxis […] in dieser Hinsicht der Theoretisierung voraus«; Schneider
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der text- und fiktionsinternen Sprechsituation ankommt, zeigen sich in den Herausgeberfiktionen des frühen 18. Jahrhunderts in aller Regel Inszenierungen der fiktionsexternen Instanz, die als Herausgeber ›maskiert‹ wird. Konkret ließe sich in der Folge untersuchen, wie ein Umgangsmodus mit fiktionalen Texten, der zwischen Autor und Erzähler – mithin zwischen den jeweiligen ›Verantwortlichkeitsbereichen‹ Text und Paratext – trennt, eben aus den Herausgeberfiktionen emergiert, indem diese Paratexte Verbildlichungen einführen, in denen sie die Autorenrolle in Analogie zu derjenigen eines Herausgebers setzen, dem eine Verantwortung für den Erzählerdiskurs tatsächlich nicht zugeschrieben werden kann. Genettes Überlegungen zu ›denegativen‹ Herausgebervorworten zielen zudem auf eine weitere Streitfrage, die in der Fiktionsforschung kontrovers diskutiert wird: diejenige nach der Gradierbarkeit von Fiktion. Auch diese Frage wird durch den Fokus auf Paratexte und Fiktionsmarkierungen in einem etwas anderen Licht erscheinen. Egal, ob damit vorrangig Grade der Fiktionalität (mit Bezug auf die Erzählung) oder Grade der Fiktivität (mit Bezug auf die Geschichte) gemeint sind: Es wird sich erweisen, dass auch in diesem Bezug die Frage nach der Erkennbarkeit von Fiktion zentral ist, die adäquater beschreibt, worauf die Intuition, dass Fiktion gradierbar sein müsse, verweist. Dies zeigt sich bereits bei Genettes Beschreibung von Vorworten. Er hält fest, dass bei den Herausgeberfiktionen unterschiedliche Grade von Fiktionalität gegeben seien: Mais cette fictionalité a ses degrés d’intensité: plus faible dans le cas d’anonymat initial […], et ne se révélant alors pleinement qu’au moment où le texte et sa préface sont enfin attribués de manière officielle […] à leur auteur réel; plus fort, et même tout à fait éclatant, lorsque le nom de l’auteur […] dément tranquillement, sur la page de titre, l’attribution fictive du texte à son narrateur.174
Worum es Genette an dieser Stelle mit der Formulierung von den verschiedenen »degrés d’intensité« also offenbar geht, lässt sich vielleicht besser mit einer Gradierung in der Erkennbarkeit der Fiktionalität beschreiben: Ist ein anonym publizierter Text mit einem Herausgebervorwort versehen, so springt der Widerspruch zwischen dem Erzähler und dem Herausgeber weniger eklatant ins Auge, als wenn auf dem Titelblatt ein (realer) Autor genannt ist, der sich dann aber als nicht mit dem Erzähler identisch erweist. Nicht nur in Bezug auf Herausgebervorworte scheint es folgerichtiger, weniger von einer Gradierbarkeit der Fiktionalität als vielmehr von einer solchen der Erkennbarkeit zu sprechen. Bestimmt man mittels der oben angeführten Genette’schen Definition und der Erweiterung bei Zipfel die spezifische ›verdoppelte‹ Kommunikations situation als zentrales Merkmal von Fiktionalität, so ist kaum zu beschreiben, wie diese zu einer Gradierung fähig sein sollte: Entweder es ist zwischen Autor und E rzähler zu
(2010): »Parlare in persona propria?«, S. 157. Vgl. auch: Schneider/Traninger (2010): »Fiktionen des Faktischen: Zur Einführung«, S. 12. 174 Genette (1987): Seuils, S. 174.
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unterscheiden – oder nicht. Nun gibt es jedoch zweifellos Streitfälle, bei denen sich dies nicht ohne Weiteres feststellen lässt. Ein Blick auf Cohns Unterscheidung, die diese Darstellung des Fiktionsproblems gleichzeitig mit Genette in die Diskussion eingebracht hat, erlaubt eine Annäherung an eine mögliche alternative Lösung. Cohn bezieht sich dabei auf eine Formulierung Hernandis,175 den sie zitiert und der bereits zuvor eine ähnliche Beschreibung vorgeschlagen hatte: »I submit that a workable theoretical distinction between historical and fictional narratives can be based on the different relationships they prompt us to postulate between the author implied by a given text and the persona of the narrator emerging from it. … Fictional narratives demand, historical narratives preclude, a distinction between the narrator and the implied author« […]. The thesis is clear and […] aptly stated. (I particularly appreciate the phrase »prompts us to postulate,« which prompts us to accept the mutual interdependence between text- and reader-oriented approaches to this problem.)176
Die Textstelle, die Cohn bei Hernandi als besonders treffend hervorhebt, deutet darauf hin, dass fiktionalen Texten ihre spezifische Kommunikationssituation nicht einfach eigen ist, sondern dass sie von Rezipienten auch als solche ›erkannt‹177 und kon struiert werden muss – der Text muss also Anhaltspunkte liefern, die einen Umgang mit ihm nach dem Fiktionsparadigma veranlassen. Als eben solche Anhaltspunkte sind oben Fiktionsmarkierungen und -signale beschrieben worden. Diese müssen, wie erwähnt, nicht zu einer eindeutigen Einordnung des Textes führen, sondern sind mitunter durchaus ambivalent. Dies jedoch als Grund für eine Gradierung anzugeben verschiebt das Problem: Zweifelsfälle können bestehen, ja Texte können explizit widersprüchliche Signale liefern (mitunter schon auf dem Titelblatt wie etwa bei Federman, der einen »Real Fictitious Discourse«178 geschrieben haben will) und dennoch lässt sich die Ambivalenz, die dadurch entsteht, nicht als Gradierung beschreiben. Capotes In Cold Blood beispielsweise ist gerade deswegen interessant, weil er Signale gibt, die auf beide Seiten der Fakt/Fiktion-Unterscheidung zielen.179 Er umspielt damit die Grenze, die er aber zugleich aufrechterhält, ja aufrechterhalten muss, damit die ambivalente Positionierung gelingt. Wenn Fiktion als ein Umgangsmodus mit Texten beschrieben wird, der von Signalen in den Texten ›aktiviert‹ werden muss, so ist weniger mit Fällen zu rechnen, die als ›mehr oder weniger‹ fiktional beschrieben werden können, als vielmehr mit solchen, bei denen unsicher sein kann, in welche der
175 Vgl. Hernandi (1976): »Clio’s Cousins«, S. 252. 176 Cohn (1990): »Signposts of Fictionality«, S. 793. 177 ›Erkennen‹ soll dabei, wie erwähnt, nicht bedeuten, dass ein Leser gleichsam passiv den Status am Text abliest, sondern vielmehr, dass er abwägt und gegebenenfalls ›auf Fiktion erkennt‹. 178 Federman (1971): Double or Nothing. 179 Vgl. Zipfel (2001): Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. 244. Zum Verhältnis von ›Tatsachenromanen‹ wie In Cold Blood zu dokumentarischen Formen vgl. jüngst auch Galle (2016): »Fiktionalität in hybriden Gattungen«.
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eiden (theoretisch weiterhin disjunkten) Klassen sie fallen.180 Zweifelsfälle ziehen b dabei keine Gradierung der Unterscheidung nach sich, sondern es besteht eine Ambiguität. Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis kommt auch Zipfel: Anstatt Texte auf einer Skala der Fiktion zu situieren, ist es deshalb sinnvoller, die Frage zu erörtern, ob sie in den Rahmen der Sprachhandlungspraxis Fiktion gestellt sind bzw. ob und inwiefern sie in diesem Rahmen funktionieren können, und wie und auf welcher Beschreibungsebene die Antworten auf diese Frage begründet werden können.181
Begründungen, warum mit Texten als Fiktion umgegangen werden soll, stützen sich dabei, wie gezeigt, auf Fiktionssignale, die im Text oder im Paratext anzutreffen sind und die mehr oder weniger explizit und mehr oder weniger eindeutig ausfallen k önnen. Eine mögliche Alternative zur Rede von der Gradierung von Fiktion findet sich bei Hempfer, der Fiktion als »Typusbegriff« bezeichnet, der »gleichermaßen den klassifikatorischen wie den komparativen Aspekt«182 der Unterscheidung vereine. Dies scheint weitgehend auf die Kategorie Fiktion anwendbar: Zweifelsohne lassen sich dafür weniger prototypische (etwa In Cold Blood) und eher prototypische Beispiele angeben (etwa Lord of the Rings). Die Folgerung, dass damit eine Gradierung vorliegt, scheint jedoch weiterhin nicht zwingend, denn auch bei den weniger prototypischen Werken bleibt die Unterscheidung, die nur zwei Stufen kennt, intakt. Die Zwischenstellung von Texten wie etwa In Cold Blood resultiert ja gerade daraus, dass sie sich auf beiden Seiten der Grenze zwischen Fakt und Fiktion verorten und dazwischen oszillieren – genau dies aber ist nicht möglich, ohne die Grenzen aufrechtzuerhalten. Im Umfeld von Hempfers Überlegung zum Typusbegriff findet sich dabei eine Formulierung, die der hier verfolgten Frage sehr nahe kommt, wenn er festhält, dass »es […] offensichtlich etwas grundsätzlich anderes [ist], ob ein Text seine Fiktionalität verschleiert oder im Gegenteil herauskehrt.«183 Dies aber verweist – einmal mehr – auf Fiktions signale und -markierungen und damit auf die Erkennbarkeit von Fiktion. Die Zweifelsfälle und Ambivalenzen müssten daher eigentlich auf genau jene Konstellationen von (paratextuellen) Signalen aufmerksam machen, mit denen sie aufgerufen werden; sie führen aber nicht zu einer grundsätzlichen Problematisierung der Unterscheidung, die dieser den klassifikatorischen und disjunktiven Charakter abspricht. The Lord of the Rings beispielsweise ist sicherlich näher an einem gedachten prototypischen Vertreter eines fiktionalen Texts, er ist jedoch nicht fiktionaler als etwa In Cold Blood. Auch bei letzterem gelten dieselben Umgangsregeln, wenn er als f iktionaler gelesen wird – die
180 Für einen ähnlichen Befund vgl. Schneider (2007): »Literatur und Text«, S. 12–14. Schneider behauptet darüber hinaus, dass Leser über drei Kategorien verfügen: Fiktion, Nicht-Fiktion und eine »Mischkategorie« oder »Grauzone«; Schneider (2007): »Literatur und Text«, S. 12. 181 Zipfel (2001): Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. 295. 182 Hempfer (1990): »Zu einigen Problemen einer Fiktionstheorie«, S. 119. 183 Hempfer (1990): »Zu einigen Problemen einer Fiktionstheorie«, S. 119.
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Frage ist nur, ob dieser Umgang sinnvoll ist und wie er vom Text ›angeregt‹ wird. Fiktion und Nicht-Fiktion sind demnach zwei grundlegende Modi im Umgang mit Texten, und einer der zentralen Aspekte ist die Verantwortungszuweisung beziehungsweise die Annahme einer fiktionsinternen Kommunikationssituation, bei der schwer vorstellbar ist, wie sie gradiert, also in Abstufungen vorhanden sein soll. Diese Überlegungen betreffen allerdings zunächst ausschließlich den Aspekt der Fiktionalität, haben also Bezug zur Erzählung und nicht zur möglichen Fiktivität des Dargestellten. Auch mit Bezug auf diese wurde von einer möglichen Gradierung gesprochen: Indessen gilt es auch hier, zwischen Fiktion und Fiktionalität zu unterscheiden. Versteht man die beiden Begriffe im oben beschriebenen Sinn, so bezeichnet »Fiktionalität« ein Phänomen, das einzig und allein mittels eines klassifikatorischen Begriffs benannt werden kann. Ein Text ist entweder von der Verpflichtung, wahre Sachverhalte zum Inhalt zu haben, enthoben oder er ist es nicht. Hier gibt es kein Mehr oder Weniger. Was ein Text allerdings zur Darstellung bringt, ist in seinem Fiktionsgrad durchaus skalierbar. Das Dargestellte kann in der Tat mehr oder minder fiktiv sein […].184
Kablitz geht von einer Definition von Fiktionalität aus, bei der eine »Vergleichgültigung gegenüber dem Wahrheitswert ihrer Sätze und damit der Wahrheit der in ihnen dargestellten Sachverhalte«185 angenommen wird, er kommt damit in Bezug auf die Fiktionalität zu dem auch hier vertretenem Ergebnis, dass eine Gradierungsmöglichkeit wenig sinnvoll erscheint: Der Wahrheitswert sei entweder gleichgültig oder er sei es nicht, ein Drittes oder Abstufungen ließen sich kaum denken. Dagegen hält er Fiktivität durchaus für gradierbar. Seine Beispiele und weitere Bemerkungen im Text machen deutlich, wie eine Gradierung der Fiktivität denkbar sein soll. So findet sich etwa folgende Begründung: Die Offensichtlichkeit der Fiktivität solcher Muster der Repräsentation ist dabei sehr unterschiedlich. So sind phantastische Erzählungen, die von Ereignissen berichten, welche unseren Vorstellungen vom realistisch Möglichen ostentativ widersprechen, offensichtlich für unsere Wahrnehmung in einem anderen Grad fiktiv als etwa die Darstellungsmuster des personalen Erzählens oder der erlebten Rede.186
Erneut also eine Formulierung, die eine Gradierung an »Offensichtlichkeit« bindet und damit auf die Erkennbarkeit von Fiktion und folglich auf Fiktionssignale bezogen ist, ohne dass dies explizit thematisiert würde. Diese Bemerkung Kablitz’ ließe sich mög licherweise sogar dahingehend interpretieren, dass an dieser Stelle eine Abstufung zwischen verschiedenen Fiktionssignalen nahegelegt wird: Ereignisse, die sich nur als
184 Kablitz (2008): »Literatur, Fiktion und Erzählung«, S. 17. 185 Kablitz (2008): »Literatur, Fiktion und Erzählung«, S. 16. 186 Kablitz (2008): »Literatur, Fiktion und Erzählung«, S. 21.
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phantastisch bezeichnen lassen, wären damit ein ›stärkeres‹ Signal für Fiktion als etwa das Vorkommen erlebter Rede.187 Die Intuition, die hinter der vermuteten Gradierbarkeit der Fiktivität steht, verweist also auch hier auf eine zentrale Frage, diejenige nämlich, inwiefern Fiktionssignale eine stärkere (zwingendere) oder eine schwächere (eher fakultative) Wirkung haben können. Fiktivität selbst (im Gegensatz zu ihrer ›Erkennbarkeit‹) erscheint damit jedoch keineswegs als steigerungsfähig. Abschließend scheint also auch in Bezug auf die Fiktivität eine Gradierung wenig sinnvoll. Vielmehr existieren alternative Beschreibungsansätze, die eher überzeugen: Zipfel etwa unterscheidet innerhalb der Fiktion zwischen Realistik und Phantastik und bietet damit auch ein Modell an, phantastische, also ›augenfällig fiktive‹ Entitäten in Texten als Fiktivitätssignale zu begreifen – nicht aber als Ausweis einer irgendwie ›gesteigerten‹ Fiktivität.188 Dies ist zudem in einem weiteren Sinne plausibler als die Annahme einer Gradierung im Bereich der Fiktivität, die sich mit einem der zentralen Erklärungsansätze nicht verträgt: dem Modell der ›möglichen‹ beziehungsweise fiktiven Welt. Dieses hat sich als eines der überzeugendsten Modelle erwiesen, da sich mit ihm diverse Probleme im Umgang mit fiktionalen Texten ökonomisch und weitgehend widerspruchsfrei lösen lassen. Es geht zurück auf das 18. Jahrhundert und Leibniz’ Philosophie,189 ist aber früh zur Beschreibung literarischer Phänomene verwendet worden. So beschreibt etwa Wolff bereits 1738 die Welten, die Geschichten entwerfen, als mögliche Welten: §. 571. Man kan solches auch mit den erdichteten Geschichten, die man Romainen zu nennen pfleget, erläutern. Wenn dergleichen Erzehlung mit solchem Verstande eingerichtet ist, daß nichts wiedersprechendes [sic] darinnen anzutreffen; so kan ich nicht anders sagen, als es sey möglich, daß dergleichen geschiehet […]. Fraget man aber, ob es würcklich geschehen sey oder nicht; so wird man freylich finden, daß es der gegenwärtigen Verknüpfung der Dinge wiederspricht, und dannenhero in dieser Welt nicht möglich gewesen. […] Und solchergestalt habe ich eine jede dergleichen Geschichte nicht anders anzusehen als eine Erzehlung von etwas, so in einer anderen Welt sich zutragen kan.190
187 Letzteres freilich ist nicht auf der Ebene der Geschichte anzusiedeln, sondern auf der Ebene des Diskurses; Kablitz wechselt im obigen Zitat den Bezugsbereich des Adjektivs ›fiktiv‹ und bezeichnet »phantastische Erzählungen« als »in einem anderen Grad fiktiv« als andere Darstellungen. Das Adjektiv ›fiktiv‹ bezieht sich also nicht länger auf fiktive Entitäten in Texten, sondern wird auf Texte selbst angewendet. »Darstellungsmuster« wie erlebte Rede wiederum wären als fiktional und nicht als fiktiv zu bezeichnen. Kablitz unterläuft also seine eigene Forderung, eine Unterscheidung streng durchzuhalten: »die Unterscheidung zwischen Fiktivität und Fiktionalität, deren ausbleibende Differenzierung für manche Konfusion sorgt«; Kablitz (2008): »Literatur, Fiktion und Erzählung«, S. 15. 188 Vgl. Zipfel (2001): Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. 106–113 sowie S. 234. 189 Der Weltbegriff selbst ist freilich wesentlich älter und auch im theologischen Kontext finden sich Vorstellungen mehrerer Welten, die spezifisch rationalistisch-logische Verwendung der Idee mehrerer möglicher Welten bildet sich aber erst in Folge von Leibniz aus; vgl. Bunia (2011): »›… in einer andern Welt‹«, S. 104–110. 190 Wolff (1738): Vernünfftige Gedancken, S. 349 f.
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Auch in der Literatur selbst wird ein vergleichbares Welt-Modell früh aufgenommen, indem verschiedene Welten mit je unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitshorizonten konstruiert werden. Dies begegnet häufiger in Paratexten, ist dabei allerdings als Plausibilisierungsstrategie gefasst. Nicht eine reale Welt steht einer fiktiven gegenüber, sondern innerhalb der realen Welt existieren verschiedene Bereiche, die gleichsam als in sich abgeschlossene Welten gelten. So etwa in Aphra Behns Oroonoko: This is a true Story, of a Man Gallant enough to merit your Protection […]: The Royal Slave I had the Honour to know in my Travels to the other World […]. If there be any thing that seems Romantick, I beseech your Lordship to consider, these Countries do, in all things, so far differ from ours, that they produce unconceivable Wonders; at least, they appear so to us, because New and Strange. What I have mention’d I have taken care shou’d be Truth, let the Critical Reader judge as he pleases.191
Hier erscheint die Möglichkeit, andere Weltteile zu beschreiben, als Freiheitsspielraum, um Dinge zu beschreiben, die innerhalb der europäischen ›Welt‹ gegen Ende des 17. Jahrhunderts als unwahrscheinlich gelten müssten. Die Weltteile, in denen der Roman spielt, verfügen dagegen über grundsätzlich andere Regeln der Wahrscheinlichkeit und werden so den fiktiven Welten vergleichbar. Dass es im 17. Jahrhundert noch möglich ist, ›alternative‹ Welten auf ein und demselben Planeten zu beschreiben, ist selbstverständlich ein Verfahren, das vom historischen Wissensstand abhängig und später so nicht mehr ohne Weiteres möglich ist. Die Literatur des frühen 18. Jahrhunderts bedient sich jedoch dieses Topos weiterhin und knüpft an die Faszination der ›Neuen Welt‹ an (man denke nur an Robinson Crusoe).192 In der Philosophie des 20. Jahrhunderts wurden Modelle möglicher Welten insbesondere in der Modallogik angewendet, sie finden aber auch weiterhin Eingang in fiktions- und literaturtheoretische Überlegungen. So beschreibt etwa Doležel fiktive Welten als Sonderform der möglichen Welten: »Fictional worlds of literature […] are a special kind of possible world; they are artifacts constructed, preserved, and circulating in the medium of fictional texts.«193 Es ist zwar grundsätzliche Kritik an der Übertragung des Konzepts aus der Philosophie in die Fiktionstheorie geäußert worden, beispielsweise, weil fiktive Welten eben nicht notwendig ›möglich‹ sein müssen und sogar logische Widersprüche enthalten können;194 die »Weltsemantik«195 als Beschrei-
191 Behn (1688): Oroonoko: Or, The Royal Slave. A True History, S. [ix–xi]. 192 Daneben finden sich in dieser Zeit zahlreiche Texte, die alternative Welten auf dem Mond entwerfen und dabei explizit die Rede von ›Welten‹ aufgreifen. So etwa Wilkins (1981[1638]): The Discovery of a World in the Moone oder Defoe* (1705): The Consolidator – das letztere ist eine Satire, die, einmal entschlüsselt, selbstverständlich die reale ›Welt‹ in der unmittelbaren Nähe treffen soll. 193 Doležel (1998): Heterocosmica. Fiction and Possible Worlds, S. 16. 194 Vgl. Zipfel (2001): Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. 84. Vgl. aber auch bereits Doležel (1998): Heterocosmica. Fiction and Possible Worlds, S. 19. 195 Bunia (2007): Faltungen, S. 81, i. O. kursiv und gesperrt.
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bungsmodell für Fiktivität allerdings hat sich als durchaus leistungsfähig erwiesen. Daher soll hier von fiktiven Welten gesprochen werden, um die Differenz zu den möglichen Welten der Modallogik deutlich zu machen. Die Weltsemantik erlaubt insbesondere einen Umgang mit fiktionalen Texten und den – notwendig – unvollständigen Welten, die sie darstellen. Zudem erleichtert sie den Umgang mit dem ›Eindringen‹ realer Entitäten in diese. Ersteres lässt sich mit Hilfe des »Realitätsprinzips« beschreiben, das auch als »principle of minimal departure«196 bezeichnet wurde. Demnach sind fiktive Welten zwar notwendig unvollständig beschrieben (ein Text kann schlicht nicht alle Sachverhalte einer Welt aufführen), können aber im Abgleich mit der realen Welt ergänzt werden, sofern dies zum Verständnis der fiktiven Welt nötig ist:197 This principle states that we reconstrue the world of a fiction and of a counterfactual as being the closest possible to the reality we know. This means that we will project upon the world of the statement everything we know about the real world, and that we will make only those adjustments which we cannot avoid.198
Als Fakten der fiktiven Welt lassen sich also alle Fakten bezeichnen, die auch in der realen Welt gelten, sofern sie nicht mit den beschriebenen Tatsachen konfligieren. Dies erklärt, wie reale Entitäten in fiktiven Welten aufgerufen werden können. So ist das London in den Sherlock-Holmes-Geschichten nach dem Vorbild des realen historischen London zu konstruieren und weicht nur in wenigen Momenten von diesem ab – etwa in der Existenz der Adresse Baker Street 221B (und seiner Bewohner).199 Solche und ähnliche Fälle finden sich auch mit Bezug auf Figuren, wenn etwa bekannte, historische Figuren in Romanen auftreten. Die Annahme fiktiver Welten ist in dieser Hinsicht eine mögliche Umgangsform mit dem sogenannten »Napoléon-Problem«200. Die fiktive (weil der fiktiven Welt angehörige) Figur des Napoleon im Roman ist zwar im Sinne des Realitätsprinzips als so nahe wie möglich am historischen Vorbild zu konstruieren, sie ist aber dennoch eine fiktive Figur, selbst dann, wenn nichts im Roman vom historischen Vorbild abweichen würde:
196 Ryan (1980): »Fictions, Non-Factuals, and the Principle of Minimal Departure«. 197 Die Einschränkung erlaubt, dass fiktive Welten nicht mit ›unnötigem‹ Weltwissen angereichert werden. So ist es für das Verständnis vieler Romane etwa unnötig, beispielsweise chemische Gesetze als Bestandteil der Welt zu aktualisieren, während die Alltagserfahrungen, die auf diesen beruhen (etwa, dass Wasser gefrieren kann), durchaus relevant werden können. Mit Margolin ließe sich das Realitätsprinzip daher folgendermaßen einschränken: »In point of fact, we import selectively according to an informal principle of relevance, bringing in only that which the work-world is based upon, alludes to or requires to facilitate comprehension and prevent misunderstanding«; Margolin (1992): »The Nature of Fiction«, S. 100. 198 Ryan (1980): »Fictions, Non-Factuals, and the Principle of Minimal Departure«, S. 406. 199 Dass die Adresse durch eine Verlängerung der Baker Street heute existiert, verkompliziert die Lage, ist letztlich aber unerheblich. 200 Bunia (2007): Faltungen, S. 35.
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Dabei sind Entitäten einer fiktiven Welt grundsätzlich nicht real […], aber es kann sein, daß man dennoch beobachten kann, daß eine fiktive und eine reale Entität (etwa ein fiktiver Napoléon mit einem realen) identisch sind.201
Dies folgt aus der Weltsemantik und scheint eine ökonomischere und mit der alltäg lichen Leseerfahrung besser zu vereinbarende Beschreibung zu sein als die Annahme, dass fiktive Welten aus fiktiven und realen Entitäten bestehen können.202 Grundsätzlich ist damit auch im Bezug auf Fiktivität eine Gradierung unplausibel: Eine Entität gehört einer fiktiven Welt an – oder nicht. Aber die Intuition, dass es eine Gradierung geben müsse, beschreibt ein tatsächliches Problem. Denn ob überhaupt eine fiktive Welt anzunehmen ist, ist eine Frage, die sich im Umgang mit Texten gerade dann stellt, wenn wenig auf Fiktivität hindeutet, wenn also wenig (offensichtlich) erfunden ist. Die Annahme einer fiktiven Welt ist eine Umgangsform mit Texten, die insbesondere dann naheliegt, wenn offensichtlich Erfundenes im Text begegnet, aber nicht nur in solchen Fällen angemessen sein kann, sondern auch – beispielsweise – bei historischen Romanen, in denen durchaus an vielen Stellen überprüfbar-reale Ereignisse geschildert werden. Damit ist die Annahme von fiktiven Welten als Umgangsform mit Texten durchaus einem Aspekt vergleichbar, der für die Beschreibung des Paratextes ausgeführt wurde: Beide lassen sich als framings im Sinne Goffmans beschreiben. Sie erlauben einen Umgang (mit Texten oder sozialen Aktivitäten), der zwischen einem ›Außen‹ und einem ›Innen‹ differenziert, diesen Bereichen jeweils unterschiedliche Regeln zuordnet und sie (zunächst) scharf gegeneinander abgrenzt. Damit ist aber zugleich die Frage aufgeworfen, ob diese Unterscheidung tatsächlich so trennscharf ist, wie sie zunächst scheint, oder ob es nicht vielmehr, wie beim Paratext, Zonen des Übergangs oder, um Genettes Formulierung aufzugreifen, Schwellen gibt, an denen sich zwei framings überschneiden können, was zu ambivalenten Zuordnungen führen könnte. Für diese Ambivalenz sorgt, dass fiktive Welten nicht aus sich heraus auf ihre Fiktivität verweisen können. Es bleibt auch in diesem Modell dabei, dass der Status eines Textes beispielsweise von generischen Erwartungen abhängt und sich nicht einfach am Text ablesen lässt: The question of fictionality is decided neither by the semantic properties of the textual universe nor by the stylistic properties of the text, but is settled a priori as part of our generic expectations. We regard a text as fiction when we know its genre, and we know that the genre is governed by the rules of the fictional game.203
201 Bunia (2007): Faltungen, S. 86 f. 202 Vgl. dagegen Blume (2004): Fiktion und Weltwissen, S. 23 f. Zipfel unterscheidet hingegen »reale« von »pseudo-realen« und »nicht-realen« Entitäten; Zipfel (2001): Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. 102. 203 Ryan (1991): Possible Worlds, Artificial Intelligence, and Narrative Theory, S. 46 f.
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Woher wir aber das Genre wissen – das ist eine Frage, die erneut zwar an den Paratext delegiert werden kann und die von ihm sicherlich auch in vielen, vielleicht sogar der Mehrzahl der Fälle weitgehend zweifelsfrei entschieden wird, über die sich aber nicht oder nur schwerlich sagen lässt, warum sie sich in manchen Fällen stellt, in anderen Fällen nicht. Warum also manche Paratexte ›verdächtig‹ sind, andere hingegen nicht. Stellen wir uns, so ein Gedankenexperiment bei Ryan, eine Textwelt (»textual reference world«; »TRW«) vor, die in jeder Hinsicht komplett unserer tatsächlichen Welt (»actual world«; »AW«) gleicht, so wäre immer noch ein Unterschied, der sich nicht auflösen lässt: »TRW differs from AW in that the intent and act of producing a fiction is a fact of AW and not of TRW.«204 Die fiktive Welt des Textes kann sich also in fast allen Punkten der realen, tatsächlichen Welt annähern – außer in dem einen Aspekt: Sie kann nicht das Faktum ihrer eigenen Entstehung als Fiktion aufnehmen.205 Die fiktive Welt verfügt also per definitionem über keine Möglichkeit, aus sich heraus anzuzeigen, dass sie eine solche ist und nicht mit der tatsächlichen identisch ist. Eine fiktive Welt anzunehmen ist daher immer eine Operation, die ein Rezipient anhand von Hinweisen vorzunehmen hat. Diese Hinweise mögen deutlicher sein in Fällen, in denen die beschriebene Welt eindeutig von der tatsächlichen abweicht, sie können aber im Text, wie Ryan festhält, gänzlich abwesend sein. Und Ryan schließt an, dass genau aus diesem Grund Sätze wie »all resemblance to actual individuals and events should be regarded as entirely coincidental«206 gleichsam als ›Warnung‹ an die Leser nötig seien. Hier soll also der Paratext übernehmen, was der Text nicht vermag. Er kann dies, weil er, in der Terminologie Ryans, einer anderen Welt angehört – eben unserer tatsächlichen und nicht einer möglichen Welt des Textes. Selbstverständlich ist Ryans Gedankenexperiment auf einen Extremfall hin konzipiert. Es lassen sich aber historische Beispiele anführen, bei denen genau die problematische Abgrenzung von realer Welt und fiktiver Welt zentral wird. Ein Bereich, für den dies in der Forschung immer wieder diskutiert wird, ist die französische Literatur aus dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts. Während die (oft viele Bände umfassenden) ›alten‹ Romane, die ihr Geschehen in der Regel in längst vergangenen Zeiten ansiedeln,207 aus der Mode geraten, etabliert sich das Genre der nouvelle (je nach Gegenstand: nouvelle galante oder nouvelle historique), die (in der Regel auf relativ knappem Raum) ein historisches (oder vermeintlich historisches) Geschehen aufgreift, das (zumindest in Teilen) belegt ist. Dass dies durchaus fundamentale Fragen aufwarf, davon zeugen zeitgenössische kritische Beschreibungen, die gerade diese A bgrenzung
204 Ryan (1991): Possible Worlds, Artificial Intelligence, and Narrative Theory, S. 33. 205 Sie kann freilich metafiktional dieses Faktum aufgreifen, es bleibt jedoch ein Faktum allein in der realen Welt. 206 Ryan (1991): Possible Worlds, Artificial Intelligence, and Narrative Theory, S. 33. 207 Davon bleibt unberührt, dass sie mitunter als Schlüsselromane durchaus Anwendung auf die zeitgenössische Gegenwart finden konnten.
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von erfundenen und realen Momenten problematisieren. War bei früheren Werken schon durch den zeitlichen Abstand der Verifizierbarkeit eine Grenze gesetzt (und diese damit auch nicht als zentrales Problem aufgeworfen), so ändert sich dies mit den Texten, die die jüngere Geschichte betreffen: L’on n’a pas d’autre voie de discerner ce qui est fiction d’avec les faits véritables que de savoir par d’autres livres si ce qu’elle narre est vrai. C’est un inconvénient qui s’augmente tous les jours.208
Auch selbst im Romangeschäft tätige Autoren wie Charles Sorel kritisieren die ›modernen‹ Romane diesbezüglich: Les hommes qui n’ont point d’estude croyent qu’en lisant cela, non seulement ils se divertiront, mais qu’ils s’instruiront des affaires anciennes & des nouvelles: C’est plûtost le moyen d’oublier l’Histoire quand on la sçauroit, que de la chercher dans ces sortes de Livres; car ils la déguisent de telle façon, & la déchirent si pitoyablement, que n’estant plus la mesme, à peine y peut-on reconnoistre les noms de choses.209
Kritisiert wird also ähnlich wie zuvor bereits bei Heidegger (allerdings ohne grundsätzlichere Vorbehalte gegenüber der Fiktion) eine Konstellation, in der Leser (zumal, wenn es sich um ungebildete Leser handelt) nicht mehr zwischen Realität und Erfindung unterscheiden können, weil die Texte selbst keinen Hinweis darauf geben, sondern beides in ein und demselben Rahmen behandeln. Zwei frühe Vertreter, die hier stellvertretend für diese Art der ›Einbettung‹ von Fiktion und historisch verifizierten Fakten stehen sollen, sind La Fayettes La Princesse de Monpensier (1662) und Saint-Réals Dom Carlos (1672). Letzterer verwendet als erster die Gattungsbezeichnung »Nouvelle Historique«, während ersterer nur den (historisch verbürgten) Namen im Titel trägt. Auch hinsichtlich der jeweiligen Fiktions- beziehungsweise Faktualitätsmarkierungen unterscheiden sich die beiden Texte f undamental. In La Princesse de Monpensier findet sich ein mit »Le Libraire au lecteur« überschriebenes Vorwort, das explizit die Faktizität des Dargestellten verneint: elle [i. e. l’histoire] n’a esté tirée d’aucun Manuscrit qui nous soit demeuré du temps des personnes dont elle parle. L’Autheur ayant voulu pour son divertissement escrire des avantures inventées à plaisir, a jugé plus à propos de prendre des noms connus dans nos Histoires, que de se servir de ceux que l’on trouve dans les Romans, croiant bien que la reputation de Madame de Monpensier ne seroit pas bleßée par un recit effectivement fabuleux.210
208 Das Zitat entstammt Bayles Dictionnaire historique et critique und bezieht sich auf einen Text mit dem Titel Mémoires de la cour d’Espagne. Zit. nach: Noille-Clauzade (2010): »Considérations logiques sur de nouveaux styles de fictionalité«, S. 176. 209 Sorel* (1671): De La Connoissance des bons livres. Ou examen de plusieurs autheurs, S. 104. 210 La Fayette* (1662): La Princesse de Monpensier; i. O. kursiv.
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Der (vermeintliche) ›Libraire‹ stellt also zunächst klar, dass die beschriebenen (Liebes-) Abenteuer frei erfunden und lediglich die Namen realer Personen verwendet worden seien. Diese Beteuerung weist gewisse Ähnlichkeiten zu Disclaimern auf,211 die ebenfalls den Verdacht der Faktizität vom Text abzuwenden versuchen. Insbesondere die Verbindung mit bekannten Persönlichkeiten und deren Schutz ist bezeichnend. So beginnt der Libraire seinen Hinweis damit, dass er auf den Respekt vor dem »illustre nom qui est à la teste de ce Livre« und den noch lebenden Nachkommen dieses Namens hinweist. Dies nötige zur Klarstellung, dass hier keine ›wahre Geschichte‹ dargestellt werde. Sollte die oben zitierte Schilderung der Beweggründe der Autorin noch nicht hinreichen, so ergänzt er: »j’y supplée par cet Avertissement: qui sera aussi avantageux à l’Autheur, que respectuex pour moy envers les Morts qui y sont interessez, & envers les Vivans qui pourroient y prendre part.«212 Nicht nur wird mit diesem Vorwort die Frage aufgeworfen, wer die Instanz ist, die hier spricht (ist es tatsächlich der Verleger, oder aber tritt hier die Autorin hinter der ›Maske‹ desselben auf?), selbstverständlich steht damit auch die Frage im Raum, ob dieser Beteuerung, dass die Geschichte »fabuleux« sei, zu trauen ist. Insbesondere zeitgenössische Leser, die mit Verschlüsselungspraktiken vertraut gewesen sein dürften, mögen das exakte Gegenteil der Beteuerung aus dem Vorwort ›herausgelesen‹ haben.213 Saint-Réals »nouvelle historique« geht ebenso wie La Fayettes Text (auch wenn dieser nur die Namen übernommen haben will) von historischen Personen aus, bezieht sich jedoch auf eine völlig andere Weise im Paratext auf die Verbindung zur Historie. Die Geschichte des spanischen Prinzen wird als Sujet der Historiker markiert und die Quellen, die zur Verarbeitung geführt haben, werden ausführlich in einem »Avis« genannt: Cette Histoire est tirée de tous les Auteurs Espagnols, François, Italiens, & Flamans, qui ont écrit sur le tems auquel elle s’est passée. Le principaux sont Mr de Thou, Aubigné, Brantome, Cabrera, Camprana […], &c. Elle est encor tirée de diverses Pieces servans à l’Histoire, tant manuscrites,
211 Dieser Vergleich findet sich explizit bei Noille-Clauzade (2010): »Considérations logiques sur de nouveaux styles de fictionalité«, S. 181. 212 La Fayette* (1662): La Princesse de Monpensier; i.O. kursiv. 213 Paige geht noch weiter, indem er nahelegt, dass auch die im Text geschilderte Affäre der Heldin mit dem Duc de Guise real sein könnte, beziehungsweise sich zumindest Indizien finden lassen, die dies nahelegen: »But for the public of 1662, adept at using keys to decipher oblique references to real people, these lines would surely have raised suspicions and implied the direct opposite of what they said. And anyone who consults the relevant genealogies is rewarded with a delicious ›coincidence‹: the duchesse de Montpensier’s grandfather, Henri de Bourbon, was born to Renée d’Anjou [die ›Princesse de Montpensier‹] on May 12, 1573, nine months after an ›imaginary‹ nocturnal episode described in the book«; Paige (2011): Before Fiction, S. 43. Für die hier vorliegende Argumentation ist dies allerdings nicht zentral – es geht nicht darum, was am Text ›real‹ ist, sondern darum, wie der Paratext sich diesbezüglich interpretieren lässt.
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qu’imprimées. […] Cependant pour plus grande satisfaction des Lecteurs, on a mis à la marge des endroits les plus singuliers & les plus extraordinaires, les Auteurs principaux dont ils ont été tirez.214
In der Tat finden sich im Text immer wieder Fußnoten, die auf Quellen verweisen. Gleichwohl hat die Forschung darauf hingewiesen, dass auch dieser Versicherung nicht ohne Weiteres getraut werden kann: »ces références ne sont pas à prendre au pied de la lettre«215. Im Verfahren, eine Erzählung aus historischen ›Vorlagen‹ zu konstruieren, ähneln sich also Dom Carlos und La Princesse de Monpensier, jedoch behauptet der eine Text seine absolute Treue zur tatsächlichen Geschichte, der andere hingegen behauptet das exakte Gegenteil und will nur die Namen übernommen haben. Nimmt man die Paratexte beim Wort, müsste man also den einen Text so lesen, als beschreibe er die tatsächliche Welt, bei dem anderen jedoch eine fiktive Welt konstruieren, bei denen die Namen scheinbar zufällig identisch sind mit Namen, die Personen in der tatsächlichen Welt tragen – dies aber scheint in der ausschließenden Polarität angesichts der ähnlichen Verfahrensweise der Texte wenig plausibel und die oben erwähnte zeitgenössische Kritik an derlei Vermengungen von Historie und Roman zeigt, dass es eine solche polare Aufspaltung der Lektüremöglichkeiten auch kaum gegeben haben dürfte. Die beiden (Para-)Texte können so als jeweilige ›Extremfälle‹ gelesen werden für ein Spektrum von Faktizitäts- beziehungsweise Fiktivitätsmarkierungen innerhalb des Genres der nouvelle und illustrieren damit den ambivalenten Status dieser Gattung.216 Während also die Theorie fiktiver Welten die Beschreibung des Umgangs mit fiktionalen Texten durchaus erleichtert und insbesondere Wege aufzeigt, um mit den ›Übernahmen‹ realer Entitäten in fiktive Welten umzugehen, so bietet sie doch kaum Anhaltspunkte, wenn es um die Frage geht, ob anlässlich eines Textes eine solche Welt überhaupt zu konstruieren sei (und nicht vielmehr der Text die tatsächliche Welt beschreibt). Darüber hinaus aber ist, wie aus der obigen Beschreibung des Paratextes hervorgeht, keineswegs deutlich, dass sich der Paratext notwendig ›diesseits‹ der Weltengrenze verorten lassen muss. Ryan scheint dies nahezulegen, wenn sie darauf hinweist, dass Auskünfte über den fiktionalen Status von Texten gleichsam an den Paratext ›delegiert‹ werden, weil dieser – als der realen Welt angehörig – von außen über die fiktive Welt des Textes sprechen kann. Während dies bei den beiden Beispielen aus dem Umkreis der nouvelle noch zumindest in Teilen zutreffend erscheint – obwohl sie einen sehr unterschiedlichen und durchaus ambivalenten Zugang zur Textwelt eröffnen –, so ist dies spätestens bei Vorworten, die Figuren der Erzählung zugeschrie-
214 Saint-Réal* (1672): Dom Carlos. Nouvelle historique. 215 Noille-Clauzade (2010): »Considérations logiques sur de nouveaux styles de fictionalité«, S. 182. 216 Noille-Clauzade beschreibt beide Texte als »cas extrême« und situiert sie zwischen einer »rhétorique de la falsification (La Princesse de Montpensier)« und einer »rhétorique de la vérification (Dom Carlos)«; Noille-Clauzade (2010): »Considérations logiques sur de nouveaux styles de fictionalité«, S. 181 und S. 182.
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ben werden, nicht länger der Fall (Genette spricht in diesem Fall von ›aktorialen‹ Vorworten)217. Wenn beispielsweise Robinson Crusoe im dritten Band der Serie sein eigenes Vorwort verfasst (siehe unten S. 136), so ist wohl davon auszugehen, dass das Vorwort bereits der fiktiven Welt angehört. Zwischen diesen Formen gibt es zudem Übergangsphänomene, bei denen beide Optionen möglich scheinen und die paratextuellen Elemente entweder als ›schon‹ einer fiktiven Welt angehörig oder ›noch‹ in der tatsächlichen Welt zu verorten betrachtet werden können. Dies wird insbesondere im Zusammenhang mit Vorworten zu diskutieren sein (siehe Kap. 4). Auch wenn hier keine Ergebnisse der empirischen Leseforschung zugrunde gelegt werden oder angestrebt werden sollen, sei dennoch abschließend kurz auf einen weiteren Bereich der Fiktionsforschung hingewiesen, der sich in jüngerer Zeit immer wieder explizit mit der Wirkungsweise von paratextuellen Fiktionsmarkierungen beschäftigt und dabei zumindest teilweise ein Modell fiktiver Welten angenommen hat.218 Spätestens mit der zusammenfassenden Studie von Prentice und Gerrig ist die Unterscheidung Fakt/Fiktion mit Bezug auf die Möglichkeit, Leser in ihrem Urteil über die tatsächliche Welt zu beeinflussen, problematisiert worden. In ihrer Studie weisen Prentice und Gerrig nach, dass Probanden Informationen aus als fiktional markierten Texten in ihre »real-word beliefs«219 einfließen lassen, ja sogar im Falle fiktionaler Markierungen anfälliger dafür sind, falsche Informationen in ihr ›Weltwissen‹ einzugliedern, weil die Informationen nicht so sorgfältig überprüft oder hinterfragt werden wie solche, die als Fakten ausgewiesen sind. Über die Wirkungsweise p aratextueller Fakt/Fiktions-Rahmungen ist damit allerdings noch recht wenig ausgesagt. Denn selbstverständlich ist es keineswegs ausgeschlossen, sondern, ganz im Gegenteil, der Regelfall, dass fiktionale Texte Informationen über die tatsächliche Welt liefern (können). Eine neuere Studie hat aus diesem Grund die Testreihe um eine weitere Kategorie erweitert: Appel und Malečkar werteten die Reaktion von Probanden aus, die mit einer identischen Erzählung konfrontiert wurden, die wahlweise als nonfiction, fiction oder fake markiert war.220 Während sich Fiktion und Nicht-Fiktion in der Beeinflussung der Probanden nicht signifikant unterscheiden,221 könne nachgewiesen
217 Vgl. Genette (1987): Seuils, S. 267–269. 218 Vgl. nur den Titel von Gerrig (1993): Experiencing Narrative Worlds. 219 Prentice/Gerrig (1999): »Exploring the Boundary Between Fiction and Reality«, S. 540. 220 Vgl. Appel/Malečkar (2012): »The Influence of Paratext on Narrative Persuasion«. 221 In einer weiteren Studie wird die Überzeugungskraft eines Redemanuskriptes getestet, das markiert ist als entweder einer fiktionalen Fernsehserie entnommen oder aus einer Nachrichtensendung stammend. Die Ergebnisse dieser Studie, die keine Erzählung, sondern eine ›argumentbasierten‹ Textgattung zum Gegenstand nimmt, sind vergleichbar mit den bereits erwähnten: »Labeling a speech as either fact or fiction did not reliably affect how much recipients were influenced: a fact label was never reliably more persuasive than a fiction label«; Green, et al. (2006): »Fact Versus Fiction Labeling«, S. 281 f. Explizit auf audiovisuelle Fernsehbeiträge zugeschnitten ist die Studie Konijin/ Molen/Nees (2009): »Emotions Bias Perceptions of Realism in Audiovisual Media«.
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werden, dass eine als fake markierte Erzählung weniger Einfluss auf die Probanden hatte – jedenfalls auf solche, »who are dispositionally inclined to process information thoroughly«222. Diese Studien legen nahe, dass statt von einer »willing suspension of disbelief«223 eher von einer »willing construction of disbelief«224 auszugehen ist, dass also Rezipienten grundsätzlich geneigt sind, Erzählungen zu ›glauben‹ und Informationen daraus in ihren Wissensbestand zu integrieren, sofern sie keine starke Motivation haben, dem Vertrauen auf die Informationen entgegenzuarbeiten. Für die Untersuchung von paratextuellen Fiktionsmarkierungen ist dies zwar nicht irrelevant, es fallen aber dennoch einige Diskrepanzen auf, die es unmöglich machen, die Ergebnisse dieser Studien direkt zu übertragen. Zunächst sind die Ergebnisse schlicht ungeeignet, Aufschluss über den Umgang mit historischen Konventionen der peri textuellen Fiktionsmarkierung zu liefern. Des Weiteren ist die Kategorie der Informationsübernahme aus fiktionalen Texten nur peripher mit der Frage nach Fiktionalität oder Fiktivität verbunden:225 Die Frage, ob etwa eine Lektüre von Madame Bovary die Annahmen des Rezipienten über die französische Gesellschaft um die Mitte des 19. Jahrhunderts beeinflusst, ist eine andere als diejenige, ob in dem Text eine wahre Geschichte erzählt wird. Wichtiger noch aber ist das Problem dieser Studien, dass sie die zentrale Funktion des Paratextes, sein Changieren zwischen extratextueller Information und intratextueller Funktionalisierung, nicht nachahmen (können), sodass angezweifelt werden darf, dass hier überhaupt ›Paratexte‹ in einem strengen Sinne untersucht werden und nicht vielmehr die labels der Texte durch die Testsituation affiziert werden. In der Studie von Appel und Malečkar wird dies besonders deutlich. Im Zuge der Untersuchung wurden die Probanden mit folgenden drei labels konfrontiert (die identischen Passagen sind ausgespart):
222 Appel/Malečkar (2012): »The Influence of Paratext on Narrative Persuasion«, S. 474. 223 Coleridge (1939[1817]): Biographia Literaria, S. 6. 224 Gerrig/Rapp (2004): »Psychological Processes Underlying Literary Impact«, S. 268. 225 Nicht die Informationsübernahme aus Texten, sondern deren Prozessierung untersucht eine weitere, aktuelle Studie, die durchaus Unterschiede zwischen als Fakt bzw. als Fiktion gekennzeichneten Texten verzeichnet. So seien in beiden Fällen bei der Lektüre Hirnareale aktiv, die der Simulation dienen, jedoch verschiedenen ›Arten‹ von Simulation: »In sum, both contexts, the factual and the fictional one, activate processes of imagination but both reflect different levels of simulation […]. On the one hand, the term simulation is used in a broader sense for the representation or inner imitation of actions […]. Thus, in our study, factual reading would refer to this broader concept of simulation. Fictional reading, on the other hand, seems to represent simulation in the narrower sense of ›imaginative constructions of hypothetical events or scenarios‹ […]. This notion is in keeping with the suggestion […] that factual works relate to the cooperation and alignment of individuals in the real world, whereas fictional works follow primarily the task of imagination and simulation«; Altmann, et al. (2014): »Fact vs Fiction«, S. 28.
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Nonfiction condition: »You are going to read a nonfictional story by Roderick James, a news magazine article called ›Murder at the Mall.‹ The events in the article occurred in October 2005 and were reported in an online news magazine shortly after the incident. Please read the story carefully.« Fiction condition: »[…] a fictional short story […], a short story called […] It was published in a literary magazine in October 2005. The resemblance to any real persons and places is of course coincidental. […].« Fake condition: »[…] a fake story […], called […]. Originally, the author claimed that the story was true. When the story’s degree of truth was examined, the whole story turned out to be a lie (which was later acknowledged by James) […].«226
Bereits durch das einleitende »You are going to read« muss den Rezipienten klar sein, dass der ›Paratext‹ von den ›Machern‹ der Studie verantwortet wird und auf diese Testsituation zugeschnitten ist.227 Damit allerdings ist ebenfalls impliziert, dass die labels extratextuelle Information liefern und sie damit gerade nicht die für Peritexte charakteristische Zwischenstellung einnehmen. Um eben diese potentielle Zwischenstellung soll es in den folgenden Kapiteln an diversen historischen Beispielen gehen.
226 Appel/Malečkar (2012): »The Influence of Paratext on Narrative Persuasion«, S. 480. 227 Bei anderen empirischen Studien lässt sich aus der Beschreibung des Studiendesigns häufig nicht erschließen, in welcher Form den Probanden Textlabels vorgelegt wurden. So etwa in einer sehr frühen Studie, die von »text-class indicators« wie etwa der Gattungsbezeichnung novel spricht, aber nicht beschreibt, wie diese konkret vorlagen; vgl. Wildekamp/van Montfoort/van Ruiswijk (1980): »Fictionality and Convention«, insbes. S. 560.
3 Titelei Mit dem Begriff der »Titelei«, der aus dem Buchwesen stammt und in der Paratexttheorie in der Regel nicht benutzt wird, sollen im Folgenden drei Aspekte zusammengefasst werden, die sich zunächst durch den Ort auszeichnen, an dem sie begegnen, nämlich auf den Seiten, die dem ›eigentlichen‹ Inhalt des Buches vorangestellt sind.1 Im Einzelnen ist damit der Name des Autors gemeint, der in der Regel auf dem Titelblatt abgedruckt ist (freilich aber auch an anderen Stellen vorkommen kann), der Titel selbst sowie Gattungsbezeichnungen, die sich, wie zu zeigen sein wird, erst allmählich als selbständiges paratextuelles Element aus dem Titel herausentwickeln, und schließlich Verlags- und bibliographische Angaben, die ebenfalls in der Titelei (auf dem T itelblatt und der Impressumsseite) zu finden sind. Allen diesen Elementen ist also gemein, dass sie in einem Bereich des Buches zu finden sind, der zwischen auktorialer und editorialer Verantwortung changieren kann. So ist die Entscheidung eines Autors, sein Werk unter seinem (realen) Namen zu veröffentlichen, in aller Regel seine eigene, während der Titel durchaus vom Verleger beeinflusst oder gar gewählt sein kann. Bei Gattungsbezeichnungen ist ebenfalls nur bedingt von einer Entscheidung des Autors auszugehen. Verlagsangaben sind in aller Regel klar dem editorialen Rahmen zuzuordnen – es zeigen sich jedoch auch hier (wenngleich seltene) ›Grenzüberschreitungen‹, auf denen im Folgenden ein besonderes Augenmerk liegen soll. Die Titelei zeichnet sich nicht nur durch die einzelnen angeführten Elemente aus, sie bildet zudem ein gestaltetes Ganzes, das selbst schon aufschlussreich sein kann, indem es Traditionen und Moden anzeigt, in die das betreffende Buch eingereiht wird. Als nur ein Beispiel sei hier der erste Teil von Robinson Crusoe erwähnt, bei dem sich über die Gestaltung des Titelblattes bereits eine intertextuelle Verbindung erkennen lässt zu Texten, die zeitgenössisch ungemein wirkmächtig waren: Die englische Übersetzung von Cervantes’ Don Quixote und die Übersetzung von Fénelons Aventures de Télémaque.2 Die Haupttitel lauten jeweils: »The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe,
1 ›Titelei‹ wird dabei in einem leicht anderen Sinn verwendet, als es im Buchwesen der Fall ist. Dort bezeichnet es grundsätzlich alle »dem Buchtext vorangehenden Teile«, also auch Vorworte; Hiller/ Füssel (2006): Wörterbuch des Buches, S. 327. Demgegenüber ist ›Titelei‹ hier auf den Paratext vom Schmutztitel bis zur Impressumsseite beschränkt. Auch ›nach außen hin‹ ist dies als Abgrenzung des eigentlichen Untersuchungsgegenstandes zu verstehen. Bucheinbände und -umschläge werden hier und im Folgenden allenfalls am Rande einbezogen. Dies ergibt sich auch daraus, dass sie nur für einen Teil des betrachteten Zeitraums überhaupt existieren (Verlegereinbände kommen erst im 19. Jahrhundert vermehrt auf; siehe unten S. 290) und kaum systematisch aufzufinden sind (Schutzumschläge werden in der Regel nicht aufbewahrt, Bibliotheksexemplare umgebunden etc.). Zu Einband und Umschlag allgemein vgl. den instruktiven und mit weiterführenden Literaturhinweisen versehenen Beitrag von Magnus Wieland: Wieland (2014): »Bücherhüllen«. 2 Vgl. Simons (2001): Marteaus Europa, S. 600. https://doi.org/10.1515/9783110578942-003
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of York, Mariner«3, »The Adventures of Telemachus, the Son of Ulysses«4 und »The Life and Notable Adventures of that Renown’d Knight, Don Quixote De La Mancha«5. Vergleicht man die Titelblätter, zeigt sich neben den lexikalischen Übereinstimmungen zwischen den Titeln auch eine gestalterische Nähe, die R obinson Crusoe damit zumindest latent in eine Reihe mit diesen ›Vorgängertexten‹ stellt. Damit einher geht eine schwache Markierung von Fiktion, die alleine allerdings kaum ausschlaggebende Wirkung gehabt haben dürfte – zumal sie, wie zu zeigen sein wird (siehe Kap. 4), zunehmend mit anderen paratextuellen Elementen in Konflikt gerät. Ein Kapitel über die Titelei mag zudem der richtige Ort sein, um wenigstens kurz ein weiteres paratextuelles Element der Titelseite zu erwähnen, das relevante Infor mationen hinsichtlich der Frage Fakt/Fiktion liefern kann – freilich nicht muss: das Motto.6 Insbesondere die Tradition, poetologische Mottos zu verwenden, ist dabei relevant. Und in dieser Hinsicht ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass ein schlagendes Beispiel hierfür im Werk von Clara Reeve zu finden ist, die mit The Progress of Romance eine frühe Geschichte des Romans verfasst hat.7 Ihre, so der Untertitel, »Gothic Story«, The Champion of Virtue, die später unter dem Titel The Old English Baron bekannt wurde, trägt auf dem Titelblatt das Horaz-Motto: »Ficta voluptatis causa sint proxima veris / Horace«8. Während also zunächst eine poetologische Aussage lediglich zitiert wird, ist doch zugleich die Frage zu stellen, ob diese Forderung sich an den Text richtet, den sie begleitet – beziehungsweise, ob dieser damit als Text ausgewiesen ist, der genau diese Forderung erfüllt. In diesem Sinne wäre er eine Fiktion, die dem Vergnügen dient und dabei ›nahe an‹ der Wahrheit beziehungsweise der Wahrscheinlichkeit konstruiert ist. Diesen Gedanken nimmt das Vorwort auf, das zunächst einen Gegensatz zwischen »ancient Romance« und »modern Novel« aufmacht.9 Beiden sei
3 Defoe* (1719): Life and Adventures. 4 Fénelon* (1715): The Adventures of Telemachus. 5 Cervantes* (1710): Don Quixote. 6 Genette beschreibt knapp die historische Konjunktur des Mottos (épigraphe): Dieses sei erst im 17. Jahrhundert aufgekommen und habe insbesondere im 18. Jahrhundert im Umfeld der gothic novel größere Verbreitung gefunden; vgl. Genette (1987): Seuils, S. 134–138. 7 Vgl. Reeve* (1785): The Progress of Romance. 8 Reeve* (1777): The Champion of Virtue. Vgl. Horaz (2008): Ars Poetica / Die Dichtkunst, S. 24 f. (V. 338): »Was man des Vergnügens wegen erfindet, sei dicht an der Wahrheit«. 9 Reeve* (1777): The Champion of Virtue, S. ii. Dieser Gegensatz findet sich auch in Reeves Progress of Romance: »The Romance is an heroic fable, which treats of fabulous persons and things. – The Novel is a picture of the real life and manners, and of the times in which it is written. The Romance […] describes what never happened nor is likely to happen. – The Novel gives a familiar relation of such things, as pass every day before our eyes, such as may happen to our friend, or to ourselves; and the perfection of it, is to represent every scene, in so easy and natural a manner, and to make them appear so probable, as to deceive us into a persuasion (at least while we are reading) that all is real«; Reeve* (1785): The Progress of Romance, S. 111.
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Abbildung 1: Titelblatt Defoe* (1719): Life and Adventures
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jedoch gemein, dass sie eine Unterhaltungsfunktion hätten, die durchaus nicht verwerflich sei (dies greift bereits das Horaz-Motto auf): if you have read any fictitious or fabulous story, it will answer my intention, which is to assert, that all readers, of all times and countries have delighted in stories of these kinds; and that those who affect to despise them under one form, will receive and embrace them in another.10
Der vorliegende Text sei genau eine solche story, die darüber hinaus Horaz’ Forderung nach einem fictum, das Nahe an der Wahrheit bleiben solle, nachkomme. In ihrem Vorwort setzt Reeve den Text explizit von dem zentralen Vorbild der gothic novel, The Castle of Otranto, ab, indem sie dieses als zu weit entfernt von der Realität kritisiert: »Had the story been kept within the utmost verge of probability, the effect had been preserved, without losing the least circumstance that excites or detains the attention.«11 The Champion of Virtue dagegen sei ein Text, der Horaz’ Forderung erfülle und so die besten Eigenschaften von novel (»enough of the manners of real life, to give an air of probability to the work«12) und romance (»a sufficient degree of the marvellous to excite the attention«13) erfülle. Im Vorwort ist dies zudem in eine Manuskriptfiktion eingebunden: During these reflections, it occured to my remembrance, that a certain friend of mine was in possession of a manuscript in the old English language, containing a story that answered in almost every point to the plan above-mentioned […].14
Der Text ist also durch das Horaz-Motto auf dem Titelblatt als Fiktion ausgewiesen, die aber nahe an der Wahrheit sei – für letzteres garantiert nicht zuletzt eine Herausgeberfiktion und die Authentizität eines ›alten‹ Manuskripts. Die Nähe zur Realität wird dabei gerade durch die Herausgeberfiktion eingelöst, die der Tatsache, dass der Text eine Fiktion darstellt, jedoch nicht widerspricht (zur Entwicklung der Herausgeberfiktion, die keineswegs immer schon so offen mit dem Fiktionscharakter des Textes umgeht, siehe Kap. 4). Wie diese Beispiele andeuten, sind in einigen Fällen bereits auf dem Titelblatt Hinweise gegeben, die einen Text in eine Tradition einordnen – sei es durch die implizite gestalterische Nähe zu anderen Texten, oder aber durch das explizite Aufgreifen poetologischer Forderungen in einem Motto.15 Beides kann als Fiktionssignal
10 Reeve* (1777): The Champion of Virtue, S. iii. 11 Reeve* (1777): The Champion of Virtue, S. v. 12 Reeve* (1777): The Champion of Virtue, S. iv. 13 Reeve* (1777): The Champion of Virtue, S. iv. 14 Reeve* (1777): The Champion of Virtue, S. vii. 15 Genette bezeichnet das Motto gar als ›Visitenkarte‹ eines Textes: »Le plus puissant effet oblique de l’épigraphe tient peut-être à sa simple présence, quelle qu’elle soit: c’est l’effet-épigraphe. La présence ou l’absence d’épigraphe signe à elle seule, à quelques fractions d’erreur près, l’époque, le genre ou la tendance d’un écrit«; Genette (1987): Seuils, S. 148.
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f unktionalisiert sein, es ist jedoch zu beachten, dass diese Elemente der Titelei hochgradig interpretationsbedürftig sind und den jeweiligen historischen Kontext als ›Folie‹ benötigen, weil sie auf ein je eigenes Verständnis von Fiktion verweisen. Während bei Defoe die Anspielung auf weitere fiktionale Texte allenfalls implizit erfolgt und in den übrigen paratextuellen Elementen eher der Versuch zu erkennen ist, eine ›wahre Geschichte‹ zu signalisieren, findet sich bei Reeve dagegen ein souveräner Umgang mit dem fiktionalen Charakter des Textes: Dieser wird explizit für den Text reklamiert und durch den Verweis auf eine Autorität (Horaz) nobilitiert. Damit zeigt sich bereits auf dem Titelblatt in nuce eine für den angesprochenen Zeitraum charakteristische Verschiebung, die auch weitere paratextuelle Elemente (unter anderem die im Folgenden unter der Überschrift ›Titelei‹ untersuchten) affiziert.
Autorname Der Name des Autors erscheint aus heutiger Perspektive als eines der zentralen Elemente, das in keinem Peritext fehlen sollte – und in der Tat auch nur selten fehlt. Diesen Eindruck vermitteln auch ältere Werke, jedoch ist dies in erster Linie der Tatsache geschuldet, dass selten auf zeitgenössische und insbesondere Erstausgaben älterer Texte geblickt wird und neuere Editionen oft keinerlei Hinweis darauf enthalten, wie der Text ursprünglich erschienen war – und ob er mit einem Autornamen ›gekennzeichnet‹ war oder nicht. In einer der wenigen neueren Arbeiten zur Anonymität ist diese Situation treffend zusammengefasst: Wir sind daran gewöhnt, Texte in dem Wissen zu lesen, wer sie geschrieben hat. […] Mit dieser Lektürevoraussetzung verbindet sich eine ganze Reihe hermeneutisch entscheidender Annahmen, selbst dann, wenn nur ein sehr schwaches Konzept von Autorschaft vorausgesetzt wird. […] Der Name des Autors ist eines der wichtigsten Zeichen, mit denen es uns möglich wird, ein bestimmtes Wissen auf einen Text zu beziehen. Unter diesen Voraussetzungen war beinahe in Vergessenheit geraten, dass auch die Literaturgeschichte der Neuzeit eine nicht geringe Zahl von Texten verzeichnet, die anonym publiziert worden sind, die also den hermeneutischen Rückgriff auf den Autor verweigern.16
Die Diskussion um den Autor als Instanz hat in der Literaturwissenschaft durchaus immer wieder für Aufsehen gesorgt,17 sie war dabei jedoch nur bedingt an den peritextuellen Manifestationen der Autorschaft interessiert und fokussierte eher den literaturwissenschaftlichen Zugriff selbst, der zwischen einem »Tod des Autors«18 und
16 Pabst (2011): »Anonymität und Autorschaft«, S. 1. 17 Für eine »Kurze Theoriegeschichte der Autorschaft« vgl. Schaffrick/Willand (2014): »Autorschaft im 21. Jahrhundert«, S. 9–18. 18 Barthes (2000[1967]): »Der Tod des Autors«.
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seiner »Rückkehr«19 verhandelt wurde. Im Zentrum der Auseinandersetzung stand also eher die Frage, ob eine literaturwissenschaftliche Textinterpretation sich auf die Instanz des Autors stützen dürfe (beziehungsweise könne) – oder nicht. In Foucaults einflussreichen Überlegungen zum Autor, auf die in dieser Diskussion häufig Bezug genommen wird, findet sich allerdings eine historische Einordnung, die an seine Ausführungen zur ›Autorfunktion‹ gebunden ist. Als Autorfunktion fasst Foucault dabei gerade nicht den bloßen Bezug auf einen ›empirischen‹ Autor, sondern die Formen, in denen ein Autor in die Zirkulation von Texten eingeschrieben ist. Vor dem Hintergrund des proklamierten ›Tod‹ des Autors hält Foucault in dem Programm für seinen Vortrag fest: »Mais l’essentiel n’est pas de constater une fois de plus sa disparition; il faut repérer, comme lieu vide – à la fois indifférent et contraignant –, les emplacements où s’exerce sa fonction.«20 Die weiteren Ausführungen belegen, dass es dabei am Rande immer auch um die (avant la lettre) paratextuelle Einschreibung des Autornamens geht.21 Aus historischer Perspektive habe sich dabei eine einschneidende Veränderung ergeben, die gerade die Abgrenzung literarischer und nicht-literarischer Texte betreffe. Die Autorfunktion sei zunächst durch die Zirkulations- und Funktionsbestimmungen innerhalb des gesellschaftlichen Kontexts bedingt und nicht in allen Texten gleichermaßen anzutreffen; vielmehr lassen sich Textgruppen ausmachen, die eine Autorfunktion aufweisen und solche, bei denen dies nicht der Fall ist. Dabei sei allerdings eine historische Verschiebung zu beobachten: D’autre part, la fonction-auteur ne s’exerce pas d’une façon universelle et constante sur tous les discours. Dans notre civilisation, ce ne sont pas toujours les mêmes textes qui ont demandé à recevoir une attribution. Il y eut un temps où ces textes qu’aujourd’hui nous appellerions »littéraires« (récits, contes, épopées, tragédies, comédies) étaient reçus, mis en circulation, valorisés sans que soit posée la question de leur auteur; leur anonymat ne faisait pas de difficulté […]. En revanche, les textes que nous dirions maintenant scientifiques […] n’étaient reçus au Moyen Âge, et ne portaient une valeur de vérité, qu’à la condition d’être marqués du nom de leur auteur. […] Un chiasme s’est produit au XVIIe, ou au XVIIIe siècle […].22
Ab diesem Zeitpunkt sei eine Autorfunktion für wissenschaftliche Texte immer stärker in den Hintergrund getreten gegenüber einem überpersönlichen Wahrheitsanspruch; für literarische Texte dagegen sei der Autor als Bezugspunkt unabkömmlich geworden: Mais les discours »littéraires« ne peuvent plus être reçus que dotés de la fonction auteur: à tout texte de poésie ou de fiction on demandera d’où il vient, qui l’a écrit, à quelle date […]. Le sens qu’on lui accorde, le statut ou la valeur qu’on lui reconnaît dépendent de la manière dont on répond à ces questions. Et si, par suite d’un accident ou d’une volonté explicite de l’auteur, il
19 Jannidis, et al. (Hg.) (1999): Die Rückkehr des Autors. 20 Foucault (1969): »Qu’est-ce qu’un auteur?«, S. 73. 21 Unter anderem ist von der »Position de l’auteur dans le livre« die Rede; Foucault (1969): »Qu’estce qu’un auteur?«, S. 74. 22 Foucault (1969): »Qu’est-ce qu’un auteur?«, S. 84 f.
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nous parvient dans l’anonymat, le jeu est aussitôt de retrouver l’auteur. L’anonymat littéraire ne nous est pas supportable […].23
Foucaults historische Einschätzung ist verschiedentlich kritisiert worden und sie erscheint in ihrer Verallgemeinerung in der Tat kaum haltbar.24 Foucault sieht offenbar für das 18. Jahrhundert eine anonyme Publikation bei einem literarischen Text als »Unfall« oder wenigstens als – vom Autor gewollte – Ausnahme an. Dem widersprechen die Daten insbesondere zum Roman, die im Folgenden für das 18. Jahrhundert betrachtet werden sollen. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass die Autorfunktion, die Foucault beschreibt, nicht notwendigerweise mit der Nennung des Namens verbunden ist (auch wenn Foucault dies, wie aus dem Zitat hervorgeht, nahezulegen scheint): »The author-function describes precisely a function, which may be fulfilled by a name but does not require one.«25 Mit Blick auf den Roman erscheint es daher zwar durchaus so, dass in vielen dieser Texte eine Autorfunktion im Peritext ›angesprochen‹ wird, dass diese aber keineswegs regelmäßig mit dem Namen des empirischen Autors verbunden ist. Dem widerspricht auch nicht, dass sich im 18. Jahrhundert copyright-Modelle durchsetzen und der Autor damit als ›Eigentümer‹ des Textes in Erscheinung tritt:26 Naming and copyright protection operate on separate levels of discourse […]. When copyright historians discuss the author as owner, that author is an abstract legal identity which does not need to have a specific name for it to function in legal discourse. […] [L]egal and aesthetic identities of the author have been conflated but must be kept apart.27
Mit dieser Einsicht lässt sich argumentieren, dass die Art und Weise, wie Foucault das Aufkommen einer Autorfunktion und die Nennung des Autors im Paratext parallelisiert, keineswegs zwingend ist.28 Während im 18. Jahrhundert durchaus von einer juristischen Autorfunktion zu sprechen ist, bleibt die anonyme Publikation insbesondere bei Romanen der Standard. Es liegt daher nahe, dies aus vornehmlich ›ästhetischen‹ Erwägungen zu erklären und nicht aus juristischen. Umgekehrt bedeutet dies aber, das für das 18. Jahrhundert Anonymität durchaus erklärungsbedürftig ist, denn es existiert die Funktion Autorschaft, und auch die Praxis namentlich gekennzeichneter Publikation ist keineswegs unüblich; Anonymität erscheint vor diesem Hintergrund, auch wenn sie die Mehrzahl der Fälle ausmacht, durchaus als Entscheidung
23 Foucault (1969): »Qu’est-ce qu’un auteur?«, S. 85. 24 Vgl. Chartier (1996): Culture écrite et société, S. 71 f. 25 Griffin (1999): »Anonymity and Authorship«, S. 882. 26 Vgl. Jannidis, et al. (1999): »Rede über den Autor«, S. 7. 27 Griffin (1999): »Anonymity and Authorship«, S. 889 f. 28 Vgl. Pabst (2011): »Anonymität und Autorschaft«, S. 7.
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und nicht einfach als Resultat einer fehlenden Autorfunktion.29 Erst unter diesen Voraussetzungen erscheinen Autorschaft und Anonymität als sich gegenseitig nicht bloß ausschließende, sondern komplementäre – und erklärungsbedürftige – Phänomene: »Zum auktorialen Diskurs gehört der anonyme als sein anderes hinzu.«30 Betrachtet man die Zahlen von Romanpublikationen über das 18. Jahrhundert hinweg und den jeweiligen Anteil von onym,31 pseudonym oder anonym publizierten Texten, ergibt sich ein differenzierteres Bild, das eine grundlegende Tendenz zur onymen Publikation erst gegen Ende des Jahrhunderts aufweist. Während also aus heutiger Sicht Anonymität durchaus als ›Abweichung‹ erscheint und einen Text dadurch bereits markiert, ist dies für das 18. Jahrhundert keineswegs festzustellen: Anonyme Publikationen machen die Mehrheit der veröffentlichten narrativen Prosatexte aus.32 Hier zeichnet sich zudem eine Entwicklung ab, die sich zumindest tentativ mit Zahlen belegen lässt. Für die französische Literatur etwa liegen Bibliographien vor, die das gesamte 18. Jahrhundert abdecken und anhand derer sich das Gefüge von onymer, anonymer und pseudonymer Publikation untersuchen lässt. Dabei dienen die folgenden Zahlen allerdings eher der ›vorsichtigen‹ Illustration, als einer ›harten‹ quantitativen Analyse.33 Dies ist zum einen in der teilweise geringen Datenmenge begründet (in manchen Jahren erscheinen weniger als 5 relevante Texte, sodass eine Abweichung in diesem Jahr vom generellen Trend kaum als aussagekräftige Differenz gewertet werden kann), zum anderen – und dies ist der gewichtigere Einwand – ist das Wissen über die heute in großen Teilen unbekannte literarische Produktion sehr lückenhaft, sodass mitunter unklar bleiben muss, ob ein auf dem Titelblatt genannter Autorname ein Pseudonym darstellt oder nicht; dies aus dem einfachen Grund, dass über eine
29 In Müllers Unterscheidung der beiden Aspekte von Anonymität interessiert hier also ausschließlich der zweite: »Anonymität bezeichnet zwei grundsätzlich auseinanderzuhaltende Sachverhalte: die namenlose Überlieferung von Texten und das bewußte Verschweigen des Namens ihres Autors […]. Das eine Mal bleibt der Autor unbekannt, weil an seinem Namen kein Interesse bestand oder der Text mehrere Urheber hat, das andere Mal wird die öffentliche Zuweisung eines Textes zu einem Verfasser, aus welchen Gründen immer, unterbunden […]«; Müller (1997): »Anonymität«, S. 90. 30 Zelle (2003): »Auf dem Spielfeld der Autorschaft«, S. 32. 31 Ich verwende die Bezeichnung ›onym‹ (in Anlehnung an Genette) und nicht vergleichsweise gebräuchlichere Begriffe wie ›autonym‹ oder ›orthonym‹. Es geht in erster Linie darum, dass eine Publikation mit einem Autornamen versehen ist – weniger darum, ob sich dieser in der Nachforschung als ›korrekt‹ herausstellt. Gemeint ist, wie es eine neuere Monographie knapp formuliert, der »Zustand der Signiertheit«; Ramtke (2016): Anonymität – Onymität, S. 48. 32 Die Formulierung zeigt an, dass die Datengrundlage, auf die sich die folgenden Überlegungen beziehen, aus zwei Bibliographien stammen, die einen etwas unterschiedlichen Fokus und damit unterschiedliche Kriterien für die Aufnahme verfolgen: Während Jones sich auf »prose fiction« beschränkt, sprechen Martin, Mylne und Frautschi von einem »genre romanesque«; vgl. Jones (1939): A List of French Prose Fiction From 1700 To 1750 sowie Martin/Mylne/Frautschi (1977): Bibliographie du genre romanesque français 1751–1800. 33 Ähnlich Weil, die in ihrer Studie zum Romanverbot weitere Datenquellen heranzieht, aber dennoch festhält: »Il s’agit là d’indices, non de preuves«; Weil (1986): L’Interdiction du roman, S. 23.
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Person dieses Namens zwar nichts bekannt ist, dass aber auch nicht ausgeschlossen werden kann, dass sie tatsächlich existiert hat und der Autor des betreffenden Textes ist. Darüber hinaus ist keineswegs ausgeschlossen, dass Texte auf dem Titelblatt den Namen eines existierenden Autors nennen, diese Person aber nicht für den Text verantwortlich ist. Schließlich ist zudem bei manchen der Texte in der Tat strittig, ob sie als fiktionale zu betrachten sind, oder nicht vielmehr tatsächlich Memoiren einer realen Person sind, wie das Titelblatt behauptet. Zunächst aber lässt sich aus den Bibliographien eine allgemeine Entwicklung ablesen, die die Publikationszahlen betrifft – auch diese sind zwar aufgrund der etwas divergierenden Auswahlkriterien der beiden Bibliographien nicht zwingend aus sagekräftig, sie bilden jedoch einen Trend ab, der durchaus Schlüsse zulässt. So ist ein langsamer Anstieg der Publikationszahlen über das gesamte Jahrhundert zu beobachten, der erst in den letzten 15 Jahren des Zeitabschnitts deutlich Fahrt aufnimmt, allerdings mit einem signifikanten Einbruch in den Revolutionsjahren.34 Im ersten Drittel des Jahrhunderts erscheinen durchschnittlich etwa 15 Titel pro Jahr, wobei die Zahl nach 1715 zunächst sogar etwas zurückgeht.35 Im zweiten Drittel steigt sie auf beinahe den doppelten Wert an und bleibt dann vergleichsweise konstant, um in den 1780er Jahren deutlich anzusteigen und schließlich nach einem Einbruch in den Revolutionsjahren über 150 Titel zu erreichen. Interessanter als die absoluten Zahlen allerdings ist der Vergleich zwischen den onymen und anonymen (beziehungsweise pseudonymen) Veröffentlichungen. Während Martin, Mylne und Frautschi für ihren Zeitraum selbst eine Auswertung anbieten, ist dies bei Jones nicht der Fall. Aus den Titeldaten lässt sich diese jedoch – zumindest grob – erschließen. Dabei ist zu beachten, dass als anonyme Publikation erfasst ist, was keinerlei namentliche Nennung auf dem Titelblatt aufweist, und als Pseudonym eine Namensnennung, die offenbar nicht ›korrekt‹ ist, aber auch eine solche, die nur teilweise erfolgt und etwa einen Namen mittels ›***‹ chiffriert. Dies als Pseudonym zu werten, wie es Martin, Mylne und Frautschi praktizieren, ist zwar problematisch, allerdings lässt es sich kaum vermeiden, denn die Abkürzungspraxis ist keineswegs darauf festgelegt, dass sie tatsächliche Namen abkürzt. Vielmehr finden sich häufig Namensnennungen der Art ›par M ***‹, die als quasi-anonym gelten können, da sie keinerlei Rückschluss auf den tatsächlichen Autor zulassen. Pseudonyme und anonyme Publikation ist in diesen und ähnlichen Fällen mitunter kaum voneinander
34 Vgl. für die Datengrundlagen: Jones (1939): A List of French Prose Fiction From 1700 To 1750, S. xiv sowie Martin/Mylne/Frautschi (1977): Bibliographie du genre romanesque français 1751–1800, S. xxxvii. 35 Jones deutet dies als Rückwirkung des Todes von Louis XIV sowie der ökonomisch und politisch instabilen Situation in der Folgezeit; vgl. Jones (1939): A List of French Prose Fiction From 1700 To 1750, S. xv.
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abzugrenzen.36 Die Tatsache aber, dass selbst mit der basalen Abkürzung ›par ***‹ noch eine Markierung der Autorposition vorgenommen wird, rechtfertigt dennoch die Abgrenzung von gänzlich anonym publizierten Texten, bei denen diese ›Stelle‹ schlicht leer bleibt. Die Daten, die sich aus dieser Erhebung ergeben, sind durchaus aufschlussreich. So zeigt die Auswertung der Titeldaten bei Jones, dass sich in der ersten Jahrhunderthälfte kaum eine Veränderung ausmachen lässt: Konstant erscheinen etwa 60–70 % aller Titel anonym, während der verbleibende Anteil in etwa zu gleichen Teilen auf pseudonyme Publikationen und solche mit Namensnennung des (aller Wahrscheinlichkeit nach) realen Autors entfällt. Im letzten Dezennium der ersten Jahrhunderthälfte lässt sich ein Anstieg der anonymen Publikation beobachten, die sich korrelieren lässt mit der ›proscription des romans‹ (siehe S. 110): Während des Romanverbots erscheinen also zwar nicht weniger Romane, sie erscheinen aber noch häufiger als zuvor schon ohne jeglichen Hinweis auf den realen Autor. In der zweiten Jahrhunderthälfte ist jedoch ein deutlicher Trend zu erkennen,37 bei dem sich das Verhältnis am Ende des Jahrhunderts umkehrt. Auch hier bleibt der Anteil pseudonymer Publikationen relativ konstant, während onyme Publikationen mit Ende des Jahrhunderts deutlich zunehmen und die Zahl anonymer Veröffentlichungen um 1775 herum erstmals und dann wieder in den letzten 5 Jahren des Jahrhunderts übersteigen.38 Anonyme Publikation bleibt aber weiterhin eine Option und ist bis ins 19. Jahrhundert hinein keineswegs als Ausnahmeerscheinung zu sehen. Zu ergänzen ist dieser Befund um die Einschränkung, dass er ausschließlich die Nennung des Autors auf dem Titelblatt widerspiegelt und nicht etwaige andere namentliche ›Kennzeichnungen‹ an anderen Stellen des (Para-)Textes. So ist in manchen Fällen auch bei (auf dem Titelblatt) anonymer Publikation ein Vorwort signiert, trägt eine Widmung den Namen des Autors oder ist im Druckprivileg der Autor genannt. Darüber hinaus ist selbstverständlich keineswegs gesagt, wie ›streng gehütet‹
36 In der Terminologie von Kord wäre hier also unklar, ob es sich tatsächlich um ein »Asteronym« handelt, bei dem ein Teil des Namens durch Asteriske ersetzt wird, oder ob die Asteriske leere Platzhalter sind; Kord (1996): Sich einen Namen machen. Anonymität und weibliche Autorschaft 1700–1900, S. 200. 37 Vgl. zu den Zahlen: Martin/Mylne/Frautschi (1977): Bibliographie du genre romanesque français 1751–1800, S. xliii. 38 Griffin hält für die englische Literatur ein ähnliches Ergebnis fest, wobei er die hier als pseudonym gewerteten Publikationen zu den anonymen zählt: »nearly seventy percent of all novels published in the last thirty years of the eighteenth century were published anonymously«, wobei allerdings gegen Ende des Jahrhunderts ein »tapering off« festzustellen sei; Griffin (1999): »Anonymity and Authorship«, S. 883. Für die deutsche Literatur lässt sich, mit leichter zeitlicher Verschiebung, ebenfalls Vergleichbares feststellen. So verzeichnen Eke und Olasz-Eke im Jahr 1815 noch einen Anteil von 60,8 % anonymer und pseudonymer Neuerscheinungen; die Zahl verringert sich in den folgenden 15 Jahren und liegt 1830 bei 44,1 %; vgl. Eke/Olasz-Eke (1994): Bibliographie: Der deutsche Roman 1815–1830, S. 26.
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ein A nonymat oder Pseudonymat im Einzelnen war.39 Ebenso ist bei späteren Auflagen (oder Raubdrucken) häufig das ursprüngliche Anonymat ›aufgehoben‹.40 Als Ergebnis dieser Auswertungen erscheint zweierlei zwingend notwendig in der Einschätzung der Romanproduktion und der peritextuellen Konfiguration: Erstens ist von einer erheblichen Zahl anonymer und pseudonymer Veröffentlichungen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein auszugehen und daher darf, zweitens, nicht angenommen werden, dass dies einen Sonderfall darstellt: Anonyme Publikation erscheint vor diesem Hintergrund nicht als markiert, sondern ist ein durchaus übliches Verfahren, das für sich genommen kaum Rückschlüsse auf etwa einen besonders kritischen oder moralisch zweifelhaften Text ziehen lässt. Für die Markierung und Erkennbarkeit eines Textes als fiktionalen ergeben sich aus der häufig fehlenden Namensnennung verschiedene Konsequenzen. Ein Autorname kann auf unterschiedliche Art auf einen fiktionalen Text hinweisen. Dies kann aus einer latenten (oder durch einen paratextuellen Hinweis manifesten)41 Verknüpfung des Autors mit anderen, als fiktional bekannten Texten hervorgehen, oder aber aus einer ›logischen‹ Folge, bei welcher der (vermeintliche) Aussagestatus des Textes nicht mit der paratextuellen Nennung des Autornamens korrespondiert. Dabei macht diese Differenz auf die Scheidung zwischen Autor und Erzähler aufmerksam. Sie ist also das äußerliche Zeichen für die »Verdoppelung der Sprachhandlungssituation«42, bei der der (namentlich genannte) Autor für die fiktionsexterne und der Erzähler für die fiktionsinterne Kommunikation verantwortlich ist. Ist diese Trennung allerdings im Paratext nicht angezeigt, weil etwa der Autorname nicht angegeben ist, entfällt damit ein Anhaltspunkt, der für neuere Texte durchaus gilt: Die Nicht-Identität zwischen dem Namen des Autors und dem des homodiegetischen Erzählers weist […] auf die Fiktionalität des Textes hin. Zuweilen ist dieser Sachverhalt bereits aus dem Vergleich von Autornamen und Titel abzulesen, wenn der Name des homodiegetischen Erzählers im Titel als Textverfasser erwähnt wird, so z. B. bei Thomas Manns Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull.43
39 Allerdings ist Genettes Einschätzung in ihrer Generalisierung wohl nicht haltbar: »Ce type d’anonymat n’avait généralement rien d’un incognito farouchement protégé: bien souvent le public connaissait, de bouche à l’oreille, l’identité de l’auteur«; Genette (1987): Seuils, S. 43. Blickt man auf kanonische Texte, bei denen in der Tat kaum ein Text nicht zugeordnet wurde, ist dem zuzustimmen; wendet man sich aber heute weitgehend vergessenen Texten zu, bei denen häufig Pseudonyme nicht geklärt werden können oder die weiterhin anonym bleiben müssen, so erscheint es durchaus plausibel, dass für einen nicht zu vernachlässigenden Teil der Publikationen auch den Zeitgenossen keine verlässlichen Informationen zur Verfügung standen, aus denen sich in der Folge Zeugnisse für eine Attribution des Textes entnehmen ließen. 40 Genette hält dies insbesondere für die Situation im Frankreich des 19. Jahrhunderts fest: »l’anonymat n’y apparaît comme une sorte de cachotterie réservée à l’[édition] originale«; Genette (1987): Seuils, S. 45. 41 Zu denken wäre hier etwa an die Erwähnung weiterer Texte desselben Autors im Paratext. 42 Zipfel (2001): Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. 117. 43 Zipfel (2001): Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. 242.
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Die paratextuelle Nennung des Autors konfligiert also mit der vom Titel (und selbstverständlich auch vom Text) behaupteten Autorschaft des Erzählers. Die große Mehrzahl der Romane des 18. Jahrhunderts, die ebenfalls Bekenntnisse (Memoiren, Geschichten, etc.) im Titel versprechen, entgehen diesem Fiktionssignal in der Regel durch anonyme Publikation und werden so zu potentiell faktualen Texten, bei denen der Autor im Titel bezeichnet ist. Verkompliziert wird diese Konstruktion häufig noch dadurch, dass zudem im Paratext eine Herausgeberinstanz eingeführt wird. Hier zeichnet sich eine latent gehaltene Autorfunktion ab, die in Kombination mit der angeblichen Verfasserschaft des Protagonisten paradox anmutet. Angedeutet ist dies bereits etwa im Titel zum ersten Band der Robinson Crusoe-Reihe: »The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe […] Written by himself« – so lautet der (verkürzte) Titel, der bereits in nuce auf die Herausgeberfiktion des Vorwortes hinweist. Andernfalls könnte schlicht etwas wie ›My life and adventures; by Robinson Crusoe‹ auf die Selbstautorschaft des Protagonisten verweisen. In der Konfiguration von Titel und ›Verfassermarke‹ ist also bereits ein latenter Widerspruch angelegt, zu dessen Lösung die Herausgeberfiktion beitragen soll – auch wenn ihr dies, wie in der Diskussion der Vorworte zu zeigen sein wird, nicht widerspruchsfrei gelingt. Die dritte Person, in der von Robinson Crusoe im Titel die Rede ist, deutet an, dass zumindest eine weitere Person im Spiel sein muss, der die Verantwortung für den Titel zuzuschreiben ist. Was daran deutlich wird, ist die Trennung der Instanzen des Schreibers und des Herausgebers, die sich gerade dadurch zeigt, dass der Name »Robinson Crusoe« nicht als Autor genannt wird, sondern vielmehr Bestandteil des Titels ist. In gewisser Hinsicht widerstreiten sich hier zwei Positionen (durchaus im örtlichen Sinn des Wortes): einerseits die »Aufpropfung«, die da lautet »dies ist ein Titel«44, ande rerseits aber der Name des Autors, der sich ebenfalls durch den prominenten Ort, an dem er genannt wird, auszeichnet: C’est dans ce nom que se résume toute l’existence de ce qu’on appelle l’auteur: seule marque dans le texte d’un indubitable hors-texte, renvoyant à une personne réelle, qui demande ainsi qu’on lui attribue, en dernier ressort, la responsabilité de l’énonciation de tout le texte écrit. Dans beaucoup de cas, la présence de l’auteur dans le texte se réduit à ce seul nom. Mais la place assignée à ce nom est capitale […]. Un auteur, ce n’est pas une personne. C’est une personne qui écrit et qui publie.45
44 Die Tatsache, dass der Titel unumgänglich – qua seiner Stellung – und nicht aufgrund bestimmter semantischer oder linguistischer Eigenschaften den Text, dem er voransteht, benennt, bezeichnet Derrida als eine Aufpropfung: »Im Titel pfropft die Wendung auf ihren Sinn einen supplementären Sinn, der ›dies ist ein Titel, ich bin der Titel‹ lautet«; Derrida (1980): »Titel (noch zu bestimmen). Titre (à préciser)«, S. 26. 45 Lejeune (1975): Le pacte autobiographique, S. 23.
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Die Insistenz, die Lejeune darauf legt, dass ein Autor schreiben und publizieren muss, würde, selbst wenn Life and Adventures eine authentische Autobiographie wäre, Robinson diesen Titel streitig machen, denn er ist nur Schreiber, wie das Titelblatt bereits andeutet (und das Vorwort bekräftig). Auf diese Weise wird eine Herausgeberfunktion neben der Autorfunktion bereits auf dem Titelblatt aufgerufen. Der potentielle Widerspruch zwischen einem homodiegetischen Text und der Nennung eines Autors, der nicht mit dem Erzähler identisch ist, wird also auf doppelte Weise verdeckt: Einmal durch das Fehlen einer Nennung des Autors und zweitens durch die Einführung einer Herausgeberinstanz, die diesen Widerspruch moderiert, indem sie eine – im Grunde – plausible Erklärung für die Differenz von Veröffentlicher und Schreiber liefert und selbst ebenfalls anonym bleibt. Im Folgenden wird argumentiert, dass die Herausgeberfiktion ein Vehikel darstellt, das die für Fiktion charakteristische Trennung von Autor und Erzähler illustriert und insbesondere bei Defoe als Verfahren zu sehen ist, das vor dem Hintergrund einer grundsätzlichen zeitgenössischen Aversion gegenüber Fiktionen zu betrachten ist. Dabei liefert die Herausgeberfiktion zwar eine Art Anleitung für den Umgang mit fiktionalen Texten, dies kann aber mangels einer Fiktionslizenz nicht offen dargestellt werden. Aus eben diesem Grund erhellt auch die doppelte Negation der Autorschaft im Paratext zu Robinson Crusoe, die auch den Herausgeber in der Anonymität verbleiben lässt. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts sind diverse Verfahren im Umgang mit der Herausgeberfiktion zu beobachten, die diese vor einer zunehmend offeneren Thematisierung von Fiktionalität situieren (siehe Kap. 4). Dabei lassen sich auch Figuren des Umgangs mit dem Autornamen beobachten, die diesen – im Gegensatz zu den Texten Defoes – zwar nennen, ihn jedoch explizit auf die Herausgabe (oder gar den Druck) des Textes beziehen und nicht auf die Autorschaft. Ein besonders interessanter Fall ist Richardsons Clarissa. Das Titelblatt kündigt die ›Geschichte einer jungen Lady‹ an und verweist ganz explizit auf den Herausgeber der zuvor erschienen, populären Briefsammlung: »Published by the Editor of Pamela«46. Formeln wie diese werden von Genette erst für das 19. Jahrhundert beschrieben, sie finden sich jedoch in der englischen Literatur verbreitet bereits im 18. Jahrhundert.47 Genette charakterisiert sie als une modalité fort retorse de la déclaration d’identité: d’identité, précisément, entre deux anonymats, qui met explicitement au service d’un livre le succès d’un précédent, et qui surtout s’arrange pour constituer une entité auctoriale sans recours à aucun nom, authentique ou fictif.48
46 Richardson* (1748): Clarissa; Zitat ohne die typographischen Auszeichnungen des Titelblattes. 47 Genette beschränkt diese Formeln auf die Nachfolge von Scott und Austen: »La formule ›par l’auteur de …‹, qui est devenue, depuis Austen et Scott, un procédé relativement courant«; Genette (1987): Seuils, S. 45. 48 Genette (1987): Seuils, S. 45.
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Bei Richardson besteht ebenfalls die (auch ökonomische) Funktion der Verbindung mit einem erfolgreichen Vorgängertext – allerdings jedoch ist dies nicht direkt auf Autorschaft bezogen, sondern auf Herausgeberschaft: Der Text ist als »published by« ausgewiesen und zudem nicht als »by the author of«, sondern als »by the editor of«. Sowohl für Pamela als auch für Clarissa ist also von einem Herausgeber die Rede und nicht von einem Autor. Im Vergleich zu Defoe, bei dem ähnliche Formulierungen zwar ebenfalls begegnen,49 jedoch ganz explizit nicht bei den fiktionalen Texten,50 lässt sich also bei Richardson bereits eine Verschiebung beobachten, die sich auch in einer brieflichen Äußerung Richardsons niederschlägt. An Warburton, der ein Vorwort zu Clarissa verfasst hat, in dem er die fiktionale Natur des Textes anzeigt, schreibt Richardson, der das Vorwort nicht abgedruckt sehen will: Will you, good Sir, allow me to mention, that I could wish that the Air of Genuineness had been kept up, tho’ I want not the letters to be thought genuine; only so far kept up, I mean, as that they should not prefatically be owned not to be genuine: and this for fear of weakening their Influence where any of them are aimed to be exemplary; as well as to avoid hurting that kind of Historical Faith which Fiction itself is generally read with, tho’ we know it to be Fiction.51
Obwohl Richardson (anders als Defoe)52 keinerlei Problem mit der Fiktionalität des Textes zu haben scheint, geht ihm ein Vorwort, das die Briefe offen als Fiktion und ihn selbst als Autor ausstellt, dennoch zu weit. Eine offene Fiktionsmarkierung im Paratext sei nicht wünschenswert, da sie von der Glaubwürdigkeit der Briefe (und damit der didaktischen Kraft) zu sehr ablenken würde. Daraus ergibt sich für ihn, dass sich eine Nennung des Autors im Paratext grundsätzlich verbietet. Über einen ›Umweg‹ findet sein Name allerdings dennoch Eingang in den Paratext zu Clarissa. Richardson fungiert dort nämlich als Drucker beziehungsweise Verleger: »Printed for S. Richardson« heißt es auf dem Titelblatt. Der Drucker Richardson hat so einen Weg gefunden, seinen Namen auf dem Titelblatt einzuschreiben – ohne dabei auf die Aufrechterhaltung der anonymen Herausgeberfiktion zu verzichten. Während bei Richardson also der Name des Autors im Gewand des Druckers doch auf dem Titelblatt erscheint und darüber hinaus diese ›Verkleidung‹ bei späteren Auflagen fallen gelassen wird,53 so erscheinen im Verlauf des 18. Jahrhunderts immer
49 So etwa in der Satire Defoe* (1705): The Consolidator. Hier ist der Text identifiziert als »By the Author of The True-born English Man«. 50 Während etwa bei Robinson Crusoe die Autorschaft Defoes schnell publik wurde (vgl. Simons (2001): Marteaus Europa, S. 589), so scheint dies bei Moll Flanders nicht der Fall gewesen zu sein; vgl. Loveman (2008): Reading Fictions 1660–1740, S. 147. 51 Richardson an William Warburton, 19.04.1748, Richardson (1964): The Selected Letters of Samuel Richardson, S. 85. Vgl. McKillop (1956): The Early Masters of English Fiction, S. 42 sowie Nelson (1973): Fact or Fiction. The Dilemma of the Renaissance Storyteller, S. 111–113. 52 Siehe Kap. 4, Anm. 90. 53 Vgl. McKillop (1956): The Early Masters of English Fiction, S. 42.
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mehr Romane mit einer namentlich gekennzeichneten Herausgeberfiktion. Dies wird immer wieder auch zum Gegenstand einer Stellungnahme im Vorwort. So erscheint etwa Rousseaus Nouvelle Héloïse mit dem Namen des Autors auf dem Titelblatt: »recueillies et publiés par J. J. Rousseau«54. Der Herausgeber ist also genannt und seine Verantwortung für den Text (inklusive der Frage, ob er sich nicht besser als Autor nennen sollte) wird im Vorwort verhandelt (siehe S. 158). Auch Laclos’ Liaisons Dangereuses erscheinen mit dem nur schwach chiffrierten »Lettres recueillies […] & publiées […]. Par M. C..... de L...«55. Während also die Herausgeberfiktion immer offener als selbst schon fiktionaler Topos der Präsentation eines fiktionalen Textes diskutiert und ausgestellt wird (siehe Kap. 4), so wird auch die Nennung des Autors zunehmend üblich.56 Mit Wirth ließe sich daher argumentieren, dass Autorschaft in gewissem Sinne tatsächlich »aus dem Geist der Herausgeberfiktion«57 emergiert. Der Name des Autors als Fiktionssignal bei Texten, die über eine fiktionsinterne Sprechinstanz verfügen, die offensichtlich nicht mit dem Autor identisch ist, erscheint so als eine nur langsam aufkommende Möglichkeit, die auch am Ende des 18. Jahrhunderts oftmals noch durch eine fiktive Heraus geberschaft moderiert ist und so den tatsächlichen Autor zwar mit einer namentlichen Erwähnung bedenkt, ihn aber nicht offen als Autor auftreten lässt. Umgekehrt ist damit aber verbunden, dass Verfahren der Herausgabe fiktiver Texte, die weiterhin einen gewissen Anspruch auf Glaubhaftigkeit erheben wollen, nicht länger einfach am Topos des gefundenen Manuskripts partizipieren können, sondern Verfahren finden müssen, diesen zu überbieten – und dabei sind sie erneut darauf angewiesen, die tatsächliche Autorschaft anonym zu halten: Verfahren wie dasjenige Hoggs, der eine Herausgeberfiktion einführt und diese durch ein Faksimile des fiktiven Manuskripts zu beglaubigen sucht (siehe S. 248), oder auch Verfahren der Mystifikation oder des hoax, wie sie im 20. Jahrhundert begegnen,58 sind streng auf Anonymität angewiesen. Dies nicht nur, weil der Name des Autors als Fiktionssignal dienen kann, wenn seine Nennung im Paratext nicht mit der Erzählsituation im Text in Einklang zu bringen ist, sondern auch, weil die Nennung des Autors unweigerlich die Assoziation des Textes mit einem Werk hervorruft und so den vorliegenden Text qua Vergleich als zumindest potentiell fiktionalen verdächtig machen kann.
54 Rousseau (1761): Lettres de deux amans. 55 Choderlos de Laclos* (1782): Les Liaisons dangereuses. 56 Vgl. Nuel (2002): »La question de la publication«, S. 272. 57 Wirth (2008): Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. 58 Mystifikation soll hier im Sinne Jeandillous verstanden werden: »La Mystification serait ainsi un type de fiction (dite supercherie) que l’on fait passer pour un discours véridique […]. Le problème est de savoir si le Lecteur modèle prévu par le texte est celui qui croit effectivement, ou celui qui démonte les rouages du faire-croire. Au juste, c’est cette ambiguïté-là qui différencie la persuasion mystifiante de la vulgaire tromperie (où le Lecteur croit aveuglement), en même temps que de la fable (où le Lecteur fait toujours semblant de croire)«; Jeandillou (1994): Esthétique de la mystification, S. 38 f.
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Der Topos der Herausgeberfiktion oder auch die Vertrautheit im Umgang mit homodiegetischen Texten, die einen vom Erzähler abweichenden Autor nennen, erlauben es, diese Verfahren als Fiktionssignale zu betrachten. Eben aufgrund der Vertrautheit mit diesen Verfahren sind sie inzwischen nicht als Mystifikation zu betrachten, sondern als Teil eines etablierten fiktionalen Verfahrens. Soll dennoch eine Mystifikation betrieben werden, muss daher auf weiter reichende Mittel zurückgegriffen werden. Dabei ist die anonyme oder pseudonyme Publikation weiterhin ein zentraler Bestandteil, jedoch ist das Verfahren der anonymen Veröffentlichung im 20. Jahrhundert – anders als etwa im 18. – ein problematisches, denn die anonyme Publikation ist selten geworden und stellt damit gleichsam automatisch einen markierten Fall dar, der Aufmerksamkeit auf die fehlende Namensnennung zieht. Es müssen also andere Verfahren gefunden werden. Ein prägnantes Beispiel ist ein Text, der auf dem Titelblatt folgendermaßen gekennzeichnet ist: »Benjamin Jordane: Toute ressemblance … Texte établi, présenté et annoté par Stefan Prager«. Hier ist neben einem Autor ein Herausgeber genannt. Es sei bereits verraten, dass Benjamin Jordane nicht existiert und folglich ein fiktiver Autor genannt werden kann. Das Titelblatt enthält jedoch zunächst keinerlei Hinweise darauf. Während Jordane, was seine Stellung zum Text und zur realen Welt betrifft, durchaus mit Robinson Crusoe vergleichbar ist, so ist die paratextuelle Konfiguration, in die er eingebunden ist, eine völlig andere. Er erscheint nicht als Schreiber, dessen Text von einem anonymen Herausgeber erst zugänglich gemacht wird, sondern als Autor, dessen Werk von einem kritischen Editor herausgegeben wird (posthum, so ließe sich ergänzen – dies aber erschließt sich erst aus dem Text selbst). Der tatsächliche Autor hinter diesem Autor (und auch hinter dem ebenfalls fiktiven Herausgeber) ist Jean-Benoît Puech. Puechs Toute ressemblance … erinnert bereits im Titel an Disclaimer. Dies ist aller dings im Text selbst thematisch aufgefangen. Bei dem ersten Teil des Textes handle es sich, so der Klappentext, um eine Textsammlung des Autors Benjamin Jordane: Dans chacun de ces récits, un homme se sent coupable de la mort de sa compagne, il cherche à expier sa faute avec des femmes qui lui ressemblent, et il découvre progressivement […] que toute ressemblance est une illusion.59
Während der Text auf dem Titelblatt als vom Autor Benjamin Jordane stammend ausgewiesen ist, so ist dort eine weitere beteiligte Instanz erwähnt: »Texte établi, p résenté et annoté par Stefan Prager«60. Der Text des Autors Jordane wird präsentiert und kommentiert in einem Verfahren, das an philologische Editionen erinnert.61 In einem »Commentaire« heißt es zu Beginn etwa:
59 Puech* (1995): Toute ressemblance …. Die Zitatangabe muss hier notgedrungen die Fiktion bereits aufdecken; andernfalls wäre der Text zu zitieren als: Benjamin Jordane: Toute ressemblance …. 60 Puech* (1995): Toute ressemblance …. 61 Pfersmann nennt Texte wie denjenigen Puechs daher treffend »philologische Romane« und
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Pour situer les textes qui précèdent dans l’œuvre de Jordane, je dois rappeler un passage de l’étude de J.-B. Puech sur notre auteur1.
Und dazu die Fußnote: Publiée en préface à Benjamin Jordane, L’Apprentissage du roman, Champ Vallon, 1993.62
Was wie ein philologischer Apparat aussieht, enthält allerdings versteckt bereits einen Hinweis auf den tatsächlichen Autor: Weder Benjamin Jordane noch Stefan Prager existieren. Beide sind Schöpfungen des Autors Jean-Benoît Puech, der so einen fiktiven Autor erschaffen hat, dem im Paratext aber ganz real Bücher zugeschrieben werden. Mitunter so real, dass auch die bibliographischen Autoritäten scheitern: Pfersmann hält fest, dass der Vorgängertext von Toute ressemblance … im Katalog der Bibliothèque Nationale de France als Werk des Autors Benjamin Jordane gelistet sei.63 Inzwischen ist dies allerdings nicht mehr der Fall: Als Autor ist Jean-Benoît Puech genannt, unter dessen Personendaten zudem das Pseudonym »Jordane, Benjamin (1947–1994)«64 vermerkt ist. Bei Toute ressemblance … allerdings ist zwar nicht mehr der vermeintliche Autor Jordane genannt, jedoch erscheint in den Titeldaten auch der reale Autor Puech nicht, sondern lediglich der fiktive Herausgeber Stefan Prager.65 Dabei ist der reale Autor auch in diesem Buch nicht gänzlich unsichtbar. Nicht nur wird er im bereits zitierten philologischen Kommentar erwähnt, sein Name findet sich auch im Paratext. Der Klappentext nämlich ist mit seinem Namen unterzeichnet und darunter findet sich eine kurze biographische Notiz: Stefan Prager est chercheur au Centre de Recherches sur les Arts et le Langage (CNRS). […] Jean-Benoît Puech est Maître de conférences à l’Université d’Orléans. Il a déjà publié chez Champ Vallon des fragments du journal de Jordane sous le titre L’Apprentissage du roman.66
efiniert diese als »erzählende Manuskriptfiktionen, die sich in der Form einer falschen kritischen d (oder schlicht gelehrten) Ausgabe einer Werkauswahl eines imaginären Autors darstellen«; Pfersmann (2008): »Der philologische Roman«, S. 297. 62 Puech* (1995): Toute ressemblance …, S. 113. 63 Vgl. Pfersmann (2008): »Der philologische Roman«, S. 304. 64 BNF, . Die Beschreibung dieses Namens als Pseudonym ist problematisch. Es geht eben nicht (nur) darum, dass sich Puech ›hinter‹ dem Namen Jordane verbirgt, sondern mit dem Namen ist zugleich eine Autorfigur geschaffen, deren selbständige Existenz die Texte ›voraussetzen‹. Jordane ist ein fiktiver Autor, kein Pseudonym des realen Autors Puechs. 65 Vgl. BNF, . 66 Puech* (1995): Toute ressemblance … .
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Hier erscheinen fiktiver Herausgeber und realer Autor nebeneinandergestellt und nichts deutet, wie im gesamten paratextuellen setting des Textes, darauf hin, dass Puech tatsächlich der Autor des gesamten Werkes ist. Die Herausgeberfiktion ist damit um eine Ebene weiter verschoben:67 Zwar ist der Text selbst als klar fiktional gekennzeichnet, dass jedoch auch die Herausgabe und die Kommentierung des Textes der Fiktion mit angehören, darauf verweist nichts im Peritext. Der Autorname auf dem Titelblatt, Benjamin Jordane, erscheint zunächst wie eine ganz übliche Nennung der auktorialen Instanz. Erst mit der Auflösung der Mystifikation erscheint Puech als der tatsächliche Autor und damit das gesamte paratextuelle Ensemble um eine Stufe verschoben: Statt ›Benjamin Jordane: Toute ressemblance, herausgegeben von Stefan Prager‹ müsste es heißen: ›J.-B. Puech: Benjamin Jordane: Toute ressemblance, heraus gegeben von Stefan Prager‹. Der Text Jordanes ist nicht nur fiktional, sondern auch fiktiv – ebenso wie sein Autor eine fiktive Person ist. Die Einschreibung des (realen) Autornamens im Paratext ist dabei zunächst ›unverdächtig‹, denn sie nennt Puech zwar, dieser erscheint aber einfach als ein weiterer Forscher, der an der Edition der Werke Jordanes beteiligt ist. Lediglich das Gewicht, das Puech beigemessen wird, indem er eine eigene biographische Notiz im Klappentext erhält, ohne dass seine Beteiligung an der Edition spezifiziert wird, könnte latent auf ein ›Missverhältnis‹ hindeuten. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Konjunktur von anonymer (bzw. pseudonymer) und onymer Publikation einen deutlich erkennbaren historischen Verlauf aufweist, der eng mit der Etablierung fiktionaler Erzählformen verbunden ist. In Abwesenheit einer Konvention im frühen 18. Jahrhundert, die Fiktion problemlos zulässt, bleibt das Anonymat ein verbreitetes Verfahren bis ins 19. Jahrhundert, das mit Formen der editorialen Rahmung einhergeht. Letztere erlaubt immer mehr, die Anonymität im Peritext selbst zu ›unterlaufen‹ und Markierungen der tatsächlichen Autorschaft einzuführen – lange Zeit jedoch ohne formale Anerkennung der Funktion Autor. Eben diese würde als unmissverständliches Fiktionssignal wirksam werden und wird daher lange vermieden. Die anonyme Publikation ist in diesem Zusammenhang eine Plausibilisierungsstrategie, derer sich fiktionale Texte bedienen – wie ›durchschaubar‹ angelegt diese Plausibilisierung im Einzelnen auch sein mag. Mit der immer weiter verbreiteten Nennung des Autornamens und der zunehmenden Marginalisierung von Herausgeberfiktionen seit dem 19. Jahrhundert (die, sofern sie weiterhin begegnen, als Spiel mit dem Topos erscheinen müssen), verliert diese Option allerdings an Überzeugungskraft, denn Anonymität erscheint zunehmend selbst als Sonderfall. Darauf bauen Verfahren auf, die einen fiktiven Autor erschaffen – und diesen namentlich nennen. Dabei ist das Spiel mit dem Namen von fiktivem und realem Autor zentral, in dem – mehr oder weniger offene – ›Fährten‹ gelegt werden
67 Baetens spricht im Bezug auf den Topos der Manuskriptfiktion bei Puech von einer »complexification structurale du lieu commun«; Baetens (1999): »Qui trouve, cherche«, S. 484.
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können (man denke an die Nennung des Namens Puechs im Klappentext von Toute ressemblance …), die zur ›Entschlüsselung‹ der Mystifikation beitragen können. Der Name des Autors ist dabei stets diejenige Markierung auf dem Titelblatt, die zunächst Teil der realen Welt ist. Als solche zeigt sie die Verantwortung für den fiktionalen Text an und auch die Abhängigkeit der fiktiven Welt von dem genannten ›Schöpfer‹. Die für Fiktion charakteristische Trennung der Verantwortung zwischen Autor und Erzähler ist dann besonders deutlich markiert, wenn sie im Peritext (oder im Zusammenspiel von Text und Peritext) erkennbar ist. Herausgeberfiktionen stellen dabei einen Ort des Übergangs dar, an dem zwar möglicherweise ein realer Autor genannt werden kann, dies aber eben nicht in der Form, dass seine Verantwortung für den Text und die Fiktion ersichtlich wird. Sie dehnen dabei die fiktionale Kommunikations situation bis in den Peritext aus – und unterlaufen damit (mehr oder weniger plausibel) die Trennung zwischen Fiktion und Realität, die zunächst als Trennung zwischen Text und Peritext erscheinen mag. In Extremfällen geht dies soweit, dass der gesamte peritextuelle Apparat als Teil des ›eigentlichen‹ Textes anzusehen ist – und damit auch als Teil der Fiktion. Zugleich aber muss er freilich in der realen Welt den Text ›präsent machen‹68. Wenn etwa bei Puech der Name des fiktiven ›Autors‹ Jordane im Peritext erscheint, dann ist dies einerseits bereits Bestandteil der Fiktion – und damit ist der Peritext von der Fiktion affiziert. Andererseits aber gilt, dass der Peritext dennoch als etwas ›externes‹ erscheint, das über den Text Auskunft gibt – und dies nicht zuletzt für eine bibliographische Einordnung des Textes.
Titel und Gattungsbezeichnungen Titel sind in der Fiktionstheorie mitunter als explizite Fiktionssignale beschrieben worden – dies allerdings geschieht in der Regel in kurzen Seitenbemerkungen, die kaum weiter ausgeführt werden. So etwa bei Jacquenod: De nombreux signes peuvent jouer le rôle d’indicateurs […] de fictionnalité: […] ce peut être le titre du texte: un texte intitulé »La céramique française« est sans doute factuel, alors qu’un texte intitulé »A l’ombre des jeunes filles en fleurs« est sans doute fictionnel.69
In dieser knappen Formulierung jedenfalls ist dies nicht notwendig überzeugend. Warum sollte ein fiktionaler Text nicht den Titel »La céramique française« tragen können und warum ein faktualer Text (etwa über Prousts Leben) nicht den – mehr oder weniger deutlich als Zitat ausgewiesenen – Titel »A l’ombre des jeunes filles en fleurs«? In beiden Fällen wäre sicher zu erwarten, dass ein Untertitel oder eine Gat-
68 Zu dieser Formulierung, die auf Genette zurückgeht, siehe oben S. 26. 69 Jacquenod (1988): Contribution à une étude du concept de fiction, S. 86.
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tungsbezeichnung weiter spezifiziert, mit welchem Text man es zu tun hat. Die Titelformulierung allein scheint allerdings kaum ausreichend, eine Entscheidung nahezulegen: Nichts deutet beispielsweise an dem bloßen Titel »Das Foucaultsche Pendel« darauf hin, ob es sich hier um einen Beitrag zur Geschichte der Physik oder um einen Roman handelt. Der Text selbst und weitere paratextuelle Elemente wie eine Gattungsangabe oder ein Untertitel spezifizieren den bloßen Titel in aller Regel und erlauben so, diesen in die eine oder andere Richtung zu interpretieren. Die Spezifik fiktionaler ›Titulierung‹ liegt also zunächst nicht in semantischen oder syntaktischen Eigenschaften des Titels. Auch hier gilt Searles Feststellung: »There is no textual property, syntactical or semantic, that will identify a text as a work of fiction.«70 Auch dies ist allerdings so zu verstehen, dass Hinweise dennoch möglich sein können – sie aber nicht notwendig vorhanden sein müssen.71 Für Titel wäre etwa an phantastische Elemente des Textes zu denken, die im Titel aufgegriffen werden. Auch ist die Praxis, bei Romanen einen Personennamen als Titel zu verwenden, ein möglicher latenter Hinweis – insbesondere, wenn es sich nur um einen Vornamen handelt (dies ist allerdings auch etwa bei Biographien möglich: Was hinderte einen Biographen Marilyn Monroes, seinen Text schlicht Marilyn zu überschreiben?). Darüber hinaus ließen sich Titel fiktionaler Werke durch ein charakteristisches Verhältnis zum Text bestimmen: Sie sind häufig auf eine bestimmte Weise ›enigmatisch‹ und erschließen sich erst nach der Lektüre des Textes. Aus den hier verwendeten Beispielen wären etwa Next (Crichton) oder Kaff auch Mare Crisium (Schmidt) zu nennen. Hoek hat als Charakteristikum des Titels einen »manque de clarté et de précision« hervorgehoben: »l’obscurité volontaire du titre est fonctionnelle et non pas ornementale: la curiosité du lecteur éveillée par le titre demande l’acquisition d’un savoir et impose la lecture«72. Dagegen können Titel faktualer Werke direkter auf die Vermittlung von Information über den Text angelegt sein – sie müssen es aber nicht. Die werbende Funktion eines ›enigmatischen‹ Titels lässt sich durchaus auch im Bereich des Sachbuchs beobachten und ist allenfalls ein schwaches Indiz für Fiktion – auch hier ist ein weiterer Blick auf das ›Ensemble‹ des Titels und der allgemeinen paratextuellen Gestaltung nötig.73 Insgesamt scheint bei Titeln eher eine Unterscheidung zwischen solchen, die Literarizität ausstellen, und solchen, die dies nicht tun, bemerkbar. Da
70 Searle (1975): »The Logical Status of Fictional Discourse«, S. 325. 71 Siehe Kap. 1, Anm. 27. 72 Hoek (1981): La marque du titre, S. 133. Dies ist mitunter auch als ›Qualitätskriterium‹ für Titel formuliert worden: »Nach Titeln suchen ist […] hoffnungslos […]. Denn jedes Werk […] ist sich verborgen […]. Der gesuchte Titel aber will immer das Verborgene hervortun. […] Die guten Titel sind so nahe an der Sache, daß sie deren Verborgenheit achten; daran freveln die intentionierten. Deshalb ist es soviel leichter, Titel für die Arbeiten anderer zu finden als für die eigenen. Der fremde Leser weiß nie die Intention des Autors so gut wie dieser; dafür kristallisiert sich ihm leichter das Gelesene zur Figur wie ein Vexierbild, und mit dem Titel antwortet er auf die Rätselfrage«; Adorno (1974): »Titel«, S. 326 f. 73 Vgl. in diesem Zusammenhang auch: Weinrich (2000): »Titel für Texte«.
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aber selbstverständlich auch nichtfiktionale Texte (und deren Titel) literarische Merkmale aufweisen können, ist die Unterscheidung keineswegs analog zu derjenigen von Fiktion und Nicht-Fiktion.74 Daneben lässt sich selbstverständlich festhalten, dass fiktionale Texte andere Formen der ›Betitelung‹ ausgebildet haben als faktuale: »Die Konventionen des Titulierens sind bei fiktiven Texten andere als bei nicht-fiktiven«75. Diese Konventionen aber lassen sich nicht isoliert am Wortlaut der Haupttitel feststellen. Um sie offenzulegen, muss das Ensemble aus Hauptitel, Neben- oder Untertitel und Gattungsbezeichnung betrachtet werden –76 wie immer es auch im konkreten Fall ausgestaltet sein mag und ohne, dass sich notwendigerweise diese Teilbereiche trennscharf voneinander abgrenzen lassen.77 Dies ist auch ein Grund, warum die beiden Elemente Titel und Gattungsbezeichnungen hier gemeinsam thematisiert werden. Weiterhin auschlaggebend ist die Tatsache, dass sich aus historischer Perspektive eine strikte Trennung zwischen Titeln und Gattungsbezeichnungen gar nicht begründen lässt, denn diese liegen lange in einem vor. Genette hält daher treffend fest: »l’appareil titulaire […] est très souvent, plutôt qu’un véritable élément, un ensemble, un peu complexe«78. Um eben diese Komplexität soll es im Folgenden gehen. Mit Genette ließen sich Titel wie die bisher genannten als »thematische« Titel (im Unterschied zu »rhematischen«) definieren.79 Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie auf den »contenu thématique« des Textes zielen und nicht, wie die rhematischen Titel, auf »le texte lui-même considéré comme œuvre et comme objet«.80 Als solche ›rhematische‹ Titel wären auch Gattungsbezeichnungen in der Form eines Titels zu verstehen, wie etwa Essays, Satiren oder Sonette.81 In Bezug auf längere narrative Texte sind diese allerdings kaum je anzutreffen und allenfalls in Anthologien oder Werkausgaben enthalten, in der Regel aber nicht bei Erstveröffentlichungen. Die rhematischen Titel, die Genette auch als »formels, et bien souvent génériques«82 bezeichnet, begegnen in diesem Kontext kaum, wohl
74 Für einen Versuch einer Typologie von Titeln, der allerdings konzedieren muss, dass die Klassifizierung keineswegs eindeutig ausfällt, vgl. Rothe (1986): Der literarische Titel, S. 202–208. 75 Wulff (1979): Zur Textsemiotik des Titels, S. 179. 76 Die Terminologie folgt derjenigen Genettes, der »titre«, »sous-titre« und »indication générique« unterscheidet; Genette (1987): Seuils, S. 55 f. Bei Volkmann ist eine ähnliche Einteilung in »Hauptund Nebentitel« zu finden; Volkmann (1955): Der deutsche Romantitel, S. 21. 77 Bei dem Titel zu Robinson Crusoe etwa, der weiter unten ausführlich zitiert wird, ist der Haupttitel nur schwach vom erklärenden und den Inhalt zusammenfassenden Nebentitel abgegrenzt. 78 Genette (1987): Seuils, S. 54. 79 Vgl. Genette (1987): Seuils, S. 75 f. 80 Genette (1987): Seuils, S. 75. 81 Barth bezeichnet Titel wie diese als »Self-Referential Title, which refers not to the subject or the content of the work but to the work itself«; Barth (1984): »The Title of this Book«, S. x. 82 Genette (1987): Seuils, S. 75.
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aber generische Angaben und Gattungsbezeichnungen, die entweder separat stehen oder aber einen Teil des thematischen Titels ausmachen. So wäre etwa der Titel zu Robinson Crusoe als ein Kompositum aus thematischen und rhematischen Informationen zu verstehen: The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe, of York, Mariner: Who Lived Eight and Twenty Years, All Alone in an Un-Inhabitated Island on the Coast of America, Near the Mouth of the Great River of Oroonoque; Having Been Cast on Shore by Shipwreck, Wherein All the Men Perished but Himself. With An Account How He Was at Last as Strangely Deliver’d by Pyrates. Written by Himself. Während die Zusammenfassung einige inhaltliche Aspekte aufgreift, liefert sie zugleich Hinweise auf die Art des Textes, der mit den Begriffen »Life«, »Adventures«, »Account« und dem Hinweis »Written by Himself« als potentiell wahrhaftige Lebensbeschreibung und Schilderung von abenteuerlichen Erlebnissen ausgewiesen ist. Der Titel ließe sich damit auch als Kombination der beiden zentralen Titeltypen deuten, die Moncelet festhält: Pendant plusieurs siècles les titres sont essentiellement de deux types: générique et éponymique. Ou bien le titre indique le genre de l’œuvre […]. Ou bien le héros de l’ouvrage donne son nom au livre entier […].83
Auch hier ist jedoch zu beachten, dass diese Einteilung keineswegs so verstanden werden sollte, dass diese beiden Kategorien sich gegenseitig ausschließen. Eine große Zahl, vielleicht die Mehrzahl der Titel kombiniert stattdessen die beiden Momente und nennt neben einem Namen der zentralen Figur auch die (vermeintliche) Form des Textes.84 Die Langtitel der Defoe’schen Romane sind wie viele andere dieser Art heute allerdings kaum bekannt und die Texte werden in aller Regel über den rein thematischen Namen wie etwa Robinson Crusoe identifiziert. Diese »érosion du titre«85 lässt sich für viele kanonische Texte aus dem 18. Jahrhundert belegen. Sie verweist auf die Veränderung der ›Titelmode‹, die Langtitel im 19. Jahrhundert,86 beziehungsweise schon
83 Moncelet (1972): Essai sur le titre, S. 24. Vgl. auch: Bokobza (1986): Contribution à la titrologie romanesque, S. 24 f. 84 Vgl. auch: Wulff (1979): Zur Textsemiotik des Titels, S. 175. Wulff greift dabei auf eine weitere Einteilung zurück, die der hier verwendeten zwischen thematischen und rhematischen Titeln analog ist und die auf Hoek zurückgeht: »Il faut distinguer deux catégories de titres. D’abord il y a ceux qui désignent le sujet du texte (le héros, l’héroïne, l’événement principal […], etc.); appelons-les subjectaux. Puis, il y a les titres qui désignent le texte en entier. Ce sont les titres qui commencent par: Histoire, Mémoires, Conte, Journal […], etc. Ce sont des titres qui désignent l’objet, le texte lui-même. Appelonsles des titres objectaux«; Hoek (1973): Pour une sémiotique du titre, S. 31. 85 Genette (1987): Seuils, S. 68. 86 Vgl. Genette (1987): Seuils, S. 69.
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zu Ende des 18. Jahrhunderts,87 weitgehend verschwinden lässt (wenn sie weiterhin auftreten, dann als auffälliges Zitat der überkommenen Tradition)88. Mit den Langtiteln (und in geringerem Maße mit Titeln allgemein) ist darüber hinaus das Problem verbunden, dass unklar sein kann, wem sie zuzuschreiben sind. Ist der Autor für den Titel verantwortlich, oder handelt es sich um einen ›Verleger titel‹? In manchen Konstellationen wäre in die andere Richtung zu fragen: Ist es nicht vielleicht ein fiktiver Erzähler, dem der Titel zuzuschreiben ist?89 Erstere Frage ist mit Bezug auf Robinson Crusoe sehr wahrscheinlich so zu beantworten, dass Defoe keinen Einfluss auf den Titel, wie er auf dem Titelblatt erscheint, gehabt haben dürfte. Ihm zuzuschreiben ist vermutlich allenfalls der ›Kopftitel‹, also jene Überschrift, die dem Text direkt vorangestellt ist.90 Sie lautet »THE LIFE AND ADVENTURES OF ROBINSON CRUSOE, & C.«91 und ist damit wesentlich knapper als der werbende Verlegertitel. Mit Genette lässt sich dieser (freilich notwendigen) Präzisierung entgegnen, dass weniger wichtig ist, wer »producteur de fait« des Titels ist, sondern vielmehr, wer »destinateur (de droit)«92 ist, und dies ist immer (auch) der Autor. Es geht zentral weniger darum, wer den Titel tatsächlich ›produziert‹ hat, als darum, wer ihn verantwortet. Während im 18. Jahrhundert also häufig Gattungsbezeichnung und Titel in einem oder nur schwach voneinander abgegrenzt vorliegen, so bildet sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts die Praxis heraus, Gattungsbezeichnungen separat zu stellen. Diese
87 Vgl. Volkmann (1955): Der deutsche Romantitel, S. 172–179. Volkmann hält zudem eine überzeugende Begründung bereit, warum diese Entwicklung stattfindet. Diese ist zum einen an eine aufklärerische Abkehr von »Schmuck und Formel ohne Bedeutung und Wert« (Volkmann (1955): Der deutsche Romantitel, S. 174) gebunden, insbesondere aber hat sie praktische Gründe. Durch das vermehrte Aufkommen von (Rezensions-)Zeitschriften wurde der Titel von der Funktion entbunden, den Inhalt werbend zusammenzufassen: »Der Inhaltauszug des Buches auf dem Titelblatt, der von den Zeitstimmen verurteilt wurde, war der Masse der Literatur so lange unentbehrlich, wie der Leser lediglich aus dem Titeltext etwas über den Inhalt des zum Verkauf gelangenden Werkes erfahren konnte. Erst als außerhalb des Buches eine wirksame Ankündigungsform gefunden wurde, erst als die Journalistik in der literarischen Zeitschrift durch die Buchbesprechung für das Bekanntwerden der Werke sorgte, konnten selbst die Bücher, die das große Lesepublikum ansprechen wollten, auf eine breite Inhaltserläuterung im Titel verzichten«; Volkmann (1955): Der deutsche Romantitel, S. 176 f. Moretti wiederholt diesen Befund und diese Erklärung für den britischen Roman und ergänzt, dass durch die Expansion des Romanmarktes das »›window‹ of visibility« für jeden einzelnen Roman kleiner wurde, was kürzeren, einprägsameren und in der Masse anderer Titel wirksameren Titeln einen Wettbewerbsvorteil verschaffte; Moretti (2013[2009]): »Style, Inc.«, S. 186. 88 Für einige Beispiele vgl. Genette (1987): Seuils, S. 69. 89 Dies soll hier nicht weiter Gegenstand sein. Mit Genette ist eindeutig von einer Verantwortung des Autors auszugehen. Auch Brandt kommt zu diesem Ergebnis, der bei seiner Analyse im Gegensatz zu Genette mit »werkinternen Textverhältnissen« argumentiert; Brandt (1996): »Wer verantwortet den Romantitel?«, S. 101. 90 Vgl. Baine (1972): »The Evidence from Defoe’s Title Pages«, S. 185 f. 91 Defoe* (1719): Life and Adventures, S. 1. 92 Genette (1987): Seuils, S. 71.
Titel und Gattungsbezeichnungen
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sind in Genettes Terminologie »par définition rhématique[s]«, können aber »plus ou moins autonome[s]«93 vom Titel sein. Die Gattungsbezeichnung ist dabei als ein ›Rezeptionsangebot‹, als Vorschlag für eine mögliche Rezeption, zu verstehen. Zunächst ist es sicherlich so, dass »Gattungsbezeichnungen wie Roman oder Novelle […] qua Begriff auf Fiktionalität«94 hinweisen und somit als Fiktionsmarkierungen fungieren können – allerdings ist damit freilich noch kein Umgang mit dem Text festgelegt. Genette hat darauf hingewiesen, dass auch vergleichsweise eindeutige Gattungsbezeich nungen – bestenfalls – als Intentionserklärung zu lesen sind: »roman ne signifie pas ›ce livre est un roman‹, assertion définitoire qui n’est guère au pouvoir de quiconque, mais plutôt: ›Veuillez considérer ce livre comme un roman.‹«95 Eine solche Selbst erklärung unterliegt freilich den bereits geschilderten Problemen und kann die Rezeption des Textes allenfalls bedingt konditionieren. Aus historischer Perspektive allerdings ergibt sich – erneut – eine gravierende Abweichung, denn die Gattungsbezeichnung ›Roman‹ etwa ist im 18. Jahrhundert im Paratext gleichsam inexistent: »Le roman, en effet, ne semble pouvoir subsister qu’en s’effaçant comme genre littéraire – jusqu’à supprimer son appellation générique«96. Dies ist aufs Engste mit der problematischen Stellung des Romans im Gattungsgefüge verbunden und dabei eng an die Fiktionalität desselben geknüpft, die als besonders problematisch empfunden wurde, eben weil sie Erfundenes präsentiert, das auf seine ›Erfundenheit‹ nicht durch eine offensichtliche allegorische Deutungsmöglichkeit oder durch phantastische Elemente verweist. Stattdessen ist vielmehr auch in den Gattungsbezeichnungen der Bezug zu (vermeintlich) historisch verbürgten Tatsachen hergestellt. Die Texte sind in aller Regel in ihren Titelangaben als (Lebens-) Geschichten, Memoiren, Briefe etc. ausgewiesen, die sich einerseits auf die Faktizität des Geschilderten berufen und sich andererseits auf den Vermittlungsvorgang beziehen, also anzeigen, wie der Text entstanden und der Publikation zugeführt wurde (dies ist häufig im Vorwort weiter ausgeführt)97. Für die französischsprachige Literatur haben etwa Zawisza und Lessard festgestellt, dass im gesamten 18. Jahrhundert die Gattungsbezeichnung ›roman‹ auf dem Titelblatt eine absolute Ausnahmeerscheinung ist.98 Ähnliches ist für die englisch- und deutschsprachige Literatur zu beobachten.99 Dabei ist allerdings festzustellen, dass die ablehnende Haltung gegenüber der Gattungsbezeichnung in Deutschland früher schwindet, als es insbesondere in
93 Genette (1987): Seuils, S. 90. 94 Zipfel (2014): »Fiktionssignale«, S. 118. 95 Genette (1987): Seuils, S. 15. 96 Herman (2008): »Introduction générale: ›ceci n’est pas un roman‹«, S. 5. 97 Vgl. allgemein zur ›Interferenz‹ zwischen Titel und Vorwort: Zawisza (2013): L’Âge d’or du péri texte, S. 159–171. 98 Vgl. Zawisza/Lessard (2000): »D’une page titulaire au corpus de titres«, S. 88. Vgl. auch Geissler (1984): Romantheorie, S. 23. 99 Vgl. für den deutschen Roman etwa: Retsch (2000): Paratext und Textanfang, S. 44 f.
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Frankreich der Fall ist. W ährend Genette festhält, dass die Bezeichnung ›roman‹ im Grunde erst im 20. Jahrhundert verbreitet anzutreffen ist,100 lässt sich in Deutschland bereits mit dem Ende des 18. Jahrhunderts eine Änderung feststellen. Volkmann hat auf diese hingewiesen und einige Beispiele zusammengetragen, die eine Entwicklung von der zunächst noch verneinenden Nennung der Bezeichnung ›Roman‹ hin zu seiner vollen und unverblümten Anerkennung aufzeigen. So finden sich seit den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts Bezeichnungen wie »kein Roman«, »kein Roman, eine wahre Geschichte«, »mehr Geschichte als Roman« oder gar »Leider kein Roman«.101 Über diese Verneinungen ist der Begriff allerdings natürlich bereits eingeführt – die Negation ist daher nur mehr eine schwache Ablehnung –, und es sollte nicht lange dauern, bis er sich als (positive) Gattungsbezeichnung etablierte. Spätestens mit Beginn des 19. Jahrhunderts ist er fest eingeführt und findet sich auch schon etwa in Moritz’ Anton Reiser, der den Untertitel »ein psychologischer Roman«102 trägt. Dies ist im Vorwort noch weiter spezifiziert: Dieser psychologische Roman könnte auch allenfalls Biographie genannt werden, weil die Beobachtungen größtentheils aus dem wirklichen Leben genommen sind.103
Der Text trägt also zwar die Bezeichnung ›Roman‹, diese allerdings wird im Vorwort einer ihrer zentralen Bedeutungskomponenten, nämlich derjenigen, dass es sich um eine fiktionale Erzählung handelt, beraubt. In der Vorbemerkung zum zweiten Band wird dies noch einmal bekräftigt: Um fernern schiefen Urtheile, wie schon einige über dieß Buch gefällt sind, vorzubeugen, sehe ich mich genöthigt, zu erklären, daß dasjenige, was ich auch Ursachen, die ich für leicht zu errathen hielt, einen psychologischen Roman genannt habe, im eigentlichsten Verstande Biographie, und zwar eine so wahre und getreue Darstellung eines Menschenlebens, bis auf seine kleinsten Nüancen, ist, als es vielleicht nur irgend eine geben kann.104
Erneut wird die Bezeichnung »psychologischer Roman« gerechtfertigt und dabei aber auf die Nähe zur Biographie verwiesen, die sich durch Wahrheit und Detailtreue auszeichne. Die Bezeichnung »psychologischer Roman« wird also in eine Richtung interpretiert, die starkes Gewicht auf das Epitheton »psychologisch« legt und damit die ›klassische‹ Bedeutung der Bezeichnung ›Roman‹ modifiziert: Nicht mehr eine fiktive
100 Vgl. Genette (1987): Seuils, S. 91 f. Rothe allerdings erwähnt einige französischsprachige Beispiele aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; vgl. Rothe (1986): Der literarische Titel, S. 199–202. Genettes Angabe des Zeitraums wäre also gegebenenfalls geringfügig zu korrigieren. 101 Volkmann (1955): Der deutsche Romantitel, S. 181. Vgl. für ähnliche Beispiele: Hadley (1977): Romanverzeichnis, S. xii. 102 Moritz (1785): Anton Reiser. 103 Moritz (1785): Anton Reiser, S. [i]. 104 Moritz (1786): Anton Reiser, S. [i].
Titel und Gattungsbezeichnungen
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Geschichte steht im Zentrum, sondern die psychologisch-exakte Schilderung »eines Menschenlebens«. Diese Praxis, die Bezeichnung ›Roman‹ durch ein Attribut zu spezifizieren, ist in der Folge im deutschen Sprachraum weit verbreitet. ›Roman‹ stellt in den Jahren 1815– 1830 (weiterhin gefolgt von ›Geschichte‹) die häufigste Gattungsbezeichnung dar, sie ist dabei allerdings häufig mit einem Zusatz versehen, der nicht selten dahingehend zu verstehen ist, dass hier eine ›historische‹ Begebenheit geschildert wird.105 Während in Deutschland über die anfängliche Negation die Gattungsbezeichnung ›Roman‹ eingeführt ist und in der Folge immer weitere Verbreitung findet – wenn diese auch häufig mit einem Attribut versehen ist, welches das ›romanhafte‹ relativieren soll –, so zeigt sich in Frankreich ein völlig anderes Bild. Genette hält fest, dass die Bezeichnung ›roman‹ bis ins 20. Jahrhundert hinein selten bleibt, er erklärt jedoch zugleich, dass dies nicht damit einhergehe, dass die Bezeichnung ›roman‹ ungebräuchlich gewesen wäre – sie findet sich in anderen Elementen des Paratextes (Vorworte etc.) durchaus. Vielmehr scheint eine mit dem Begriff ›roman‹ weiterhin verbundene negative Konnotation ihn zwar als Beschreibungskategorie zuzulassen, nicht aber als Gattungsbezeichnung, die offen (und potentiell: werbend) auf dem Titelblatt abgedruckt wird: Cette persistante discrétion semi-honteuse ne signifie évidemment pas que les romanciers du XVIIIe et du XIXe siècle […] ne considéraient pas leurs œuvres comme des romans, et ce statut leur était d’ailleurs souvent reconnu dans d’autres éléments du paratexte […]. La vérité est plutôt, sans doute, que le tabou classique pesait encore sur le genre, et que l’auteur et l’éditeur ne considéraient pas son indication comme assez reluisante pour être mise en exergue.106
Während also in der französischen Literatur ›roman‹ als Gattungsbezeichnung im 19. Jahrhundert nicht in erster Linie deshalb abgelehnt wird, weil damit eine Fiktionsmarkierung eingeführt wird, sondern vielmehr, weil mit ›roman‹ eine klassisch ›minderwertige‹ Gattung bezeichnet ist, lässt sich Ähnliches bereits für das 18. Jahrhundert zumindest vermuten. Die durchaus bekannte und in der Diskussion gebräuchliche Gattungsbezeichnung erscheint auch in diesem Zeitraum kaum je in Paratexten. Einerseits ist dies häufig mit dem Versuch verbunden, die Texte als nicht-fiktionale zu inszenieren, andererseits aber ist die Ablehnung der Gattungsbezeichnung ›roman‹ spezifisch gegen den galanten und heroischen ›alten‹ Roman gerichtet. Dass auch im englischsprachigen Bereich Vorbehalte gegen die Bezeichnung ›novel‹ bestehen, die nicht darauf beruhen, dass damit eine Fiktionsmarkierung eingeführt wird, belegt eindrücklich ein Text, der im Untertitel als »A Fiction« markiert ist – vermutlich ist er zugleich der erste Text, der diese Bezeichnung trägt. Der Text Mary (1788) von Mary Wollstonecraft reflektiert diese Bezeichnung, die sich zunächst vor
105 Vgl. Eke/Olasz-Eke (1994): Bibliographie: Der deutsche Roman 1815–1830, S. 29 u. S. 39 f. 106 Genette (1987): Seuils, S. 91 f.
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allem durch ihre »unusualness«107 auszeichnet, in einem Vorwort. Es beginnt direkt mit der Bezugnahme auf Roman-Vorbilder: In delineating the Heroine of this Fiction, the Author attempts to develop a character different from those generally portrayed. This woman is neither a Clarissa, a Lady G—, nor a […] Sophie.108
Eine Fußnote spezifiziert dabei noch den Bezug auf Rousseau. Obwohl diese Vorbilder aufgerufen werden, will Mary dennoch etwas gänzlich anderes leisten: In an artless tale, without episodes, the mind of a woman, who has thinking powers is displayed. The female organs have been thought too weak for this arduous employment; and experience seems to justify the assertion. Without arguing physically about the possibilities – in a fiction, such a being may be allowed to exist […].109
Im Gegensatz zu den gängigen Romanen sei Mary ein ›kunstloser‹ Text, der ohne ›Episoden‹ auskomme. Die feministische Agenda des Textes macht die Abgrenzung von den angedeuteten romanhaften Vorbildern nötig – und erklärt zugleich den Verzicht auf die Gattungsbezeichnung ›novel‹ zugunsten der Neuschöpfung »a fiction«. Das paradox anmutende Resultat ist, dass damit zwar eine eindeutige Fiktionsmarkierung eingeführt ist, mit dieser aber zugleich eine Behauptung gesteigerter Wirklichkeitstreue einhergeht: In der ›fiction‹ könne man Dinge zulassen, die sich im Roman verbieten – die aber selbstverständlich eine adäquate Beschreibung der Realität sind. Die deutlich ironisch gewendete Erklärung, in einer ›fiction‹ könne man die Existenz einer »woman, who has thinking powers« annehmen, stellt gegenüber dem Roman gerade dessen Verfangenheit in stereotypen »rules of art«110 heraus. Die Ablehnung der Gattungsbezeichnung ›roman‹ beziehungsweise ›novel‹ beruht also im 19. Jahrhundert in vielen Fällen nicht darauf, dass Fiktion als solche problematisch wäre. Texte wie Wollstonecrafts Mary wollen dezidiert nicht als faktuale erscheinen, sondern insistieren auf ihrer Fiktionalität. Diese Fiktionalität sei aber eben eine ›andere‹ als die des traditionellen Romans, die mit bestimmten Erzähl- und Rollen mustern einhergeht. Für das 18. Jahrhundert hingegen ist die Abwesenheit der Gattungsbezeichnung durchaus anders zu beurteilen. Fiktionsskepsis ist weit verbreitet und die Texte tragen Gattungsbezeichnungen und andere paratextuelle Markierungen, die sich – in der einen oder anderen Form – auf Faktizität beziehen. Genette etwa hat die Bezeichnungen »histoire, vie, mémoires, aventures, voyages, et quelques autres« als
107 Johnson (2006): »Mary Wollstonecraft’s novels«, S. 192. 108 Wollstonecraft* (1788): Mary, S. [i]. 109 Wollstonecraft* (1788): Mary, S. [iii] f. 110 Wollstonecraft* (1788): Mary, S. [ii].
Titel und Gattungsbezeichnungen
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»paragénériques«111 bezeichnet – sie vertreten eine Gattungsbezeichnung. Mit Hoek ließen sich diese Markierungen als »opérateurs métafictionnels« bezeichnen, als Titelelemente also, »[qui] précisent la forme ou le mode de production et/ou de réception du récit, en lui attribuant une qualification de type générique.«112 In seinem Schema sind zwei Ebenen dieser Elemente einander gegenübergestellt: La dénomination métafictionnelle sémantique des textes narratifs met en valeur la nature du texte intitulé et notamment sa relation à la réalité. Le premier axe […] est formé par l’opposition entre le vrai et le faux: /HISTORICITÉ/ vs /FICTIONNALITÉ/. Le vrai est connoté par des dénominations comme chroniques, traditions, annales, histoire vraie […], etc. Le faux se retrouve dans des dénominations comme légende, conte, nouvelle, récit, roman, etc. Le deuxième axe, celui de l’originalité, est formé par les termes opposés /AUTHENTICITÉ/ […] vs /IMITATION/ […]. Dans la catégorie de l’authenticité il faut ranger les dénominations qui marquent l’immédiateté de la représentation: confession, révélations, manuscrits trouvés, etc. Dans la catégorie de l’imitation on trouve des termes comme tableaux, moeurs, scènes, esquisses, vie, histoire, […] aventures.113
An dieser Aufstellung von genreanzeigenden Attributen in Titeln ist allerdings bemerkenswert, dass sie zumindest in Teilen Überschneidungen zwischen den Kategorien zulässt. So ist etwa von histoire sowohl in der Kategorie Historizität als auch in der Kategorie Imitation die Rede. Geschichte im Titel verweist also möglicherweise sowohl auf die Historizität (und damit Faktizität) des Dargestellten, als auch auf die ›vermittelte‹, imitierende (und folglich nicht-authentische) Darstellung. Dasselbe gilt für vie beziehungsweise life oder Leben. Erschwerend kommt hinzu, dass damit keineswegs eine ›vermittelte‹ Erzählung einhergehen muss, wie etwa das Beispiel Robinson C rusoe zeigt: Hier ist unter dem Begriffen Life und Adventures eine autodiegetische Lebensbeschreibung gefasst – also gerade nicht eine vermittelte Darstellung, s ondern eine unmittelbare Schilderung des eigenen Lebens, die erst durch einen Herausgeber vermittelt wird (und damit, wie die von Hoek genannten manuscrits trouvées, als authentisch ausgewiesen ist). Der Titel korrespondiert dabei mit der Herausgeber fiktion und die Spannung zwischen Titel und Erzählsituation weist letzteren indirekt als ›Herausgebertitel‹ aus. In dieser Spannung zwischen Titelmerkmalen, die auf die Faktizität des Dargestellten einerseits und auf die Authentizität des Textes andererseits hinweisen, lässt sich eine Entwicklung beobachten, die derjenigen der Herausgeberfiktion analog ist (siehe Kap. 4). Während eine Herausgeberfiktion gerade darin besteht, auf die Authentizität des nachfolgenden Textes hinzuweisen, ist sie insbesondere zu Beginn des 18. Jahrhunderts häufig inkonsistent ausgestaltet – und diese Inkonsistenz zeichnet sich oft bereits im Titel ab. Wenn bei Robinson Crusoe der Titel einerseits auf eine
111 Genette (1987): Seuils, S. 90. 112 Hoek (1981): La marque du titre, S. 108. 113 Hoek (1981): La marque du titre, S. 110.
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ebensschilderung hinweist, die Robinsons Leben betrifft (von ihm ist in der dritten L Person die Rede), und zugleich formuliert, dass der Text von ihm selbst verfasst sei, dann ist damit angezeigt, dass der Titel von einer anderen Instanz stammt, dass also nicht Robinson der Autor ist. Eine vergleichbare Ambivalenz lässt sich bei Richardsons Briefromanen feststellen: Pamela und Clarissa sind Sammlungen von Briefen, die aber im Titel gerade durch Attribute gekennzeichnet sind, die nicht die Authen tizität der Briefe in den Vordergrund rücken. Der Titel von Pamela lautet: Pamela: Or, Virtue Rewarded. In a Series of Familiar Letters From a Beautiful Young Damsel, to Her Parents. Now first Published in Order to Cultivate the Principles of Virtue and Religion in the Minds of the Youth of Both Sexes. A Narrative Which has Its Foundation in Truth and Nature […].114 Neben den Haupttitel treten einige weitere Bestimmungen, die zum einen auf die Gestalt des Textes als Briefsammlung verweisen, diesen zugleich aber als »narrative« bezeichnen. Zwar sei die Erzählung in »Truth« und »Nature« gegründet, die Authentizitätssuggestion der Briefsammlung wird aber durch die Bezeichnung »narrative« bereits unterlaufen. Ähnlich verhält es sich mit Clarissa: Clarissa. Or, the History of a Young Lady: Comprehending the Most Important Concerns of Private Life. And Particularly Shewing, The Distresses that May Attend the Misconduct Both of Parents and Children, in Relation to Marriage.115 Auch hier ist auf den Charakter des Textes zwar durch das nachgestellte »Published by the Editor of Pamela« latent hingewiesen, im Zentrum des Titels steht jedoch das Wort »history«, das nicht auf die Authentizität der Briefe verweist, sondern auf eine ›übergeordnete‹ Darstellung eines Gesamtzusammenhangs, für den erneut wohl der Herausgeber verantwortlich ist. Dieser ist damit als problematische Instanz ausgewiesen, denn die Rahmung der Briefsammlung als »history« oder »narrative« macht diese zugleich als potentielle Fiktion des Herausgebers verdächtig. Diesen Verdacht greift auch das Vorwort zu Pamela auf. An dessen Ende heißt es: And as he [i. e. the editor] is […] confident of the favourable Reception which he boldly bespeaks for this little Work; he thinks any further Preface or Apology for it, unnecessary: And the rather for two Reasons, 1st. Because he can Appeal from his own Passions, (which have been uncommonly moved in perusing these engaging Scenes) to the Passions of Every one […]: And, in the next place, because an Editor may reasonably be supposed to judge with an Impartiality which is rarely to be met with in an Author towards his own Works.116
Während das Vorwort hier auf auffällige Weise den Kontrast zwischen Autor und Herausgeber inszeniert, spiegelt sich dieses doppelte Rahmungsverfahren auch in der Zwischenstellung des Titels, der sowohl »narrative« als auch »letters« verspricht.
114 Richardson* (1741): Pamela. 115 Richardson* (1748): Clarissa. 116 Richardson* (1741): Pamela, S. vi.
Titel und Gattungsbezeichnungen
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Im folgenden Kapitel (Kap. 4) soll argumentiert werden, dass gerade die problematische Verbindung von Herausgeber und Autor für den Roman der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts charakteristisch ist und dies mit einem Changieren zwischen Fakt und Fiktion im Paratext einhergeht. Der Roman als problematische Gattung ist sowohl durch den Versuch gekennzeichnet, sich als ›wahre Geschichte‹ oder ›authentischer Text‹ zu inszenieren, als auch durch eingestreute Hinweise und Inkonsistenzen, die genau diese Inszenierung wieder in Frage stellen. Die Romane Richardsons (und ebenso Defoes) zeigen an, dass sich dieses Verhältnis bereits im Titel findet. Gerade an der ›Sollbruchstelle‹ zwischen dem Verweis auf die Wahrheit der Erzählung und dem gleichzeitigen Verweis auf die Authentizität der Texte zeigt sich der Widerspruch zwischen dem doppelten Versuch, den Text als nicht-fiktionalen zu beschreiben: Wäre er authentisch, hätte er die ›Fürsprache‹ einer Herausgeberinstanz und die explizite Markierung nicht nötig.117 Das paradoxe Resultat ist, dass die Wahrheitsversicherung im Titel als erster Hinweis auf ihr Gegenteil rezipiert werden kann: Mit dem »Einführen der Differenz faktual/fiktional« wird »die Aufmerksamkeit für eben diese Differenz verstärkt, da es zu einer Mobilisierung interpretativer Energien kommt.«118 Die Konventionalisierung der Topoi von gefundenen Manuskripten, Briefen etc. lässt dabei ein zunehmend eigenständiges Fiktionssignal entstehen, das durchaus kohärent auch im Titel aufgegriffen werden kann: Rousseaus La Nouvelle Héloïse heißt daher im Titel bündig: Lettres de deux amans, habitans d’une petite ville au pied des alpes, recueillies et publiées par J. J. Rousseau.119 Es ist davon auszugehen, dass »Lettres«, ebenso wie weitere Markierungen (etwa »histoire«, »vie«, etc.) zu diesem Zeitpunkt – über den Umweg der instabilen Herausgeberfiktion (siehe Kap. 4) – als Topos etabliert waren und folglich als »paragénériques«120 die Fiktionalität des Textes signalisierten. Diese ›paragenerischen‹ Markierungen, die zwar ›Geschichte‹ oder ›Briefe‹ versprechen, dabei aber recht eindeutig ›Roman‹ zu verstehen geben, sind in der Folge ebenfalls potentielle ›Opfer‹ der Kürzung der Titel. Als konventionalisierte Markierungen werden sie in dem Moment überflüssig, da Gattungsmarkierungen wie ›Roman‹ aufkommen und salonfähig werden. Es ist sicherlich kein Zufall, dass Wielands Agathon ein Beispiel für diese ›Reduktion‹ abgibt – erscheint der Text doch genau in jener Zeit, da in Deutschland erste Texte die Gattungsbezeichnung ›Roman‹ (wenn auch häufig noch in einer verneinenden Formulierung) führen. Die erste Ausgabe des Textes
117 Vgl. dazu, allerdings nicht den Paratext, sondern intratextuelle Authentizitätssuggestionen be treffend, Korten (2009): Poietischer Realismus, S. 67 f. 118 Wirth (2013): »Rahmenbrüche, Rahmenwechsel«, S. 34. 119 Rousseau (1761): Lettres de deux amans. 120 Genette (1987): Seuils, S. 90.
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war mit dem – ohnehin schon knappen – Titel Geschichte des Agathon121 versehen, die zweite Ausgabe aber reduziert dies noch einmal: Agathon.122 Die Reduktion des Titels auf das ›Wesentliche‹ geht in der Folge damit einher, dass der Titel als »Name des Textes« kaum noch generische Informationen enthält, während Gattungsbezeichnungen nunmehr separat gestellt werden – und so gleichsam extern über den Text informieren. Während bei Gattungsbezeichnungen oder ›paragenerischen‹ Angaben im Titel ein ähnlicher Spielraum zwischen intrafiktionalem und extrafiktionalem Rahmen zu beobachten ist, wie er im folgenden Kapitel auch für Vorworte beleuchtet werden soll, so sind die Gattungsbezeichnungen, die sich im 19. Jahrhundert aus dem Titel lösen und vor allem im 20. Jahrhundert verbreitet anzutreffen sind, recht eindeutig auf eine externe Rahmung festgelegt. Genette konstatiert, dass sie in neueren Ausgaben insbesondere auf dem Einband zu finden sind – und dabei mitunter auf dem Titelblatt nicht erneut erwähnt werden.123 Sie sind damit zu erkennen als eine Markierung, die jedenfalls auch im Verantwortungsbereich des Verlags und nicht ausschließlich in dem des Autors liegt.124 Doch auch bei der ›externen‹ Gattungsbezeichnung ist eines nicht zu übersehen: Sie ist zunächst eine reine Markierung, die (je nach Perspektive) im Sinne einer Intentionserklärung oder einer Anregung, mit dem Text auf eine bestimmte Art und Weise umzugehen, zu verstehen ist – einen Umgang ›vorschreiben‹ kann sie allerdings nicht.125 Dies verbindet sie zugleich mit einer weiteren paratextuellen Form, die in Kapitel 5 beleuchtet werden soll: dem Disclaimer. Eines der dort untersuchten Beispiele, Billers Esra, ist auf Titelblatt und Umschlag als »Roman«126 gekennzeichnet und mit einem Disclaimer versehen – beides jedoch konnte eine gerichtliche Auseinandersetzung um die mögliche Verletzung von Persönlichkeitsrechten nicht zugunsten von Autor und Verlag beeinflussen.
121 Wieland* (1766): Geschichte des Agathon. 122 Wieland* (1773): Agathon. 123 Vgl. Genette (1987): Seuils, S. 92 f. 124 Negativ lässt sich die Verantwortung des Verlages an einem Beispiel belegen. Perecs La vie mode d’emploi erschien ursprünglich mit der Gattungsbezeichnung ›romans‹; vgl. Perec (1978): La vie mode d’emploi. Die Form im Plural deutet auf eine Verantwortung des Autors hin, der die Gattungsbezeichnung modifiziert und sie in Relation stellt zur Vervielfältigung von Geschichten und Lektüremöglichkeiten, die den Text auszeichnet. In der ersten Taschenbuchausgabe allerdings war der Text als ›roman‹ (im Singular) gekennzeichnet – ein recht deutliches Indiz dafür, dass die Gattungsbezeichnung vom Verlag ›vergeben‹ wurde; vgl. Magné (2004): »Georges Perec on the Index«, S. 73, Anm. 11. 125 Vgl. dagegen: »de plus en plus souvent, un texte de fiction se signale comme tel par des marques paratextuelles qui mettent le lecteur à l’abri de toute méprise et dont l’indication générique roman, sur la page de titre ou la couverture, est un exemple parmi bien d’autres«; Genette (1991): Fiction et diction, S. 89. Dagegen hatte Genette in Seuils noch auf den »caractère, à la limite toujours contestable, du statut générique officiel« insistiert; Genette (1987): Seuils, S. 90. 126 Biller (2003a): Esra.
Verlags- und bibliographische Angaben
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Verlags- und bibliographische Angaben Eine Verlagsangabe kann in mehrerlei Hinsicht ein Werk als fiktionales markieren. Zum einen existieren Verlage, die alleine aufgrund ihrer ausschließlichen oder weitgehenden Spezialisierung auf fiktionale Texte mit der Verlagsangabe eine recht eindeutige Markierung liefern. Darüber hinaus existieren Verlagsreihen, die ebenfalls auf fiktionale Texte spezialisiert sind – oder aber auf faktuale. Lane erwähnt dies im Zusammenhang mit Verlagsreihen, die mit einer expliziten Gattungsmarkierung einhergehen: La forme paratextuelle la plus typiquement éditoriale est l’identification générique de l’ouvrage que l’on trouve, par exemple, sur la quatrième de couverture de la collection ›Points‹ des Éditions du Seuil.127
Einschränkend muss man allerdings hinzufügen, dass dies in aller Regel Taschenbuch-Wiederveröffentlichungen betrifft, dass also die Erstausgaben der betroffenen Titel keineswegs eine ähnlich eindeutige Markierung enthalten haben müssen. Im Unterschied zu Gattungsbezeichnungen auf dem Titelblatt, bei denen, wie gesehen, mitunter Zweifel bestehen können, ob es sich dabei um einen (rein) editorialen Paratext handelt, sind bei der Verlagsreihe Zweifel weitgehend ausgeschlossen (obwohl natürlich auch hier ›Manipulationen‹ denkbar wären)128. Verlagsreihen können also deutliche Hinweise liefern und dies mitunter schon aufgrund der graphischen Gestaltung, wie Genette anhand einiger Beispiele treffend feststellt: Le label de collection, même sous cette forme muette, est donc un redoublement du label éditorial, qui indique immédiatement au lecteur potentiel à quel type, sinon à quel genre d’ouvrage il a affaire: littérature française ou étrangère, avant-garde ou tradition, fiction ou essai […], etc. On sait que les éditions de poche ont depuis longtemps introduit dans leur nomenclature une spécification générique que symbolise un choix de couleurs (dès les Albatross, puis Penguin des années trente: orange = fiction, gris = politique, rouge = théâtre […]) de formes géométriques (chez Penguin après la guerre: carré = fiction, cercle = poésie […]) ou encore, en Points, par le sort fait, en couleur, à tel terme sur une liste fixe.129
Während dies in Teilen erneut auf Taschenbuch-Wiederveröffentlichungen bezogen ist, existieren selbstverständlich Verlagsreihen, die alleine auf Grund ihrer Gestaltung eine Genremarkierung enthalten. Zu denken wäre etwa an die Reihe für französische
127 Lane (1992): La Périphérie du texte, S. 19. 128 Schmitz-Emans erwähnt einen Fall, bei dem die deutsche Übersetzung einer fiktiven Biographie in der Reihe der Dumont Kunstbücher erschien. Offenbar habe man aber gerade aufgrund dieser Einordnung in eine seriöse Reihe im Klappentext explizit darauf hinweisen müssen, dass es sich um eine Fiktion handelt; vgl. Schmitz-Emans (2001): »Im Zwischenreich«, S. 209, Anm. 48. 129 Genette (1987): Seuils, S. 25 f.
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Literatur bei Gallimard, die dem Leser ein recht eindeutiges Signal dafür liefert, dass er es mit einem Roman zu tun hat. Im Folgenden sollen allerdings nicht Verlagsreihen und -angaben im Vordergrund stehen, sondern zunächst eine historische Einschätzung, die sich vorrangig auf das 18. Jahrhundert bezieht und dabei insbesondere die Jahrhundertmitte in Frankreich einbezieht, da dort zu diesem Zeitpunkt im Bezug auf den Roman eine sehr spezielle Situation vorgelegen hat. Allgemein lässt sich aber – ähnlich wie bei den Autornamen – zunächst festhalten, dass unsere Gewohnheit, auf Büchern Verlagsangaben zu finden und diese mit etablierten, juristisch verantwortlichen Editionshäusern zu verbinden, sich keineswegs direkt auf die Situation im 18. Jahrhundert übertragen lässt. Legion sind die Bücher, die unter falschen Verlags- und Ortsangaben erscheinen (oder, seltener, gar keine Angaben tragen): »Les indications de lieu de publication […] sont extrêmement fantaisistes à l’époque«130. Auch bei tatsächlich existierenden Verlagen oder Druckern, die auf dem Titelblatt genannt sind, kann keineswegs garantiert werden, dass sie das vorliegende Buch tatsächlich produziert oder publiziert haben – vielmehr kann durchaus ein anderer Verleger oder Drucker den Firmennamen ›okkupiert‹ haben. Darüber hinaus ›gibt es‹ Verlagshäuser, die für eine nicht geringe Zahl der Buchproduktion verantwortlich zeichnen – jedoch de facto nicht existieren. Berühmtestes Beispiel ist der Verlag Pierre Marteau, der meist in Köln angesiedelt wird.131 Das ›Verlagspseudonym‹ wurde aller Wahrscheinlichkeit nach zuerst 1663 vom Amsterdamer Verlagshaus Elsevier verwendet,132 findet später aber weite Verbreitung in deutsch- und französischsprachigen Publikationen. Unter dieser und ähnlichen falschen Verlagsangaben erscheinen diverse Texte, die so der Verfolgung durch die Zensur zu entgehen versuchen – selbstverständlich nicht nur fiktionale Texte, aber eben auch diese. In Frankreich herrschte für letztere seit vermutlich 1737 eine außerordentlich strenge Zensur, die sich als »proscription des romans« beschreiben lässt, als ›Romanverbot‹ also. Die Datenlage zu diesem Verfahren ist weiterhin nicht besonders gut (so wurde etwa bisher kein offizielles Dokument gefunden, das dieses Verbot bestätigt)133, es lassen sich jedoch Indizien finden, die die »proscription« überzeugend begründen und sie zudem recht deutlich zeitlich eingrenzen lassen. May hält als Beginn der »proscription« den Zeitraum zwischen März und Oktober 1737 für wahrscheinlich.134 Weil präzisiert unter Einbeziehung weiterer Dokumente, dass sehr wahrscheinlich vom Juli 1737 als Beginn des Verbots ausgegan-
130 May (1963): Le dilemme du roman au XVIIIe siècle, S. 91. 131 Vgl. Simons (2001): Marteaus Europa, S. 669–671. 132 Vgl. Simons (2001): Marteaus Europa, S. 669. 133 Vgl. May (1963): Le dilemme du roman au XVIIIe siècle, S. 84. 134 Vgl. May (1963): Le dilemme du roman au XVIIIe siècle, S. 101.
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gen werden kann.135 Es ist eng an die Person d’Aguesseau gebunden,136 der seit 1737 (erneut) Garde des sceaux und damit verantwortlich für die Librairie ist – und es bis 1750 bleiben wird.137 Das Zensursystem der Zeit ist zunächst eine Präventivzensur, die eingereichten Texten eine Druckerlaubnis erteilte (verbunden mit einem Druckprivileg, das vor Raub- und Nachdrucken schützen sollte und im Buch abgedruckt werden musste) – oder diese verweigerte. Eine verweigerte approbation hieß jedoch noch nicht automatisch, dass das Buch nicht erscheinen durfte. Neben dem Privileg gab es zudem die Möglichkeit der permission tacite, der stillschweigenden Druckerlaubnis also, die in der Regel damit verbunden war, dass ein ausländischer Druckort genannt wurde – obwohl das Buch durchaus in Frankreich gedruckt sein konnte.138 Hobohm hält fest, dass dieses Verfahren seit den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts verstärkt für Romane Anwendung fand –139 eine direkte Rückwirkung der »proscription des romans« –, die nun nicht mehr offen in Frankreich erscheinen konnten (und sicherlich kein könig liches Privileg erhielten). 45 40 35 30 25 20
Gesamt Frankreich
15
Ausland
10 5 0
1730
1732
1734
1736
1738
1740
1742
1744
Diagramm 1: Frz. und ausländische Verlagsangaben 1730–1744
135 Vgl. Weil (1986): L’Interdiction du roman, S. 26. 136 May gibt den Namen als ›Daguesseau‹ an; vgl. May (1963): Le dilemme du roman au XVIIIe siècle, S. 82 u. passim. 137 Vgl. Hobohm (1986): »Der Diskurs der Zensur«, S. 77 sowie Weil (1986): L’Interdiction du roman, S. 5. 138 Vgl. Hobohm (1986): »Der Diskurs der Zensur«, S. 72. 139 Vgl. Hobohm (1986): »Der Diskurs der Zensur«, S. 72.
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Eine Auswertung der Neuerscheinungen des französischen Romanmarktes belegt dies eindrücklich. May hat die Daten von Jones zwischen 1730 und 1744 analysiert und die Übersicht liefert ein recht eindeutiges Bild (siehe Diagramm 1)140. Bereits für 1736 zeigt das Diagramm eine signifikante Entwicklung, die belegt, dass durch das Verbot (das sich vielleicht bereits abzeichnete) die Zahl der Neuerscheinungen kaum rückläufig ist (lediglich 1738 erfolgte ein kleiner Einbruch), gleichzeitig aber die Zahl der offiziell in Frankreich gedruckten Romane massiv einbricht, während immer mehr einen ausländischen Verlag und Druckort nennen. Dass dieser Druckort häufig falsch angegeben wurde, hat Weil mit Bezug auf einen der häufigsten ›Ausweichorte‹ (Holland) nachgewiesen: Von 700 untersuchten französischsprachigen Titeln, die zwischen 1728 und 1750 laut Titelblatt in Holland erschienen sind, sind nur 46 % tatsächlich dort gedruckt worden – der größere Rest wurde in Frankreich (zumeist in Paris) hergestellt und bediente sich der ausländischen Verlagsadresse lediglich als Camouflage.141 Dass die »proscription« gezielt Romane inkriminierte und von der (legalen) Veröffentlichung ausschloss, dafür gibt etwa Hobohm ein Beispiel: Eine Bemerkung im Registre de la Librairie […] belegt, daß die Zensur wirklich den Roman als Gattung meint und nicht mehr nach den gewöhnlichen Zensurkriterien wie Schutz von Religion, Staat, Moral und vor persönlichen Diffamierungen urteilt. Ein Jahr, nachdem sein höfisch-galanter Roman, die unglückliche Comtesse d’Horneville, abgelehnt worden war, legt der Autor und Verleger C. F. Simon ein anscheinend eher philosophisches Manuskript vor: 20. Februar 1738: 7207/Reflexions sur l’inconstance des choses humaines / p. par Le Sr Simon […] / Refusé comme Roman.142
Dabei bleibt selbstverständlich festzuhalten, dass die ›gewöhnlichen‹ Zensurkriterien weiter bestehen, nun aber der Roman als zusätzliche – prinzipiell – verwerfliche Kategorie hinzukommt. Das Verbot war jedoch nicht in allen Fällen wirksam. May berichtet beispielsweise von sechs Romanen aus dem Jahr 1738, die regulär in Paris erscheinen.143 Es lässt sich nur spekulieren, warum einige wenige Romane von der Zensur verschont werden. Der großen Mehrzahl der Neuerscheinungen bleibt das Privileg verwehrt: »um 1740 erreicht der Anteil der Romane an den erteilten Privilegien praktisch den Nullpunkt. Nur ein paar gerade besonders begünstigte Alibi-Romane (z. T. protegierter Autoren) dürfen mit königlichen Insignien erscheinen.«144
140 Vgl. für die Zahlen: May (1963): Le dilemme du roman au XVIIIe siècle, S. 93. 141 Vgl. Weil (1982): »Les pages de titre«, S. 444. 142 Hobohm (1986): »Der Diskurs der Zensur«, S. 79. 143 Vgl. May (1963): Le dilemme du roman au XVIIIe siècle, S. 85. 144 Hobohm (1986): »Der Diskurs der Zensur«, S. 75.
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In der Mitte des 18. Jahrhunderts lässt sich also für Frankreich mit Recht von einer »Exilierung«145 des Romans sprechen. Diese Exilierung ist allerdings in vielen Fällen eine, die lediglich den Paratext und seine Angaben betrifft, nicht aber die realen Produktionsbedingungen des Buchmarktes. Französische Verleger und Drucker, die ihre Bücher nunmehr als holländische oder deutsche Drucke maskieren, verzichten mitunter nicht einmal auf Identifikationsmerkmale und Markenzeichen, die das Buch weitgehend zweifelsfrei einem bestimmten Drucker zuordnen lassen.146 Es ist davon auszugehen, dass Zeitgenossen mit dieser Situation durchaus vertraut waren und eine ausländische Verlagsangabe – sei sie authentisch oder eine mehr oder weniger offensichtliche Maskierung eines inländischen Druckes – durchaus als Signal aufgefasst haben, dass hier ein inkriminiertes Werk vorliegt. Diese Angaben konnten zum einen auf einen politisch oder religiös problematischen Text schließen lassen, oder aber auf einen Roman. Insofern ist also davon auszugehen, dass ein ausländischer Verlagsort durchaus als Fiktionssignal gewirkt hat, wenn nicht der Paratext Hinweise auf (beispielsweise) einen politischen Traktat bereithielt. Ob die Herkunftsangabe falsch oder wahrheitsgemäß war, spielt dafür eine untergeordnete Rolle. Umgekehrt ist davon auszugehen, dass Bücher, die offiziell in Frankreich erschienen und ein königliches Privileg im Paratext abdruckten, dadurch die implizite Markierung trugen: ›Dies ist kein Roman‹ (die verschwindend wenigen Ausnahmen von dieser Regel tun dem kaum Abbruch). Neben den ausländischen Verlagsangaben existieren jedoch auch noch solche, die sich offen als irreal zu erkennen geben oder die Verlagsangaben und deren mögliche Verschleierung ironisch aufgreifen. Letzteres scheint etwa bei einem Text der Fall, den Jones auflistet: Unter dem Titel Néraïr et Melhoë, conte ou histoire, ouvrage orné de digressions … erscheint im Jahr 1740 (?)147 ein anonymer Text mit folgender Angabe‹: »Imprimé a ***, se vend a **, *chez *, ruë *, à l’enseigne *. L’an de l’âge de l’auteur LX«148. Bereits die Gattungsangabe im Titel ist ›zwiespältig‹, indem sie die beiden einander ausschließenden Angaben conte und histoire anbietet. Die Verlagsangabe ist verschlüsselt und greift dabei die gängige Praxis auf, Personen- und Ortsnamen zu verschleiern und durch ›***‹ abzukürzen. Das Jahr der Publikation durch das Alter des Autors anzugeben, ist eine – vermutlich einmalige – Möglichkeit, die Autorfunktion auf dem Titelblatt ›einzutragen‹, ohne dass dadurch mehr über den Autor zu erfahren wäre (zumal selbstverständlich völlig ungeklärt ist, ob die Altersangabe den Tatsachen entspricht). Die sonst eindeutig dem verlegerischen Paratext
145 Hobohm (1986): »Der Diskurs der Zensur«, S. 80. 146 Vgl. für den Drucker Prault fils und sein Markenzeichen, eine Weltkugel, Hobohm (1986): »Der Diskurs der Zensur«, S. 78, Anm. 32. 147 Diese Datierung nimmt Jones vor, der als vermutlichen Autor einen gewissen Henri Barthélemi de Blanes nennt; vgl. Jones (1939): A List of French Prose Fiction From 1700 To 1750, S. 72. 148 Zit. n.: Jones (1939): A List of French Prose Fiction From 1700 To 1750, S. 72.
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ngehörenden und zumindest im Prinzip überprüfbaren und werkexternen Verlags-, a Orts- und Jahresangaben werden dadurch einem Spiel unterzogen, das demjenigen der Fiktion (Namenskürzungen) durchaus nicht unähnlich ist. Vergleichbares findet sich auch in einem Text, der sich insgesamt durch seine auffällige paratextuelle Einkleidung auszeichnet:149 Barets Le Grelot, Ou les &c, &c, &c.150 Auf dem Titelblatt bereits ironisch als »Ouvrage dédié à moi« bezeichnet, greift die Widmungsschrift tatsächlich den (freilich anonymen) Autor als Empfänger auf. Darüber hinaus nimmt eine »Sottise préliminaire« den Topos der Herausgeberfiktion ironisch auf und stilisiert den Text als Übersetzung eines ›antiken‹ Manuskripts: Le manuscrit est, comme on peuts [sic] s’y attendre, d’un Auteur merveilleux, d’une ancienneté unique, d’une rareté singulière; il a échappé à l’ordinaire, aux écroulements de Palais, […] aux destructions des Empires. / Il falloit à ce Livre pour rendre en françois la pureté de son stille […] un Traducteur du premier génie, ego sum.151
In einem dritten paratextuellen Element wird schließlich unter der Überschrift »Tout ce que l’on voudra« eine Rahmenerzählung eingeführt, die den nachfolgenden Text als orale Erzählung innerhalb einer Gesellschaft stilisiert (sie endet mit: »on lit; écoutez«152). Dennoch wird auf den »Auteur«153 Bezug genommen. Alles scheint darauf angelegt, die vertrauten paratextuellen Topoi (Herausgeber- und Manuskriptfiktion, Rahmenerzählung) miteinander zu vermengen, sodass keine stabile Erzählsituation entstehen kann. Versucht man dennoch, diese zu rekonstruieren, muss das Fazit lauten: »On s’y perd«154. Selbiges gilt auch für die paratextuelle Angabe von Ort und Datum der Publikation: »Ici. A Présent.«155 So heißt es auf dem Titelblatt, und die Angabe scheint sich dabei der grundsätzlichen Unbestimmtheit der beiden deiktischen Marker innerhalb schriftlicher Kommunikation zu bedienen. ›Wo‹ ist ›ici‹ und ›wann‹ ist ›a présent‹? Der Paratext thematisiert genau die Erzählsituation und lässt dabei unklar werden, welche Rolle ein Autor, welche Rollen gegebenenfalls textinterne Instanzen spielen. Dies ist bis auf das Titelblatt ausgeweitet: Handelt es sich um ein ›ici‹ mit Bezug auf den Autor, oder ist selbst das Titelblatt bereits als Teil der Fiktion zu betrachten und das ›ici‹ ist Teil der textinternen Kommunikationssituation? Bindet man dies zurück an
149 Nuel spricht zu Recht von »folies paratextuelles« in Bezug auf Le Grelot und weitere Texte aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts; vgl. Nuel (1998): »Folies paratextuelles«. 150 Baret* ([1754]): Le Grelot. Weller gibt als Publikationsjahr 1754 an und identifiziert Baret als Autor; eine genauere Verlags- oder Ortsangabe gibt er nicht, hält aber fest, dass es sich um einen französischen Druck handelt; vgl. Weller (1864): Druckorte, S. 138. 151 Baret* ([1754]): Le Grelot, S. [iii] f. 152 Baret* ([1754]): Le Grelot, S. [viii]. 153 Baret* ([1754]): Le Grelot, S. [v]. 154 Nuel (1998): »Folies paratextuelles«, S. 323. 155 Baret* ([1754]): Le Grelot.
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eine Beschreibung für »fiktionale Sprache«, die davon ausgeht, dass diese »dadurch charakterisiert ist, daß ihren indexikalischen Ausdrücken nicht bzw. nicht generell Referenzpunkte zugeordnet werden können«156, so erscheint die Orts- und Zeitangabe auf dem Titelblatt als potentieller Teil der Fiktion, denn sie unterbindet eben genau jene Zuordnung eines Referenzpunktes für die deiktischen Ausdrücke ›hier‹ und ›jetzt‹. Der – gemeinhin unverdächtige – editoriale Paratext ist also von derselben Zwischenstellung affiziert, die auch andere Bereiche des Paratextes betrifft. Ähnliches gilt auch für Ortsangaben, die gänzlich dem Bereich der Fiktion entstammen. Bei Weller finden sich etwa Belege für ›Orte‹ wie »Alethopolis« oder »Veridipolis«157. Beide stehen im Paratext von Werken, die vorgeben, ›Memoiren‹ zu sein. Der Wahrheitsanspruch, der sich in der Gattungsbezeichnung ankündigt, ist also noch auf die (freilich fiktiven) Ortsangaben ausgedehnt, die Wahrheit (ἀλήθεια) ankündigen und doch ihre eigene Unwahrheit offen ausstellen. Aus heutiger Sicht mutet dieses Fiktionsspiel, das bis in den editorialen Paratext ausgreift und die Verlags- und Druckortangabe einbezieht, abenteuerlich an, denn wir sind gewohnt, dass zumindest auf diese Elemente Verlass ist – und auch im juristischen Sinne Verlass sein muss. Manipulationen, die den Verlagsort oder -namen betreffen, sind im 20. Jahrhundert kaum zu erwarten (jedenfalls nicht bei Romanen; bei politisch ›verdächtigen‹ Schriften etwa mag dies anders sein). Die Regulierung des Paratextes ist hier sehr viel strenger, als es im 18. Jahrhundert der Fall war. Nicht nur die Verlagsangaben werden so stärker als ›autoritativer‹ Bestandteil des Paratextes sichtbar, es finden sich mitunter auch bibliographische (Norm-)Daten im Paratext abgedruckt, die durch den Verweis auf eine autoritative Instanz, wie etwa die jeweilige Nationalbibliothek, maximale Verlässlichkeit suggerieren und zugleich als möglichst externer Paratext erscheinen.158 Diese enthalten möglicherweise Fiktionsmarkierungen und sind damit zunächst als externe, verlässliche Beschreibung des Status des Textes, dem sie beigegeben sind, zu betrachten. Zugleich ist bei diesen freilich höchst fraglich, ob sie überhaupt in einen Rezeptionsprozess einbezogen werden. Mit ironischer Note hält dies David Foster Wallace fest: »we don’t bother to look at copyright claims or Library of Congress specs«159. Nichtsdestoweniger lassen sich (seltene) Fälle finden, in denen genau diese Angaben in der Diskussion über die Fiktionalität eines Textes aufgegriffen werden. So etwa in einer Diskussion um Spiegelmans Maus II. Der Comic war in der Bestsellerliste der New York Times gelistet – in der Kategorie ›fiction‹. Daraufhin erscheint ein Brief Spiegelmans an die Redaktion, in dem er diese Einordnung unter der Überschrift »A Problem of Taxonomy« kritisiert:
156 Hempfer (1977): »Zur pragmatischen Fundierung der Textsortentypologie«, S. 11. 157 Vgl. Weller (1864): Druckorte, S. 110, 113. 158 Die Rede von Autorität ist in dem Sinne zu verstehen, wie sie in der englischen Entsprechung der deutschen ›Normdatei‹ vorliegt: »authority file«. 159 Wallace (2011): The Pale King, S. 67.
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If your list were divided into literature and nonliterature, I could gracefully accept the compliment as intended, but to the extent that »fiction« indicates that a work isn’t factual, I feel a bit queasy. As an author I believe I might have lopped several years off the 13 I devoted to my twovolume project if I could only have taken a novelist’s license […]. The borderland between fiction and nonfiction has been fertile territory for some of the most potent contemporary writing […]. It’s just that I shudder to think how David Duke – if he could read – would respond to seeing a carefully researched work based closely on my father’s memories of life in Hitler’s Europe and in the death camps classified as fiction. I know that by delineating people with animal heads I’ve raised problems of taxonomy for you.160
Die Klage über die Einordnung von Maus als fiction greift implizit eine Definition von Fiktion auf, die diese mit ›Erfundenheit‹ assoziiert, und verwahrt sich dagegen, das biographische Portrait des Vaters, das in Maus vorliegt – auch wenn es in Comicform erscheint und mit Tierzeichnungen arbeitet –, als eine solche Fiktion zu klassifizieren. Es wird auf einen Grenzbereich zwischen Fiktion und Nichtfiktion hingewiesen, der als produktiv bezeichnet wird. Gerade wegen der historischen Brisanz des Themas erscheint dies allerdings problematisch. Der Verweis auf einen HolocaustLeugner (David Duke) nimmt dies in nuce auf: Wenn Maus und die darin dargestellte Geschichte des Vaters als fiction bezeichnet wird, spiele dies möglicherweise eben solchen antisemitischen Tendenzen in die Hände. In der als problematisch bezeichneten Verbindung von faktualer biographischer Erzählung und der Stilisierung der handelnden Personen als Tierfiguren steckt genau jene paradox anmutende Form von Annäherung an eine traumatische Vergangenheit, die zahlreiche Texte auszeichnet, die ›im Kontext der Shoah‹161 entstehen und sich mit dieser und den Möglichkeiten der Darstellung derselben auseinandersetzen. Foley hat dabei früh auf eine zwiespältige Rolle des Fiktionsbegriffs in dieser Auseinandersetzung hingewiesen: Einerseits zeichnet sich eine große Zahl literarischer Darstellungen der Shoah durch eine Tendenz aus, »to acknowledge the difficulty of conveying a horrific experience – even to demonstrate the inadequacy of existing literary forms«162, die gerade die ›Irrealität‹ und unmögliche ›realistische‹ Darstellung aufgreift, andererseits aber sei dies keineswegs damit gleichzusetzen, dass dies schon eine Fiktionalisierung bedeute: Holocaust writers have been only too aware of the necessary difference between reality and imagination, and they have employed a variety of rhetorical devices to enforce the factuality or fictiveness of what I shall call the »contracts«– the patterns of literary expectation – that they establish with their readers.163
160 Spiegelman (1991): »A Problem of Taxonomy«. 161 Zu diesem Begriff vgl. Düwell (2004): »Fiktion aus dem Wirklichen«, S. 7. 162 Foley (1982): »Fact, Fiction, Fascism«, S. 332. 163 Foley (1982): »Fact, Fiction, Fascism«, S. 332.
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Während also die literarische Qualität der Darstellung (die Spiegelman explizit anerkennt) durchaus Abweichungen von einer realistischen Darstellung erlaubt, besteht andererseits gerade keine Tendenz, Fiktion und Fakt zu ›vermengen‹, sondern die Faktizität des Dargestellten bleibt ein zentrales, ja ein unerlässliches Kriterium.164 Eben darauf zielt Spiegelmans Einwand gegen die Klassifizierung durch die Bestsellerliste der New York Times. Deren Herausgeber bezieht sich in seiner Antwort auf Spiegelmans Brief an die Redaktion explizit auf die Klassifikation der Library of Congress, die im Paratext zu Maus abgedruckt ist: 1. Spiegelman, Vladek–Comic books, strips etc. 2. Holocaust, Jewish (1939–1945)–Poland–Biography–Comic books […] 3. Holocaust Survivors–United States–Biography–Comic books […]165
Entscheidend ist die Klassifizierung als Biographie, die den jeweiligen Schlagworten angefügt ist. Der Herausgeber erkennt diese Kategorisierung an und antwortet Spiegelman: »The publisher of ›Maus II,‹ Pantheon Books, lists it as ›history; memoir.‹ The Library of Congress also places it in the nonfiction category […]. Accordingly, this week we have moved ›Maus II‹ to the hard-cover nonfiction list, where it is No. 13.«166 Innerhalb der problematischen Diskussion über die Fiktionalität oder Faktualität von Texten wie Maus, so scheint es, stellt die Klassifikation einen ›einfachen‹ Ausweg dar, an den sich zu halten von der Notwendigkeit einer Analyse und Diskussion entbindet. Neben der bei Maus verwendeten ›Biography‹-Klassifikation, hält der Schlagwortkatalog der Library of Congress auch eine für ›fiction‹ bereit, die unter Umständen ebenfalls auf Biographien angewendet werden kann. Die Instruktion, wie diese Kategorie zu verwenden sei, ist jedoch auf bemerkenswerte Weise unbestimmt: Use as a form subdivision under names of countries, cities, etc., names of individual persons, families, and corporate bodies, […] names of deities and mythological or legendary figures, individual and groups of fictitious and legendary characters, and topical headings for collections of stories or novels on those subjects. Also use under names of individual persons and historic events for individual works of biographical or historical fiction […].167
Einerseits ist hier von »fictitious« oder »legendary characters« die Rede und damit recht eindeutig von Figuren, die erfunden sind, andererseits aber darf die Klassifikation Fiction auch für reale Personen und Ereignisse verwendet werden, wenn diese in fiktionalen Texten auftreten (wobei hier wohl die im englischen Sprachraum vorherrschende
164 Diese Auseinandersetzung prägt mitunter auch Texte aus dem Umfeld der ›Autofiktion‹ wie etwa Perecs W ou le souvenir d’enfance; siehe dazu unten S. 185. 165 Spiegelman (1991): Maus II. 166 Spiegelman (1991): »A Problem of Taxonomy«. 167 Library of Congress, .
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edeutung, die eher literarische Texte meint, vorliegt). In diesem Sinn könnte SpiegelB mans Maus sehr wohl als »biographical or historical fiction« verstanden werden. Es scheint – wenig überraschend – so, dass diese Form der Klassifizierung und der Markierung von Fiktion einerseits gerade in schwierigen Fällen herangezogen werden kann, dass sie allerdings zugleich keine belastbare und begründete Entscheidung nahelegt, sondern schlicht als Autoritätsargument dient. Für ein solches Autoritäts argument ist insbesondere die strikte Trennung zwischen paratextueller Klassifizierung und dem ›eigentlichen‹ Text zentral, denn nur so kann ein Urteil über den Text von dessen eigener paratextueller Agenda abgelöst werden, die dann erneut der Problematik der Selbstauskunft unterliegen würde. Umso bemerkenswerter, dass sich auch für die Klassifikationsdaten im Paratext ein Beispiel finden lässt, das dieses paratextuelle Element aufgreift und einem Spiel unterzieht. Es findet sich in Larsens The Selected Works of T. S. Spivet. Zunächst ist auf der Impressumsseite nur zu lesen: »A CIP [i.e. Cataloguing in Publication] record for this book is available from the British Library«168. Der Katalogeintrag ist also nicht selbst im Paratext abgedruckt, sondern wird lediglich durch diesen Verweis eingebunden. Von diesem Verweis aber führen Pfeile zu einer in einer anderen (eine Handschrift imitierenden) Schriftart gesetzten Aufzählung, die einen eigenen ›Katalogeintrag‹ entwirft: This Book is About: 1. Child Cartographers–Montana–Fiction. 2. Voyages and Travels–Fiction. // But Also: 3. Continental Divides–Fiction. 4. Sparrows–Fiction. 5. Beetles–Tiger Monk Beetles– Fiction. 6. Girls–Girls who like Pop Music–Fiction. // And Also: 7. Whiskey Drinking–Fiction. […] 15. Many Worlds Theory–Fiction. […] 25. Moby-Dick–Fiction. […] 27. Rules–The Three-Second Rule–Fiction.169
Insgesamt umfasst der Eintrag 27 Kategorien, die allesamt den Zusatz »Fiction« tragen. Der Katalogeintrag im OPAC der British Library ist dagegen recht überschaubar: Gifted children–Family relationships–Fiction; Maps–Fiction170
Der durch die verwendete Schrifttype von der Bibliotheksklassifikation abweichende, diese aber dennoch imitierende Schlagwortkatalog greift Elemente des Textes heraus, die durchaus in eigenartiger Spannung zur Einordnung ›Fiction‹ stehen. Während sich etwa bei den »Continental Divides« die Frage aufdrängt, warum diese explizit durch
168 Larsen (2010): The Selected Works of T. S. Spivet. 169 Larsen (2010): The Selected Works of T. S. Spivet. 170 British Library, , UIN: BLL01014909700. Der Eintrag in der Library of Congress weicht von diesem ab und stimmt zumindest in einem Eintrag wörtlich mit dem im Paratext abgedruckten überein: »Gifted Boys–Montana–Fiction. / Ranch life–Montana–Fiction. / Cartography–Fiction. / Voyages and Travels–Fiction«; Library of Congress, .
Verlags- und bibliographische Angaben
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»Fiction« markiert werden sollten, sind andere Elemente des Textes selbst als (manifest) fiktiv und erfunden erkennbar – so etwa der »Tiger Monk Beetle«, dessen Existenz auch in der fiktiven Welt des Textes stark bezweifelt werden darf (die Mutter des Protagonisten ist eine Insektenforscherin, die verzweifelt auf der Suche nach dieser Spezies ist)171. Andere Elemente sind selbst fiktionale Texte: »Moby Dick–Fiction«. Dieser Text wird am Ende des aufwendig illustrierten Buches aufgegriffen und in einer dreiseitigen Illustration ›zusammengefasst‹. Auf der letzten Seite ist die Inschrift zu lesen: »Everything is fiction«172. Es bleibt unklar, ob dies als Bestandteil der Illustration zu werten ist oder als paratextueller Kommentar zum Text, den die Illustration beschließt. Mit Blick auf die Aufzählung im Schlagwortkatalog erscheint die Inschrift in der Illustration zudem als erneutes Aufgreifen der Liste, deren Elemente sämtlich als Fiktion klassifiziert sind – eine Liste, die sich scheinbar beliebig um alle weiteren Themen und Elemente des Textes erweitern ließe. Sowohl für die Verlagsangaben auf dem Titelblatt als auch für bibliographische Angaben im Paratext ist also festzuhalten, dass diese – obwohl sie zunächst als externe und ›rein informative‹ Paratexte erscheinen – in das für den Paratext insgesamt charakteristische Spiel zwischen Exteriorität und Interiorität einbezogen werden können. Dieses Spiel steht dabei mitunter in engem Zusammenhang zu historischen Umständen, die die Legitimität von fiktionalen Texten betreffen oder deren Problematik vor dem Hintergrund traumatischer historischer Ereignisse aufgreifen. Ein weiteres Mal ist also ein paratextuelles Spiel mit den Grenzen von eigentlichem Text und seiner ›Umgebung‹ auch bei vermeintlich ›unverdächtigen‹ paratextuellen Elementen am Werk.173 Fiktionssignale können dabei an Stellen erscheinen, wo sie ohne Kenntnis der historischen Publikationsumstände und Rahmenbedingungen nicht vermutet werden: in der bloßen Verlags- und Ortsangabe, wenn diese beispielsweise einen erkennbar ›falschen‹ oder selbst schon fiktiven Druckort angibt. Andererseits sind explizite Fiktionsmarkierungen potentiell auch dann noch den Ambivalenzen des Paratextes unterworfen, wenn sie vollständig extern erscheinen und von einer bibliographischen Autorität stammen (oder sich jedenfalls auf diese berufen).
171 Vgl. Larsen (2010): The Selected Works of T. S. Spivet, S. 11. 172 Larsen (2010): The Selected Works of T. S. Spivet, S. 388. 173 Ein weiteres, vergleichsweise unauffälliges und ›dezentes‹ Beispiel für ein Ausgreifen des Textes auf die Verlagsangabe lässt sich in Danielewskis House of Leaves finden. Dort ist der Name des Verlags, Random House, Inc. leicht abgewandelt: Das Wort ›House‹, das im Titel steht und auch in der Verlagsangabe vorkommt, ist in letzterer blau gedruckt. Das Haus, das im thematischen Zentrum des Textes steht, ist also auch in der Verlagsangabe hervorgehoben: »a fact which hints to the reader, that the publishers have allowed Danielewski to enter what is otherwise a domain exclusively reserved for the technical information pertaining to the actual, physical book itself and not to its content«; Graulund (2006): »Text and paratext in Mark Z. Danielewski’s House of Leaves«, S. 381.
4 Vorworte und andere ›Liminarien‹ Das Vorwort ist vielleicht das zentrale paratextuelle Element in der Geschichte des Romans – und zugleich eines der problematischsten. Es ist, wie noch zu zeigen ist, auf das Engste mit der Geschichte des Genres verbunden und immer wieder mit der Frage nach Fiktion oder Nicht-Fiktion. Dabei hat das Vorwort selbst eine sehr unterschiedliche Konjunktur. In der Tat lassen sich im 18. Jahrhundert kaum Romane finden, die ohne ein Vorwort auskommen – eine Tatsache, die selbst in Vorworten kommentiert wurde, etwa von Prévost: Un excès de longueur dans une Préface seroit un défaut, comme c’en est un d’affecter ridiculement de commencer un Ouvrage sans Préface & sans Introduction.1
Wie die übermäßige Länge, so sei auch die Abwesenheit eines Vorwortes ein Fehler, der dem Vorwort nicht das adäquate Gewicht beimisst – welches dies jedoch ist, bleibt unklar (der zitierte Satz steht am Ende eines 16-seitigen Vorwortes) und muss es bleiben. Denn nicht nur was den Umfang angeht, ist das Vorwort immer schon ein hochgradig selbstreflexives und potentiell selbstironisches Genre, das immer wieder seine eigene Berechtigung diskutiert. So erneut Prévost, der davon spricht, dass er sich nicht in den Kreis derjenigen einreihen wolle, »qui semblent craindre d’offenser le Public, ou du moins de l’importuner par une Préface«2. Eben diese behauptete ablehnende Haltung des Publikums gegenüber Vorworten findet sich immer wieder in Vor- oder Nachworten angesprochen –mitunter wird sie gar als Grund dafür genannt, dass nicht ein Vorwort dem Text vorangestellt, sondern ein Nachwort am Ende platziert ist: Mes Lecteurs, surtout les Dames ennemies déclarées des Préfaces, & de tout ce qui en tient lieu, au comble de leurs vœux Littéraires de n’en point avoir trouvé à la tête de cet Ouvrage, s’étoient sans doute imaginées que je leur en faisois grâce, & peut-être déja m’en sçavoient beaucoup de gré. Quelque mortifiant qu’il soit pour moi de ne pouvoir me conserver cette bienveillance, je ne puis me résoudre à déroger si fort au titre d’Auteur, que d’en négliger la marque la plus caractéristique: je brûle de me décorer de ce beau titre; comment voudroit-on que je renonçasse à en arborer l’étendard?3
Béliard hat seinem Text sogar den Untertitel »Ouvrage orné d’un post-face« beige geben und hebt so bereits auf dem Titelblatt diese Neuheit hervor.4 Ganz könne er seinem Publikum seine Einrede aber nicht ersparen, er stellt sie zwar an das Ende des Buches, im Grunde aber ist die Form dieses Paratextes (abgesehen von der Platzierung
1 Prévost* (1731): Le philosophe anglois (Cleveland), S. [xv]. 2 Prévost* (1731): Le philosophe anglois (Cleveland), S. [i]. 3 Béliard* (1751): Rézéda, Bd. 2, S. i f. 4 Das Nachwort – zumindest das auktoriale und originale – ist in der Tat eine Seltenheit geblieben: »la postface originale est une rareté«; Genette (1987): Seuils, S. 220. https://doi.org/10.1515/9783110578942-004
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im Buch) identisch mit der eines Vorwortes. Dies erklärt zum Teil bereits, warum hier Vorworte gemeinsam mit anderen ›Liminarien‹ (ein alternativer Neologismus wäre vielleicht ›Nebenworte‹) thematisiert werden sollen. Für die Unterscheidung von Vorund Nachwort verfährt auch Genette auf diese Art: Je nommerai ici préface, par généralisation du terme le plus fréquemment employé en français, toute espèce de texte liminaire (préliminaire ou postliminaire) […] consistant en un discours produit à propos du texte qui suit ou qui précède. La ›postface‹ serait donc considérée comme une variété de préface, dont les traits spécifiques, incontestables, me paraissent moins importants que ceux qu’elle partage avec le type général.5
Den ›eigentlichen‹ Text kommentieren können selbstverständlich nicht nur Vorworte, sondern auch Nachworte und darüber hinaus können auch Widmungen oder Klappentexte Funktionen des Vorwortes übernehmen, wenn etwa in einer Widmung Reflexionen über das Werk angestellt werden oder ein Klappentext eine Bemerkung des Autors zum Werk wiedergibt. Alle diese Elemente des Peritextes sind hier potentiell relevant, unabhängig davon, wo sie platziert sind (vor oder nach dem Text, im Buchblock oder auf dem Umschlag), wie, beziehungsweise ob sie überschrieben sind (Vorwort, Vorrede, Prolog etc.) und welche Funktionen sie eventuell noch übernehmen (Widmungsadresse, werbende Funktion etc.). Um zu Béliards Nachwort zurückzukehren: Bereits hier sind – neben dem aufgerufenen Verweis auf den Geschmack des (vornehmlich weiblichen) Publikums – zentrale Aspekte des Vorwortes angesprochen, die jedoch auf eine sehr spezifische Romanpoetik verweisen und nicht unbedingt im Einklang mit großen Teilen der Romanliteratur insbesondere der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts stehen. Das Vorwort (oder in diesem Fall: Nachwort) wird als eine der zentralen ›Marken‹ der Autorfunktion genannt. Und Béliard kritisiert seine Vorgänger nicht nur dafür, dass sie diese Marke zu häufig vor dem eigentlichen Werk errichten, sondern insbesondere dafür, dass sie sich hinter einer anderen Funktion verstecken: Un autre usage […] plus ridicule encore, s’est emparé de la plûpart des Auteurs. Fondés sur cette bizare idée qu’on s’intéresse davantage à une histoire qu’on croit véritable, qu’à une de pure invention, une partie de ceux qui en ont faites, se sont mis l’esprit à la torture, pour inventer quelque circonstance capable de persuader, que l’ouvrage qu’ils s’étoient bien donné de la peine à faire n’étoit pas d’eux; […] ils se défendent d’avoir de l’esprit & de l’invention; s’ils méprisent ces dons, pourquoi les cultivent-ils? Nous ne les méprisons pas; mais nous voulons assurer le succès
5 Genette (1987): Seuils, S. 150. Die hier von Genette nur angedeutete Frage nach der Überschrift oder Benennung von Vorworten, mögen sie im Einzelfall als »Vorwort«, »Prolog«, »Einleitung«, »Vorrede« o. ä. bezeichnet sein, spielt an dieser Stelle keine Rolle. Zu einem Überblick über die Taxonomie in deutsch-, englisch- und französischsprachigen Texten vgl. Tötösy de Zepetnek (2010): »Towards a Taxonomy of the Preface«.
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de notre Ouvrage, s’écrient-ils, persuadés d’ailleurs que la vérité percera toujours. Quelle singularité! employer des détours qu’on connoît inutiles & auxquels on seroit fâché qu’on ajoutât foi.6
Die Argumentation läuft also im Kern auf Folgendes hinaus: Es mag sein, dass ein Teil des Publikums Texte nicht goutiert, die als Romane zu erkennen sind – und eben deswegen verzichten viele seiner Kollegen darauf, sich zur Autorschaft zu bekennen und ihre Erfindungen für sich zu reklamieren, sondern zerbrechen sich stattdessen den Kopf darüber, wie sie im Vorwort glaubhaft machen können, der Text stamme gar nicht von ihnen. Dabei behaupten sie jedoch weiter, dass die Wahrheit (dass das im Text Geschilderte von ihnen erfunden wurde) ohnehin stets durchschaubar bleibe. Béliard mokiert sich genau hierüber: Warum einen Umweg wählen, von dem man wisse, dass er unnütz ist? Für Béliard ist dies ein weiterer Vorteil, den das Nachwort gegenüber dem Vorwort genießt: »Les seules Post-Faces sont donc en droit de concilier tous ces différens motifs. Ces discours se trouvant à la fin […] on jouit de tous les avantages de son génie, sans choquer le sentiment des esprits prévenus contre les ouvrages d’invention.«7 Zusammengefasst argumentiert Béliard also, dass tatsächlich Vorurteile gegen den Roman und allgemein gegen »ouvrages d’invention« bestehen und viele Autoren deshalb darauf verfallen, ihre Funktion als Autor (und Erfinder) in Vorworten herunterzuspielen. So bringen sie sich jedoch zugleich um die ihnen gebührende Rolle als Autor und Urheber. Dabei liege die Lösung so nahe: Im Nachwort könne man sich getrost als Autor der Fiktion bezeichnen, denn das voreingenommene Publikum habe den Text dann ja bereits gelesen – und sei hoffentlich von seinen Vorzügen überzeugt worden, gleichsam bevor der Paratext die Bedenken gegenüber dem Roman aufkommen lassen kann. Freilich darf man bezweifeln, dass Béliards Argument stichhaltig ist, denn es ist keineswegs gesagt, dass ein Nachwort nach dem ›eigentlichen‹ Text gelesen wird, ein Vorwort aber davor. Kennzeichen und Leistung des Peritextes ist es gerade, diese Art von Linearität innerhalb des Buches aufzuheben und unterschiedliche Zugänge gleichzeitig anzubieten.8 Auf Stichhaltigkeit kommt es Béliard in seiner spielerischen, mit der angeblichen Ablehnung von Vorworten seitens des Publikums und der zugleich selbstbewussten und versteckten Reklamierung von Autorschaft kokettierenden Auseinandersetzung vermutlich auch gar nicht an. Béliard illustriert mit der vermeintlich nachträglichen Offenlegung seiner Autorschaft in der Mitte des 18. Jahrhunderts einen Zustand, der das gesamte Jahrhundert hindurch anhalten sollte: Einerseits eine gewisse ›Fiktionsfeindlichkeit‹, andererseits
6 Béliard* (1751): Rézéda, Bd. 2, S. xii f. 7 Béliard* (1751): Rézéda, Bd. 2, S. xiv f. 8 Bunia versteht unter dem Begriff ›Peritext‹ dasjenige, »was mittels typographischer Dispositive die Linearität eines Buches sprengt«; Bunia (2005): »Die Stimme der Typographie«, S. 379. Vgl. auch Dembeck (2007): Texte rahmen, S. 20.
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aber ein explodierender Roman-Markt und, damit einhergehend, eine Vorworttradition, bei der es zentral um die Frage nach Fiktion oder Nicht-Fiktion geht. In der Tat ist das Vorwort im 18. Jahrhundert als fester Bestandteil des Romans anzusehen und es finden sich kaum Romane, denen kein Vorwort vorangestellt ist (Prévost kann in diesem Sinne zu Recht behaupten, es sei affektiert und lächerlich, einen Roman ohne Vorwort publizieren zu wollen). Und dennoch ist Béliard eine Ausnahmeerscheinung, denn genau das, was er an seinen Autorenkollegen kritisiert, dass sie nämlich im Vorwort behaupten, gar nicht Autoren zu sein, ist in der Tat eine Standardform des Vorworts, die sich bis ins 19. Jahrhundert hinein größter Beliebtheit erfreut. Die Frage, die Béliard nahelegt, stellt sich damit erst recht: Warum wird so häufig eine Herausgeberfiktion oder ein ähnliches Verfahren eingeführt, das die Verantwortung des Autors negiert, wenn doch zugleich behauptet wird, dass diese ›Finten‹ allgemein durchschaut werden? Wenn letzteres der Fall ist, warum sind diese Verfahren dann nicht, wie Béliard glaubt, überflüssig? Um diese Frage zu beantworten, wird es nötig sein, einerseits ein etwas breiteres historisches Fundament einzubeziehen und andererseits zentrale Ergebnisse der Paratextforschung zu Vorworten zu betrachten. Das historische Fundament kann dabei freilich nur in Ansätzen betrachtet werden, da insbesondere bei den oft umfangreichen Vorworten eine detailliertere Betrachtung größerer Textkorpora kaum möglich ist. Es werden also – wie in den anderen Kapiteln dieser Untersuchung auch – ›Schlaglichter‹ auf eine historische Entwicklung geworfen. Auf die ›fiktionsfeindliche‹ Tendenz im 18. Jahrhundert ist bereits an diversen Stellen hingewiesen worden, sie bildet selbstverständlich auch für das Vorwort einen der zentralen Argumentationshintergründe. Die Strategien sind dabei selbstverständlich vielfältig, stets jedoch liegt ihnen, wie Zawisza festhält, die Argumentation zugrunde, dass wenn 1. Fiktion moralisch und ästhetisch verwerflich ist und 2. der (folgende) Roman als Fiktion anzusehen ist, der (folgende) Roman moralisch und ästhetisch verwerflich sei. Nach diesem Enthymem lassen sich Zawisza zufolge zwei große Gruppen der rhetorischen Argumentationsstrategien in Vorworten ausmachen, je nachdem, ob sie entweder den Haupt- (1.) oder den Nebensatz (2.) in Frage stellen.9 Es finden sich sowohl Vorworte, die belegen wollen, dass Fiktionen keineswegs moralisch oder ästhetisch verwerflich seien, als auch solche, die sich vielmehr darauf verlegen, dem nachfolgenden Text den Status als Fiktion abzusprechen. Insbesondere die zweite Strategie ist in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts verbreitet anzutreffen. Während Béliard gegen Mitte des Jahrhunderts bereits auf die Qualität seines Romans abstellen kann – auch wenn er sich dies erst im Nachwort erlaubt –, so finden sich zuvor unzählige Vorworte, die abstreiten, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Fiktion handelt, indem sie beispielsweise eine Herausgeberinstanz einführen und damit indirekt den Text als authentischen ausweisen.
9 Vgl. Zawisza (1995): »Pour une Lecture rhétorique des préfaces«, S. 163–166; Zawisza (1993): »La République des Lettres ou l’empire de la rhétorique«, S. 126 f.
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Diese Verfahren stellen einerseits eine Herausforderung für die Fiktionstheorie dar, wie gleich zu zeigen sein wird, andererseits stellen sie aus einer historischen Perspektive die Frage danach, ob – und gegebenenfalls wie – sie als Fiktionssignale wirksam gewesen sein könnten. Letztere Frage lässt sich letztlich darauf reduzieren, ob zeitgenössische Leser den Herausgeberfiktionen ›geglaubt‹ haben. Eine Antwort auf diese Frage formulierte May bereits 1963: Il va sans dire que la plupart des lecteurs n’avaient pas la naïveté de prendre au pied de la lettre de pareilles prétentions à l’authenticité absolue. Mais il est indubitable que le public de 1730 et même celui de 1761 était d’une crédulité monumentale, comparée au scepticisme universel de celui de »l’ère du soupçon« qui est la nôtre aujourd’hui.10
Diese Bemerkung allerdings ist merkwürdig zweischneidig: Einerseits habe der größere Teil der Leser den Vorworten nicht getraut, andererseits aber sei den Lesern eine, nach heutigen Maßstäben, eklatante Gutgläubigkeit eigen. Die bereits mehrfach angesprochene zeitgenössische Thematisierung eines ›skeptischen‹ Lesens macht es fraglich, ob sich wirklich eine gutgläubige Zeitgenossenschaft dem heutigen, skeptischen Leser entgegenstellen lässt. Mays Beschreibung ist daher mitunter scharf kritisiert worden: »Personne de nos jours n’est plus de cet avis«11, hält etwa Herman gegen May fest. Letztlich ist es weniger Mays Antwort als die Frage selbst, die Probleme bereitet. Eine ernsthafte Untersuchung der ›Gutgläubigkeit‹ der Zeitgenossen gegenüber Paratexten müsste sich auf zeitgenössische Rezeptionszeugnisse stützen – die in den allermeisten Fällen nicht vorliegen. Statt über die zeitgenössische Rezeption zu spekulieren, ist es daher eher angezeigt, die Paratexte und Texte selbst zu untersuchen und dabei nach Antworten auf jene Frage zu suchen, die bereits Béliard unterschwellig stellt und die in der ambivalenten Antwort Mays aufscheint: Wie lässt sich das lange Fortbestehen von Herausgeberfiktionen erklären, wenn doch davon auszugehen ist, dass kaum jemand diese ernst genommen haben dürfte? Dabei ist zunächst die Stellung der Herausgeberfiktion im Verhältnis zu anderen Vorwortdiskursen zu betrachten. Genettes Typologie der Vorworte ist ausgesprochen komplex und nur in Teilen für die hier verfolgte Argumentation relevant. Grundsätzlich unterteilt er Vorworte nach den Kategorien rôle und régime, wobei erstere die Frage betrifft, wem das Vorwort zuzuschreiben sei (einem Autor, einem Dritten oder einer Figur/Person, die im Text eine Rolle spielt). Die zweite Unterscheidung (régime) betrifft die Frage nach der Beschreibung dieser Instanzen als real, fiktiv oder apokryph. ›Apokryph‹ steht hier dafür, dass ein Vorwort fälschlicherweise einer realen Person zugeschrieben wird, während ›fiktiv‹ bedeutet, dass das Vorwort einer fiktiven Figur
10 May (1963): Le dilemme du roman au XVIIIe siècle, S. 144. 11 Herman (1997): »Quand le texte se dé-livre«, S. 87.
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zugeschrieben wird: »est fictive un préface attribué à une personne imaginaire, est apocryphe une préface attribuée faussement à une personne réelle.«12 Genette kommt so zu einer Kombinationstabelle mit neun möglichen Formen, wobei jedoch eine zehnte dadurch entsteht, dass ein Vorwort eines realen Autors entweder den nachfolgenden Text als eigenes Produkt anerkennen kann (préface assomptive) oder aber im Gegenteil die Verantwortung dafür leugnen kann (préface dénégative):13
REGIME
ROLE
authentique fictif apocryphe
auctorial A1 assomptive
D G
A2 dénégative
allographe
actorial
B E H
C F I
In dieser Tabelle (die zwei Tabellen von Genette kombiniert)14 sind diejenigen Kombinationen, die Genette als fiktionale Vorworte bezeichnet,15 kursiv gestellt. Sieht man einmal von den apokryphen Zuschreibungen ab, scheint sich zunächst ein klares Bild zu ergeben: Spricht eine authentische (i.e. reale) Person (Genettes Felder A, B, C), so liegt ein nicht-fiktionales Vorwort vor, spricht hingegen eine fiktive Figur (D, E, F), so ist das Vorwort fiktional. Nur die eine Spalte, das ›denegative‹ Vorwort, weicht von dieser Einteilung ab. Gemeint sind mit diesem Begriff Vorworte, die zwar dem realen Autor zugeschrieben werden können, in denen dieser jedoch die Verantwortung für den Text abstreitet – in der Regel, indem er eine Manuskript- oder Herausgeberfiktion einführt, die erklärt, dass der Text nicht von ihm stamme, sondern lediglich von ihm zugänglich gemacht werde. Diese Kategorie steht damit in gewisser Hinsicht ›quer‹ zur Fiktionstheorie und ist doch (oder gerade deshalb) eine der zentralen Entwicklungen im Roman-Paratext des 18. Jahrhunderts. Genette hält zunächst fest: On voit […] pourquoi j’ai partagé la case A d’une frontière […]: cette disposition veut manifester combien la préface dénégative, quoique authentique, penche vers la fiction (par sa dénégation fictionnelle du texte), et aussi vers l’allographie, qu’elle simule en prétendant, tout aussi fictionnellement, n’être pas de la main de l’auteur du texte.16
12 Genette (1987): Seuils, S. 166. 13 Vgl. Genette (1987): Seuils, S. 166–174. 14 Vgl. Genette (1987): Seuils, S. 169, 172. 15 Vgl. Genette (1987): Seuils, S. 182. Auf die Unterscheidung zwischen fiktiven und apokryphen Sprechern, deren Tragweite Genette an eben dieser Stelle problematisiert, kommt es hier nicht an. 16 Genette (1987): Seuils, S. 174.
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Das denegative auktoriale Vorwort stellt also in gewisser Hinsicht eine Zwischen position dar: Es ist dem allographen Vorwort vergleichbar, weil es ›so tut, als ob‹ es von einer dritten Person stammt, die nicht für die Textgenese verantwortlich ist. Genette hält zudem fest, dass dies in graduell abgestuften Varianten vorkommen könne: Wenn etwa ein anonymer Text mit einem Herausgebervorwort versehen ist, so falle die Diskrepanz zwischen Herausgeber und Autor weniger ins Auge, als wenn auf dem Titelblatt ein (realer) Autorname der Zuschreibung des Textes an eine Erzählinstanz innerhalb der Fiktion widerspricht.17 Ganz ähnlich, aber darüber hinausgehend, hält auch Oura fest, dass es bei der Herausgeberfiktion Abstufungen gebe. Grundsätzlich sei die Herausgeberfiktion als eine Art »semi-fiction«18 anzusehen, wenn ein namentlich identifizierter Autor sich die Rolle eines Herausgebers zuschreibt; man habe es in diesem Fall mit einem als Herausgeber ›verkleideten‹19 Autor zu tun. Wenn jedoch ein Herausgebervorwort einer Person zugeschrieben wird, die nicht mit dem Autor identisch und dies entweder durch die Nichtidentität der Namen oder durch andere Hinweise ersichtlich ist, erlange das Vorwort einen Status, der »plus franchement fictif«20 sei, denn der reale Autor sei in dieser Form der Herausgeberfiktion tatsächlich abwesend und der Herausgeber damit ›näher an‹ der fiktiven Welt des Textes: on peut dire que, dans le premier cas, l’»éditeur« est plus proche de l’auteur, du monde réel où celui-ci vit et écrit, et que, dans le second cas, il est plus proche du narrateur […], de l’univers de la fiction qu’habite ce dernier.21
Was hier als Frage der Nähe verhandelt ist, betrifft den Status des Paratextes: Ist dieser selbst schon als Teil der Fiktion anzusehen, oder aber ist er noch Teil der realen Welt? Es wird zu zeigen sein, dass gerade diese Zwischenposition, die die Herausgeberfiktion auszeichnet, sie außerordentlich produktiv hat werden lassen. Zunächst aber sei darauf verwiesen, dass genau diese Frage in beinahe allen Beiträgen, die sich mit der Herausgeberfiktion beschäftigen, eine zentrale Rolle spielt, dass jedoch eine begriffliche Vielfalt herrscht, die durchaus für Verwirrung sorgen kann. Spricht beispielsweise Picard in Bezug auf den Briefroman scheinbar synonym vom ›angeblichen‹ oder vom ›fiktiven‹ Herausgeber,22 so findet sich etwa bei Ansorge bereits eine Differenzierung, wenn er zwischen einer »Herausgeber-Rolle« und einer »Herausgeber-Figur« unterscheidet. Ansorge definiert den Unterschied unter Rückgriff auf Hamburgers Unter-
17 Dies ist, streng genommen, freilich keine Gradierung, sondern, wie oben dargestellt, eine Frage der ›Offensichtlichkeit‹ oder ›Erkennbarkeit‹ (siehe S. 43). 18 Oura (1987): »Roman journal et mise en scène ›éditoriale‹«, S. 7. 19 »l’auteur ›se déguise‹ […] en éditeur«; Oura (1987): »Roman journal et mise en scène ›éditoriale‹«, S. 5. 20 Oura (1987): »Roman journal et mise en scène ›éditoriale‹«, S. 7. 21 Oura (1987): »Roman journal et mise en scène ›éditoriale‹«, S. 7. 22 Vgl. Picard (1971): Die Illusion der Wirklichkeit im Briefroman des achtzehnten Jahrhunderts, S. 15.
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scheidung fingiert/fiktiv folgendermaßen:23 »Die Herausgeber-Rolle betrachten wir als unecht, die Herausgeber-Figur als gedichtet, und damit als echt in einer nichtwirklichen Welt, nämlich der des Romans.«24 In Anlehnung an Ansorge wiederum unterscheidet Wirth zwischen ›fingiertem‹ und ›fiktivem‹ Herausgeber: Der fingierte Herausgeber befindet sich in relativer Nähe zum wirklichen Schriftsteller – hat aber durch die negative Geste auktorialer Verneinung den Bruch mit der Idee eines ›genuinen Erzeugers‹ bereits vollzogen. Die fiktive Herausgeber-Figur steht in relativer Nähe zu der Instanz des Erzählers […]. So betrachtet stellen fingierte und fiktive Herausgeberschaft Modulationen des Bruchs zwischen wirklichem Schriftsteller und fiktivem Sprecher dar.25
Zeitgleich kommt Takeda zu einem ähnlichen Ergebnis, greift dabei allerdings auf eine noch einmal andere Terminologie zurück und führt den Begriff des ›fiktionalen Herausgebers‹ ein: Mit der Bezeichnung ›fiktionaler Herausgeber‹ möchte die vorliegende Studie sich bewusst auf einen noch anspruchsvolleren Charakter eines solchen Herausgebers beziehen, der im Verhältnis zu seinem Leser durchaus real sein will.26
»Fiktionaler Herausgeber« soll dabei ein »leserorientiertes Attribut« 27 sein, das jedoch im Grunde beschreibt, was bereits bei Genette angedeutet ist. So könne »die Genese des fiktionalen Herausgebers als eine Bewegung beschrieben werden, die in Genette’schen Termini von ›verneinenden auktorialen‹ zu ›fiktiven allographen‹ Vorworten führt.«28 Ungeachtet der terminologischen Vielfalt scheint weitgehend Einigkeit darüber zu herrschen, dass sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts eine Entwicklung beobachten lässt, in der das Herausgebervorwort immer enger mit dem ›eigentlichen‹ Text verwoben wird und selbst Teil der Fiktion wird: »The editorial fiction increasingly becomes part of the fictional text itself«29. Weber unterscheidet »selbständige« Vorworte und solche, die mit der dargestellten Welt des Textes verwoben sind, die »gestaltet« sind.30 Für die Funktion als Fiktionssignal und -markierung hat dies signifikante Folgen, die an einigen Beispielen aufgezeigt werden sollen. Die Herausgeberfiktion erfreut sich mit Beginn des 18. Jahrhunderts immer größerer Beliebtheit (obwohl sie selbstverständlich bereits deutlich zuvor immer wieder
23 Vgl. Hamburger (1968): Die Logik der Dichtung, S. 53–56, 245–251. 24 Ansorge (1969): Art und Funktion der Vorrede im Roman, S. 75. 25 Wirth (2008): Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion, S. 187. 26 Takeda (2008): Die Erfindung des Anderen, S. 15. 27 Takeda (2008): Die Erfindung des Anderen, S. 15. 28 Takeda (2008): Die Erfindung des Anderen, S. 43 f. 29 Konrad (2015): »›The Poet, he nothing affirms, and therefore never lieth‹?«, S. 4. 30 Weber (1974): Die poetologische Selbstreflexion im deutschen Roman des 18. Jahrhunderts, S. 20.
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egegnet) und löst damit andere Versicherungen, die behaupten, bei dem nachfolb genden Text handele es sich um eine wahre Geschichte, zunehmend ab. Diese hatte es bereits zuvor in unterschiedlichen Kontexten immer wieder gegeben. In diesen Fällen muss jedoch ein Autor direkt für die Wahrheit des Dargestellten ›bürgen‹ – und Behn etwa unterzeichnet mit ihrem eigenen Namen die Versicherung: »What I have mention’d I have taken care shou’d be Truth«31. Am Anfang des ›eigentlichen‹ Textes wird dies noch einmal verstärkt: I Do not pretend […] to entertain my Reader with the Adventures of a feign’d Hero, […] nor in relating the Truth, design to adorn it with any Accidents, but such as arriv’d in earnest to him […]. / I was my self an Eye-Witness, to a great part, of what you will find here set down; and what I cou’d not be Witness of, I receiv’d from the Mouth of the Chief-Actor in this History, the Hero himself […].32
Diese Art der Faktizitätsmarkierung durch Zeugenschaft gerät jedoch aus naheliegenden Gründen schnell an Grenzen, denn sie erlaubt, will sie plausibel bleiben, einerseits nur eine recht geringe Flexibilität in der Erzählhaltung (so ist beispielsweise eine homodiegetische Erzählung einer Figur, die nicht mit dem Autor identisch ist, ausgeschlossen), andererseits muss die Bindung an die Autobiographie des Autors zumindest annähernd plausibel bleiben, damit dieser als ›Zeuge‹ überhaupt in Frage kommt: En usant de la fiction du narrateur-témoin, le romancier est structurellement contraint d’authentifier son mensonge fictionnel par un mensonge autobiographique, surtout lorsque, comme Aphra Behn, il signe ses œuvres de son propre nom.33
Während also ein Autor-Erzähler, der versucht, seinem Text durch Augenzeugenschaft Authentizität zu verleihen, notgedrungen seine eigene Stellung zu dem im Text Geschilderten plausibel machen muss, ist ein Herausgeber davon weitgehend entbunden. Er muss lediglich darauf verweisen, dass der Text (als Manuskript) unabhängig von ihm existiert. Dies erlaubt beispielsweise homodiegetische Texte, bei denen der Autor nicht mit dem Erzähler identisch ist, oder auch Brief- und Tagebuchromane. Eines der zentralen Beispiele für eine Herausgeberfiktion, die sich mit Ansorge der Tradition des fingierten Herausgebers zuordnen ließe, ist Defoes Robinson Crusoe. Betrachtet man jedoch alle drei Bände und die jeweiligen Vorworte,34 so lässt sich eine deutliche Verschiebung beobachten. Nicht nur ist ein Wechsel festzustellen von denegativen auktorialen Vorworten (beziehungsweise allographen Herausgebervor-
31 Behn (1688): Oroonoko: Or, The Royal Slave. A True History, S. [x] f. 32 Behn (1688): Oroonoko: Or, The Royal Slave. A True History, S. 1 f. 33 Millet (2005): »Figures du déni de fictionnalité«, S. 374. 34 ›Robinson Crusoe‹ soll hier als eine Art Obertitel alle drei Bände umfassen, die im Einzelnen mit den Kurztiteln Life and Adventures, Farther Adventures und Serious Reflections bezeichnet werden. Die jeweiligen Langtitel finden sich in der Bibliographie.
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worten) im ersten und zweiten Band und einem aktorialen im dritten, darüber hinaus werden die Vorworte auch immer umfangreicher und ihr Faktizitätsanspruch immer verworrener. In diesem Sinne ließe sich von einer Inflation des Vorwortes in den drei Bänden sprechen, die auch den Wahrheitsanspruch betrifft, den diese zu vermitteln suchen: Je nachdrücklicher das Vorwort diesen behauptet, desto weniger ›Wert‹ kann ihm beigemessen werden. Das Vorwort zum ersten Teil von Robinson Crusoe ist kurz genug, um in voller Länge analysiert zu werden. Es beginnt mit der Rechtfertigung der Publikation des Textes durch einen anonymen Herausgeber: If ever the Story of any private Man’s Adventures in the World were worth making Publick, and were acceptable when Publish’d, the Editor of this Account thinks this will be so. / The Wonders of this Man’s Life exceed all that (he thinks) is to be found extant; the Life of one Man being scarce capable of a greater Variety. / The Story is told with Modesty, with Seriousness, and with a religious Application of Events to the Uses to which wise Men always ap[p]ly them (viz.) to the Instruction of others by this Example, and to justify and honour the Wisdom of Providence in all the Variety of our Circumstances, let them happen how they will.35
Die Bezeichnung des folgenden Textes als »Story« ist zunächst unproblematisch mit Blick auf die mögliche Fiktionalität des Textes: Zum einen ist die Verwendungsweise als ›Lebensgeschichte‹ bis heute geläufig, zum anderen kann mit diesem Begriff sowohl eine fiktive Handlung als auch eine reale belegt werden, wie das Oxford English Dictionary angibt. Bezeichnend ist dennoch eine Akzentverschiebung: So deuten die verschiedenen Belegstellen, die das OED zu den Begriffen »story« und »history« angibt,36 darauf hin, dass sie sich ab dem 16. Jahrhundert auseinanderentwickeln, sich aber dennoch weiterhin überschneiden. ›History‹ beginnt sich stärker von der – potentiell erfundenen – ›story‹ abzugrenzen als die überprüfbare Geschichte von öffentlichen Geschehnissen, während ›story‹ den Bezug auf die öffentliche Sphäre langsam ablegt. Von ›history‹ im Sinne einer Darstellung wichtiger, öffentlicher Ereignisse setzt sich die Verwendung im Vorwort zu Life and Adventures explizit ab, indem sie darauf insistiert, dass es sich um die Geschichte eines Privatmanns handle. Diese sei allerdings, so der »Editor« (auf den sich das »he thinks« inhaltlich wohl beziehen muss) wegen ihrer Einzigartigkeit der Publikation wert. Außerdem zeichne sich die »Story« auch durch ihre Darstellungsqualität aus: »Modesty«, »Seriousness« und vor allem die »religious Application of Events« zeichnen den Erzähler als weisen Geschichtenerzähler aus. Die Schilderung der »Variety« seines Lebens soll letztendlich eine »Instruction« des Lesers bewirken, dem Ereignisse nicht einfach aufgrund ihrer Unterhaltsamkeit vorgeführt werden, sondern der sie zugleich als Beispiel vorgesetzt bekommt, das instruieren
35 Defoe* (1719): Life and Adventures, S. [i] f. 36 Vgl. »history«, in: Oxford English Dictionary, sowie »story«, in: Oxford English Dictionary, .
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will. Die »Variety« der Ereignisse wird in gewisser Weise ›eingefangen‹ von der »Providence«, die alle Ereignisse – »let them happen how they will« – letztlich in den Rahmen göttlicher Vorsehung einfügt. Hier ist zugleich das zentrale Problem von fiktionalen Erzählungen angesprochen, die vor puritanischem Hintergrund gerade deshalb suspekt sind, weil in der realen Welt bereits eine Ordnung gilt, die allen Ereignissen einen Sinn verleiht: For the Puritanism of the late seventeenth century, fiction simply falsified the detailed world of fact and event – and thereby obscured the clear message that God wrote for men in ›real‹ happenings.37
Erfindung und Fiktion sind gerade deshalb problematisch, weil sie – wenn auch mit didaktischer Intention – eine Welt entwerfen, in der die göttliche Vorsehung gilt, und sich damit gleichsam anmaßen, zu entscheiden, was göttliche Vorsehung ist und was nicht. Die Erschaffung von Welten, in denen die göttliche Vorsehung gilt, ist somit ein Skandal. Der Skandal ist auch deswegen besonders interessant, weil eine Polemik erhalten ist, die noch im Jahr der Erstausgabe von Life and Adventures erschien. Charles Gildon griff darin den Titel Defoes auf und wendete ihn gegen seinen Schöpfer: The Life and Strange Surprizing Adventures of Mr. D---- De F-- heißt seine Streitschrift, der ein Dramolett vorangestellt ist, in dem Gildon Robinson und Friday des Nachts in London auf Defoe treffen lässt, wo die beiden sich bei ihrem Schöpfer über den Roman beklagen.38 Gildon kritisiert dabei explizit die Providenz-Thematik, die im Vorwort zu Robinson Crusoe aufgegriffen wird. Der Erschaffer einer fiktiven Welt nimmt im Sinne der Providenz-Vorstellung letztlich die Position des Schöpfers ein. Die Rede im Vorwort von einem ›Example‹ ist daher auch vor dem Hintergrund der göttlichen Vorsehung zu bewerten. Die Ereignisse bilden ein Beispiel, das – wie detailliert und variantenreich auch immer – letztlich das Wirken Gottes nachzeichnet und allgemeingültig ist. Dies ist zugleich ein Versuch, die beschriebenen Handlungen und Ereignisse aus der verwerflichen Sphäre der (puren) Erfindung in einen Bereich zu verschieben, in dem Erfindung durch den Bezug auf eine göttliche Wahrheit gerechtfertigt ist: These actions […] are all of a piece in a world where secular activity is meaningful, where history (even the history of every man’s trivialities) is somehow the record of divine activity. […] The actions he [sc. Defoe] ascribed to Crusoe were essentially true because they corresponded to human actions standardized to a typical pattern.39
37 Hunter (1966): The Reluctant Pilgrim, S. 115. 38 Vgl. Gildon* ([1719]): The Life and Strange Surprizing Adventures of Mr. D---- de F--. 39 Hunter (1966): The Reluctant Pilgrim, S. 123 f.
Vorworte und andere ›Liminarien‹
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Dass dies problematisch ist, zeigt nicht zuletzt Gildons Invektive. Einer seiner Vorwürfe an Defoe lautet: »you impiously prophane the very Name of Providence«40. Das göttliche Wirken illustrieren zu wollen ist eine Anmaßung, die sich nicht eignet, eine Erfindung zu rechtfertigen. Dennoch gesteht auch Gildon ein, dass eine allegorische oder parabolische Lesart Erfindungen prinzipiell durchaus rechtfertigen könne – etwa im Fall einer Fabel (siehe unten S. 137). Dass sich Defoe auf diese Tradition beruft, stellt Hunter deutlich heraus,41 seine Erklärung des Beispielgehalts von Robinson Crusoe übergeht dabei jedoch, dass das Vorwort zwar behauptet, dass die Ereignisse »essentially« wahr (weil in die für alle gültige göttliche Ordnung integriert) seien, jedoch explizit auch behauptet, dass sie als (historische) Tatsachen wahr seien.42 Das Vorwort nämlich fährt fort: The Editor believes the thing to be a just History of Fact; neither is there any Appearance of Fiction in it: And however thinks, because all such things are dispatch’d, that the Improvement of it, as well to the Diversion, as to the Instruction of the Reader, will be the same; and as such, he thinks, without farther Compliment to the World, he does them a great Service in the Publication.43
Zunächst ist die Form der Aussage interessant in der Weise, wie sie die Verantwortlichkeit anzunehmen scheint, letztlich aber unbestimmt bleibt. Der Herausgeber glaubt, »believes«, dass die »History«44 ein exakter Tatsachenbericht sei, ohne zu sagen, dass er dies wisse. Er ist damit ein Herausgeber, der gewissermaßen eine der zentralen Aufgaben eines Herausgebers schlicht nicht erfüllt:45 Wer, wenn nicht er, wäre in der Lage, zu überprüfen, wie es sich mit der Wahrheit im nachfolgenden Text verhält? Ein bloßes Glauben an den Realitätsgehalt der Schilderungen könnte allenfalls durch eine problematische Überlieferungsgeschichte gerechtfertigt werden – davon aber ist mit keinem Wort die Rede. Der Nachsatz zu diesem ›Glaubensbekenntnis‹ ist durch ein
40 Gildon* ([1719]): The Life and Strange Surprizing Adventures of Mr. D---- de F--, S. 33. 41 Vgl. Hunter (1966): The Reluctant Pilgrim, S. 93–124. 42 Hinzu kommt, dass, wie Hunter im Hinblick auf eine ganze Gruppe von Begriffen festhält, eine allegorische Lesart im Sprachgebrauch von Defoes Zeitgenossen nicht notwendig auf Erfindung zurückgehen musste: »But Puritans of Defoe’s time often used such terms as ›allegorical‹ to describe any story of deep dimension and didactic application, even if the story was meaningful on a literal level – even if it was a factual account«; Hunter (1966): The Reluctant Pilgrim, S. 121. Hunter nennt zudem eine zeitgenössische Verwendung der Bezeichnungen »Parabolical History, or Historicall Parable«; Hunter (1966): The Reluctant Pilgrim, S. 118, Anm. 35. Eine solche Verwendung des AllegorieBegriffes wird auch im Vorwort zum dritten Band von Robinson Crusoe begegnen, es wird sich jedoch erweisen, dass sie nicht kohärent begründet ist. 43 Defoe* (1719): Life and Adventures, S. [ii]. 44 An dieser Stelle ist der Gegensatz zum Wort »Story«, das zuvor bereits zweimal vorkommt, betont. 45 Er wäre also mit Wirth ein »unzuverlässiger Herausgeber« zu nennen, der »beim Erfüllen [s]einer Aufgabe zuwenig Sorgfalt aufwendet«; Wirth (2008): Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion, S. 177.
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Vorworte und andere ›Liminarien‹
Semikolon abgetrennt und es ist nicht eindeutig, ob der Satz »neither is there any Appearance of Fiction in it« noch bloßes Glauben des Herausgebers impliziert oder eine explizite Assertion ist. Der ambivalente Status dieser Aussagen wird jedoch durch den nächsten (grammatisch etwas verworrenen) Satzanschluss deutlicher: Der Herausgeber ›denkt‹ – wie auch immer es nun um den genauen Status des Textes bestellt ist –, dass die Unterhaltung und Belehrung des Lesers von den Fragen nach dem Realitätsgehalt letztlich unabhängig sei, denn »all such things are dispatch’d«. Die Bedeutung dieses Einschubs ist schwierig zu klären. »Things« könnte sich auf Texte beziehen, da auch der nachfolgende Text zuvor bereits als »thing« bezeichnet wurde: In diesem Sinne würde wohl die Lesart, dass solche Texte ›kursorisch‹ oder gar ›hastig‹46 gelesen werden, Sinn ergeben.47 Sollte sich »things« aber auf Fragen nach der Wahrheit beziehen, könnte man es auch so verstehen, dass diese Fragen (von wem?) schlicht abgetan werden. Eine weitere Lesart bietet sich allerdings ab der dritten Auflage an, denn in dieser (und allen folgenden Ausgaben zu Defoes Lebzeiten) wird »dispatch’d« durch »disputed«48 ersetzt. Hier bezieht sich »things« recht eindeutig auf den Wahrheitsanspruch, der vom Herausgeber schlicht als Gegenstand des Disputs ausgezeichnet wird – ohne dass er sich in diesem Disput positioniert. Allen drei Lesarten ist gemein, dass gegenüber dem Unterhaltungs- und Erbauungsanspruch Fragen nach der Faktualität des Textes hintangestellt und in einer offensichtlichen Schwebe gehalten werden.49 Diese Schwebe drückt sich, wie aus dem bisher Dargestellten deutlich geworden sein sollte, auf zwei Arten aus: Einerseits dadurch, dass ambivalente Äußerungen zum Wahrheitsgehalt des Textes eingeführt werden, andererseits aber durch die Einführung einer Vermittlungsinstanz, deren tatsächliche Funktion im Dunkeln bleibt. Weiter verschärft wird dies im Vorwort zum zweiten Teil der Abenteuer Robinson Crusoes. Auch hier tritt dem Leser ein anonymer »Editor« entgegen, der zunächst den Erfolg des ersten Bandes erwähnt und damit eine Fortsetzung rechtfertigt: The Success the former Part of this Work has met with in the World, has yet been no other than is acknowledg’d to be due to the surprising Variety of the Subject, and to the agreeable Manner of the Performance. / […] The Second Part, if the Editor’s Opinion may pass, is (contrary to the
46 Das OED gibt für das Verb »dispatch« unter anderem die folgende Bedeutung an, die eine Übertragung auf das hastige Verschlingen von Texten zulässt: »To ›dispose of‹ or ›make away with‹ (food, a meal) promptly or quickly; to eat up, consume, devour«; Oxford English Dictionary, . 47 Shinagel kommentiert die Stelle in seiner Ausgabe von Life and Adventures in diesem Sinne: »The meaning is that such works are read cursorily, and, therefore, it matters little to the entertainment or instruction of the reader if the story be truth or fiction«; Defoe (1994): Robinson Crusoe. An Authoritative Text – Contexts – Criticism, S. 3, Anm. 1. 48 Defoe* (1719): Life and Adventures (3rd edition), S. [ii]. 49 Interpretationen wie diejenige Wolfs greifen daher entschieden zu kurz, wenn sie in dem Vorwort schlicht eine »protestation of authenticity and truthfulness« zu erkennen meinen; Wolf (2008): »Is Aestetic Illusion illusion référentielle?«, S. 100.
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Usage of Second Parts,) every Way as entertaining as the First, contains as strange and surprising Incidents, and as great a Variety of them; nor is the Application less serious, or suitable; and doubtless will, to the sober, as well as ingenious Reader, be every way as profitable and diverting […].50
Erneut wird die unterhaltende und belehrende Funktion in den Vordergrund gestellt,51 es finden sich zudem weitere Hinweise auf den fiktionalen/faktualen Status des Textes. So sei dessen Erfolg gerade nicht darauf zurückzuführen, dass es sich um eine »Romance« handle: All the Endeavours of envious People to reproach it with being a Romance, to search it for Errors in Geography, Inconsistency in the Relation, and Contradictions in the Fact, have proved abortive, and as impotent as malicious.52
Diese Passage ist in mehrerlei Hinsicht aufschlussreich: Sie zeigt zum einen, dass es derlei Zuschreibungen gegeben hat, was an sich nicht selbstverständlich ist. Denn zumindest eine mögliche Interpretation des Vorworts zum ersten Teil könnte sein, dass der Status des Textes schlicht als irrelevant gegenüber seiner Funktion der Belehrung und Unterhaltung galt. Dies scheint gerade nicht der Fall gewesen zu sein, wie nicht zuletzt bereits Charles Gildons Kritik gezeigt hat. Auf diese ist hier noch einmal zurückzukommen, denn zwischen den Vorworten zu Robinson Crusoe und Gildons Kritik entsteht beinahe eine ›Zwiesprache‹. Gildons Kritik zeigt zugleich, dass die (ambivalente) Versicherung der Wahrheit nicht ohne Weiteres als eine bereits etablierte und auf ihre ironische Verneinung der Fiktionalität durchsichtige Praxis anzusehen ist. Gildon hatte einige Fehler und Widersprüche in der Erzählung klar benannt,53 der Herausgeber sieht sich offenbar jedoch nicht genötigt, auf diese einzugehen; vielmehr kanzelt er sie schlicht als »abortive« ab. Wie aber ist dies zu verstehen? Eine Erklärung wäre, dass hier erneut implizit die Fiktionalität der Erzählung angesprochen
50 Defoe* (1719): Farther Adventures, S. [i–iii]. 51 Allerdings ist sie nicht mehr ganz einfach dem Text zugeschrieben, der Leser muss zudem »ingenious« und »sober« sein, um sie zu realisieren – es scheint dies eine implizite Adresse sowohl an die ›vulgar readers‹ zu sein, die lediglich an (vermeintlich tatsächlichen) Begebenheiten interessiert sind. Sie richtet sich aber, wie die Folge des Vorwortes deutlich macht, auch an diejenigen Leser, die dem Text ›Erfundenheit‹ vorwerfen. 52 Defoe* (1719): Farther Adventures, S. [ii]. 53 Über manche innere Widersprüche scheint es zeitgenössisch bereits eine Diskussion gegeben zu haben: »I shall not take Notice of his [sc. Robinson’s] striping himself to swim on Board, and then filling his Pockets with Bisket, because that is already taken Notice of in Publick […]. I cannot pretend to dwell upon all the Absurdities of this Part of your Book, I shall only touch upon some few: And first, on his stated Account of the Good and Evil of his present Condition in Page 77, where he says, on the dark side of his Account, I have no Cloaths to cover me. But this is a downright Lie, according to his own Account, by which he brought a considerable Quantity of Linnen and Wollen from on Board the Ship«; Gildon* ([1719]): The Life and Strange Surprizing Adventures of Mr. D---- de F--, S. 15 f.
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wird: Einer solchen Fehler in der Geographie vorzuwerfen wäre in der Tat »abortive«, denn sie könnte sich schlicht darauf berufen, dass in ›ihrer Welt‹ die Geographie nun einmal so ist. Auch Charles Gildon scheint Probleme mit der Interpretation dieser Passage gehabt zu haben: Your next Triumph is, that the Reproaches of your Book as a Romance […] have prov’d Abortive (I suppose you mean ineffectual) […]; but here […] you are guilty of a great Abuse of Words: For first, they have not been impotent, since all but the very Canaille are satisfied by them […]. However, I find that these Endeavours you seem to contemn as impotent, have yet had so great a Force upon yourself, as to make you more than tacitly confess, that your Book is nothing but a Romance.54
Die Passage, auf die Gildon ferner anspielt, ist die folgende aus dem Vorwort zu Farther Adventures: The just Application of every Incident, the religious and useful Inferences drawn from every Part, are so many Testimonies to the good Design of making it publick, and must legitimate all the Part that may be call’d Invention, or Parable in the Story.55
Hier nun wird (allerdings nicht »more than tacitly«, wie Gildon meint) zugegeben, dass so etwas wie ›Erfindung‹ zumindest nicht ausgeschlossen ist, man kann manche Teile (welche?) Erfindung nennen, so der Herausgeber – auch wenn sie es vielleicht doch nicht sind.56 Zentral an der ›Rechtfertigung‹ des Herausgebers ist erneut, dass sie sich allein auf den Akt des Publizierens bezieht und dabei mit keinem Wort den Schreibakt erwähnt. Dies ist als erneute Distanzierung zu lesen: Erfindung mag nicht gerechtfertigt sein, aber ein Herausgeber erfindet nicht, sondern macht allenfalls von einem Dritten Erfundenes zugänglich. Und eben dieser Herausgeber nennt die Ereignisse nicht in eigener Person Erfindungen, sondern verschiebt dies auf wiederum Dritte. In jedem Fall wird der Text nicht mehr schlicht als eine »just History of Fact« bezeichnet, sondern als »Story«. Einige Elemente derselben seien (möglicherweise) eher als »Parable« zu lesen, bei welcher Erfindung gerechtfertigt sei. Die schon im ersten Band nicht eindeutige Behauptung der Tatsächlichkeit der Ereignisse wird hier ein ums andere Mal aufgeschoben und immer weiter verschoben – weg von einer Person, die in der Lage wäre, zu entscheiden und mit ihrer Autorität zu bürgen. Dies geht sogar so
54 Gildon* ([1719]): The Life and Strange Surprizing Adventures of Mr. D---- de F--, S. 31 ff. 55 Defoe* (1719): Farther Adventures, S. [ii]. 56 Für Gildon ist es zwar im Prinzip denkbar, dass eine Erfindung gerechtfertigt ist, er stellt aber in Abrede, das dies für Robinson Crusoe gelte: »I think we may justly say, that the Design of the Publication of this Book was not sufficient to justify and make Truth of what you allow to be Fiction and Fable; what you mean by Legitimating, Invention and Parable, I know not; unless you would have us think, that the Manner of your telling a Lie will make it a Truth«; Gildon* ([1719]): The Life and Strange Surprizing Adventures of Mr. D---- de F--, S. 33.
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weit, dass der Herausgeber letztlich seine Funktion, nämlich den vorliegenden Text einzuführen, gänzlich vernachlässigt: Von den fünf Seiten, die das Vorwort zu Farther Adventures umfasst, ist lediglich eine halbe der Würdigung dieses Textes gewidmet, der Rest kommentiert explizit – wie um die Frage nach der Fiktion des zweiten Teils gar nicht erst angehen zu müssen – den ersten Teil, Life and Adventures. Auch die Kürzung desselben wird kritisiert – wobei sich der Satzanschluss eigentlich noch auf den zweiten Teil bezieht: The Second Part […] is […] every Way as entertaining as the First […] and doubtless will […] be every way as profitable and diverting; and this makes the abridging this Work, as scandalous, as it is knavish and ridiculous; seeing, while to shorten the Book, that they may seem to reduce the Value, they strip it of all those Reflections, as well religious as moral, which are not only the greatest Beautys of the Work, but are calculated for the infinite Advantage of the Reader. / By this they leave the Work naked of its brightest Ornaments; and if they would, at the same Time pretend, that the Author has supply’d the Story out of his Invention, they take from it the Improvement, which alone recommends that Invention to wise and good Men. / The Injury these Men do the Proprietor of this Work, is a Practice all honest Men abhor; and he believes he may challenge them to shew the Difference between that and Robbing on the Highway, or Breaking open a House.57
Hier wird im Wesentlichen die Vermutung wiederholt, dass Erfindung in die Erzählung eingegangen sei, die durch die ›erbaulichen‹ Passagen gerechtfertigt sei, welche aber in den gekürzten Fassungen verloren gingen.58 Dabei treten bezeichnenderweise zwei weitere Instanzen neben dem Herausgeber auf: »The Author« bleibt jedoch letztlich erneut unbestimmt und wird nicht entweder als Robinson Crusoe oder als mit dem Herausgeber identisch bezeichnet (auch nicht als wiederum dritte Person). Der »Proprietor« des Textes dürfte sicher der Verleger sein, der in einer dem Vorwort nachgestellten Notiz die vierte Auflage des ersten Bandes bewirbt und die Verurteilung der Kürzung wiederholt.59 Durch diese Vermischung von Instanzen, auf die angespielt wird, die aber letztlich im Dunkeln bleiben, entsteht am Ende mehr Konfusion, als ausgeräumt wird: Es geht nun nicht mehr nur um Fragen der Vermittlung des Textes, sondern explizit auch um ökonomische Interessen, die mit seiner Publikation verbunden sind. Dies ist insofern problematisch, als dadurch letztlich die Behauptung, das Werk sei
57 Defoe* (1719): Farther Adventures, S. [iii–v]. 58 Auch hiergegen wendet sich Gildon, der die Kürzung von Werken als in allen Zeiten und in allen Nationen übliche Praxis rechtfertigt; vgl. Gildon* ([1719]): The Life and Strange Surprizing Adventures of Mr. D---- de F--, S. 34. 59 Diese Notiz ist offenbar erst »later issues of the first edition« beigegeben; Furbank/Owens (2000): A Critical Bibliography of Daniel Defoe, S. 189. Darauf weist auch der Kustos am Ende des Vorwortes hin, der nicht auf die nächste Seite (also die Notiz des Verlegers), sondern auf die übernächste (die erste Textseite) verweist.
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Vorworte und andere ›Liminarien‹
lehrreich und vor allem ein Tatsachenbericht, verdächtig wird, auch nur ein den ökonomischen Interessen dienender Werbeeffekt zu sein.60 Man könnte meinen, die Lage sei bereits undurchsichtig genug, jedoch: Mit dem dritten Teil tritt eine weitere Figur in den peritextuellen Diskurs ein, allerdings keine unbekannte: »Robinson Crusoe’s Preface« führt den ›Schreiber‹ zum ersten Mal als Vorwortverfasser ein. Allerdings ist das, was er zu sagen hat, keineswegs als Versuch zu bewerten, die (in sich schon ambivalenten) Behauptungen seiner Vorredner in eine bestimmte Richtung zu entscheiden. Auf den erneut angeführten Vorwurf,61 Robinson Crusoe sei nichts als eine »Romance« antwortet er: I Robinson Crusoe being at this Time in perfect and sound Mind and Memory, Thanks be to God therefore; do hereby declare, their Objection is an Invention scandalous in Design, and false in Fact; and do affirm, that the Story, though Allegorical, is also Historical; and that it is the beautiful Representation of a Life of unexampled Misfortunes, and of a Variety not to be met with in the World, […] intended for the common Good of Mankind […]. / Farther, that there is a Man alive, and well known too, the Actions of whose Life are the just Subject of these Volumes, and to whom all or most Part of the Story most directly alludes, this may be depended upon for Truth, and to this I set my Name.62
Die testamentarische und juristische Versicherung Crusoes, der »hiermit erklärt«, dass nicht er erfinde, sondern vielmehr jene, die seinem Text Erfindung vorwerfen, ist jedoch auf erstaunliche Art und Weise inkonsistent. Robinson Crusoe versichert mit seinem eigenen Namen, dass ein Mann existiert, dessen Leben die »Grundlage« für die dargestellten Ereignisse bildet. Diese seien »unexampled« und von einer Vielfalt, die in der Welt nicht anzutreffen sei – hier bleibt letztlich die Frage offen, ob dies ›noch‹ eine einfache Übertreibung ist oder bereits ein Eingeständnis, dass die (reale) Welt keine solche Person aufweist. Robinson erklärt jedoch weiter, dass die geschilderten Ereignisse letztlich als (allegorische) Anspielungen auf eine andere Person zu lesen seien. Zusammengefasst würde die Versicherung also in etwa lauten: ›Ich, Robinson Crusoe, versichere, dass es eine (reale) Person gibt, auf die meine eigenen (ebenso realen) Erlebnisse anspielen.‹ Dies lässt sich auch mit einem sehr weiten Begriff von Anspielung
60 »I suggest that the preface denounces abridgement because the practice foregrounds the commerciality of texts even more than Defoe wishes. It converts the impenetrability of print texts into a blatant admission that they are mere words with no possible integrity. It demystifies print culture too much«; Sherman (1996): Finance and Fictionality, S. 78. 61 »I have heard, that the envious and ill-disposed Part of the World have rais’d some Objections against the two first Volumes, on Pretence, for want of a better Reason; that (as they say) the Story is feign’d, that the names are borrow’d, and that it is all Romance; that there never were any such Man or Place, or Circumstances in any Mans Life; that it is all form’d and embellish’d by Invention to impose upon the World«; Defoe* (1720): Serious Reflections, S. [i f.] 62 Defoe* (1720): Serious Reflections, S. [ii f.]
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und Allegorie nicht mehr erklären.63 Die Bewertung dieses Widerspruchs ist freilich nicht einfach: Ist dies ein gewitztes Spiel mit logisch letztlich unmöglichen Zuschreibungen und damit ein – auf seine Durchschaubarkeit angelegtes – Fiktionssignal,64 oder redet sich hier ein der puritanischen Wahrheitsverpflichtung weiterhin unterworfener Autor darauf hinaus, dass er letztlich nur eine Allegorie entworfen habe, die – im Gegensatz zur Fiktion – statthaft ist?65 Einige Elemente der Vorrede scheinen genau darauf hinzudeuten: So ist gleich zu Beginn von einer »Fable«66 zu lesen, die für eine Moral ›gemacht‹ sei – und nicht umgekehrt, weswegen der dritte Teil der Trilogie denn auch nicht einfach eine Fortsetzung sei, sondern die Grundlegung der Reflexionen, die die beiden ersten Teile illustrieren. Dass eine Fabel zulässig ist, gibt auch Charles Gildon zu, er erinnert jedoch daran, dass diese auf eine moralische oder religiöse Bedeutung hin durchsichtig zu sein hat.67 Eben hier setzt Crusoes Replik an, indem sie darauf verweist, dass auch seine Geschichte als Allegorie zu lesen sei. Die Lage wird jedoch noch dadurch verworren, dass in der Folge des Vorworts unklar bleibt, was in der Allegorie nun die Bild- und was die Bedeutungsseite sein soll:
63 Hempfer weist mit Blick auf die Allegorie-Diskussion im italienischen Renaissance-Humanismus darauf hin, dass bereits in diesem Zusammenhang die allegorische Lektüre ein durchaus umstrittenes Verfahren darstellt, das aber in engem Zusammenhang mit apologetischen Strategien zu sehen ist, da eine allegorische Lektüre als Möglichkeit erscheint, »problematische Texte bzw. Textpassagen zu ›retten‹«; Hempfer (1987): Diskrepante Lektüren, S. 261. Ähnliches scheint auch für das frühe 18. Jahrhundert noch von Belang zu sein, wobei die Frage nach der Erfindung ins Zentrum rückt: Allegorie, so scheint es, soll hier Erfindung insgesamt rechtfertigen (und nicht etwa unverständliche oder anstößige Passagen), während zugleich aber behauptet wird, dass gar nicht erfunden werde. 64 So etwa Sherman: »The preface to the third volume of the trilogy […] is perhaps the most infamous tissue of self-contradictions ever offered in defense of a text«; Sherman (1996): Finance and Fictionality, S. 79. Sherman legt nahe, dass diese Selbstwidersprüche gewollt sind, um den Leser zu verwirren. Das Vorwort »occludes originary, stable sites of meaning, deflecting the reader towards ›Deductions‹ inaccessible through direct apprehension of the text«; Sherman (1996): Finance and Fictionality, S. 80. Noch deutlicher wird Seidel: »I think Defoe expected his readers to know that the preface was to be read as part of the fiction«; Seidel (2011): »›Robinson Crusoe‹ as Defoe’s Theory of Fiction«, S. 174. 65 Vgl. für diese Lesart etwa Davis: »Defoe is clearly trying to back out of the issue by changing the terms of the argument. No longer claiming to be writing truth, Defoe claims that his message will be true only after it is interpreted«; Davis (1983): Factual Fictions, S. 158. Vgl. auch: »Defoes Vorreden demonstrieren die Schwierigkeit, den Roman zwischen Faktenwahrheit und moralischer Wahrheit anzusiedeln, ohne einen – offiziell nicht zulässigen – neuen fiktionalen Wahrheitsbegriff einzuführen«; Pache (1980): Profit and Delight, S. 100. Pache spricht auch vom »unklaren Lavieren« Defoes in den Vorworten; Pache (1980): Profit and Delight, S. 103. 66 Defoe* (1720): Serious Reflections, S. [ii]. 67 »[I]ndeed, by what you say, you seem not to understand the very Nature of a Fable, which is a sort of Writing which has always been esteem’d by the wisest and best of Men to be of great use to the Instruction of Mankind; but then this Use and Instruction should naturally and plainly arise from the Fable itself, in an evident and useful Moral, either exprest or understood«; Gildon* ([1719]): The Life and Strange Surprizing Adventures of Mr. D---- de F--, S. 35.
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Vorworte und andere ›Liminarien‹
[…] when in my Observations and Reflexions of any Kind in this Volume, I mention my Solitudes and Retirements, and allude to the Circumstances of the former Story, all those Parts of the Story are real Facts in my History, whatever borrow’d Lights they may be represented by: Thus the Fright and Fancies which succeeded the Story of the Print of a Man’s Foot […] are all Histories and real Stories […]. [T]he Story of my Man Friday, and many more most material Passages observ’d here, and on which any religious Reflections are made, are all historical and true in Fact […].68
Hier scheint es so zu sein, dass die Erlebnisse auf der Insel, die Begegnung mit Friday, etc. reale, tatsächlich stattgefundene Ereignisse sind, aus denen die nachfolgenden Reflexionen und Überlegungen abgeleitet sind. Sie wären in diesem Fall eine »Allegorick History«69 und so als historische Ereignisse zu verstehen, die sich zur Belehrung und Erbauung interpretieren lassen. Anderes aber legen die folgenden Passagen nahe: It is most real, that I had a Parrot, and taught it to call me by my Name, such a Servant a Savage, and afterwards a Christian, and that his Name was called Friday, and that he was ravish’d from me by Force, and died in the Hands that took him, which I represent by being killed; this is all litterally true, and should I enter into Discoveries, many alive can testify them: His other Conduct and Assistance to me also have just References in all their Parts to the Helps I had from that faithful Savage, in my real Solitudes and Disasters.70
Hier scheint vielmehr eine zu Grunde liegende wahre Geschichte (»my real Solitudes and Disasters«) mittels anderer Ereignisse dargestellt zu werden (Crusoe benutzt bezeichnenderweise das Verb »to represent«71). Auch der weitere Verlauf des Vorworts deutet in diese Richtung: In like Manner, when in these Reflections, I speak of the Times and Circumstances of particular Actions done, or Incidents which happened in my Solitude and Island-Life, an impartial Reader will be so just to take it as it is; viz. that it is spoken or intended of that Part of the real Story, which the Island-Life is a just Allusion to […].72
Das Leben auf der Insel ist also ein Bild für eine andere – die wahre – Geschichte, die sich eher durch Schiffbruch zu Lande als zur See auszeichnet und in der es um eine andere Art der Einsamkeit und um ein anderes Gefängnis als die Insel geht:73
68 Defoe* (1720): Serious Reflections, S. [iv] f. 69 Defoe* (1720): Serious Reflections, S. [ix]. 70 Defoe* (1720): Serious Reflections, S. [v]. 71 Dass hier nicht einfach ›darstellen‹ gemeint ist, sondern ›etwas durch etwas anderes darstellen‹ ergibt sich aus dem Kontext: Es wäre eigenartig, die Rede, Friday »died by the hands that took him« auf die Schilderung seines Todes im zweiten Teil zu beziehen: Er wird von Pfeilen getroffen, während er sich noch an Bord des Schiffes, auf dem er mit Crusoe reist, befindet; vgl. Defoe* (1719): Farther Adventures, S. 208. 72 Defoe* (1720): Serious Reflections, S. [vii]. 73 »Shipwreck’d often, tho’ more by Land than by Sea«; Defoe* (1720): Serious Reflections, S. [vii].
Vorworte und andere ›Liminarien‹
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For Example, in the latter Part of this Work called the Vision, I begin thus, When I was in my Island Kingdom, I had abundance of strange Notions of my seeing Apparitions, &c. all these Reflections are just History of a State of forc’d confinement, which in my real History is represented by a confin’d Retreat in an Island; and ’tis as reasonable to represent one kind of Imprisonment by another, as it is to represent any Thing that really exists, by that which exists not.74
Es bleibt an dieser Stelle letztlich unklar, wie die beiden Ebenen nun zueinander stehen: Beide sind als »History« ausgewiesen, die eine »just«, die andere »real«. Und doch legt der darauffolgende Satz nahe, dass eine der beiden nicht (wirklich) existiert. Die Unklarheit resultiert über das gesamte Vorwort daraus, dass letztlich nicht deutlich wird, ob sich die Versicherungen der Wahrheit nun auf die Reflexionen beziehen, die Robinson Crusoe anstellt (und zu denen die Vorgeschichte dann ein Bild abgeben würde), oder auf diese Vorgeschichte selbst. Mit dieser Unklarheit ist – ein weiteres Mal – die Frage verbunden, wem das Vorwort nun zuzuschreiben ist. Einerseits ist die Lage hier klarer als bei den beiden vorangehenden, denn es ist eindeutig Robinson Crusoe zugeschrieben, andererseits aber spricht er von sich an einer Stelle in der dritten Person: In a Word, there’s not a Circumstance in the imaginary Story, but has its just Allusion to a real Story, and chimes Part for Part, and Step for Step with the inimitable Life of Robinson Crusoe.75
Klarer als zuvor ist hier von einer »imaginary Story« die Rede; welche diese ist, ist allerdings wieder unklar. Vor allem aber ist die Rede von Robinson Crusoe in der dritten Person auffällig: Deutet sich hier an, dass Robinson Crusoe als Allegorie auf Defoes Leben zu lesen ist und etwa mit dem »State of forc’d confinement« sein Gefängnisaufenthalt gemeint ist?76 Die Rede ist zu verdreht, um dies zu beantworten. Aber das Vorwort lädt auf seine Art explizit dazu ein, Ähnlichkeiten zu suchen:
74 Defoe* (1720): Serious Reflections, S. [viii]. 75 Defoe* (1720): Serious Reflections, S. [vii]. 76 Diese Diskussion beginnt bereits kurz nach dem Erscheinen von Robinson Crusoe und Charles Gildons Titel deutet darauf hin. Die Diskussion hält noch im 19. Jahrhundert an, wie ein Artikel Paul Geisslers belegt. Geissler betont, dass die Grundlage für diese Vermutung zu dünn sei, um sie zu bestätigen, und hält den Verweis auf Allegorie im Vorwort eher für eine ›Ausflucht‹; er kommt bemerkenswerterweise zu einem Schluss, der demjenigen Davis’ ganz ähnlich ist: »Fassen wir […] zusammen, so erscheint als kern von Defoes ausführungen die behauptung, dass in Robinson Crusoe eine wahrheit besonderer, idealer art enthalten ist, die in ermangelung eines besser passenden, allgemein gebräuchlichen ausdrucks mit berufung auf allgemein gebilligte arten der erfindung und anstandslos anerkannte litterarische gattungen durch die wörter emblematisch, parabolisch, allegorisch gekennzeichnet wird«; Geissler (1897): »Defoes Theorie über Robinson Crusoe«, S. 18; Sperrung durch Kursivierung ersetzt. Vgl. dazu Davis: »Defoe apparently could not find a category to define the nature of his work […]. The only preexisting category that defined a type of narrative both true and false was allegory. Admittedly, Defoe did not do particularly well in choosing such a term, but he was, after all, groping in the dark«; Davis (1983): Factual Fictions, S. 161.
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Without letting the Reader into an nearer Explication of the Matter, I proceed to let him know, that the happy Deductions I have employ’d myself to make from all the Circumstances of my Story, will abundantly make him amends for his not having the Emblem explained by the Original […].77
Die Ähnlichkeiten seien aber gerade deshalb verborgen worden, weil nur so die Unterhaltungsfunktion des Textes gewährleistet sei: Had the common Way of Writing a Mans private History been taken, and I had given you the Conduct or Life of a Man you knew, and whose Misfortunes and Infirmities, perhaps you had sometimes unjustly triumph’d over; all I could have said would have yielded no Diversion […]. Facts that are form’d to touch the Mind, must be done a great Way off, and by somebody never heard of […].78
Hier ist beinahe schon die Rede von einer anderen Welt, in der die Ereignisse der Fiktion stattfinden müssen, um ihre Funktion der Unterhaltung erfüllen zu können. Nimmt man Crusoes (widersprüchliche) Verteidigung zusammen mit den Vorwürfen Gildons, so ergibt sich ein Bild dessen, was der Roman leisten soll und zugleich – mangels einer ›Fiktionserlaubnis‹ – nicht kann: Er soll die Leser amüsieren und instruieren und sie nicht mit alltäglichen Dingen aus ihrem unmittelbaren Lebensumfeld behelligen, zu denen sie auf eine andere Art Stellung beziehen müssten. Die Allegorie oder Parabel wird als Vorbild genannt, aber sie wird so uneindeutig und ambivalent eingeführt, dass sich kein verlässlicher Schluss ziehen lässt, wie sie aufgelöst werden soll. Deutlicher wird das in »The Publisher’s Introduction«: The Riddle is now expounded, and the inteligent [sic] Reader may see clearly the End and Design of the whole Work; that it is calculated for, and dedicated to the Improvement and Instruction of Mankind in the Ways of Vertue and Piety, by representing the various Circumstances, to which Mankind is exposed […].79
Nicht mehr ein bestimmter Mann, Robinson Crusoe, ist hier in seinen Umständen geschildert, sondern die verschiedenen Umstände der Menschheit werden gleichsam in einem Mann zusammengefasst und zur Instruktion verdeutlicht. Zugleich wird darauf hingewiesen, dass sich dies erst vom Ende her erschließe.80 Die mögliche Markierung und Signalisierung der Fiktionalität kann also sowohl explizit als auch implizit erfolgen. Explizit in jenen Passagen, die auf Erfindung
77 Defoe* (1720): Serious Reflections, S. [iv]. 78 Defoe* (1720): Serious Reflections, S. [ix] f. 79 Defoe* (1720): Serious Reflections, S. [xiii]. 80 Vgl. dazu auch das Vorwort Crusoes selbst: »the present Work is not merely the Product of the two first Volumes, but the two first Volumes may rather be called the Product of this: The Fable is always made for the Moral, not the Moral for the Fable«; Defoe* (1720): Serious Reflections, S. [i].
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hinweisen – die aber freilich immer wieder zurückgenommen werden. Implizit weist der ambivalente Rahmen selbst auf mögliche Fiktionalität hin. Der Rahmen scheint zunächst noch die Faktualität der Geschichte zu betonen, wird sukzessive aber zum Vehikel des Gegenteils. Die zunehmende Länge der Vorworte und die zunehmend verworrene Beschreibung, die der Text in ihnen erfährt, richten die Aufmerksamkeit in einem ungewöhnlichen Ausmaß auf den Rahmen selbst, denn dieser fordert – und das ist das genaue Gegenteil dessen, was Rahmen ›normalerweise‹ tun – zu einer genauen Lektüre auf. Dies ist das Prinzip der doppelten Rahmung: Der eine Rahmen (»dies ist ein wahrer Tatsachenbericht«) wird zum doppelten Rahmen (der das Gegenteil nahelegt) genau dadurch, dass er ›zu viel‹ Aufmerksamkeit auf sich zieht und sich in W idersprüche verstrickt.81 Eben indem der Rahmen die Aufmerksamkeit auf sich selbst lenkt, wird der Status des nachfolgenden Werks zweifelhaft, denn ein unumwunden faktualer Tatsachenbericht hätte diese Rahmung schlicht nicht nötig. Betrachtet man alle drei Bände von Robinson Crusoe, so ergibt sich also ein differenziertes Bild der Herausgeberfiktion, die sich weder auf eine einfache Schutzbehauptung noch auf ein durchsichtiges Fiktionssignal reduzieren lässt. Es scheint vielmehr, dass gerade die Einführung von Herausgeberinstanzen im Paratext ein Verfahren darstellt, mit dem eine Aufspaltung der Verantwortung eingeführt, verbildlicht werden kann, ohne dabei weder direkt die Fiktionalität des Textes anzuerkennen, noch sie vollständig auszuschließen, da sie an Praktiken anschließt, die von nicht-fiktionalen Texten wohlbekannt sind. Indem an Herausgeberschaft erinnert wird, bleibt es vielmehr dem Leser überlassen, zu entscheiden: Er kann den Vermutungen oder Behauptungen des Herausgebers – der letztlich auch nur ein Leser, wenn auch der ›erste‹ ist –82 folgen, oder aber sich gegen sie entscheiden. Jedoch: Warum braucht Crusoe einen Herausgeber? Warum ist er nicht Autor mit vollem Recht und fungiert als Schreiber und ›Veröffentlicher‹? An dieser Stelle setzen in der Regel Herausgeberfiktionen ein, die dadurch Plausibilität suggerieren,83 dass sie die Geschichte eines aufgefundenen Manuskripts einführen. All dies findet sich jedoch bezeichnenderweise nicht bei Robinson Crusoe. Von den vier Funktionen, die Wirth (in Anlehnung an Genette) für das fiktive Vorwort ausmacht, ist letztlich nur diejenige der Valorisierung gegeben. Weder werden die »fiktiven Umstände, unter denen der Herausgeber in den Besitz des Textes gelangt ist«84, beschrieben, noch findet sich eine »fiktionale[] editorische[] Notiz der Korrekturen und Änderungen«85, die den Text
81 Vgl. allgemein zum »Doppelrahmen«: Wirth (2013): »Rahmenbrüche, Rahmenwechsel«, S. 26–35. 82 Zum Herausgeber als ›erstem Leser‹ vgl. Wirth (2008): Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion, S. 26. 83 Plausibilität heißt in diesem Fall freilich nicht, dass die Herausgeberfiktion notwendig überzeugend wirkt – im Gegenteil kann gerade eine besonders ausgestaltete Editions-Szene selbst zu einem Fiktionssignal werden! 84 Wirth (2008): Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion, S. 146. 85 Wirth (2008): Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion, S. 146.
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als bereits in schriftlicher Form vorliegend auszeichnen. Die Notwendigkeit einer »fiktionalen biographischen Beschreibung des vermeintlichen Autors«86 entfällt gleichsam, da der Text ja ohnehin seine Lebensgeschichte liefert. In Ansorges Gegenüberstellung von Herausgeber-Rolle und Herausgeber-Figur ist der »Editor« von Life and Adventures daher näher am Pol der Herausgeber-Rolle anzusiedeln. Der Herausgeber der ersten beiden Teile von Robinson Crusoe gehört – mangels gegenteiliger Indizien – der realen Welt an, seine Funktion als Herausgeber ist es, den Text dem realen Lesepublikum zugänglich zu machen, um diesem damit sowohl »Diversion« als auch »Instruction« zu bieten.87 Mehr Informationen über den Herausgeber selbst erfährt der Leser nicht – nur eben, dass er den Text herausgibt. Gerade in dieser kaum ausgestalteten Herausgeberfiktion, die letztlich dadurch ›verdächtig‹ wird, dass sie ihr Vorhandensein kaum rechtfertigen kann, zeigt sich allerdings die Spaltung zwischen realem Autor und fiktivem Erzähler auf besonders eklatante Weise. In dieser »Modulation[] des Bruchs zwischen wirklichem Schriftsteller und fiktivem Sprecher«88, die sich als ›Rohform‹ bezeichnen ließe, eben weil sie kein ausgefeiltes Spiel mit der Manuskriptfiktion betreibt, lässt sich die zentrale Funktion der Herausgeberfiktion deutlich erkennen: Einerseits wird die Autorposition in der Maske des Herausgebers eingeführt, zugleich aber wird ihre Verantwortung für den Text negiert und auf eine Erzählerfigur übertragen, deren Diskurs lediglich vom Herausgeber vermittelt wird. Dies ließe sich als »Verbildlichung«89 der Trennung der Verantwortlichkeits bereiche Autor und Erzähler betrachten – als Verbildlichung, die zugleich aber nötig ist, denn eine Trennung zwischen Autor und Erzähler im fiktionalen Text ist zeitgenössisch weder theoretisch ausgearbeitet noch moralisch legitim. Gerade die Tatsache also, dass Defoe daran scheitert, eine plausible Herausgeberinstanz einzuführen, und diese im dritten Teil der Robinson Crusoe-Serie ganz verschwindet, deutet auf seine Probleme mit dieser Strategie hin, denn auch sie setzt letztlich eine Fiktionslizenz voraus. Was Defoes Paratexte also illustrieren, ist ein Versuch, diverse Legitimationsstrategien in Abwesenheit einer gesicherten, moralisch-religiös legitimen und theoretisch fassbaren Fiktionskonvention gleichsam ›durchzutesten‹.90 Die Herausgeber
86 Wirth (2008): Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion, S. 146. 87 Defoe* (1719): Life and Adventures, S. [ii]. 88 Wirth (2008): Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion, S. 187. 89 Iser (2003): »Auktorialität. Die Nullstelle des Diskurses«, S. 223. 90 Es sei wenigstens am Rande darauf hingewiesen, dass die immer wieder konstatierte Fiktionsfeindlichkeit in puritanischen Milieus sich bei Defoe selbst durchaus finden lässt. Im Vorwort zu The Storm etwa verlangt Defoe, dass schriftlich fixierte Texte, gerade weil sie ein breiteres Publikum ansprechen und so eine ›Lüge‹ weiter verbreiten können, sich strikt an der (historischen) Wahrheit zu orientieren haben: »The Sermon is a Sound of Words spoken to the Ear, and prepar’d only for present Meditation, and extends no farther than the strength of Memory can convey it; a Book Printed is a Record, remaining in every Man’s Possession, always ready to renew its Acquaintance with his Memory, and always ready to be produc’d as an Authority or Voucher to any Reports he makes out of
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fiktion erweist sich dabei als eines der zentralen Vehikel, das zudem in weiteren Texten Defoes erneut zu finden ist und dort weiter moduliert wird. Anders als in Robinson Crusoe, wo (zumindest in den ersten beiden Teilen) ein Herausgeber begegnet, der weder erklärt, wie er zu dem Manuskript gekommen ist, noch, worin seine Editionsarbeit eigentlich besteht, behauptet der Vorwortverfasser von Moll Flanders, dass er in den Besitz des Manuskripts von Moll Flanders’ Lebensgeschichte gekommen sei, dieses aber grundlegend überarbeitet habe: It is true, that the original of this Story is put into new Words, and the Stile of the famous Lady we here speak of is a little alter’d, particularly she is made to tell her own Tale in modester Words than she told it at first; the Copy which came first to Hand, having been written in Language, more like one still in Newgate, than one grown Penitent and Humble, as she afterwards pretends to be.91
Im Gegensatz zu Robinson Crusoe bekommt der Leser hier nicht das ›Original‹ des Textes zu sehen und auch nicht die »Copy«, die dem Vorwortverfasser zuging, sondern eine Umschrift. An der Wandlung und moralischen Läuterung der Protagonistin äußert der Vorwortverfasser latente Zweifel: Sie gibt vor oder behauptet (»pretends«), »Penitent and Humble« geworden zu sein, ist es aber möglicherweise gar nicht. Die Differenz, die zwischen dem Urteil des Vorwortverfassers und der angeblichen Selbsteinschätzung der Protagonistin eingeführt wird, ist jedenfalls auffällig. Ersterer ist damit zugleich nicht einfach nur der Vorwortverfasser, sondern ›Ko-Erzähler‹ der Geschichte, die folgen wird, auch wenn diese durchgängig in der ersten Person von Moll Flanders selbst erzählt wird – es ist sicherlich die Stimme Molls, aber der ›Stil‹ ist (jedenfalls in
it […]. / If a Sermon be ill grounded, if the Preacher imposes upon us, he trespasses on a few; but if a Book Printed obtrudes a Falshood, if a Man tells a Lye in Print, he abuses Mankind, and imposes upon the whole World, he causes our Children to tell Lyes after us, and their Children after them, to the End of the World«; Defoe* (1704): The Storm, S. [ii]. Auch mit didaktischen Absichten lasse sich eine unwahre Erzählung nicht rechtfertigen: »And while I pretend to a thing so solemn, I cannot but premise I should stand convicted of a double Imposture, to forge a Story, and then preach Repentance to the Reader from a Crime greater than that I would have him repent of: endeavouring by a Lye to correct the Reader’s Vices, and sin against Truth to bring the Reader off from sinning against Sence«; Defoe* (1704): The Storm, S. [iii]. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass diese Äußerungen aus einem Herausgeberdiskurs stammen, der diesen als autoritativen Historiker inszeniert. Eine etwas andere Einschätzung findet sich in einer brieflichen Äußerung Defoes: »But as a Lye Does Not Consist in the Indirect Position of words, but in the Design by False Speaking, to Deciev and Injure my Neighbour, So Dissembling does Not Consist in Putting a Different Face Upon Our Actions, but in the further Applying That Concealment to the Prejudice of the Person; for Example, I Come into a persons Chamber, who on a Surprize is Apt to Fall into Dangerous Convulsions. I Come in Smileing, and Pleasant, and ask the person to Rise and Go abroad, or any Other Such question, and Press him to it Till I Prevail, whereas the Truth is I have Discovred the house to be On Fire, and I Act thus for fear of frighting him. Will any Man Tax me with Hypocrisye and Dissimulation?« Defoe (1955): The Letters of Daniel Defoe, S. 42. 91 Defoe* (1721): Moll Flanders, S. iv.
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Teilen) derjenige des Vorwortverfassers. Damit einher geht freilich, dass die Eigenständigkeit des Textes unterminiert wird. War Robinson Crusoe selbst der ›Schreiber‹ des Textes, so ist hier der Vorwortverfasser in der Position desjenigen, der den Text, den der Leser zu sehen bekommt, ›herstellt‹. Der explizite Hinweis darauf, dass der Vorwortverfasser Moll ihre Geschichte erzählen lässt (»she is made to tell her own Tale«), ist bereits als latenter Hinweis darauf zu lesen, dass der Text gemacht ist – und damit unter Umständen auch die Protagonistin/Erzählerin selbst. Einen ähnlichen Hinweis liefert der nachfolgende Absatz: The Pen employ’d in finishing her Story, and making it what you now see it to be, has had no little difficulty to put it into a Dress fit to be seen, and to make it speak Language fit to be read: When a Woman debauch’d from her Youth […] comes to give an Account of all her vicious Practices […], an Author must be hard put to wrap it up so clean, as not to give room, especially for vitious Readers to turn it to his Disadvantage.92
Erneut ist hier ganz explizit von einem »making« die Rede, das das bloße »finishing«, von dem zuvor die Rede war, ersetzt und damit die Frage aufwirft, wie groß der Einfluss und wie weitgehend die Änderungen des Vorwortverfassers sind. Analog dazu ist hier ganz ausdrücklich von seinem »Pen« die Rede. Der Herausgeber ist also nicht mehr, wie bei Robinson Crusoe, nur ein Vermittler, der am Text selbst unbeteiligt ist. Vielmehr wird er sogar »Author« genannt und die wiederkehrende (Ver-)Kleidungsbzw. Verhüllungsmetaphorik verweist bereits auf einen Akt der Inszenierung, bei dem am Ende unklar bleibt, ob er sich überhaupt noch auf ein vorgängiges Objekt bezieht oder dieses selbst erst hervorbringt. In den Kontext einer möglichen Inszenierung und auch in denjenigen der Verkleidungsmetapher reiht sich der Anklang an das Theater ein, der letztlich auch zur moralischen Rechtfertigung dienen soll: The Advocates for the Stage, have in all Ages made this the great Argument to persuade People that their Plays are useful, and that they ought to be allow’d in the most civiliz’d, and in the most religious Government; Namely, That they are applyed to vertuous Purposes, and that by the most lively Representations, they fail not to recommend Vertue […] and to discourage and expose all sorts of Vice and Corruption of Manners […]. / Throughout the infinite variety of this Book, this Fundamental is most strictly adhered to; there is not a wicked Action in any Part of it, but is first and last rendered Unhappy and Unfortunate: There is not a superlative Villain brought upon the Stage, but either he is brought to an unhappy End, or brought to be a Penitent […].93
Wenn die Figuren des Romans auf die Bühne gestellt werden und mit ihnen nach ›Regieprinzipien‹ verfahren wird, die allein der Belehrung des Lesers dienen, so ist wohl damit zu rechnen, dass sie keine realen Figuren sind – denn die Fiktion und ihre Belehrungsfunktion sind gegenüber einer (möglicherweise) realen Geschichte privilegiert
92 Defoe* (1721): Moll Flanders, S. iv f. 93 Defoe* (1721): Moll Flanders, S. viii f.
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und fordern eine Ordnung (»Fundamental«) auch da ein, wo sie im ›echten‹ Leben möglicherweise nicht oder nicht ohne Lücken existiert. Der Gegensatz zwischen der »variety« des Dargestellten und der auf alle Einzelereignisse angewandten Regel ist insofern verdächtig, als er eine Kohärenz anzeigt, die die ›reale Welt‹ nicht bietet. Zu dieser Kohärenz gehört auch, dass in der (Auto-)Biographie Moll Flanders’ ihr ganzes Leben geschildert werden kann, bis zu ihrem Tod: We cannot say indeed, that this History is carried on quite to the End of the Life of this famous Moll Flanders, as she calls her self, for no Body can write their own Life to the full End of it, unless they can write it after they are dead; but her Husband’s Life being written by a third Hand, gives a full Account of them both, how long they liv’d together in that Country, and how they came both to England again, after about eight Year, in which time they were grown very Rich, and where she liv’d it seems, to be very old […]. / In her last Scene at Maryland, and Virginia, many pleasant Things happen’d, which makes that part of her Life very agreeable, but they are not told with the same Elegancy as those accounted for by herself, so it is still to the more Advantage that we break off here.94
Dieser Abschnitt hält einige bemerkenswerte Details und Ambivalenzen bereit. Dass der ›eigentliche‹ Text den Tod der Ich-Erzählerin nicht beschreiben kann, ist selbstverständlich; dass aber ein Bericht aus einer ›dritten Hand‹ herangezogen wird, um das Wissen über die Umstände zu legitimieren, erscheint unnötig, denn der Herausgeber gibt an anderer Stelle ja selbst an, über dieses Wissen zu verfügen – es scheint vielmehr, dass diese ›dritte Hand‹ seine eigene ist (er kündigt in der Tat einen Bericht über das Leben des Ehemanns an, ohne aber sein Erscheinen zu versprechen und ohne sich festzulegen, wer der Autor dieses Berichts ist)95. Die »last Scene« in Maryland und Virginia allerdings ist im Text sehr wohl enthalten, da dieser erst mit Molls Rückkehr nach London abbricht. Dass diese letzte Szene nicht mit der gleichen ›Eleganz‹ erzählt sei, wie diejenigen, die Moll selbst verantwortet, ist schließlich ein expliziter Widerspruch zu des Vorwortverfassers vorangehender Klage über den Stil ihres Textes, den er bereinigt habe. Es scheint, dass hier vielmehr – um den Preis der Konsistenz – ein weiteres Mal auf die Selbstautorschaft Molls hingewiesen werden und der Text von fremden Berichten abgegrenzt soll. Am Ende des editorialen Paratexts ist somit ein Abbruch der vorangehenden Argumentation zu beobachten, der gegenüber der moralischen Rechtfertigung den Charakter des Textes als faktualer Bericht herausstellt. Die Konfusion darüber, wer für den Bericht verantwortlich ist, resultiert aus dem Umstand, dass zwei Instanzen am Text beteiligt sein sollen, der jedoch nur in einer Stimme gegeben wird. Darüber hinaus sind die jeweiligen Intentionen der Instanzen von Beginn an unklar: Einerseits ist Moll eine reuige Erzählerin, andererseits aber
94 Defoe* (1721): Moll Flanders, S. xii f. 95 »But as I have said, these [i. e. der Bericht über das Leben ihres Ehemannes und dasjenige ihrer Governess] are things too long to bring in here, so neither can I make a Promise of their coming out by themselves«; Defoe* (1721): Moll Flanders, S. xii.
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zweifelt der Vorwortverfasser die Aufrichtigkeit ihrer Reue an, hält ihren Bericht aber dennoch für wertvoll, weil darin unerlaubte Handlungen gebührend bestraft werden (was freilich im Widerspruch dazu steht, dass Moll reich wird, obwohl sie, so der Vorwortverfasser, keine vollständige Reue empfindet). Wem die Instruktion und moralische Belehrung zugeschrieben werden soll und worin sie besteht, bleibt letztlich u nklar: But as this Work is chiefly recommended to those who know how to Read it, and how to make good Uses of it, which the Story all along recommends to them; so it is to be hop’d that such Readers will be much more pleas’d with the Moral, than the Fable; with the Application, than with the Relation, and with the End of the Writer, than with the Life of the Person written of.96
Einerseits lässt sich dies so lesen, dass Moll Flanders nach ihrer Bekehrung eine Moral aus ihrem Leben zieht und so zu einem anderen Menschen wird.97 Andererseits aber mag der »Writer« auch der Vorwortverfasser sein, dem die Überarbeitung des Textes in moralischer Absicht zugeschrieben wird. Im Text ist es jedenfalls Moll selbst, aus deren Mund alle Kommentare über die moralischen Implikationen ihrer Erlebnisse stammen – durch das Vorwort aber werden diese Überlegungen als potentielle (unmarkierte) Eingriffe des Herausgebers verdächtig, der sich so ihre Stimme aneignet. Dies scheint etwa der Fall zu sein, wenn Moll, die ihre Abenteuer als Diebin durchaus mit Genugtuung schildert und alles andere als ein tugendhaftes Leben führt, von dem »growing Vice of the Age«98 spricht, oder wenn sie den Lesern Ratschläge erteilt, die sie achtsam machen sollen gegenüber Personen, wie sie selbst eine ist: On the other hand, every Branch of my Story, if duly consider’d, may be useful to honest People, and afford a due Caution to People of some sort, or other to Guard against like Surprizes, and to have their Eyes about them when they have to do with Strangers of any kind, for ’tis very seldom that some Snare or other is not in their way. The Moral indeed of all my Historys left to be gather’d by the Senses and Judgment of the Reader; I am not Qualified to preach to them, let the Experience of one Creature compleatly Wicked, and compleatly Miserable be a Storehouse of useful warning to those that read.99
96 Defoe* (1721): Moll Flanders, S. vi. 97 »[I]n a word, I was perfectly chang’d, and become another body«; Defoe* (1721): Moll Flanders, S. 347. 98 Defoe* (1721): Moll Flanders, S. 206. Dies ist durch den weiteren Verlauf des Satzes nur ansatzweise als Äußerung Molls motiviert: »This was a strange Testimony of the growing Vice of the Age, and such a one, that as bad as I had been my self, it shock’d my very Senses […].« Zudem bleibt unklar, auf welche Zeit sich dies bezieht. Es ist anzunehmen, dass damit eher die sittlichen Zustände der 1720er Jahre denn die Lebenszeit Moll Flanders gemeint ist, die, wie der Titel besagt (und eine Zeitangabe am Ende des Textes bestätigt), längst verstorben ist. 99 Defoe* (1721): Moll Flanders, S. 331.
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Diese Bemerkung ist ein Echo auf die Anpreisung des Vorwortverfassers, der ebenfalls festhält, dass das Wissen um Personen wie Moll und ihre Handlungen ›anständige Leute‹ zur Vorsicht anregen soll: All the Exploits of this Lady of Fame in her Depredations upon Mankind stand as so many warnings to honest People to beware of them, intimating to them by what Methods innocent People are drawn in, plunder’d and robb’d, and by Consequence how to avoid them. Her robbing a little innocent Child […] is a good Memento […] as is likewise her picking the Gold-Watch from the young Ladies side in the Park. […] / These are a few of the serious Inferences which we are led by the Hand to in this Book, and these are fully sufficient to Justifie any Man in recommending it to the World, and much more to Justifie the Publication of it.100
Was hier die Veröffentlichung rechtfertigt, ist nicht mehr, wie in Robinson Crusoe, eine Geschichte, die aus sich heraus wertvolle Anregungen und Instruktionen liefert, sondern gerade eine Erzählung, die Instruktion nur ex negativo bereithält, indem sie abschreckende Beispiele liefert und die Belehrung explizit deutlich macht.101 Diese Explikation beschränkt sich aber, wie das vorangehende Zitat gezeigt hat, nicht nur auf den Rahmen, sondern findet auch (in den Worten der Erzählerin) im ›eigentlichen‹ Text statt. Gerade aber weil der Herausgeber die moralische Integrität der späten Moll Flanders, die den Bericht über ihr vergangenes Leben verfasst, in Zweifel zieht, bleiben die Kommentare der Erzählerin ein ›Anhang‹ und scheinen von einer »alien and external voice«102 zu stammen – eben derjenigen Stimme des Vorwortverfassers, der sich das ›Ich‹ der Protagonistin gleichsam aneignet. Im Text scheinen so letztendlich zwei Instanzen zusammenzufallen, da der editoriale Rahmen auf die Präsentation des Textes auch innerhalb seiner Grenzen Anwendung findet. Am deutlichsten wird dies, wenn die Protagonistin von der Legitimation ihrer eigenen Erzählung spricht und dabei explizit deren Publikation anspricht: As the publishing this Account of my Life, is for the sake of the just Moral of every part of it, and for Instruction, Caution, Warning and Improvement to every Reader, so this will not pass I hope for an unnecessary Digression concerning some People, being oblig’d to disclose the greatest Secrets either of their own, or other People’s Affairs.103
100 Defoe* (1721): Moll Flanders, S. ix–xi. 101 Dies hält auch Starr fest, der die Explikation der Moral allerdings bezeichnenderweise alleine der Erzählerin zuschreibt: »[…] Robinson Crusoe requires no explicit ›improvement‹: many of the episodes possess conventional spiritual overtones […]. In Moll Flanders, on the other hand, most of the actions have no traditional metaphoric meaning, so that their implications have to be spelled out by the narrator«; Starr (1965): Defoe & Spiritual Autobiography, S. 161 f. 102 Langford (1992): »Retelling Moll’s Story«, S. 170. 103 Defoe* (1721): Moll Flanders, S. 403.
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Vorworte und andere ›Liminarien‹
Moll Flanders ist also an dieser Stelle eine Erzählerin, die ganz offensichtlich mit Blick auf eine Publikation und auf ein Publikum hin schreibt; und dennoch ist die Erzählung von einem editorialen Rahmen eingefasst, der die moralische Rechtfertigung der Publikation erst begründen will, indem er den Text verändert (zudem ist der Vermerk auf dem Titelblatt, »Written from her own Memorandums«, ein Hinweis auf eine Textsorte, die gerade nicht zur Veröffentlichung vorgesehen ist). An dieser Textstelle bleibt also letztlich fraglich, welcher Instanz sie zuzurechnen ist: Die Stimme ist diejenige Molls, aber wenn der Kritik des Herausgebers an ihrem Lebenswandel und unmoralischen Erzählen Glauben geschenkt werden soll, dann erscheint die Äußerung eher als eine nachträgliche Hinzufügung aus seiner Feder – oder aber seiner Kritik an Molls mangelhafter Läuterung ist nicht zu trauen und er wiederholt schlicht, was diese über ihr eigenes Leben zu sagen hat. In beiden Fällen hätte man es mit einer »split personality«104 zwischen Erzählerin und Herausgeber zu tun, in beiden Fällen wäre die zunächst klare Unterscheidung zwischen editorialem Paratext und dem Text der Erzählerin instabil. Die Inkongruenz, um die es hier geht, ist nicht nur eine von zwei verschiedenen Instanzen, die sich in der Abfolge von Peritext und Text zunächst klar trennen lassen, im ›eigentlichen‹ Text aber ineinander zu laufen scheinen; es geht zugleich um die problematische Vermittlung von (verbrecherischem) Leben mit moralischer Läuterung und Belehrung des Publikums. Dies spricht der Verfasser des Vorworts explizit an, wenn er insistiert: »To give the History of a wicked Life repented of, necessarily requires that the wick’d Part should be made as wicked, as the real History of it will bear […].«105 Hier erscheint erneut die Behauptung, es handle sich um eine wahre G eschichte. Die Rechtfertigungsfunktion dieser Behauptung ist aber eine merklich andere als etwa in Robinson Crusoe: Nicht weil die Erzählung wahr ist, lassen sich aus ihr moralische Schlüsse ziehen, sondern ihre immoralischen Schilderungen müssen gerade deshalb so drastisch ausfallen, weil die Geschichte, die ihnen zu Grunde liegt, wahr ist. Problematisch daran ist, so das Vorwort weiter, dass die Leser daran – entgegen dem Willen des Herausgebers – mitunter mehr Gefallen finden als an der moralischen Auslegung der Geschichte: It is suggested there cannot be the same Life, the same Brightness and Beauty, in relateing the penitent Part, as is in the criminal Part: If there is any Truth in that Suggestion, I must be allow’d to say, ’tis because there is not the same taste and relish in the Reading, and indeed it is too true that the difference lyes not in the real worth of the Subject; so much as in the Gust and Palate of the Reader.106
104 Langford (1992): »Retelling Moll’s Story«, S. 171. 105 Defoe* (1721): Moll Flanders, S. v. 106 Defoe* (1721): Moll Flanders, S. vi. Auch dies findet ein direktes Echo in Molls Bericht: »I reflect that many of those who may be pleas’d and diverted with the Relation of the wild and wicked part of my Story, may not relish this, which is really the best part of my Life […] and the most instructive to others«; Defoe* (1721): Moll Flanders, S. 358 f.
Vorworte und andere ›Liminarien‹
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Auch hier ist die Rede von zwei getrennten ›Teilen‹ – einer »criminal«, der andere »penitent«. Nimmt man den Herausgeber beim Wort, so müsste ersterer auf Moll und zweiterer auf ihn zurückfallen, was letztlich bedeutet, dass er für den (tendenziell ›langweiligeren‹) Teil verantwortlich ist, der sich dennoch rahmen- und nahtlos in den Text einfügt. Die hybride Form von Herausgeberkommentar und Erzählung, die Moll Flanders auszeichnet, lässt die Frage nach der historischen Wahrheit in den Hintergrund treten. Der Herausgeber handelt sie relativ knapp gleich zu Beginn seines Vorwortes ab: The World is so taken up of late with Novels and Romances, that it will be hard for a private History to be taken for Genuine, where the Names and other Circumstances of the Person are concealed, and on this Account we must be content to leave the Reader to pass his own Opinion upon the ensuing Sheets, and take it just as he pleases. / The Author is here suppos’d to be writing her own History, and in the very beginning of her Account, she gives the Reasons why she thinks fit to conceal her true Name, after which there is no Occasion to say any more about that.107
Dieser Einstieg ist auffällig. Die Frage, ob der Bericht als »Romance« oder »Novel« oder aber als (authentische) »private History« zu verstehen sei, beantwortet der Herausgeber letztlich nicht. Allein aber durch die Erwähnung der beiden Textsorten »Romance« und »Novel« (die für ihn im Übrigen offenbar gleichbedeutend sind) präsentiert er diese Genrezuordnung als eine immerhin mögliche. Schlussendlich aber überlässt er es dem Leser, sich hierüber ein Urteil zu bilden, und er selbst stellt keine Behauptungen auf. Noch deutlicher wird dies, wenn er über Moll sagt: »The Author is […] suppos’d to be writing her own History«. Die Ambivalenz, die dem »is […] suppos’d to be« eigen ist, ist wohl nicht zufällig: Der Herausgeber legt sich erneut nicht fest und behauptet (wie schon der Herausgeber von Robinson Crusoe), dass er jedenfalls annehme, dass Moll die tatsächliche Verfasserin sei. Zugleich soll der Leser annehmen, dass dies der Fall ist, und die daraus resultierenden Konsequenzen akzeptieren, die unter anderem darin bestehen, dass der Leser den echten Namen der Protagonistin nicht erfährt. Moll Flanders hat, so lässt sich die halbherzige Behauptung des Herausgebers ergänzen, durchaus Ähnlichkeiten mit Romanen. Die zentrale Auffälligkeit und Abweichung gegenüber authentischen (Auto-)Biographien ist, dass der echte Name der Protagonistin nicht genannt wird – ein Umstand aber, der von der Erzählerin selbst motiviert wird. Wenn also die Erzählerin, wie oben dargestellt, die moralische Legitimation und sittliche Instruktion des Lesers übernimmt, die der Herausgeber erst als seinen (angeblich) eigenen Beitrag einführt, so gelten für ihn zugleich diejenigen Restriktionen, die Moll ihrem Bericht auferlegt. Dass dies nicht einfach eine Rücksicht des Verlegers ist, wird durch die Tatsache angedeutet, dass Moll in ihrem Bericht für die Zeit nach ihrem Tod die Möglichkeit der Namensnennung einräumt:
107 Defoe* (1721): Moll Flanders, S. iii.
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Vorworte und andere ›Liminarien‹
My true Name is so well known in the Records, or Registers at Newgate, and in the Old-Baily, and there are some things of such Consequence still depending there, relating to my particular Conduct, that it is not to be expected i should set my Name, or the Account of my Family to this Work; perhaps after my Death it may be better known, at present it would not be proper […]. / It is enough to tell you, that as some of my worst Comrades […] know me by the Name of Moll Flanders; so you may give me leave to speak of myself, under that Name till I dare own who I have been, as well as who I am.108
Da Moll Flanders zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bereits tot ist,109 dürfte die Einschränkung eigentlich nicht mehr gelten; der Herausgeber aber wahrt weiterhin, ohne dafür Gründe anzugeben, das Inkognito. Im Kontext einer Autobiographie einer Kriminellen lässt sich über das Verhältnis von Herausgeber und Protagonistin hier wohl als ›Komplizenschaft‹ sprechen. Damit einher geht das Problem, dass sich der Rahmen nicht eindeutig von dem Gerahmten ablösen lässt. Die moralische Legitimation des Herausgebers und seine ›Verbesserungen‹ des Textes scheinen zunächst eine allein dem Herausgeberrahmen angehörende Veränderung des Textes zu sein. Indem sie aber im Text selbst unmarkiert und in der Stimme der Protagonistin erfolgen und sich durch ambivalente Kommentare des Herausgebers nicht von ihrem Lebensbericht abgrenzen lassen, werden sie zu Teilen des Textes selbst, der schon bereitzuhalten scheint, was der Herausgeber erst hinzugefügt haben will. Im Umkehrschluss übernimmt der Herausgeber Motivationen Molls und verfährt gegenüber dem von ihm adressierten Publikum nicht anders als Moll gegenüber dem ihren: Er fügt keine Informationen hinzu, die Moll zurückhält. Extrinsische und intrinsische Motivationen greifen hier also beinahe nahtlos ineinander und lassen den Rahmen und das Gerahmte nicht mehr als deutlich voneinander geschiedene Bereiche erscheinen, sondern vielmehr als Konflation, als Verschmelzung von Bereichen, die eigentlich, den Konventionen von Paratextualität und Herausgeberfunktion zufolge, strikt zu trennen sein sollten. Dies hat – nicht zuletzt – Konsequenzen für den fiktionalen/faktualen Status des Textes, der für eine (zumindest putative) Zuordnung gerade auf die Separation der Ebenen und Verantwortlichkeiten angewiesen ist. Wie schon in Robinson Crusoe, wo ein ähnliches Resultat durch die Anhäufung immer weiterer paratextueller Elemente und ihrer Widersprüchlichkeiten erreicht wird, schiebt die Konflation von editorialem Paratext und ›eigentlichem Text‹ die Frage nach einer stabilen Instanz, deren Verantwortung sich angeben ließe, auf und unterläuft so die Möglichkeit einer Festlegung. Nicht länger gibt es einen (schriftlich) fixierten Text, auf den ein Herausgeber schlicht zugreift, sondern der Herausgeber greift in den Text ein, ebenso wie der Text die Grenzen dessen, was dem Herausgeber ›erlaubt‹ ist, zu beschneiden scheint.
108 Defoe* (1721): Moll Flanders, S. 1 f. 109 Neben dem Hinweis im Titel, der mit »died penitent« endet, spezifiziert ein den Text abschließender Paratext: »Written in the Year 1683«; Defoe* (1721): Moll Flanders, S. 424.
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Dem steht die Annahme gegenüber, dass die Einflussnahme bei einem (nicht-fiktiven) Akt der Herausgabe nur in eine Richtung (vom Herausgeber auf den Text) verlaufen kann. Anders als die widersprüchlichen Zuordnungen in Robinson Crusoe, zeichnen sich die Instanzen in Moll Flanders durch eine ambivalente Relation zueinander aus. Einerseits fordern sie zu einer von der Fiktion verlangten Trennung der Instanzen heraus, andererseits machen sie eine stabile Trennung unmöglich. Mit dieser Trennung ist zugleich die Frage nach der Zugehörigkeit zu einer Welt aufgerufen: Wenn der Herausgeber lediglich ein Manuskript ediert, das seiner (der realen) Welt angehört, dann müssen die Regeln gelten, die für den Umgang mit Texten etabliert sind. Wenn aber der Text einer fiktiven Welt angehört, so ist der Herausgeber eine Übertrittsfigur, die einerseits den Text in der realen Welt vermittelt, die aber andererseits, weil sie mit der fiktiven Welt ›in Kontakt ist‹, dieser bereits mit angehört. Die Ambivalenz, durch die sich in Moll Flanders das Verhältnis von Herausgeber und Text auszeichnet, lässt letztlich beide Deutungen zu und überlässt ein Urteil ostentativ dem Leser, der freilich auf keine weiteren Informationen zurückgreifen kann, als diejenigen, die ihm der Text und das Vorwort liefern.110 Sowohl Moll Flanders als auch Robinson Crusoe illustrieren auf je unterschiedliche Art und Weise ein Problem und eine mögliche Umgangsform mit diesem. Als Problem lässt sich die Zulässigkeit von Fiktion beschreiben, die an strenge moralische Kriterien gebunden ist. Zulässig wäre eine Fiktion allenfalls dann, wenn sie als Allegorie auf die Wirklichkeit lesbar ist und so der Instruktion und moralischen Läuterung dient. Weder Moll Flanders noch Robinson Crusoe erfüllen jedoch diese Bedingungen direkt: Während ersterer einen Roman über ein amoralisches Leben darstellt, in dem Belehrung erst ›nachträglich‹ eingefügt werden muss, so ist bei letzterem schlicht unklar, wie sich die vermeintliche Realität des Geschilderten zur allegorischen Interpretation verhalten soll. Diese Inkonsistenzen lassen sich lesen als Versuche der Rechtfertigung von Fiktion, die letztlich scheitern müssen, sich dabei jedoch eines Instruments bedienen, das zwar das Problem nicht lösen, aber auf einen Umgang verweisen kann, der den Autor von der Verantwortung für das im Text Gesagte entbindet und ihn lediglich für die Veröffentlichung verantwortlich macht. Diese Funktion der Herausgeberfiktion, die so einen Bruch zwischen Autor und Erzähler ›illustriert‹, bietet vielfache Möglichkeiten, zwischen den beiden Bereichen zu vermitteln. So ist der Herausgeber von Moll
110 Loveman merkt an, dass es – im Gegensatz zu Robinson Crusoe – kaum eine zeitgenössische Diskussion über den Status von Moll Flanders gegeben habe, und führt dies darauf zurück, dass in diesem Fall nicht weithin bekannt war, dass der Text von dem notorischen »trickster Defoe« stammt; Loveman (2008): Reading Fictions 1660–1740, S. 147. Ebenso aber ließe sich argumentieren, dass der Text weniger zu einer Diskussion oder Skepsis einlädt, da er keine explizit widersprüchlichen Signale im Paratext ausgibt, die den fiktionalen/faktualen Status des Textes betreffen, sondern vielmehr eine Unschärfe der Zuschreibung des Textes zu einer verantwortlichen Instanz ausstellt, die den Rahmen mit dem Gerahmten verschmelzen lässt und so eine Diskussion nicht nur erschwert, sondern letztlich von Beginn an unfruchtbar werden lässt.
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Flanders nicht mehr so eindeutig von einem Erzähler zu unterscheiden, wie es noch derjenige in Life and Adventures und Farther Adventures war, denn er übernimmt nicht nur die Veröffentlichung des Textes und kommentiert ihn, sondern er greift selbst in diesen ein und verändert den Diskurs der Erzählerin dadurch. Er gewinnt damit gegenüber dem Text eine gewisse Selbständigkeit, die ihn in die Nähe des Autors (als Verfasser) rücken lässt – mitunter unterläuft ihm im Vorwort sogar die Bezeichnung ›author‹ und er verweist auf seinen ›pen‹, dem der Diskurs entstamme. Während sich bei Defoe in den beiden hier betrachteten Texten mit der Heraus geberfiktion immer auch ein expliziter Anspruch verbindet, die herausgegebenen Texte als faktuale zu inszenieren, so deutet sich bereits hier eine gewisse Freiheit an, die eng mit der Funktion des Herausgebers verbunden ist: Dieser kann über den Status des nachfolgenden Textes spekulieren und muss sich keineswegs festlegen. Der Herausgeber von Moll Flanders hält ausdrücklich fest: »we must be content to leave the Reader to pass his own Opinion upon the ensuing Sheets, and take it just as he pleases«111. Ein Herausgeber hat im Vorwort die Möglichkeit, den Status des Textes zu problematisieren, ja ostentativ offen zu halten und so auf die Möglichkeit von Fiktion indirekt hinzuweisen. Ein besonders auffälliges Beispiel für dieses Verfahren sind Schnabels Wunder liche Fata. Der Langtitel des Textes, der heute aufgrund einer von Tieck herausgegebenen Fassung als Insel Felsenburg bekannt ist, verweist bereits auf gewisse Ähnlichkeiten mit Life and Adventures. In beiden Fällen ist von einem Schiffbrüchigen und seinem Überleben auf einer Insel die Rede. Das Vorwort des Herausgebers Gisander, der auch auf dem Titelblatt genannt wird, bezieht sich zudem explizit auf die Tradition, die aus Defoes Roman entstanden ist. Er bezeichnet den folgenden Text als »Geschichts-Beschreibung«112, die allerdings bereits aufgrund des »Titul-Blattes« – neben dem Anklang an Life and Adventures ist hier auch an das Adjektiv ›wunderlich‹ zu denken –113 das Gehirn des Lesers mit »Præjudiciis«114 anfüllen könne. Allein der Titel ruft also einen Verdacht auf, den der Herausgeber zunächst zu entkräften sucht: Allein, ich höre leyder! schon manchen, der nur einen Blick darauf schiessen lassen, also raisoniren und fragen: Wie hälts, Landsmann! kan man sich auch darauf verlassen, daß deine Geschichte keine blossen Gedichte, Lucianische Spaas-Streiche, zusammen geraspelte Robinsonaden-Späne und dergleichen sind?115
111 Defoe* (1721): Moll Flanders, S. iii. 112 Schnabel* (1732): Wunderliche Fata, S. [i]. 113 Es ist als eines der Adjektive zu verstehen, die der Herausgeber der Fata als verdächtig ausweist: »wahrhafftig, erstaunlich, erschrecklich […], unerhört, unerdencklich, wunderbar, bewundernswürdig, seltsam und dergleichen«; Schnabel* (1732): Wunderliche Fata, S. [iii]. 114 Schnabel* (1732): Wunderliche Fata, S. [i]. 115 Schnabel* (1732): Wunderliche Fata, S. [ii].
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Neben dem Verweis auf Lukian (siehe Kap. 1) ist der Verweis auf die RobinsonadenTradition explizit im Vorwort aufgegriffen. Die Robinsonaden werden als ›Gedichte‹ und somit, im Unterschied zur ›Geschichte‹, als erfundene Erzählungen ausgewiesen, die sich aber als solche nicht zu erkennen geben: Dem Leser werden so möglicherweise »an diejenige Nase, so er doch schon selbst am Kopffe hat, noch viele kleine, mittelmäßige und grosse Nasen«116 gedreht.117 Von dieser Tradition setzt sich der Herausgeber Gisander nicht explizit ab, indem er gegen die Einordnung des nachfolgenden Textes in diese Tradition protestiert. Stattdessen lässt er in direkter Rede den Leser, der der Robinsonaden überdrüssig ist, gegen diese polemisieren. Der Herausgeber unterbricht schließlich diesen Redefluss und deutet an, dass das, was diesem Leser nicht gefalle, vielen anderen durchaus Vergnügen bereite.118 Er kommt dabei zu keinem Urteil über den Text, sondern stellt eine grundsätzliche Überlegung an: Warum soll man denn dieser oder jener eigensinniger Köpffe wegen, die sonst nichts als lauter Wahrheiten lesen mögen, nur eben lauter solche Geschichte schreiben, die auf das kleineste Jota mit einem cörperlichen Eyde zu bestärcken wären? Warum soll denn eine geschickte Fiction, als ein Lusus Ingenii, so gar verächtlich und verwerfflich seyn?119
Der Herausgeber stellt offen die Frage, ob nicht auch eine »Fiction« legitim sei, und er bezieht sich dabei im Folgenden auch auf die »Heil. Bibel«, in der schließlich auch »Exempel«, also erfundene Lehrbeispiele, vorkämen.120 Er vertritt am Ende eine vergleichsweise ›liberale‹ Ansicht: Schriften, egal welcher Art, seien weniger danach zu beurteilen, ob sie Nutzen bringen, sondern eher danach, ob sie keinen Schaden anrichten. Zu ergänzen ist diese Überlegung vermutlich um den Schluss, dass daher auch erfundene, nur der »Gemüths-Ergözung«121 und der Unterhaltung dienende Texte eine Existenzberechtigung haben. Statt jedoch diese Rechtfertigung explizit auszuführen und den folgenden Text anschließend als eben solchen Text auszuweisen, dem diese Rechtfertigung gilt, wendet der Herausgeber in seinem »Zickzackkurs«122 das Blatt erneut:
116 Schnabel* (1732): Wunderliche Fata, S. [ii]. 117 Dabei gehört es zur Tradition der Robinsonaden, einen expliziten Wahrheitsanspruch zu formulieren, der durchaus im Widerspruch stehen kann zum traditionsstiftenden Text. So ist etwa im »Avertissement« zum »Sächsischen Robinson« (1722) festgehalten, dass Defoes Robinson Crusoe – selbstverständlich ganz im Gegenteil zu seinem sächsischen Pendant – »mit Recht unter die wohl ausgesonnenen Fabeln gezehlet zu werden verdienet«; [Anonym] (1970 [1722]): Der sächsische Robinson, S. 2 f. 118 Vgl. Schnabel* (1732): Wunderliche Fata, S. [iii]. 119 Schnabel* (1732): Wunderliche Fata, S. [iv]. 120 Schnabel* (1732): Wunderliche Fata, S. [iv]. Vgl. Stockinger (1981): Ficta Respublica, S. 402 f. 121 Schnabel* (1732): Wunderliche Fata, S. [i]. 122 Weber (1974): Die poetologische Selbstreflexion im deutschen Roman des 18. Jahrhunderts, S. 28.
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Vorworte und andere ›Liminarien‹
Allein, wo gerathe ich hin? Ich solte Dir, geneigter Leser, fast die Gedancken beybringen, als ob gegenwärtige Geschichte auch nichts anders als pur lautere Fictiones wären? Nein! dieses ist meine Meynung durchaus nicht, jedoch soll mich auch durchaus niemand dahin zwingen, einen Eyd über die pur lautere Wahrheit derselben abzulegen.123
Einen »cörperlichen Eyd« will Gisander also für die Wahrheit des Textes nicht leisten und berichtet stattdessen, wie er an das Manuskript gelangt sei. Er habe es von einem »Literato«124 erhalten, der es bearbeitet habe, jedoch nicht druckfertig machen konnte, da er von einer Postkutsche überfahren worden sei. Dieser Literatus habe die Papiere seinerseits von Eberhard Julius erhalten, damit er sie veröffentliche. Ein abschließendes Urteil über den Text könne Gisander also allein schon wegen der unglücklichen Umstände seiner Besitznahme derselben und der verworrenen ›Überlieferung‹ nicht abgeben: Also siehest du, mein Leser, daß ich zu dieser Arbeit gekommen bin, wie jener zur Maulschelle, und merckest wohl, daß mein Gewissen von keiner Spinnewebe gewürckt ist, indem ich eine Sache, die man mir mit vielen Gründen als wahr und unfabelhafft erwiesen, dennoch niemanden anders, als solchergestalt vorlegen will, daß er davon glauben kan, wie viel ihm beliebt.125
Auch hier bleibt also das Urteil letztlich dem Leser überlassen. Damit steht jedoch selbstverständlich die Frage im Raum, ob diese Problematisierung des Wahrheits anspruchs des Textes nicht bereits selbst als auffällige Inszenierung und damit als Fiktionalitätssignal gelesen werden muss. Bezeichnenderweise greift Gisander dies selbst im Vorwort zum zweiten Band auf: 3). Sage ich noch einmahl und bleibe dabey, daß es mir gleich viel gilt, es mag ein oder ander, viel, wenig, oder gar nichts von der Wahrheit dieser Geschichte glauben, oder darauf bestehen bleiben, daß ich mich in der Vorrede ziemlich verdächtig gemacht, als ob ich selbst nicht viel davon glaubte.126
Diesen Verdacht will Gisander keineswegs bestätigen – er weist die Fiktion aber natürlich allein schon dadurch, dass er den Verdacht erwähnt und somit darauf aufmerksam macht, als eine mögliche Option aus. Darauf komme es jedoch auch gar nicht an, wie er lakonisch festhält: »Es ist keine Gewissens-Sache, und außerdem des Heil. Römischen Reichs Wohlfahrt gar nicht damit verknüpfft.«127 In der Forschung lassen sich die unterschiedlichsten Positionen zur Einschätzung dieser Herausgeberfiktion finden, die darin wahlweise eine Wahrheitsbeteuerung
123 Schnabel* (1732): Wunderliche Fata, S. [iv]. 124 Schnabel* (1732): Wunderliche Fata, S. [v]. 125 Schnabel* (1732): Wunderliche Fata, S. [vii]. 126 Schnabel* (1732): Wunderliche Fata, zweyter Theil, S. [viii] f. 127 Schnabel* (1732): Wunderliche Fata, zweyter Theil, S. [ix].
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sehen oder aber eine letztlich offenkundige Ausstellung des fiktionalen Charakters des Textes.128 Die Äußerungen Gisanders zu fiktionalen Texten wurden entweder gelesen als »Rechtfertigung der Fiktion«129 und Ausweis eines »neuen literarischen Selbstbewusstseins«130, oder aber als Indiz dafür, dass es Schnabel um diese Frage in letzter Instanz nicht gehe, ja diese für ihn »sinnlos«131 sei, da er auf moralische Instruktion abziele, hinter der die Frage nach der Faktizität des Dargestellten zurücktrete. Was sich über alle diese Positionen hinweg festhalten lässt, ist die Tatsache, dass bei Schnabel das Verhältnis von Herausgeberfiktion und ›eigentlichem‹ Text auf eine Weise gestaltet ist, die sich als »Rahmenkonfusion«132 beschreiben ließe. Dies betrifft zuvorderst den jeweiligen Anspruch auf Tatsächlichkeit. Voßkamp beschreibt das Verhältnis folgendermaßen: Die Herkunftsgeschichte des Manuskripts wird poetisch verrätselt, die Herausgeberrolle nur noch spielerisch aufgenommen und zum Gegenstand einer gelungenen Vorgeschichte in der Vorrede gemacht. Die Fiktion eines Herausgebers wird durch die literarische Darstellung in der Vorrede dem Leser als Fiktion bewußt gemacht: aus einem Mittel, den Wahrheitsanspruch zu postulieren, wird bei Schnabel literarisches Spiel.133
Dies jedoch ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Nicht nur bleibt unklar, inwiefern die Geschichte des Manuskripts ›verrätselt‹ sein soll (Gisander erklärt ja, wie er dazu kommt), auch inwiefern dies deutlich machen soll, dass es sich bei dem Folgenden um Fiktion handle, wird nicht klar. Gemeint ist mit der ›literarischen Darstellung‹ wohl, dass die Geschichte, wie Gisander an das Manuskript gelangt, narrativ dargestellt wird. Dies ist allerdings an sich kaum als offener Hinweis auf Fiktion zu begreifen. Damit ist auch die Herausgeberfiktion bei Schnabel nicht automatisch ›nur‹ einem literarischen Spiel verpflichtet – einmal abgesehen davon, dass sie davor und beispielsweise bei Defoe auch nicht ohne Weiteres als ›Mittel, den Wahrheitsanspruch zu postulieren‹, gelesen werden kann. Was sich aus Voßkamps Beschreibung jedoch ablesen lässt, ist eine Verlagerung innerhalb der Herausgeberfiktion, bei der die Wahrheitsbeteuerung des Herausgebers gegenüber der Erzählung der Geschichte des
128 Vgl. Brunner (1967): Die poetische Insel, S. 102; dagegen: Vosskamp (1968): »Theorie und Praxis der literarischen Fiktion«, S. 140. In diesem Sinne auch: »Schnabel hält nur noch ganz locker am Wahrheitsanspruch fest und versucht im übrigen die Fiktion allmählich literaturfähig zu machen«; Ehrenzeller (1955): Studien zur Romanvorrede, S. 128. 129 Vosskamp (1968): »Theorie und Praxis der literarischen Fiktion«, S. 139. 130 Vosskamp (1968): »Theorie und Praxis der literarischen Fiktion«, S. 138. 131 Stockinger (1981): Ficta Respublica, S. 402. Eine dritte Position vertritt Weber, der festhält, Gisanders Vorrede laufe darauf hinaus, »daß dem Leser bedeutet wird, die Wunderlichen Fata enthielten sowohl erfundene wie wahre Geschichten«; Weber (1974): Die poetologische Selbstreflexion im deutschen Roman des 18. Jahrhunderts, S. 30. 132 Wirth (2008): Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion, S. 197. 133 Vosskamp (1968): »Theorie und Praxis der literarischen Fiktion«, S. 138.
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anuskripts an Bedeutung verliert (Gisander behauptet schließlich an keiner Stelle, M die Wahrheit des im nachfolgenden Text Dargestellten) und stattdessen eine narrative Einbettung der Geschichte eines Manuskripts ins Zentrum rückt. Gisanders explizite Thematisierung des (fraglichen) Status des nachfolgenden Textes lässt sich damit als Verhandlung von Positionen und Aufzeigen von Lektüremöglichkeiten lesen, von denen allerdings ostentativ keine bevorzugt wird. Diese Möglichkeit wird innerhalb der Herausgeberfiktion durch die Geschichte der Auffindung des Manuskripts erst geschaffen: Gisander kann plausibel machen, dass er nicht in der Lage ist, die Faktizität des Dargestellten zu prüfen. Während also bei Defoe noch entweder keine plausible Manuskriptfiktion besteht (Robinson Crusoe) oder sich Herausgeber- und Erzählinstanz zu vermischen drohen (Moll Flanders), so ist bei Schnabel eine zunächst durchaus plausible Konstellation zu sehen, die den Status des nachfolgenden Textes allerdings explizit problematisiert. Vor diesem Hintergrund ist die Frage nach der Signalwirkung dieser Herausgeberfiktionen erneut zu diskutieren, denn es erscheint paradox, dass ausgerechnet eine weitgehend plausible Herausgeberfiktion ein Fiktionssignal darstellen soll (wie etwa Voßkamp nahelegt), während die ambivalenten Zuschreibungen, die sich aus Defoes Vorworten ergeben, immer wieder als Wahrheitsbeteuerung gelesen werden. Im Hintergrund ist sicherlich auch eine zunehmende Rechtfertigung der Fiktion zu beobachten, die bei Schnabel explizit aufgegriffen wird. Dies jedoch ist nicht der eigentliche Punkt, denn auch Schnabels Roman verzichtet mit der Herausgeberfiktion nicht vollständig auf die ›Einkleidung‹ des Textes als nicht-fiktionalen. Von zentraler Bedeutung ist vielmehr die Verschiebung, die den Herausgeber selbst als fiktiv erscheinen lässt. War der anonyme Herausgeber Defoes noch ein ›fingierter‹ Herausgeber (im Sinne Wirths; siehe S. 127), welcher der tatsächlichen Welt angehört und ›dort‹ über den Text Auskunft gibt, so ist Gisander bereits ›näher‹ an der Welt der Geschichte, wobei diese ›Nähe‹ durch die Geschichte des Manuskripts und der komplizierten Überlieferung als hochgradig vermittelt erscheinen muss (das Manuskript ist letztlich in großen Teilen der Bericht Eberhard Julius’, der es wiederum dem ›Literatus‹ zur Veröffentlichung gegeben habe). Gerade diese Vermittlung scheint bei Schnabel eines der zentralen Elemente des Vorwortes zu sein, die es zu plausibilisieren sucht. Während also Defoes Vorworte zu Robinson Crusoe es zulassen, als ›Verbildlichung‹ einer Trennung von Autor und Erzähler gelesen zu werden, die jedoch vor dem zeitgenössischen Hintergrund nicht offen dargestellt werden kann, so gilt bei Schnabel, dass seine Vorrede die doppelte Funktion eines fiktiven Herausgebers illustriert. Diese Doppelstellung hält Angelet fest: »Par définition, le préfacier fictionnel a un double statut. En tant qu’éditeur d’un manuscrit trouvé, il appartient lui-même au monde romanesque qu’il a suscité […]. Mais en tant qu’auteur, il est bien réel […].«134 Die Herausgeberfiktion ist dabei also an beiden Welten beteiligt, sie ist eine Übergangsfigur, die das fiktive Manu-
134 Angelet (2003): »De la préface au roman«, S. 18.
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skript in die reale Welt bringt. Sie ist es, die »den Bruch zwischen den Aussageinstanzen, die im Paratext und im Haupttext zu Wort kommen, performativ vorführt«135 und dabei eine Vermittlungsinstanz, den ›Literatus‹ einführt, den sie jedoch zugleich wieder ›entfernt‹, indem sie ihn sterben lässt. Durch eben diesen Tod gehen Funktionen auf den Herausgeber Gisander über, die ihn als Ko-Autor ausweisen: Er übernimmt die Organisation des Textes, an ihm ist es, ihn »in eine ziemliche Ordnung zu bringen«136. Das Vorwort kann gelesen werden als eine mise en scène des Vorgangs der Herausgabe und macht damit den Übergang von fiktiver und realer Welt deutlich, nur um sogleich eben die Figur des Übergangs, den ›Literatus‹, wieder zu entfernen. Einen Signalcharakter für die Fiktionalität des Textes hat Gisanders Vorwort damit aber noch nicht automatisch, denn es ist an die – realiter ja mögliche – Herausgeber figur gebunden. Die explizite Thematisierung des fraglichen Status des Textes aber zeichnet die Frage nach der Fiktionalität als jedenfalls relevante aus. Herausgeber fiktionen lassen sich in der Folge zwar durchaus mit Recht als Fiktionssignale charakterisieren, dies erscheint jedoch als ein Effekt der zunehmenden Verbreitung eben dieses paratextuellen Dispositivs. Berthold spricht in diesem Zusammenhang treffend von einer »Glaubwürdigkeits-Unterminierung durch inflationären Gebrauch«137. Noch zentraler allerdings erscheint, dass die Faktualitäts- und Faktizitätsmarkierungen immer auch eine Verhandlung des jeweils zeitgenössischen Fiktionsverständnisses illustrieren und ›Inszenierungen‹ für einen Umgang mit Texten suchen, der zwischen Autor und Erzähler trennt und eine fiktive Welt annimmt. Es scheint also, dass aus einer anfänglich tatsächlich problematischen Position heraus (man denke an Defoes puritanischen Hintergrund) immer neue Wege gesucht wurden, einen Modus zu finden, der zwischen Fiktion und Realität vermittelt und dabei Wege aufzeigt, die denen einer modernen Theorie literarischer Fiktion durchaus vergleichbar sind. Dabei wird aus der anfänglich (zumindest in Teilen) extrinsischen Motivation für diese Verfahren zunehmend eine intrinsisch motivierte Tradition der Herausgebervorrede, die immer näher zum Spiel rückt – und damit auf Rezipientenseite immer näher zu einem Fiktionssignal. In der Folge finden sich weitere Problematisierungen der Doppelstellung des Herausgebers angeblicher Manuskripte, die dabei immer wieder auch den Status des Autors betreffen. Das vielleicht deutlichste Beispiel ist im ›zweiten Vorwort‹138 zu Rousseaus Julie ou la nouvelle Héloïse zu finden,139 das explizit die Trennung der
135 Wirth (2008): Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion, S. 188. 136 Schnabel* (1732): Wunderliche Fata, S. [viii]. 137 Berthold (1993): Fiktion und Vieldeutigkeit, S. 123. 138 Das Vorwort erscheint im selben Jahr wie die Erstausgabe (1761), jedoch separat davon: Rousseau (1761): Préface de la Nouvelle Héloïse. 139 Der Titel Julie ou la nouvelle Héloïse ist in der Erstausgabe nur auf dem Schmutztitel zu lesen. Das Titelblatt trägt den heute oft als Untertitel angefügten Titel: Lettres de deux amans, habitans d’une petite ville au pied des Alpes; Rousseau (1761): Lettres de deux amans. Im Haupttext wird hier auf den inzwischen eingebürgerten Titel zurückgegriffen.
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Vorworte und andere ›Liminarien‹
erantwortungsbereiche thematisiert. Das Vorwort ist allein durch seine PublikationsV geschichte ein gewissermaßen problematischer Paratext, denn es erscheint ursprünglich separat im selben Jahr wie die Erstausgabe (1761), ist jedoch mit Préface überschrieben. Das Vorwort hat also einen ›Zwischenstatus‹ zwischen Epi- und Peritext. In spätere Ausgaben ist das Vorwort häufig aufgenommen (als Vor- oder Nachwort).140 Das Vorwort rechtfertigt seine Einzelstellung in einem ›Avertissement‹ (also einem Vorwort zum Vorwort) folgendermaßen: Ce Dialogue ou Entretien supposé étoit d’abord destiné à servir de Préface aux Lettres des deux Amans. Mais sa forme & sa longueur ne m’ayant permis de le mettre que par extrait à la tête du recueil, je le donne ici tout entier […]. J’ai cru d’ailleurs devoir attendre que le Livre eût fait son effet avant d’en discuter les inconvéniens & les avantages, ne voulant ni faire tort au Libraire, ni mendier l’indulgence du Public.141
Diese Bemerkung greift einige Besonderheiten auf: Zum einen, dass das Vorwort in Dialogform verfasst ist, was durchaus eine paratextuelle Seltenheit ist.142 Zum anderen weist es darauf hin, dass das ›erste‹ Vorwort, das in der Erstausgabe von Julie ou la Nouvelle Héloïse abgedruckt ist, aus Auszügen aus dem ›zweiten‹ Vorwort besteht. Zuletzt greift das ›Vorwort zum Vorwort‹ noch eine Argumentationsfigur auf, die derjenigen bei Béliard sehr ähnlich ist (siehe S. 120): Das Vorwort erscheint deshalb ›verspätet‹ und vom eigentlichen Text getrennt, um diesem eine Rezeption zu ermöglichen, die zunächst vom Einfluss des Vorwortes ungetrübt bleibt. Im (zweiten) Vorwort besteht, wie das Titelblatt ankündigt, ein Dialog zwischen dem ›Herausgeber‹ der Nouvelle Héloïse und einem »homme de lettres« (erneut also ein literatus); die beiden Sprecherpositionen werden abgekürzt durch »N.« für den unbekannten Kritiker und »R.« für den Herausgeber. Als Herausgeber ist auf dem Titelblatt der Nouvelle Héloïse »J. J. Rousseau« genannt. Auf dem Titelblatt des Vorwortes ist sein Name mit dem Zusatz »Citoyen de Genêve« versehen. Genau dies greift nun der »homme de lettres« auf und problematisiert die Autorschaft der Nouvelle Héloïse. Der Roman allgemein sei moralisch problematisch und La Nouvelle Héloïse sei es im Besonderen. Daher rät der Kritiker:
140 Genette spricht mit Bezug auf das zweite Vorwort zu Julie ou la Nouvelle Héloïse von »préface[] manquée[]«; Genette (1987): Seuils, S. 220. 141 Rousseau (1761): Préface de la Nouvelle Héloïse, S. [i] f. 142 Genette nennt einige wenige vergleichbare Fälle; vgl. Genette (1987): Seuils, S. 159. Zentraler jedoch scheint eine Analogie zu romantheoretischen Schriften (und Rousseaus Vorwort bezeichnet sich im Titel selbst ja als ›entretien sur les romans‹), bei denen durchaus weitere Beispiele für die dialogische Form zu nennen wären, wie etwa Reeve* (1785): The Progress of Romance.
Vorworte und andere ›Liminarien‹
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N. […] Si vous croyez donner un livre utile […] gardez-vous de l’avouer. R. De l’avouer, Monsieur! Un honnête homme s[e] cache-t-il quand il parle au Public? Ose-t-il imprimer ce qu’il n’oseroit reconnoître! Je suis l’Editeur de ce livre, & je m’y nommerai comme Editeur. N. Vous vous y nommerez? Vous? R. Moi même. N. Quoi! Vous y mettrez votre nom! R. Oui, Monsieur. N. Votre vrai nom? Jean-Jacques Rousseau, en toutes lettres.143
Rousseau will also mit vollem Namen (wenn auch nicht mit dem Zusatz »Citoyen de Genève«)144 auf dem Titelblatt genannt werden – allerdings als Herausgeber. Genau dies geschieht auch bereits bei der Erstausgabe der Nouvelle Héloïse: »Lettres […] recueillies et publiées par J. J. Rousseau« werden dort auf dem Titelblatt angekündigt. Im Vorwort kündigt Rousseau explizit an, dass er die Verantwortung für den Text übernehme: R. […] Je me nomme à la tête de ce recueil, non pour me l’approprier; mais pour en répondre. S’il y a du mal, qu’on me l’impute; s’il y a du bien, je n’entends point m’en faire honneur.145
Rousseau übernimmt also die Verantwortung für den Text, ohne sich diesen ›aneignen‹ zu wollen, denn er behauptet weiterhin, nur dessen Herausgeber zu sein. Er steht für den Text und seine Wirkung ein, lässt jedoch die Briefe nicht als die seinen erscheinen. Dies ist der Scheidung von Verantwortung zwischen Autor und Erzähler im fiktionalen Text analog: Während der Autor für die Wirkungen des Textes (mitunter juristisch) verantwortlich ist, so ist er es nicht für die Aussagen des Erzählers (beziehungsweise hier: der Briefpartner). Der »homme de lettres« gibt sich damit nicht zufrieden und will Rousseau dazu bringen, seine Autorschaft einzugestehen: N. Quand je vous demande si vous êtes l’auteur de ces Lettres, pourquoi donc éludez-vous ma question? R. Pour cela même que je ne veux pas dire un mensonge. N. Mais vous refusez aussi de dire la vérité? R. C’est encore lui rendre honneur que de déclarer qu’on la veut taire. […] D’ailleurs les gens de goût se trompent-ils sur la plume des Auteurs? Comment osez-vous faire une question que c’est à vous de résoudre?146
143 Rousseau (1761): Préface de la Nouvelle Héloïse, S. 52 f. 144 »Citoyen de Genève? Non pas cela. Je ne profane point le nom de ma patrie; je ne le mets qu’aux écrits que je crois lui pouvoir faire honneur«; Rousseau (1761): Préface de la Nouvelle Héloïse, S. 54. 145 Rousseau (1761): Préface de la Nouvelle Héloïse, S. 53 f. 146 Rousseau (1761): Préface de la Nouvelle Héloïse, S. 56 f.
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Vorworte und andere ›Liminarien‹
Die Autorschaft wird hier an keiner Stelle ausdrücklich angenommen, ebenso wenig aber abgelehnt. Rousseau verweist zudem explizit darauf, dass es am Rezipienten sei, die Frage zu lösen – und dass diese Lösung kaum schwerfallen dürfte. Als »ostentatiously ironic and humorous staging of the convention of pseudo-history«147 verweigert sich das Vorwort einerseits der ›naiven‹ Herausgeberfiktion, während es andererseits auch nicht explizit mit dieser bricht.148 Allerdings ist die Faktizitätsbeteuerung an eine ästhetische Überlegung geknüpft, die sie in einem anderen Licht erscheinen lässt. Zunächst werden nämlich die Figuren und Schauplätze problematisiert und als wenig plausibel eingestuft: N. Mais enfin, vous connoissez les lieux? […] R. […] je vous déclare que je n’y ai point oui parler du Baron d’Etange ni de sa fille. Le nom de M. de Wolmar n’y est pas connu. […] Enfin, autant que je puis me rappeller la situation du pays, j’ai remarqué dans ces Lettres, des transpositions de lieux & des erreurs de Topographie; soit que l’Auteur n’en sût pas davantage; soit qu’il voulût dépayser ses Lecteurs.149
Der geographische Hintergrund wird also problematisiert und dabei ist von einem ›Autor‹, die Rede, ohne dass dieser näher bezeichnet würde – in einem Briefroman immerhin eine merkwürdige Ambivalenz. Die Briefpartner sollten um die geographischen Gegebenheiten ihrer unmittelbaren Umgebung wissen. »N.« beharrt jedoch auf der Frage nach der Wahrheit gerade deshalb, weil sie für ihn an eine ästhetische Folgerung gebunden ist: N. […] Certainement, si tout cela n’est que fiction, vous avez fait un mauvais livre: mais dites que ces deux femmes ont existé; & je relis ce Recueil tous les ans jusqu’à la fin de ma vie.150
Als Fiktion des Autors sei La Nouvelle Héloïse als ›schlechter‹ Text zu verurteilen, er könnte eine Rechtfertigung nur aus der Faktizität des Dargestellten ableiten. Dies verbindet sich mit einer Diskussion zu Beginn des Vorwortes über den Status von portrait und tableau: N. Mon jugement dépend de la réponse que vous m’allez faire. Cette correspondance est-elle réelle, ou si c’est une fiction? R. Je ne vois point la conséquence. Pour dire si un Livre est bon ou mauvais, qu’importe de savoir comment on l’a fait? N. Il importe beaucoup pour celui-ci. Un Portrait a toujours son prix pourvu qu’il ressemble, quelqu’étrange que soit l’Original. Mais dans un Tableau d’imagination, toute figure humain doit avoir les traits communs à l’homme […]. Tous deux supposés bons, il reste encore cette différence que le Portrait intéresse peu de Gens; le Tableau seul peut plaire au Public.
147 Robinson (1990): »Literature Versus Theory«, S. 411. 148 Vgl. Robinson (1990): »Literature Versus Theory«, S. 411. 149 Rousseau (1761): Préface de la Nouvelle Héloïse, S. 61. 150 Rousseau (1761): Préface de la Nouvelle Héloïse, S. 59.
Vorworte und andere ›Liminarien‹
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R. Je vous suis. Si ces Lettres sont des Portraits, ils n’intéressent point: si ce sont des Tableaux, ils imitent mal.151
Hinter der Frage nach dem Portrait/Tableau-Charakter des Textes (die analog gesetzt ist zur Frage Fakt/Fiktion)152 ist also eine Verschiebung zu erkennen, die als Rechtfertigung für die ›Neuheit‹ des Textes nur seine Faktizität gelten ließe, denn er entspricht nicht den gängigen Vorstellungen von Wahrscheinlichkeit und Allgemeingültigkeit (er ›imitiert schlecht‹, wie »R.« zusammenfasst). Damit ist die Frage nach der Faktizität verschoben auf eine ästhetische Frage, bei der es letztlich um die Zulässigkeit einer Fiktion geht, die nicht einem Wahrscheinlichkeitsprinzip verpflichtet ist. Es ist daher zunächst richtig, was de Man anmerkt: The central question around which the imaginary debate of the preface circles is not that of verisimilitude (granted by both interlocutors to be nonexistent in Julie […]), but that of the text’s referential status.153
Letztere Frage ist aber erneut zurückgebunden an Wahrscheinlichkeit: Da die Erwartungen an diese in Julie nicht erfüllt werden, müssen sie durch den Verweis auf Faktizität ›ausgesetzt‹154 werden – zugleich aber ist dieser Weg nicht gangbar, denn einmal als Portrait ausgewiesen, wären die Briefe für ein breiteres Publikum nicht interessant. Die Ambivalenz zwischen problematisierter Faktizität und Fiktivität der Briefe bleibt damit bestehen, sie ist aber in ein weiteres Argument eingebunden, in dem die Frage nach der Faktizität der Briefe ein Stück weit zurücktritt hinter die Frage nach der Zulässigkeit einer Fiktion, die gängige Erwartungen nicht erfüllt – eben genau deshalb, weil sie näher an einem Portrait als an einem Tableau sein will. Hier kündigt sich eine Argumentationsfigur an, in welcher der »Topos der Authentizitätsfiktion selbst thematisiert […] wird«155 und dabei, wie angedeutet, jeweils spezifischen poetologischen Argumentationsfiguren dienen kann. Während bei Rousseau die ambivalente Zuschreibung zentral darin besteht, dass das Vorwort (mit Genettes Terminologie gesprochen; siehe S. 125) assumptive und denegative Elemente verbindet,156 findet sich bei Laclos ein ähnliches Verfahren, das jedoch statt eines Zwiegesprächs in einem Vorwort zwei Vorworte und deren jeweilige Aussageinstanzen gegeneinander stellt. Während Rousseau die Verantwortung für
151 Rousseau (1761): Préface de la Nouvelle Héloïse, S. 10 f. 152 Vgl. de Man (1979): Allegories of Reading, S. 196. 153 de Man (1979): Allegories of Reading, S. 196. 154 Ähnlich Paige: »›N‹ reveals that he does indeed want to like the book, but that he can only do so if ›R‹ […] assures him the letters are real: this alone will moot the rules of art«; Paige (2011): Before Fiction, S. 135. 155 Moravetz (1990): Formen der Rezeptionslenkung im Briefroman, S. 209. 156 Vgl. Herman (2007): »La scénographie des préfaces«, S. 44.
162
Vorworte und andere ›Liminarien‹
den Text übernehmen will, ohne doch die Fiktivität der Briefe einzugestehen, finden sich bei Laclos zwei Vorworte, die je unterschiedliche Kommentare zum Status der Briefe formulieren.157 Les Liaisons dangereuses ist dabei inter(para)textuell eng mit der Nouvelle Héloïse verbunden, wie bereits das Motto zeigt: »J’ai vu les mœurs de mon temps, & j’ai publié ces Lettres. / J. J. Rousseau, Préf[ace] de la Nouvelle Héloïse.«158 Mit dem Verweis auf einen vorgängigen Paratext ist zugleich die Frage aufgerufen, ob dieses Motto als »intertextuelles Signal« gelten kann, das »den vorliegenden Text in ein Paradigma fiktionaler Texte«159 einreiht. Dies kann sicherlich nicht ohne Weiteres behauptet werden, denn die Spezifik dieses Verweises besteht gerade darin, dass hier eine »ambivalente Allusion auf einen selbst ambivalenten Text«160 vorgenommen wird. Diese Ambivalenz ist bei Laclos auf zwei Aussageinstanzen aufgeteilt, denen je ein Vorwort zugeordnet ist: Auf ein »Avertissement de l’éditeur« folgt ein »Préface du rédacteur«. Es begegnen hier also zwei Stufen der Textbearbeitung, die in der Herausgeberfiktion immer schon angelegt sind, meist aber in einer Person ›verkörpert‹ werden: Ein Herausgeber, der für die Publikation, die Zugänglichmachung des Textes verantwortlich ist, und ein Redakteur, der an einem vorgängigen Manuskript arbeitet und in dieses eingreift, es zur Herausgabe vorbereitet. Einen latenten Faktizitätsanspruch erhebt bereits der Titel der Liaisons: »Lettres recueillies dans une Société, & publiées pour l’instruction de quelques autres. Par M. C..... de L...«161. Der Autorname ist hier gerade nicht wie bei Rousseau ausgeschrieben, sondern – wenn auch freilich recht durchsichtig – chiffriert. Der Untertitel aber verweist auf eine Briefsammlung und damit indirekt auf die Herausgabe – vermeintlich – authentischer Texte. Dem allerdings widerspricht der »éditeur« in seinem Vorwort in aller Deutlichkeit:
157 Vgl. Beisel (1991): Ästhetischer Anspruch und narrative Praxis, S. 176. 158 Choderlos de Laclos* (1782): Les Liaisons dangereuses. 159 Moravetz (1990): Formen der Rezeptionslenkung im Briefroman, S. 257. 160 Moravetz (1990): Formen der Rezeptionslenkung im Briefroman, S. 257. Das Motto stammt aus dem sogenannten ›ersten‹ Vorwort der Nouvelle Héloïse, das hier nicht näher thematisiert wurde, weil es im Wesentlichen eine verkürzte Variante des ›zweiten‹ darstellt. Die Stelle ist hochgradig ambivalent: »Il faut des spectacles dans les grandes villes, & des Romans aux peuples corrompus. J’ai vû les mœurs de mon tems, & j’ai publié ces lettres. Que n’ai-je vécu dans un siècle où je dusse les jetter au feu!« Rousseau (1761): Lettres de deux amans, S. [i]. Einerseits sind also Theater und Roman Erscheinungen einer moralisch korrumpierten Zeit, andererseits habe der Herausgeber in Anbetracht eben dieser Moral der Zeit sich dazu entschlossen, die folgenden Briefe zu veröffentlichen, die er eigentlich lieber verbrannt hätte, ja hätte verbrennen müssen, hätte er zu einer anderen Zeit gelebt. Die Schlussfolgerung, dass es sich bei den Briefen um einen Roman handelt, liegt also sehr nahe, wird aber im folgenden Absatz erneut zurückgenommen. 161 Choderlos de Laclos* (1782): Les Liaisons dangereuses.
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Nous croyons devoir prévenir le Public, que, malgré le titre de cet Ouvrage & ce qu’en dit le Rédacteur dans sa Préface, nous ne garantissons pas l’authenticité de ce Recueil, & que nous avons même de fortes raisons de penser que ce n’est qu’un Roman.162
Hinter diesen Gründen, das Werk für einen bloßen Roman zu halten, verbirgt sich eine ironische Distanzierung vom Inhalt der Briefe, die derjenigen bei Rousseau durchaus nicht unähnlich ist: Il nous semble de plus que l’Auteur, qui paroît pourtant avoir cherché la vraisemblance, l’a détruite lui-même & bien mal-adroitement, par l’époque où il a placé les événemens qu’il publie. En effet, plusieurs des personnages qu’il met en scene ont de si mauvaises mœurs, qu’il est impossible de supposer qu’ils aient vécu dans notre siecle; dans ce siecle de philosophie, où les lumieres […] ont rendu, comme chacun sait, tous les hommes si honnêtes & tous les femmes si modestes […].163
Wenn der Bezug auf das Siècle des Lumières durch die sicherlich unzulässige Verallgemeinerung (»chacun sait«, »tous les hommes«, »tous les femmes«) deutlich als Ironie ausgewiesen ist, dann ist auch der Grund, der angegeben wird, warum die folgenden Briefe eine Fiktion sein sollen, davon affiziert. Die ironische Zeitdiagnose greift im Vorwort des »éditeur« das Rousseau’sche Motto implizit auf, das ja gerade die gegenwärtige Zeit mit dem Roman und dem moralischen Verfall assoziiert. Damit allerdings bleibt die Aussage zum Status des Textes in einer offenen Schwebe. Der »éditeur« behauptet, dass der Text kein faktualer sei, und gibt dafür Gründe an; Gründe jedoch, die selbst durch ironische Distanzierung zweifelhaft werden. Daraus allerdings lässt sich noch nicht folgern, dass damit die Behauptung der Fiktionalität des Textes unterlaufen wird. Die ironische Distanzierung ließe sich auch derart interpretieren, dass hier eine zwar durchaus die zeitgenössische Epoche treffend darstellende Beschreibung vorgenommen werde, die aber dennoch eben ein Roman, eine Fiktion sei. Ambivalent wird die Aussage durch die Bindung an die Kategorie der ›vraisemblance‹, die mitunter ausdrücklich als Gegenmodell zur faktischen Wahrheit konstruiert und bei Rousseau explizit so ›inszeniert‹ wurde: Eine Fiktion habe ›vraisemblable‹ zu sein, während ein Verstoß gegen diese Kategorie sich allenfalls durch faktische Tatsachen rechtfertigen ließe.164 Wenn also der ›auteur‹ gegen die ›vraisemblance‹ verstoßen hat, so eine mögliche Folgerung aus der ironischen Bemerkung, dann deshalb, weil der Bruch mit der Wahrscheinlichkeit eben durch die Fakten nötig und damit gerechtfertigt sei.
162 Choderlos de Laclos* (1782): Les Liaisons dangereuses, S. 5. 163 Choderlos de Laclos* (1782): Les Liaisons dangereuses, S. 5 f. 164 Vgl. Genette (1979[1969]): »Vraisemblance et motivation«, S. 71 f. Zur Bedeutungsvielfalt des Begriffs ›vraisemblance‹ im 18. Jahrhundert und seiner Funktionalisierung im Vorwort vgl. Kremer (2008): »Légitimer la fiction: l’argument réflexiv«.
164
Vorworte und andere ›Liminarien‹
Der »rédacteur« allerdings behauptet, dass sich seine Tätigkeit auf das Ordnen und Auswählen der Briefe aus einem Konvolut beschränkt.165 Er habe zudem – dies ist ein indirekter Verweis auf die ›Echtheit‹ der Briefe – die Namen der Beteiligten geändert.166 Besonders auffällig allerdings sind die Bemerkungen des »rédacteur« bezüglich seines Einflusses auf den Text selbst. Die Herkunft der Korrespondenz lässt er dabei völlig offen und bezeichnet sich selbst lediglich als »[c]hargé de la mettre en ordre par les personnes à qui elle étoit parvenue«167. Erneut ist also eine weitere Vermittlungsinstanz beteiligt, deren Rolle jedoch vollständig im Dunkeln bleibt. Der ›rédacteur‹ erklärt weiter, dass er in Stil und Orthographie der Briefe stärker habe eingreifen wollen, dass ihm dies jedoch mit Verweis auf die »vraisemblance«168 verwehrt worden sei: Ces raisons ne m’ont pas persuadé, & je les ai trouvées, comme je les trouve encore, plus faciles à donner qu’a recevoir; mais je n’étois pas le maître, & je me suis soumis. Seulement je me suis réservé de protester contre, & de déclarer que ce n’étoit pas mon avis; ce que je fais en ce moment.169
Der Herausgeber-Bearbeiter behauptet also, nicht ›Herr‹ des Manuskripts und seines Umgangs damit zu sein. Anders als bei Rousseau ist hier also an keiner Stelle im Paratext eine Vermittlungsinstanz genannt, die Verantwortung für den Text übernimmt, sondern diese wird von allen Beteiligten rundheraus abgelehnt. Damit wird auch die Frage nach der Fiktionalität jeglicher Stabilität im Paratext beraubt, der nur mehr »Leserirritation«170 leistet und keine auch nur annähernd stabilen Antworten präsentiert. Es ist weniger zentral, dass, wie es auf den ersten Blick scheint, die beiden Paratexte in ihren Aussagen konträre Positionen vertreten, sondern vielmehr, dass sie in sich bereits hochgradig ambivalent sind. Es liegt nahe, dies gerade in Laclos’ Liaisons als Funktionalisierung zu betrachten, die eine »Potenzierung der Redevielfalt«171 betreibt. Ist der Text selbst ein Gemenge aus vielen Briefen, das keine direkte Leserlenkung erlaubt, so gilt dies in letzter Instanz auch für den Paratext. Der Topos der Manuskriptfiktion wird also zwar aufgegriffen – und damit die Frage nach der Fiktionalität oder Faktualität des Textes –, jedoch
165 Vgl. Choderlos de Laclos* (1782): Les Liaisons dangereuses, S. 9 f. 166 Er erklärt dies in einer Fußnote, die auf eine Weise an spätere Disclaimer erinnert, indem sie möglicherweise bestehende Namensgleichheiten als ›zufällig‹ und nicht-intendiert bezeichnet: »Je dois prévenir aussi que j’ai supprimé ou changé tous les noms des personnes […]; & que si dans le nombre de ceux que je leur ai substitués, il s’en trouvoit qui apartinssent à quelqu’un, ce seroit seulement une erreur de ma part & dont il ne faudroit tirer aucune conséquence«; Choderlos de Laclos* (1782): Les Liaisons dangereuses, S. 10, Anm. 167 Choderlos de Laclos* (1782): Les Liaisons dangereuses, S. 9. 168 Choderlos de Laclos* (1782): Les Liaisons dangereuses, S. 11. 169 Choderlos de Laclos* (1782): Les Liaisons dangereuses, S. 12. 170 Moravetz (1990): Formen der Rezeptionslenkung im Briefroman, S. 261. 171 Moravetz (1990): Formen der Rezeptionslenkung im Briefroman, S. 263.
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in einer hochgradig ambivalenten Art und Weise, welche die Frage selbst zweitrangig werden lässt. Vielmehr ist die Manuskriptfiktion eingebunden in eine Polyperspektivität, die sich nicht auf den ›eigentlichen‹ Text beschränkt, sondern auch den Paratext affiziert. Wenn also bei Rousseau und stärker noch bei Laclos ästhetische Fragen über die Manuskriptfiktion ›verhandelt‹ werden, so ist die Frage zu wiederholen, ob diese Verfahren eine Signalfunktion für Fiktion haben können. Es ist gezeigt worden, dass Manuskript- und Herausgeberfiktionen seit Defoe sich immer wieder durch die Ambivalenz ihrer eigenen Aussagen und die damit verbundenen Zuschreibungen auszeichnen. Die Funktion des ›Topos‹ der Herausgeberfiktion scheint geradezu darin zu bestehen, eine Fiktionsmarkierung qua Ambivalenz einzuführen. Dabei ist diese Ambivalenz immer schon an ästhetische und poetologische Überlegungen gebunden, die über die Frage nach Fakt/Fiktion hinausgehen. Die Ambivalenz kann dabei einerseits durch offen kontradiktorische oder ambivalente Zuschreibungen eingeführt werden, wie etwa bei Rousseau oder Laclos, sie kann aber auch in der Ausgestaltung der Manuskriptfiktion selbst aufscheinen, wie etwa Schnabels Wunderliche Fata illustriert. Nicht zuletzt ist freilich die ›Topizität‹172 selbst ein ambivalentes Moment, das die Manuskriptfiktion immer schon ›verdächtig‹ macht. Dafür spricht zudem, dass sich bereits Mitte des 18. Jahrhunderts Paratexte finden lassen, die den konventionellen Charakter von Manuskriptfiktionen offen thematisieren und sich von diesem Verfahren lösen. So etwa in einem Roman von Jean Magny, der unter dem Titel Mémoires de Justine durchaus eine Herausgeberfiktion andeutet und auch ein Vorwort eines Herausgebers enthält. Dieser aber weigert sich, die Geschichte des Manuskripts zu erzählen, denn damit sei nur das Gegenteil dessen zu erreichen, was (vermeintlich) intendiert ist: Ce seroit ici le lieu de raconter de quelle maniere ces Mémoires sont parvenus jusqu’à moi, & d’arranger là-dessus un événement singulier, pour essayer la crédulité des Lecteurs. Je ne m’amuserai point à le faire, & j’ai pour cela plusieurs raisons excellentes; la meilleure est que je ne trouverois pas tout le monde disposé à croire ce que j’en pourrois dire. Je connais trop la malheureuse prévention du Public contre ces sortes de détails. Qu’on me permette donc de déroger à l’usage des Editeurs modernes, pour m’épargner un soin qui tomberoit en pure perte. / Tout ce que je dirai, c’est que ces Mémoires étant vrais, on n’y trouvera peut-être point cette diversité que l’imagination a coutume de répandre dans ses productions. L’étroite vérité à des bornes […], le mensonge est libre & n’en connaît pas.173
172 Herman spricht von der »topicité […], c’est-à-dire la récurrence des mêmes lieux communs«; Herman (2007): »La scénographie des préfaces«, S. 35. Vgl. auch: Herman (1999): »Manuscrits trouvées à Saragosse«, S. xiii f. sowie Angelet (1999): »Le topos du manuscrit trouvé«, S. xlvii f. 173 Magny* (1754): Mémoires de Justine, S. i f. Der Druckort London und die Angabe des Verlegers, Jean Nourse, sind mit großer Sicherheit falsch. Weller vermutet als Druckort Paris; vgl. Weller (1864): Druckorte, S. 139.
166
Vorworte und andere ›Liminarien‹
Auch diese Rechtfertigung ist bereits in sich hochgradig ambivalent. Einerseits wird die Geschichte eines Manuskripts als fiktionale Fingerübung beschrieben, derer sich standardmäßig bedient werde. Andererseits aber legt der Herausgeber immer wieder nahe, er könne selbstverständlich eine (wahre) Geschichte des Manuskripts erzählen, verzichte aber darauf, weil die Leser ihr aufgrund der bekannten Spielereien mit diesem Topos vermutlich ohnehin keinen Glauben schenken würden. Im Grundsatz ist also in dem Vorwort eine weitere Überbietung des Faktualitätsanspruchs der Herausgeberfiktion zu finden, die so weit geht, die Manuskriptfiktion zu negieren, eben weil sie topisch und damit grundsätzlich dem Zweifel an ihrer Aufrichtigkeit ausgesetzt ist – nur um abschließend dennoch die Faktualität des folgenden Textes zu behaupten: Er sei ›wahr‹ und benötige gerade deshalb keine ausgestaltete Manuskriptfiktion, die Geschichte des Manuskripts dürfe nicht erzählt werden, damit glaubhaft bleibt, es sei ein gefundenes Manuskript. Der Topos ist hier inszeniert als eine Gefahr für Glaubwürdigkeit – und damit indirekt als Fiktionssignal. Spätestens für die Mitte des 18. Jahrhunderts ist also einerseits davon auszugehen, dass Herausgeberkommentare und Erzählungen über die Geschichte eines Manuskripts als Fiktionssignale rezipiert werden können (freilich nicht: müssen), dass sie sich andererseits aber weiterhin großer Beliebtheit erfreuen und daher keineswegs obsolet werden.174 Vielmehr lässt sich beobachten, wie in den weiter bestehenden Herausgeberdiskursen gerade die Ambivalenz der Beschreibung des nachfolgenden Textes als Fiktion (oder gerade: Nicht-Fiktion) inszeniert wird. Die Markierungen, die in den Vorworten erfolgen, sind mitunter explizit widersprüchlich und fordern so eine Auseinandersetzung mit dem Status des Textes, der in einer Art ›Schwebezustand‹ vorgeführt wird. Als Beispiel, das dieses Verfahren besonders ausgiebig und deutlich vorführt, darf Wielands Agathon gelten, in dessen Erstausgabe (1766) das Vorwort bereits 14 Seiten umfasst; in der zweiten Ausgabe wird es erneut abgedruckt und um einen weiteren Paratext mit dem Titel »Ueber das Historische im Agathon« ergänzt, der noch einmal 34 Seiten umfasst.175 Zentral ist, dass es sich bei den latent eingeführten Faktizitätsmarkierungen in diesen Paratexten um einen »performativen Widerspruch«176 handelt, der auch bei Rousseau und Laclos bereits aufscheint:
174 Herman hält fest, dass in der Mitte des 18. Jahrhunderts eine Koexistenz zu beobachten ist zwischen Romanen, die in Vorworten die Existenz des Textes rechtfertigen und plausibel machen, und solchen, die auf solche Maßnahmen gänzlich verzichten; vgl. Herman (2005): »La Préface et ses protocoles«, S. 6. 175 Die Erstausgabe erscheint 1766 anonym und ohne Verlagsangabe unter der Ortsnennung »Frankfurt und Leipzig«. In Wirklichkeit ist der Text in Zürich bei Orell, Geßner und Comp. erschienen; vgl. Dembeck (2007): Texte rahmen, S. 54. Die zweite Ausgabe erscheint 1773. Dembeck deutet die falsche Orts- und fehlende Verlagsangabe als Reaktion auf Zensur; vgl. Dembeck (2007): Texte rahmen, S. 62, Anm. 32. Zugleich aber weist er darauf hin, dass auch dies in die intrinsische Funktionalisierung des Paratextes einbezogen wird; vgl. Dembeck (2007): Texte rahmen, S. 228. 176 Wirth (2008): Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion, S. 198.
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derjenige nämlich, dass »mit dem Hinweis des Herausgebers auf die mögliche Nicht- Authentizität der Briefe die Glaubwürdigkeit seiner Selbstbeschreibung als Heraus geber in Frage gestellt wird.«177 Bei Wieland geht es freilich nicht um die Authentizität von Briefen, sondern um diejenige eines historischen Manuskripts. Dieses ist als hochgradig problematischer Bezugspunkt ausgewiesen und der Herausgeber greift zu Beginn seines ›Vorberichts‹ direkt die Frage der Glaubwürdigkeit auf: Der Herausgeber der gegenwärtigen Geschichte siehet so wenig Wahrscheinlichkeit
vor sich, das Publicum überreden zu können, daß sie in der That aus einem alten Griechischen Manuscript gezogen sey; daß er am besten zu thun glaubt, über diesen Punct gar nichts
zu sagen, und dem Leser zu überlassen, davon zu
denken, was er will.178
Erneut begegnet also eine Formulierung, die ein Urteil ostentativ dem Leser überlässt. Zugleich aber wird – klarer als in den bisher untersuchten Texten – der Text ganz offen als Dichtung ausgewiesen, wenn auch als »wahrscheinliche historische Fiction«179: Gesezt, daß wirklich einmal ein Agathon gewesen, […] gesezt aber auch, daß sich von diesem
Agathon nichts wichtigers sagen liesse, als wenn
er gebohren worden, […], und wenn, und an
was für einer Krankheit er gestorben sey: was
würde uns bewegen können, seine Geschichte zu
lesen, und wenn es gleich gerichtlich erwiesen
wäre, daß sie in den Archiven des alten Athens
gefunden worden sey? Die Wahrheit, welche von einem Werke,
wie dasjenige, so wir den Liebhabern hiemit
vorlegen, gefo[r]dert werden kann und soll, bestehet darinn, daß alles mit dem Lauf der Welt
übereinstimme, daß die Character nicht willkührlich, und bloß nach der Phantasie, oder den Absichten des Verfassers gebildet, sondern aus dem
unerschöpflichen Vorrath der Natur selbst hergenommen […]; und also alles so gedichtet sey, daß kein hinlänglicher Grund angegeben werden könne, warum es nicht eben so wie es erzählt wird, hätte geschehen können […]. Diese Wahrheit allein kann Werke von dieser Art nüzlich machen, und diese Wahrheit getrauet sich der Herausgeber den Lesern der Geschichte des Agathons zu versprechen.180
Es soll also um ›historische Wahrheit‹ in dem Sinne gehen, dass sie sich weniger an den ›trockenen‹ Daten orientiert, als vielmehr auf ihrem Fundament eine wahrscheinliche Erzählung errichtet.181 Das Dargestellte ist zwar »gedichtet«, jedoch nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit gestaltet und damit plausibel. Mit der Versicherung der »Wahrheit« verbindet sich an dieser Stelle nicht länger ein Hinweis auf Faktizität,
177 Wirth (2008): Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion, S. 198. 178 Wieland* (1766): Geschichte des Agathon, S. [i]. 179 Wirth (2008): Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion, S. 201 und passim. Der Begriff geht zurück auf Wieland selbst; vgl. Wirth (2008): Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion, S. 208. 180 Wieland* (1766): Geschichte des Agathon, S. [ii] f. 181 Vgl. Jørgensen (1976): »Warum und zu welchem Ende schreibt man eine Vorrede?«, S. 12.
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Vorworte und andere ›Liminarien‹
sondern auf Plausibilität: Es hätte so geschehen können (womit implizit natürlich ein Bezug auf Aristoteles’ Poetik aufgerufen ist)182, ist aber eben nicht faktisch geschehen, sondern ›gedichtet‹. Damit ist der ›performative Widerspruch‹ zwischen Herausgeberfiktion und ›Fiktionsgeständnis‹ komplett: An keiner Stelle des Vorwortes wird auf ein Manuskript rekurriert, sieht man einmal von der zitierten Passage ab, in der der Herausgeber festhält, dass ihm niemand glauben würde, wenn er behauptete, der Text beruhe auf einem solchen. Die Herausgeberfiktion lässt sich daher mit Recht als »keine ›normale‹ Herausgeberfiktion«183 bezeichnen; man hat es vielmehr mit einer »halb zurück genommenen Herausgeberfiktion«184 zu tun. Vom Herausgeber ist im »Vorbericht«, wie aus den Zitaten deutlich wird, nur in der dritten Person die Rede. Und eben diesem Dritten wird die Gestaltung des Textes zugeschrieben: Allein, da er selbst gewiß zu seyn wünschte, daß er der Welt keine Hirngespenster für Wahrheit verkaufe; so wählte er denjenigen, den er am genauesten kennen zu lernen Gelegenheit gehabt hat. Aus diesem Grunde kann er ganz zuverläßig versichern, daß Agathon und die meisten übrigen Personen […] wirkliche Personen sind, dergleichen es von je her viele gegeben hat, und in dieser Stunde noch giebt, und daß […] alles, was das Wesentliche dieser Geschichte ausmacht, eben so historisch, und vielleicht noch um manchen Grad gewisser sey, als irgend ein Stük der glaubwürdigsten politischen Geschichtschreiber, welche wir aufzuweisen haben.185
Der Herausgeber soll also den Agathon gekannt haben – er ist damit in gewisser Hinsicht Teil der historischen Welt, die der Roman zu beschreiben sucht – und zugleich ist der Verweis auf die (historischen) Personen gebrochen dadurch, dass von ›wirklichen‹ Personen die Rede ist, die aber für eine Vielzahl von Personen zu stehen scheinen und generalisierbaren Mustern folgen. In der zweiten Ausgabe wird dies in dem nun erweiterten Paratext noch deutlicher: Es gehe darum, »ihn [i.e. Agathon] so zu schildern, wie, vermöge der Gesetze der menschlichen Natur, ein Mann von seiner Sinnesart gewesen wäre, wenn er unter den vorausgesetzten Umständen würklich gelebt hätte«186. Erneut also ist der historische Bezug im Sinne einer plausiblen, wahrscheinlichen Annäherung an historisches Geschehen zu verstehen, die so rechtfertigt, dass der Text als »Geschichte« (wie es bereits im Titel heißt) 187 gelesen werden kann:
182 »Aus dem Gesagten ergibt sich auch, daß es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche.« »Φανερὸν δὲ ἐκ τῶν εἰρημένων καὶ ὅτι οὐ τὸ τὰ γενόμενα λέγειν, τοῦτο ποιητοῦ ἔργον ἐστιν, ἀλλ’ οἷα ἂν γένοιτο, καὶ τὰ δυνατὰ κατὰ τὸ εἰκος ἢ τὸ ἀναγκαῖον«; Aristoteles (2003): ΠΕΡΙ ΠΟΙΗΤΙΚΗΣ / Die Poetik, S. 28 f. 183 Dembeck (2007): Texte rahmen, S. 54. 184 Dembeck (2007): Texte rahmen, S. 55. 185 Wieland* (1766): Geschichte des Agathon, S. [iv]. 186 Wieland* (1773): Agathon, S. 3. 187 Der Titel der zweiten Ausgabe ist hingegen auf den bloßen Eigennamen reduziert.
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Und aus diesem Gesichtspunkte hoffet der Verfasser von den Kennern der menschlichen Natur das Zeugnis zu erhalten, daß sein Buch (ob es gleich in einem andern Sinn unter die Werke der Einbildungskraft gehört) des Namens einer Geschichte nicht unwürdig sey.188
Auch hier ist einerseits die Rede von einem Werk der Einbildungskraft, von Fiktion, andererseits wird Anspruch auf historische Wahrheit erhoben. Dies geschieht einmal mehr unter dem Verweis auf eine Instanz des ›Verfassers‹ und nicht etwa eines Herausgebers. Während also vordergründig eine poetologische Diskussion über die Möglichkeit und den Nutzen historischer Fiktionen erfolgt, wird zugleich eine Herausgeberfiktion eingeführt, die jedoch bereits im Vorwort durch die konstante Ver mischung von Instanzen destabilisiert wird. Die Unsicherheit, die die Paratexte »mittels der gleichzeitigen Unterscheidung und Nicht-Unterscheidung von Instanzen, die für die Fassung des Textes verantwortlich zeichnen«189, aufrufen, ist zentral für ihr Verständnis. Hier wird sicherlich keine Herausgeberfiktion eingeführt, die ihrerseits Anspruch auf Tatsächlichkeit oder auch nur Plausibilität entfalten würde. Stattdessen ist sie in eine poetologische Diskussion eingebunden und stellt in einem Modus der »Selbstbeobachtung«190 die Frage nach der Fiktionalität des Textes offen aus. Sie erscheint im Kontext der historischen Fiktion als Verweis auf eine der genuinen Aufgaben des Historikers – die Beschäftigung mit Textzeugnissen –, die jedoch zugleich durch die offen ausgestellte Fiktionalität des Textes als Referenz auf eben jene historiographische Tradition erscheint und nicht etwa als Verweis auf die Faktualität des nachfolgenden Textes. Die Tatsache, dass in diesem Text selbst– im Gegensatz zum Paratext, wo dies nur eine sehr untergeordnete Rolle spielt – immer wieder auf die historische Gestalt des Manuskripts verwiesen wird, ist damit bereits selbst ein Teil der Fiktion: Wielands Herausgeberfiktion spielt mit der intrikaten Verbindung von Text und Paratext. Im ›eigentlichen‹ Text selbst finden sich sehr wohl Hinweise auf die Gestalt des Textes als Manuskript, die, wie gezeigt, im Paratext nur marginal Erwähnung findet. Besonders relevant ist dabei das zehnte Kapitel des ersten Buches, in dem allerdings erneut weitere Instanzen eingeführt werden und somit die ›Editionsgeschichte‹ des Textes noch einmal komplexer wird. Über ein Selbstgespräch des Helden heißt es dort: Da wir uns zum unverbrüchlichen Geseze gemacht haben, in dieser Geschichte alles sorgfältig zu vermeiden, was gegen die historische Wahrheit derselben einigen gerechten Verdacht erweken könnte; so würden wir uns ein Bedenken gemacht haben, das Selbstgespräch, welches wir hier in unserm Manuscript vor uns finden, mitzutheilen, wenn nicht der ungenannte Verfasser die Vorsicht gebraucht hätte uns zu melden, daß seine Erzählung sich in den meisten Umständen auf eine Art von Tagebuch gründe, welches (sichern Anzeigen nach) von der eignen Hand des Agathon sey, und wovon er durch einen Freund zu Crotona eine Abschrift erhalten. Dieser
188 Wieland* (1773): Agathon, S. 4. 189 Dembeck (2007): Texte rahmen, S. 64. 190 Wirth (2008): Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion, S. 423.
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Vorworte und andere ›Liminarien‹
Umstand macht begreiflich, wie der Geschichtschreiber habe wissen können, was Agathon […] mit sich selbst gesprochen; und schüzet uns gegen die Einwürfe, die man gegen die Selbstgespräche machen kann, worinn die Geschichtschreiber den Poeten so gerne nachzuahmen pflegen, ohne sich, wie sie, auf die Eingebung der Musen berufen zu können. / Unsre Urkunde meldet also […].191
Von einem (ungenannten) Verfasser ist hier die Rede, die (wie bereits im Vorbericht) von einem unpersönlichen ›Wir‹ ausgeht. Dessen Manuskript, das dem ›Wir‹ vorliegt, geht jedoch zurück auf eine Abschrift (also ein weiteres Manuskript), die auf den Aufzeichnungen Agathons selbst (ein drittes Manuskript) beruhe. Der Herausgeberkommentar betreibt hier einmal mehr eine »Verunklarung der Textverantwortlichkeit«192, bezieht sich dabei jedoch ganz deutlich auf die Möglichkeiten und Grenzen historiographischer Schreibweisen im Unterschied zu poetischen. Als selbstreflexives Moment der Thematisierung von historiographischer Absicherung und Überlieferung ist diese Beschreibung ausgewiesen, hält jedoch, was das folgende Selbstgespräch des Agathon betrifft, keineswegs ›sichere Anzeigen‹ bereit. Durch den bloßen Verweis darauf, dass es solche gebe (wem auch immer sie zuzuschreiben sein mögen) und durch die »Vervielfältigung des Erzählens«193 beziehungsweise die Vervielfältigung der an diesem Prozess beteiligten Instanzen wird der Verweis als bloßes Zitat historiographischer Praxis deutlich. Eben diese letztlich leere (oder jedenfalls durch den immer weiter aufgeschobenen Autoritätsbezug ins beinahe Unendliche verweisende) Absicherungsgeste macht den Herausgeberdiskurs im Agathon zu einem »Appell, […] das Verhältnis von Wahrheit und Fiktion selbstständig zu reflektieren«194. Eben dies ist der Appell, den der ›Herausgeber‹ expressis verbis bereits am Beginn seines Vorberichts ankündigt. Betrachtet man die bisher dargestellten Beispiele aus dem 18. Jahrhundert, so lassen sich durchaus einige Tendenzen beobachten. Diese können freilich nicht ohne Weiteres zu einer Verlaufsgeschichte zusammengefügt werden. Nicht nur die vergleichsweise geringe Zahl der Textzeugen spricht dagegen, sondern es besteht unabhängig von der Menge der Befunde die Gefahr einer Hypostasierung einer teleologischen Entwicklung. Demgegenüber soll betont werden, dass die (Para-)Texte ihre je eigenen Verfahren entwickeln, um die Frage nach der Fiktionalität/Faktualität des Textes beziehungsweise die Frage nach der Fiktivität/Faktizität des Dargestellten zu verhandeln – genau aus diesem Grund sind sie zunächst einzeln untersucht worden. Erst in einem zweiten Schritt lassen insbesondere intertextuelle Bezüge und Selbstreflexionen der Vorworte historische Entwicklungen sichtbar werden. Die Herausgeberfiktion erscheint in dieser Perspektive zu Beginn des Jahrhunderts noch deutlich extrinsisch motiviert: Autoren wie Defoe setzen sich von einer puritanischen Fiktionsfeindlichkeit
191 Wieland* (1766): Geschichte des Agathon, S. 27 f. 192 Dembeck (2007): Texte rahmen, S. 227. 193 Manger (1996): »Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon«, S. 159. 194 Wirth (2008): Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion, S. 231.
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dadurch ab, dass sie Verfahren der Herausgeberschaft einführen, die auf legitime Verfahren der Publikation rekurrieren. Dass damit ein mitunter relativ diffuser Verdacht abgewendet werden kann, ist freilich nicht zu erwarten, denn auch eine Herausgeberfiktion setzt letztlich eine Fiktionslizenz voraus und rechtfertigt aus sich selbst heraus keineswegs die Publikation eines Textes, der Erfundenes darstellt. Vielmehr erscheint der Verweis auf einen Herausgeber als Versuch, ein fiktionales Erzählverfahren zu illustrieren, bei dem zwischen Autor/Herausgeber und Erzähler zu scheiden ist. Gerade die Tatsache, dass dieses Verfahren jedoch nicht widerspruchsfrei eingeführt wird und bei Defoe die Grenzen zwischen den Instanzen und deren ›Zuständigkeitsbereichen‹ nicht klar gezogen sind, deutet darauf hin, dass hier ein Umgang mit Texten illustriert werden soll, für den es zeitgenössisch kaum Modelle und insbesondere keine Legitimierung und Theoretisierung gab. Schnabels Wunderliche Fata hingegen sind ein Beispiel für eine ausgestaltete Manuskriptfiktion, die sich augenscheinlich bemüht, eine Erzählung über die Herkunft des Manuskripts einzuführen – sie geht damit über die rudimentären Herausgeber fiktionen etwa Defoes hinaus.195 Es mutet zunächst paradox an, dass mit der aufwendig ausgestalteten Manuskriptfiktion nicht ein verstärkter Faktizitätsanspruch einhergeht, sondern der Herausgeber die Frage nach der Faktizität gerade offen lassen kann. Dies aber ist präzise die Funktionsweise der Manuskriptfiktion, die eine ›Beweislast‹ in die Erzählung von der Auffindung oder Erlangung des Manuskripts verlegt und damit den Herausgeber von expliziten Statusbehauptungen weitgehend befreit. Im Zentrum des Paratextes steht nicht mehr die Assertion des Herausgebers, sondern vielmehr seine Narration über die Geschichte des Manuskripts, und damit verschiebt sich auch die Statusbehauptung auf das Manuskript selbst: Dieses soll die Narration als ›echt‹ belegen – dass das, was das Manuskript darstellt, faktisch geschehen ist, dafür kann der Herausgeber qua seiner nur vermittelten Kenntnis allerdings nicht bürgen. Die Insistenz auf die ›Vermitteltheit‹ des Textes, die damit einhergeht und die bei Schnabel noch dadurch unterstrichen wird, dass der eigentliche Vermittler, der ›Literatus‹ getötet wird, erscheint als zentral, und ihr gegenüber kann der Status des Textes in einer Schwebe gehalten werden. Dies zeichnet auch die Herausgeberfiktionen von Rousseau und Laclos aus. Durch die ambivalenten oder widersprüchlichen Behauptungen über den fiktionalen/faktualen Status des Textes wird zudem der Status des Herausgebers selbst immer problematischer: Das Changieren zwischen Bezeichnungen für am Text vermeintlich oder tatsächlich beteiligte Instanzen erscheint immer offener
195 Ähnlich breit ausgestaltete Manuskriptfiktionen finden sich verbreitet in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, sie können jedoch in diesem Zusammenhang aufgrund des Umfangs nicht ausführlich analysiert werden. Peeters etwa stellt von den 30er Jahren des Jahrhunderts an eine steigende Zahl von Paratexten fest, die sich des Topos eines gefundenen Manuskripts bedienen. Diese werden zudem immer ›aufwendiger‹ erzählt: »l’amplification […] s’accompagne d’un développement des éléments narratifs du topos au sein des péritextes romanesques. L’évolution quantitative est donc doublée d’une évolution qualitative corollaire«; Peeters (1999): »En marge du manuscrit trouvé«, S. 160.
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und illustriert so die Zuschreibung von Verantwortung für den Text an fiktionsinterne oder fiktionsexterne Instanzen. Immer stärker mischen sich zudem explizit poetologische Überlegungen in die Herausgeberfiktion. So lassen sich etwa Laclos’ Vorworte (und in Teilen auch Rousseaus zweites Vorwort zur Nouvelle Héloïse) als Auseinandersetzung mit der Kategorie der Wahrscheinlichkeit lesen, während bei Wieland die Herausgeberfiktion als Vehikel erscheint, über ›historische Fiktion‹ nachzudenken. Dabei ist zudem eine Figur zu beobachten, die die Herausgeberfiktion immer stärker ins fiktionale Zentrum des Textes verschiebt (um einmal mehr die Analogie zwischen Peritext/Text und Peripherie/ Zentrum aufzugreifen). Bei Wieland ist diese Figur besonders deutlich, denn die Fiktion eines Manuskripts wird im Vorwort lediglich angedeutet, um dann aber im Binnentext immer wieder aufzuscheinen. Es lässt sich also eine Bewegung beobachten, die den Herausgeber immer stärker im Bereich der fiktiven Welt verortet und diesen nicht mehr (nur) als realweltlichen Fürsprecher des Textes inszeniert. Dieser »Übergang vom fingierten Herausgeber zum fiktiven Erzähler«196 ist zunächst in der begrifflichen ›Verwirrung‹ angezeigt, welche die Bezeichnungen für verschiedene Instanzen vermischt und diese dadurch scheinbar ununterscheidbar werden lässt. Durch die intrikate Verbindung von Text und Paratext werden diese Zuschreibungen bei Wieland noch einmal komplexer. In der Folge allerdings finden sich noch deutlichere Anzeichen für die Integration der Herausgeberfunktion in die Fiktion selbst. So ist etwa in Goethes Leiden des jungen Werthers zwar ebenfalls von einem Herausgeber und von der Publikation von Manuskripten die Rede, diese aber ist in deutlicher Nähe zum Erzählen angesiedelt. Zu Beginn des Textes ist noch der Gestus eines Herausgebers vorhanden: Was ich von der Geschichte des armen Werthers nur habe auffinden können, habe ich mit Fleiß gesammlet, und leg es euch hier vor, und weis, daß ihr mir’s danken werdet. Ihr könnt seinem Geist und seinem Charakter eure Bewunderung und Liebe, und seinem Schicksaale eure Thränen nicht versagen.197
In der knappen Bemerkung, die nur noch um einen weiteren Satz ergänzt ist, der das Buch als »Freund« all jenen empfiehlt, die ähnlich wie Werther fühlen, ›fehlt‹ jedoch charakteristischerweise etwas, das alle bisher untersuchten Herausgebervorworte auszeichnete: Mit keinem Wort wird über die ›Echtheit‹ der Briefe Werthers gesprochen. Sie wird weder behauptet, noch werden Reflexionen über den Status der Briefe angestellt – wie problematisch und ›auffällig‹ diese Reflexionen andernorts auch sein mögen: Hier fehlen sie vollständig. Ein Anspruch auf Faktizität wird also nicht explizit thematisiert oder aufgestellt, und es ließe sich fragen, ob damit die bloße Präsup
196 Wirth (2008): Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion, S. 227. 197 Goethe* (1774): Werther, S. [i].
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position der ›Echtheit‹ der Briefe suggeriert wird:198 Sie werden als ›aufgefunden‹ und ›gesammelt‹ bezeichnet und damit indirekt als materiell existent ausgewiesen – darauf liegt jedoch keineswegs der argumentative Schwerpunkt des Vorwortes.199 Diese Verschiebung in der Gewichtung der traditionellen Argumente des Herausgebers zeichnet sich auch am Ende des Textes ab, wenn der Herausgeber erneut das Wort ergreift, um Dokumente nachzuliefern, die über Werthers Tod Aufschluss geben. Hier nämlich ist er nicht mehr ›nur‹ Herausgeber, sondern stiftet selbständig einen narrativen Zusammenhang zwischen den Dokumenten. Dies wird explizit angekündigt, wenn der Herausgeber unter der Überschrift »Der Herausgeber an den Leser« erklärt: Die ausführliche Geschichte der letzten merkwürdigen Tage unsers Freundes zu liefern, seh ich mich genöthiget seine Briefe durch Erzählung zu unterbrechen, wozu ich den Stof aus dem Munde Lottens, Albertens, seines Bedienten, und anderer Zeugen gesammlet habe.200
Durch »Erzählung« soll die bloße Folge der Briefe unterbrochen (treffender vielleicht: ergänzt) werden. Dieses Verfahren geht deutlich über die Funktion eines Herausgebers hinaus. Es ließe sich als eine der »Spielformen des Herausgeber-Erzählers«201 bezeichnen, als eine der »Mischformen«202, bei denen Herausgeber- und Erzählerfunktion interferieren. Zwar behauptet der Herausgeber weiterhin, dass seine Erzählung durch ›Material‹, in diesem Fall mündliche Äußerungen der Beteiligten, gesichert sei, und die Präsupposition, dass es sich um eine wahre Geschichte handelt, bleibt also bestehen, jedoch ergeben sich durch seinen eigenen Eingriff diverse Verschiebungen. Die »eigenwillige Mischung von Briefzeugnissen und Erzählpassagen«203 ist nicht mehr durchgehend an ein vorgängiges Manuskript gebunden, sondern wird von einer Instanz verantwortet, die aus diversen Belegen auch den inneren Zustand des Protagonisten ableitet.204 Die Erzählung verselbständigt sich also gegenüber den Textzeugen und tritt damit aus dem vergleichsweise engen Kreis der Verfahren heraus, die eine Herausgeberfiktion widerspruchsfrei zulassen kann. Damit rückt auch die Instanz des Herausgeber-Erzählers in das fiktionale Zentrum des Textes: Sie ist nicht mehr allein auf die Vermittlung von Texten beschränkt, sondern wird zu einer Art Rahmenerzähler, der selbst der Fiktion mit angehört. Damit wird zugleich einmal mehr das Verhältnis
198 Vgl. Wirth (2008): Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion, S. 234. 199 »Alle diese editorischen Usancen klingen wohl im Vorspann zu ›Werthers Leiden‹ an […]. Aber alles das wird eben nur angedeutet, es wird zitiert und die herkömmliche dürre Vorrede zur Folie eines sehr persönlich gehaltenen, teilnehmenden und zur Teilnahme aufrufenden Denkblattes gemacht«; Miller (1968): Der empfindsame Erzähler, S. 154. 200 Goethe* (1774): Werther, S. 176. 201 Vosskamp (1971): »Dialogische Vergegenwärtigung«, S. 94. 202 Vosskamp (1971): »Dialogische Vergegenwärtigung«, S. 94. 203 Flaschka (1987): Goethes »Werther«, S. 190. 204 Vgl. Wirth (2008): Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion, S. 275 f. sowie Nelles (1996): »Werthers Herausgeber«, S. 24–29.
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von Text und Paratext problematisch: Während bei den bisher angeführten Beispielen recht deutlich zwischen den Bereichen getrennt werden kann, ist dies bei den Leiden des jungen Werthers nur noch eingeschränkt möglich: Der Berichtteil des Herausgebers gehört dem ›eigentlichen‹ Text noch an und ist dennoch durch die Überschrift und den Wechsel in der Erzählhaltung von diesem abgesetzt. Durch diese ›Vermengung‹ von Text und Paratext und die analoge Grenzüberschreitung von Fakt (im Sinne eines Herausgeberdiskurses, der berichtend über einen Text spricht) und Fiktion (im ›eigent lichen‹ Text) wird der Diskurs des Herausgebers auf eine Weise in den Text integriert, die eine Trennung der Bereiche unmöglich macht und damit auch eine stabile Möglichkeit des Paratextes, über den Text Auskunft zu geben, unterläuft. Mit dem Übergang der Herausgeberfiktion in eine Art erzählerischer Rahmung ist erneut die Frage nach der Signalwirkung des Herausgeberdispositivs verbunden. Waren bisher Beispiele angesprochen, in denen Herausgeber Bemerkungen zum Status des Textes oder zur Geschichte des Manuskripts zum »Gegenstand eines literarischen oder theoretisierenden Spiels«205 werden lassen, so finden sich im Werther gleichsam keine Aussagen zu diesen Bereichen, die zu den Gemeinplätzen der Herausgeber fiktion gehören. Es ist davon auszugehen, dass diese Abweichung gerade vor dem Hintergrund der Tradition der Herausgeberfiktion auffällig ist, dass sie sich zugleich aber aus dieser Tradition erklären lässt. Die Problematisierung der Wahrheitsbeteuerung in Herausgebervorworten lässt sich spätestens seit der Mitte des 18. Jahrhunderts verstärkt beobachten, und Herausgeberfiktionen in der zweiten Hälfte bedienen sich ›einfacher‹ Wahrheitsbeteuerungen nur mehr sporadisch – und hochgradig selbstreflexiv. Die Präsupposition, dass ein herausgegebenes Manuskript ›echt‹ sein müsse, wird dabei durch die explizite Thematisierung dieser Frage immer wieder gleichsam unterlaufen, denn durch die Thematisierung wird Aufmerksamkeit auf Präsuppositionen gelenkt, die eigentlich selbstverständlich sein sollten. Indem in den Leiden des jungen Werthers diese Thematisierung nun vollständig fehlt, wird nicht etwa die Präsupposition einfach erneut eingesetzt, denn sie ist vor dem Hintergrund des Topos der Herausgeberfiktion selbst bereits ›unglaubwürdig‹ geworden. Stattdessen wird durch die Verschiebung der Herausgeberfunktion auf diejenige eines auktorialen Erzählers der Bereich des Erzählens auf den Herausgeberdiskurs ausgedehnt und dieser damit Teil der Fiktion. Die Tradition der Herausgeberfiktionen reißt damit freilich nicht ab, im Gegenteil: Sie begegnet weiterhin in literarischen Texten, hat jedoch kaum mehr die Funktion, eine Verhandlung über den Fiktionsstatus des Textes einzuführen. Ein für den deutschen Sprachraum herausragendes Beispiel ist sicherlich Jean Paul, in dessen Hesperus sich eine Quellenfiktion findet, die sich als offen phantastisch charakterisieren ließe – und die an keiner Stelle auf einen fraglichen Fiktionsstatus des Textes bezogen ist. Vielmehr ist darin eine Inszenierung des Autors zu erkennen, die diesen ganz
205 Vosskamp (1971): »Dialogische Vergegenwärtigung«, S. 93.
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e xplizit als Schöpfer erscheinen lässt, wenn er auch zunächst an den Topos des Herausgebers angelehnt ist. In seiner Vorrede äußert er sich zunächst kaum zum Verfahren des Textes. Sie ist jedoch mit »Vorrede, sieben Bitten und Beschluß« überschrieben und die erste der Bitten (derer entgegen der Überschrift allerdings nur vier erwähnt werden) lautet: »den Titel ›Hundsposttage‹
so lange zu vergeben, bis ihn das erste Kapitel
erklärt und entschuldigt hat«206. Im ersten Kapitel findet sich, wie die Kapitelüberschrift ankündigt, eine »Ouvertüre und geheime Instruktion dieses Buchs«207. Das Vorwort interagiert also mit dem ersten Kapitel, und die Grenze zwischen peritextuellem Vorwort und ›eigentlichem‹ Text ist keineswegs streng gezogen.208 In der ›Ouvertüre‹ wird nun die kuriose ›Überlieferungsgeschichte‹ des Textes adressiert: Es war vorgestern am 29. April, daß ich Abends
auf und abgieng auf meiner Insel […] als etwas
plätscherte auf der Erde. … / Ein Spitzhund thats, der in den indischen Ozean
gesprungen war und nun losdrang auf St. Johannis. Er kroch an meine Küste hinauf und regnete
wedelnd neben mir. […] Der Spitz hatte
etwas mit mir vor und schien ein Envoyé zu seyn.
Endlich machte der Mond seine Stralen-Schleussen
auf und setzte mich und den Hund unter Licht. »Sr. Wohlgebohren
»des Herrn Berg-Hauptmann Jean Paul auf
Frei St. Johannis. Diese Adresse an mich hieng vom Halse der Bestie herunter und war an eine Kürbisflasche, die ans
Halsband gebunden war, angepicht.209
In dieser Kürbisflasche befinden sich briefliche Informationen über die Lebensgeschichte, die der »Biograph« Jean Paul verfertigen, ausarbeiten soll: »Jetzt wagt sich der Korrespondent mit seiner Absicht hervor, mich zum Biographen einer anonymischen Familiengeschichte zu machen.«210 Bereits aus dem Bericht der Überlieferungsgeschichte geht recht deutlich hervor, dass hier ein ironisch-parodistisches Aufgreifen der Fiktion von authentischen Dokumenten, die in der Erzählung lediglich bearbeitet würden, vorliegt: Die Konzeption des Romans legt auf den ersten Blick den Anschein nahe, daß Jean Paul auf den für das 18. Jahrhundert typischen Topos der Quellen- bzw. Herausgeberfiktion zurückgreift, um dergestalt das beschriebene Geschehen unter Berufung auf historische Vorlagen als wahr
206 Jean Paul (1795): Hesperus, S. 7; Herv. i.O. durch Sperrung. 207 Jean Paul (1795): Hesperus, S. 11. 208 Dembeck hebt als Charakteristikum der (para-)textuellen Organisation der Texte Jean Pauls gerade die »Überschreitung ihrer Grenzen« hervor; Dembeck (2007): Texte rahmen, S. 296. 209 Jean Paul (1795): Hesperus, S. 35 f. 210 Jean Paul (1795): Hesperus, S. 38.
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Vorworte und andere ›Liminarien‹
arzustellen. Bereits die Institution der Hundpost jedoch […] parodiert […] anschaulich die d Authentizitätsbemühungen.211
Die Quellenfiktion ist somit selbst »dazu bestimmt, den fiktionalen Charakter des Romans zu betonen«212, und verkehrt damit den Topos in sein Gegenteil. Der peritextuelle (und in den eigentlichen Text eingewobene) Verweis auf Quellen und die Tätigkeit des Herausgeber-›Biographen‹ lässt sich in der Tat als eine »›Freisetzung‹ der Paratexte aus vormaligen funktionalen Zusammenhängen«213 und als »Übergang ins ›Spielerische‹«214 lesen. Damit ist für die Entwicklung der Herausgeberfiktion und ihrer paratextuellen Inszenierung indirekt ein ›Höhepunkt‹ zu konstatieren: Sie ist »überflüssig und Selbstzweck geworden«215 und kann daher umso auffälliger inszeniert werden, ist aber von ihrer Funktion, den Status des Textes zu thematisieren, nunmehr vollständig entbunden. Dass damit allerdings nicht das »Abtreten vom literarischen Schauplatz«216 der Herausgeberfiktion und des Vorwortes allgemein einhergeht, das belegen unter anderem Herausgeberfiktionen aus dem 19. Jahrhundert, wie etwa diejenige Hoggs, die hier im Zusammenhang mit faksimilierten Dokumenten thematisiert wird (siehe S. 248). Was sich daran beobachten lässt, ist eine Tendenz, die ebenfalls mit der Konventionalisierung der Herausgeberfiktion zusammenhängt: Will diese weiterhin ein potentiell glaubhaftes Verfahren zur Markierung des Textes als faktualen darstellen, so ist sie auf eine Überbietung der Konvention angewiesen. Sie muss immer neue Argumente und ›Belege‹ einführen, um aus dem Topos, der seit Mitte des 18. Jahrhunderts immer mehr zu einem Fiktionssignal wird, ›herauszuragen‹ – und zugleich ist jeder weitere Beleg immer schon ein weiteres Verdachtsmoment. Im Falle Hoggs soll dieser Zirkel durch ein Faksimile der angeblich herausgegebenen Handschrift durchbrochen werden. Dabei ist die Grenze zwischen einer Überbietung, die es auf eine erneute Faktualitätsmarkierung abgesehen hat, und einer Überbietung, die stattdessen auf einem durchsichtigen, innerfiktional-ironischen Aufgreifen der Manuskript- und Herausgeberfiktion beruht, keineswegs immer leicht zu ziehen. Solche ironischen Referenzen auf den Topos finden sich bis weit ins 20. Jahrhundert, wie etwa in dem bekannten Vorsatz zu Ecos Il nome della rosa, in dem es schlicht heißt, bei dem Nachfolgenden handele es sich um: »naturalmente, un manoscritto«217. Bemerkenswert und zentral verantwortlich für die ironische Wirkung ist hier die maximale Kürze und Prägnanz des Aufgreifens der Manuskriptfiktion. Dies greift zurück
211 Erb (1996): Schreib-Arbeit, S. 42. 212 Erb (1996): Schreib-Arbeit, S. 42. 213 Dembeck (2007): Texte rahmen, S. 295 f. 214 Dembeck (2007): Texte rahmen, S. 296. 215 Ehrenzeller (1955): Studien zur Romanvorrede, S. 18. 216 Ehrenzeller (1955): Studien zur Romanvorrede, S. 18. 217 Eco (1981[1980]): Il nome della rosa.
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auf die Topizität der Manuskript- und Herausgeberfiktion, ist aber keineswegs erst für das 20. Jahrhundert charakteristisch. Vielmehr finden sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts Beispiele für das ironisch-distanzierte Aufgreifen des Topos, wie etwa das Beispiel von Magny gezeigt hat (siehe S. 165).218 Während also davon auszugehen ist, dass die Herausgeberfiktion seit der Mitte des 18. Jahrhunderts gerade in ihrer Topizität thematisiert wird und damit zunehmend als Fiktionssignal durchsichtig wird, so bleibt sie doch weiterhin bestehen und erlebt erst »um 1800« einen »Bedeutungsverlust«219, der sie zunehmend seltener werden lässt. Auch wenn davon auszugehen ist, dass also Herausgeberfiktionen wie diejenigen Rousseaus oder Wielands bereits als vergleichsweise starke Fiktionssignale wirken, so werden doch weiterhin (wie ambivalent auch immer) Faktualitätsmarkierungen eingeführt. Selbst diejenigen Texte, die offen ironisch auf den Topos anspielen, verzichten nicht darauf, dies mit einer erneuten Markierung der Faktualität zu verbinden und sich als wahre Geschichte zu inszenieren – der Konventionalität der Herausgeberfiktion zum Trotz. Die Analyse dieser Markierungen hat gezeigt, dass sie insbesondere bei Rousseau und Wieland dazu dienen, ein poetologisches Verständnis fiktionaler Texte auszudifferenzieren. Ihr vorrangiges Ziel scheint eine »Präzisierung des ›Fiktivitätsbewußtseins‹«220 zu sein und zu diesem Ziel gehört an zentraler Stelle die Aufforderung zur Skepsis gegenüber peritextuellen Markierungen und die Anleitung zum eigenständigen Erkennen des textuellen Status: »Comment osez-vous faire une question que c’est à vous de résoudre?«221 Dabei ist das selbstbewusst-thematische Aufgreifen von Fragen nach der Fiktionalität des Textes insbesondere Paratexten vorbehalten, die in der zweiten Jahrhunderthälfte erscheinen. Nichtsdestoweniger lässt sich eine ›Verhandlung‹ des Status des Textes bereits bei Defoe erkennen, wenn die Herausgeberfiktion auf die Scheidung von Autor und Erzähler indirekt aufmerksam macht. In allen Fällen lässt sich eine »Explikation der literarischen Kommunikation innerhalb der Texte«222 – oder besser: innerhalb des Zusammenspiels von Text und Paratext – beobachten, die allerdings zunehmend offensichtlicher wird und selbstbewusster vertreten wird.
218 Ein weiteres Beispiel findet sich in Angelets Anthologie von Vorworten aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Der anonyme Roman L’Inconnu. Roman véritable ou lettres de l’abbé de*** et de mademoiselle de*** (1765) beginnt mit einem »Avertissement des éditeurs«: »La singularité de ce roman engage de le donner au public. C’est encore un manuscrit trouvé. Où? Comment? Ces circonstances seraient trop longues a détailler, on ne nous en croirait pas davantage«; zit. nach: Angelet (Hg.) (2003): Receuil de préfaces, S. 171. Die Nähe zwischen dem ›natürlich ein Manuskript‹ Ecos und diesem ›encore un manuscrit‹ ist deutlich. 219 Wirth (2008): Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion, S. 423. 220 Wirth (2008): Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion, S. 423. 221 Rousseau (1761): Préface de la Nouvelle Héloïse, S. 57. 222 Friedrich (2009): »Fiktionalität im 18. Jahrhundert«, S. 339.
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Vorworte und andere ›Liminarien‹
Ein weiterer Bereich in Vorworten, der den fiktionalen Status des Textes beleuchtet, aber keine Herausgeberfiktion einführt, soll hier thematisiert werden, denn es ließe sich argumentieren, dass er eine theoretische Unterscheidung, die mittels der Herausgeberfiktion latent eingeführt wird, expliziert. Die Rede ist von der Scheidung von Autor und Erzähler, die für Fiktion charakteristisch ist. ›Ablesen‹ lässt sich diese Unterscheidung mitunter bereits an der schlicht fehlenden Namensidentität zwischen Autor und Erzähler, die auch in Vorworten zum Tragen kommen kann, wenn etwa ein auktoriales Vorwort namentlich unterzeichnet ist, im Text aber von einer anderen Person erzählt wird. Es finden sich jedoch – und dies ist der gewichtigere Punkt – Vorworte, die diese Nicht-Identität ausdrücklich thematisieren und geradezu darauf beharren, dass der Erzähler des Textes nicht mit dem Autor identisch sei. In der jüngeren narratologischen Forschung wurde in diesem Zusammenhang auf Balzacs Vorwort zu Lys dans la vallée hingewiesen.223 In diesem Vorwort greift Balzac explizit die Tradition des Briefromans auf, die gerade für die Herausgeberfiktion eine tragende Rolle gespielt hat:224 Dans plusieurs fragments de son œuvre, l’auteur a produit un personnage qui raconte en son nom. Pour arriver au vrai, les écrivains emploient celui des artifices littéraires qui leur semble propre à prêter le plus de vie à leurs figures. Ainsi, le désir d’animer leurs créations a jeté les hommes les plus illustres du siècle dernier, dans la prolixité du roman par lettres, seul système qui puisse rendre vraisemblable une histoire fictive.225
Während also im vorangegangenen Jahrhundert der Briefroman als die Strategie der ›Wahrscheinlichmachung‹ verwendet wurde, so ist in Lys dans la vallée ein erzählendes ›Ich‹ zu vernehmen: »Le je sonde le cœur humain aussi profondement que le style épistolaire […].«226 Damit einher gehe jedoch die Gefahr, dass das ›Ich‹ mit dem Autor identifiziert werde. Dem widerspricht der »Auteur« (so die ›Unterschrift‹ unter dem Vorwort): Mais le moi n’est pas sans danger pour l’auteur. Si la masse lisante s’est agrandie, la somme de l’intelligence publique n’a pas augmenté en proportion. Malgré l’autorité de la chose jugée, beaucoup de personnes se donnent encore aujourd’hui le ridicule de rendre un écrivain complice des sentimens qu’il attribue à ses personnages; et s’il emploie le je, presque toutes sont tentées de le confondre avec le narrateur.227
223 Vgl. Patron (2009): Le narrateur, S. 13 f. 224 Zum Bezug von Lys dans la vallée auf den Briefroman, der auch dadurch aufgerufen wird, dass dem Text jeweils ein Brief voran- und nachgestellt ist, vgl. Mura (1993): »Le Lys dans la vallée: Un roman epistolaire?«. 225 Balzac (1836): Le Lys dans la vallée, S. iii. 226 Balzac (1836): Le Lys dans la vallée, S. iii. 227 Balzac (1836): Le Lys dans la vallée, S. iii.
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Der explizite Verweis auf die Trennung von Autor und Erzähler ist mit einem Argument verbunden, das einer lesenden ›Masse‹ Unwissen über die Gepflogenheiten der literarischen Rezeption unterstellt. Dabei wird die ›lächerliche‹ Identifizierung von Autor und Erzählerfiguren jedoch im Prinzip einer überwundenen Epoche zugeschrieben, auch wenn sich Elemente derselben durch den Anstieg der Leserzahlen (zu ergänzen wäre vermutlich: aus weniger gebildeten Schichten) hartnäckig hielten. Die Notwendigkeit, eine explizite Fiktionsmarkierung einzuführen, wird so gerechtfertigt. Dabei wird diese durch eine weitere Bemerkung jedoch wieder eingeschränkt: Le Lys dans la vallée étant l’ouvrage le plus considérable de ceux où l’auteur a pris le moi pour ce diriger à travers les sinuosités d’une histoire plus ou moins vraie, il croit nécessaire de déclarer ici qu’il ne s’est nulle part mis en scène.228
Die erzählte Geschichte ist also ›mehr oder weniger‹ der Wahrheit verpflichtet – und dennoch ›erklärt‹ der Autor, dass er sich damit nicht selbst in Szene setzen wolle. Eine gewisse Nähe zwischen dem ›Ich‹ und dem Autor wird also eingestanden, und zugleich wird diese Nähe negiert und mit der expliziten Aufforderung, zwischen den beiden Instanzen zu trennen, verbunden.229 In der Tat finden sich vergleichbare Markierungen in Vorworten jedoch bereits deutlich früher; es handelt sich also nicht um eine Neuerung des 19. Jahrhunderts, wie die Forschung nahelegt,230 sondern Vergleichbares begegnet bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts. So etwa in Friedrich Traugott Hases Gustav Alderman (1779). Der Roman ist im Untertitel als »dramatischer Roman« bezeichnet und besteht aus Dialogen (und Monologen) zwischen diversen Figuren. Zum Verhältnis zwischen diesen Figuren und dem Autor klärt das Vorwort auf: Die Scene habe ich größtentheils nach Niedersachsen gelegt, wo ich nie gewesen bin, und habe da recht fleißig wider lokale Richtigkeit geschnitzert, weil man die Leser immer gar nicht von der Meinung abbringen kann, man schreibe seinen eignen Roman, oder doch wenigstens Anekdoten und Begebenheiten, die man selbst mit angesehen und gehört habe; oder noch sonderbarer, die Geschichte sey darum wahrer, weil man diese Umstände genau in Acht genommen. So wie ich überhaupt dem Leser, dem das Buchs [sic] blos durch das Gerücht, oder die Auffschrift: eine wahre Geschichte, soll intereßant werden, rathe, daß er es sogleich aus der Hand lege. […] Also
228 Balzac (1836): Le Lys dans la vallée, S. iii. 229 Vgl. Mozet (1993): »A quoi bon les préfaces?«. Für eine explizit autobiographische Lektüre von Lys dans la vallée vgl. auch: Baron (1993): »Roman familial et autobiographie«. 230 »On a là [chez Balzac] la première formulation […] d’un thème qui deviendra central dans la narratologie moderne: le narrateur n’est pas l’auteur«; Patron (2009): Le narrateur, S. 13. Patron andele; schränkt ein, dass es sich möglicherweise auch nur um die erste präzise Ausformulierung h es geht ihr also vorrangig um den Terminus des ›narrateur‹, der in Opposition zum Autor gestellt wird. Darüber hinaus fokussiert sie an dieser Stelle ausschließlich Erzählungen in der ersten Person.
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muß ich dir sagen, lieber Leser, ich bin nicht Aldermann, ich bin nicht Walder, ich bin nicht Will – sondern der Autor.231
Auch diese explizite Fiktionsmarkierung greift bekannte Argumente aus Vorworten auf, wendet sie aber in ihr Gegenteil. Abweichungen von der realen Geographie etwa waren bereits bei Rousseau angesprochen, sie befinden sich jedoch immer in einem Zwiespalt: Der Hinweis auf eine Abweichung von der Geographie (ebenso wie etwa das Abkürzen oder Verändern von Eigennamen) kann indirekt als Hinweis auf Faktizität gelesen werden, wenn er als Schutz- oder Transfermechanismus aufgefasst wird. Danach wäre gerade die Verdeckung der ›eigentlichen‹ Orte und Personen der Handlung darin angezeigt und die Notwendigkeit, diese durch eine Camouflage zu schützen, ein indirekter Hinweis darauf, dass sie wirklich existieren.232 Eben dies ist daher häufig mit der Versicherung, eine ›wahre Geschichte‹ zu schreiben, kombiniert – von der sich Hase explizit abgrenzt. Er habe keinerlei reale Gegebenheiten und Gespräche in die Fiktion transferiert, sondern diese seien allein seiner Phantasie entsprungen – seiner Leistung als »Autor«. Als solcher sei er jedoch nicht für die Äußerungen der Erzählerfiguren verantwortlich: »Ich sage mich also feyerlich davon los, einen Satz oder eine Bemerkung, oder eine Erzählung zu vertheidigen, die in diesem Buche vorkommt.«233 Die explizit als performative Äußerung gefasste Selbsterklärung des Autors,234 der sich ›feierlich lossagt‹, erinnert einmal mehr an ähnliche Performativa in Peritexten (etwa bei Defoe; siehe S. 136)235. Die Inhalte dieser Erklärung scheinen sich fundamental verschoben zu haben (von der Markierung der Faktualität und der Verantwortung für das Gesagte hin zur Lossagung von jeglicher Verantwortung und der damit verbundenen Fiktionalität des Textes), die Form aber ist identisch geblieben und damit weiterhin dem Problem unterworfen, dass eine paratextuelle Selbstauskunft den Umgang mit dem Text nur sehr begrenzt vorschreiben kann und immer schon dem Verdacht ausgesetzt ist, das Gegenteil dessen zu rahmen, was performativ geäußert wird. Versteht man eine performative Äußerungen im Sinne Austins als Äußerung, die zugleich eine Handlung vollzieht (»the issuing of the utterance is the performing of an action«236), so wird deutlich, dass es damit auch auf den Rahmen dieser Äußerung ankommt. Austin hebt hervor, dass Performativa einerseits durch bestimmte Wörter mit performativer Funktion aufgerufen werden können,237 dass andererseits aber
231 Hase* (1964 [1779]): Gustav Aldermann, S. [ii] f. 232 Vgl. für Rousseau etwa: Lee (1989): Le roman à éditeur, S. 94–97. 233 Hase* (1964 [1779]): Gustav Aldermann, S. [ii]. 234 Zur Unterscheidung von expliziten und impliziten performativen Äußerungen vgl. Austin (1970[1962]): How to Do Things With Words, S. 32. 235 Oder auch bei Balzac; siehe oben S. 179. 236 Austin (1970[1962]): How to Do Things With Words, S. 6. Vgl. auch: Hempfer (2011): »Performance, Performanz, Performativität«, S. 20 f. 237 Vgl. Austin (1970[1962]): How to Do Things With Words, S. 61.
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estimmte Rahmenbedingungen erfüllt sein müssen.238 Bei einer explizit performatib ven Äußerung in einem Paratext sind eben diese Rahmenbedingungen problematisch, denn einerseits mag darin ein Autor seinen eigenen Text kommentieren und sich von den Äußerungen der Figuren distanzieren, andererseits aber ist der Paratext potentiell Teil dessen, wovon Distanz genommen werden soll, und keineswegs ein Rahmen, in dem eine performative Selbstauskunft darauf festlegbar ist, wahrheitsgemäß Auskunft zu geben – und damit ist der ›Erfolg‹ der performativen Äußerung von Beginn an fraglich. An der Bemerkung Hases ist einerseits sicherlich der »Abwehrversuch« gegen »eine plane Gleichsetzung von Wirklichkeit und Fiktion«239 bemerkenswert, der durchaus existente zeitgenössische Rezeptionsmechanismen aufgreift und sich gegen diese verwahrt.240 Insbesondere aber ist sie als Verweis auf die sich verändernde Stellung des Romans zu verstehen, die nicht zufällig in einem Text begegnet, der diese Gattungsbezeichnung selbstbewusst im Titel trägt. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts lässt sich diese veränderte Stellung sowohl durch das (Wieder-) Aufkommen der Gattungsbezeichnung (siehe S. 102) feststellen als auch durch einen neuen Gestus in den Vorreden, die nun mitunter keinerlei Faktizitätsanspruch erheben, sondern im Gegenteil explizit auf die Scheidung von Fiktion und Wirklichkeit insistieren und dabei insbesondere die Trennung zwischen Autor und Erzähler (-figuren) thematisieren. Auch dieses Verfahren ist eines, das eine paratextuelle ›Tradition‹ begründet und nicht etwa mit einer vermeintlich durchgesetzten Fiktionskonvention aufhört zu existieren. Es lassen sich vielmehr, um nur zwei Beispiele aufzugreifen, auch im 20. Jahrhundert Beispiele finden, die dieses Verfahren modifizierend aufgreifen. Wie bei der Herausgeberfiktion, die zunächst als Faktualitätsmarkierung eingeführt wird, dabei aber zunehmend zum Fiktionalitätssignal wird, weil ihre eigene Begründung immer widersprüchlicher wird, finden sich auch hier Vorworte, die ein Spiel mit der Form zu treiben scheinen. Während es also zunächst tatsächlich darum zu gehen schien, einen Umgang mit dem Text, der zwischen Autor und Erzähler differenziert, nahezulegen, finden sich in der Folge Texte, die dies aufgreifen, aber durch ihre spezifische Gestaltung die der ursprünglichen Form bereits inhärente Spannung noch deutlicher hervortreten lassen. Diese Spannung resultiert aus dem bereits beschriebenen Problem der Selbstauskunft (siehe S. 4), die grundsätzlich Aufrichtigkeit nicht ›verfügen‹ kann und stets geeignet ist, Verdacht zu erregen.
238 Vgl. Austin (1970[1962]): How to Do Things With Words, S. 34 f. Austin denkt hier stärker an institutionalisierte performative Sprechakte, wie etwa eine Ernennung zu einem Amt. Die Situations- und Kontextabhängigkeit einer performativen Äußerung besteht allerdings darüber hinaus. 239 Kleinschmidt (1979): »Fiktion und Identifikation«, S. 56. 240 Vgl. Kleinschmidt (1979): »Fiktion und Identifikation«, S. 56, Anm. 36.
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Dabei finden sich durchaus Verweise auf die spätere Tradition des Disclaimers, die zunächst eine ähnliche Beteuerung des Fiktionscharakters betreibt. Dies kann implizit geschehen, indem eine formelhafte Kurzform des Vorwortes eingeführt wird, die fraglich werden lässt, ob es sich dabei noch um ein Vorwort im engeren Sinne handelt. So etwa in Gerhardis Futility,241 in dem eine – zudem in eckige Klammern gefasste – Notiz die Trennung zwischen Autor und Erzähler auf die ›Minimalformulierung‹ reduziert: [The »I« of this book is not me.]242
Andererseits kann die Betonung der Differenz zwischen Autor und Erzähler auch explizit Formulierungen des Disclaimers aufgreifen, wenn sie neben der Nichtidentität zwischen Autor und Erzähler auch auf die Fiktivität der Figuren hinweist, wie etwa in Graham Greenes The Comedians:243 A word about the characters in The Comedians. I am unlikely to bring an action for libel against myself with any success, yet I want to make it clear that the narrator of this tale, though his name is Brown, is not Greene. Many readers assume – I know it from experience – that an »I« is always the author. So in my time I have been considered the murderer of a friend, the jealous lover of a civil-servant’s wife, and an obsessive player at roulette. I don’t wish to add to my chameleonnature the characteristics belonging to a cuckolder of a South American diplomat, a possibly illegitimate birth and an education by the Jesuits. […] / »I« is not the only imaginary character: none of the others, from such minor players as the British chargé to the principals, has ever existed.244
In beiden Fällen ist die Markierung des Unterschieds von Autor und Erzähler auffällig gestaltet – und damit potentiell verdächtig. Während bei Gerhardi die lakonische Kürze entscheidend ist, ist bei Greene deutlich die ironische Distanz wahrnehmbar, mit der er die Konsequenzen aus den ›Fehllektüren‹ der Leser schildert. Darüber hinaus ist der Hinweis auf die Möglichkeit einer bloßen ›Verschiebung der Farbskala‹ der Eigennamen auffällig, liefert sie doch gerade eine mögliche Begründung für die Identifizierung von Brown und Greene, die zugleich verneint wird; auf die Ähnlichkeit der Namen weist sie dennoch zunächst selbst hin. Die Tatsache, dass Brown – ebenso wie der Autor – Katholik sei, erwähnt Greene ebenfalls und verweist als Erklärung lediglich auf statistische Wahrscheinlichkeit: Selbst bei einem Roman, der in England
241 Der Name des Autors wird inzwischen in der Regel als Gerhardie angegeben, ich verwende hingegen die Form, die auf dem Titelblatt von Futility genannt ist. 242 Gerhardi (1922): Futility; eckige Klammern i. O. 243 Auch in weiteren Romanen Greenes finden sich regelmäßig auffällig gestaltete Disclaimer. 244 Greene (1966): The Comedians, S. 5. Die zitierte Passage findet sich in einem Widmungsschreiben an A. S. Frere, Greenes ehemaligen Verleger. Bis auf den ersten Absatz hat diese Widmung aller dings den kommentierenden Charakter eines Vorwortes. Neben dem Disclaimer-artigen Verweis auf die Erfundenheit der Figuren findet sich auch ein Kommentar zur Realitätsnähe der Darstellung haitianischer Verhältnisse in dem Roman.
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spiele, müsse man davon ausgehen, dass bei mehr als zehn Figuren wohl eine katholische darunter sei.245 Es wird also auf Ähnlichkeiten zwischen Autor und Erzähler hingewiesen, um diese in einem zweiten Schritt sogleich als irrelevant zurückzuweisen. Dies ist der Dynamik des Disclaimers verwandt, die ebenfalls einerseits Ähnlichkeiten beschwört, diese aber zugleich als ›zufällig‹ und damit für die Interpretation als irrelevant ausweist. Es ist durchaus bemerkenswert, dass gerade Texte, die sich solcher expliziten Fiktionssignale bedienen, immer wieder im Kontext autobiographischer Bezüge diskutiert werden – und dies nicht nur in einer ›trivialen‹ Leserhaltung, sondern durchaus auch in der literaturwissenschaftlichen Kritik.246 Die Fiktionsmarkierungen können dabei mit einer einfachen rhetorischen Geste aufgenommen und ›entkräftet‹ werden: »Disclaimer or no disclaimer«247 heißt es in Bezug auf Greene und »despite the disclaimer«248 in Bezug auf Gerhardi. Dies soll hier nicht etwa als eine Kritik an ›naiver‹, pseudowissenschaftlicher Rezeption dienen, sondern vielmehr aufzeigen, wie ›instabil‹ explizite peritextuelle Fiktionsmarkierungen auch im 20. Jahrhundert sind und wie wenig sie eine Lektüre konditionieren können, die etwa von autobiographischen Bezügen absieht. Dies ist der Dynamik der peritextuellen Markierungen geschuldet, die immer schon eine jedenfalls mögliche Rezeption erwähnen, auch und gerade dann, wenn sie diese als ungeeigneten Umgang mit dem Text ausweisen. Den mitunter engen Bezug von Fiktion und Autobiographie, den explizite Fiktionsmarkierungen thematisieren, aber nicht ›stillstellen‹ können, greifen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vermehrt Texte auf, die sich einer Textgruppe zuordnen lassen, die ihre Bezeichnung selbst aus einem Peritext ableitet: der Autofiktion (oder, um den französischen Ausdruck zu verwenden: autofiction). Doubrovsky bestimmt den Begriff im Klappentext zu Fils folgendermaßen:249 Autobiographie? Non, c’est un privilège réservé aux importants de ce monde, au soir de leur vie, et dans un beau style. Fiction, d’événements et de faits strictement réels; si l’on veut, autofiction […].250
Doubrovsky hat später zu Fils bemerkt, dass ein direkter Bezug von Fils zu Lejeunes Theorie der Autobiographie bestehe, indem hier der Fall erfüllt ist, dass ein Text als
245 Vgl. Greene (1966): The Comedians, S. 5. 246 Vgl. Ferns (1985): »›Brown is not Greene‹« sowie Craig (1982): »The Early Fiction of William Gerhardie«, S. 241. 247 Ferns (1985): »›Brown is not Greene‹«, S. 60. 248 Craig (1982): »The Early Fiction of William Gerhardie«, S. 241. 249 Der Klappentext hat hier eindeutig Vorwortcharakter und ist nicht etwa ein rein werbender, editorialer Paratext. 250 Doubrovsky (1977): Fils.
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Roman bezeichnet wird, zugleich aber der Erzähler den Namen des Autors trägt.251 Lejeunes Theorie der Autobiographie ist selbst zentral an den Peritext angelehnt. Für Lejeune charakterisieren eine Autobiographie im Wesentlichen zwei Momente: Die Identität zwischen Autor und Erzähler und die Identität zwischen Erzähler und Hauptfigur.252 Zusammenfassend ließe sich dies als »A = E = F«253 formulieren. Diese Identität aber ist auf den Paratext angewiesen, soll sie für den Leser erkennbar sein: Der Autorname muss in diesem genannt werden. Lejeune insistiert ausdrücklich auf der Notwendigkeit, den Peritext einzubeziehen: »Le pacte autobiographique, c’est l’affirmation dans le texte de cette identité renvoyant au dernier au nom de l’auteur sur la couverture«254. Charakteristisch für eine Autobiographie ist also die Identität von Autor, Erzähler und Figur, die durch die Namensnennung des Autors im Peritext ›besiegelt‹ wird. Wenn nun für die Autofiktion gerade charakteristisch ist, dass sie Rezeptionsangebote unterbreitet, die für Autobiographie und Fiktion sprechen, so ist diese Ambivalenz ebenfalls zentral auf den Peritext angewiesen, um überhaupt wirksam werden zu können. Denkbar wäre zwar auch ein Fall, bei dem die Namensidentität zwischen Peritext und Text besteht, letzterer sich aber durch phantastische Elemente und (textinterne) Fiktivitätssignale auszeichnet. Es ist jedoch ein zentrales Element diverser autofiktionaler Texte, eine hochgradig selbstreflexive Verhandlung zwischen poetologischen Überlegungen und fiktionaler Erzählung zu betreiben –255 und diese Verhandlung ist vorrangig eine, die im Zusammenspiel von Text und Paratext entsteht. In diversen Arbeiten zur Autofiktion wird daher als zentrales Kriterium für diese ambivalente Gattung genannt, dass sie widersprüchliche peritextuelle Signale liefert.256 Wenn die Autofiktion dabei einen ambigen Status beanspruchen soll, so ist dies an eine widersprüchliche Rezeptionsanleitung gebunden: Genette spricht von einem »statut paradoxal«, der durch einen »pacte délibérément contradictoire propre à l’autofiction«257 ausgelöst werde. Der paradoxe Status resultiert also aus widersprüchlichen Signalen hinsichtlich der Faktualität beziehungsweise Fiktionalität des Textes. Auch Schaefer fasst Autofiktion in dieser Weise: Die Offenlegung ihrer konstitutiven Ambiguität wäre also ein erstes gattungsspezifisches Merkmal der Autofiktion. Hergestellt wird sie durch eine widersprüchliche Streuung von Fiktions- und Faktualitätssignalen.258
251 Vgl. Doubrovsky (1988): »Autobiographie/vérité/psychanalyse«, S. 68. 252 Vgl. Lejeune (1975): Le pacte autobiographique, S. 14 f. 253 Zipfel (2009): »Autofiktion«, S. 288. 254 Lejeune (1975): Le pacte autobiographique, S. 26. 255 Vgl. Zipfel (2009): »Autofiktion«, S. 303 f. 256 So nennt etwa Colonna eine ganze Reihe von peritextuellen Elementen, in denen »modalisateurs péritextuels« wirksam werden können; vgl. Colonna (1989): L’autofiction, S. 173–179. 257 Genette (1991): Fiction et diction, S. 86. 258 Schaefer (2008): »Die Autofiktion zwischen Fakt und Fiktion«, S. 309. Vgl. auch: Gronemann (2002): Postmoderne/Postkoloniale Konzepte der Autobiographie, S. 11.
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Diese Signale (und, so wäre zu ergänzen: Markierungen) finden sich bei Doubrovsky im Peritext konzentriert. Neben dem erwähnten Vorwort im Klappentext ist hier zentral auf die Gattungsbezeichnung »ROMAN« hinzuweisen. Diese allerdings greift der Klappentext auf und widerspricht umgehend: si l’on veut, autofiction, d’avoir confié le langage d’une aventure à l’aventure du langage, hors sagesse et hors syntaxe du roman, traditionnel ou nouveau.259
Beide Angebote, Autobiographie und Roman, faktuale und fiktionale Erzählung werden also im Peritext aufgegriffen, keines der beiden aber wird als gültig bezeichnet. Die positive Bestimmung neben diesen Negationen ist auf die knappe Form »Fiction, d’événements et de faits strictement réels«260 reduziert. Man hat es also, soll dieser peritextuellen Klassifizierung Glauben geschenkt werden, mit einer Aussage zum Status des Textes zu tun, die diesen als Fiktion bezeichnet, aber zugleich behauptet, dass alles, was der Text beschreibt, über eine Entsprechung in der Realität verfüge. Der Text steht damit vor einem Legitimationsproblem, denn inwiefern sich eine solche Fiktion rechtfertigen ließe und warum der Text überhaupt als Fiktion rezipiert werden sollte, ist zunächst nicht deutlich. Die Rede von ›fiction‹, ebenso wie die Gattungsbezeichnung ›roman‹ sind damit zunächst Statusmarkierungen, die durch jeweils gegenteilige Signale wieder unterlaufen werden. In dieser Zusammenfassung ist die Ambivalenz der Markierung enthalten, die auch Darrieussecq als Charakteristikum der Autofiktion festhält: »l’autofiction demande à être crue et demande à être non crue; […] l’autofiction est une assertion qui se dit feinte et qui dans le même temps se dit sérieuse.«261 Darrieussecqs zweimalige Betonung, dass hierfür eine Selbstkommentierung des Textes nötig ist (»demande à«, »se dit«), verweist einmal mehr auf die Ebene des Paratextes, in dem diese Selbstkommentierung und Selbstreflexion in aller Regel stattfindet – damit ist allerdings immer verbunden, dass weniger ›der Text selbst‹ sich beschreibt, sondern eine Beschreibung im Paratext stattfindet, die dann der Dynamik des Paratextes zwischen Teilhabe am Text und externem Kommentarstatus unterliegt. Während also bei autofiktionalen Texten wie Doubrovskys Fils eine ambige Verbindung von Fiktions- und Faktizitätsmarkierungen in Paratexten zu erkennen ist, so lässt sich eine ähnliche Verbindung auch in Texten beobachten, die mit der Autofiktion diverse Elemente teilen, mit ihr aber nicht gänzlich zur Deckung zu bringen sind. Zu denken wäre etwa an Perecs W ou le souvenir d’enfance. Auch hier findet sich ein Klappentext mit Vorwortcharakter, der sogar mit den Initialen des Autors unterzeichnet ist und so deutlich die Differenz zu editorialen Peritexten markiert. »Il y a dans ce livre deux textes simplement alternés«262, setzt der Kommentar ein und weist so auf zwei
259 Doubrovsky (1977): Fils. 260 Doubrovsky (1977): Fils. 261 Darrieussecq (1996): »L’autofiction, un genre pas sérieux«, S. 377. 262 Perec (1975): W ou le souvenir d’enfance.
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Textstränge hin, die innerhalb des Buches auch typographisch separiert e rscheinen, indem der eine in kursiver, der andere in gerader Schrift gesetzt ist. Den Status dieser beiden Texte erläutert nun das Klappentext-Vorwort: L’un de ces textes appartient tout entier à l’imaginaire: c’est un roman d’aventures, la reconstitution, arbitraire mais minutieuse, d’un fantasme enfantin évoquant une cité régie par l’idéal olympique. L’autre texte est une autobiographie: le récit fragmentaire d’une vie d’enfant pendant la guerre, un récit pauvre d’exploits et de souvenirs, fait de bribes éparses, d’absences, d’oublis, de doutes, d’hypothèses, d’anecdotes maigres.263
Hier erfolgt gerade keine ambige Gattungszuweisung, sondern zwei recht eindeutige Markierungen: Ein faktualer und ein fiktionaler Textstrang sind ineinander verwoben.264 Die Gattungsbezeichnung, die dem Text vorangestellt ist, »récit«, spiegelt dies wider,265 insofern sie als ›neutrale‹ Kategorie über beiden Textsträngen stehen kann. In dieser Faktur des Textes wird deutlich, inwiefern der fiktionale Text Ausdruck einer autobiographischen Erfahrung ist: Es handelt sich um die Erzählung von einer Insel, auf der ein ›Olympisches Ideal‹ gilt, die allerdings immer stärker als Allegorie auf die nationalsozialistischen Konzentrationslager erkennbar wird. Im abschließenden Kapitel wird im autobiographischen Textstrang diese Verbindung explizit hergestellt, der autobiographische Text steht also gewissermaßen über dem fiktionalen und kann diesen kommentieren und deuten. Damit ist der fiktionale Text als Teil der Autobiographie ausgewiesen, der allerdings erst ausgedeutet werden muss, um in der autobiographischen Spurensuche produktiv gemacht werden zu können. Die fiktionale Erzählung ist somit ein Relikt aus der autobiographischen Vergangenheit: »elle était, d’une certaine façon, sinon l’histoire, du moins une histoire de mon enfance.«266 Dadurch sind, so erneut der Klappentext, beide Texte auf das Engste miteinander verbunden: il pourrait presque sembler qu’ils n’ont rien en commun, mais ils sont pourtant inextricablement enchevêtrés, comme si aucun des deux ne pouvait exister seul, comme si de leur rencontre seule […] pouvait se révéler ce qui n’est jamais tout à fait dit dans l’un, jamais tout à fait dit dans l’autre, mais seulement dans leur fragile intersection.267
263 Perec (1975): W ou le souvenir d’enfance. 264 Schaefer argumentiert, dass W ou le souvenir d’enfance daher nicht als Autofiktion gelten könne; vgl. Schaefer (2008): »Die Autofiktion zwischen Fakt und Fiktion«, S. 312–316. Dennoch lassen sich, wie Schaefer ebenfalls herausstellt, durchaus Verbindungslinien zur Autofiktion ziehen und die peritextuelle Thematisierung des Status zwischen Autobiographie und Fiktion ist auch bei Perec vorhanden. 265 Vgl. Colonna (1988): »›W‹, un livre blanc«, S. 18 f. 266 Perec (1975): W ou le souvenir d’enfance, S. 14. 267 Perec (1975): W ou le souvenir d’enfance.
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Während bei Doubrovsky also eine ambige Markierung des Status vorgenommen wird, findet sich bei Perec eine Doppelung von fiktionalem und faktualem Text, wobei jedoch beide eng miteinander verwoben sind und der resultierende ›Gesamttext‹ so ebenfalls zwischen autobiographischem und fiktionalem Text steht. In beiden Peritexten begegnet eine Reflexion auf die Möglichkeiten und Grenzen autobiographischer und fiktionaler Schreibweisen. Dabei soll jedoch nicht argumentiert werden, dass durch diese ambige Markierung des Status schlicht eine grenzverwischende Mischform eingeführt wird, sondern, im Gegenteil, dass die Thematisierung des problematischen oder paradoxalen Status zentral auf die Aufrechterhaltung der Differenz zwischen den beiden Status angewiesen ist: Der ›Witz‹ autofiktionaler Schreibweisen besteht gerade darin, dass eine Entscheidung erschwert oder gar im Sinne einer Unentscheidbarkeit unmöglich wird – dies bedeutet jedoch keineswegs, dass es auf die Unterscheidung nicht mehr ankäme, dass diese irrelevant würde. Zipfel etwa kommt zu dem Schluss, dass bei autofiktionalen Texten gerade der Hinweis auf die unterschiedlichen Umgangsmodi zentral ist: Die dabei möglicherweise entstehende Verwirrung ist nicht eine Vermischung zwischen referen tiellem Pakt und Fiktions-Pakt, sondern nur die Verwirrung, dass der Text weder nach den Leseinstruktionen des Referenz-Paktes noch nach denen des Fiktions-Paktes eindeutig aufzulösen ist. Damit bleibt jedoch die Unterschiedlichkeit der beiden Pakte gewahrt, man könnte sogar sagen, dass der Leser gerade durch das Hin und Her zwischen dem einen und dem anderen auf die Spezifik der beiden Pakte aufmerksam gemacht wird.268
Die Differenz, die zwischen den peritextuellen Markierungen besteht, lässt sich gerade nicht dadurch beseitigen, dass sie in einer Zwischenform aufgelöst wird, sondern die Peritexte insistieren, indem sie Markierungen für beide Formen einführen, zugleich auf der Differenz, die sie problematisieren. Diese Problematisierung ist damit immer auch eng an den Status und die ›Leistungsfähigkeit‹ autobiographischer Texte gebunden. Wenn an der ›Oberfläche‹ des Textes gleichsam verfügt werden muss, dass was folgt eine Autobiographie ist, so bleibt zugleich der Konstruktionscharakter der Autobiographie bestehen. Während der ›autobiographische Pakt‹ auf den Peritext angewiesen ist, um überhaupt erst entstehen zu können,269 so ist er zugleich immer schon ›instabil‹.270
268 Zipfel (2009): »Autofiktion«, S. 306. 269 Dies lässt sich in dieser Deutlichkeit zwar bei Lejeune nicht finden, Zipfel aber sieht klar die Anlage bei Lejeune: »Ich verstehe Lejeunes autobiographischen Pakt als die Verdeutlichung an der Text oberfläche, dass es sich um autobiographisches Schreiben handelt, auch wenn Lejeune selbst keine klare Bestimmung dessen, was er unter autobiographischem Pakt versteht, gibt«; Zipfel (2009): »Autofiktion«, S. 6, Anm. 8. 270 Diese ›Instabilität‹ ließe sich in mehrerlei Hinsicht präzisieren. Sie betrifft etwa den sprachlichen Stil (vgl. Starobinski (1970): »Le style de l’autobiographie«) und die Plausibilität von Erinnerungskapazitäten (man denke etwa an Freuds Konzept der Deckerinnerung; vgl. Freud (1952): »Über Deckerinnerungen«) und schließlich den grundsätzlichen Konstruktcharakter autobiographischer Narration; vgl. Aichinger (1989): »Probleme der Autobiographie«.
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Eben darauf rekurrieren Paratexte aus dem Umfeld der Autofiktion, indem sie diese Instabilität explizit machen. Indem die Texte aus der Kritik der erkenntnistheoretischen Basis der Autobiographie die Notwendigkeit einer neuen, paradoxal anmutenden Gattungsmischung ableiten, inszenieren sie im Paratext genau die problematische Abgrenzung von autobiographischem Diskurs und fiktionalem Sprechen. Dies geschieht jedoch nicht (nur) aus einer spielerischen Inversion paratextueller Statusmarkierungen und klassischer Gattungsabgrenzungen, sondern vor dem Hintergrund einer epistemologischen Problematisierung insbesondere der »Interdependenz von Sprach- und Wirklichkeitskonstitution«271, deren Folgen auf das Verhältnis von Fiktionalität und Faktualität aufgegriffen werden. Dies ist demnach »[k]ein reines Spiel mit dem Genre […], sondern das Ergebnis eines übergreifenden epistemologischen Wandlungsprozesses«272. Als solches steht es – auch wenn die Ausgangsbedingungen gleichsam ›invertiert‹ werden und nunmehr nicht mehr fiktionales Schreiben problematisch erscheint, sondern autobiographisch-faktuales – in engem Zusammenhang mit den anderen hier beschriebenen paratextuellen Verfahren der Fiktionsmarkierung in Vorworten, die immer schon eine selbstreflexive ›Verhandlung‹ des Status des Textes und zugleich eine theoretischpoetologische Thematisierung möglicher Folgen dieser Einordnung darstellen. Drei ›Traditionslinien‹ des Vorwortes wurden in den vorangegangenen Überlegungen – freilich stichprobenhaft – hinsichtlich der Statusmarkierungen betrachtet, die (1) den Text, den sie kommentieren, als faktualen Text markieren, der in seiner Gestalt als Manuskript herausgegeben wird, die (2) einen Text als fiktionalen ausweisen, der nicht direkt auf den Autor zurückgeführt werden dürfe, oder aber (3) als Text, der in einer spezifischen Form beides zugleich sein soll, Autobiographie und Roman, Fakt und Fiktion. Alle drei Varianten sind dabei auf zeitgenössische Fiktionsvorstellungen bezogen und reflektieren (1) den problematischen Status der Gattung Roman, deren Vertreter allerdings zunehmend selbstbewusster auftreten und schließlich (2) die Differenz in Peritexten offen ausstellen, sich dabei jedoch weiterhin in einer poten tiell problematischen Lage befinden, da ein Peritext auch bei durchgesetzter Fiktionskonvention keine Lektüre, die den Regeln dieser Konvention folgt, vorschreiben kann. Dies ist insbesondere problematisch bei möglichen autobiographischen Bezügen, die schließlich (3) in neueren Texten aus dem Umfeld der Autofiktion explizit thematisiert und mit fiktionalen Verfahren analogisiert werden. Das Vorwort erscheint dabei in allen diesen Aspekten als hochgradig selbstreflexives peritextuelles Element, das den fiktionalen oder (vermeintlich) faktualen Status eines Textes nicht nur markieren oder signalisieren kann, sondern insbesondere Überlegungen darüber anstellen kann, wie sich dieser Status begründen und rechtfertigen ließe.
271 Gronemann (2002): Postmoderne/Postkoloniale Konzepte der Autobiographie, S. 15. 272 Gronemann (2002): Postmoderne/Postkoloniale Konzepte der Autobiographie, S. 19; das hier eingefügte ›[k]‹ im Zitat korrigiert einen offensichtlichen Druckfehler bei Gronemann.
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Während die Herausgeberfiktion als Vehikel erscheint, das gezielt Ambivalenzen erzeugt, indem es unplausible oder offen kontradiktorische Markierungen und Signale einführt, so erscheint ein Vorwort, das auf der Nichtverantwortung des Autors für die Aussagen eines Erzählers insistiert, zunächst als ›eindeutige‹ Fiktionsmarkierung, die jedoch der Dynamik des Paratextes nicht entgehen kann. Ambivalenzen können auch dann entstehen, wenn der Paratext gleichsam juristisch die Trennung zwischen Fakt und Fiktion besiegeln will (darauf wird im Zusammenhang mit Disclaimern im nächsten Kapitel zurückzukommen sein). Schließlich ist die Ambivalenz auch im Zusammenhang mit der autofiction produktiv gemacht worden – einem Genre, das in seinem Funktionieren gerade auf die paradox anmutenden Zuschreibungen im Paratext angewiesen ist und so einmal mehr die Grenze zwischen Fakt und Fiktion umspielt. Um auf den Beginn dieses Kapitels und die im 18. Jahrhundert verschiedentlich konstatierte Notwendigkeit eines Vorwortes im Roman zurückzukommen, sei auf eine grundsätzliche Entwicklung hingewiesen, die sich an den bisher analysierten Beispielen aufzeigen lässt, jedoch nur am Rande erwähnt wurde. Es lässt sich seit dem 19. Jahrhundert gerade für fiktionale Texte eine grundlegende Tendenz beobachten, zunehmend auf Vorworte zu verzichten. Ein explizit als solches deklariertes, potentiell umfangreiches Vorwort scheint stark mit den Herausgeberfiktionen des 18. Jahrhunderts assoziiert und bleibt als selbst schon ›werkartiger‹ Paratext in dieser Tradition auch im 19. Jahrhundert an diese Tradition gebunden (insbesondere im Kontext des historischen Romans)273. Die Beispiele aus dem 20. Jahrhundert zeichnen sich dagegen entweder durch ihre Kürze (Gerhardi) oder durch ihre ›Einbettung‹ in andere peritextuelle Elemente wie die Widmung (Greene) oder den Klappentext (Doubrovsky, Perec) aus. Während das Vorwort in Bezug auf die Diskussion und Verhandlung des Status des Textes an Bedeutung verliert, zeichnet sich eine Tendenz ab, die Funktionen des Vorwortes auf andere peritextuelle Elemente zu verschieben. Eines dieser Elemente ist in vielen Fällen auch der Disclaimer, der im folgenden Kapitel ausführlicher untersucht werden soll. Eine Erklärung könnte sein, dass das Vorwort für Statusmarkierungen zunehmend unattraktiv wird, weil es einer ›überkommenen‹ peritextuellen Tradition angehört, die grundsätzlich mit Verfahren assoziiert ist, die es bereits als Teil der Fiktion erscheinen lassen. Dadurch wirkt das Vorwort einerseits ungeeignet, extrinsiche Informationen zu ›transportieren‹, weil es diese bereits als ›Teil der Fiktion‹ verdächtig macht, andererseits aber ist es damit auch nicht mehr für ambivalente Markierungen geeignet, denn diese beruhen gerade darauf, dass zumindest die Möglichkeit besteht, die Markierung sei ›ernsthaft‹. Gerade der (üblicherweise editoriale) Klappentext, in den
273 Vgl. Duchet (1975): »L’Illusion historique«. Ein weiteres Beispiel für Vorworte aus dem 19. Jahrhunderts, die die Tradition der Herausgeberfiktion fortsetzen, wären diejenigen Hawthornes; vgl. dazu: Adams (1977): »To Prepare a Preface«.
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die hier a ngesprochenen autofiktionalen Texte ›ausgreifen‹, und die im folgenden Kapitel untersuchten Disclaimer scheinen sich vor diesem Hintergrund anzubieten, ist ihnen doch zumindest prima facie eine gewisse ›Autorität‹ eigen – eine Autorität freilich, die dann erneut durch die Schwellenfunktion des Paratextes in Frage gestellt werden kann.
5 Disclaimer Die Geschichte des Disclaimers ist eine vergleichsweise junge Episode in der Geschichte des Paratextes. Seine Erforschung ist, von wenigen – verstreuten – Überlegungen abgesehen, bis dato weitgehend inexistent. Im Folgenden soll freilich keine umfassende Geschichte des Disclaimers vorgelegt werden. Anhand ausgewählter Disclaimer und Gerichtsurteile aus verschiedenen nationalen Kontexten werden vielmehr Momente einer solchen Geschichte herausgegriffen, um auf dieser Basis die spezifische Funktionsweise des Disclaimers und seine Stellung zu anderen peritextuellen Elementen zu beleuchten.1 Wann überhaupt von einem Disclaimer zu sprechen ist, hängt von der Definition ab. ›Vorläufer‹ lassen sich freilich finden und wurden in der Forschung mithin bis in die Antike zurückverfolgt.2 Dabei werden jedoch ganz allgemein jegliche Beteuerungen der Fiktivität des Dargestellten als Gegenstand berücksichtigt. Ganz ähnlich verhält es sich mit Genettes Thematisierung der »protestation de fictivité«3. Er fasst darunter jegliche Warnung, nach »applications« in der Realität zu suchen, und erwähnt als Beispiel unter anderem das bereits zitierte Vorwort zu La Princesse de Monpensier (siehe S. 72). Genette hält allerdings zugleich fest, dass es mit neueren protestations, die einer weitgehend standardisierten Formulierung folgen, eine etwas andere Bewandtnis habe: »Une telle formule, on le sait, a une fonction juridique, puisqu’elle vise à éviter des procès en diffamation, qu’elle n’évite pas toujours.«4 Eine Besonderheit des Disclaimers ist demnach, dass er auf eine juristische Problemlage hin ausgerichtet und immer schon ein legal disclaimer ist. Ob er rechtlich wirksam ist, ist davon zunächst völlig unabhängig, denn er steht, auch wenn er sich vor Gericht als unwirksam erweisen sollte, in einem juristischen Zusammenhang – und eben dies unterscheidet ihn von früheren Formen, die schwerlich in einen solchen eingeordnet werden können. Wichtiger noch erscheint Genettes latenter Hinweis auf die Formelhaftigkeit des Disclaimers. Während andere Formen der Fiktivitätsbeteuerung ebenso knapp sein k önnen, so grenzen sie sich dennoch von Disclaimern im engeren Sinn dadurch ab, dass sie nicht Elemente einer Standardformulierung aufgreifen, sondern vielmehr
1 Insbesondere ist derzeit keine umfangreiche Analyse von Disclaimern möglich, da diese auf eine Datensammlung zurückgreifen müsste, die im Moment (noch) nicht existiert. Beispiele und Überlegungen zum Disclaimer finden sich für den Film insbesondere bei Aquino (2005): Truth and Lives on Film und Davis (1986): »›Any Resemblance to Persons Living or Dead‹«. Literarische Disclaimer finden sich vor allem bei Mack (1995): »Thou Art Not He or She. Author’ Disclaimers and Attitudes to Fiction«, McDonald (2001): »The Literary Disclaimer: Law, Fiction, and the Real« und Magné (2001): »Toute ressemblance …«. Diesen Sammlungen sind einige der folgenden Beispiele entnommen. 2 Vgl. den sehr frühen Beitrag von Lutz, die Vorformen bei Juvenal und Phaedrus sieht: Lutz (1950): »Any Resemblance … Is Purely Coincidental«. 3 Genette (1987): Seuils, S. 200. 4 Genette (1987): Seuils, S. 201. https://doi.org/10.1515/9783110578942-005
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j eweils eigene Formulierungen und Argumente finden.5 Eine Standardklausel für Disclaimer ist zwar nicht ohne Weiteres zu finden, es lässt sich jedoch annäherungsweise ein Muster in allen drei hier relevanten Sprachen angeben: All persons6 appearing in this text7 are purely imaginary8. Any resemblance to actual persons, living or dead, is purely coincidental. Tous les personnages de ce texte sont purement imaginaires. Toute ressemblance avec des individus existant ou ayant existé serait fortuite. Alle Figuren dieses Textes sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen ist rein zufällig.
Ein Disclaimer muss dieser Form nicht im Einzelnen folgen, es reicht vielmehr bereits eine knappe Anspielung auf diese oder verwandte prototypische Formulierungen aus, um die Referenz aufzurufen. Als Disclaimer soll hier also explizit nur gelten, was eine rechtliche Dimension darüber aufruft, dass es sich auf die bekannten Formulierungen bezieht. Dass es dabei Grenz- beziehungsweise Zweifelsfälle gibt, ist weniger problematisch, als es zunächst scheinen mag. Sie stammen vielmehr häufig aus der unmittelbaren ›Vorgeschichte‹ des Standard-Disclaimers und geben Aufschluss über seine mögliche Genese. Diese ist eng an juristische Umstände gebunden und soll hier im Einzelnen dargestellt werden. Dabei ist es immer wieder nötig, Disclaimer von Filmen einzubeziehen, denn die Geschichte des Disclaimers in der Literatur ist mit dem Film aufs Engste verbunden – was aber nicht bedeutet, dass der Disclaimer im Film zuerst aufgetreten ist, wie Genette vermutet.9 Genettes kurze Beschreibung des Disclaimers stellt darüber hinaus eine weitere zentrale Frage: die nach der Verwandtschaft des Disclaimers mit anderen, zuvor bereits etablierten paratextuellen Formen. Er beschreibt Disclaimer im Kontext des Vorworts
5 Ein Beispiel, das der Kürze wegen in die Nähe des Disclaimers rückt, ist das folgende: »Des vérifications entreprises avec diligence ne tardèrent pas à démontrer qu’en effet la plupart des tableaux de la collection Raffke étaient faux, comme sont faux la plupart des détails de ce récit fictif, conçu pour le seul plaisir, et le seul frisson, du faire-semblant«; Perec (1988[1979]): Un cabinet d’amateur, S. 120. Während auch hier die Fiktivität des Dargestellten betont wird, ist das ›Register‹ dieser Bemerkung eher im Kontext der (Kunst-)Fälschung zu suchen, die für den Text thematisch höchst relevant ist, als im juristischen Kontext. 6 Der Verweis auf Personen kann ergänzt sein durch weitere Bezüge auf Situationen, Handlungen, Orte oder Institutionen. 7 Anstelle von ›Text‹ steht häufig eine genauere Bestimmung der jeweiligen Produktion: Roman, Film, Sendung etc. 8 Statt »imaginary« kann auch »fictitious«, »fictional« o. ä. stehen, wobei es im Einzelfall schwer zu bestimmen ist, ob mit der Wahl eines konkreten Begriffs eine je spezifische Stellung der Entitäten im Text zur Realität bezeichnet werden soll oder ob die Begriffe letztlich synonym nebeneinander stehen. 9 Vgl. Genette (1987): Seuils, S. 201.
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und vermutet, dass sie sich erst ›kürzlich‹ daraus entwickelt haben, zugleich aber hält er sie für mögliche Anhängsel oder Ergänzungen (»annexes«) der Gattungsbezeichnung, die so verdoppelt werde (sofern sie nicht, wie in einigen Fällen offensichtlich, in Widerspruch zu einer Fiktivitätsbeteuerung steht).10 Beide Versuche, den Disclaimer anderen paratextuellen Formen anzunähern, haben eine Berechtigung, bleiben aber dennoch unbefriedigend, weil sie die spezifische historische Entwicklung und Bedingtheit des Disclaimers nicht sichtbar werden lassen und ihn nicht als eigene ›Paratextsorte‹ erkennen, die sich gerade durch ihre Formelhaftigkeit auszeichnet. Auch aus diesem Grund soll er hier gesondert thematisiert werden. Gründe dafür, den Disclaimer der Gattungsbezeichnung anzunähern, scheinen darin angelegt, dass beide paratextuellen Elemente vordergründig einem ähnlichen Zweck dienen können: nämlich deutlich zu machen, dass es sich bei dem jeweiligen Text beispielsweise um einen »Roman« und damit um einen fiktionalen Text handelt. Der Disclaimer würde dann, so scheint es, die gattungstypische Fiktionalität des Romans explizieren und auf die sich daraus ergebende Konsequenz hinweisen, dass die Entitäten, die in diesem aufgerufen werden, als fiktive zu verstehen sind. Für diese Annäherung scheint das ebenfalls bereits zitierte Vorwort zu Célines Voyage au bout de la nuit zu sprechen, das genau diese Verbindung zwischen der Gattungsbezeichnung roman und der Fiktivität (und an dieser Stelle auch: Erfundenheit) des Dargestellten herstellt: Notre voyage à nous est entièrement imaginaire. Voilà sa force. Il va de la vie à la mort. Hommes, bêtes, villes et choses, tout est imaginé. C’est un roman, rien qu’une histoire fictive. Littré le dit, qui ne se trompe jamais.11
Allerdings ist dies eine recht restriktive Auslegung der Gattungsbezeichnung roman, die nicht eindeutig auf eine erfundene Handlung hinweisen muss und darüber hinaus eine lange historische Tradition aufruft, die sich gerade dadurch auszeichnet, dass unter der Gattungsbezeichnung immer neue Formen aufgenommen werden können.12 Die bloße Gattungsbezeichnung ›Roman‹ ist daher alleine kaum als ›sicherer‹ Indikator für die Erfundenheit des Dargestellten geeignet und für eine etwaige gerichtliche Auseinandersetzung nur bedingt hilfreich – ganz abgesehen davon, dass schon die alltägliche Leseerfahrung (entgegen Célines Beteuerung) natürlich nahelegt, dass die Gattungsbezeichnung ›Roman‹ nicht bedeutet, dass ›alles‹ in einem Text erfunden
10 Vgl. Genette (1987): Seuils, S. 202. 11 Céline (1932): Voyage au bout de la nuit. 12 Vgl. Bunia (2007): Faltungen, S. 20. Bereits für den englischen Roman des 18. Jahrhunderts lässt sich feststellen, dass die Gattung sich gerade durch eine Verbindung diverser Formen auszeichnet und so von Beginn an als eine »heterogene Form [erscheint], die erst durch die Verbindung mehrerer Gattungsmodelle die ›richtige‹ Proportion gewinnt«; Fludernik (1996): »Vorformen und Vorläufer des englischen Romans«, S. 66.
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sein muss und keine Entsprechung in der Realität haben kann: Allein die Bezeichnung ›historischer Roman‹ wäre nach dieser Auslegung der Gattungsbezeichnung ein Paradoxon. Auch aus dem Vorwort ließe sich der Disclaimer herleiten, aber auch hier ergeben sich gravierende Abweichungen, die seine Sonderstellung ausmachen. Am deutlichsten wird dies, wenn man den mehr oder weniger expliziten Vertragscharakter des Disclaimers betrachtet. Genette bezeichnet den Disclaimer als »véritable contrat de fiction«13. Genettes Annäherung von Disclaimer und Vorwort über den Vertragscharakter, der beiden eigen sei, ist jedoch problematisch, denn einerseits ist die Rede vom Vertragscharakter von Vorworten selten mehr als eine metaphorische, die zudem mit Bezug auf einen ›Fiktionsvertrag‹ nicht überzeugen kann (siehe oben S. 41). Andererseits lassen sich zwar sicherlich einzelne Vorworte ausfindig machen, die einen expliziten Vertragscharakter evozieren, jedoch ist bei einem Disclaimer eher die Analogie zu einseitig diktierten Nutzungsbedingungen zu sehen, die im Englischen als terms of use beziehungsweise terms of service bekannt sind – diese sind nun aber genau nicht mit dem allgemeinen Hinweis auf einen Vertrag erklärt, sondern bilden einen Sonderfall vertraglicher Bedingungen. Dabei stellt einer der Vertragspartner Bedingungen auf, ohne dass der Nutzer Einfluss auf die Gestaltung dieser Regelungen hat. Derartige Regelungen sind im deutschsprachigen Bereich unter dem Begriff der ›Allgemeinen Geschäftsbedingungen‹ bekannt und ihre Verwendung ist in den §§ 305–310 des BGB geregelt. Sie sind allgemein bestimmt als »alle für eine Vielzahl von Verträgen vorformulierten Vertragsbedingungen, die eine Vertragspartei (Verwender) der anderen Vertragspartei bei Abschluss eines Vertrags stellt«14. Sie werden nur dann Bestandteil eines Vertrages, wenn der ›Verwender‹ dem Vertragspartner die Möglichkeit verschafft, »in zumutbarer Weise […] von ihrem Inhalt Kenntnis zu nehmen«15 und »die andere Vertragspartei ausdrücklich oder […] durch deutlich sichtbaren Aushang am Ort des Vertragsschlusses auf sie hinweist«16. Vergleichbare Regelungen der »Einbeziehungsproblematik«17 (der Frage also, ob Allgemeine Geschäftsbedingungen in Verträge einbezogen werden können) gelten in diversen Ländern.18 Vorformen dieser allgemeinen Vertragsklauseln lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen,19 eine weitere Verbreitung erlebten sie ab dem 19. Jahrhundert.20
13 Genette (1987): Seuils, S. 201. 14 § 305 Abs. 1 BGB. 15 § 305 Abs. 2 BGB. 16 § 305 Abs. 2 BGB. 17 Hellwege (2010): Allgemeine Geschäftsbedingungen, S. 103 und passim. 18 Vgl. Hellwege (2010): Allgemeine Geschäftsbedingungen, S. 351–365. 19 Vgl. Hellwege (2010): Allgemeine Geschäftsbedingungen, S. 2. 20 Vgl. Pohlhausen (1978): Zum Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen im 19. Jahrhundert, S. 1–11.
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Einige Aspekte dieser einseitig gestellten Vertragsbedingungen lassen sie dem Dis claimer vergleichbar erscheinen – obwohl gravierende Unterschiede bestehen und der Vergleich eine relativ lose Analogie bleibt, die aber nichtsdestoweniger aufschlussreich ist. Zunächst lässt sich von der ›Formelhaftigkeit‹ Allgemeiner Geschäftsbedingungen eine Brücke schlagen zu Disclaimern, die ebenfalls auf eine mehr oder minder standardisierte Formulierung zurückgreifen. Allgemeine Geschäftsbedingungen sind in vergleichbarer Weise dadurch definiert, dass sie eben nicht für einen spezifischen Vertrag ausgehandelt werden, sondern als vorformulierte Klauseln Bestandteil diverser Verträge werden können. Durch diesen Umstand werden Allgemeine Geschäftsbedingungen dem P aratext insgesamt ähnlich, denn auch sie zeichnet eine Zwischenstellung aus: Sie sind – wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind – gültiger Bestandteil eines Vertrags und müssen diesem zugleich nicht direkt angehören, sondern können durch einen b loßen Verweis auf sie mit einbezogen werden. Das BGB bestimmt, dass es »[g]leichgültig ist, ob die Bestimmungen einen äußerlich gesonderten Bestandteil des Vertrags bilden oder in die Vertragsurkunde selbst aufgenommen werden«21. Aus dieser Möglichkeit, dass Allgemeine Geschäftsbedingungen einem Vertrag nicht notwendigerweise explizit angehören müssen, ergibt sich die bereits erwähnte ›Einbeziehungsproblematik‹. Das BGB regelt aus diesem Grund, dass auf Allgemeine Geschäftsbedingungen ausdrücklich oder wenigstens durch Aushang am Ort des Vertragsschlusses hingewiesen werden muss,22 es verlangt also eine ›Betonung‹ derselben, während zugleich klar ist, dass Allgemeine Geschäftsbedingungen bei alltäglichen Vertragsschlüssen allenfalls ›marginal‹ sichtbar werden – die geläufige Redewendung vom ›Kleingedruckten‹ deutet es an.23 Allgemeine Geschäftsbedingungen sind also häufig dadurch gekennzeichnet, dass sie gerade so ›sichtbar‹ sind, dass sie noch die Bedingungen einer Einbeziehung in den Vertrag erfüllen, jedoch nicht in den Vordergrund rücken. Bei Disclaimern ist dies ebenfalls zu beobachten, allerdings stellen sich hier spezifische Fragen, die auch auf die Verantwortlichkeit für den Disclaimer abzielen. Während Disclaimer im Film häufig im Abspann ›versteckt‹ sind, so sind sie in gedruckten Texten in der Regel im Impressum in kleiner Schriftgröße zu finden. Sie erscheinen durch diese Platzierung als editorialer Peritext, der auf einer Stufe mit anderen Verlagsangaben wie etwa der ISBN-Nummer oder der Urheberrechtsangabe steht und den Eindruck macht, bloß der juristischen Absicherung zu dienen. Vergleichbar mit Allgemeinen Geschäftsbedingungen, bei denen mitunter ein Aushang genügt, sind
21 § 305 Abs. 1 BGB. 22 Dies bezieht sich freilich nur auf Rechtsgeschäfte zwischen Unternehmen und Verbrauchern; zwischen Unternehmen und anderen Unternehmen oder juristischen Personen gelten abweichende Regelungen; vgl. § 310 BGB. 23 Das BGB hält explizit fest, dass es bei Allgemeinen Geschäftsbedingungen gleichgültig ist, »in welcher Schriftart sie verfasst sind«; § 305 Abs. 1 BGB.
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diese Disclaimer also zwar durchaus an einer wichtigen Stelle im Buch ›angebracht‹, um bei Bedarf auf sie verweisen zu können, sie erregen jedoch kaum je Aufmerksamkeit, und es ist zu vermuten, dass ein nicht geringer Teil der Leser keine Notiz von ihnen nimmt. Wenn Disclaimer dagegen typographisch in den Vordergrund rücken und etwa auf einer eigenen, dem Text vorangestellten Buchseite erscheinen, ziehen sie Aufmerksamkeit auf sich und werden damit verdächtig, nicht als ›regulärer‹ editorialer Disclaimer zu funktionieren, sondern im Verantwortungsbereich des Autors zu liegen und damit möglicherweise bereits an der Fiktion zu partizipieren. Sie erscheinen dann – anders als Allgemeine Geschäftsbedingungen – gerade nicht als marginale Notiz, sondern werden ›zu zentral‹, um unverdächtig zu bleiben. Ihre ›Einbeziehung‹ in eine eventuelle juristische Auseinandersetzung wird damit zugleich unwahrscheinlich. Ein vergleichbares foregrounding ist im filmischen Medium selbstverständlich ebenso möglich (siehe S. 33). Ähnliches kann geschehen, wenn ein Disclaimer zwar die Standardklausel aufruft, aber entscheidend davon abweicht und eine ›unerwartete‹ Wendung nimmt. Allgemeine Geschäftsbedingungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie ›erwartbar‹ sein müssen. Der Gesetzgeber hält explizit fest, dass »Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, die nach den Umständen […] so ungewöhnlich sind, dass der Vertragspartner des Verwenders mit ihnen nicht zu rechnen braucht«24, nicht in einen Vertrag einbezogen werden dürfen. Auch hierin erscheinen Disclaimer den Allgemeinen Geschäftsbedingungen vergleichbar – wobei freilich im Falle des Disclaimers die Konsequenzen einer ›unerwarteten‹ Formulierung gänzlich andere sind. Bei Disclaimern ist damit zu rechnen, dass ein solcher, der explizit ungewöhnliche, von der Standardform abweichende Formulierungen enthält, kein editorialer und juristischer Disclaimer ist, sondern möglicherweise ein Spiel mit den Konventionen der Textsorte entfaltet. Bei diesem Spiel lassen sich jedoch durchaus Gradierungen ausmachen und die Abweichung von der ›Norm‹ kann sehr unterschiedlich ausfallen. Insbesondere dann, wenn die Platzierung des Disclaimers im Buch nicht prominent ist und an die Disclaimer auf der Impressumsseite erinnert, kann mitunter fraglich sein, ob er eine rechtliche Schutzwirkung entfalten soll oder sich spielerisch-ironisch auf die Konvention des Disclaimers bezieht. So etwa in Rainald Goetz’ Johann Holtrop: Schutzschrift // Natürlich basiert dieser Roman auf der Realität des Lebens auch wirklicher Menschen. Aber es ist ein Roman, Fiktion, fiktiv in jeder Figur, alles hier Erzählte auch: Werk der Literatur.25
24 § 305c Abs. 1 BGB. 25 Goetz (2012): Johann Holtrop.
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Dieser Disclaimer ist im Peritext, der bei Goetz bereits durch die diversen Titelblätter, die den Text in eine ›Werkgruppe‹ einsortieren, recht umfangreich ist, auf einer separaten Seite platziert, erinnert aber durch die Stellung am unteren Seitenrand und durch die Schriftgröße noch an editoriale Disclaimer. Die Formulierung jedoch weicht in einigen Teilen eindeutig von der Standardklausel ab (die sie dennoch aufruft) und lässt einen deutlichen Anklang an den sound der Goetz’schen Prosa hören – sie dürfte kaum aus der Rechtsabteilung des Suhrkamp-Verlags stammen. Dass in dem Roman zahlreiche reale Personen auftreten und sich darüber hinaus Bezüge zwischen dem im Text geschilderten Unternehmen und der Bertelsmann AG (beziehungsweise zwischen Johann Holtrop und deren Vorstandsvorsitzenden Thomas Middelhoff) erahnen lassen,26 erschwert diese Einschätzung jedoch noch einmal. Es ist durchaus denkbar, dass mit dem Disclaimer an dieser Stelle auch eine zumindest potentielle juristische Schutzfunktion intendiert ist. Die ›Schutzschrift‹ greift dies insofern auf, als sie zuzugeben scheint, dass reale Personen und Ereignisse in den Roman eingegangen sind, diese jedoch in der Fiktion, in einem ›Werk der Literatur‹ benutzt werden und somit rein fiktiv seien. Diese ›Argumentation‹ deckt sich mit der hier vorgestellten, bei der es durchaus möglich ist, dass ein Text als Fiktion rezipiert wird, in dem kaum etwas oder gar nichts erfunden ist, in dem vieles, ja möglicherweise alles auf ›realen Tatsachen‹ basiert. Mögliche juristische Probleme sind damit jedoch nicht ausgeräumt, denn die rechtliche Absicherung kann einen Umgang mit dem Text als Fiktion zwar nahelegen, diesen aber selbstverständlich nicht vorschreiben – die weite Verbreitung der Nachforschungen in den Medien über die ›Vorbilder‹ zu den Figuren in Johann Holtrop sind dafür ein schlagendes Beispiel.27 Dass Goetz’ Text, wie seine früheren Romane auch, das »Credo einer Wirklichkeitsmitschrift« erfülle und »die vorangestellte Schutzschrift […] sich einmal mehr als eine ›transparente Folie‹«28 erweise, scheint eine Lösung des Problems, die nahelegt, dass der Disclaimer als ›transparente Folie‹ einfach das Gegenteil dessen durchscheinen lässt, was er behauptet. Eine andere, ebenso mögliche Lösung besteht darin, den Disclaimer ernst zu nehmen und davon auszugehen, dass er im Grunde recht genau bezeichnet, was es mit den Figuren im Text und den realen Vorbildern auf sich hat, und zugleich aber zu einem bestimmten (nämlich den Mustern der Fiktion folgenden) Umgang mit dem Text auffordert. Ob dies allerdings in einer eventuellen gerichtlichen Auseinandersetzung geholfen hätte, ist mehr als fraglich, denn der Disclaimer bietet schlicht beide Seiten an: Er lässt sich als ironisches Spiel mit der Konvention des Disclaimers ebenso lesen wie als ›ehrliche‹ Aufforderung, den nachfolgenden Text als fiktionalen zu lesen (auch wenn dieser auf der Realität basiert).
26 Vgl. etwa: Weidermann (2012): »Die böse Botschaft der Literatur«. Andernorts wurde Johann Holtrop gar als »Schlüsselroman über Aufstieg und Fall des früheren Bertelsmann-Vorstandschefs Thomas Middelhoff« beschrieben; Kämmerlings (2012): »Holtrop, c’est moi«. 27 Vgl. die Auflistung der Rezensionen bei Kreknin (2014): Poetiken des Selbst, S. 256, Anm. 271. 28 Kreknin (2014): Poetiken des Selbst, S. 255.
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Dagegen gibt es jedoch auch Klauseln, die vom Disclaimer sehr weit abweichen und derart ›überraschend‹ sind, dass sie sich auf den ersten Blick als Spiel erkennen lassen, auch wenn sie noch einen vagen ›juristischen‹ Charakter haben. Eines der auffälligsten Beispiele ist vermutlich das folgende: Persons attempting to find a motive in this narrative will be prosecuted; persons attempting to find a moral in it will be banished; persons attempting to find a plot in it will be shot. // BY ORDER OF THE AUTHOR. // per G. G., CHIEF OF ORDNANCE.29
In dieser ironischen Notice in Mark Twains Huckleberry Finn wird dem Leser gleichsam mit vorgehaltener Waffe bedeutet, wie er den Text benutzen darf – beziehungsweise wie er ihn nicht benutzen darf. Dabei geht es hier freilich nicht um eine Fiktions markierung, und die Anspielung auf juristische Fragen ist lediglich Maskerade. Dieser Hinweis an den Leser wird jedoch später erneut aufgegriffen und rückt in dieser neuen Verwendung in die Nähe des Disclaimers. Die Vorbemerkung aus Arno Schmidts Kaff auch Mare Crisium soll daher vollständig zitiert werden, auch wenn sie etwas länger ausfällt: Das vorliegende Buch spielt – wie u. a. aus der Stelle S. 13, Z. 5 v. u. überzeugend dargetan wurde – in seinen entscheidenden Partien im Jahre 1980 auf dem Monde. Die eingestreuten irdischen Szenen sind, nach Angabe des Verfassers, dem bayerischen Volxleben entnommen; da er jedoch weder das Land kennt, noch den Dialekt seiner Bewohner, auch Bergländer notorisch nicht ausstehen kann, und vor allem eine Lokalisierung unmöglich machen wollte, wurden die beobachteten Ereignisse und Gestalten zur Tarnung in ein Gebiet nördlich der unteren Weser verlegt, westlich der Linie Scheeßel=Groß Sittensen=Hollenbeck=Kutenholz=Himmelpforten= Assel. – Infolgedessen wird, auf Antrag des Autors, wie folgt verfügt: a) Wer in diesem Buch ›Ähnlichkeiten mit Personen und Ortschaften‹ aufzuspüren versucht, wird mit Gefängnis, nicht unter 18 Monaten, bestraft. b) Wer ›Beleidigungen, Lästerungen o. ä.‹ hineinzukonstruieren unternimmt, wird des Landes verwiesen. c) Wer nach ›Handlung‹ und ›tieferem Sinn‹ schnüffelt, oder gar ein ›Kunstwerk‹ darin zu erblicken versuchen sollte, wird erschossen. BARGFELD, den 10. März 1960 das INDIVIDUUMSSCHUTZAMT (gez.: D. Martin Ochs)30
Durch den Verweis auf »Ähnlichkeiten mit Personen und Ortschaften« greift diese Vorbemerkung die Standardklausel des Disclaimers auf, und zugleich ist die Ähnlichkeit zu Twains ›Strafandrohung‹ deutlich. Die Beteuerung des Disclaimers, dass
29 Twain (1884): The Adventures of Huckleberry Finn. 30 Schmidt (1960): Kaff auch Mare Crisium.
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keine Ähnlichkeiten zu realen Personen und Orten beabsichtigt seien, ist hier jedoch mit durchaus verworrenen und zweifelhaften Abwandlungen versehen: Es heißt nicht, dass Ähnlichkeiten zufällig seien, sondern, dass sie nicht »aufgespürt« werden dürfen – sie mögen also dennoch (und potentiell absichtlich) vorhanden sein. Eine Lokalisierung soll unmöglich gemacht werden und zugleich wird eine (reale) geographische Region angegeben, in die die eigentlich aus Bayern stammenden »Szenen« jedoch nur zur »Tarnung« transferiert worden seien – wenn sie allerdings getarnt werden müssen, so die Überlegung, die dadurch aufgerufen wird, dann sind sie wohl ebenfalls ›real‹. Der Unterzeichner dieser Warnung an den Leser ist darüber hinaus erneut ein Verweis auf den Disclaimer und seine juristische Funktion. War es bei Twain noch eine militärische Institution, so wird bei Schmidt ein ›Individuumsschutzamt‹ genannt und somit darauf verwiesen, dass derartige ›Schutzvorkehrungen‹ in der Regel getroffen werden, um Ansprüche von Individuen abzuwehren, die sich entweder in ehrverletzender Weise dargestellt oder in ihrem Recht auf Schutz der Privat- oder Intimsphäre verletzt sehen. Inwieweit diese Ansprüche durch einen Disclaimer ausgeschlossen werden können, wird noch diskutiert werden. Als ebenso ›überraschend‹ dürften Fälle gelten, die den Standard-Disclaimer schlicht in sein Gegenteil verkehren. Magné erwähnt als einen dieser Fälle, die er »contre-emploi«31 nennt, Queneaus Dimanche de la vie: Les personnages de ce roman étant réels, toute ressemblance avec des individus imaginaires serait fortuite.32
Diese Faktizitätsbeteuerung ist selbstverständlich als ironische leicht durchschaubar. Sie adaptiert den Wortlaut des üblichen Disclaimers und wendet ihn ins exakte Gegenteil – als hätten ›erfundene Individuen‹ ein einklagbares Persönlichkeitsrecht oder das Recht auf Schutz vor Verleumdung und übler Nachrede. Magné erkennt in diesem abgewandelten Disclaimer darüber hinaus eine Beteuerung der Originalität, die sich zudem mit dem Eigennamengebrauch in Dimanche de la vie in Verbindung bringen lässt. Nicht nur sei die Behauptung, dass keine Ähnlichkeit zu ›imaginären‹ Personen bestehe, ein Ausweis dichterischer Originalität, sondern die Figuren in Dimanche de la vie seien selbst kaum in einer festhaltbaren Weise zu identifizieren, da sich die Namen stets ändern: Paul Bolucra etwa erhält einen zweiten Vornamen, Jean, und 44 Variationen des Nachnamens – »allant (par ordre alphabétique) de Babagras à Butugra«33.
31 Magné (2001): »Toute ressemblance …«. 32 Queneau (1951): Le Dimanche de la vie. 33 Magné (2001): »Toute ressemblance …«.
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Schließlich ist bei Allgemeinen Geschäftsbedingungen noch geregelt, was im Falle mehr- oder uneindeutiger Klauseln zu geschehen hat.34 Auch Disclaimer können mehr- oder uneindeutige Formulierungen aufnehmen und werden so zu problema tischen Markierungen, bei denen unklar ist, wie die widersprüchlichen Aussagen zueinander stehen. Mehrdeutige Disclaimer sind etwa in Robbe-Grillets La Maison de rendez-vous zu finden. Hier gibt es zwei dem Text vorangestellte Notizen: L’auteur tient à préciser que ce roman ne peut, en aucune manière, être considéré comme un document sur la vie dans le territoire anglais de Hong-Kong. Toute ressemblance, de décor ou de situations, avec celui-ci ne serait que l’effet du hasard, objectif ou non.35
Und auf der folgenden Seite: Si quelque lecteur, habitué des escales d’Extrême-Orient, venait à penser que les lieux décrits ici ne sont pas conformes à la réalité, l’auteur, qui y a lui-même passé la plus grande partie de sa vie, lui conseillerait d’y revenir voir et de regarder mieux: les choses changent vite sous ces climats.36
Der zuerst geäußerte Disclaimer (die Aufnahme der Standardklausel ist nicht zu übersehen) wird durch die zweite Bemerkung zwar nicht gänzlich zurückgenommen, aber zwischen beiden Äußerungen entsteht eine Spannung, die sich nicht ohne Weiteres auflösen lässt. Wäre eine juristische Absicherung angestrebt, dürfte dies nicht der Fall sein, und so wird allein durch die Widersprüchlichkeit suggeriert, dass den paratextuellen Hinweisen eine möglicherweise gänzlich andere Funktion zu Grunde liegt. Eine solche identifiziert Magné auch an diesem Beispiel, wenn er festhält, dass sich in den konfligierenden paratextuellen Hinweisen eine Struktur des Textes insgesamt widerspiegelt, der von unaufgelösten Oppositionen durchzogen sei.37 Schließlich wären zudem Fälle zu nennen, bei denen ein Disclaimer ganz explizit weiteren peritextuellen Elementen widerspricht. So findet sich in David Foster Wallace’ The Pale King im editorialen Peritext ein Disclaimer: The characters and events in this book are fictious [sic]. Any similarity to real persons, living or dead, is coincidental and not intended by the author38
34 Diese werden nach einer contra proferentem-Regel grundsätzlich zu Ungunsten des Verwenders ausgelegt; vgl. § 305c Abs. 2 BGB. 35 Robbe-Grillet (1965): La maison de rendez-vous. 36 Robbe-Grillet (1965): La maison de rendez-vous. 37 Vgl. Magné (2001): »Toute ressemblance …«. 38 Wallace (2011): The Pale King.
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Diese Beteuerung wird jedoch im mit »Author’s Foreword« überschriebenen § 9 im Text zurückgenommen.39 Darin behauptet der Autor, der sich explizit als solcher nennt,40 dass alles in dem Text Dargestellte der Wahrheit entspreche: »All of this is true. This book is really true.«41 Das Vorwort weist dabei auf den Disclaimer zurück und fordert den Leser auf, zurückzublättern und diesen zu lesen, denn: I’m aware that ordinary citizens almost never read disclaimers like this, the same way we don’t bother to look at copyright claims or Library of Congress specs or any of the dull pro forma boilerplate on sales contracts and ads that everyone knows is there just for legal reasons.42
Die hier verwendete Analogie zwischen Disclaimern und Allgemeinen Geschäftsbedingungen wird also auch bei Wallace aufgerufen (als boilerplate contract wird ein nicht verhandelbarer, vorformulierter Vertrag bezeichnet), und es wird auf die Problematik hingewiesen, dass solche Vertragsbestandteile selten gelesen werden. Der ›Autor‹ insistiert deshalb auf den Disclaimer, um dann festzuhalten, dass dieser für alles gelte, was danach stehe, also explizit auch für das »Author’s Foreword«. Die vermeintliche juristische Schutzfunktion soll also auch für genau jenen Teil des Textes gelten, der dem Disclaimer explizit widerspricht: I need this legal protection in order to inform you that what follows is, in reality, not fiction at all, but substantially true and accurate. That The Pale King is, in point of fact, more like a memoir than any kind of made-up story. […] The only bona fide ›fiction‹ here is the copyright page’s disclaimer – which, again, is a legal device […].43
39 The Pale King ist von David Foster Wallace vor seinem Tod nicht abgeschlossen worden und die Kapitelnummerierung und -abfolge ist in Teilen unklar. Dass das Vorwort jedoch nicht, wie üblich, zu Beginn des Textes stehen sollte, geht aus einer Fußnote im Vorwort hervor: »The Foreword’s having now been moved seventy-nine pages into the text is due to yet another spasm of last-minute caution on the part of the publisher«; Wallace (2011): The Pale King, S. 67 Anm. 2. Es wird nahegelegt, dass der Verleger, aus Angst vor juristischen Folgen, das Vorwort, in welchem dem Disclaimer widersprochen wird, im Text ›verstecken‹ wollte. Intertextuell ist das Vorwort, das nicht am Beginn eines Textes sondern ›mittendrin‹ steht, sicherlich eine Anspielung auf Tristram Shandy. Zugleich ist damit ein Spiel mit den jeweiligen Grenzen von Text und Paratext aufgerufen, das auch juristische Aspekte aufgreifen kann. 40 »Author here. Meaning the real author, the living human holding the pencil, not some abstract narrative persona. […] this right here is me as real person, David Wallace, age forty, SS no. 975-042012, addressing you from my Form 8829-deductible home office […]«; Wallace (2011): The Pale King, S. 66 f.; Herv. i. O. durch serifenlose Schrift. 41 Wallace (2011): The Pale King, S. 67. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass diesem Ausruf zudem ein Zitat aus Balzacs Père Goriot zu Grunde liegt, das noch ›überboten‹ werden soll. Bei Balzac hatte es geheißen: »Ah! sachez-le: ce drame n’est ni une fiction, ni un roman. All is true, il est si véritable, que chacun peut en reconnaître les éléments chez soi, dans son cœur peut-être«; Balzac (1971[1835]): Le Père Goriot, S. 22. Im gesamten § 9 des Textes stellt Boswell noch weitere intertextuelle Bezüge fest, insbesondere zu Texten Philip Roths; vgl. Boswell (2014): »Author Here«. 42 Wallace (2011): The Pale King, S. 67. 43 Wallace (2011): The Pale King, S. 67 f.
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Hier ist also das Verhältnis auf den Kopf gestellt: Der Text soll eine nichtfiktionale Tatsachenschilderung sein, die von einem Disclaimer rechtlich geschützt ist, der jedoch selbst Fiktion ist – oder gar: »a lie«44. Dies und die überdeutliche Insistenz auf Faktualität und Faktizität des Textes (»in reality«, »in point of fact«) lassen das Vorwort ›verdächtig‹ werden, nur eine metafiktionale ›Spielerei‹ zu sein, ein »self-referential plot-device«45. Aber auch auf diese Interpretation hat das Vorwort eine Antwort: This might appear to set up an irksome paradox. The book’s legal disclaimer defines everything that follows it as fiction, including this Foreword, but now here in this Foreword I’m saying that the whole thing is really nonfiction; so if you believe one you can’t believe the other, & c., & c. Please know that I find these sorts of cute, self-referential paradoxes irksome, too – at least now that I’m over thirty I do – and that the very last thing this book is is some kind of clever metafictional titty-pincher.46
Unter Rückgriff auf eine Vertragsrhetorik stellt der ›Autor‹ David Wallace klar, dass der Widerspruch zwischen Disclaimer und Vorwort nur das Resultat juristischer Spitzfindigkeit sei: The Pale King is basically a nonfiction memoir […]. Our mutual contract here is based on the presumptions of (a) my veracity, and (b) your understanding that any features or semions that might appear to undercut that veracity are in fact protective legal devices, not unlike the boilerplate that accompanies […] civil contracts, and thus are not meant to be decoded or ›read‹ so much as merely acquiesced to as part of the cost of our doing business together […].47
Wenn Genette, mit Bezug auf den Paratext von einer ›diplomatischen‹ Fiktion spricht, die keiner wirklich geneigt sei anzuerkennen, die aber dennoch stillschweigend akzeptiert werde,48 dann deckt sich dies mit dem, was David Foster Wallace über den Disclaimer ausführt: Es bestehe in The Pale King ein Vertrag zwischen Leser und Autor, der besagt, dass der Autor einen nichtfiktionalen Text (›nonfiction memoir‹) verfasst habe, der aber aus juristischen Gründen mit einem Disclaimer versehen sei und – aus denselben juristischen Gründen – weitere, klassischerweise der Fiktion vorbehaltene Merkmale aufweise. Nur ist eben das Problem, dass eine ›diplomatische‹ Tatsache nicht ausgesprochen werden darf, da sie andernfalls ihren Status gefährdet. Allein dies macht den zurückgenommenen Disclaimer in The Pale King dann doch als selbstreferentielles, metafiktionales Spiel, ja als »self-parody«49 erkennbar, und es bedarf kaum noch der extratextuellen Informationen, die das im Text Geschilderte dann doch
44 Wallace (2011): The Pale King, S. 69. 45 Staes (2012): »Rewriting the Author«, S. 422. 46 Wallace (2011): The Pale King, S. 67. 47 Wallace (2011): The Pale King, S. 73. 48 Vgl. Genette (1987): Seuils, S. 169. 49 Warren (2012): »Narrative Modelling«, S. 400.
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recht eindeutig als erfunden ausweisen.50 Damit sei jedoch nicht gesagt, dass dieses Spiel einfach einen gleichsam willkürlichen acte gratuit darstellt. Vielmehr wird durch das Gegeneinanderstellen der beiden ›Leserkontrakte‹ eine komplexe Verweisstruktur eröffnet, die direkt den formulierten Anspruch, ernsthafte Aussagen über den Text zu machen, problematisiert und dabei immer auch auf die ›Position‹ reflektiert, von der aus solche Ansprüche formuliert werden: Ein Disclaimer verfügt qua seiner Platzierung über eine gewisse Autorität, wird aber kaum gelesen – eben zu dieser Lektüre fordert ein Vorwort auf, das selbst jedoch im Text gleichsam versteckt ist. Und zugleich mit der Aufforderung, den Disclaimer entgegen der Gewohnheit aufmerksam zu lesen, wird vom Leser verlangt, dass er den Disclaimer und andere Fiktionssignale nicht ernsthaft lese, sondern sie einfach stillschweigend hinnehme. Dieses Paradox lässt sich mit einer Formulierung Kellys verbinden, die für das gesamte Werk von Wallace Geltung beansprucht: »[I]n Wallace’s fiction the guarantee of the writer’s sincere intentions cannot finally lie in representation – sincerity is rather the kind of secret that must always break with representation.«51 Auch bei Wallace verbindet sich also mit dem Paratext die Möglichkeit einer Verhandlung und Thematisierung nicht nur des bloßen Status des Textes, sondern diese ist in umfangreichere poetologische Fragestellungen involviert. Da es an dieser Stelle weniger um die genauere Charakterisierung der Funktiona lisierung des Paradoxons in Wallace’s The Pale King gehen soll als um allgemeinere Überlegungen zum Disclaimer, sei aus dem Textbeispiel zunächst nur eine ganz all gemein gehaltene Frage isoliert, die vom Text in aller Radikalität aufgeworfen wird: Lassen sich Disclaimer als bloße Schutzschrift einsetzen, die – allen anderen Hin weisen und Merkmalen des Textes zum Trotz – juristisch wirksam ist? Um diese Frage zu beantworten, ist es nötig, die Rechtsprechung zu betrachten. Zumal diese nicht nur den Umgang mit Disclaimern regelt, sondern – wenn auch indirekt – erst für deren Verbreitung gesorgt haben dürfte: Ein Teil der ›klassischen‹ Formulierung des Disclaimers ruft nicht nur eine juristische Dimension auf, sie verdankt ihre Verbreitung (über Umwege) nicht zuletzt einem Richter, der mit einem der zentralen Rechtsfälle in der Geschichte des Disclaimers befasst war: Lord Justice Scrutton,
50 Der zentrale Hinweis ist sogar nicht erst außerhalb des Textes anzutreffen (auch wenn es kein Geheimnis ist, dass David Foster Wallace, anders als sein textueller counterpart, niemals in einer US-Steuerbehörde gearbeitet hat), sondern im widersprüchlichen Paratext selbst: Der Untertitel von The Pale King lautet »An Unfinished Novel« und ein Vorwort und Notizen des Herausgebers Michael Pietsch ›belegen‹ diesen Status. Während also das »Author’s Foreword« darüber berichtet, welche juristischen Bedenken die Anwälte des Verlags geäußert haben und wie sich dies – bis in die Formulierungen hinein – im Text widerspiegelt (vgl. etwa Wallace (2011): The Pale King, S. 73, Anm. 10), so muss dem Leser doch auffallen, dass dies nicht den Tatsachen entsprechen kann, weil der Text eben noch nicht abgeschlossen ist, eine Diskussion mit den Verlagsjuristen über den fertigen Text also noch gar nicht stattgefunden haben kann. 51 Kelly (2010): »David Foster Wallace and the New Sincerity in American Fiction«, S. 143.
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der 1935 am English Court of Appeal über eine Klage der Prinzessin Irina Alexandrowna Jussupow gegen Metro-Goldwyn-Mayer Pictures Ltd. (MGM) zu entscheiden hatte.52 Der Fall wird immer wieder zitiert, wenn es um die Geschichte des Disclaimers geht, und er spielt in der Tat eine zentrale Rolle, die hier kurz erläutert werden soll. Streitgegenstand ist der 1932 erschienene Spielfilm Rasputin and the Empress53. Dieser stellt die letzten Jahre des Russischen Kaiserreichs sowie die Ermordung Rasputins dar und legt dabei in der ursprünglichen Fassung auch nahe, dass ein Motiv für seine Ermordung eine (im Film nur angedeutete) Vergewaltigung Natashas ist, deren Verlobter den Mord begeht. Die Verbindung zwischen der Filmfigur Natasha und Irina Jussupow lässt sich über die Beziehung zu ihrem Ehemann, Felix Felixowitsch Jussupow, herstellen. Dieser war nachweislich an der Ermordung Rasputins beteiligt und hatte dies öffentlich in einem Text eingestanden. Im Film ist Natasha die Verlobte des Prinzen Paul Chegodieff, des Mörders Rasputins. Wenn also, so die Folgerung, die reale Prinzessin Jussupow Frau des Rasputin-Mörders ist, so ist sie mit der Verlobten des Mörders im Film identifizierbar. Eben diese Identifizierbarkeit war Gegenstand der gerichtlichen Auseinandersetzung, nachdem Irina Jussupow die Filmschmiede MGM wegen libel verklagt hatte.54 Der Prozess wurde in England geführt, wo der Film 1933 erschien – und nicht im Produktionsland. Als Grund für dieses Vorgehen der Anwälte der Klägerin lässt sich vermuten, dass sie bei einem Prozess vor einem englischen Gericht größere Chancen sahen, weil der vergleichsweise hohe Schutz, den Presse- und Meinungsfreiheit in den USA durch den ersten Verfassungszusatz genießen, hohe Anforderungen an ein Verfahren wegen libel stellt – die Verwandtschaft der Klägerin mit dem britischen Königshaus und der vermutete größere Respekt vor aristokratischen
52 Vgl. Princess Irina Alexandrovna Youssoupoff v. Metro-Goldwyn-Mayer Pictures (1935). 53 Rasputin and the Empress (1932). Regie: Boleslawski. Die rechtshistorische Bedeutung des Films übersteigt seine filmhistorische und er ist vergleichsweise schwer zu beschaffen. Die hier verwendete italienische DVD-Ausgabe zeigt zudem eine veränderte Fassung, die in Folge der juristischen Auseinandersetzung ›entschärft‹ wurde. Belege über die ursprüngliche Fassung werden daher der Forschungsliteratur sowie dem Urteil im Prozess entnommen. 54 Im englischsprachigen Bereich wird unter dem Überbegriff defamation zwischen slander und libel unterschieden, wobei letzteres Vergehen durch schriftliche Fixierung ausgezeichnet ist, während slander mündlich geäußert wird. Im Prozess Youssoupoff v. MGM wurde diskutiert, ob die Verhandlung als libel überhaupt angemessen sei, denn die Äußerungen seien schließlich nicht schriftlich fixiert. Zentral ist diese Unterscheidung auch, da bei einem Prozess wegen slander ein tatsächlicher Nachteil, der dem Kläger entstanden ist, nachgewiesen werden muss, während dies bei libel nicht der Fall ist; vgl. Aquino (2005): Truth and Lives on Film, S. 19. Richter Slesser hält fest, dass auch bei einem Film eine Klage wegen libel angemessen sei: »This action is one of libel and raises at the outset an interesting […] problem which, I believe, to be a novel problem, whether the product of the combined photographic and talking instrument which produces these modern films does, if it throws upon the screen and impresses upon the ear defamatory matter, produce that which can be complained of as libel or as slander. In my view, this action […] was properly framed in libel. There can be no doubt that, so far as the photographic part of the exhibition is concerned, that is a permanent matter to be seen by the eye, and is the proper subject of an action for libel, if defamatory«; Youssoupoff v. MGM (1935), S. 875.
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Klägern in einer Monarchie mögen ebenfalls eine Rolle gespielt haben.55 Es lässt sich nur spekulieren, wie ein Prozess in den USA verlaufen wäre. Vor der britischen Jury wurde der Klägerin eine Summe von £ 25 000 zugesprochen und das Urteil vom Court of Appeal bestätigt. Mögliche weitere Prozesse in anderen Ländern, in denen der Film gezeigt worden war (unter anderem in den USA), fanden nicht statt, und die Klägerin einigte sich außergerichtlich mit MGM darauf, gegen Zahlung einer (hohen)56 unbekannten Summe auf weitere juristische Mittel zu verzichten. Die Identifizierung mit realen Personen ist eine der Grundvoraussetzungen für eine rechtliche Verantwortung von medialen Darstellungen – ohne sie ist weder eine ehrverletzende noch eine die Privatsphäre verletzende Repräsentation möglich. Im Fall Youssoupoff wurde eine Identifizierung Irina Jussupows mit der Figur Natasha vom G ericht als jedenfalls möglich angesehen. Neben der Verbindung mit dem Rasputin-Mörder wird dabei auch auf einen Prolog des Films verwiesen, der in der späteren Fassung nicht mehr enthalten ist. Der Film beginnt mit der Einblendung des folgenden Satzes: »This concerns the destruction of an Empire brought about by the mad ambition of one man.« Danach folgt die Liste der Personen und schließlich erneut ein Kommentar: »A few of the characters are still alive; the rest met death by violence.«57 In der Personenliste des Films werden acht Figuren aufgeführt. Nach einer einfachen Subtraktion lassen sich der Zar, die Zarin, der Zarewitsch, der Großfürst Igor sowie Rasputin, die im Film (sowie in der Realität) ums Leben kommen, den Toten zurechnen, während drei Figuren, Natasha, Doktor Remezov und Prinz Chegodieff dann wohl die ›noch lebenden Figuren‹ ausmachen. Eben vor diesem Hintergrund könnten »reasonable people, not all reasonable people but many reasonable people«58 auf den Gedanken kommen, dass Chegodieff mit Jussupow und in der Folge seine Frau mit der Verlobten Chegodieffs im Film zu identifizieren seien. In Bezug auf den vorangestellten Prolog kommt Lord Justice Scrutton daher zu dem – folgenreichen – Schluss: Part of the defence in the action seems really to be: »It is quite true that the defendants said that this is a story of fact, but it is really all a fiction. We ought to have used, if we described it properly, the formula which is now put at the beginning of most novels: ›All circumstances in this novel are imaginary, and none of the characters are in real life.‹« Of course, that would not have fitted in with a representation that it was really a representation of the relations of the Royal Family with Rasputin and the people who killed Rasputin. But the film is so far from the real facts in some cases that one regrets that it was represented at all as being any genuine representation of the facts which had happened.59
55 Vgl. Aquino (2005): Truth and Lives on Film, S. 18. 56 Schätzungen gehen von einem heutigen Gegenwert von bis zu $ 10 Millionen aus; vgl. Aquino (2005): Truth and Lives on Film, S. 20. 57 Zit. nach: Davis (1986): »›Any Resemblance to Persons Living or Dead‹«, S. 457 f. 58 Youssoupoff v. MGM (1935), S. 868. 59 Youssoupoff v. MGM (1935), S. 868 f.
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Der Richter erwähnt also explizit einen Disclaimer als mögliche Strategie, die der Verteidigung in diesem Fall von Nutzen hätte sein können – ob er damit auch nahelegt, dass der Fall dann anders zu behandeln gewesen wäre,60 lässt sich seiner Einschätzung nicht eindeutig entnehmen, denn identifizierende Momente bleiben selbstverständlich dadurch erhalten, dass an historisch verbürgtes Geschehen angeschlossen wird. Weil der Film aber wiederum deutlich von den historischen Tatsachen abweicht, hätte ein Disclaimer unter Umständen den Ausgang des Verfahrens beeinflussen können. In der heute zugänglichen Version des Films ist zwar kein Disclaimer enthalten, dafür aber wurden die beiden Texttafeln, die die Personenliste umgeben, entfernt und auf dieser selbst wurden vier Personen, darunter Natasha und Prinz Chegodieff, nachträglich mit dem Zusatz »(Fictional Character)« versehen.61 Die in der ursprünglichen Version enthaltenen Szenen, die auf eine Vergewaltigung Natashas durch Rasputin schließen lassen, sind ebenso entfernt wie die Szene, in der sie ihrem Verlobten diese andeutet – manches im Verhalten Natashas wirkt daher unmotiviert. Der Fall Youssoupoff v. MGM ist nur indirekt ein Startpunkt für die Verwendung von Disclaimern – einerseits, weil der Film selbst auch in der ›entschärften‹ Version keinen solchen beinhaltet, andererseits aber, weil sich der Begründung des Richters entnehmen lässt, dass Disclaimer bereits zuvor in Romanen anzutreffen waren. In der Tat lassen sich hierfür Belege finden,62 wobei jedoch davon auszugehen ist, dass Lord Justice Scruttons Behauptung, sie seien in den meisten Romanen vorhanden, eine Übertreibung darstellt.63 Ein terminus a quo lässt sich für das Aufkommen von Disclaimern kaum angeben, es ist jedoch denkbar, dass sie auf frühere juristische Auseinandersetzungen zurückgehen, die fiktionale Texte betrafen. So wurde etwa bereits 1910 in einem Fall,
60 Vgl. dagegen Aquino (2005): Truth and Lives on Film, S. 20. 61 Vgl. Rasputin and the Empress (1932). Regie: Boleslawski. 62 Vgl. etwa: »NOTE // All the characters in this novel are imaginary. // Lorna Moon«; Moon (1929): Dark Star, sowie: »All the characters in this book are purely imaginary, and if the author in any instance has used names that may suggest a reference to living persons, she has done so inadvertently. / A motor ambulance unit of British women drivers did very fine service upon the Allied front in France during the later months of the war, but although the unit mentioned in this book, of which Stephen Gordon becomes a member, operates in much the same area, it has never had any existence save in the author’s imagination«; Hall (1930): The Well of Loneliness. Die britische Originalausgabe bei Jonathan Cape war in diesem Fall nicht einzusehen, was sicherlich auch auf das erfolgreiche Verbotsverfahren gegen das Buch zurückzuführen ist. Es ist jedoch davon auszugehen, dass auch diese bereits einen Disclaimer beinhaltete. Das Verbotsverfahren bezog sich freilich nicht auf Verletzung von Persönlichkeitsrechten oder Ähnliches, sondern auf die im Text dargestellte lesbische Beziehung: Das war für manche britische Zeitgenossen auch – oder gerade – in der Fiktion verfolgungswürdig. 63 Systematisch lässt sich dies kaum überprüfen – insbesondere weil die Romanproduktion des frühen 20. Jahrhunderts in größerem Umfang kaum in Erstausgaben zugänglich ist. Die Suche in digitalisierten Quellen stößt in diesem Zeitraum an die Grenze des Urheberrechts.
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Jones v. Hulton & Co.,64 dem Kläger eine Entschädigung zugesprochen, der sich in einer Erzählung identifizierbar glaubte, die in einer Zeitschrift erschienen war. Dieser Fall ist insofern besonders interessant, weil es hierbei zentral um die Namensidentität zwischen Kläger und Figur in der Erzählung geht: Ein gewisser Artemus Jones hatte aufgrund einer Figur in der Erzählung geklagt, die den gleichen Namen trägt und von der berichtet wird, dass sie in der französischen Stadt Dieppe mit einer Frau gesehen wurde, die nicht die Ehefrau ist – weitere Übereinstimmungen zwischen den ›beiden‹ Jones lassen sich nicht feststellen (der Kläger ist noch nicht einmal verheiratet). Und dennoch sprach der Court of Appeal dem Kläger eine Entschädigung zu, denn es sei weiterhin möglich, dass »a substantial number of readers« ihn dennoch mit dem in der Erzählung geschilderten Jones identifiziere. Während die Entscheidung bizarr anmutet und durchaus als umstritten gelten kann,65 so ist sie doch aufgrund der Klarheit, mit der sie Grundsätze für die Entscheidung in ähnlichen Fällen aufstellt, bemerkenswert: Während die Beklagten nämlich in diesem Fall weitgehend überzeugend darlegen konnten, dass sie keine Intention hatten, den Kläger zu beschreiben, ja diesen nicht einmal kannten und die Namensidentität tatsächlich zufällig war, so hielt das Gericht dennoch daran fest, dass die Intention von Autoren und Verlegern nicht der ausschlaggebende Punkt sei, sondern vielmehr, wie ein Leser oder eine Leserin den Text verstehen könnte.66 Ein »objective reasonable reader test«67 soll also entscheiden und nicht die Erklärung von Intention seitens der Beklagten. In den USA ist Ähnliches in einem weiteren Fall festgehalten worden und auch deutsche Gerichte berufen sich immer wieder auf den Leser als Entscheidungsinstanz.68 Insofern ist auch der Disclaimer als Intentionserklärung ungenügend, um rechtliche Verantwortung abzustreifen – er ermöglicht es nicht, unter seinem ›Schutz‹ etwas zu verbreiten, um dann darauf zu verweisen, dass Fiktion vorliege und Verantwortung daher nicht übernommen werden könne. Dies stimmt zudem mit Teilen der literaturwissenschaftlichen Forschung überein, da auch hier die Autorintention als Kriterium für Fiktion immer wieder problematisiert wurde. Wofür der Disclaimer also allenfalls ›brauchbar‹ sein könnte, ist, dem Leser Hinweise zu geben, wie er mit dem Text umgehen soll – aber auch dies ist eben, wie bei allen peritextuellen Hinweisen, problematisch. In Fällen wie Jones v. Hulton könnte man von einer möglichen Schutzwirkung ausgehen, da es hierbei schlicht um die Namensidentität geht und keine weiteren Identifizierungsmerkmale vorliegen – ein
64 Vgl. Hulton & Co. v. Jones (1910). 65 Vgl. Lloyd (1952): »Reform of the Law of Libel«, S. 181–183. 66 »A person charged with libel cannot defend himself by showing that he intended in his own breast not to defame […]. The real point […] is: Ought or ought not sensible and reasonable people reading this article to think that it was a mere imaginary person […]«; Hulton & Co. v. Jones (1910), S. 832. 67 Warner-Fredman (1983): »Defamation in Fiction«, S. 103. 68 Vgl. für den amerikanischen Raum: Warner-Fredman (1983): »Defamation in Fiction«, S. 103. Für vergleichbare Einschätzungen in deutschen Rechtsfällen siehe unten, S. 211 u. S. 215.
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Disclaimer kann möglicherweise als zusätzliches Moment genutzt werden, um einen »objective reasonable reader test« positiv zu beeinflussen: Wenn ein ›verständiger Leser‹ den Disclaimer einbezieht, so hätte er einen weiteren Grund, von der Nicht identität zwischen fiktiver Figur und realer Person auszugehen. Fälle wie Jones v. Hulton mögen daher als grobe Eingrenzung eines terminus a quo gelten, wenn sich dieser auch nicht genauer bestimmen lässt, eben weil es im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts vermehrt Rechtsfälle um fiktionale Darstellungen gegeben hat, die vermutlich die Suche nach ›Schutzmechanismen‹ befeuert haben.69 Dabei hat sich der Disclaimer allerdings keinesfalls als wirksamer Schutz erwiesen. Spätestens mit einem Urteil aus dem Jahr 1948 wird dies deutlich. In dem Fall ging es um den Spielfilm They Were Expendable, der 1945 erschienen war und der den Einsatz eines Schnellbootgeschwaders im Zweiten Weltkrieg zeigt. Der Film basiert – darauf wird im filmischen Peritext hingewiesen – auf dem gleichnamigen, 1942 erschienenen Buch von William L. White, in dessen Vorwort der spätere Kläger Robert B. Kelly namentlich erwähnt wird.70 Im Film ist eine Figur namens ›Rusty Ryan‹ mit ihm zu identifizieren – dies stellte das Gericht fest, das auf das Buch explizit hinweist. Kelly hatte gegen die Produktionsfirma geklagt, da er sich in ›Rusty Ryan‹ in einer Weise dargestellt fühlte, »that […] held him up to ridicule because it showed him engaging in conduct unbecoming an officer and gentleman«71. Die Einzelheiten der Urteilsfindung müssen hier nicht interessieren, zentral ist ausschließlich die Einschätzung zum Disclaimer, der dem Film nachgestellt ist: »The events, characters and firms depicted in this photoplay are fictitious. Any similarity to actual persons, living or dead, or to actual firms is purely coincidental.«72 In der Urteilsbegründung, die dem Kläger eine Entschädigung zubilligt, wird diese Beteuerung als »customary legend«73 bezeichnet (ein Beleg dafür, dass diese Art von Disclaimern in den 1940er Jahren bereits weit verbreitet war) – und die Fiktivitätsbeteuerung wird ausdrücklich als nichtig bezeichnet, da sie unaufrichtig, gleichsam ironisch oder ›augenzwinkernd‹ gemeint sei und somit auch vom Publikum nicht ernst genommen werde: The disingenuous legend that the persons and events shown in the picture were fictitious and that any similarity to actual persons living or dead was purely coincidental would not have been treated by the average person or naval officer as any more than a tongue-in-the-cheek disclaimer in view of the express reference by the movie to Mr. White’s book […] and in view of the unmistakable portrayal of […] historic personages, including […] plaintiff.74
69 Vgl. Seiler (1983): Die leidigen Tatsachen, S. 232–238. Vgl. für eine parallele Entwicklung in Frankreich Lavocat (2013): »Procès de la fiction«, S. 44. 70 Vgl. White (1943): They Were Expendable. 71 Kelly v. Lowe’s Inc. (1948), S. 475. 72 They Were Expendable (1945). Regie: Ford. 73 Kelly v. Lowe’s Inc. (1948), S. 480. 74 Kelly v. Lowe’s Inc. (1948), S. 485.
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Es liegt also bereits 1948 ein Urteil vor, das die juristische Wirkung eines Disclaimers explizit negiert, und in der Tat lässt sich feststellen, dass eine gegenteilige Rechtsauffassung an keiner Stelle formuliert wurde: »The standard disclaimer […] has never been sanctioned in any reported decision as a successful technique to avoid liability.«75 An dieser Stelle ist auch die Einschätzung insbesondere der französischsprachigen Theorie zu revidieren, die dem Disclaimer zumindest in den USA eine tatsächliche Schutzwirkung beimisst. So etwa bei Françoise Lavocat, die behauptet: »Il est vrai qu’aux Etats-Unis, la protection que constitue le disclaimer, avec le concours du premier amendement, est d’une grande efficacité […].«76 Diese Einschätzung bestätigt sich vor dem Hintergrund der angeführten Gerichtsurteile nicht. Welche Folgen hat jedoch diese rechtliche Situation? Und warum findet sich der Disclaimer bis heute in Filmen und Romanen, obwohl seine juristische Wirkung als gering bis nicht vorhanden eingeschätzt werden muss?77 Dass der Disclaimer bereits 1948 als wirkungslos eingestuft wurde, hat vermutlich auch mit seiner Verbreitung zu tun, die zudem in vielen Fällen mit einer offensichtlichen Diskrepanz zwischen Disclaimer und dem im Film oder Roman Dargestellten verbunden ist. Bereits 1940 macht sich ein Musical über den Disclaimer lustig,78 ebenso wie Chaplins The Great Dictator im selben Jahr,79 und der Richter im Fall Kelly v. Lowe’s spricht von einer »customary legend«. Der Disclaimer ist also verbreitet und zugleich Gegenstand des Spottes, denn es erscheinen unzählige Filme, in denen er offensichtlich unangebracht erscheint: »films that were blatantly based on actual people and events carried the blanket disclaimer that the characters were fictitious«80. Einschränkend muss allerdings hinzugefügt werden, dass in allen Fällen, in denen eine Klage gegen eine mediale Darstellung – trotz Disclaimer – erfolgreich war, diese auf weiteren Indizien gründete. Im Falle der bloßen Namensidentität, wie dem oben zitierten Hulton & Co. v. Jones hätte eine Disclaimer möglicherweise Erfolg haben
75 Warner-Fredman (1983): »Defamation in Fiction«, S. 116. 76 Lavocat (2013): »Procès de la fiction«, S. 42. Lavocat bezieht sich dabei auf die Darstellung bei Aquino. In der Tat stellt Aquino den Fall Kelly v. Loew’s Inc. als einen der wenigen Ausnahmefälle dar, bei denen eine Klage gegen einen Film Erfolg hatte. Die vielen erfolglosen Klagen, die Aquino beschreibt, hatten jedoch nicht deswegen keinen Erfolg, weil ein Disclaimer eine positive Schutzwirkung entfaltet hätte, sondern aus anderen Gründen (weil sich die Filme beispielsweise auf Personen des öffentlichen Lebens beziehen); vgl. Aquino (2005): Truth and Lives on Film, S. 41 f. 77 Ein Disclaimer kann natürlich indirekt Wirkung entfalten, wenn etwa ein möglicher Prozess gar nicht erst angestrengt wird, weil die potentiellen Kläger von einer solchen Wirkung ausgehen – dies lässt sich jedoch schlicht nicht überprüfen. 78 Vgl. Aquino (2005): Truth and Lives on Film, S. 26. 79 »Note / Any resemblance between Hynkel the dictator and the jewish barber is purely co-incidental«; The Great Dictator (1940). Regie: Chaplin. Beide Figuren werden jedoch bekanntermaßen vom selben Schauspieler, Chaplin, gespielt – Ähnlichkeiten sind also sicherlich nicht zufällig. 80 Aquino (2005): Truth and Lives on Film, S. 26. Vgl. auch: Davis (1986): »›Any Resemblance to Persons Living or Dead‹«, S. 458.
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önnen. Weinstein kommt deshalb zu einer dem Disclaimer etwas günstigeren Eink schätzung, die die spätere Rechtsprechung einbezieht. Disclaimer haben eine mögliche Schutzwirkung, solange nicht andere Indizien für eine bewusste und intendierte Diffamierung des Klägers vorliegen – liegen diese allerdings vor, so ist der Disclaimer hinfällig: Thus, name similarity alone is not sufficient to hold a producer or writer liable for defamation in the absence of other identification factors. In this type of situation, a disclaimer which indicates that the names have been fictionalized has been legally recognized to protect the writer or producer from liability due to such similarities. Major similarities, however, between the acts of the character and those of the complainant may defeat the disclaimer by demonstrating that the writer was merely hiding an intentional libel […].81
In Fällen der Namensidentität mögen Disclaimer also helfen, in anderen Fällen sehr wahrscheinlich eher nicht. Sie bilden dennoch einen möglichen Baustein einer Ver teidigung und werden vermutlich allein deshalb bis heute von Handbüchern für Autoren und Verleger empfohlen.82 Sie sind ein Moment in den Überlegungen, die zu einem Urteil führen können – aber nicht mehr, so die Bewertung einer einflussreichen Gesetzeszusammenfassung: If the work is reasonably understood as portraying an actual person, it is not decisive that the author or playwright did not so intend […]. The fact that the author or producer states that his work is exclusively one of fiction and in no sense applicable to living persons is not decisive if readers actually and reasonably understood otherwise. Such a statement, however, is a factor to be considered by the jury in determining whether readers did so understand it, or, if so, whether the understanding was reasonable.83
Disclaimer dienen im besten Falle dazu, eine ohnehin schwache Anklage noch zu untergraben: »the disclaimer’s value is merely in countering weak spots in the plaintiff’s case«84. Mitnichten lässt sich also Caïras These von der Fiktion als »zone de nondroit«85 aufrechterhalten, ebenso wenig wie seine pauschale Einschätzung der Wirkung des Disclaimers: »Face à l’avertissement ›Toute ressemblance …‹, les personnages réelles dépeintes dans les films et leurs proches se trouvent totalement démunis.«86
81 Vgl. Weinstein (1990): »The Legal Effect of Disclaimers«, S. 80. 82 Wobei auch hier inzwischen in aller Regel eine ›realistische‹ Einschätzung der Schutzwirkung des Disclaimers zu finden ist: »If the work is fictional, it is advisable to include a disclaimer stating that the work is fictional and not based on any real people or events. While a disclaimer will not prevent a lawsuit (or even ensure that you will win one), it may provide some ammunition to help you defend a lawsuit«; Jassin/Schechter (1998): The Copyright Permission and Libel Handbook, S. 127 f. 83 The American Law Institute (1977): Restatement of the Law, Second. Torts 2d., S. 164 (§ 564 d). 84 Weinstein (1990): »The Legal Effect of Disclaimers«, S. 91. 85 Caïra (2011): Définir la fiction, S. 153. 86 Caïra (2011): Définir la fiction, S. 153.
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Was die Gerichte in den USA und Großbritannien stattdessen immer wieder betont haben, ist die Wirkungslosigkeit von Disclaimern, wenn sie den Verdacht erwecken, bloße ›Etiketten‹ zu sein, hinter denen ein manifester Wirklichkeitsbezug ›versteckt‹ werden soll. Deutsche Gerichte haben im ›Fall Esra‹ ganz ähnlich entschieden. Die Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), das die Beschwerde gegen die untersagte Verbreitung des Romans abwies, soll hier in Auszügen rekapituliert werden, gerade weil sich der Roman Esra bereits in der ersten Auflage eines Disclaimers bediente und diesen in der zweiten Auflage noch einmal revidierte – beide Fassungen jedoch konnten den Ausgang des Verfahrens für Verlag und Autor nicht positiv beeinflussen. Die Entscheidung des BVerfG geht darüber hinaus in weiten Teilen auf den Beschluss in der Auseinandersetzung um Klaus Manns Roman Mephisto zurück, der ebenfalls über ›eine Art‹ Disclaimer verfügte. Zunächst zu Mephisto. Das BVerfG wies 1971 die Beschwerde des Verlags gegen das Verbreitungsverbot des Romans, das von Gründgens’ Erben erwirkt worden war, zurück – wenn auch in einer äußerst knappen Entscheidung. Ausschlaggebend dafür war, wie auch in den US-amerikanischen und britischen Urteilen zuvor, dass ein »nicht unbedeutende[r] Leserkreis«87 hinter der Figur Hendrik Höfgen den Schauspieler Gustaf Gründgens erkennen könne. Mann hatte bereits in der Exil-Zeitung Pariser Tageszeitung, die Mephisto 1936 als Fortsetzungsroman abdruckte und ihn zunächst offensiv als »Schlüsselroman«88 beworben hatte (und den Schlüssel ›mitgeliefert‹ hatte)89, eine Stellungnahme abdrucken lassen: Klaus Mann, der Verfasser unseres neuen Romans »Mephisto«, bittet uns um den Abdruck des folgenden Telegramms: / »Mein Roman ist kein Schlüsselroman. Held des Romans erfundene Figur ohne Zusammenhang mit bestimmter Person. / KLAUS MANN.« / Dem Dichter lag nicht daran, die Geschichte eines bestimmten Menschen zu erzählen, ihm lag daran, einen Typus darzustellen […].90
Die Ausgabe in der Nymphenburger Verlagshandlung, die Gegenstand der juristischen Auseinandersetzung wurde, beinhaltet den schlichten Vorsatz: »Alle Personen dieses Buches stellen Typen dar, nicht Porträts. K. M.«91 Und schließlich wurde nach einer einstweiligen Verfügung gegen diese Neuauflage folgende Erklärung des Verlegers eingefügt: AN DEN LESER // Der Verfasser Klaus Mann ist 1933 freiwillig aus Gesinnung emigriert und hat 1936 diesen Roman in Amsterdam geschrieben. Aus seiner damaligen Sicht und seinem Haß
87 BVerfGE 30 (1971), S. 180. 88 Mann (1936): »Mephisto. Roman einer Karriere«, Nr. 8, 19. Juni 1936, S. 1. 89 »Im Mittelpunkt steht die Figur eines Intendanten und braunen Staatsrates, der die Züge Gustaf Gründgens trägt«; Mann (1936): »Mephisto. Roman einer Karriere«, Nr. 8, 19. Juni 1936, S. 1. 90 Mann (1936): »Mephisto. Roman einer Karriere«, Nr. 12, 23. Juni 1936, S. 1. 91 Mann (1965): Mephisto. Roman einer Karriere.
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gegen die Hitlerdiktatur hat er ein zeitkritisches Bild der Theatergeschichte in Romanform geschaffen. Wenn auch Anlehnungen an Personen der damaligen Zeit nicht zu verkennen sind, so hat er den Romanfiguren doch erst durch seine dichterische Phantasie Gestalt gegeben. Dies gilt insbesondere für die Hauptfigur. Handlungen und Gesinnungen, die dieser Person im Roman zugeschrieben werden, entsprechen jedenfalls weitgehend der Phantasie des Verfassers. Er hat daher seinem Werk die Erklärung beigefügt: ›Alle Personen dieses Buches stellen Typen dar, nicht Porträts.‹ // Der Verleger92
Der modifizierte Paratext ist einerseits sicherlich näher an der Wahrheit – zugleich aber ist er problematisch, denn er stellt noch mehr als die ursprüngliche Verneinung, Porträts gezeichnet zu haben, heraus, dass es ›Anlehnungen‹ an die Realität, Ähnlichkeiten zu realen Personen gibt. Von den Gerichten wurde auch diese, ausführlichere Formulierung daher als nicht geeignet angesehen, von einer identifizierenden Lesart abzuhalten – im Gegenteil: Das Vorwort fordere erst recht auf, nach einem Vorbild zu suchen.93 Eine ähnliche Einschätzung, die diese Gefahr für Disclaimer allgemein feststellt, findet sich bereits früh bei Phelps und Hamilton: »Such a note may have just the opposite effect, inducing the public to look for the identification of an actual person«94. In den verschiedenen Vorworten zu Mephisto lässt sich, auch wenn diese keine Disclaimer im engeren Sinne darstellen, eine Entwicklung festmachen, die auch anderweitig beobachtbar ist. Während bei ›verdächtigen‹ Werken ein Standard-Disclaimer mitunter paradox, ja komisch wirken kann, wenn Ähnlichkeiten so offensichtlich sind, dass sie kaum ›zufällig‹ sein dürften, so ist ein modifizierter Disclaimer zwar möglicherweise näher an den tatsächlichen Verhältnissen, seine Wirkung bleibt jedoch ambivalent, denn wenn einerseits eingestanden wird, dass Ähnlichkeiten zu realen Personen und Gegebenheiten bestehen, andererseits aber auf die fiktionale Gestaltung (bei Mann: »dichterische Phantasie«) verwiesen wird, so muss unklar bleiben,
92 Zit. nach: BVerfGE 30 (1971), S. 177. 93 Vgl. BVerfGE 30 (1971), S. 172. Lediglich die Meinung des Verfassungsrichters Stein weicht hiervon ab: »Auch werden durch das Vorwort mögliche nachteilige Wirkungen für die Personenwürde von Gustaf Gründgens so weitgehend verringert, daß demgegenüber der Erlaß des Verbreitungsverbots den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt. […] Dieses Vorwort ist geeignet, auf die objektivierende Wirkung, die von der künstlerischen Darstellung im Roman ausgeht, aufmerksam zu machen und sie zu unterstreichen. Es gibt in knapper, aber eindrucksvoller Formulierung dem Anliegen des Autors […] Ausdruck. […] Die Veröffentlichung des Romans von einer umfassenden Aufklärung auch derjenigen Leserschicht abhängig zu machen, die trotz eines solchen Vorspruchs nicht bereit oder fähig ist, die vorhandene kunstspezifische Eigenständigkeit des Romans anzuerkennen, würde die Verfassungsgarantie des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG in unzulässiger Weise einschränken«; BVerfGE 30 (1971), S. 217 f. Auch hier begegnet also erneut eine Einteilung in ›Leserschichten‹, von denen eine – vermutlich die ›vulgären‹ Leser – einen Roman nicht als ›reine Fiktion‹ zu lesen vermag, auf die aber das Gericht keine Rücksicht zu nehmen habe. 94 Phelps/Hamilton (1966): Libel. Rights, Risks, Responsibilities, S. 339.
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welche Bereiche diese Umgestaltung betrifft. Eine »Verfremdung«95 mag stattgefunden haben, jedoch ist durch die offene Nennung von Ähnlichkeiten der Verdacht im Raum – und er lässt sich nicht mehr aus der Diskussion entfernen. Die mögliche Identifizierung der Romanfigur mit dem realen Schauspieler ist durch die SchlüsselromanLesart nahegelegt und davon sind auch etwaige Details betroffen, die von der Realität abweichen. Die Dynamik des Schlüsselromans ist, einmal in Gang gesetzt, nur schwer wieder anzuhalten, und der »Faktualitätsverdacht«96 berührt alle Momente der Darstellung. Ein modifizierter Disclaimer kann dies nicht einschränken, denn letztlich hält er immer nur fest, dass manches über eine Entsprechung in der Realität verfüge – anderes nicht. Auch wenn manche dieser Disclaimer durchaus ernst gemeint sein dürften und auf eine mögliche juristische Schutzwirkung hin ausgelegt sind, so sagen sie letztlich nicht mehr aus, als der folgende, lakonische Satz: »This novel is fiction, except for the parts that aren’t.«97 Die Gerichte beriefen sich im Fall Mephisto auf eine fehlende »Verfremdung«98. Dies allerdings wirft weitere Fragen auf, denn es lassen sich zwei sehr unterschiedliche Verfahren darunter fassen, die, sofern sie nicht deutlich differenziert werden, zu paradox anmutenden Konstruktionen führen, wie sie auch die Richterin Rupp-v. Brünneck feststellt: Dies führt zu dem seltsamen und widersprüchlichen Ergebnis, daß dem Autor einerseits der Vorwurf gemacht wird, er habe zu wenig »verfremdet« – d. h. er habe seinen Romanhelden Gründgens zu ähnlich, also zu wirklichkeitsgetreu nachgebildet –, andererseits wird ihm vorgeworfen, er habe zu stark »verfremdet« – nämlich seinen Helden mit erdichteten negativen Verhaltensweisen und Charakterzügen ausgestattet, die dem Lebensbild von Gründgens nicht entsprächen.99
95 Durch die Rechtsprechung in den Fällen Mephisto und Esra ist dieser Begriff in der Tat »als Rechtsbegriff zu sehen, der sich von der literaturgeschichtlichen Besetzung dieses Ausdruck völlig entkoppelt hat«; Bunia (2007): »Fingierte Kunst«, S. 173 f. 96 Franzen (2014): »Indiskrete Fiktionen«, S. 81. 97 Crichton (2006): Next. A Novel. In der Taschenbuchausgabe des Textes (2007 ebenfalls bei Harper erschienen) ergibt sich eine interessante Spannung zwischen diesem auktorialen Disclaimer, der wie in der gebundenen Ausgabe auf einer dem Text vorangestellten Seite platziert ist, und einem editorialen Disclaimer auf der gegenüberliegenden Impressumsseite (ein solcher ist in der gebundenen Ausgabe nicht vorhanden). Während auf der rechten Seite zu lesen ist, dass manche Teile des Romans keine Fiktion seien, steht links, wie um dem direkt zu widersprechen: »This novel is entirely a work of fiction. The names, characters and incidents portrayed in it are the work of the author’s imagination. Any resemblance to actual persons, living or dead, events or localities is entirely coincidental«; meine Herv. 98 BVerfGE 30 (1971), S. 181 u. passim. 99 BVerfGE 30 (1971), S. 222.
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Dem liegen jedoch zwei widersprechende Deutungen des Begriffs »Verfremdung« zu Grunde. Während im ersten Fall gemeint ist, »dass die Darstellung einer Figur nicht zu deren Identifikation in der realen Welt führen kann«100, so sind im zweiten Fall ›Abweichungen‹ von der Realität gemeint, die jedoch eine solche, einmal erfolgte Identifikation nicht – oder jedenfalls nur schwer – unterlaufen können. Ob eine Person hinter einer Figur erkennbar ist, muss, weil Erfindung sich nur schwer prüfen lässt, vom Wissen des einzelnen Rezipienten abhängig bleiben. Einzelne erfundene oder ›verfremdete‹ Momente könnten dann ebenfalls der einmal als ›Vorbild‹ identifizierten Figur zugeschrieben werden. Ganz ähnlich ist der Fall Esra gelagert, und auch die betreffende Rechtsprechung orientiert sich am Mephisto-Urteil. Das Buch enthielt in der ersten Auflage am Ende des Textes auf der Impressumsseite den folgenden Disclaimer: Sämtliche Figuren und Handlungen dieses Romans sind frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit Lebenden und Verstorbenen sind deshalb rein zufällig und nicht beabsichtigt.101
Während der erste Satz ohne weitere Recherche nicht nachprüfbar ist, eben weil sich Erfundenheit nur durch einen Abgleich mit Wissen um die Realität be- oder widerlegen lässt, so ist der zweite Satz als kausale Folgerung aus dem ersten formuliert. Wenn jedoch – und darauf deuten die Gerichtsurteile recht eindeutig hin – die Figuren eben nicht frei erfunden sind, dann wird damit auch der zweite Satz mit seiner Versicherung, Ähnlichkeiten seien nicht beabsichtigt, verdächtig. Der Disclaimer ist letztlich die »begründungslose Erklärung«102, dass Ähnlichkeiten unbeabsichtigt seien – einmal im Verdacht, nicht den Tatsachen zu entsprechen, erweist er sich jedoch sogar als kontraproduktiv. Die zweite Auflage trägt diesem Problem Rechnung, indem sie einen modifizierten Disclaimer voranstellt: Die fiktiven Figuren dieses Romans sind angeregt durch reale Personen, aber nicht mit ihnen identisch. Die Handlung dieses Romans ist nicht die dokumentarische Darstellung tatsächlicher Vorgänge. Darum erhebt dieser Roman keinesfalls den Anspruch, die geschilderten Vorgänge könnten wahr sein oder sich so zugetragen haben.103
Die Figuren werden nun nicht mehr als »frei erfunden« bezeichnet, sondern als »fiktive Figuren«, die angeregt seien durch reale Personen. Dies ist durchaus mit der Fiktionstheorie vereinbar und scheint die Hintergründe des Textes adäquat wiederzugeben. In der zweiten Auflage sind zudem einige Abschnitte des Textes gestrichen (›geweißt‹), die eine Identifikation der Figuren mit den beiden Klägerinnen möglich machen –
100 Bunia (2007): »Fingierte Kunst«, S. 174. 101 Biller (2003a): Esra. 102 Bunia (2007): »Fingierte Kunst«, S. 168. 103 Biller (2003b): Esra.
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j edoch geht das Gericht auch bei dieser und einer späteren, erneut geänderten Fassung davon aus, dass eine »genügende Verfremdung«104 nicht gegeben sei. Weil die ›Vor lagen‹ zu den fiktiven Figuren weiterhin erkennbar seien, sei auch der Disclaimer hinfällig, denn: »Derjenige, der die Klägerinnen aufgrund der dargestellten Umstände erkannt hat, wird aufgrund dieser Hinweise nicht anderen Sinnes werden«105. Dies ist vom BVerfG explizit bestätigt worden: Allerdings ist es nicht zu beanstanden, dass der Bundesgerichtshof einen »disclaimer« am Anfang oder Ende des Buchs, wonach Übereinstimmungen mit realen Personen rein zufällig und nicht gewollt seien, nicht für die Annahme eines fiktiven Textes ausreichen lässt. Diese muss vielmehr auch aus dem Text selbst heraus beurteilt werden.106
Der BGH hatte überdies darauf hingewiesen, dass der Disclaimer mit weiteren paratextuellen Informationen konfligiere, da etwa das Leben des Erzählers Adam deutliche Ähnlichkeiten mit dem im Klappentext geschilderten Leben des Autors aufweise.107 Die Erklärung des BVerfG ist terminologisch etwas verworren (schon die Rede von »fiktiven« Texten ist problematisch). Auch geht sie am Kern der Argumentation vorbei: Selbst wenn man annimmt, dass es sich um einen fiktionalen Text handelt, ist es nicht ausgeschlossen, dass dargestellte Figuren mit realen Personen identifiziert und daher letztere in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt werden können. Das »Korrealitätsprinzip« ist als Erklärung dafür vorgeschlagen worden.108 Demnach bietet sich auch bei fiktionalen Texten grundsätzlich immer die Möglichkeit an, die Darstellung an der Realität zu ›testen‹ – weil aber eben dies gerade bei privaten Bereichen nicht leicht möglich ist, besteht die Gefahr, dass »von Ähnlichkeit auf Gleichheit geschlossen wird«109. In der Sache ist das Urteil des BVerfG also durchaus mit neueren fiktions theoretischen Überlegungen vereinbar.110 Auch die Abweisung des Disclaimers und das Insistieren darauf, dass Übereinstimmungen mit realen Personen nicht einfach durch den Verweis auf einen fiktiven (lies: fiktionalen) Text zu ›erledigen‹ seien, deckt sich mit den hier vorgestellten Überlegungen.
104 BGH VI ZR 122/04 (2005), S. 3. 105 BGH VI ZR 122/04 (2005), S. 11. 106 BVerfGE 119 (2007), S. 31. 107 Vgl. BGH VI ZR 122/04 (2005), S. 15. 108 Vgl. Bunia (2007): »Fingierte Kunst«, S. 170–173. Bunia beschreibt dieses Prinzip als ›Gegenstück‹ zum Realitätsprinzip: »Das Korrealitätsprinzip besagt: da faktuale und fiktionale Beschreibungen sich in sich und aus sich nicht unterscheiden, kann eine fiktionale Beschreibung immer darauf getestet werden, ob sie sich nicht als faktuale Beschreibung […] einsetzen ließe. Es ruht darauf, daß die Sprache nicht von sich aus unterscheiden kann, auf welche Welt sie sich bezieht«; Bunia (2007): Faltungen, S. 155. 109 Bunia (2007): »Fingierte Kunst«, S. 173. 110 Vgl. zum Mephisto-Urteil auch schon: Seiler (1983): Die leidigen Tatsachen, S. 244–250.
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Das Urteil im Esra-Prozess, ebenso wie das im Mephisto-Prozess, wurde mitunter heftig kritisiert und darf weiterhin als umstritten gelten.111 Dabei sind immer wieder auch fiktionstheoretische Überlegungen in die Argumentation der Gegner der Entscheidung eingeflossen.112 So schreibt etwa Busch: Eine Betroffenheit des Persönlichkeitsrechts kann es nur geben, wenn bei objektiver festgestellter Erkennbarkeit bzw. Ähnlichkeit ein Roman zugleich einen Anspruch auf wirklichkeitsgetreue Darstellung erhebt. […] Ergibt die Prüfung hingegen, dass ein Anspruch auf wirklichkeitsgetreue Darstellung zu verneinen ist, behauptet der Autor durch die Darstellung also nicht, das Geschilderte entspräche der Realität und wird dieses zumindest durch einen nicht unerheblichen Teil der Konsumenten auch richtig erkannt, kann es keine Betroffenheit irgendjemandes Persönlichkeitsrechts geben.113
Wie jedoch dieser »Anspruch« festgestellt, beziehungsweise, wie durch eine Darstellung ein solcher »behauptet« werden soll, bleibt unklar. Letztlich ist es »die Intention des Autors«114, die als Kriterium dienen muss – und wie sie beispielsweise im Vorwort formuliert wird. Bei Romanen sei jedoch zunächst »per se«115 davon auszugehen, dass ein solcher Anspruch nicht besteht. Dies überzeugt auch im Lichte der Fiktionstheorie nicht, die einerseits davon ausgeht, dass die Autorintention als Kriterium für Fiktion nicht ausschlaggebend sein kann, und andererseits immer wieder betont, dass auch Romane und andere fiktionale Artefakte selbstverständlich den ›Anspruch‹ haben können, Wirklichkeit darzustellen. Der Verweis auf Paratexte als mögliche Entscheidungshilfen zielt ebenfalls ins Leere, wenn er dezidiert an Intention gekoppelt ist: Nicht nur ist die Autorintention für Fiktion letztlich irrelevant, sie lässt sich eben auch nicht in einseitigen Erklärungen wie etwa Disclaimern festmachen.116
111 Eine der umsichtigsten Kritiken findet sich bei Becker, der auch die Prozessgeschichte ausführlich schildert. Paratextuelle Signale werden von Becker als »Primärsignale« bezeichnet, die »dem Leser zu verstehen geben, ob er den Text als Sachtext oder als Fiktion zu behandeln hat«; Becker (2006): Fiktion und Wirklichkeit im Roman, S. 87. Becker erwähnt in diesem Kontext auch den Disclaimer – allerdings ohne auf seine genaue Ausgestaltung einzugehen. 112 Für den französischsprachigen Bereich lässt sich Ähnliches beobachten. So empfiehlt etwa Lavocat französischen Richtern, sich mit der Theorie der möglichen Welten zu beschäftigen; vgl. Lavocat (2013): »Procès de la fiction«, S. 51. Diese kann jedoch kaum so verstanden werden, dass fiktive Welten keinerlei Bezug zur tatsächlichen Welt haben können. 113 Busch (2004): »Romanverbote«, S. 209. 114 Busch (2004): »Romanverbote«, S. 209. 115 Busch (2004): »Romanverbote«, S. 209. 116 Es geht an dieser Stelle nicht darum, die Urteile einzuschätzen, sondern lediglich darum, ob sie fiktionstheoretischen Überlegungen widersprechen oder nicht. Davon ist der Ausgang der Prozesse selbstverständlich nicht eindeutig bestimmt. Die Gerichte gingen in den genannten Fällen davon aus, dass eine Persönlichkeitsrechtsverletzung durch fiktionale Texte prinzipiell möglich ist (dem ist zuzustimmen) und dass in der Folge eine Abwägung der jeweiligen Grundrechte (Schutz der Persönlichkeit und Kunstfreiheit) getroffen werden muss. Wie diese Abwägung allerdings ausfällt, ist weitgehend
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Dies scheitert insbesondere an der paratextuellen Form von Disclaimern, die den bereits beschriebenen Ambivalenzen des Paratexts unterliegt. Denn eben weil Intention sich nicht belegen lässt, kann eine Betonung von Intention immer auch das Gegenteil heraufbeschwören. Die hier vorgestellten Gerichtsurteile belegen in eindrücklicher Weise, dass Disclaimer jedenfalls nicht in der Lage sind, in einer einseitigen Erklärung die grundsätzlich immer mögliche Übertragung von Fiktion auf Realität zu untersagen. In der Form von Disclaimern ist die inhärente Ambivalenz der Intentionserklärung sogar in der Standardform auf eine bemerkenswerte Weise angelegt. Denn diese behauptet ja nicht, dass keine Ähnlichkeiten zwischen der Darstellung und der Realität vorhanden seien, sondern dass diese Ähnlichkeiten zufällig seien – und also, so ließe sich ergänzen, durchaus vorhanden. »Poser le caractère fortuit des ressemblances avec le réel, c’est présupposer que ces ressemblances existent.«117 Dies hat auch Genette bereits festgehalten.118 Mit dem Disclaimer ist also immer schon ein latenter Verdacht verbunden, dass ›Ähnlichkeiten‹ bestehen. Die Negation konkreter Ähnlichkeiten kann ebenfalls diese doppelte, negative und positive, Bezugnahme entfalten – auf spielerische Weise etwa im Disclaimer zu Stephen Kings The Shining: Some of the most beautiful resort hotels in the world are located in Colorado, but the hotel in these pages is based on none of them. The Overlook and the people associated with it exist wholly within the author’s imagination.119
Wer könnte nach diesem Disclaimer noch denken, dass kein Hotel in Colorado zumindest latent Vorbild gestanden hätte? In dem Maße, wie Ähnlichkeiten abgelehnt werden, werden sie beschworen. Es ist eben diese ›Zweischneidigkeit‹ des Disclaimers, die ihn schon früh zum Spielfeld werden lässt. Das Changieren zwischen Ablehnung von Ähnlichkeiten und deren Suggestion lässt Disclaimer gerade in Werken, die (in welcher Form auch immer) die Grenzen von Fiktion und Nicht-Fiktion auszuloten versuchen, produktiv werden. Die vergleichsweise schwache rechtliche Relevanz ließe sich zudem als Argument dafür anführen, warum Disclaimer bereits früh zum Spiel gleichsam freigegeben waren und warum sich daher in der Tat wohl mindestens ebenso viele Disclaimer finden lassen, die in der einen oder anderen Form von der Standardklausel abweichen, wie solche, die ihr folgen.120
unabhängig von den hier angestellten Überlegungen, und dass sie auch anders hätte ausfallen können, ist jedenfalls nicht ausgeschlossen; vgl. etwa bereits die Abweichende Meinung der Richterin Rupp-v. Brünneck im Mephisto-Urteil; BVerfGE 30 (1971), S. 225–227. 117 Magné (2001): »Toute ressemblance …«. 118 Vgl. Genette (1987): Seuils, S. 202. 119 King (1977): The Shining. 120 Vgl. Mack (1995): »Thou Art Not He or She. Author’ Disclaimers and Attitudes to Fiction«.
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Die vielleicht einfachste Form der Abweichung ist die Umkehrung: Statt der Zufälligkeit der Ähnlichkeiten wird dann erklärt, sie seien gewollt – oder gar unvermeidlich; statt fiktiver oder erfundener Figuren soll es sich um reale Personen handeln. Auch dies aber ist einerseits in graduell sehr unterschiedlichem Maße zu beobachten und lässt sich andererseits funktional in diversen Kontexten einsetzen. Während bei Queneau in dem bereits zitierten Disclaimer (siehe S. 199) einfach beide Seiten der Standardformel verkehrt sind, also behauptet wird, es werden reale Personen dargestellt, die keine Ähnlichkeit zu fiktiven haben,121 so finden sich ebenso – und dies schon sehr früh – Disclaimer, die schlicht als Versicherung erscheinen, dass der Text und seine Figuren zumindest in Teilen auf der Realität basieren. So etwa bereits 1930 in Sackville-Wests The Edwardians: »No character in this book is wholly fictitious«122. Was hier als ›Realitätsversicherung‹ erscheint, lässt sich andernorts jedoch auch als ins Ästhetische gewendete Versicherung von ›Wahrheit‹ finden, die nicht mehr auf Realität oder ›Referenz‹ abzielt: »l’histoire est entièrement vraie, puisque je l’ai imaginé d’un bout à l’autre«123. Was Vian hier (in einem Text, den man kaum als realitätsnahe Darstellung bezeichnen kann) versichert, ist auf eine ganz andere Art ein in sein Gegenteil gewendeter Disclaimer: Eben weil die Geschichte erfunden ist, ist sie wahr. Während Standard-Disclaimer betonen, dass Erfindung vorliegt und damit Ähnlichkeiten zur Realität zufällig sind, zielt Vian offensichtlich darauf ab, dass gerade Er findung zu (ästhetischer) Wahrheit führt. Andere Disclaimer setzen sich wiederum mit dem Problem auseinander, dass Ähnlichkeiten zur Realität letztlich wohl unvermeidlich sind – aber auch dies wird sehr unterschiedlich gewertet und funktionalisiert. Bei Winckler scheint zunächst eine ganz ähnliche Betonung ästhetischer Phänomene vorzuliegen, wie sie bei Vian zu sehen ist, wenn er betont, dass die Verdichtung der Darstellung diese ›wahrer‹ wirken lasse als die Realität: Comme leurs noms l’indiquent, tous les personnages de ce roman sont fictifs. Si les événements décrits dans ces pages semblent plus vrais que nature, c’est parce qu’ils le sont: dans la réalité, tout est moins simple. Cela dit, même lorsqu’elles ne sont pas délibérées, les ressemblances avec des personnes ou des événements réels sont, probablement, inévitables.124
121 Ganz ähnlich Federman: »All the characters and places in this book are real, they are made of words, therefore any resemblance with anything written (published or unpublished) is purely coincidental«; Federman (1976): Take It or Leave It. 122 Sackville-West (1930): The Edwardians. Zu interpretieren wäre dies vermutlich in der Hinsicht, dass die Figuren in diesem Zeit- und Gesellschaftsportrait als charakteristische (und in diesem Sinne nicht ›völlig fiktive‹) Vertreter ihr Zeit und sozialen Stellung gelten dürfen. 123 Vian (1994[1947]): L’Écume des jours. 124 Winckler (1998): La Maladie de Sachs.
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Ähnlichkeiten zu Personen und Ereignissen seien jedoch letztlich unvermeidlich – umso mehr, als sich die Figuren in seinem Text durch ihre Namen gerade nicht als fiktive Figuren ausweisen, denn diese Namen sind in aller Regel diejenigen berühmter Schriftsteller.125 Unvermeidlich sollen auch die Ähnlichkeiten zwischen der fiktiven »ZEITUNG« in Bölls Die verlorene Ehre der Katharina Blum und der »BILD« sein: Personen und Handlungen dieser Erzählung sind frei erfunden. Sollten sich bei der Schilderung gewisser journalistischer Praktiken Ähnlichkeiten mit den Praktiken der ›Bild‹-Zeitung ergeben haben, so sind diese Ähnlichkeiten weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich.126
Hinter der ›Unvermeidlichkeit‹ steht jedoch selbstverständlich die abgestrittene (politische) Absicht. Oftmals nahezu unvermeidlich sind auch die Bezüge auf reale Orte. Zwar ist es fiktionstheoretisch kein Problem, das reale London von einem fiktiven abzugrenzen (und dennoch die Bezüge auf das reale anzuerkennen), Disclaimer wie der folgende machen dennoch stutzig: AUTHOR’S NOTE Some of the characters in this novel are entirely fictional, a good number of the events are fictional, and all the settings – especially Lockport, New York; Ann Arbor, Michigan; and Toronto, Ontario – are fictional. Any resemblance to reality is accidental and should be resisted.127
Gerade die Quantisierung ist bemerkenswert: Einige Charaktere seien fiktiv (so ist fictional hier wohl zu übersetzen), eine gute Zahl der Ereignisse auch – und alle Schauplätze. Dass dann jedoch ausschließlich Namen realer Orte folgen hat einen komischen Effekt. Ähnlichkeiten zur Realität seien zufällig, vor allem aber solle man ihnen (oder vielleicht besser: der Suche nach ihnen) widerstehen. So verschiebt sich die ›Beweislast‹ von der Produktions- auf die Rezeptionsinstanz. Ganz ähnlich findet sich dies auch in Wallace’ Infinite Jest, der diese Verschiebung noch mit einer gewissen Aggression vermengt, wenn er Ähnlichkeiten dem Zufall oder aber dem Leser des Disclaimers (»you«) zuschreibt: The characters and events in this book are fictitious. Any apparent similarity to real persons is not intended by the author and is either a coincidence or the product of your own troubled imagination. / Where the names of real places, corporations, institutions and public figures are projected onto made-up stuff, they are intended to denote only made-up stuff, not anything presently real.128
125 Vgl. Magné (2001): »Toute ressemblance …«. 126 Böll (1974): Die verlorene Ehre der Katharina Blum. 127 Oates (1971): Wonderland. 128 Wallace (1996): Infinite Jest.
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Auch dies ein Beispiel für die Überschreitung der paratextuellen Zuständigkeitsbereiche: Der Disclaimer ist auf der Impressumsseite zu finden neben den dort üblichen Angaben und dennoch wohl kaum dem Verlag zuzuschreiben. Die Beispiele machen deutlich, dass sich der Disclaimer gegenüber seinen Anfängen als rechtliches Dispositiv weitgehend verselbständigt hat. Es hat sich eine weniger durch externe, juristische Überlegungen geprägte als vielmehr durch innerliterarische Traditionen motivierte Praxis des Disclaimers entwickelt, die auf vielfältige Weise die Grenze zwischen Fakt und Fiktion umspielt. Dabei wird mitunter auch der Disclaimer selbst zum Bestandteil der Fiktion –129 und damit einmal mehr die Grenze zwischen Text und Paratext zur ambivalenten Übergangszone. Eines der vielleicht aufwendigsten (und längsten) Beispiele ist John Barths Giles Goat-Boy. Dem Text ist ein »Publisher’s Disclaimer« vorangestellt, ebenso wie die Voten von vier Verlagslektoren und ein »Cover-Letter to the Editors and Publisher« – letzterer aus der Feder des mit »J.B.« unterzeichnenden Autors. Darin schildert dieser, wie er an den folgenden Text gelangt sei, deren Autor er in Wahrheit nicht sei, sondern der ihm von einem g ewissen Giles Stoker (oder auch: Stoker Giles, es ist nicht klar, ob ein Komma die Reihenfolge der Namen umkehrt oder nicht) zugespielt worden sei. Dieser allerdings ist womöglich auch nicht der Autor, sondern habe den Text lediglich von einem Supercomputer namens »WESCAC«130 aus Textbausteinen kompilieren lassen, deren Autor sein Vater, George Giles, war. Was als Spiel mit der Autorschaft erkennbar ist, die an frühere Formen der Manuskriptfiktion anknüpft, ist damit bereits selbst – wie der g esamte Paratext – als Teil der Fiktion angelegt. Der Disclaimer wird allerdings als ungenügend eingestuft: The manuscript submitted to us some seasons ago under the initials R.N.S., and by us retitled Giles Goat-Boy, is enough removed from the ordinary and so potentially actionable as to make inadequate the publisher’s conventional disclaimer: »Any resemblance to persons living or dead,« etc. The disclaimer’s very relevance – which we firmly assert – was called into question even prior to the manuscripts receipt, as has been everything about the book since, from its content to its authorship.131
129 Dies kann auf thematischer Ebene geschehen, wie in dem kürzlich erschienenen Roman Disclaimer, der den Untertitel trägt: Any Resemblance to Actual Persons, Living or Dead, is Purely Coincidental …. Der Klappentext, der einen Abschnitt des ersten Kapitels zitiert, verrät, worum es geht: »Any resemblance to actual persons, living or dead, is purely coincidental. The disclaimer has a neat, red line through it. A message she failed to notice when she opened the book. There is no mistaking the resemblance to her. She is a key character, a main player«; Knight (2015): Disclaimer. Es erscheint beinahe unnötig zu erwähnen, dass auf der Impressumsseite ein Disclaimer zu finden ist – nicht durchgestrichen, versteht sich. 130 Barth (1966): Giles Goat-Boy, S. xxv. 131 Barth (1966): Giles Goat-Boy, S. ix.
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Einer der Lektoren, der sein Urteil abgibt, verleiht seinen Bedenken gegen den Text, der hochgradig anstößig sei, drastisch Ausdruck: »In sum it is a bad book, a wicked book, and ought not – I will say must not – be published. No computer produced it, but the broodings of an ineffectual megalomane: a crank at best, very possibly a psychopath.«132 Der Paratext greift also diverse Vorwürfe auf, die, so die Herausgeberfiktion, gegen den Text erhoben werden könnten und die seine zweifelhafte Autorschaft sowie seine zweifelhafte moralische Qualität betreffen. Auf diese Weise werden tatsächliche paratextuelle Verfahren, die der Absicherung dienen, fiktionalisiert und selbst in das metafiktionale Spiel eingebunden: »Barth […] pre-empts legal challenge by anticipating, and fictionalizing, any possible charges in disarming hyperbole.«133 Dies markiert zugleich einen Übergang vom Disclaimer zu einem selbst bereits werkartigen und der Fiktion mit angehörenden Paratext, der im Disclaimer des Herausgebers angesprochen wird: »Frankly, what we hope and risk in publishing Giles Goat-Boy is that the question of its authorship will be a literary and not a legal one.«134 Während der Standard-Disclaimer ein Paratext ist, der sich vordergründig ›nach außen‹ richtet, so ist der Disclaimer in Giles Goat-Boy ein ›intrinsischer Rahmen‹, der die legalen, außerliterarischen Auseinandersetzungen um Texte zwar aufgreift, sie aber metafiktional spiegelt und so zum Bestandteil des Textes werden lässt. Dass dies immer auch ein intertextuelles Spiel ist, darauf scheint das Ende des Disclaimers hinzudeuten, das einmal mehr die Standardfloskel aufgreift. Nachdem die Voten der Lektoren vorgelegt sind, der Verlag im Streit um den Text zu zerbrechen droht, gibt der »Editor-in-Chief« den Text schließlich halb resigniert dennoch heraus: Herewith, then, Giles Goat-Boy: or, The Revised New Syllabus, »a work of fiction any resemblance between whose characters and actual persons living or dead is coincidental.«* Let the author’s cover-letter stand in all editions as a self-explanatory foreword or opening chapter, however one chooses to regard it; let the reader read and believe what he pleases; let the storm break if it must. * In the absence of any response from the author […], we have exercised as discreetly as possible our contractual prerogative to alter or delete certain passages clearly libelous, obscene, discrepant or false. […]135
Nicht nur wird hier eine weitere Instanz ins Spiel gebracht, wenn in der Fußnote zugestanden wird, dass auch die Herausgeber in den Text eingegriffen haben, wenn es um die Entfernung offensichtlich rechtlich angreifbarer Stellen geht; zentraler ist der Gestus, mit dem ein Urteil offen dem Leser anvertraut wird. Behn formulierte bereits 1688:
132 Barth (1966): Giles Goat-Boy, S. xi. 133 McDonald (2001): »The Literary Disclaimer: Law, Fiction, and the Real«. 134 Barth (1966): Giles Goat-Boy, S. ix. 135 Barth (1966): Giles Goat-Boy, S. xvi.
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»let the Critical Reader judge as he pleases«136 (siehe S. 68) – und Barth wiederholt beinahe dreihundert Jahre später nahezu identisch die Formulierung. Der Disclaimer ist endgültig zu einem Bestandteil der paratextuellen Tradition geworden. Damit hat er sich zugleich von seiner ursprünglichen Anlage weit entfernt: Statt einer einseitig erklärten Bedingung, wie mit dem Text umzugehen sei, ist es dem Leser nunmehr selbst anvertraut, wie er mit dem Text zu verfahren gedenkt. Der Disclaimer wird damit zur selbstreflexiven Illustration seiner eigenen ungenügenden Wirksamkeit: Zwar erscheinen manche Disclaimer (man denke etwa an denjenigen zur zweiten Auflage von Esra) als eine Art ›Fiktionstheorie en miniature‹, mit denen ein möglicher Umgang mit dem Text ›erläutert‹ werden soll, sie können jedoch den Umgang mit dem Text nicht regulieren. Funktional sind sie damit der Gattungsbezeichnung ›Roman‹ vergleichbar, die eine solche Determination des Umgangs mit einem Text ebenfalls nicht ›erzwingen‹ kann (siehe S. 101). Es lässt sich nicht einseitig diktieren, wie ein Text rezipiert werden soll – und dennoch (oder vielmehr: gerade deshalb) gibt es eine lange paratextuelle Tradition, die vielfältige Versuche unternimmt, genau dies nahezulegen, und die mit dieser Spannung spielt.
136 Behn (1688): Oroonoko: Or, The Royal Slave. A True History.
6 Piktoriale Peritexte Literarische Texte sind in ihrer Erscheinungsform als Buch- oder auch Zeitschriftenveröffentlichung nicht notwendig auf Text als alleinigen modalen Code festgelegt. Sie enthalten vielmehr mitunter diverse (im weitesten Sinne) bildliche Elemente, die wiederum mit dem Text selbst (und dem Paratext) komplexe Text-Bild-Relationen eingehen und so eine eigene Bedeutungsdimension entfalten können. Diese piktorialen,1 also in einem weiten Sinne bildlichen Elemente dennoch als Paratexte zu bezeichnen, erscheint vor dem Hintergrund eines erweiterten Textbegriffs zum einen als methodisch wenig problematisch,2 vor allem aber erscheint es im Zusammenhang dieser Unter suchung als funktional durchaus adäquat, denn es finden sich diverse nicht-sprach liche Paratexte, die sich auch als Kommentar oder Rezeptionsangebot hinsichtlich der Frage nach Fiktion oder Nicht-Fiktion ›lesen‹ lassen. Und nicht zuletzt ist der Paratextbegriff selbst über die Grenze von sprachlichen Texten im engeren Sinne hinaus produktiv gemacht worden – insbesondere in der Theorie filmischer Paratexte.3 Genette selbst erwähnt in seiner Studie am Rande ›ikonische‹ Paratexte,4 beschränkt sich dabei jedoch auf Illustrationen. Allgemein aber spricht er von Paratexten als »productions, elles-mêmes verbales ou non«5, die einen Text rahmen. Paratext lässt sich in diesem
1 Das Adjektiv ›piktorial‹ ist für bildliche Darstellungen insbesondere im Zusammenhang mit der in Anlehnung an ›Intertextualität‹ gebildeten Formulierung ›Interpiktorialität‹ gebräuchlich. Andere Bezeichnungen hätten sich ebenfalls angeboten: »Jede der in Frage kommenden Bezeichnungen hat ihre Vor- und Nachteile. ›Interikonizität‹ etwa schließt an vorhandene Begriffsprägungen an […]. Allerdings ist ihr Verhältnis zu einer der gängigsten Klassifikationen von Zeichentypen – der Peirce’schen Trias aus Ikon, Index und Symbol […] – alles andere als klar oder steht sogar mit ihr im Widerspruch. ›Interbildlichkeit‹ steht […] der Intertextualität zur Seite […]. Dies allerdings um den Preis eines lateinischgermanischen Hybridbegriffs […]. In der ›pict-‹-Linie empfiehlt sich ›Interpikturalität‹, da es eher das gemalte Bild (pictura) als den Maler (pictor) in den Mittelpunkt rückt […]. Allerdings nimmt im Englischen das Adjektiv zum Substantiv picture aus phonotaktischen Gründen die Form pictorial an (im Unterschied zu picturesque), sodass ›Interpiktorialität‹ am Ende als bester Kandidat eines ›internationalen‹ Komplementärbegriffs zur Intertextualität erscheint«; Isekenmeier (2013): »Zur Einführung«, S. 7. Aus eben diesen Gründen (wobei noch hinzukommt, dass bei den meisten alternativen Bezeichnungen die Alliteration weggefallen wäre), soll hier von ›piktorialen Peritexten‹ gesprochen werden. Die angestrebte Internationalität wird freilich etwa im Französischen kaum zu realisieren sein, wo mitunter von »paratexte pictural« die Rede ist; Gyssels (2002): »Du paratexte pictural«. 2 Mit Hinweis auf die potentiell problematische Identifikation von Text- und Werkbegriff bei Genette findet sich dies auch bei Stanitzek: »Auch Paratexte sind zumindest ›so etwas wie‹ Texte, selbst in solchen Fällen – wie etwa dem des Autorenportraits oder der typographischen Erscheinungsweise –, in denen man zunächst eher zu Kategorien der Bild-, und sei es der Schriftbildlichkeit, greifen würde. Paratexte implizieren immer wenigstens ein Moment von Lesbarkeit und daher Textualität – im weiteren Sinn«; Stanitzek (2004): »Texte, Paratexte, in Medien: Einleitung«, S. 6. 3 Vgl. etwa: Böhnke (2007): Paratexte des Films. 4 Vgl. Genette (1987): Seuils, S. 12. 5 Genette (1987): Seuils, S. 7. https://doi.org/10.1515/9783110578942-006
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Sinne als etwas begreifen, das nicht notwendigerweise selbst (im engeren Sinne) textueller Natur ist, aber eben in einer ›para-artigen‹ Relation zu einem Text steht.6 Für die Frage nach Fiktion oder Nicht-Fiktion sind diese nicht-sprachlichen, piktorialen Paratexte mitunter äußerst relevant. Zum einen können sie, ebenso wie andere Paratexte, allein durch die Einordnung in bestehende Gattungstraditionen Anhaltspunkte für eine – wenn auch vorläufige, tentative – Beantwortung der Frage liefern. So sind beispielsweise Illustrationen traditionell eher dem fiktionalen Roman, Tabellen und Diagramme dagegen weitgehend der wissenschaftlichen Literatur vorbehalten. Abweichungen von dieser Tradition müssen keine Fiktionalitäts- oder Faktualitätssignale sein, sie können aber als solche fungieren. So ist etwa die Aufnahme von Tabellen, die den »Bills of Mortality« entnommen sind, in Daniel Defoes Journal of the PlagueYear ein Versuch, dem Text, der sich als Augenzeugenbericht eines Überlebenden der Pestepidemie des Jahres 1665 ausgibt, einen historisch-korrekten Anstrich zu verleihen.7 Ebenfalls Gattungstraditionen unterworfen sind auch Titelblätter und, später, Umschläge. Deren Gestaltung markiert Bücher häufig so plakativ, dass sie auf den ersten Blick ausgewiesen sind als solche, die beispielsweise entweder Romane oder aber nicht-fiktionale Literatur enthalten. Zugleich wird freilich erst aufgrund dieser Traditionen ein Spiel mit diesen Rezeptionsangeboten möglich. Weniger diese Traditionen sollen hier untersucht werden als vielmehr solche Kombinationen von Text und (bildlichem) Paratext, die aufgrund der E igenschaften der piktorialen Paratexte selbst einen Kommentar zur Frage der Fiktionalität oder Faktualität des (Para-)Textes liefern – oder zumindest eine mehr oder minder subtile Rezeptionslenkung hinsichtlich dieser Frage. Drei Paratextsorten sind hierfür besonders relevant: Landkarten, faksimilierte Dokumente und Photographien. Diese Formen entfalten aufgrund institutionalisierter Umgangspraktiken und technischer
6 Auch mit der hier verwendeten typographischen Definition von Paratext ist dies vereinbar, wie etwa Dembeck festhält: »Eine rein formale Definition des Paratextes anhand von Layout und Typographie […] ist sicherlich praktikabel, wenn auch Wolfs Beschränkung auf ›verbale‹ Paratexte als nicht unbedingt notwendige mediale Beschränkung aufgefaßt werden mag«; Dembeck (2007): Texte rahmen, S. 16. Wolf hatte in seinem Lexikonbeitrag zum Lemma ›Paratext‹ eine engere Definition als diejenige Genettes gefordert: »Hilfreich erscheint […] eine engere Definition von P[aratext] als Sonderfall produktionsseitiger literar[ischer] ›Rahmung‹, die im Gegensatz zu sonstigen Rahmungsformen verbal ist, werkintern auf Texte außerhalb des (theoretisch) vom den P[aratext]en isolierbaren ›eigentlichen‹ Werkes und werkextern auf vom Autor autorisierte Texte beschränkt wäre«; Wolf (1998): »Paratext«, S. 414; meine Herv. Erwähnt sei, dass dies in einem späteren Aufsatz Wolfs explizit anders gefasst ist, wo mit dem Begriff ›Paratext‹ »noch nichts über den textuellen Status auch dieses Bei- oder Schwellenbereichs ausgesagt sein muß«; Wolf (2008): »Prologe als Paratexte«, S. 81. Dagegen gibt es auch in neuerer Zeit wiederum explizite Stellungnahmen gegen die Möglichkeit, unter ›Paratext‹ etwas zu verstehen, das nicht selbst textueller Natur ist. Abweichende Sprachregelungen werden mitunter gar mit der sicherlich überzogenen Formulierung bedacht, hier handle es sich um einen »metaphorischen Gebrauch«; Rockenberger (2016): »›Paratext‹ und Neue Medien«, S. 30. 7 Vgl. Campe (2001): »Was heißt: eine Statistik lesen?«.
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Reproduktionsmethoden ein jeweils eigentümliches Verhältnis zur realen Welt, das sich in bestimmten paratextuellen Konstellationen auch auf das Verständnis des Verhältnisses von Welt und Text auswirken kann. Insbesondere bei F aksimiles und Photographien, die infolge der ihnen zugrunde liegenden technischen Verfahren ›Echtheit‹ nicht nur suggerieren, sondern geradezu implizieren, ist mitunter die Frage zu stellen, ob sich literarische Texte, die sich in ihren Paratexten dieser Mittel bedienen, noch adäquat als Fiktion beschreiben lassen oder ob nicht vielmehr von einem hoax, von Fälschung oder Mystifikation die Rede sein müsste.8 Karten, Faksimiles und Photo graphien lassen sich (jeweils etwas anders akzentuiert) als Indizes im Sinne Peirce’ beschreiben und damit als Zeichen, deren Bezug zu ihrem Objekt in einer »existential relation«9 besteht. Das »Zeichenverbundsystem Karte«10 bedient sich freilich der drei Zeichentypen in Peirce’ Klassifizierung (icon, index und symbol), die »dominierende Funktion der Karte ist jedoch die indexikalische. Denn diese ermöglicht es, ein Objekt zu identifizieren, indem sein Ort zu einer bestimmten Zeit angegeben wird.«11 Ähnlich einer hinweisenden Geste oder eines deiktischen sprachlichen Zeichens steht eine Karte in Verbindung zu einem Objekt, und diese Verbindung beruht einerseits auf geometrischen Projektionstechniken und bietet andererseits Orientierung für den Betrachter – beides unterstreicht den Index-Charakter der Karte.12 Dabei ist die Verbindung der Karte zu einem Objekt jedoch eine andere, schwächere als die Verbindung einer Photographie zu dem auf ihr Abgebildeten. Der Peirce’sche Index-Begriff eignet sich aber dennoch, die drei Arten piktorialer Darstellungen zu gruppieren. Bei Karten könnte man von einer vergleichsweise losen indexikalischen Verbindung zu ihren Objekten sprechen, bei Photographien und Faksimiles hingegen von einer strikten. Karten sind selbst bereits ein semiotisches System und damit prinzipiell dazu in der Lage, die Verbindung mit einem Objekt zu »suspendieren«13 – eben weil die symbolischen und ikonischen Anteile des ›Zeichenverbundsystems‹ auch dann eine Verbindung zu einem Objekt suggerieren können, wenn diese realiter nicht besteht. In allen drei Fällen aber dominiert eine Zeichenfunktion (oder ist jedenfalls zentral beteiligt), die nicht auf Ähnlichkeit basiert (icon) und ebensowenig rein konventioneller Natur ist (symbol).
8 Zur ›Mystifikation‹ vgl. Jeandillou (1994): Esthétique de la mystification. Zur produktiven Integration von Illustrationen und insbesondere Photographien in Texte, denen es »um die Durchlässigkeit der Grenze zwischen Dokumentarisch-Historiographischem und Erfundenem und um die Verunsicherung des Lesers hinsichtlich der prinzipiellen Unterscheidbarkeit von Fiktion und Nichtfiktion geht«, vgl. Schmitz-Emans (2001): »Im Zwischenreich«, S. 194. 9 Peirce (1965): »Elements of Logic«, S. 160 (2.283). 10 Stockhammer (2007): Kartierungen der Erde, S. 50. 11 Stockhammer (2007): Kartierungen der Erde, S. 50. 12 Vgl. Nöth (2007): »Die Karte und ihre Territorien in der Geschichte der Kartographie«, S. 56 f. 13 Stockhammer (2007): Kartierungen der Erde, S. 51.
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Der Photographie liegt eine direkte, kausale Verbindung mit ihrem Objekt zu Grunde – und sie wird von Peirce explizit als indexikalisches Zeichen thematisiert:14 Photographs […] are very instructive, because we know that they are in certain respects exactly like the objects they represent. But this resemblance is due to the photographs having been produced under such circumstances that they were physically forced to correspond point by point to nature. In that aspect, then, they belong to the second class of signs [i. e. indices], those by physical connection.15
Vergleichbares ließe sich – ohne dass es von Peirce behandelt worden ist – für faksimilierte Dokumente behaupten, denen ebenfalls physikalisch-kausale (im Sinne Peirce’: ›existentielle‹) Prozesse zu Grunde liegen, die sie ihrem Objekt in jedem Teil korrespondieren lassen. Alle diese drei Arten von Abbildungen eint also, dass sie sich als Zeichen(systeme) beschreiben lassen, die eine Verbindung zu ihren Objekten unterhalten, der ein zumindest latenter Wahrheitsanspruch eingeschrieben ist: »A genuine Index and its Object must be existent individuals«16, verlangt Peirce,17 denn andernfalls ließe sich die existentielle Relation eben nicht aufrechterhalten. In dexikalische Zeichen sind daher in dieser strengen Definition zunächst per se unfähig zur Fiktion. Hieraus erhellt auch erneut der Unterschied zwischen Karten einerseits und Photographien und Faksimiles andererseits. Bei einer Karte nämlich ist diese strenge indexikalische Verbindung nicht notwendig gegeben und sie kann durchaus Objekte ›zeigen‹, die erfunden sind. In einen fiktionalen Text eingebunden kann sie so potentiell an der Fiktion partizipieren und die fiktive Welt darstellen. Demgegenüber ist bei Faksimiles und Photographien (sieht man von technischen Manipula tionsmöglichkeiten, die es selbstverständlich gibt, einmal ab) tatsächlich nötig, dass ›etwas‹ vorhanden war, das faksimiliert oder photographiert werden konnte. Eine Einbindung dieser piktorialen Elemente in einen fiktionalen Text muss sich also anderer Mittel bedienen, will sie eine Verbindung von fiktiven Entitäten und notwendig realen ›Vorlagen‹ herstellen. Die möglichen Verfahren für eine Einbeziehung von piktorialen Elementen in den Peritext, die sich daraus ergeben, sind vielfältig. Daher verwundert es wenig, dass literarische Texte, die ihren Fiktionsstatus in Paratexten verschleiern oder in ein Spiel einbinden, sich immer wieder dieser vornehmlich indexikalischen Zeichensysteme bedienen. Im Einzelnen soll an einigen Beispielen untersucht werden, inwiefern diese Manöver ›Erfolg‹ haben (was mitunter weniger die Grenze von Fakt und Fiktion als
14 Die indexikalische Qualität der Photographie ist Gegenstand einer langen Debatte. Vgl. dazu Gunning (2004): »What’s the Point of an Index? or, Faking Photographs«. 15 Peirce (1965): »Elements of Logic«, S. 159 (2.281). 16 Peirce (1965): »Elements of Logic«, S. 160 (2.283), meine Herv. 17 Negativ formuliert findet sich dies andernorts erneut : »An index is a sign which would, at once, lose the character which makes it a sign if its object were removed«; Peirce (1965): »Elements of Logic«, S. 170 (2.304).
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iejenige zwischen Fiktion und hoax betrifft) und wie im Zusammenspiel von (Para-) d Text und piktorialen Zeichen die Grenzen von Fiktion einerseits thematisiert, aber auch derart ausgedehnt werden können, dass sie den indexikalischen Paratext selbst betreffen. Es ist die Frage zu stellen, ob nicht nur indexikalische Zeichen in Paratexten als Markierung von Faktualität auf die Texte ›abfärben‹ können, sondern umgekehrt auch Texte und weitere paratextuelle Elemente Karten, Photographien und Faksimiles als Teil der Fiktion erscheinen lassen können.
Karten Das spezifische Verhältnis von ›Karte und Territorium‹ lässt sich – freilich sehr verkürzt und vorläufig – vielleicht am ehesten darin fassen, dass sich schwer entscheiden lässt, ob es eher als ›Abbilden‹ oder als ›Darstellen‹ zu beschreiben ist. Das Englische verfügt mit dem Verb ›mapping‹ über eine Vokabel, die das Deutsche nicht kennt. Eine Karte ist einerseits die Projektion von Informationen auf eine Ebene in einem gegebenen Maßstab, andererseits ist sie immer Auswahl von Informationen und zudem eine an jeweils spezifischem Umgang und spezifischer Verwendungsweise interessierte Darstellung, also Aufbereitung dieser Informationen. Eine Karte ist darüber hinaus aufgrund des institutionalisierten Umgangs mit Karten, aufgrund eines Wissens, das lehrt, wie mit Karten umzugehen ist, wie sie zu benutzen sind, nicht nur Darstellung und Abbildung, sondern mitunter auch Handlungsanleitung. Diese Tatsache in Verbindung mit dem Faktum, dass Karten auf geometrischen Projektionen beruhen, bezeichnet Nöth als indexikalischen Charakter von Karten, der sie der Photographie annähert und zugleich zentrale Unterschiede markiert: Sowohl Photos als auch Karten sind das Ergebnis optischer oder geometrischer Projektionen, doch während photographische Projektionen allein aus den Naturgesetzmäßigkeiten der Optik hervorgehen, sind für kartographische Projektionen zusätzliche geometrische Gesetze anzuwenden, wenn die Oberfläche der Erdkugel auf die zweidimensionale Fläche der Karte projiziert wird.18
In welchem Maße diese geometrischen Gesetze befolgt werden (beziehungsweise ob sie überhaupt als gültige Gesetze angelegt werden können), hängt freilich nicht zuletzt von der historischen Entwicklung der Kartographie ab. Ebenso ist es durchaus möglich, und in der Geschichte der Kartographie alles andere als selten, dass Territorien (Inseln, Kontinente, Flüsse, Berge etc.) dargestellt werden, die keine Entsprechung in der Realität finden, wie Nöth beispielsweise an den angeblich vor der Küste Irlands situierten Inseln St. Brendan und Brazil illustriert.19 Dennoch ist auch diesen Karten
18 Nöth (2007): »Die Karte und ihre Territorien in der Geschichte der Kartographie«, S. 57. 19 Vgl. Nöth (2007): »Die Karte und ihre Territorien in der Geschichte der Kartographie«, S. 40 f.
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eben aufgrund der konventionalisierten Form und Verwendungsweise der kartographischen Darstellung der Realitätsbezug nicht so einfach abzusprechen: Selbst die rein imaginären Territorien von Karten haben ein dynamisches Objekt, denn jede Vorstellung wurzelt in irgendeiner Weise in empirischen Erfahrungen. Zum Beispiel ist die Idee von der imaginären Insel Brasilien […] nicht nur in der bloßen Einbildung verwurzelt, sondern sie beruht auch auf dem Wissen der Kartographen darüber, wie Inseln überhaupt aussehen sowie auf der Erfahrung, daß die Existenz von Inseln angenommen werden konnte, die noch nicht entdeckt waren. Auf diese Weise sind auch Karten imaginärer Territorien von geographischen Tatsachen beeinflußt. Die Territorien, die sie abbilden, sind geographisch immerhin mögliche Territorien […].20
Erst das jüngere kartographische Wissen, das über eine vollständige und wissenschaftlich bis ins Detail abgesicherte Abbildung verfügt, macht »mögliche« Inseln letztlich unmöglich – dies aber nur für den Rezipienten, der sich der Mühe unterzieht, eine kartographische Darstellung zu überprüfen: Wer dies nicht tut, kann weiterhin zu der Annahme verleitet werden, dass ein kartographisches Objekt, eine Insel beispielsweise, über eine Entsprechung in der Welt verfügt – eben weil die Insel auf der Karte aussieht, wie Inseln auf Karten gewöhnlich aussehen: Maps are not usually labelled as nonfiction. A map, unless titled »imaginary« or employing such gross exaggerations that most people recognize it as inherently false, tends to carry an invisible nonfiction label, an implied certification that it is factual and trustworthy. This is especially true, when the map meets high standards of design and production, and really »looks the part«.21
Eben dies ermöglicht Karten daher durchaus, in Fiktionsspiele einbezogen zu werden. Sie können gleichsam so tun, ›als ob‹ es ein Gebiet tatsächlich gäbe. Die Plausibilität einer solchen kartographischen Darstellung lässt sich mit Wahrscheinlichkeitsüberlegungen parallelisieren, die dann vom jeweiligen zeitgenössischen Wissen und der Darstellungsqualität der jeweiligen Karte abhängen. Dass eine Karte, um als Markierung von Faktualität funktionieren zu können, einen jeweils historischen geographischen Wissensstand repräsentieren muss, zeigen am ehesten solche Karten, die dies ganz explizit nicht tun. So sind beispielsweise allegorische Karten, wie die »Carte de Tendre«, die Madeleine de Scudérys Roman C lélie (1654–1660) beigegeben ist,22 nicht als Repräsentation eines Ortes zu lesen, sondern vielmehr als räumliche Illustration einer ›Idee‹ höfischer Liebe.23 Sie zeigt drei ›Städte‹,
20 Nöth (2007): »Die Karte und ihre Territorien in der Geschichte der Kartographie«, S. 53. 21 Karrow (2007): »Introduction«, S. 4f. 22 Scudéry* (1656): Clélie, histoire romaine, S. 398. 23 Vgl. Peters (2004): Mapping Discord, S. 83–116 sowie Zumthor (1948): »La Carte de Tendre et les Précieux«. Zu vergleichbaren Karten und einer Tradition allegorischer Karten der Liebe und Beziehung vgl. Reitinger (1999): »Mapping Relationships«.
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die für verschiedene Liebesmodelle (»Inclinaison«, »Reconnaissance«, »Estime«) stehen, und die verschiedenen Wege, die zu ihnen führen, ebenso wie die Abwege, auf die die Liebenden geraten können. Der Maßstab gibt als Einheit »Lieues d’amitié« an und damit dezidiert einen Maßstab, der realen Längenmaßen inkommensurabel ist. Die Karte ist daher nicht nur nicht darauf angelegt, als Repräsentation eines realen Ortes zu erscheinen – sie stellt vielmehr überhaupt keinen Ort dar, sondern ist die räumlich organisierte Darstellung eines Konzepts – eine allegorische Karte.24 Im Folgenden sollen ausschließlich solche Karten untersucht werden, die nicht allegorisch zu lesen sind, sondern explizit einen Raum darstellen, der dann freilich seinerseits real oder imaginär sein kann.25 Wenn Karten, vorausgesetzt, dass sie dem jeweiligen historischen Wissensstand der Kartographie und Geographie entsprechen und sich in ihrer Gestaltung an die gängigen Konventionen und Formen anlehnen, selbst gleichsam als Nicht-Fiktion markiert sind, so ist es jedenfalls denkbar, dass diese Markierung sich eignet, um auch einen literarischen Text, der sich einer Kartendarstellung im Paratext bedient, als faktuale Erzählung zumindest glaubhafter werden zu lassen. Umgekehrt lassen sich selbstverständlich Fälle finden, bei denen eine offensichtlich fiktionale Karte die Trennung zwischen realer Welt und möglicher Welt der Fiktion illustriert. Ein Beispiel, das den Übergang von faktualer Weltdarstellung und narrativ- fiktionaler Darstellung besonders deutlich illustriert, ist – einmal mehr – Defoes Robinson Crusoe, denn darin finden sich zwei sehr verschiedene kartographische Darstellungen, die wiederum an zwei sehr verschiedene Traditionen anknüpfen. Beide sind allerdings nicht im ersten Band (beziehungsweise nicht in dessen Erstausgabe) abgebildet, was als Beleg für die fortlaufende Auseinandersetzung mit der Diskussion um die F iktionalität beziehungsweise Faktualität der Geschichte Robinsons gelten kann. Im zweiten Band der Erzählung, der die Farther Adventures Robinsons
24 Zur Verwendung des Allegorie-Begriffs für die Carte de Tendre und ähnliche Karten vgl. bereits die – unverhohlen kritische – Bemerkung Marmontels unter dem Lemma »Allégorique«: »Non seulement on faisait des personnages, mais encore des mondes allégoriques; et l’on traçait sur des cartes […] le chemin de l’Amour: par exemple, on partait du port d’Indifférence, on s’embarquait sur le fleuve d’Espérance […]. Ces puérilités ont été à la mode dans le siècle du bel esprit et du précieux ridicule«; Marmontel (2005[1787]): Éléments de littérature, S. 126. 25 Zudem ist die Untersuchung auf einige Beispiele eingeschränkt und beschäftigt sich ausschließlich mit Karten, die im Peritext originaler oder zeitgenössischer Ausgaben abgebildet sind, nicht aber mit solchen, die späteren Ausgaben beigegeben sind oder als Epitext etwa von Lesern entworfen oder in der literaturwissenschaftlichen Forschung eingesetzt werden. Mit Ryan lässt sich von internen im Gegensatz zu externen Karten sprechen: »An internal map is designed by an author or illustrator as part of the interface between text and reader. It is therefore an integral component of the reading experience«; Ryan (2003): »Narrative Cartography«, S. 336. Freilich gibt es Zwischen- und Übergangsformen wie etwa die Karte zu Stevensons Treasure Island, die zunächst als externe Karte dem Autor diente, dann aber (bereits in der Erstauflage) dem Leser zur Verfügung gestellt wurde; vgl. Ryan (2003): »Narrative Cartography«, S. 341 f.
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Abbildung 2: Weltkarte aus Defoe* (1719): Farther Adventures
räsentiert, ist dem Text eine Weltkarte beigegeben »on wch is Delineated the Voyages p of robinson cruso [sic]«.26 Die Karte ist durch das Raster der angewandten Mercator-Projektion als ›wissenschaftliche‹ Projektion ausgewiesen. Sie zeigt die reale Welt, soweit sie zu dieser Zeit bekannt war, und schreibt ihr den Verlauf der Reisen Robinsons mittels einer gestrichelten Linie ein. Sie ›behauptet‹ also zugleich, dass Robinson sich in dieser realen Welt bewege. Die Insel Robinsons an der Mündung des »Oronoque« ist als »R. Crusoes I.« eingezeichnet – dies ist die einzige Abweichung von ›realer‹ Geographie. Ihre genauen Umrisse und die exakte Lage lassen sich allerdings aufgrund des gewählten Maßstabes kaum erkennen, und ihre Existenz ist aufgrund der mitunter noch recht schematischen Darstellung des amerikanischen Kontinents und seiner Küstengeographie alles andere als unwahrscheinlich. Die Karte illustriert also Defoes Verfahren, seine Erzählung einer realen Welt einzuschreiben und seine Erfindung so zu plausibilisieren. Zugleich aber – und dies ist vermutlich der zentrale Witz dieser Karte – schreibt sich der Text damit in die Tradition des (faktualen) Reiseberichts ein. Die Karte ähnelt nämlich stark etwa derjenigen, die sich in Dampiers einflussreichem Reisebericht A New Voyage Round
26 Defoe* (1719): Farther Adventures. Die Karte ist ab der vierten Auflage auch im ersten Band enthalten. Im Jahr 1719 erscheinen vier Auflagen von Life and Adventures, wobei die dritte und vierte je zwei separate Ausgaben darstellen, die sich marginal unterscheiden. Letztlich erscheinen also sechs Ausgaben im Jahr der Erstausgabe; vgl. Shinagel (1994): »A Note on the Text«, S. 222. In den Ausgaben des ersten Bandes ist die Karte mit »Fronting the title of the II. Vol.« überschrieben, sie wurde also zunächst in den zweiten Band aufgenommen, der ebenfalls 1719 erschien, und anschließend in die folgenden Ausgaben des ersten Bandes übernommen.
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the World findet,27 der erstmals 1697 erschien, aber 1703 und – zeitlich nahe am Erscheinen des ersten Bandes von Robinson Crusoe – 1717 wieder aufgelegt wurde. Dieser Reisebericht enthält eine vom bekannten Londoner Kartographen Herman Moll entworfene Weltkarte »Shewing the Course of mr dampiers Voyage Round it: From 1679 to 1691«, die ebenfalls mittels einer Linie den Reiseverlauf anzeigt. Auch weitere Reiseberichte aus den ersten zwei Dekaden des 18. Jahrhunderts, etwa derjenige von Woodes Rogers (1712), A Cruising Voyage Round the World,28 enthalten solche K arten mit dem eingetragenen Verlauf der Expedition – in diesem Fall gezeichnet vom selben Herman Moll. Letztere Karte zeigt zudem die Juan-Fernández-Inseln, auf der Alexander Selkirk, der immer wieder als ›reales Vorbild‹ für Robinson Crusoe erwähnt wird, als Schiffbrüchiger über vier Jahre überlebt hatte. Ganz offensichtlich schreibt sich also der zweite Band von Robinson Crusoe (und damit ›rückwirkend‹ auch der erste) mittels paratextueller Signale in die Tradition des Reiseberichts ein und erhebt so, einmal mehr, Anspruch auf Tatsächlichkeit. Ob die Karte jedoch einen »wesentlichen Beitrag zur Authentizität und […] historischen Glaubwürdigkeit der Erzählung«29 liefert, ist damit noch nicht gesagt. Denn zeitgenössische Reiseberichte sind keineswegs einfach als faktuale Gattung zu beschreiben. Vielmehr befinden sich darunter Erzählungen, deren Status sich nur schwer bestimmen lässt, eben weil sie ihre Handlung in entfernte Weltgegenden verlegen und sie so der Verifizierung entziehen.30 Im bereits erwähnten Vorwort zum dritten Band von Robinson Crusoe ist diese Verschiebung in die Ferne angesprochen: »Facts that are formed to touch the Mind, must be done a great Way off«31. Die Weltkarte leistet also zweierlei: Sie situiert die Erzählung auf der realen Weltkarte und damit in der Realität, verschiebt sie jedoch zugleich in eine ungewisse Region und hält damit ein Urteil über die Wahrhaftigkeit in der Schwebe. Die Einfügung der Karte verlängert so einmal mehr das Spiel mit dem Status des Textes. Anders verhält es sich mit dem Anspruch auf Faktizität bei der Karte, die der dritte Band enthält. Diese ist in Anlehnung an ältere, nicht im engen Sinne geographische und nicht auf wissenschaftliche Projektionsverfahren gestützte Darstellungen als eine Art quasi-narrative Synopse der Handlungen auf Robinsons Insel zu verstehen. Aus der Vogelperspektive zeigt sie eine schematisch dargestellte Insel und verschiedene ›Szenen‹ aus der Erzählung sowie diverse zentrale ›Schauplätze‹, wie etwa Robinsons
27 Dampier (1697): A New Voyage Round the World. 28 Rogers (1712): A Cruising Voyage Round the World. 29 Ljungberg (2007): »Das Kartieren von neuem Raum«, S. 485. 30 Vgl. etwa Hulme/Youngs (2002): »Introduction«, S. 3–8 sowie Adams (1962): Travellers and Travel Liars. Dies bedeutet freilich nicht, dass man theoretisch keine Grenze zwischen Reiseromanen und Reiseberichten ziehen könnte (es wird hier kein Panfiktionalismus mit Bezug auf Reiseliteratur behauptet) – es finden sich jedoch Beispiele, bei denen die Abgrenzung schwer fällt. Zur grundsätzlichen Trennung faktualer und fiktionaler Reisegenres vgl. Görbert (2014): Die Vertextung der Welt, S. 9–11. 31 Defoe* (1720): Serious Reflections, S. [x].
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Abbildung 3: Karte aus Defoe* (1720): Serious Reflections
Lager. Die Karte ist, wie die Unterschrift angibt, von John Clark und John Pine angefertigt und damit von denselben, die für die berühmte Frontispiz-Illustration des ersten Bandes verantwortlich zeichneten.32 Der dargestellte Robinson ist in beiden Fällen recht ähnlich gestaltet. Vergleichbar mit Karten, wie sie etwa Thomas Morus’ Utopia illustrieren,33 fasst die Karte in einem Tableau die Insel und die auf ihr zu findenden Objekte, Personen und Ereignisse zusammen und deutet die geographischen Gegebenheiten der Insel an – dies aber mittels ikonischer Zeichen (Bäume, Hügel und Menschen) und nicht mit kartographischen Symbolen.34 Die Karte lässt sich mithin (und mit anachronistischem Vokabular) als zoom in die Weltkarte beschreiben, der dabei allerdings auch den Darstellungsmodus wechselt (von der geographischen Karte hin zu einer vornehmlich ikonischen Illustration). Zwischen den beiden Karten ergibt sich so ein Wechselspiel, das die diversen Signalfunktionen von Karten hinsichtlich der Unterscheidung Fakt/Fiktionillustriert:
32 Blewett argumentiert überzeugend, dass schon das Frontispiz des ersten Bandes eine Art Handlungssynopse darstellt und damit dem Darstellungsverfahren der Karte sehr ähnlich ist; vgl. Blewett (1995): The Illustration of Robinson Crusoe, S. 26–29. 33 Vgl. Padrón (2007): »Mapping Imaginary Worlds«, S. 267–270. 34 Sie wäre im Gegensatz zu geographischen Karten als ›chorographische‹ Karte zu beschreiben; vgl. Stockhammer (2007): Kartierungen der Erde, S. 16 f. Dass Stockhammer die Karte der Insel in Robinson Crusoe nicht behandelt und behauptet, die Inselkarten wären erst im Lauf der Rezeptionsgeschichte hinzugetreten, liegt darin begründet, dass er nur die beiden ersten Teile zur Kenntnis nimmt; vgl. Stockhammer (2007): Kartierungen der Erde, S. 63 sowie S. 113, Anm. 1.
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Abbildung 4: Frontispitz-Illustration Defoe* (1719): Life and Adventures
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Die Weltkarte im zweiten beziehungsweise später auch im ersten Band verortet Robin son in der Realität, weil sie der zeitgenössischen Kartendarstellung entspricht – jedoch in einer Realität fernab jeglicher Verifizierungsmöglichkeit. Die Karte des dritten Bandes holt dagegen ganz ähnlich wie das narrative Verfahren die Erzählung nahe an den Beobachter heran – denn nur so kann sie »Facts that are formed to touch the Mind« darstellen. Sie erfüllt damit aber nicht mehr die verifizierende Funktion der Weltkarte, denn sie zeigt eine allenfalls ›mögliche‹ Insel, ohne diese präzise zu verorten: Die Inselkarte verfügt weder über einen Maßstab noch über ein Gradliniennetz. Während sich Defoe,35 wie die Karten und auch die Vorworte seiner Texte, insbesondere der drei Bände von Robinson Crusoe zeigen, an den religiös-moralischen Implikationen von Fiktion abarbeitet und ihm die Karten einerseits als Wahrheitsanspruch, zugleich aber als Verschiebung dienen, findet sich bei Swift zwar ebenfalls ein Bezug zu den Karten der Reiseberichte – hier allerdings ist er deutlich ironisiert.36 Denn Swift bezieht sich ganz explizit auf Kartographie, wenn er den bereits erwähnten Geographen Herman Moll in den Travels into Several Remote Nations of the World erwähnt beziehungsweise ihn von Lemuel Gulliver erwähnen lässt: I arrived in seven Hours to the South-East Point of New Holland. This confirmed me in the opinion I have long entertained, that the Maps and Charts place this Country at least three Degrees more to the East than it really is; which Thought I communicated many Years ago to my worthy Friend Mr. Herman Moll, and gave him my Reasons for it, although he hath rather chosen to follow other Authors.37
Während Lemuel Gulliver sich hier über die Autorität des Kartographen – und der Autoren (vermutlich von Reiseberichten), auf die er sich stützen muss – mokiert und ›New Holland‹ (Australien) anders platzieren will, sind die Karten, die seinen Reisen beigegeben sind, direkt an diejenigen Molls angelehnt. Die ›Vorlage‹ findet sich in Molls »A New & Correct Map of the Whole World Shewing ye Situation of its P rincipal Parts. Viz the Oceans, Kingdoms, Rivers, Capes, Ports, Mountains, Woods, Trade-Winds, Monsoons, Variation of ye Compass, Climats, &c.« (1719).38
35 Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass eine direkte Verantwortlichkeit Defoes für die Kartenabbildungen in den Texten nicht verifiziert werden kann. Insbesondere die Abbildung der Weltkarte ist sicherlich auch ökonomischen (und damit wahrscheinlicher verlegerischen als auktorialen) Überlegungen geschuldet, die den Text in das erfolgreiche und etablierte Genre des Reiseberichts einordnen. Für diese Untersuchung spielt dies jedoch kaum eine Rolle, denn sie geht nicht von der Autorintention, sondern von dem Rezeptionsangebot des Textes (und Paratextes) aus. 36 Swifts Verantwortlichkeit für die Karten kann mit ziemlicher Sicherheit ausgeschlossen werden. Wer die Karten angefertigt hat, ist nicht bekannt. Bemerkenswert ist allerdings, dass die Karten in der vom Autor veranlassten Neuauflage des Romans erhalten bleiben; vgl. Bracher (1944): »The Maps in ›Gulliver’s Travels‹«, S. 73 f. 37 Swift* (1726): Travels into Several Remote Nations of the World, Part IV, S. 167 f. 38 Vgl. Bracher (1944): »The Maps in ›Gulliver’s Travels‹«.
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Abbildung 5: Moll (1719): A New & Correct Map of the Whole World (Ausschnitt)
Die Karten lassen so eine zumindest tentative Verortung beispielsweise der (Halb-) Inseln Lilliput und Brobdingnag zu – anders als Peirce nahelegt, der sich genau hierauf bezieht:39 It is true that a map is very useful in designating a place; and a map is a sort of picture. But unless the map carries a mark of a known locality, and the scale of miles, and the points of the compass, it no more shows where a place is than the map in Gulliver’s Travels shows the location of Brobdingnag.40
Peirce will an dieser Stelle offenbar darauf hinaus, dass die Karte von Brobdingnag die Lage der Insel eben nicht anzeigt. Er fährt allerdings fort:
39 Vgl. auch Stockhammer (2007): Kartierungen der Erde, S. 62–66. 40 Peirce (1998): »What Is a Sign«, S. 8.
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It is true that if a new island were found, say, in the Arctic Seas, its location could be approximately shown on a map which should have no lettering, meridians, nor parallels; for the familiar outlines of Iceland, Nova Zemla, Greenland, etc., serve to indicate the position. In such a case, we should avail ourselves of our knowledge that there is no second place that any being on this earth is likely to make a map of which has outlines like those of the Arctic shores.41
Genau dies aber ist bei der Karte Brobdingnags der Fall!42 Die Halbinsel ist, wie der Vergleich mit Molls Weltkarte zeigt, an der nördlichen Westküste des nordamerikanischen Kontinents situiert. Genauer: in einem Teil der Welt, der auf Molls Karte ausgespart bleibt, weil er kaum erforscht ist, für den sich klare Umrisslinien also nicht angeben lassen. Molls Weltkarte zeigt an dieser Stelle in einer Box eine verkleinerte Isogonenkarte und lässt so die Küstengeographie, die an die »Parts Unknown« angrenzt, offen. Die Karte in den Travels zeigt den identischen Küstenabschnitt, mit der Nordspitze Kaliforniens, das im 18. Jahrhundert mitunter noch als Insel gilt, und den, ebenfalls geographisch inkorrekten, aber auf Molls Karte angedeuteten »Straits of Annian«.43 Die Halbinsel Brobdingnag ist also in einer imaginären ›Verlängerung‹ der realen (oder besser: von den Zeitgenossen für real gehaltenen) Küstenlinie situiert. Ähnlich verhält es sich mit der Insel Lilliput, die sich südöstlich vor Sumatra, das ebenfalls von Molls Karte ›abgepaust‹ ist,44 befindet. Beide Karten lassen bezeichnenderweise einen Bestandteil der Karte Molls weg: das Gradliniennetz. Das Verfahren der Karten in den Travels ist also demjenigen analog, das Swift mit Blick auf zeitgenössische Karten verlacht: So Geographers in Afric-maps With Savage-Pictures fill their Gaps; And o’er uninhabitable Downs Place Elephants for want of Towns.45
Nicht in Afrika, dafür aber in anderen gaps der Kartographie verorten sich die Schauplätze von Gullivers Reisen. Die ›Möglichkeit einer Insel‹ besteht dabei vor allem infolge der zeitgenössisch noch lückenhaften geographischen Kenntnisse. Dabei ist freilich der in obigem Zitat bereits aufscheinende Gestus Gullivers, der Herman Moll
41 Peirce (1998): »What Is a Sign«, S. 8. 42 Vgl. Stockhammer (2007): Kartierungen der Erde, S. 91–94. 43 Diese angebliche Wasserstraße vom Atlantik zum Pazifik durch den amerikanischen Kontinent stammt vermutlich aus einer Karte des 16. Jahrhunderts und gilt als »one of geography’s most infamous fictions«; Hall (1992): Mapping the Next Millenium, S. 370. 44 Durch ›Fehler‹ oder unvollständige Übernahmen lässt sich überzeugend belegen, dass genau die erwähnte Karte Molls als Vorlage gedient hat, wie Bracher zeigt: So ist aus den »Sunda Islands« Molls bei Swift das isoliert wenig sinnvolle »Sunda« geworden; vgl. Bracher (1944): »The Maps in ›Gulliver’s Travels‹«, S. 62. 45 Swift* (1733): On Poetry: A Rapsody, S. 12.
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Abbildung 6: Karte aus Swift* (1726): Travels into Several Remote Nations of the World
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›korrigieren‹ will, auch mit Blick auf Brobdingnag alles andere als wissenschaftlich fundiert: I cannot but conclude that our Geographers of Europe are in a great Error, by supposing nothing but Sea between Japan and California; for it was ever my Opinion, that there must be a Balance of Earth to counterpoise the great Continent of Tartary; and therefore they ought to correct their Maps and Charts, by joining this vast Tract of Land [i. e. Brobdingnag] to the North-west Parts of America, wherein I shall be ready to lend them my Assistance.46
Dieses pseudowissenschaftliche Verfahren, das ein Gleichgewicht der Erdteile verlangt, ist den Verfahren verwandt, mit denen etwa die ›wissenschaftsaffinen‹ Einwohner Laputas für Gulliver Kleidung herstellen, indem sie mit Quadrant und Kompass Maß nehmen: Im Resultat ist diese dann doch – aufgrund eines Fehlers in der Berechnung – »quite out of shape«47. Derlei strukturelle Beziehungen zwischen den Karten und der satirischen ›Agenda‹ des Textes machen erstere denn auch gerade nicht zu Markierungen von Authentizität, obwohl sie in einem geographischen Sinne zunächst ›mögliche Inseln‹ darstellen. Der Anspruch Gullivers auf Faktizität seiner Schilderungen und auf die wissenschaftliche Fundierung seiner Entdeckungen (die Karten verzeichnen bei den jeweiligen Inseln das Datum ihrer ›Entdeckung‹) ist nicht zuletzt aufgrund der offensichtlich auch mit zeitgenössischen Vorstellungen nicht zu vereinbarenden Entitäten wie den Bewohnern Lilliputs oder der fliegenden Stadt Laputa unglaubwürdig. Der Bezug auf Reiseberichte ist bei Swift zwar ebenso vorhanden (und stärker noch als bei Robinson Crusoe), er ist aber in ein größeres satirisches Bezugsfeld eingebunden, das gerade mittels der offenkundig erfundenen Länder zeitgenössische wissenschaftliche und politische Entwicklungen in den Fokus nimmt. Was Gulliver’s Travels allerdings illustrieren, ist die Möglichkeit, sich in noch unvollkommene beziehungsweise unvollständige Karten ›einzuschreiben‹. Diese Möglichkeit wird mit dem Fortschritt der Kartographie immer geringer und so finden sich später nur noch selten Karten, die diesen Versuch weiterhin betreiben. Inseln bleiben zwar ein gängiges Moment, allerdings werden sie kaum mehr in einem (realen) Umfeld situiert, sondern befinden sich gleichsam im kartographischen ›Nirgendwo‹. Ein Beispiel dafür liefert etwa Stevensons Treasure Island. Die Karte der Insel soll in diesem Fall sogar am Beginn der Textgenese stehen. Jedenfalls behauptet Stevenson, die Karte der Insel habe den Text erst angeregt: I made the map of an island; it was elaborately and (I thought) beautifully colored; […] I ticketed my performance »Treasure Island.« I am told there are people who do not care for maps, and find it hard to believe. The names, the shapes of the woodlands, the courses of the roads and rivers […]; here is an inexhaustible fund of interest for any man with eyes to see, or twopence worth of imagi-
46 Swift* (1726): Travels into Several Remote Nations of the World, Part II, S. 67 f. 47 Swift* (1726): Travels into Several Remote Nations of the World, Part III, S. 24.
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nation to understand with. […] Somewhat in this way, as I pored upon my map of »Treasure Island,« the future characters of the book began to appear […] on these few square inches of a flat projection. The next thing I knew, I had some paper before me and was writing out a list of chapters.48
Diese Karte allerdings soll beim Verlag Cassell verloren gegangen sein, sodass Stevenson die Karte, die der Erstausgabe beilag, vom Text ausgehend erneut zeichnen musste.49 In der ursprünglichen Karte ist jedoch, gerade weil sie noch vor der Geschichte vorlag, die Verbindung von Kartographie und Erfindung besonders anschaulich illustriert. Sie spiegelt sich wider in der von Stevenson als äußerst mühsam beschriebenen Rekonstruktion der Karte vom Text aus: It is one thing to draw a map at random, set a scale in one corner of it at a venture, and write up a story to the measurements. It is quite another to have to examine a whole book, make an inventory of all the allusions contained in it, and with a pair of compasses painfully design a map to suit the data.50
Die Karte ist hier Teil, ja Ausgangspunkt der Fiktion. Sie stellt – darin den bereits erwähnten Beispielen wie etwa Defoes Inselkarte analog – nicht ein existierendes Territorium vor, sondern ›erfindet‹ es gleichsam. Sie bildet nicht ab, sondern ›behauptet‹ die Existenz einer fiktiven Insel in einem völlig unspezifischen Umfeld (»random«), das sich auch mittels der Karte nicht in einem realen Raum verorten lässt. Die Popularität von Inselkarten und -erzählungen rührt vermutlich unter anderem genau daher: Weil sie, um auf die oben erwähnte Darstellung Peirce’ zurückzukommen, über keine ›Markierung‹ (mark) eines bekannten Ortes verfügt, lässt sich die gesamte Karte und das in ihr Dargestellte schlichtweg nicht ›orten‹. Zwar gibt die Karte der »Treasure Island« einen Maßstab und eine Ausrichtung nach Himmelsrichtungen an, aber sie verfügt über keinerlei Ankerpunkt in der Realität. Dieser Mangel wird in der Fiktion legitimiert, denn der Erzähler Jim Hawkins verpflichtet sich darauf, »to write down the whole particulars about Treasure Island […], keeping nothing back but the bearings of the island, and that only because there is still treasure not yet lifted«51. Aus der Erzählung – und damit aus der beiliegenden Karte – muss also die genaue Lage der Insel ausgeschlossen bleiben, um den Schatz verborgen zu halten. Die Karte, die den Text begleitet, weicht damit in einem zentralen Detail von der im Text beschriebenen ab, denn diese verzeichne selbstverständlich den genauen Ort der Insel »with latitude and longitude«52. Die Fiktion rechtfertigt hier also die Ungenauigkeit der Karte und versucht damit zu überspielen, dass der Karte etwas fehlt, das Karten üblicherweise besitzen.
48 Stevenson (1986[1894]): »My First Book – Treasure Island«, S. 81. 49 Vgl. Stevenson (1986[1894]): »My First Book – Treasure Island«, S. 87. 50 Stevenson (1986[1894]): »My First Book – Treasure Island«, S. 87. 51 Stevenson (1883): Treasure Island, S. 1. 52 Stevenson (1883): Treasure Island, S. 51.
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Die Karte der »Ile Lincoln« aus Jules Vernes L’Île mystérieuse unterscheidet sich in dieser Hinsicht von derjenigen Stevensons, denn sie verfügt über eine genaue Angabe der Lage: »Long. O. 130°30ʹ / Lat. S. 34°57ʹ«53. Die Insel ist damit in einer Weltregion verortet, in der sich zwar keine Insel findet, in der aber – die geographische Nähe zu ausgedehnten Inselsystemen im Südpazifik zeigt es an – eine unbekannte Insel auch noch im 19. Jahrhundert nicht gänzlich unwahrscheinlich ist. Sie befindet sich, anders als die Schatzinsel, nicht in einem unbestimmten ›Nirgendwo‹, sondern an einer geographisch zwar genau bestimmbaren Stelle, die aber, mitten im Ozean gelegen, ebenso gut als ›Irgendwo‹ gelten kann. Die Insel und mit ihr die Erzählung verfügt also gleichsam über eine »realexistentiale Position«54, denn die Positionsangabe ist korrekt gebildet – eine Position aber, an der sich keine Insel befindet. Dies wird allerdings erst durch Nachforschung evident und ist damit in sich noch kein manifestes Fiktions signal, da die Lage der Insel zumindest wahrscheinlich ist. Die »Verengung des Wahr scheinlichkeitsspielraums«55, die Seiler allgemein und mit besonderem Bezug auf Raum- und Ortsangaben in literarischen Texten feststellt und nach der die »Zunahme der Weltkenntnis den imaginativen Spielraum der Literatur eingeschränkt hat«56, findet zwar statt, sie lässt aber auch im 19. Jahrhundert noch Erzählungen von Inseln zu, die nicht auf den ersten Blick als fiktive Inseln zu erkennen sind – entweder, weil sie gar nicht auf der Weltkarte zu verorten sind oder weil sie sich in Regionen befinden, in denen das Vorkommen noch unentdeckter Inseln jedenfalls möglich ist. Die Karten beispielsweise in Stevensons Treasure Island oder Vernes Île mystérieuse sind damit noch keine Fiktionssignale, sie funktionieren aber gleichwohl nicht mehr als Markierungen der Faktualität, weil einerseits die Texte sich durch die Nennung der Autoren und durch andere paratextuelle Markierungen (die Île mystérieuse etwa erscheint in einer Reihe namens »Les Voyages extraordinaires«) schon als fik tionale zu erkennen geben, und weil andererseits die Karten selbst in die Diegese eingebunden und somit als aus der Fiktion stammend gekennzeichnet sind. Die bisher erörterten Beispiele stellen Orte (in vielen Fällen: Inseln) dar, die sich als »nicht-wirkliche Orte« charakterisieren lassen, die aber keineswegs »nicht-mög liche Orte« darstellen: Nicht-wirkliche Orte im Bereich des Möglichen sind Orte, die es zwar geben könnte, die man aber tatsächlich nicht aufsuchen kann. Hierzu gehören alle relativ genau auf der Weltkarte situierten und mit Namen versehenen Orte […] sowie alle Orte (mit oder ohne Namen), die nicht oder nicht so genau in einem spezifischen Landstrich angesiedelt sind, deren Beschreibungen jedoch im Hinblick auf die Frage der Möglichkeit keine Abweichung von der Wirklichkeit enthalten. Als
53 Verne ([1875]): L’Ile mystérieuse. Die Karte findet sich in dieser Ausgabe auf S. 201. Der Text war vor dieser Ausgabe bereits als Fortsetzungsroman im Magasin d’éducation et de récréation erschienen. 54 Ingarden (1965): Das literarische Kunstwerk, S. 70. 55 Seiler (1983): Die leidigen Tatsachen, S. 168. 56 Seiler (1983): Die leidigen Tatsachen, S. 151.
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Abbildung 7: Karte der »Île Lincoln« aus Verne (1875): L’Île mystérieuse
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nicht-mögliche Orte werden solche angesehen, die entweder nach den heutigen technischen Mitteln für den Menschen unerreichbar sind oder grundsätzlich als undenkbar erscheinen […].57
Durch das zunehmende geographische Wissen verringert sich jedoch der Spielraum für die Einführung möglicher Orte, die nicht explizit als unmöglich, weil auf der Karte der realen Welt schlicht nicht vorhanden, gekennzeichnet sind. Ein alternatives Verfahren allerdings besteht darin, erfundene Orte in realen Landschaften zu verorten, oder aber reale Orte mit anderen Namen zu belegen und sie so gleichsam »pseudonym«58 zu verwenden. Derartige Karten lassen sich etwa bei Thomas Hardy finden,59 dessen Wessex sich auf der Karte sehr genau im realen Südwesten Englands verorten lässt. Dies insbesondere dadurch, dass sich auf den Karten reale Ortsnamen neben erfundenen Toponymen finden lassen. Unterschieden werden sie auf den Karten durch eine typographische Markierung: Während reale Ortsnamen in gerader Schrift abgebildet sind (Bath, Southhampton etc.), finden sich die erfundenen Namen in kursiver Schrift. Dabei sind diese wiederum aufgrund ihrer Lage und der lexikalischen Verwandtschaft mit realen Vorbildern zu identifizieren (»Exonbury« = Exeter, »Toneborough« = Taunton, etc.). Hardys Wessex ist also bereits durch die Karten, die den Romanen auch in neueren Ausgaben oft beigegeben sind, zwar einerseits als Fiktion ausgewiesen, andererseits aber als realistische Fiktion markiert, die sich an realen Räumen und Orten orientiert. Ganz ähnlich verhält es sich mit Faulkners »Yoknapatawpha County«. Die Karten dieses Landstrichs,60 die den Romanen beigegeben sind, lassen aufgrund der in sie aufgenommenen realen Ortsnamen eine Identifizierung mit Lafayette County im US-Bundesstaat Mississippi zu. Im Norden wird Yoknapatawpha County vom (realen) Tallahatchie River begrenzt, im Süden vom (fiktiven) Yoknapatawpha River. Allerdings ist auch dieser nicht etwa frei erfunden, sondern nimmt auf den (realen) Yocona River Bezug, dessen ursprünglichen Namen »Yockeney-Patafa«61 er ›wiederherstellt‹. Die im Zentrum des County gelegene Stadt heißt bei Faulkner »Jefferson« – anhand ihrer Lage und weitgehender Übereinstimmungen lässt sich als reales Vorbild allerdings leicht Oxford identifizieren. Die Fiktionalisierung bietet freilich auch die Freiheit, weitere Details abzuwandeln oder auszuschließen. Aiken stellt neben der Abänderung von Toponymen drei Verfahren Faulkners fest, die die Landschaft von Yoknapatawpha County von Lafayette County abweichen lassen: »components were omitted, locations were shifted, and reality was blended with fabrication«62. Die letzte dieser Manipu
57 Zipfel (2001): Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. 81. 58 Manguel verwendet den Pseudonym-Begriff in Bezug auf Toponyme etwa bei Hardy, Faulkner oder auch Proust (›Balbec‹); vgl. Manguel (1990[1980]): »Foreword«, S. x. 59 Etwa in der Wessex-Ausgabe. Siehe beispielsweise: Hardy (1912): »The Woodlanders«. 60 Vgl. Faulkner (1936): Absalom, Absalom! 61 Vgl. Aiken (1977): »Faulkner’s Yoknapatawpha County«, S. 4. 62 Aiken (1977): »Faulkner’s Yoknapatawpha County«, S. 13.
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lationen lässt sich freilich als Überschrift für das gesamte Verfahren anwenden. Aus der Vermischung von realem Vorbild und fiktionalen Abänderungen, Auslassungen und Hinzufügungen entsteht das fiktive Yoknapatawpha County, das jedoch seine Verbindung mit dem realen Lafayette County durchaus noch sehen lässt. Die hybriden Karten zwischen realer Geographie und fiktionaler Ausgestaltung derselben lassen sich ähnlich den Disclaimern beschreiben: Sie markieren einerseits dezidiert eine Abweichung von der Realität und andererseits weisen sie zugleich auf die Ähnlichkeit zu realen Orten hin. Etwas anders mag es zumindest frühen Lesern von Niebelschütz’ Roman Die Kinder der Finsternis (1959) ergangen sein. Der Roman spielt in der fiktiven »Mauretanischen Mark Kelgurien«, wie eine Karte, die bereits in der Erstausgabe abgebildet war und vom Autor selbst gezeichnet wurde, zeigt.63 Zwar sind auf der Karte an den Rändern Hinweise auf die reale Situierung eingestreut, wenn etwa ein Pfeil »nach Burgund« zeigt. Dass die Karte aber sehr genau der Provence nachempfunden ist, erschließt sich vermutlich nicht direkt und bedarf weiterer Hinweise. Solche liefert denn auch das späteren Ausgaben hinzugefügte Nachwort von Ilse von Niebelschütz, das etwa das fiktive »Lorda« mit Avignon und »Cormons« mit Aix-en-Provence identifiziert.64 Ein »touris tisches Ratespiel, welcher reale sich hinter welchem fiktiven Ort verberge«65, stehe hinter der Karte und dem gesamten Roman. Wobei dieses ›touristische‹ Ratespiel zugleich ein ›historisches‹ ist: Welcher Ort in »Kelgurien« entspricht welchem im Herzogtum Provence des 12. Jahrhunderts? In Die Kinder der Finsternis wird das Prinzip des historischen Romans, der geschichtlich verbürgte Ereignisse mit fiktionalen Ausgestaltungen verbindet, auf die Topographie übertragen.66 Die charakteristische M ischung historischer Wahrheit und Fiktion wird dabei auch von der Karte realisiert, die so als sehr spezifisches Fiktionssignal funktioniert: Zunächst einmal markiert sie »gerade die Fiktionalität der Erzählung […], anstatt Faktualität zu simulieren«67, in einem weiteren Schritt aber deutet sie, zumindest für diejenigen Leserinnen und Leser, die das ›Vorbild‹ erkennen, die für den historischen Roman gattungstypische Verbindung von Fiktion und (realer) Geschichte an. Spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts beginnt eine Entwicklung in der kar tographischen Illustration literarischer Texte, die diese zunehmend zur Gattungs markierung, ja zum »Gattungsmerkmal«68 von Fantasy-Erzählungen und -Romanen werden lässt.69 Einer der zentralen und sicherlich einer der erfolgreichsten Texte des
63 Vgl. Niebelschütz (1959): Die Kinder der Finsternis. 64 Vgl. Niebelschütz (1990): »Vorwort«. 65 Klimek/Riedo (2012): »Kelgurien und die Provence«, S. 158. 66 Vgl. Klimek/Riedo (2012): »Kelgurien und die Provence«, S. 170. 67 Klimek/Riedo (2012): »Kelgurien und die Provence«, S. 174. 68 Klimek/Riedo (2012): »Kelgurien und die Provence«, S. 173. 69 Der Begriff ›Fantasy‹ wird hier in Abgrenzung zum Phantastik-Begriff Todorov’scher Provenienz gebraucht.
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Genres, Tolkiens The Lord of the Rings (1954/55), ist bereits in der Originalausgabe mit Karten ausgestattet und wird auch in nachfolgenden Ausgaben regelmäßig mit Karten illustriert.70 Das fiktive Universum, in dem die Handlung der Texte angesiedelt ist, ist in den Karten abgebildet, die so ein direktes Fiktionssignal darstellen, denn sie zeigen eine Welt, die mit der tatsächlichen nichts gemein hat. Weder zeigen die Karten reale Landstriche, noch spielen sie auf reale topographische und geographische Gegebenheiten an, und vor allem weisen sie nicht aus, wie (und wo) sich diese Landschaft in Relation zur realen Welt situieren ließe. Die Karten markieren so den vollständigen Bruch der Fiktion mit allem, was gemeinhin unter ›Realität‹ verstanden wird. Sie unterstützen dabei das zentrale Moment der Fantasy-Gattung: die fiktive Welt, die sich vollständig (oder jedenfalls sehr weitgehend) von der realen abhebt. Tolkien’s greatest achievement […], in retrospect, was in normalizing the idea of a secondary world. Although he retains the hint, that the action of LOTR [The Lord of the Rings] takes place in the prehistory of our own world, that is not sustained, and to all intents and purposes Middleearth is a separate creation, operating totally outside the world of our experience. This has become so standard in modern fantasy that it is not easy to realize how unusual it was before Tolkien.71
Was die Welt der Fantasy-Fiktion auszeichnet, ist gerade, dass sie mit der realen in keiner Verbindung steht – aus diesem Grund schließt Tolkien in seinem Essay On Fairy-Stories etwa mit phantastischen Elementen ausgestattete Reiseerzählungen oder Traumerzählungen aus seiner Kategorisierung aus: Beide Rahmungen verbinden die erzählte Geschichte mit der realen, wahrnehmbaren Welt, von der sie entweder lediglich weit entfernt stattfinden, oder in der sie als Einbildungen, Träume vorkommen.72 Echte ›Fairy-Stories‹, und dazu ist wohl auch The Lord of the Rings zu zählen, seien dagegen vollständig abgelöst. Die Karte des Bereichs der ›secondary world‹ darf daher keinerlei Ähnlichkeiten und Verbindungen zur Realität aufweisen, muss (soweit dies möglich ist) vollständige Fiktion anzeigen – und zugleich sein. In der Folge etablieren sich Karten fiktiver ›otherworlds‹ als Fiktions- und Gattungs signal in der Fantasy-Literatur immer weiter. Die Karten aus Tolkiens Texten sind dabei zugleich zum Vorbild für diverse weitere Fantasy-Karten geworden, die den spezifischen look imitieren und daher schnell als explizite Fantasy-Karten erkennbar sind, ohne den Wahrheitsanspruch von geographischen Karten zu aktualisieren – eben weil sie deren graphische Konventionen und Standards nicht erfüllen, sondern stattdessen eine Tradition fiktionaler Karten aufgreifen, die an Tolkien anschließt. Dabei spielen
70 Die jeweiligen Originalausgaben der drei Bände der Trilogie konnten nicht eingesehen werden. Dass sie Karten enthalten, belegen jedoch Hammond (1993): J. R. R. Tolkien. A Descriptive Biblio graphy, S. 83–86 sowie Campbell (2007): »Maps«. Die früheste konsultierte Ausgabe ist die folgende: Tolkien (1956): The Fellowship of the Ring. 71 James (2012): »Tolkien, Lewis and the Explosion of Genre Fantasy«, S. 65. 72 Vgl. Tolkien (2008[1947]): On Fairy-Stories, S. 34 f.
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nicht nur die von Autoren oder Illustratoren gefertigten und den Originalausgaben beigegebenen Karten eine Rolle, sondern zunehmend auch Karten, die in weiteren epitextuellen Zusammenhängen erscheinen und beispielsweise im Internet als von Fans gezeichnete Karten kursieren oder Adaptionen in anderen Medien begleiten.73 Nicht immer ist dabei die Abtrennung von der realen Welt, die in der Karte angezeigt wird, so vollständig, wie Tolkien dies vorgeführt und in seinem Essay als Bedingung für eine »Fairy-Story« gefordert hatte. In Texten, die zwar in mancherlei Hinsicht als Fantasy bezeichnet werden könnten, die aber eine metafiktionale Thematisierung ihres eigenen Status betreiben, ist dies mitunter beinahe programmatisch nicht der Fall. In Walter Moers’ Zamonien-Romanen etwa findet sich eine Karte,74 die die Welt in groben Zügen zeigt, wie sie ist. Neben Amerika, Eurasien, Australien und Afrika finden sich allerdings weitere Kontinente und Inseln, die entweder in etwa den Umrissen existierender Weltgegenden entsprechen, aber andere Namen tragen (Eisland für die Antarktis, Grünland für Grönland), oder aber gänzlich ohne Entsprechung in der Realität die Meere ausfüllen: »ü« und »Go« befinden sich darunter ebenso wie das für die Erzählung zentrale »Zamonien«. Folgt man dem von der Karte suggerierten Modell, dann ist also das in den Romanen Geschilderte von der uns bekannten Welt nicht vollständig getrennt, sondern es müsste ›Übergänge‹ und Verbindungswege geben. Darin lässt sich auch das metafiktionale Spiel mit (unter anderem) Übersetzerfiktionen situieren: Um dem Lesepublikum der realen Welt eine Übersetzung eines zamonischen Textes zu bieten, müsste letzterer schließlich zunächst von Zamonien in eben diese unsere Welt gelangt sein. Dieses Spiel wird zusätzlich ausgeweitet, wenn etwa der ›Über setzer‹ in der Frankfurter Allgemeinen vom ›Verfasser‹, dem ›Lindwurm‹ Hildegunst von Mythenmetz als unfähig gescholten wird. Der Artikel muss dafür selbstverständlich darauf beharren, dass sich der ›Autor‹ Mythenmetz »hierher nach Köln begeben«75 habe – es müsste also einen Weg von Zamonien in das Köln geben, in dem der Journalist Andreas Platthaus Interviews führt. Die Welt von Zamonien ist zwar alles andere als realistisch gestaltet, aber in diversen metafiktionalen Windungen wird immer wieder nahegelegt, dass es sich dabei nicht um eine otherworld im Sinne Tolkiens handle. Vielmehr scheint die reale Welt Zamonien ›irgendwo‹ zu beinhalten. Ebenso gibt es von
73 Mitunter erscheinen die Karten sogar selbständig, wie im Falle der Fantasy-Reihe A Song of Ice and Fire: Martin (2012): The Lands of Ice and Fire. 74 Zur Metafiktionalität dieser Texte vgl. Mader (2012): Metafiktionale Elemente in Walter Moers’ Zamonien-Romanen sowie Bunia (2010): »Mythenmetz und Moers in der ›Stadt der träumenden Bücher‹«. Die Weltkarte findet sich etwa in Moers (1999): 13 1/2 Leben auf dem hinteren Vorsatzblatt; vgl. zu weiteren Kartenabbildungen, die allerdings kleinere Ausschnitte aus der fiktiven Welt Zamonien zeigen, Lembke (2011): »›Der Große Ompel‹. Kartographie und Topographie in den Romanen Walter Moers’«. 75 Platthaus (2007): »Der allergrößte Schriftsteller über seinen Schundheftzeichner«. Zu weiteren epitextuellen Inszenierungen aus dem Zamonien-Umfeld vgl. Irsigler (2011): »›Ein Meister des Versteckspiels‹. Schriftstellerische Inszenierung bei Walter Moers«.
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amonien aus gesehen durchaus Verbindungen zur realen Welt, und so ist es »nicht Z eindeutig entscheidbar, ob die Romane explizit zwei Weltentwürfe voraussetzen, nämlich der ›anderen‹ Welt fiktionsintern eine zweite, abweichende, nämlich realitäts kompatible Welt entgegengestellt ist«76. In den Romanen und ihrer para- und epitextuellen Inszenierung ist dabei freilich weniger eine hochkomplexe Thematisierung der weltentheoretischen Implikationen angelegt als vielmehr eine witzige Vermischung von ontologisch heterogenen Entitäten. Die Weltkarte bildet dieses merkwürdige Verhältnis durch das Ineinanderfügen von realen und erfundenen Kontinenten in nuce ab – ohne dabei die metafiktionalen Inkonsistenzen zu plausibilisieren. Sie dient damit allenfalls in einem ersten Schritt dazu, »das mentale Modell einer fiktionalen Welt zu gestalten und diese unwahrscheinliche Welt wahrscheinlich zu machen«77. Vielmehr macht die Karte im Zusammenhang mit den diversen metafiktionalen Inszenierungen Zamonien zu einer problematischen (und komischen) Weltregion, deren Status immer neu umspielt werden kann. Der Witz, der in der inszenierten Grenzüberschreitung zwischen realer und fiktiver Welt liegt und etwa durch die ›Anwesenheit‹ des zamonischen Autors bei einem Zeitungsinterview vorgeführt wird, findet sich so auch in der Karte, die beide Welten in einer einzigen Darstellung ›koexistieren‹ lassen kann. Der indexikalische Charakter der Karten bleibt allerdings in allen diesen Fällen in gewisser Weise erhalten; entgegen Peirce könnte also formuliert werden, dass das Objekt von Karten zwar existieren muss, dass es aber eben auch innerhalb der Fiktion ›existieren‹ kann. Eine fiktive Welt ist damit der kartographischen Darstellung prinzipiell zugänglich – oder kann von einer Karte sogar erst erschaffen beziehungsweise evoziert werden. Von dieser grundsätzlichen Fähigkeit nicht betroffen ist freilich die Signalfunktion, die Karten erfüllen können, wenn sie sich in ihrer Darstellung realen Weltkarten annähern. Die Frage, die sich beim Betrachten der Karten also stellt, ist letztlich die, die sich bei diversen peritextuellen Elementen finden lässt: Gehört die Karte selbst der Fiktion an, oder ist sie (noch) außerhalb dieser zu verorten? Oder aber thematisiert sie gerade, wie bei Faulkner, Hardy und – auf andere Weise – Moers, den Übergang von der einen in die andere ›Gegend‹ und die Verbindung, die zwischen den Welten existieren kann, sei es als realistische Anlehnung der Fiktion an einen realen Landstrich oder als metafiktionale Grenzverwischung?
Faksimiles Während Karten in literarischen Texten auf den Ort der Handlung rekurrieren und diesen als realen oder fiktiven markieren können (nicht: müssen), beziehen sich Faksimiles auf
76 Korten (2008): »In 13 1/2 Leben um die Welt«, S. 56. 77 Lembke (2011): »›Der Große Ompel‹. Kartographie und Topographie in den Romanen Walter Moers’«, S. 116.
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Dokumente, die mit dem Text und der Geschichte, die er erzählt, in Verbindung stehen. Ein Faksimile (aus lat.: fac simile – ›mache [es] ähnlich‹) strebt dabei eine möglichst detailgetreue Reproduktion eines Dokuments an. Mit dem Aufkommen und der Verbesserung drucktechnischer Reproduktionsmethoden im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert werden weitgehend originalgetreue Wiedergaben von Dokumenten möglich.78 Faksimiles verweisen aufgrund eben dieser Techniken immer schon auf ein ›Original‹ zurück und stehen mit diesem in indexikalischer Verbindung – und das heißt auch: Das Original muss existieren, damit ein Faksimile davon überhaupt vorhanden sein kann. Anders als die relativ lose indexikalische Verbindung von Karten und den auf ihnen dargestellten Orten, die letztlich auf einer kartographischen Konvention und dem konventionalisierten Aussehen einer Karte beruht, um dann möglicherweise doch einen erfundenen Ort abzubilden, ist diese Verbindung bei Faksimiles strikt. Das heißt nun aber keineswegs, dass Faksimiles nicht in literarische, fiktionale Texte Eingang gefunden hätten. Bereits vor der technischen Möglichkeit der Reproduktion von Dokumenten finden sich immer wieder literarische Texte, in denen Dokumente durch typographische Auszeichnungen imitiert werden. Neben der typographischen Auszeichnung von Briefen und anderen Dokumenten durch eine vom eigentlichen Text unterschiedene Schriftgröße oder -art, ließe sich hier beispielsweise Robinson Crusoes Tagebuch erwähnen, von dem im Text angeblich eine »Copy«79 geliefert wird, die typographisch durch die Datumsangaben und eine Zwischenüberschrift abgesetzt ist, oder die ›Reproduktion‹ seiner Liste, die in einer Pro-und-Contra-Aufstellung seine Lage auf der Insel rekapituliert.80 Auch die diversen in Sternes Tristram Shandy eingefügten Dokumente, etwa das Memoire der »Messieurs les Docteurs de Sorbonne«81 zur Nottaufe, ließen sich in diesem Zusammenhang erwähnen. Diese Versuche, einen (angeblich) präexistenten Text in seiner materiellen Gestalt annäherungsweise in den Druck zu übernehmen, lassen sich als (mehr oder minder genaue) Verfahren der ›syndiegetischen Typographie‹ beschreiben, denn in diesen Fällen ist »das Schriftbild […] syndiegetisch: es ist Teil der Diegese.«82 Dies kann freilich immer nur annäherungsweise geschehen und das Schriftbild eines (angeblich existierenden) Manuskripts wie dasjenige Robinsons muss von der Handschrift in Typographie erst umgesetzt werden. Was die diversen typographischen Verfahren jedoch gemein haben, ist die Tatsache, dass sie das Vorhandensein eines Dokuments (sei es in Manuskript- oder Druckform) suggerieren. Diese Suggestion ist freilich mitunter nur sehr schwach ausgeprägt und reicht keineswegs an die Möglichkeit heran, die der faksimilierte Abdruck eines Dokuments zur Verfügung stellt, denn eine typographische Annäherung setzt – weil sie nicht in
78 Vgl. mit Hinweisen auch zur ›Vorgeschichte‹ des Faksimiles Rebel (1981): Faksimile und Mimesis. 79 Defoe* (1719): Life and Adventures, S. 81. 80 Vgl. Defoe* (1719): Life and Adventures, S. 76 f. 81 Vgl. Sterne* (1760 [1759]): The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman, S. 134–139. 82 Bunia (2005): »Die Stimme der Typographie«, S. 375.
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strengem Sinne kopiert, sondern immer schon nachbildet – noch nicht die Existenz des Dokuments voraus, das durchaus ›frei erfunden‹ sein kann. Im Lichte der Möglichkeiten der faksimilierten Reproduktion erscheint es fast folgerichtig, dass sich ein Text wie Hoggs Private Memoirs and Confessions of a Justified Sinner, der über eine äußerst breit ausgestaltete und komplexe Manuskript- beziehungsweise Herausgeberfiktion verfügt, dieser bedient. Das Ergebnis dieses Versuchs hat dennoch Seltenheitswert und die Verbindung von Manuskriptfiktionen und Faksimiles hat wenige Nachahmer gefunden. Der Text der Confessions ist grob in drei Teile zu unterteilen. Der lange Bericht des Herausgebers führt in die Geschichte ein und stellt sie zugleich als eine authentische vor, die sich an geschichtlichen Quellen und vor allem der traditionellen Überlieferung überprüfen lasse: But of the matter furnished by the latter of these two [i. e. tradition] powerful monitors, I have no reason to complain: It has been handed down to the world in unlimited abundance; and I am certain, that in recording the hideous events which follow, I am only relating to the greater part of the inhabitants of at least four counties of Scotland, matters of which they were before perfectly well informed.83
Der editorische Bericht erstreckt sich über 142 (!) Seiten und erzählt die Geschichte zweier Brüder (möglicherweise: Halbbrüder), George und Robert. George wird von seinem Vater, einem reich begüterten Lebemann, anerkannt, während Robert von der streng religiösen Mutter und dem radikalen Calvinisten Reverend Wringhim erzogen wird, dessen Sohn er möglicherweise ist. Nach immer weiter gesteigerten Animositäten zwischen den beiden Brüdern wird George unter verdächtigen Umständen ermordet. Der zweite Teil der Erzählung umfasst die Memoiren Roberts, in denen auf etwa 220 Seiten viele der bereits geschilderten Ereignisse aus seiner Perspektive erneut erzählt werden. Robert freundet sich mit einem gewissen Gil-Martin an, der seine Gestalt anderen Personen anpassen kann. Es wird zunehmend unklar, ob dieser existiert oder nur ein Produkt der Einbildung Roberts ist. In jedem Fall stiftet er Robert zu einer Art selbstgerechten Kreuzzug gegen angebliche Sünder an, bei dem dieser auch vor Mord nicht zurückschrecken dürfe. So war es Robert selbst, der seinen Bruder umgebracht hat. Nachdem ›Gil-Martin‹ immer mehr Besitz von seiner Persönlichkeit ergreift, zu seinem Doppelgänger wird, Robert für lange Perioden keinerlei Erinnerungen hat und nun auch noch des Mordes an seiner Mutter und seiner (angeblichen) Geliebten verdächtigt wird, versucht er zu fliehen und kommt (unter anderem) in einer Drucker-Werkstatt unter, wo er seinen Lebensbericht drucken lässt. Weiterhin verfolgt von seinem Doppelgänger versteckt er schließlich seinen Bericht und begeht, so lässt sich dem dritten Teil, dem Nachbericht des Herausgebers entnehmen, Selbstmord. Der Druck seines Buches ist nicht abgeschlossen, die letzten Seiten sind nur als Manuskript vorhanden.
83 Hogg* (1824): Private Memoirs and Confessions of a Justified Sinner, S. 1 f.
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Die Doppelstruktur, die zwischen dem Bericht des Herausgebers und Roberts Memoiren entsteht, trägt nicht unwesentlich zur (im Sinne Todorovs)84 phantastischen Wirkung des Textes bei: Ist der Doppelgänger real oder nur ein Produkt der Einbildung Roberts, dem dann eine dissoziative Identitätsstörung unterstellt werden müsste? Der dritte Teil, der erneut dem Herausgeber zuzurechnen ist, lässt dies ostentativ offen: What can this work be? Sure, you will say, it must be an allegory; or (as the writer calls it) a religious parable, showing the dreadful danger of self-righteousness? I cannot tell. Attend to the sequel: which is a thing so extraordinary, so unprecedented, and so far out of the common course of human events, that if there were not hundreds of living witnesses to attest the truth of it, I would not bid any rational being believe it.85
Dieses ›sequel‹ erzählt nun die Geschichte der Auffindung des Manuskripts. Am Beginn derselben steht ein Bericht über einen Brief, der im Blackwood’s Magazine im Jahre 1823 erschienen sei und in dem der Fund einer mumifizierten Leiche eines Selbstmörders mitgeteilt werde. Der Brief sei mit ›James Hogg‹ unterzeichnet und offenbar glaubhaft, wenn auch in einem unseriösen Kontext erschienen: It bears the stamp of authenticity in every line; yet, so often had I been hoaxed by the ingenious fancies displayed in that Magazine, that when this relation met my eye, I did not believe it; but from the moment that I perused it, I half formed the resolution of investigating these wonderful remains personally, if any such existed […].86
Nicht nur ist der Name des tatsächlichen Autors auf diese Weise in den anonym erschienenen Text hineinmontiert, indem auf den Artikel verwiesen wird, der von James Hogg stamme, sondern der Brief, auf den hier angespielt wird, ist auch tatsächlich in dem genannten Blackwood’s Magazine erschienen!87 Es scheint so, als habe Hogg seinen Text sorgfältig vorbereitet und den Epitext, den Brief, bereits im Vorjahr lanciert, um dann im Bericht des fingierten Herausgebers darauf zurückkommen und so der Herausgeberfiktion Glaubhaftigkeit verleihen zu können.88 Diese wird jedoch vom Herausgeber selbst sofort angezweifelt: Nicht nur sei das Blackwood’s Magazine unzuverlässig, James Hogg selbst sei es ebenfalls: »God Knows! Hogg has imposed as ingenious lies on the public ere now.«89 So äußert sich einer der Begleiter des Herausgebers, der sich schließlich auf die Suche nach dem Grab macht. Sie finden
84 Vgl. Todorov (1975[1970]): Einführung in die fantastische Literatur, S. 26. 85 Hogg* (1824): Private Memoirs and Confessions of a Justified Sinner, S. 368. 86 Hogg* (1824): Private Memoirs and Confessions of a Justified Sinner, S. 376. 87 Vgl. Hogg (1823): »A Scots Mummy«. 88 An diesem offensichtlich auf die Täuschung des Lesers angelegten Unterfangen ändern auch Berichte darüber nichts, dass Hogg eventuell tatsächlich an der Ausgrabung eines Selbstmörders beteiligt war; vgl. Groves (1989): »James Hogg’s ›Confessions‹: New Information«. 89 Hogg* (1824): Private Memoirs and Confessions of a Justified Sinner, S. 377.
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es t atsächlich und darin versteckt auch den Bericht Roberts, der sich in einem Tabakbeutel befindet: »but on opening it, we found, to our great astonishment, that it contained a printed pamphlet.«90 Es ist zunächst nicht zu entziffern, nach dem Trocknen allerdings wird es lesbar als: the very tract which I have ventured to lay before the public, part of it in small bad print, and the remainder in manuscript. The title page is written, and is as follows: THE PRIVATE MEMOIRS AND CONFESSIONS OF A JUSTIFIED SINNER: WRITTEN BY HIMSELF […] The printed part ends at page 340, and the rest is in a fine old hand, extremely small and close. I have ordered the printer to procure a fac-simile of it, to be bound in with the volume.91
Dieses Faksimile ist dem publizierten Text tatsächlich beigegeben.92 Es ist mit »Fac Simile« überschrieben und verweist auf die Textseite, auf der der Textabschnitt im Druck zu finden ist. Zwar ist die Schrift eher nicht als »extremely small and close« zu beschreiben, aber das Faksimile ›belegt‹ doch die Existenz eines Schriftstücks, dessen Text mit den vom Herausgeber zur Verfügung gestellten Memoiren identisch ist. Das Spiel mit der Herausgeberfiktion – das hier ohnehin sehr ausgreifend ist – ist so weit geführt, dass nicht nur die Existenz des Manuskripts behauptet wird, sondern dieses in Teilen ›gefälscht‹ wird, um dann im Text reproduziert zu werden. Auf das Verfahren der Täuschung wird im abschließenden Kommentar des Herausgebers mehrmals hingewiesen (»hoaxed«, »imposed«) und der tatsächliche Autor wird als notorischer Lügner eingeführt. Er tritt sogar selbst auf: Der Herausgeber besucht ihn und will ihn überreden, mit ihm zum Grab zu kommen; er aber lehnt ab, denn er habe Besseres zu tun.93 Der Herausgeber inszeniert sich also – auf Kosten des tatsächlichen Autors – als gewissenhafter Zweifler, als kritischer Herausgeber, der sogar dem Inhalt des ›Pamphlets‹ und seiner Wahrhaftigkeit misstraut:
90 Hogg* (1824): Private Memoirs and Confessions of a Justified Sinner, S. 386. 91 Hogg* (1824): Private Memoirs and Confessions of a Justified Sinner, S. 388. Der Text greift damit auch seinen eigenen Titel auf, spiegelt also seinen eigenen Paratext. Zu ähnlichen Verfahren vgl. Sabry (1987): »Quand le texte parle de son paratexte«. 92 Es lassen sich Indizien finden, die es wahrscheinlich machen, dass Hogg selbst (und nicht beispielweise der Verleger) dies veranlasst hat; vgl. Groves (1990): »The Frontispiece to James Hogg’s ›Confessions‹«. 93 Er wird hier als Schäfer stilisiert und antwortet in schottischem ›Dialekt‹: »I hae ither matters to mind«; Hogg* (1824): Private Memoirs and Confessions of a Justified Sinner, S. 379.
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Abbildung 8: Faksimile aus Hogg* (1824): The Private Memoirs It is certainly impossible that these scenes could ever have occurred, that he [i. e. Robert] describes as having himself transacted. I think it may be possible that he had some hand in the death of his brother, and yet I am disposed greatly to doubt it […]. However, allowing this to have been the case, I account all the rest either dreaming or madness […]. Were the relation at all consistent with reason, it corresponds so minutely with traditionary facts, that it could scarcely have missed to have been received as authentic; but in this day, and with the present generation, it will not go down […].94
Der Herausgeber gibt sich also keine Mühe, das Dargestellte selbst als faktualen Bericht auszuweisen, vielmehr verlegt er seine ganze Autorität darauf, die Echtheit des Dokuments nachzuweisen und zu bezeugen: Der Bericht Roberts mag fingiert und nicht tatsachengetreu sein (ob nun aus religiösem Wahn oder in dem fehlgeleiteten Versuch, eine religiöse Parabel zu verfassen) – aber er existiert und davon legen der Bericht des Herausgebers, der seine Auffindung beschreibt, vor allem aber das Fak simile Zeugnis ab. Die Verantwortung für den Text wird also vom Herausgeber vollständig abgelehnt und auf den Erzähler übertragen. Damit dies gelingt, muss er freilich die – realweltliche – Existenz des Erzählers suggerieren und eben dazu dient das Fak simile, das zugleich mit dem Text die ›Hand‹, aus der er stammt, belegt. Der Text steht damit vielleicht in einer Tradition, die im 19. Jahrhundert intensiv diskutiert wurde, wenn sie auch auf das 18. Jahrhundert zurückgreift: Fälschungen, beziehungsweise ›Erfindungen‹ von ›alten‹ Manuskripten, wie sie etwa bei James Macpherson und
94 Hogg* (1824): Private Memoirs and Confessions of a Justified Sinner, S. 389 f.
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i nsbesondere Thomas Chatterton vorkommen.95 Jedenfalls lässt das Insistieren d arauf, dass James Hogg ein notorischer Lügner sei, eine Interpretation zu, die der tatsächlichen Konfiguration des Textes relativ nahe kommt: Ist es doch zumindest in einem Gedankenspiel möglich, dass er die Geschichte erfindet und das Manuskript fälscht und versteckt, damit schließlich der Herausgeber es finden kann. Der im Text genannte (tatsächliche) Autor ist damit (wie in der realen Welt) für die Fälschung verantwortlich, und der Herausgeber ist, wie der Leser, dessen Stellvertreter er ist,96 auf diesen hoax hereingefallen. Fiktionsintern spiegelt also das Verhältnis Herausgeber/Autor dasjenige Verhältnis, das fiktionsextern zwischen Leser und Autor besteht. Eine Herausgeberfiktion, die einen Teil des Manuskripts faksimiliert wiedergibt, ist ein seltenes Phänomen. Die Nähe zur Täuschung, zum hoax, ist gerade im Überschreiten der konventionalisierten Form der Herausgeberfiktion, die eben aufgrund der Konvention kaum ein Leser glauben wird, problematisch. Zugleich erlaubt dieses Täuschungsmanöver kaum ein weiteres Spiel, etwa indem weitere Ebenen eingeführt würden. Sie ist damit letztlich bei Hogg zwar originell, eine Wiederholung in einem anderen Text wäre aber kaum mehr als eine bloße Wiederholung ohne Originalitätswert. Während bei der Herausgeberfiktion gerade charakteristisch ist, dass die Topoi übernommen, aber zugleich aktualisiert und mitunter ›überboten‹ werden können, ist dies beim Faksimile nicht der Fall – auch dies vermutlich einer der Gründe für die Tatsache, dass Hogg kaum Nachahmer gefunden hat. In der jüngeren Vergangenheit finden sich dennoch einige Texte, die erneut mit faksimilierten Dokumenten spielen, darunter ein Briefroman (inklusive Herausgeberfiktion), der einige der Briefe faksi miliert wiedergibt – beziehungsweise wiederzugeben vorgibt: Die Rede ist von Wolf Wondratscheks und Lilo Rinkens Koproduktion Kelly-Briefe97. Der Briefroman enthält Briefe einer namentlich nicht näher genannten Frau (Kelly?), die in faksimilierter Form wiedergegeben sind, sowie die Antwortschreiben eines Mannes, der seine Briefe mit »W.« unterzeichnet. Er schreibt zunächst aus New York City, dann aus dem ebendort gelegenen »Virginia Reiter Hospital« und schließlich, nachdem er aus dieser Institution geflohen ist, aus Florida. Bereits die Hospitalisierung des Briefeschreibers lässt diesen als zumindest potentiell »unzuverlässig«98
95 Ian Haywood stellt deren Verbindung zur Historiographie des 18. Jahrhunderts heraus und betont die zentrale Stellung des Manuskripts als ›Beweismittel‹: »The MS became the touchstone of truth about the past.« Zugleich aber wächst mit der Bedeutung der Manuskripte der Verdacht, sie könnten möglicherweise gefälscht sein: »As the power of the MS was acknowledged, its authority became a proportionally urgent concern«; Haywood (1986): The Making of History, S. 20. 96 Zum Herausgeber als erstem Leser eines Textes vgl. Wirth (2008): Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion, S. 26. 97 Wondratschek/Rinkens (1998): Kelly-Briefe. 98 Wenn schon kein ›unzuverlässiger Erzähler‹, so ist er doch ein unzuverlässiger Briefpartner, und da der Rezipient des Textes lediglich über seine Briefe verfügt, ist das Resultat demjenigen einer unzuverlässigen Erzählung durchaus vergleichbar. Vgl. zum ›unzuverlässigem Erzählen‹ etwa Shen (2014): »Unreliability«.
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erscheinen. Den Briefen vorangestellt ist eine »Notiz zur Publikation«99 eines gewissen Christian d’Orville. Sie fasst grob den Inhalt der folgenden Briefe zusammen, besteht aber vor allem darauf, dass sich genauere Angaben zum Inhalt nicht machen lassen, und betont – in Abwesenheit »klarer und vernunftgemäßer Ordnungen«100 – allein die Materialität des Schriftwechsels: Das einzig bestimmbare Reale ist das mir vorliegende Dokument eines Briefwechsels, spontan entstanden, geschrieben zwischen einer Frau und einem Mann, zweier Liebender. […] Also: real kann ich nur die Vorlage dieser unterschiedlichen Briefe bestätigen.101
Wenn die hier zitierten Sätze (es handelt sich um den jeweils ersten und letzten der ›Notiz‹) bereits das ›Vorliegen‹ der Dokumente betonen, dann geschieht dies verstärkt noch durch die 16 als Faksimiles abgedruckten Briefe, die auf insgesamt 21 Seiten abgedruckt sind. Was sich jedoch beim ersten Brief noch als möglicher Faktizitätsanspruch lesen ließe, wird schnell unterlaufen, denn: Die Briefe lassen sich nicht entziffern. Die graphisch sehr unterschiedlich gestalteten ›Dokumente‹ bilden weder eine bloß schwer leserliche, noch überhaupt eine einigermaßen kohärente Handschrift ab. Im Text beziehungsweise in den Briefen von »W.« wird das aufgegriffen: Dein letzter Brief wurde gelesen. Man glaubt, der Verfasser der Briefe sei ich. Das heißt: man nimmt an, ich korrespondiere mit mir selbst. Das ist etwas Neues, was die Beurteilung meines Geisteszustands betrifft. Man folgerte, ich könne keineswegs mit einer baldigen Entlassung aus der Anstalt rechnen. […] Anderntags bat mich der Chefarzt (er drehte seine Runde mit dem ganzen Pulk seiner Ärzte), etwas von dem Geschriebenen vorzulesen. Tat ich! Ganz offenbar noch der alte, wählte ich ein paar eindeutig obszöne Zeilen. […] Ich reichte den versammelten Herrschaften das Blatt […]. Sie steckten die Köpfe zusammen, suchten nach jenen Zeilen, die ich vorgelesen hatte, und gaben danach übereinstimmend vor, meine (Deine) Schrift nicht entziffern zu können.102
Die Briefe, die zu diversen Komplikationen zwischen dem Patienten »W.« und seinen Ärzten führen, sind durch die doppelte Autorschaft (Rinkens wird zwar nicht auf Buchrücken und Schutzumschlag erwähnt, jedoch auf dem Titelblatt) als Produktionen der Künstlerin Lilo Rinkens ausgewiesen – oder jedenfalls lässt sich diese Attribuierung mit einiger Sicherheit erschließen. Sie sind als ›visuelle Poesie‹103 auch außerhalb des
99 Wondratschek/Rinkens (1998): Kelly-Briefe, S. 7. 100 Wondratschek/Rinkens (1998): Kelly-Briefe, S. 7. 101 Wondratschek/Rinkens (1998): Kelly-Briefe, S. 7 f. 102 Wondratschek/Rinkens (1998): Kelly-Briefe, S. 38 f. 103 Es konkurrieren diverse Definitionen dieses Begriffs. Hier wird an eine Verwendungsweise angeschlossen, die sich aus Heinz Gappmayrs Position bestimmen lässt. Er hält fest, dass sich in den kultur- und sprachspezifischen Schriftsystemen ein jeweils hochgradig komplexes System ausgebildet habe, bei dem sich »die schriftzeichen […] als physikalisch und geometrisch genau zu beschreibende teile eines systems nur durch die in komplizierten konventionen gebildeten beziehungen zu bestimmten begriffen von sinnfreien linien [unterscheiden]«. Eben diese Grenze von sinnfreien Linien und les-
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Abbildung 9: Faksimile aus Wondratschek/Rinkens (1998): Kelly-Briefe
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Buches existent. Auf der Impressumsseite findet sich diesbezüglich die Notiz: »Das Manuskript der Briefe befindet sich im Besitz von Frau Gisela Wenkums.« Es bleibt allerdings fraglich, ob sich das auf die Briefe »W.«s, auf die faksimilierten Antwortbriefe oder auf beides bezieht. Was darüber hinaus als Weiterführung der Manuskriptfiktion erscheinen könnte, stellt sich in diesem Fall als offenbar der Realität entsprechend dar: Gisela Wenkums ist eine reale Person, die im Besitz weiterer Originalmanuskripte Wondratscheks ist.104 Was anfänglich also vielleicht als Dokumentfiktion erscheint, transformiert sich bei näherem Hinsehen schnell in ein Spiel mit der Lesbarkeit eben dieser ›Dokumente‹. Die Ausgangslage kehrt sich damit gleichsam um: Nicht sind die Briefe ›gefälschte‹ fiktive Originale, sondern sie sind in der Tat, wie das Vorwort behauptet, reale Dokumente, die in eine fiktionale Geschichte eingewoben sind. Noch auffälliger und vor allem aufwendiger sind faksimilierte Dokumente in Gordon Sheppards HA! A Self-Murder Mystery einbezogen.105 Der Text ist ein Beispiel für eine Entwicklung in jüngerer Zeit, die verstärkt die Materialität des Buches einbezieht und dabei eine große Bandbreite der Möglichkeiten insbesondere auf den Ebenen der typographischen Gestaltung und des multimodalen Zusammenspiels aufspannt.106 Durch den Paratext ist HA! als ambivalente Gattungs- und Medienmischung ausgewiesen: Zunächst einmal erscheint das Buch in einem vornehmlich auf wissenschaftliche Literatur spezialisierten Verlag, McGill-Queen’s University Press, weist aber auf dem Schutzumschlag die Genre-Markierung »FICTION« auf. Der Autor fungiert auf dem Titelblatt als Autor und ›Regisseur‹ (»Written and Directed by Gordon Sheppard«).107 ›Filmische‹ Elemente werden immer wieder einbezogen, etwa wenn den einzelnen Kapiteln Beschreibungen von Hintergrundgeräuschen vorangestellt werden. Diese »Soundscapes« sind jedoch nicht der auffälligste Bezug auf andere Medien, denn mehr als die Hälfte der etwa 850 Seiten enthält neben dem Text Abbildungen von
beziehungsweise verstehbarem Text wird in einigen der visuellen Poesie zugeschriebenen ›Texten‹ zum Gegenstand – so auch bei den in Kelly-Briefe abgebildeten: »diese differenziertheit zwischen zeichen und begriff ist der visuellen dichtung nicht etwas vermitteltes, sondern eine poetische qualität«; Gappmayr (1996[1968]): »Zur Ästhetik der visuellen Poesie«, S. 145 und S. 146; die Kleinschreibung ist aus dem Original übernommen. 104 Vgl. Raddatz (1997): »Planet Speersport: Messerwerfer« sowie Michaelsen (2011): »›Geld ist etwas Primitives‹. Interview mit Wolf Wondratschek«. 105 Vgl. Sheppard (2003): HA! A Self-Murder Mystery. 106 Weitere Beispiele wären etwa Jonathan Safran Foers die-cut-Text Tree of Codes oder auch sein Roman Extremely Loud and Incredibly Close. Anlässlich einer Untersuchung des letzteren stellt Nørgard in Bezug auf die Buchproduktion der Gegenwart fest: »we find a multitude of contemporary literary texts that make use of a variety of semiotic modes such as typography, graphics, color, layout, and visual images for their meaning making«; Nørgaard (2010): »Multimodality and the Literary Text«, S. 115. Zu Tree of Codes vgl.: Mauro (2014): »Versioning Loss«. 107 Erwähnt sei, dass der Autor tatsächlich auch als Filmemacher gearbeitet hat und dies im Text immer wieder thematisiert wird.
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Photographien, Karten, faksimilierte Dokumente oder auch typographisch abgesetzte Zitate aus anderen Werken oder der Presse. Der Untertitel »A Self-Murder Mystery« ist selbstverständlich eine Anspielung auf das Genre des Kriminalromans, irritiert aber durch den Bezug auf einen Selbstmord, der letztlich schwerlich ›Krimi-fähig‹ erscheint. Auf der Impressumsseite ist darüber hinaus ein Disclaimer zu finden: Although this is a work of fiction, it incorporates authentic documents and is based on extensive interviews with real persons. All quotations from the works and papers of Hubert Aquin are made with the permission of Andrée Yanacopoulo.108
Der Ausweis der Cataloguing in Publication-Daten der National Library of Canada enthält dagegen keinen Verweis auf Fiktion, sondern ordnet den Text als Biographie ein: 1. Aquin, Hubert, 1929–1977. 2. Novelists, Canadian (French)–Quebec (Province)–Biography. 3. Novelists, Canadian (French)–20th century–Biography. 4. Suicide victims–Quebec (Province)– Biography109
Der Text, der zu großen Teilen aus Interview-Passagen besteht, beschäftigt sich mit dem Selbstmord des Schriftstellers Hubert Aquin. Die genauen Umstände des Suizids werden zu Beginn erzählt – und zwar durchaus in einer Form, die auf eine fiktionale Erzählung hinweist: Im Präsens werden Gedanken und Eindrücke diverser Zeugen von einem heterodiegetischen Erzähler wiedergegeben. Diese Passage legt einen Vergleich nahe, der auch auf der Homepage des Verlags angestellt wird, nämlich mit anderen Texten, die als nonfiction novels oder »documentary fiction«110 beschrieben werden können, wie etwa Truman Capotes In Cold Blood. Sie lassen sich lesen als Erzählungen realer Ereignisse mit Mitteln, die klassischerweise der Fiktion vorbehalten sind. Im Unterschied zu solchen Beispielen ist in HA! jedoch der überbordende Einsatz von Dokumenten als zusätzlicher Authentizitätsnachweis auffällig. Es finden sich beispielsweise immer wieder faksimilierte Schriftstücke aus der Hand Hubert Aquins. Das zentrale Beispiel ist sicherlich sein Abschiedsbrief, der dem Buch beigegeben ist – und zwar auf zwei Blättern in einem Umschlag. Der Brief lässt sich also (ebenso wie eine weitere Postkarte Hubert Aquins) aus dem Buch herausnehmen und imitiert so die materielle Gestalt des Briefes inklusive des farbigen Briefpapiers. Greift man erneut den Untertitel auf, so erscheint es, als würden in Sheppards Detektivgeschichte zum Selbstmord Aquins alle Dokumente, die zur Aufklärung des Sachverhalts beitragen könnten, akribisch geprüft und dem Leser direkt vorgelegt.
108 Sheppard (2003): HA! A Self-Murder Mystery. 109 Sheppard (2003): HA! A Self-Murder Mystery. 110 McGill-Queen’s Univ. Press »HA! A Self-Murder Mystery by Gordon Sheppard«.
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Abbildung 10: Faksimilierter Abschiedsbrief aus Sheppard (2003): HA! A Self-Murder Mystery
Dies kommentiert Sheppard in einem das Buch abschließenden Statement, das mit »Authorized comments« überschrieben ist: I was always aware that entering into Hubert Aquin’s private universe […] could be infernally dangerous. To what extent did I have the right to know his intimacies; and, more troubling still, the right to make them public? […] I cast the book in the form of an investigation because Hubert Aquin’s suicide is a self-murder mystery. Besides, I consider his suicide to be his last creative act, so in recounting the how and why of it I wanted to be true to his credo – which is that all novels are detective stories and should take their cue from Sherlock Holmes.111
111 Sheppard (2003): HA! A Self-Murder Mystery, S. 857.
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Dabei ist die narrativ-fiktionalisierende Darstellung des Selbstmords im ersten Kapitel gleichsam der Ausgangspunkt, von dem ab in Interviews versucht wird, dem bereits erzählten Sachverhalt näher zu kommen. Die Detailfülle und Intimität der Dokumente irritieren dabei, gerade weil es sich um einen ›realen Fall‹ handelt, bei dem sich die von Sheppard angesprochene Frage nach dem Recht, diese zu veröffentlichen, durchaus stellt. Insbesondere den abgedruckten und nachgebildeten Dokumenten kommt daher eine problematische Doppelstellung zu: Sie sind einerseits Ausweis von ›Echtheit‹, andererseits aber genau deshalb befremdlich, denn sie befinden sich in einem Ensemble, das, um erneut auf Sheppards Reflexion zurückzukommen, den realen Selbstmord eines Schriftstellers seinerseits in ein Werk verwandelt, das gleichsam unabhängig von den realen Begebenheiten zu existieren scheint – ein Kunstwerk eben. Die realen Dokumente werden so aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöst und erscheinen als bloße ›Anregungen‹, die in eine fiktionalisierende Darstellung eingebunden sind. Zusammenfassend lässt sich das Verhältnis, das zwischen Text und faksimilierten Dokumenten entstehen kann, als durchaus vielfältig beschreiben. Das Spiel mit der Fiktionalität wie es in Hoggs Confessions vorliegt, ist zugleich ein Spiel mit der spezifischen und materiellen Textualität der Vorlage, des Manuskripts. Der Herausgeber insistiert auf der implizierten Unglaubwürdigkeit des dargestellten Geschehens und streut Verweise auf Täuschungen und hoaxes ein; die peritextuelle Ausgestaltung der Confessions und das Faksimile aber betonen die Existenz des Manuskripts. Während Karten im Peritext also, wie oben dargestellt, auf vielfältige Weise die Verbindung von fiktiven und realen Welten modellieren und markieren können und sie dabei auch spielerisch in metafiktionale Verweiszusammenhänge einbinden können (Moers), so ist das Betonen der ›Echtheit‹ eines Manuskripts nicht auf die Welt ausgerichtet, sondern auf die Textualität; nicht die Wahrhaftigkeit des Dargestellten soll bezeugt werden, sondern die Wahrhaftigkeit der Darstellung selbst soll verbürgt werden – ob diese nun ihrerseits bereits Fiktion ist oder nicht. Dabei kann es, wie die Beispiele Wondratschek und Sheppard zeigen, zu weiteren Konfigurationen kommen, die nur auf den ersten Blick als Authentisierungsstrategien erscheinen (Wondratschek), oder aber zu solchen, die zwar von authentischem Material ausgehen, dabei aber die Grenzen von Fakt und Fiktion derart ausloten, dass Reales als eigenständiges Kunstwerk und damit der Fiktion zumindest ähnlich erscheint (Sheppard). Offenbar laden also gerade faksimilierte Dokumente zur Reflexion über den fiktionalen/faktualen Status ein, was nicht nur als eindeutige Markierung dieses Status oder gar als Täuschung des Lesers funktionalisiert werden kann, sondern vielmehr selbstreflexiv Fragen der Fiktionalität aufgreift und problematisiert. Mit Photographien wird im Folgenden eine dritte Möglichkeit der Markierung und Manipulation von Fiktionalität/Faktualität mittels piktorialer Peritexte diskutiert, die nach der Welt und der materiellen Gestalt des Textes vor allem eine dritte Konstante von Fiktion betrifft: das Figurenpersonal.
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Photographien Photographien zeichnen sich weniger durch eine institutionelle Praxis oder eine symbolische Verbindung als vielmehr durch den technischen Vorgang, der sie entstehen lässt, als vielleicht überzeugendes, jedenfalls aber suggestives Beweismittel für die Existenz eines Objekts aus. Eine Photographie kann Zweifel an dessen Existenz zerstreuen helfen: This production by automatic means has radically affected our psychology of the image. The objective nature of photography confers on it a quality of credibility absent from all other picture-making. In spite of any objections our critical spirit may offer, we are forced to accept as real the existence of the object reproduced […].112
Zwischen dem photographierten Objekt und der resultierenden Abbildung besteht eine – freilich vielfältig modifizier- und manipulierbare – kausale Verbindung, die besagt, dass das Objekt da gewesen sein muss,113 mithin in der realen Welt gewesen sein muss, um auf der Glasplatte, dem Film oder dem Bildsensor seine Spur zu hinterlassen. Eine Photographie einer fiktiven Figur, einer Figur also, die einer fiktiven Welt angehört, ist damit in letzter Konsequenz unmöglich,114 denn der technische Vorgang kann die ›ontologische Grenze‹ zwischen realer und fiktiver Welt nicht überbrücken, kein Licht aus der fiktiven Welt kann streng genommen eine Spur auf einem Negativ in der realen Welt hinterlassen: Photographs of fictional characters are rare in fiction for the obvious reason that being fictional the characters – no matter how much drawn from life – don’t actually exist; therefore, any photograph that purports to represent a fictional character must itself necessarily be fictional.115
Im Umkehrschluss wäre damit eine Photographie einer Figur zunächst ein ›Beweis‹ für ihre Existenz und folglich zumindest potentiell ein Indiz gegen die Fiktionalität der Darstellung, die diese Figur ›enthält‹. Freilich lassen sich fiktionale Verfahren denken,
112 Bazin (2005[1945]): »The Onthology of the Photographic Image«, S. 13. 113 Barthes stellt fest, dass sich bei einer Photographie, anders als bei anderen Darstellungen, nicht leugnen lasse, »que la chose a été là«; Barthes (1980): La chambre claire, S. 120. Während einer Zeichnung oder einem Gemälde (und es ließe sich ergänzen: einer Illustration) ein tatsächlicher Referent zu Grunde liegen kann, so ist dies bei der Photographie notwendigerweise der Fall: »J’appelle ›référent photographique‹ non pas la chose facultativement réelle à quoi renvoie une image ou un signe, mais la chose nécessairement réelle qui a été placée devant l’objectif«; Barthes (1980): La chambre claire, S. 120; Herv. i. O. 114 Möglich ist freilich die Photographie einer Person, die als fiktive Figur ›posiert‹. Die Fiktion ist in diesem Fall allerdings auf die Darstellung ›vor der Kamera‹ beschränkt. Zu denken wäre etwa an Photographien von Schauspielern in Film oder Theater, die eine fiktive Figur verkörpern. 115 Adams (2004): Light Writing, S. 2.
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die reale Personen – Personen, von denen es also Photographien gibt oder zumindest geben kann – ›verwenden‹, sie aber in fiktionale Geschichten einbinden. Dass die Möglichkeit eines photographischen Beweises die Literatur sehr früh interessierte, illustriert Gunning mit dem Beispiel eines Dramas aus dem Jahr 1859, in dem ein Mörder überführt wird, weil seine Tat von einer Kamera aufgezeichnet wurde. Der Photograph stellt fest: »’Tis true! the apparatus can’t lie!«116 Aber Gunning hält fest, dass dieser »truth claim« der Photographie tatsächlich ein »claim«, eine Behauptung ist (eine Beteuerung), die für die Photographie gemacht werden muss; sie selbst kann sie nicht aufstellen. Diese Beteuerung ist damit, wie jede andere, dem Verdacht ausgesetzt: »the truth claim is always a claim and lurking behind it is a suspicion of fakery, even if the default mode is belief.«117 Photographien ›in‹118 literarischen Texten lassen sich vergleichsweise früh in der Geschichte des Mediums Photographie finden,119 wobei sie in der Anfangsphase von der Mitte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts beinahe ausschließlich lyrischen Texten vorbehalten sind und nur zögerlich zur Illustration von Prosa verwendet werden.120 Bei der ›Wahrheitsbehauptung‹, die durch die Photographien wenigstens aufgerufen, wenn nicht aktiv aufgestellt wird, ist allerdings zu beachten, was genau die Photo
116 Zit. n. Gunning (2004): »What’s the Point of an Index? or, Faking Photographs«, S. 42. 117 Gunning (2004): »What’s the Point of an Index? or, Faking Photographs«, S. 42. 118 Die hier zugrunde gelegte Definition von Paratext erlaubt es, Photographien als Paratexte zu begreifen, die an diversen Orten und auf diverse Arten ›im Umfeld‹ von Texten abgebildet werden. Hillenbach unterscheidet hingegen: »Zunächst ist nicht uninteressant, ob sich die Fotografie auf story- oder discourse-Ebene oder auf der paratextuellen Ebene befindet«; Hillenbach (2012): Literatur und Fotografie, S. 95 f. Die Unterscheidung wird nicht näher ausgeführt und ist durch die EbenenMischung unklar (es ist letztlich auch unklar, ob hier eine zwei- oder eine dreiwertige Unterscheidung eingeführt wird). Der Hinweis, dass paratextuelle Photographien in späteren Ausgaben fehlen können, sowie der weitere Verlauf der Passage deuten darauf hin, dass die Unterscheidung einfach meint, ob Photographien im Textteil oder davor, respektive danach, abgedruckt sind (Autorenportraits, Umschlagbilder etc.). Die unten genannten Beispiele, insbesondere Woolf und Doyle, belegen freilich, dass auch im Textteil selbst platzierte Photographien in späteren Ausgaben unterschlagen werden können. Davon vollständig unabhängig ist die Frage, ob eine abgebildete Photographie in der histoire thematisiert wird oder nicht. 119 Es soll an dieser Stelle nicht um das ebenfalls im Paratext häufig zu findende Autorenportrait gehen, das bei neueren Texten häufig in Form einer Photographie in den Paratext aufgenommen ist. Spiele hiermit, die mitunter auch den Fiktionsstatus betreffen, lassen sich freilich denken und finden sich in Ansätzen diskutiert etwa in Wolfs Analyse von Bradburys Mensonge; vgl. Wolf (1999): »Framing Fiction«, S. 114 f. Ebensowenig soll es um ›erfundene‹ Photographien gehen, die lediglich beschrieben, aber nicht abgebildet werden. Diese ließen sich als ›fiktive Photographien‹ bezeichnen. Vgl. zur Geschichte (aber unter Verwendung des irreführenden Begriffs »fictional photographs«, der freilich durch die abweichende Verwendung des Begriffs fiction und seiner Derivate im Englischen zu erklären ist) Barrett (1997): Frames of Reference. 120 Vgl. mit Beispielen für photographische Illustrationen in Gedichtbänden Naef (1980): »From Illusion to Truth and Back Again«, S. 33.
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graphien abbilden, denn damit diese zu einer (wie widersprüchlich auch immer ge arteten) Behauptung der Wahrheit des im Text Dargestellten werden können, müssen sie für diese Darstellung ›essentielle‹ Entitäten abbilden und nicht etwa nur Bereiche aus dem ›Hintergrund‹ der fiktiven Welt, die mit der realen durchaus korrespondieren können. So sind etwa die Photographien in Georges Rodenbachs Bruges-la-morte, einem der frühesten Romane, dessen Originalausgabe Photographien enthält, mit keiner Faktualitätsbehauptung verbunden. Der symbolistische Roman, der 1892 erschien, erzählt die Geschichte von Hugues Viane, einem Witwer, der in Brügge lebt und der in seiner obsessiven Trauer um die verstorbene Ehefrau der als melancholisch beschriebenen Stadt immer ähnlicher wird. Ähnlichkeit ist denn auch eines der zentralen Themen des Textes: Die Stimmung der Stadt ähnelt dem Protagonisten, der wiederum eine Frau, Jane, trifft, die seiner Gattin verblüffend ähnlich sieht. In der sich entwickelnden Beziehung zwischen den beiden wechseln sich Momente der Ähnlichkeit und der Differenz zwischen seiner Frau und Jane ab, bis Hugues seine neue Geliebte schließlich mit dem Haarzopf der Verstorbenen erwürgt und die beiden so im Tod endgültig ›gleich macht‹. Der Roman enthält 35 Abbildungen, die allesamt auf Photographien beruhen und im ›Avertissement‹ als »Similigravures par Ch.-G. Petit et Cie, d’après les clichés des maisons Lévy et Neurdein« angepriesen werden. Sie zeigen in der großen Mehrheit Ansichten der Stadt Brügge, also den Schauplatz des Geschehens. Das ›Avertissement‹ unterstreicht jedoch, dass die Stadt nicht einfach nur Hintergrund der Handlung sei: Dans cette étude passionnelle, nous avons voulu aussi et principalement évoquer une Ville, la Ville comme un personnage essentiel, associé aux états d’âme, qui conseille, dissuade, détermine à agir. […] Voilà ce que nous avons souhaité de suggérer: la Ville orientant une action; ses paysages urbains, non plus seulement des toiles de fond […], mais liés à l’événement même du livre.121
Die Photographien sind daher für den Text nicht nur beiläufige Illustration, sondern vielmehr zentraler Bestandteil: C’est pourquoi il importe, puisque ces décors de Bruges collaborent aux péripéties, de les reproduire également ici, intercalés entre les pages: quais, rues désertes, vieilles demeures, canaux, béguinage, églises, orfèvrerie du culte, beffroi […], afin que ceux qui nous liront subissent aussi la présence et l’influence de la Ville […], sentent à leur tour l’ombre des hautes tours allongée sur le texte.122
Die Photographien der Stadt sind für die Stimmung und die Wirkung des Textes essentiell, aber sie bilden an keiner Stelle einen identifizierbaren Moment der Handlung oder gar einen der Protagonisten ab. Obwohl an einer Stelle explizit erwähnt ist, dass
121 Rodenbach (1892): Bruges-la-morte, S. i f. 122 Rodenbach (1892): Bruges-la-morte, S. ii.
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sich unter Hugues Devotionalien seiner Frau eine Photographie befindet:123 Der Leser bekommt sie nicht zu Gesicht. Der Text bestätigt einen Befund, den jüngere Forschungen zu Photographien in literarischen Texten festhalten: »early photographs within novels were almost always illustrations of picturesque places or romantic atmosphere rather than of characters«124. Dass zudem das Aufkommen der Photographie das Verhältnis von fiktionaler Literatur und Illustration verändert,125 lässt sich an der zweiten Auflage des Textes aus dem Jahr 1904 ablesen.126 Dort ist die Zahl der abgebildeten Photographien deutlich reduziert, dafür aber sind Zeichnungen eingefügt, die nun nicht nur die Stadt, sondern auch die Protagonisten abbilden. Die zweite Ausgabe befindet sich also näher an Einschätzungen der Forschung, wonach Photographien in fiktionalen Texten als ›unpassend‹ empfunden wurden: The era of the half-tone, beginning around 1885 for magazines and about a decade later for books, saw the emergence of ›categories of appropriateness‹ for relations between images and texts: fictional literature came to be illustrated with drawings, and factual literature such as news and travel accounts, with photographs.127
123 Vgl. Rodenbach (1892): Bruges-la-morte, S. 88. 124 Adams (2008): »Photographs on the Walls of the House of Fiction«, S. 176. Ein weiteres Beispiel, das diesen Befund stützt, ist Edward Bensons The Babe, B. A., ein Roman, der ebenfalls ausschließlich Stadtansichten, in diesem Fall von Cambridge, zeigt; vgl. Benson (1897): The Babe, B. A. Ähnlich verhält es sich mit den mit Photographien angereicherten Editionen von Hawthornes The Marble Faun, einem Text, der bereits seit den 1860er Jahren mit eingelegten Photographien erschien und 1889 mit reproduzierten Photographien römischer Monumente erneut aufgelegt wurde. Die einzige Photographie, die eine menschliche Figur, eine Römerin, zeigt, ist gerade nicht die Abbildung einer konkreten Figur, sondern die eines Typs: »Since ›A Roman Peasant‹ is the only photograph of the fifty in the Houghton edition that clearly depicts a person, it represents by default all native Romans. Text and image cooperate in encouraging us to view this woman as an abstraction, a ›typical native‹ rather than an individual«; Sweet (1996): »Photography and the Museum of Rome«, S. 33. Ein weiteres Beispiel sind die Photographien in der sogenannten »New York Edition« der Novels and Tales of Henry James. Jeden der 24 Bände ziert im Frontispiz je eine von Alvin Longdon Coburn angefertigte Photographie, die in enger Abstimmung mit James entstanden sind; vgl. Coburns Bericht: Coburn (1978): »Illustrating Henry James«. Sie alle bleiben aber – auch wenn sie reale Orte zeigen (darunter das Haus Henry James’, das in The Awkward Age durch die Bezeichnung »Mr. Longdon’s« zum Haus eines der Protagonisten wird; vgl. James (1908): »The Awkward Age«) – »small pictures of our ›set‹ stage with the actors left out«; James (1909): »The Golden Bowl«, S. xi. Da die Photographien zudem nicht in den jeweiligen Originalausgaben der Texte enthalten sind, werden sie hier nicht weiter behandelt; vgl. zu einer übergreifenden Darstellung und Interpretation der Photographien Higgins (1982): »Photographic Aperture«. 125 Vgl. Adams (2008): »Photographs on the Walls of the House of Fiction«, S. 176. 126 Rodenbach (1904): Bruges-la-morte. 127 Sweet (1996): »Photography and the Museum of Rome«, S. 34.
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Einige der Illustrationen scheinen geradezu die Photographien zu ersetzen, indem sie etwa einen fast identischen Hintergrund wie die Photographien der Erstausgabe (Abbildung 11) zeigen, davor aber eine fiktive Figur (Abbildung 12). Was aus ästhetischen Gesichtspunkten eher kein Gewinn ist, mag auf einen zentralen Mangel der Photographien hindeuten: Diese können per definitionem keine erfundenen Figuren abbilden. Allenfalls Texte, die auf ein Spiel mit den Grenzen der fiktiven Welt zielen, dürften behaupten, dass eine Photographie realer Menschen in Wirklichkeit ein Abbild der fiktiven Protagonisten darstellt. Rodenbachs Roman, der diese Gattungsbezeichnung offen trägt, hat es nicht auf dieses Spiel abgesehen und kann daher in den Photographien keine Protagonisten zeigen. Texte, die auf ein solches Spiel hin angelegt sind, finden sich dennoch vergleichsweise früh – und es verwundert, dass ausgerechnet ein in anderer Hinsicht durchaus nicht unbekannter Text in diesem Zusammenhang kaum verhandelt wird: Arthur Conan Doyles The Lost World.128 Der Text enthält sowohl in der Fortsetzungsfassung, die im Strand Magazine erschien,129 als auch in der ersten Buchfassung von 1912130 eine Photographie der Protagonisten:131 Prof. Summerlee, Prof. G. E. Challenger, Lord John Roxton und der Journalist und Erzähler E. D. Malone. Diese machen sich auf den Weg, um G. E. Challengers These zu bestätigen, nach der es im Südamerikanischen Urwald ein Plateau gebe, auf dem abgeschieden vom Rest der Welt Dinosaurier überlebt hätten. Die Beweiskraft von Photographien wird in dieser Erzählung immer wieder thematisiert. So hat Prof. Challenger von seiner ersten Expedition zwar Photographien mitgebracht – diese aber sind in einem sehr schlechten Zustand: »The unsatisfactory appearance of it is due to the fact,« said he, »that on descending the river the boat was upset and the case which contained the undeveloped films was broken, with disastrous results. Nearly all of them were totally ruined – an irreparable loss. This is one of the few which partially escaped. This explanation of deficiencies or abnormalities you will kindly accept. There
128 »Although such writers of the period as John Ruskin, Samuel Butler, Arthur Conan Doyle, Victor Hugo, Émile Zola, and Lewis Carroll, to name only a few, were amateur photographers, they chose not to include photographs within their fiction«; Adams (2008): »Photographs on the Walls of the House of Fiction«, S. 177. Dies ist in Bezug auf Doyle offensichtlich unrichtig. Eine Erklärung hierfür ist vermutlich, dass spätere Ausgaben die Photographie der Protagonisten nicht reproduzieren, beziehungsweise diese in den konsultierten Ausgaben fehlt – so etwa im Exemplar der Erstausgabe der British Library, bei dem die Frontispiz-Seite mit der Photographie nicht mehr vorhanden ist. Doyle ist jedoch tatsächlich eine der wenigen Ausnahmen und generell lässt sich das Bild, das etwa auch Rabb zeichnet, aufrechterhalten: Die große Mehrheit der Autoren der angesprochenen Periode »resisted using any photographs – whether taken by themselves or anyone else – to illustrate their imaginative work«; Rabb (1995): Literature & Photography, S. xl. 129 Doyle (1912): »The Lost World«. 130 Doyle (1912): The Lost World. 131 Weitere Ausgaben differieren teilweise stark in der Illustration und der Verwendung von Photographien; vgl. Stiegler (2014): Spuren, Elfen und andere Erscheinungen, S. 127 und S. 326, Anm. 2.
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Abbildung 11: Photographie aus Rodenbach (1982): Bruges-la-morte
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Abbildung 12: Illustration aus Rodenbach (1904[1982]): Bruges-la-morte
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Abbildung 13: Photographie aus Doyle (1912): The Lost World was talk of faking. I am not in a mood to argue such a point.« / The photograph was certainly very off-coloured. An unkind critic might easily have misinterpreted that dim surface. It was a dull grey landscape, and as I gradually deciphered the details of it I realized that it represented a long and enormously high line of cliffs […].132
Diese Photographie zeigt also – wenn auch unscharf – genau jenes Plateau, auf dem die Dinosaurier leben sollen. Dem Leser wird von dem Plateau ebenfalls eine Photographie (beziehungsweise eine Photomontage) gezeigt, die mit »photographed by E. D. Malone« unterschrieben ist. Die Expeditionsgruppe macht sich also auf den Weg, um ›endgültige‹ Beweise beizubringen,133 und dies gelingt ihr letztendlich, da sie ein lebendiges Exemplar eines Flugsauriers mit nach London zurück nimmt (das allerdings bei der Vorstellung vor dem Publikum entkommt und somit als verschollen gelten muss). Dazwischen liegt freilich der Bericht von ihren Abenteuern aus der Feder des Journalisten E. D. Malone, der seine Erlebnisse an seine Zeitung schickt. Vor diesem Hintergrund ist The Lost World auf vielfältige Weise mit der zeitgenössischen Entwicklung der Photogra-
132 Doyle (1912): The Lost World, S. 55. 133 Auch ein Knochenfund von Challengers erster Expedition wird als solcher von der ›wissenschaftlichen Community‹ nicht akzeptiert – bezeichnenderweise mit folgender Begründung: »If you are clever and know your business you can fake a bone as easily as you can a photograph«; Doyle (1912): The Lost World, S. 65.
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Abbildung 14: Photographie aus Doyle (1912): The Lost World
phie verknüpft, wird doch einerseits die Möglichkeit der Fälschung gegenüber dem wissenschaftlichen Beweisanspruch diskutiert und handelt es sich andererseits um den Bericht eines Journalisten, der im Kontext des beginnenden Photojournalismus steht. Die zentrale Markierung der (vermeintlichen) Authentizität des Berichts ist zunächst die Abbildung der Protagonisten. Wenn sie real sind, so die Präsupposition, wird es auch der Bericht sein. Dieser ist darüber hinaus noch mit einem Vorwort versehen, in dem von einer möglichen gerichtlichen Auseinandersetzung berichtet wird: Mr. E. D. Malone desires to state that both the injunction for restraint and the libel action have been withdrawn unreservedly by Professor G. E. Challenger, who, being satisfied that no criticism or comment in this book is meant in an offensive spirit, has guaranteed that he will place no impediment to its publication or circulation.134
Auch hier wird also einerseits auf rechtliche Auseinandersetzungen verwiesen (der exzentrische Professor ist ein notorischer Feind der Presse) und zugleich die Faktualität des Textes suggeriert: Denn eine juristische Auseinandersetzung kann nur eine reale Person führen.
134 Doyle (1912): The Lost World.
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Wie steht es nun aber mit der ›Beweiskraft‹ der Photographie? Sie ist sicherlich einerseits mit einem ›truth claim‹ verbunden, andererseits aber findet sie sich hier in einem Kontext wieder, der reichlich Fiktivitätssignale (die angebliche Existenz von Dinosauriern)135 liefert. Insbesondere trägt der Text den Namen des realen A utors Arthur Conan Doyle auf dem Titelblatt. Dies ist nicht nur ein Widerspruch zur angeblichen Autorschaft E. D. Malones, sondern auch ein direkter Hinweis auf Fiktion, war Doyle doch 1912 längst bekannt – vor allem als Autor der Sherlock Holmes-Romane und -Erzählungen. Es ist also recht durchsichtig, dass hier zwar eine Photographie reale Personen zeigt (anderes ist gar nicht möglich), dass diese aber als P rotagonisten ›posieren‹: Hinter der ›Maske‹ des Professor Challenger ist Doyle selbst abgebildet, was die Photographie zusätzlich zu einer versteckten Inszenierung des Autors macht. In der Photomontage posiert darüber hinaus der Illustrator Patrick Forbes gleich zweifach: als Lord John Roxton und als Prof. Summerlee; der Photograph W. H. Ransford stellt den Erzähler-Protagonisten E. D. Malone dar.136 Insbesondere werden die abgebildeten Personen erst durch die Verbindung mit dem Text der Bildunterschrift als eben diese Protagonisten identifiziert. Der ›truth claim‹ der Photographie ist also in diesem Fall eine Behauptung, die erst in der Verbindung von Text und Bild aufgestellt werden kann – und allein damit ist sie potentiell von der Fiktion des Textes ›infiziert‹. Der »Hoax«137, den der Text darstellt, wird seinerseits allerdings erst durch die Photographien zu einem solchen. Es ist im Nachhinein betrachtet bezeichnend, dass ausgerechnet Arthur Conan Doyle m ittels der Photographie ein Spiel mit dem Leser eingeht, das die Wahrheit der Photographie und dessen, was sie darstellt (beziehungsweise: behauptet darzu stellen), betrifft. Wenig später wird Doyle einen nicht geringen Teil seiner Reputation in einem ähnlichen Fall verspielen, diesmal, weil er selbst sich von Photographien täuschen lässt. Die Rede ist von den sogenannten Cottingley Fairies. Mit diesem Begriff werden fünf Photographien bezeichnet, die ab 1917 für Aufsehen gesorgt haben, da sie angeblich Feen und Gnome zeigen. Doyle, inzwischen von spiritistischen Lehren überzeugt, stellt die Photographien und die beiden Mädchen, die sie angefertigt haben sollen, in seinem Bericht The Coming of the Fairies vor und thematisiert wiederholt die Möglichkeit der Manipulation der Bilder. Diese seien »either the most elaborate and ingenious hoax […] or else an event in human history which may […] have been epoch-making in its character.«138 Doyle versucht aufwendig zu zeigen, welchen
135 Dies wird freilich innerfiktional durchgehend thematisiert, und die Unwahrscheinlichkeit, dass Dinosaurier überlebt haben, ist der zentrale Gegenstand der Auseinandersetzung unter den Wissenschaftlern und Journalisten. 136 Vgl. Stiegler (2014): Spuren, Elfen und andere Erscheinungen, S. 127–129. 137 Stiegler (2014): Spuren, Elfen und andere Erscheinungen, S. 134. 138 Doyle (1922): The Coming of the Fairies, S. 9.
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Überprüfungsmethoden die Photographien unterzogen wurden,139 stellt dem Leser aber ein Urteil ostentativ frei: The diligent reader is in almost as good a position as I am to form a judgement upon the authenticity of the pictures. This narrative is not a special plea for that authenticity, but is simply a collection of facts the inferences from which may be accepted or rejected as the reader may think fit.140
Dennoch ist der Bericht deutlich darauf angelegt, Zweifel zu zerstreuen, und Doyle bemüht sich ganz offensichtlich, mögliche Einwände vorwegzunehmen. Dabei geht es neben Möglichkeiten der Doppelbelichtung immer wieder auch um die Frage, was Photographien überhaupt zeigen können. Dazu lässt Doyle den Theosophen E. L. Gardner zu Wort kommen: »First, it must be clearly understood that all that can be photographed must be physical. Nothing in the subtler order could in the nature of things affect the sensitive plate. […] But well within our physical octave there are degrees of density that elude our vision […].«141
Diese Wesen und Dinge mit geringer ›Dichte‹ können, so die These, nur von ›sensiblen‹ Menschen und insbesondere Kindern gesehen werden, aber dennoch auf der photographischen Platte eine Spur hinterlassen. Doyle argumentiert, trotz der Versicherung, dass ein Urteil letztlich dem Leser überlassen bleibe, für die Echtheit der Photographien. Der hoax hinter diesen wurde schließlich erst durch die Aussage eines der beiden beteiligten Mädchen endgültig aufgeklärt – in den 1980er Jahren. Doyles Entwicklung hin zum Spiritismus ist, wie Stiegler überzeugend darlegt,142 aufs Engste mit dem Medium der Photographie verbunden. The Lost World erscheint hier gerade in der Rückschau als erstes Experiment und Beispiel dafür, wie sich mittels der Photographie die Grenzen von Fakt und Fiktion ausloten und gegebenenfalls überschreiten lassen. Die Faktualitätsmarkierung durch die Photographien ist hier allerdings noch auf ein Spiel mit dem Leser angelegt, der die Täuschung schließlich als ›doppelte‹ erkennt. In Doyles Texten aus dem Umfeld des Spiritismus stehen die Photographien dagegen als Beweis für die Existenz übernatürlicher Phänomene. Während Doyle also ein doppelt interessanter Fall ist, einmal, weil er sehr früh eine Photographie fiktiver Figuren in einen Paratext integrierte und zweitens, weil er an zeitgenössischen Diskussionen über den Wahrheitswert umstrittener Photographien beteiligt war, sind in der Folgezeit wenige derartige Beispiele zu finden. Photographien finden sich kaum in fiktionalen Texten, sondern allenfalls in Texten, die auf
139 »On the photographic side every objection has been considered and adequately met«; Doyle (1922): The Coming of the Fairies, S. 28. 140 Doyle (1922): The Coming of the Fairies, S. 3. 141 Doyle (1922): The Coming of the Fairies, S. 122. 142 Vgl. Stiegler (2014): Spuren, Elfen und andere Erscheinungen.
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die eine oder andere Art an der Grenze zur (Auto-)Biographie zu verorten sind.143 Im Jahr 1928 sind gleich zwei solcher Beispiele erschienen: Virginia Woolfs Orlando und André Bretons Nadja. Der letztere dieser beiden Texte stellt – obwohl im Paratext der Neuausgabe von 1963 als »roman« bezeichnet – immer wieder seine Faktualität aus, etwa wenn es um die Erkennbarkeit von realen Personen geht: Quelqu’un suggérait à un auteur de ma connaissance, a propos d’un ouvrage de lui qui allait paraître et dont l’héroïne pouvait trop bien être reconnue, de changer au moins encore la couleur de ses cheveux. […] Eh bien, je ne trouve pas cela enfantin, je trouve cela scandaleux. […] Je persiste à réclamer les noms, à ne m’intéresser qu’aux livres qu’on laisse battants comme des portes, et desquels on n’a pas à chercher la clé.144
In den Text, der die Begegnung des Erzählers André mit der titelgebenden Frau nachzeichnet, sind diverse Photographien integriert: von bekannten literarischen Persönlichkeiten, die im Text erwähnt werden, von Gebäuden, die auf die eine oder andere Art eine Rolle spielen, und, gegen Ende, Ablichtungen der Zeichnungen von Nadja. Sie sind damit den faksimilierten Dokumenten, wie sie im vorigen Abschnitt beschrieben wurden, durchaus vergleichbar, denn auch sie setzen die Existenz der Dokumente voraus. Während die Photographien von Gebäuden sich vielleicht noch unter Bretons Forderung subsumieren lassen, wonach Photographien Beschreibungen ersetzen könnten,145 so ist dies bei den übrigen Photographien jedenfalls nicht ausschließlich der Fall. Sie sind zugleich Markierungen, Spuren eines durch sie als tatsächlich markierten Geschehens: »The photographs included are the author’s proof, as it were, that his narrative is truth, not story«146. Die Zeichnungen Nadjas, die im Text kommentiert werden, sind durch die photographischen Abbildungen als reale Zeichnungen ausgewiesen – von wem sie stammen, können allerdings wieder nur der Text beziehungsweise die Bildunterschriften ›behaupten‹. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass im gesamten Text keine Photographie Nadjas zu finden ist – diejenige auf S. 108, die sich, der Bildunterschrift nach, auf sie beziehen müsste, zeigt eine Montage von in vier übereinanderliegenden Streifen angeordneten Augenpaaren, die sich nicht eindeutig einer Person zuordnen
143 Vgl. zur Verwendung von Photographien in autobiographischen Texten Adams (2004): Light Writing. 144 Breton (1963[1928]): Nadja, S. 17. 145 »Et les descriptions! Rien n’est comparable au néant de celles-ci; ce n’est que superpositions d’images de catalogue, l’auteur en prend de plus en plus à son aise, il saisit l’occasion de me glisser ses cartes postales, il cherche à me faire tomber d’accord avec lui sur des lieux communs«; Breton (1962 [1924]): »Manifeste du surréalisme«, S. 19. Im Vorwort zur Neuausgabe von Nadja heißt es ganz explizit: »l’abondante illustration photographique a pour objet d’éliminer toute description – celle-ci frappée d’inanité dans le Manifeste du surréalisme«; Breton (1963[1928]): Nadja, S. 8. 146 Meltzer (1987): Salomé and the Dance of Writing: Portraits of Mimesis in Literature, S. 125.
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lassen. Dieses Bild ist zudem erst der Neuauflage aus dem Jahr 1963 hinzugefügt, es findet sich nicht in der Ausgabe von 1928. Auch hier kann eine Identifikation zwischen Protagonistin und abgelichteter Person allenfalls über die Bildunterschrift stattfinden. Diese wiederholt wie in allen Fällen in diesem Text verbatim eine Passage daraus und wird zu ihm in Beziehung gesetzt.147 Der Text liefert also beständig photographische ›Beweise‹ für das Geschehen, das er schildert, untergräbt dieses Prinzip aber ausgerechnet an der Stelle, an der es um die Protagonistin geht. Damit bleibt – trotz allem Insistieren auf der Wahrheit und Durchsichtigkeit des Textes – erneut offen, ob diese Figur, der zentrale ›Motor‹ des Textes, der die Liebesaffäre zwischen dem Erzähler und Nadja beschreibt, real ist oder nur in der Phantasie des Erzähler-Autors existiert. Geradezu in umgekehrter Richtung verläuft der Einsatz von Photographien in Virgina Woolfs Orlando. Dieser Text ist im Untertitel als »Biography« markiert und behauptet, das Leben Orlandos zu schildern. Zugleich ist die Biographie offenkundig eine unmögliche: Das Leben Orlandos erstreckt sich vom 16. Jahrhundert bis ins Jahr 1928 und dennoch ist er am Ende der Schilderung seines Lebens gerade einmal 36 Jahre alt. Zugleich ist ›Schilderung seines Lebens‹ nicht ganz treffend, denn Orlando wird im Laufe des langen ›Lebens‹ vom Mann zur Frau. Die Biographie ist also sichtlich nicht eine faktuale, sondern eine fiktionale Biographie, die sich immer wieder über biographische Konventionen mokiert und wiederholt ironisch die Abwesenheit gesicherter Dokumente für bestimmte Lebensphasen Orlandos beklagt.148 Dazu liefert der Text (neben einer weiteren Photographie und vier abgebildeten Gemälden) insgesamt drei Photographien aus unterschiedlichen ›Lebensphasen‹ Orlandos. Die Bilder zeigen jedoch (selbstverständlich) eine andere, reale Person: Vita Sackville-West, der das Buch gewidmet ist und die in diversen Details als ›Vorbild‹ für Orlando diente.149 Anders als bei Nadja behaupten hier die Bildunterschriften, dass der/die Dargestellte Orlando sei, während sich für Eingeweihte eindeutig Vita Sackville-West auf den Photographien erkennen lässt. Woolfs Verfahren »serves to call into question their [i. e. the images] factuality and the overall stability of the photographic subject/object«150:
147 Walter Benjamin erwähnt dieses Verfahren und stellt es in den Kontext der Trivialliteratur: »An solchen Stellen greift bei Breton auf sehr merkwürdige Weise die Photographie ein. Sie macht die Straßen, Tore, Plätze der Stadt zu Illustrationen eines Kolportageromans, zapft diesen jahrhundertealten Architekturen ihre banale Evidenz ab, um sie mit allerursprünglichster Intensität dem dargestellten Geschehen zuzuwenden, auf das genau wie in alten Dienstmädchenbüchern wortgetreue Zitate mit Seitenzahlen verweisen«; Benjamin (2007[1929]): »Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz«, S. 301. 148 Vgl. Woolf (1928): Orlando. A Biography, S. 62. 149 Vgl. Wussow (1994): »Virginia Woolf and the Problematic Nature of the Photographic Image«. 150 Wussow (1994): »Virginia Woolf and the Problematic Nature of the Photographic Image«, S. 2.
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She undermines the supposed faithfulness of a biography toward its subject by presenting false photographic evidence. […] The caption beneath a photo of Sackville-West […] reads, »Orlando on her return to England« […]. Woolf asks the reader to identify Sackville-West as Orlando and accept the photograph as evidence of Orlando’s existence. Although we may recognize Sackville-West in the photograph, we must simultaneously perceive her as Orlando. The difficulty in reading the image is similar to the problems presented by Orlando’s androgyny and agelessness. The reader may wish to comply with Woolf’s captions and read the photographs as representing Orlando. There remains however, a disconcerting sensation that Woolf’s text trifles with the evidence and the reader.151
Dass Sackville-West zugleich Orlando ist und nicht mit ihm/ihr identisch sein kann, illustriert die zugrunde liegende Problematisierung biographischer Verfahren: »The truth and nothing but the truth«152 soll der Text liefern und ist doch zugleich manifest als Schilderung einer unmöglichen Biographie zu erkennen. Erst in dem ›Da zwischen‹153 zwischen Biographie und fiktionalem Text und zwischen den Photo graphien von Vita Sackville-West und der Behauptung, diese zeigten Orlando, stellt sich eine der Bedeutungsdimensionen des Textes als Kritik an den Unzulänglichkeiten konventioneller biographischer Verfahren ein, die nicht in der Lage seien, die »great variety of selves«154, die sich in einer Person verbergen, darzustellen. Die Photographien sind hier in ihrer Ambivalenz also zugleich Markierungen des Realitätsbezugs und der für die Biographie notwendigen Abweichung von einer immer nur vermeintlichen und stets vereinfachenden ›Realität‹. Dies wird nicht zuletzt im Vorwort von Orlando deutlich, in dem Dank an literarische Vorbilder ausgesprochen wird – unter anderem an Defoe und Sterne, die ja wesentlich durch ›fiktionale (Auto-)Biographien‹ bekannt geworden sind. Orlando reiht sich also ein in eine Genealogie fiktionaler Texte und verweist durch die Photographien auf den Bezug zur Realität,155 der allerdings stark vermittelt und keineswegs der eines faktualen Textes ist. Orlandos Lebensgeschichte ist eine Fiktion – eine Fiktion aber, die durchaus Parallelen zum Leben Sackville-Wests aufweist,156 mit dem sie aber gleichwohl nicht identisch ist. Darauf weisen
151 Wussow (1994): »Virginia Woolf and the Problematic Nature of the Photographic Image«, S. 2 f. 152 Woolf (1928): Orlando. A Biography, S. 123. 153 »Woolf insists that the meaning of modern biography exists in the space ›betwixt and between‹ fact and fiction«; Aleksiuk (2000): »›A Thousand Angles‹: Photographic Irony in the Work of Julia Margaret Cameron and Virginia Woolf«, S. 127. 154 Woolf (1928): Orlando. A Biography, S. 278. 155 Dass dies ein Verweis ist und nicht einfach ein Realitätsbezug der Photographien unterstellt wird, erschließt sich ganz konkret auch aus dem zentralen Anachronismus, der darin besteht, dass angebliche Photographien einer Figur abgebildet werden, die jedoch vorgeben, lange vor der Erfindung der Photographie entstanden zu sein; vgl. Flesher (1997): »Picturing the Truth in Fiction«, S. 43. 156 Wussow bezeichnet dieses Verfahren, in dem eine ›verkleidete‹ Biographie geliefert wird, als »carnivalesque« und betont damit sowohl den Verkleidungscharakter der Photographien als auch den Aspekt der Travestie, der Orlando als Travestie einer konventionellen Biographie erscheinen lässt; Wussow (1997): »Travesties of Excellence«, S. 55.
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die Photographien und der ihnen inhärente Widerspruch zwischen photographischem Objekt und der im Text geschilderten Figur hin. Allen bisher erwähnten Kombinationen von Text und photographischem Bild ist gemein, dass die Photographien sich als dem Text beigestellt interpretieren lassen (in vielen Fällen gibt es Ausgaben, die auf die Reproduktion der Photographien verzichten). Zwar stellt sich grundsätzlich die Frage, ob sie sich vom Text ablösen lassen (sowohl bei Orlando als auch bei Nadja gingen dadurch Bedeutungsdimensionen verloren), dies jedoch widerspricht keineswegs einer Beschreibung, die sie in ein ›para-artiges‹ Verhältnis zu einem Text stellt, denn dieses ist gerade durch das ›Ablöse problem‹ definiert (siehe oben S. 28). Spätestens seit der Mitte des 20. Jahrhunderts gibt es jedoch Versuche, die beiden Medien schon rein quantitativ gleichrangig zu verbinden. Ein zentraler Vertreter solcher Versuche, der in der Tat mit jeweils vollem Recht Schriftsteller und Photograph genannt werden kann, ist Wright Morris. In The Home Place (1948) ist – bis auf eine Ausnahme – jeder Textseite eine Photographie gegenübergestellt. Text und Photographie halten sich also bereits in formaler Hinsicht die Waage. Das Buch (an dieser Stelle lässt sich nicht länger vermeintlich neutral von ›der Text‹ sprechen) wirft damit für die vorliegende Untersuchung auch die Frage auf, ob sich die Photographien hier weiterhin als Paratext bezeichnen lassen, sind sie doch integraler Bestandteil des Werkes. Mit gleichem Recht könnte man schließlich den Text als Paratext zu den Photographien bezeichnen. Beide Beschreibungen treffen jedoch nicht das zentrale Novum des Werkes, das genau darin besteht, dass die beiden Elemente gleichrangig sind und von der einen Seite aus betrachtet die jeweils andere als Beiwerk erscheint. Als selbst schon liminales Phänomen in dieser Hinsicht soll The Home Place hier dennoch zumindest kurz diskutiert werden, denn gerade in der Situation, in der Photographie und literarischer Text ebenbürtig sind, lassen sich die Spannungen zwischen den beiden Medien ausloten. Die in The Home Place abgebildeten Photographien sind zwischen Mai und Juni 1947 in Nebraska entstanden, so die abschließende »Note on the Photographs«. Schon ihre Reproduktion aber wird als »compromise« bezeichnet, nämlich zwischen der Originalgröße der Drucke und dem »novel-size format of the book«. Nicht allein die veränderte Größe aber ist ausschlaggebend, sondern auch die Integration der Photographien in das Buch: Sie sind in vielen Fällen ohne weißen Rand (ohne Rahmen also), seitenfüllend abgedruckt und verfügen über keinerlei Beschriftung. Dies ist insofern ein Alleinstellungsmerkmal, als sämtlichen der bisher besprochenen Photographien Bildunterschriften (captions) beigeordnet waren. Der Status der Photographien wird dadurch unsicher: By releasing these photographs from definition through language and from closure through framing, [Morris] makes them problematic, without a fixed meaning or stabilized relation to the text.157
157 Nye (1988): »›Negative Capability‹ in Wright Morris’ ›The Home Place‹«, S. 164.
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Die Photographien zeigen in ihrer großen Mehrheit Objekte, Gebäude und Strukturen eines bäuerlich-armen Nebraska. Nur in ganz wenigen Fällen sind Menschen auf den Photographien zu sehen. Von den sieben Photographien, in denen Menschen abgebildet sind, sind wiederum drei eigentlich Photographien von Objekten, sie zeigen nämlich ihrerseits Portraitphotographien, die aber in ihrem Objektstatus zu erkennen sind durch die Rahmung, die ebenfalls abgebildet ist. Nur vier Photographien zeigen einen (sehr wahrscheinlich stets denselben) älteren Mann, dessen Gesicht jedoch auf keinem der Bilder zu erkennen ist. Diese vier Bilder sollen im Folgenden etwas genauer untersucht werden und dies insbesondere in ihrem Verhältnis zum umgebenden Text.158 Das erste (es ist das erste Bild des Buches) zeigt den Mann in einer Tür stehend und mit einem Gummischlauch hantierend. Die ins Gesicht gezogene Schirmmütze und der Schlagschatten verdunkeln seine Züge. Die dokumentarische Photographie wird im Text nicht als Photographie aufgegriffen, aber die Verbindung wird dennoch deutlich, wenn der Text folgendermaßen einsetzt: [»]What’s the old man doing?« I said, and I looked down the trail, beyond the ragged box elder, where the old man stood in the door of the barn, fooling with an inner tube. In town I used to take the old man’s hand and lead him across the tracks […].159
Die Frage, was der ältere Mann tut, stellt sich dem Leser (beziehungsweise dem Betrachter) ebenso wie dem homodiegetischen Erzähler. Die besondere Verbindung des letzteren mit dem alten Mann, die weit über das in der Photographie Gezeigte hinausgeht, wird im zweiten Satz deutlich.160 Der Text erzählt (durchgehend homodiegetisch) den Besuch von Clyde Muncy und seiner Familie bei Verwandten (Onkel und Tante) in seiner alten Heimat. Der Mann auf den Photographien ist durch den Text also zum Onkel im Text in Beziehung gesetzt – obwohl stets notwendigerweise eine Distanz oder Unsicherheit besteht, denn die Photographie kann keine Identität behaupten, und der Text, der eben nicht Begleittext oder gar Beschriftung zu den Photographien ist, unterlässt dies ebenfalls, auch wenn er immer wieder durch ›Parallelstellen‹ zu den Photographien in Bezug gesetzt werden kann. Eine zweite Photographie zeigt den Mann von hinten. Er trägt darauf allerdings eine andere Kopfbedeckung als in der ersten, was der Text kommentiert: The old man chuckled, scratched the back of his head. Sometime during the morning he had shed his coat and exchanged his nautical hat for a moth-eaten felt, with a rakish tilt to the brim. It curled quite a bit like one I used to wear. I had forgotten that the old man used to favor hats. All
158 Dies ist natürlich gewissermaßen eine verzerrte Darstellung, weil diese Portraits, wie erwähnt, in The Home Place in der Unterzahl sind. Dass sie dennoch nicht unwichtig sind, deutet die Tatsache an, dass sie das Werk gleichsam rahmen, denn die erste und letzte Abbildung zeigen den älteren Mann. 159 Morris (1999[1948]): The Home Place, S. 1. 160 Vgl. Hollander (1996): »The Figure on the Page«, S. 94.
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his other clothes he could hang on one post of the bed […], but he kept five or six different hats on Clara’s stove. I remember him facing the glass in the cupboard to set one on.161
Und auch eine dritte Photographie zeigt den Mann erneut mit veränderter Kopfbedeckung, diesmal einem Strohhut, worauf der Text ebenfalls eingeht: Diesen habe sich der alte Mann tagsüber bei einem Ausflug in die Stadt mit den Kindern Muncys gekauft. Durch die variierenden Kopfbedeckungen wird also den Photographien nicht zuletzt eine zeitliche Dimension eingeschrieben, die den Verlauf des Tages, den der Text beschreibt, widerspiegelt. Sind damit die Photographien einfach Illustrationen zum Text? Hunter ist dieser Meinung, gerät aber bei der Begründung in eine Sackgasse, die keineswegs zufällig ist: The Home Place is recognizably a novel, a narrative about the return of a native son to Nebraska, and the photographs on every other page are recognizably illustrations to a novel. Morris does not despise a certain homely literalness of depiction.162
Der Text sei erkennbar ein Roman und die Photographien erkennbar (nur) Illustrationen – woran aber lässt sich dies erkennen? Hunter beschreibt oder problematisiert dies nicht weiter, obwohl er kurz darauf zumindest festhält, dass die Irritation, die The Home Place gelegentlich hervorruft, genau in dem ambivalenten Status von Text und Photographie und ihrem Verhältnis zueinander besteht: »In its combination of fictional words and apparently nonfictional photographs The Home Place sometimes reads oddly […].«163 Auch an dieser Stelle findet sich jedoch nur der Hinweis, die Photo graphien seien »apparently nonfictional«, ohne das dies weiter begründet würde. Dennoch ist diese Feststellung nicht falsch und sie kann (abgesehen von der impliziten Wertung) inzwischen als Gemeinplatz der Morris-Forschung gelten.164 Die Kombination von Text und Photographien und die Spannung, die zwischen beiden mitunter entsteht, ist in der Tat das zentrale Element von The Home Place und dies genau deshalb, weil sich die beiden Medien gegenseitig zu beeinflussen scheinen. Macht der Text die Photographien zu fiktionalen, weil er ihnen eine Geschichte unterlegt, die sie selbst nicht zeigen (können)? Und machen wiederum die Photographien den Text zu einem nicht-fiktionalen, weil sie ›Belege‹ für die Existenz von Personen, Dingen und
161 Morris (1999[1948]): The Home Place, S. 50. 162 Hunter (1987): Image and Word. The Interaction of Twentieth-Century Photographs and Texts, S. 58 f. 163 Hunter (1987): Image and Word. The Interaction of Twentieth-Century Photographs and Texts, S. 59. 164 »Morris […] made his experiments deliberately exploratory in epistemological terms, exploiting the tension between ›factual‹ photography and ›fictional‹ text«; Wydeven (1985): »Images and Icons«, S. 177 f. Vgl. auch: Halter (1990): »Distance and Desire: Wright Morris’ ›The Home Place‹ as ›PhotoText‹«, S. 66 f.
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Schauplätzen liefern? Beide Fragen lassen sich letztlich nicht beantworten (jedenfalls nicht werkimmanent) und stellen damit das Nebeneinander von Text und Photo graphie, in dem keines der beiden Medien das andere festlegen kann, deutlich heraus. Die Verwendung von Photographien in literarischen Texten endet selbstverständlich nicht mit der Mitte des 20. Jahrhunderts.165 Im Gegenteil: Etwa die bekannten Text-Bild-Kombinationen W. G. Sebalds,166 fiktionale Texte, die sich an historische Photographien anlehnen (die sie auch abbilden) und aus ihnen eine Geschichte konstruieren, wie Powers’ Three Farmers on Their Way to a Dance,167 oder in jüngerer Zeit Texte wie Jonathan Safran Foers Extremely Loud and Incredibly Close,168 die Fiktion und (kollektive) Erinnerung thematisieren, ebenso wie zahlreiche weitere Beispiele belegen das ungebrochene Interesse an der Verbindung, die sich weiterhin auch aus der Spannung von (potentiellem und problematischem) Realitätsanspruch der Photographie und dem Fiktionscharakter ergibt. Dieses Interesse spiegelt sich auch in der Forschung wider, die insbesondere zu W. G. Sebald inzwischen recht umfangreich ist. Ein weniger diskutiertes Beispiel, das dennoch (oder vielmehr: gerade deshalb) erwähnt werden soll, ist Carol Shields’ The Stone Diaries, das 1995 mit dem P ulitzer Preis ausgezeichnet wurde. Der Klappentext bezeichnet The Stone Diaries dem im Titel angedeuteten Genre zum Trotz als »novel«. Der Text erzählt die Lebensgeschichte von Daisy Goodwill, ist dabei aber vor allem durch eine komplexe narrative Struktur gekennzeichnet, die nicht nur zwischen internen und externen Fokalisierungen auf verschiedene Figuren wechselt, sondern zudem diverse Dokumente und Briefe sowie deren jeweilige ›Stimmen‹ einbindet und – dies ist vermutlich die zentrale Abweichung von ›klassischem‹ Erzählen – zwischen Hetero- und Homodiegese changiert. Letzteres mitunter in einem Satz: The long days of isolation, of silence, the torment of boredom – all these pressed down on me, on young Daisy Goodwill and emptied her out. Her autobiography, if such a thing were imaginable, would be, if such a thing were ever to be written, an assemblage of dark voids and unbridgable gaps.169
Daisy Goodwill ist hier zugleich Ich-Erzählerin und Figur eines heterodiegetischen Erzählerdiskurses. Die Gattung der Autobiographie, die aufgerufen und als hochgradig problematisch beschrieben wird, lenkt eine Interpretation dieser und ähnlicher Passagen in die Richtung eines der zentralen Probleme autobiographischen Schrei-
165 Hillenbach stellt einen signifikanten Anstieg seit den 1980er Jahren fest; vgl. Hillenbach (2012): Literatur und Fotografie, S. 102. 166 Vgl. etwa Hillenbach (2012): Literatur und Fotografie, S. 103–122 mit diversen Hinweisen zur Sebald-Forschung. 167 Powers (1985): Three Farmers on Their Way to a Dance. 168 Foer (2005): Extremely Loud and Incredibly Close. 169 Shields (1993): The Stone Diaries, S. 75 f.
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bens, nämlich dasjenige der Spaltung zwischen erlebendem und erzählendem Subjekt. Daisy ist unstrittig die zentrale Figur in The Stone Diaries, weder aber ist formal eine tagebuchartige Struktur gegeben (dies würde nicht zuletzt Homodiegese voraussetzen), noch schildert Daisy als autobiographisches Subjekt einfach ihre Lebensgeschichte. Nicht nur was die narrative Struktur angeht ergeben sich gravierende Abweichungen von einer Autobiographie, auch der Bereich des Dargestellten übersteigt die konventionell diesem Genre ›zugänglichen‹ Daten: So wird ausführlich Daisys Geburt beschrieben – und zwar mit interner Fokalisierung auf die Mutter, die kurz nach der Geburt stirbt. Die Forschung hat diese ›unnatürlichen‹170 Aspekte von The Stone Diaries immer wieder hervorgehoben: Carols Shields’ novel The Stone Diaries presents the reader with a challenging narrative puzzle: the extraordinary violations of storytelling conventions include not only rapid shifts between first- and third-person narration but also a first-person narrator who both recounts details of her birth to which she could not realistically have access and appears to speak even after the moment of her death.171
Die Fragen nach der Erzählposition sind damit nicht zuletzt auch mit dem Fiktions status dieser ›unnatürlichen‹ Autobiographie verknüpft, lässt sich doch gerade die unnatürliche Erzählposition als Fiktionssignal verstehen.172 Verkompliziert wird dies nicht zuletzt durch die 25 Photographien, die, im Stil eines Albums, in einem Abbildungsteil etwa zur Mitte des Textblocks in den Text eingeschoben sind. Sie stellen Mitglieder der Familie Daisys dar und lassen sich mittels der Bildunterschriften den Figuren zuordnen, über deren Familienstruktur zudem ein dem Text vorangestellter Stammbaum informiert. Zwar gibt es immer wieder Bezüge zwischen dem Text und den Bildern – diese sind jedoch keineswegs widerspruchsfrei. So ist beispielsweise Daisys Mutter Mercy als sehr beleibte Frau beschrieben (»by age ten she was ›heavy‹, at twenty she was elephantine«173), was nicht zu ihrer Erscheinung in dem Doppelportrait von ihr und ihrem Ehemann (siehe Abbildung 16) passt. Ob dies, wie Adams behauptet, automatisch zu einer Fiktionalisierung der Photographien führt, bleibt allerdings zweifelhaft: When Shields includes photographs of her fictive characters within The Stone Diaries, instead of adding verisimilitude to the characters, the photographs automatically become fictional because they do not always match her prose descriptions.174
170 Im Sinne eines »Unnatural Narrative«; vgl. etwa Alber/Heinze (2011): »Introduction«. 171 Weese (2006): »The ›Invisible‹ Woman«, S. 90 f. 172 Vgl. etwa Marantz’ Darstellung, die ebenfalls auf die narrativen Inkonsistenzen eingeht und diesbezüglich festhält: »Shields’s Novel in its very form blurs the lines between truth and falsehood, documentation and invention«; Marantz (2014): »The Work of Ambiguity«, S. 354. 173 Shields (1993): The Stone Diaries, S. 29. 174 Adams (2008): »Photographs on the Walls of the House of Fiction«, S. 180.
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Abbildung 15: Photographie aus Shields (1993): The Stone Diaries
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Abbildung 16: Photographie aus Shields (1993): The Stone Diaries
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Vielmehr scheint es, dass gerade die durchgängige Problematisierung des autobiographischen Diskurses im Text durch die Photographien zunächst einmal konterkariert wird. Denn wenn der Text so brüchig und inkonsistent ist, wie geschildert, warum sollte er dann in der Lage sein, als Autorität zu gelten, anhand derer der Status der Photographien gemessen werden kann? Könnte nicht vielmehr umgekehrt der Text anhand der Photographien zu ›korrigieren‹ sein, zumal er beständig die Entstellung der Tatsachen in der autobiographischen Erinnerung thematisiert?175 Das Wechselspiel zwischen fiktionalem Text und (vermeintlich) faktualen Photographien ist damit vielmehr ein weiterer metafiktionaler Kommentar, dessen Irritationsmoment auch nach Aufklärung über den Status der Photographien durch extratextuelle Informationen bestehen bleibt. Nicht zuletzt überschneiden sich Text und ›Bilderalbum‹ insofern, als sie die zentrale Figur unbestimmt lassen: Von Daisy, der Hauptfigur, die im Text zwischen ›ich‹ und ›sie‹ changiert, gibt es keine einzige Photographie. The Stone Diaries wird durch die Photographien, durch den inkonsistenten Erzähldiskurs, durch die eingeschalteten Dokumente und Stimmen in der Tat zu einem »metafictional container«176, der diverse widerstreitende Elemente und Markierungen nebeneinander stellen kann. Neben der autobiographischen Tradition ist dabei immer wieder auch eine historio graphische beziehungsweise dokumentarische angesprochen, die sich – wenn auch erst unter Rückgriff auf extratextuelle Informationen – auch auf die Photographien beziehen lässt: When we say a thing or an event is real, never mind how suspect it sounds, we honour it. But when a thing is made up – regardless of how true and just it seems – we turn up our noses. That’s the age we live in. The documentary age. As if we can never, never get enough facts.177
Was klingt wie eine Bezugnahme auf das seit Aristoteles bekannte Problem,178 dass wahre Ereignisse mitunter unwahrscheinlich, unplausibel erscheinen, während erfundene einen hohen Grad an Plausibilität erreichen können, lässt sich ebenso auf die Photographien anwenden: Warum sollten sie nicht als wahrscheinliche Illustration erfundener Figuren gelten können, ohne dass dies für Anstoß sorgte? Dies ist es vermutlich, was Shields selbst in einem Interview als »postmodern nudge« beschreibt, den sie mit den Photographien intendiert habe und demzufolge eben auch der Text den Photographien in der ›Deutungsmacht‹ nicht überlegen sei:
175 »Maybe now is the time to tell you that Daisy Goodwill has a little trouble with getting things straight; with the truth, that is. […] She is not always reliable when it comes to the details of her life; much of what she has to say is speculative, exaggerated, wildly unlikely. […] Daisy Goodwill’s perspective is off«; Shields (1993): The Stone Diaries, S. 148. 176 Mellor (1995): »›The Simple Container of Our Existence‹«, S. 97. 177 Shields (1993): The Stone Diaries, S. 330. 178 Vgl. etwa Kloss (2003): »Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit«, S. 165.
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I love the photographs but I wished we could have found one with a fatter Mercy. But the fact is about the distortion of truth. Probably what happened was that Cuyler confided to his daughter Daisy saying »your mother was a rather large woman«. And in Daisy’s mind, of course, she became larger and larger. So the photograph is meant to come at the truth glancingly. Each of the photographs, in fact, is just slightly off. This is part of the – I hardly dare say this on radio – postmodern nudge I was after.179
In diesem Sinne lässt sich auch das Einbinden von Photographien der Kinder der Autorin als verschobene Form der Dokumentation lesen –180 weniger aber als Täuschungsversuch, denn dieser bedürfte eben einer Darstellungsform, die nicht ohnehin brüchig und selbstreflexiv ist. In einem ganz anderen Sinne als Shields Bezugnahme auf ein »documentary age« ist das folgende Beispiel als Versuch einer Dokumentation zu lesen, der allerdings vor Augen führt, dass auch eine Irritationsstrategie, die mittels Photographien Rezipienten zumindest potentiell täuscht, weiterhin existiert. Es handelt sich um Rohan Kriwaczeks An Incomplete History of the Art of Funerary Violin. Der Text behauptet, die Geschichte einer geheimen Gilde von Begräbnisgeigern nachzuzeichnen, die aufgrund von Verfolgungen durch die katholische Kirche, den »Great Funerary Purges of the 1830s and 1840s«,181 in den Untergrund verbannt worden und in der Folge beinahe vollständig in Vergessenheit geraten sei. Mittels Photographien, abgebildeten Dokumenten und diversen Notenbeispielen (das Buch endet mit einer 40-seitigen Sammlung von Begräbnismusik für Violine Solo) will der Text diese Wissens- und Tradierungslücke schließen. Diese Geschichte ist selbstverständlich erfunden, weder die Gilde noch die geschilderte Musiktradition haben je existiert. Die angebliche Verfolgung und aktive Auslöschung aller mit der Gilde in Verbindung stehenden Dokumente (die sich aber vielleicht noch in einem Geheimarchiv des Vatikans finden lassen) f ungiert dabei als Plausibilisierungsstrategie, da sie vordergründig erklärt, warum die Tradition, obwohl alt und bedeutend, gänzlich unbekannt ist. Die abgebildeten Photographien der Würdenträger der Gilde sind zu großen Teilen ›alte‹ Portraitphoto graphien – oder jedenfalls solche, die derart bearbeitet wurden, dass sie ›alt‹ und abgenutzt, teilweise deutlich verblasst aussehen. Die Nachweise der Illustrationen und Photographien weisen diese zum größten Teil als »From the collection of the Guild of Funerary Violinists«182 aus, bei einigen sei der Inhaber der Bildrechte nicht auszumachen gewesen, und einige wenige weisen
179 Shields (1994): »Interview mit Diane Rehm«. 180 »Well some of the photographs I found – one in a museum, some at postcard markets, some my editor found – but we realized right at the end that we didn’t have any contemporary photographs. So I took these out of my own family album and they are photographs of my own children – I have five children, four daughters and a son – who kindly gave me permission to use these photographs and to give them new names«; Shields (1994): »Interview mit Diane Rehm«. 181 Kriwaczek (2006): An Incomplete History of the Art of Funerary Violin, S. 69 und passim. 182 Kriwaczek (2006): An Incomplete History of the Art of Funerary Violin, S. vii–ix.
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Abbildung 17: Photographien aus Kriwaczek (2006): An Incomplete History
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wiederum reale Institutionen als Rechteinhaber aus. In letzteren Fällen werden die Dokumente so in die Erzählung eingearbeitet, dass sie – obwohl auf historisch Belegund Nachprüfbares verweisend – indirekt auf die Gilde bezogen sind. Nicht nur Photo graphien, sondern auch (Pseudo-)Faksimiles von historischen Dokumenten werden abgebildet. In dieser plurimedialen Kombination von pseudo-historiographischem Text, Photographie, Faksimile und nicht zuletzt Musik (neben den abgebildeten Notenbeispielen existieren Tonträger, die über eine Webseite erworben werden können)183 entsteht ein hoax, der allein aufgrund der Detail- und Materialfülle zumindest für den Moment täuschen kann,184 der aber – einmal durchschaut – als fiktionale Geschichte einer musikalischen Tradition durchaus beeindruckend bleibt, eben weil er die Fiktion über das bloße Erfinden der Geschichte hinaustreibt und immer weitere scheinbare Belege und Quellen hervorbringt. Der Autor ist dabei selbst in die Fiktion eingebunden, denn die biographische Notiz im Peritext weist ihn als gegenwärtigen Präsidenten der Guild of Funerary Violinists aus: Long regarded as England’s foremost authority on the history and practice of Funerary Violin, Rohan Kriwaczek graduated from the University of Sussex in 1972, and then from the Royal Academy of Music in 1974 with an Advanced Diploma in violin performance. Following a number of successful tours of Britain and Europe as a violinist, he became involved with the Guild of Funerary Violinists in 1975. After much active scholarship researching their archives, he was elected Acting Secretary in 1982, and Acting President in 2000.185
Dass auch dies Teil der Fiktion ist, darüber gibt die Homepage des Autors Auskunft, die nicht eine, sondern gleich mehrere, deutlich voneinander abweichende Biographien Kriwaczeks aufführt – darunter die erste, die identisch mit derjenigen aus der Incomplete History ist.186 Auch an anderen Stellen ist der Autor in den Text selbstreflexiv
183 Vgl. Kriwaczek: »The Guild of Funerary Violinists«. In dieser multimedialen Anlage erinnert Kriwaczeks Funerary Violin an die Kompositionen, die Peter Schickele dem fiktiven Bach-Sohn P. D. Q. Bach zuschreibt. Auch zu dessen angeblichen Kompositionen lassen sich CDs mit Einspielungen erwerben. Ebenso ist die »Biographie« des Komponisten mit zahlreichen Abbildungen und Notenbeispielen versehen. Zentraler Unterschied ist allerdings, dass diese Biographie gerade durch die Häufung von absurden Zusammenhängen als offensichtlich erfunden ausgewiesen ist und auch der Klappentext daraus keinen Hehl macht, indem von einem »long-awaited hoax« die Rede ist; Schickele (1976): The Definitive Biography of P. D. Q. Bach. Schmitz-Emans kommt angesichts der Häufung von Absurditäten, die »dem Leser unmißverständlich signalisiert, woran er ist«, zu dem Schluss, dass die primäre Funktion der fiktiven Biographie P. D. Q. Bachs in ihrer Auseinandersetzung mit dem Diskurs der (biographisch orientierten) Musikwissenschaft »nicht erkenntniskritisch, sondern wissenschaftssatirisch« sei; Schmitz-Emans (2001): »Im Zwischenreich«, S. 210 f. 184 Die Behauptung des Verlegers, er sei zunächst Opfer dieses Täuschungsversuches geworden, ist vermutlich eher einer nachträglichen Marketingstrategie zuzuschreiben; vgl. Bosman (2006): »British Author Espies a Funerary Violin Vacuum and So Fills It«. 185 Kriwaczek (2006): An Incomplete History of the Art of Funerary Violin, S. 209. 186 Vgl. Kriwaczek: »rohan kriwaczek«.
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eingebunden. Ein zentrales und aufschlussreiches Beispiel ist ein faksimiliertes Titelblatt eines Trauerlieds des (fiktiven) Komponisten und Violinisten George Babcotte, das angeblich zur Beisetzung Philip Sidneys im Jahr 1586 gespielt wurde. Das Imprint gibt an: »Printed by R. K. for The Guild of Funerary Violinists, and are to be sold at the shop in the Inner-Temple, neere the Chvrch, 1679.« Die Initiale »R. K.« ist dabei selbstverständlich ein Hinweis auf den Autor, Rohan Kriwaczek, von dem das Titelblatt ja in letzter Instanz tatsächlich stammt. Vermutlich ebenfalls kein Zufall ist, dass ausgerechnet das Begräbnis Philip Sidneys an dieser Stelle erwähnt wird, also desjenigen, von dem der berühmte Satz stammt, dass die Dichter nicht lügen (siehe oben S. 51), weil sie keine Behauptungen aufstellen. Diese Aussage ist in diesem Fall sicherlich bis zur Grenze der Belastbarkeit gespannt, denn die paratextuelle ›Ausstattung‹ von An Incomplete History of the Art of Funerary Violin suggeriert das genaue Gegenteil, dass nämlich (wahrheitsgemäße) Behauptungen aufgestellt werden. Dies erweist sich bei näherem Hinsehen und minimaler Recherche als offenkundig irreführend, was jedoch den dann durchschauten hoax nicht notwendigerweise abwertet: Vielmehr ließe sich argumentieren, dass in dieser Bewegung die Trennlinie zwischen hoax und Fiktion überschritten wird und erst die historiographische und dokumentarische Fiktion vollständig wirken kann, bei der die überbordende Einbildungskraft eine gesamte Musiktradition inklusive Musikbeispielen, Biographien und einer Verfolgungsgeschichte erfindet. An Incomplete History of the Art of Funerary Violin ist damit auch ein Beispiel dafür, dass die Irritationskraft von Photographien und faksimilierten Dokumenten noch im 21. Jahrhundert weiter existiert und weitere literarische Experimente die Grenzen zwischen faktualem Bericht, hoax und Fiktion umspielen. Den drei hier untersuchten Kategorien von piktorialen Paratexten ist dabei freilich eine je eigene Verlaufs geschichte und Konjunktur eigen, die eine durchaus gegenläufige Entwicklung nicht ausschließt. So haben sich Karten weitgehend vom pseudo-faktualen Dokument zum Ausweis abgeschlossener Fantasy-Welten verschoben, während faksimilierte Dokumente weiterhin ein Spiel mit der indexikalischen Funktion aufrechterhalten können. Bei letzteren ist jedoch ebenfalls eine Entwicklung festzustellen, die von der bei Hogg vorfindbaren Herausgeberfiktion, die sich auf ein in Teilen faksimiliertes Dokument stützt, zu zunehmend metafiktional reflektierten Abbildungspraktiken übergeht und Dokumente einerseits innerhalb der Diegese problematisiert und andererseits in die ›gefälschten‹ Dokumente ihrerseits selbstreflexive Elemente hineinträgt (Kriwaczek, Wondratschek). Auch in manifest faktualen Texten finden sich jedoch mitunter faksimilierte Dokumente, die allein aufgrund ihrer Fülle und ungewöhnlichen Präsentation Fragen hinsichtlich ihres Status aufwerfen können (Sheppard). Letzteres ist möglicherweise auch auf eine Entwicklung zurückzuführen, die gerade aufgrund des gleichzeitigen Auftretens von digitalen Editionsformen verstärkt die Materialität des Buches und seiner paratextuellen ›Beigaben‹ betonen. Die latente Wahrheits behauptung von faksimilierten Dokumenten bleibt jedoch in allen diesen Beispielen zunächst erhalten und das Spiel mit Dokumenten, die eben diese Behauptung nicht
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Abbildung 18: (Pseudo-)Faksimile aus Kriwaczek (2006): An Incomplete History
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erfüllen können, ist sicherlich nicht abgeschlossen. Photographien ist ebenfalls eine eigene paratextuelle Geschichte eigen, die eng mit der Entwicklung des photographischen Mediums verknüpft ist. So thematisieren frühe Beispiele mitunter deutlich stärker den Zeugnischarakter der Photographie, nur um ihn sogleich zu unterlaufen (Doyle), während sich schon seit dem Ende des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts einerseits Texte ausmachen lassen, die grundsätzlicher das Verhältnis von Text und Bild ausloten (Breton, Morris) oder aber – auf höchst diverse Weise – das Medium der Photographie im Zusammenhang von (autobiographischer und kollektiver) Erinnerung thematisieren (Woolf, Sebald, Foer, Shields). In diesem Sinne sind die Interaktionen von Text und Photographie, ebenso wie diejenigen von Text und Karten bzw. Faksimiles, Bestandteil einer produktiven Auseinandersetzung und (Neu-)Verhandlung von Möglichkeiten und Grenzen von Nichtfiktion und Fiktion und deren jeweiligen medialen (textuellen, bildlichen) Grundlagen und Bedingungen.
7 »The End« – »Fin« – »Ende« Diese Untersuchung nähert sich, wie jeder Text einmal, dem Ende – was, bevor die zentralen Ergebnisse zusammengefasst werden, Anlass genug sein mag, darüber nachzudenken, wie sich dieses Ende signalisieren lässt. Bei wissenschaftlichen Publikationen ist dies in aller Regel durch einen mehr oder weniger umfangreichen Apparat bestehend aus Bibliographien, Anhängen, Abbildungen et cetera recht einfach zu erkennen. Literarische Texte bedienen sich dieser Mittel selten,1 sie haben stattdessen eigene Formen ausgebildet, das Ende eines Textes nicht nur durch das schlichte Abbrechen des Textes zu markieren, durch ›mehr‹ als eine leere weiße Papierfläche. Das Ende und seine Markierungen werden von Genette in seiner Untersuchung zu Para texten nicht thematisiert und auch darüber hinaus lässt sich beobachten, dass das Ende selten explizit Thema ist – im Gegensatz zum Anfang.2 Peritextuelle Markierungen des Endes wurden bisher kaum thematisiert und dies mag darin begründet sein, dass diese Markierungen des Endes sehr unscheinbar sein können – und es in der Regel auch sind. Sie ließen sich als »Begrenzungen« bezeichnen, als »Markierungen, die besagen, wo der Text beginnt und wo er aufhört«3. Sherman analysiert aus historischer Perspektive die Schluss-Begrenzungen literarischer Texte und zeichnet die Entwicklung in den ersten beiden Jahrhunderten des Buchdrucks nach.4 Er kommt zu dem Ergebnis, dass ein konventiona lisiertes Textende erst langsam entsteht und sich insbesondere die Funktionen von Anfang (Titelblatt) und Ende erst allmählich in der Form herausbilden, wie sie heute noch weitgehend geläufig sind. Dabei lässt sich für den englischsprachigen Bereich
1 Es lassen sich freilich Ausnahmen finden. So ist etwa in Woolf (1928): Orlando. A Biography ein Index vorhanden ebenso wie in Perec (1978): La vie mode d’emploi. Zu Perecs Indices vgl. Magné (2004): »Georges Perec on the Index«. Ein besonders auffälliges und in der Fiktionsforschung aufgegriffenes Beispiel findet sich in Hildesheimer (1981): Marbot. Hildesheimer hat selbst darauf hingewiesen (vgl. Hildesheimer (1988): »Arbeitsprotokolle des Verfahrens ›Marbot‹«, S. 145), dass die Tatsache, dass im Index dieser ›Biographie‹ einer fiktiven Figur nur reale Personen aufgelistet sind, nicht aber die Hauptfigur und weitere erfundene Personen, als eine Art Fiktionssignal intendiert war. Freilich handelt es sich dabei um ein gut verstecktes Signal, denn zunächst steht der Index eher als Signal für Faktualität, da er üblicherweise vorrangig in faktualen Gattungen zu finden ist. So fasst Schaeffer zusammen: »Le statut de cet index est contradictoire. D’une côté, il fonctionne comme élément mimétique, puisqu’il mime un usage qui a cours dans les biographies factuelles. Mais d’un autre côté, Hildesheimer en a fait aussi un indice de fictionnalité, puisqu’il y a inclus uniquement les noms des personnes historiques […]«; Schaeffer (1999): Pourquoi la fiction?, S. 139. Zu Hildesheimers Marbot vgl. auch Cohn (1999): The Distinction of Fiction, S. 79–95. Cohn geht an dieser Stelle ganz im Sinne der vorliegenden Untersuchung auf die Frage ein, inwiefern der Paratext bei Hildesheimers Marbot bereits Teil eines fiktionalen Rahmens ist (vgl. S. 93). 2 Zu dieser Feststellung und einem Forschungsbericht zum Ende vgl. Bunia (2007): Faltungen, S. 270–276. 3 Bunia (2007): Faltungen, S. 283. 4 Vgl. Sherman (2011): »The Beginning of ›The End‹«. https://doi.org/10.1515/9783110578942-007
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eine Standardisierung feststellen, die im 16. und 17. Jahrhundert die Markierung »FINIS« als ›Normalform‹ verwendet: »the vast majority of printed books from the sixteenth and seventeenth centuries end with the Latin word ›Finis‹.«5 Englischsprachige Formulierungen wie »Here endeth« oder das schlichte »The End« setzen sich erst langsam durch und »Finis« bleibt bis ins frühe 19. Jahrhundert weit verbreitet.6 Korte untersucht die »Schlußgebung« deutsch- und englischsprachiger Romane und kommt dabei immer wieder auch auf peritextuelle Begrenzungen zu sprechen, die sie – Genettes Terminologie steht ihr noch nicht zur Verfügung – als »etische Aspekte der Schlussgestaltung«7 bezeichnet. Davon abgesehen haben einfache Markierungen wie »The End«, »Fin« oder »Ende« ebenso wie typographische Abgrenzungen durch horizontale Linien oder (meist drei) Asteriske kaum Beachtung gefunden.8 Es ließe sich die Frage stellen, ob diese überhaupt eine Wirkung entfalten und ob sie als Fiktionssignale wirksam werden können, da sie zunächst nur anzeigen, dass hier der Text zu Ende ist – ohne dass dies prima facie Rückschlüsse auf diesen Text selbst und seinen Status zulässt. Die Intuition, dass diesen Schlussformeln dennoch eine Signalqualität zukommen kann, findet sich in der Forschung in einigen wenigen Randbemerkungen.9 So sprechen etwa Martínez und Scheffel von derartigen Markierungen und vergleichen sie mit Textformeln wie der aus dem Märchen bekannten ›Und wenn sie nicht gestorben sind …‹. Beiden Phänomenen, also dem Märchenschluss und dem bloßen ›Ende‹ sei gemein, dass sie es »nahelegen, einen bestimmten Text als fiktional zu rezipieren.«10 Wolf spricht von Formeln wie »The End« als »Fiktionsmarkierungen«11. Jacquenod schließlich spricht von »fin« als einem jener »indicateurs extra-textuels de fiction«, die Fiktion gleichsam sicher anzeigen, und stellt die Schlussformel auf eine Stufe mit Gattungsbezeichnungen: les mots »roman« ou »théatre« sur la couverture d’un livre indiquent que l’on entre dans une fiction (de même que le mot »fin« sur la dernière page de ce livre indique que l’on en sort!) […].12
Dies ist durchaus bemerkenswert, denn derartige Formeln sind keineswegs auf fiktionale Texte beschränkt. Um nur zwei willkürlich ausgewählte – freilich aber prominente – Gegenbeispiele heranzuziehen: Lockes Essay Concerning Humane
5 Sherman (2011): »The Beginning of ›The End‹«, S. 73. 6 Vgl. Sherman (2011): »The Beginning of ›The End‹«, S. 73. 7 Korte (1985): Techniken der Schlussgebung im Roman, S. 36. 8 Larroux erwähnt sie am Rande in seiner Studie zum Romanschluss; vgl. Larroux (1995): Le mot de la fin, S. 18. 9 Für das ›The End‹ im Film vgl. Böhnke (2007): Paratexte des Films, S. 37–66. 10 Martínez/Scheffel (2012): Einführung in die Erzähltheorie, S. 18. 11 Wolf (1993): Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst, S. 36. 12 Jacquenod (1988): Contribution à une étude du concept de fiction, S. 86.
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Understanding13 ebenso wie Newtons Opticks14 schließen mit der Formel »FINIS« – und damit mit der identischen Formel, die auch in Robinson Crusoe Verwendung findet. Die Situation ist also wesentlich komplexer, als diese Bemerkungen nahelegen, und insbesondere ist die historische Dimension dieser peritextuellen Begrenzungen zu betrachten – nur dann lässt sich eine latente Signalqualität derselben begründen. Diese Signalqualität liegt zudem, so ließe sich vermuten, weniger in der standardisierten und konventionalisierten Formulierung begründet (wie dies bei der MärchenSchlussformel der Fall ist), sondern in einem Mechanismus der Be- und Abgrenzung, der für fiktive Welten charakteristisch ist. Bunia benennt das zu Grunde liegende Verfahren knapp und präzise: »Es ist die extra-fiktive Begrenzung, die der fiktiven Welt ihre Vollständigkeit garantiert […].«15 Wenn also davon auszugehen ist, dass eine Darstellung eine fiktive Welt erschafft, so ist durch die peritextuelle Markierung ›The End‹ das Ende dieser Darstellung angegeben, und somit die Abgeschlossenheit der fiktiven Welt besiegelt. Die peritextuelle Begrenzung zeigt also mit dem Ende des Textes zugleich den ›Übergang‹ von der fiktiven zur realen Welt an. Diese Vermutung ist durchaus schlüssig und plausibel als Beschreibung für peritextuelle Begrenzungen in fiktionalen Texten (und als latentes Fiktionssignal) – sie setzt aber voraus, dass der peritextuellen Schlussformel keine anderen Funktionen zukommen, die sie als Fiktionssignal ungeeignet erscheinen lassen. Eben darum ist die historische Dimension dieser Schlussformeln zentral, wenn sie nicht anachronistisch als Fiktionssignal per se betrachtet werden sollen. Offenkundig lässt sich dies etwa für das frühe 18. Jahrhundert eben nicht behaupten, wenn philosophische, naturwissenschaftliche und literarische Texte sich ein und derselben Abschlussformel bedienen. Als Grund dafür, dass es nicht zu einem unterschiedenen Gebrauch der Schlussformel in fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten kommt, darf angenommen werden, dass sie im 18. Jahrhundert eine andere Funktion erfüllt, die ihr später nicht mehr zukommt, und so überhaupt erst die Möglichkeit eröffnet, als Fiktionssignal funktiona lisiert zu werden. Die Funktion darf sehr wahrscheinlich in der zeitgenössischen Distributionsform von Texten gesucht werden. Bis ins 19. Jahrhundert werden diese in aller Regel ungebunden vertrieben und erst für den Endkunden mit einem Handeinband versehen.16 Die Schlussformel hat also auch die Funktion, zu signalisieren, dass der
13 Locke (1690): An Essay Concerning Humane Understanding. 14 Newton* (1704): Opticks. 15 Bunia (2007): Faltungen, S. 295. 16 Mazal berichtet von Verlegereinbänden seit dem 15. Jahrhundert, sie blieben jedoch Ausnahmen: »der Verlegereinband [eroberte] erst ab dem zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts den Markt. Viele französische Verleger gingen ab etwa 1830 und besonders in den Jahren 1840 bis 1860 dazu über, ihre Bücher in Original-Verlegereinbänden anzubieten […]. Von Frankreich aus breitete sich der Verleger einband im 19. Jahrhundert in ganz Europa aus«; Mazal (1997): Einbandkunde, S. 319 f. Auch Funke datiert das vermehrte Aufkommen von Verlegereinbänden auf etwa diesen Zeitraum; vgl. Funke (1999): Buchkunde, S. 365.
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Text bis zur letzten Druckseite vollständig vorhanden ist. Mit dem flächendeckenden Übergang zu Verlegereinbänden im 19. Jahrhundert und der damit einhergehen Umstellung des Vertriebs auf bereits gebundene Bücher entfällt diese Funktion und die peritextuelle Schlussmarkierung (nun in aller Regel in der jeweiligen Landessprache und nicht mehr das lateinische finis) findet sich verstärkt noch in fiktionalen Texten, nicht mehr aber (oder vergleichsweise selten) in nicht-fiktionalen.17 Das Wegfallen der Funktion, die Vollständigkeit des Textes anzuzeigen, eröffnet also die Möglichkeit, die Vollständigkeit und Abgeschlossenheit der fiktiven Welt zu signalisieren. Negativ formuliert findet sich diese Vermutung auch bei Korte: Im 17./18. Jahrhundert weisen zwei Drittel aller Romane ein Explicit auf, auch im 19. Jahrhundert liegt der Anteil noch bei etwa 30–40 %. Während in diesen Zeiträumen ein Explicit als konventionelle Schlussmarkierung zu betrachten ist, sinkt der Anteil für Romane beider Sprachen [i. e. Deutsch und Englisch] im 20. Jahrhundert deutlich ab. Auffallend ist immerhin, daß sich das Explicit als Konvention überhaupt gehalten hat, als Bücher schon lange fertig gebunden verkauft wurden. Aus publikationstechnischen Gründen wäre es hier nicht nötig gewesen, das Ende weiterhin auf diese Weise zu kennzeichnen.18
Korte hält als Begründung für diese Verschiebung fest, dass es ein Bedürfnis zu geben scheine, »die Grenze des Kunstwerks auch durch äußerliche Mittel klar kenntlich zu machen«19. Im 20. Jahrhundert hingegen gehe das weitgehende Fehlen von Begrenzungsmarkierungen mit einem »modernen Bestreben, das Kunstwerk weniger deutlich einzurahmen«20, einher. Die in der Forschung geäußerte Vermutung, dass es sich bei peritextuellen Markierungen des Schlusses um Fiktionssignale handle, muss also historisch eingeordnet werden und erscheint dann keineswegs schlüssig für das 18. Jahrhundert, wohl aber für das 19. und – in Teilen – für das 20. Jahrhundert. Dabei ist auch zu beobachten, dass es die für den Peritext charakteristische Zwischenstellung zwischen extrinsischer und intrinsischer Rahmung auch im Falle der Schlussmarkierung gibt. Korte zeigt Beispiele aus dem 17. und 18. Jahrhundert, in denen der Textschluss direkt mit einem »Ende« verwoben ist und so keine klare Grenze zwischen dem Diskurs eines Erzählers und einem extrinsischen Rahmen gezogen werden kann.21 So endet etwa der vierte Band von Schnabels Wunderliche Fata mit:
17 Empirisch lässt sich dies jedoch zum gegenwärtigen Zeitpunkt kaum belegen, da keine systemati sche Suche und damit keine Angabe von Häufigkeiten möglich ist. Die hier verfolgte Argumentation stützt sich auf Stichproben. Zum Roman liegen Zahlen vor, etwa bei Korte (1985): Techniken der Schlussgebung im Roman. Vergleichszahlen zu faktualen Texten sind allerdings nicht erhoben worden. 18 Korte (1985): Techniken der Schlussgebung im Roman, S. 44 f. 19 Korte (1985): Techniken der Schlussgebung im Roman, S. 45. 20 Korte (1985): Techniken der Schlussgebung im Roman, S. 45. 21 Vgl. Korte (1985): Techniken der Schlussgebung im Roman, S. 2, 45 sowie S. 265, Anm. 21.
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da aber vieler Umstände und Ursachen wegen wohl dieserhalb so bald nichts weiter zu Marckte gebracht werden dürffte, so mache nun mit größtem Plaisir des vierdten und letzten Theils ENDE.22
Das ›Ende‹ ist – grammatisch etwas verworren – in den Satz eingebunden, typographisch aber deutlich abgesetzt und verbindet so die Fiktion des Herausgebers mit der extrafiktionalen Drucklegung des Textes. Auch wenn sich eine generelle Tendenz zu weniger stark markierten Enden ausmachen lässt, wie Korte festhält,23 sind im 20. Jahrhundert doch immer wieder Beispiele für die fiktionsinterne Bezugnahme auf das Ende als Begrenzung zu finden. So etwa in Woolfs To the Lighthouse. Die Protagonistin Lily Briscoe beendet darin im letzten Abschnitt ein Gemälde und der Abschluss des Malprozesses ›koinzidiert‹ mit dem Ende der Erzählung auf auffällige Weise: It would be hung in the attics, she thought; it would be destroyed. But what did that matter? she asked herself, taking up her brush again. […] With a sudden intensity, as if she saw it clear for a second, she drew a line there, in the centre. It was done; it was finished. Yes, she thought, laying down her brush in extreme fatigue, I have had my vision. THE END24
Innerhalb der Fiktion, innerhalb des inneren Monologs Lily Briscoes wird hier ganz wörtlich ein ›Schlussstrich‹ gezogen, der so das Ende eines Schöpfungsprozesses markiert und zugleich das Ende des extrafiktionalen Schreibprozesses widerspiegelt und diesen in die Fiktion integriert. Das abschließende »THE END« ist der Schlussstrich unter diesen Prozess und wiederholt so die Geste des Abschließens. Es handelt sich also um ein doppelt markiertes Ende, das Begrenzung innerhalb und außerhalb der Fiktion markiert – und damit geht einher, dass die paratextuelle Begrenzung textuell motiviert erscheint, beinahe, als sei sie lediglich das in ein anderes Medium übertragene Äquivalent zu Lily Briscoes letzter, abschließender Linie. Während hier ein deutlich markiertes Ende und eine Engführung von Paratext und Text entstehen, so lassen sich auch Verfahren beobachten, bei denen ganz explizit auf die Nicht-Abschließbarkeit eines Textes Bezug genommen wird und versucht
22 Schnabel* (1743): Wunderliche Fata, Vierdter Theil, S. 570. Dem ›Ende‹ folgt nach einer Doppellinie ein Verzeichnis weiterer Bücher des Verlags. Die letzten drei Textzeilen vor ›Ende‹ sind im ›Trichtersatz‹ gesetzt, auch dies ist ein konventionelles typographisches Verfahren bei Textschlüssen im 18. Jahrhundert; vgl. Korte (1985): Techniken der Schlussgebung im Roman, S. 40–42. Es scheint verschiedene Druckfassungen dieser Ausgabe zu geben und nicht alle enthalten die grammatische Inversion des Satzes, die es erlaubt, das »ENDE« an das tatsächliche Ende zu stellen. 23 Vgl. Korte (1985): Techniken der Schlussgebung im Roman, S. 28–31. 24 Woolf (1927): To the Lighthouse, S. 320.
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wird, beispielsweise eine zirkuläre Bewegung zu inszenieren, die an den Textanfang zurückführt. Dies ist etwa in Federmans Double or Nothing der Fall. In dem komplexen Erzählverfahren des typographisch aufwendig gestalteten Textes wird in einer mehrfach verschachtelten Perspektive die Geschichte eines Protagonisten erzählt, der als Überlebender der Shoah in die USA emigriert. Seine Geschichte wird dabei von einem »inventor«25 erzählt (dessen Erzählung wiederum eine weitere Person, der »recorder«26, aufzeichnen soll), der sich dazu für ein Jahr in ein Zimmer einschließen will. Zu Beginn des Textes steht eine Rechnung, wie diese Schreibklausur auch finanziell organisiert werden soll: »Just think / for instance / if the room costs 8 dollars a week / […] then it will have to be noodles / […] Imagine that.«27 Der Erzähler-»inventor« ist also darauf angewiesen zu haushalten und wird sich von Nudeln ernähren müssen. Dies greift das Textende auf, verändert dabei jedoch die Rechengrundlage und nimmt als Miete für das Zimmer nur 7 $ an: IMAGINE THAT! […] and therefore we have to start all over again […] JUST THINK … FOR INSTANCE … IF THE ROOM COSTS ONLY 7 BUCKS A WEEK […] then it does not necessarily have to be NOODLES! THE END28
Es müsste also alles wieder von vorne begonnen und alle Rechnungen neu kalkuliert werden. Die peritextuelle Begrenzung steht also in gewissem Sinne quer zu der vom Text verlangten Rückkehr zum Anfang. Hier steht die extrinsische Rahmung einer intrinsischen Verweigerung einer abschließenden Rahmung entgegen. Letztere korreliert mit Federmans Programm einer von ihm unter dem Schlagwort »surfiction« thematisierten Erzählweise, die ihre eigene ›Gemachtheit‹ selbstreflexiv ausstellt und sich dabei gerade der ›geschlossenen Form‹ verweigert.29 Das eigenartige Verhältnis von explizitem »The End« und der Aufforderung, von vorne zu beginnen, ist damit als selbstreflexiver Kommentar zu begreifen, der einerseits die Notwendigkeit des Endes als extrinsisches Faktum reflektiert (der Text muss irgendwann enden) und andererseits fiktionsintern explizit ein Ende verweigert. Ein weiteres, besonders auffälliges Verfahren des Schlusses soll hier besprochen werden, weil es auf eindringliche Weise die Verschränkung von Paratext und Fiktion selbst thematisiert. Die Rede ist von A Vision of the Angelick World, jenem Abschnitt, der den dritten Band von Defoes Robinson Crusoe-Reihe abschließt. In Serious
25 Federman (1971): Double or Nothing, S. [203]. 26 Federman (1971): Double or Nothing, S. [203]. 27 Federman (1971): Double or Nothing, S. 1. Die typographische Gestaltung der Zitate wird an dieser Stelle und auch im folgenden Zitat nicht nachgeahmt. 28 Federman (1971): Double or Nothing, S. 191. 29 Vgl. Federman (1975): »Surfiction – Four Propositions in Form of an Introduction«.
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Reflections wird unter der Überschrift »Of Talking falsly«30 explizit das Verhältnis von Lüge und Allegorie aufgegriffen. Während für die Lüge ein »Design to deceive« charakteristisch sei, so hebe sich die Allegorie von der Lüge dadurch ab, dass hier eine gänzlich andere Intention vorliege: The selling or writing a Parable, or an allusive allogorick [sic] History is quite a different Case, and is always Distinguisht from this other Jesting with Truth; that it is design’d and effectually turn’d for instructive and upright Ends, and has its Moral justly apply’d […].31
Als eine solche Allegorie werden in diesem Abschnitt auch die drei Bände des Robinson Crusoe bezeichnet und das Kapitel schließt mit einem Vorgriff auf das Ende, das die Intention hinter der Publikation dieser Texte ein für allemal klären soll: If any Man object here, that the preceeding Volumes of this Work seem to be hereby condemn’d, and the History which I have therein publish’d of my self, censur’d; I demand in Justice, such Objector stay his Censure, till he sees the End of the Scene, when all that Mystery shall discover it self, and I doubt not, but the Work shall abundantly justify the Design, and the Design abundantly justify the Work.32
Die »End of the Scene« ist im Falle von Robinson Crusoe wohl die Vision of the Angelick World. Dieser Textabschnitt ist vom vorangehenden Text typographisch deutlich abgesetzt und sogar die Paginierung beginnt neu – nachdem der eigentliche Text mit »FINIS« bereits beendet wurde. Auf dem Titelblatt ist die Vision explizit angekündigt. Die Vision ist also selbst bereits als Paratext zu bewerten, bewegt sie sich doch genau auf jener Schwelle zwischen eigentlichem Text und externem Kommentar. Innerhalb dieser Erzählung werden zunächst vorrangig Überlegungen zu Visionen, zu imaginären Reisen und Erscheinungen angestellt, die Vision schließt jedoch mit der Erzählung, die sich möglicherweise auf die soeben zitierte Rede von dem »Mystery [that] shall discover it self« bezieht. Die Episode ist, entgegen den üblichen, stets die Wahrheit seiner Schilderungen betonenden Einlassungen des Erzählers Robinson, als mögliche Erfindung ausgewiesen: I have a Mind to conclude this Work with a short History of some Atheists, which I met with many Years ago, and whether the Facts are testified or not, may be equally useful in the Application, if you do not think them a little too Religious for you.33
30 Defoe* (1720): Serious Reflections, S. 111. 31 Defoe* (1720): Serious Reflections, S. 115 f. Möglicherweise handelt es sich bei »selling« um einen Druckfehler und es ist »telling« gemeint; im Kontext der Publikation und des Verkaufs von Texten ist jedoch auch »selling« plausibel. 32 Defoe* (1720): Serious Reflections, S. 118. 33 Defoe* (1720): Serious Reflections, S. 63 f. Mit der »Vision of the Angleick World« beginnt die Paginierung in dieser Ausgabe neu. Alle folgenden Seitenzahlen beziehen sich auf diesen Teil. Zusätzlich kommen die Seitenzahlen 63 und 64 doppelt vor. Das Zitat findet sich auf der ›zweiten‹ Seite 63.
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Die Erzählung handelt von einigen Mitgliedern eines »Atheistical Club«34; eines der Mitglieder dieses Clubs, gerade auf dem Weg zu einer Versammlung, gerät in ein Unwetter. Ein Blitz schlägt so nahe und bedrohlich neben ihm ein, dass er sich fragt: »Where am I going! What am I going about! Who is it has stopt me thus! Why are these Thunders, these Rains, and this Lightning thus Terrible? and whence are they!«35 Schließlich gelangt er zur zentralen Frage: »What if there should be a God!«36 Verwirrt geht er nach Hause, und ein Verwandter von ihm, »a pious good Man«37, kümmert sich um ihn. Dieser gibt sich, als einer der atheistischen Freunde des Bekehrten nach seinem Verbleib fragt, als eben jener junge Mann aus und übermittelt eine ›versteckte‹ Botschaft: […] he opened the Door a little Way, so as he was not very distinctly seen, and speaks aloud in the Person of his Friend thus: O Sir, Beseech them all to repent; for depend upon it, There is a God, tell them, I say so […].38
Der Akt der Verstellung, der den Atheisten glauben macht, sein ebenfalls atheistischer Freund spreche zu ihm, führt zu einer weiteren Konversion: Der so Angesprochene gerät, nachdem er sich verunsichert entfernt hat, ebenfalls in einen Regenschauer und sucht Schutz im Eingang einer Buchhandlung. Dort trifft er auf einen Studenten, der einen »rather bizarre physiological test of conscience«39 mit ihm anstellt, den etwas ausführlicher zu zitieren sich lohnt: There happens to be sitting in the Shop reading a Book, a Gentleman of his Acquaintance, though far differing from him in his Principles, being a very sober, studious, religious young Man, […] who looking up called him in, and after a few common Salutes, he whispers in his Ear. Student. I was looking in an old Book here just now […] and I found four Lines written on the Back of the Title Page, which put me in Mind of you. […] Ath[eist]. Come, let me see them […]. […] Stud. Come give me your Hand, you shall see them, if you promise to read them over three Times. Ath. There’s my Hand, I’ll read them out to you. Stud. I’ll hold your Hand all the While, because I’ll be sure of your Performance. Ath. I’ll warrant you I’ll *read them. * He reads. But if it should fall out, as who can tell? That there MAY BE a God, a Heaven and *Hell:
34 Defoe* (1720): Serious Reflections, S. 65. 35 Defoe* (1720): Serious Reflections, S. 67. 36 Defoe* (1720): Serious Reflections, S. 67. 37 Defoe* (1720): Serious Reflections, S. 67. 38 Defoe* (1720): Serious Reflections, S. 68. 39 Seidel (2011): »›Robinson Crusoe‹ as Defoe’s Theory of Fiction«, S. 180.
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Had I not best consider well, for fear ’T shou’d be too late when my Mistakes appear. *He held him by the Hand till that Word, and then let it go […].40
Der offenbar handschriftlich auf die Rückseite eines Titelblatts hinzugefügte ›Paratext‹ wiederholt somit grob die Worte, die der Atheist zuvor von seinem bekehrten Kollegen gehört zu haben vermeint, die aber in Wirklichkeit ein anderer ›in dessen Person‹ geäußert hat. Von wem diese Worte tatsächlich stammen, lässt ein anderer Text Defoes, »The Storm. An Essay«, wissen. Dort heißt es: If then it should fall out, as who can tell, But that there is a Heaven and Hell, Mankind had best consider well for fear ’T should be too late when their Mistakes appear […].41
Der tatsächliche Autor von Robinson Crusoe schreibt seine eigenen Verse also einem fiktiven, handschriftlichen Paratext auf der Rückseite des Titelblatts ein, oder, wie eine andere Stelle besagt,42 auf der Frontispiz-Seite. In Anbetracht der Konvention, auf den Frontispiz-Seiten ein Porträt des Autors abzudrucken, stehen die Verse Defoes vermutlich nicht zufällig als Inschrift an eben dieser Stelle. Sie sind wohl in der Tat als »playful self-effacement«43 zu lesen, das sich freilich nur eingeweihten und mit dem Werk Defoes gut vertrauten Lesern erschließt. Die Gestaltung dieser Szene ist dennoch auffällig genug, um auch den Lesern, die den Prätext nicht kennen, eine ›Ahnung‹ davon zu geben, dass hier das paratextuelle Verfahren des gesamten Textes gleichsam ›aufgedeckt‹ wird: Ein Sprecher, kaum zu sehen, spricht durch einen Türspalt – dies ist die gleiche Metaphorik, die Genette zweieinhalb Jahrhunderte später mit seinem Titel Seuils aufruft – zu einer Person, die sich in der anschließenden Szene als Leser betätigt, und zwar explizit als Leser einer paratextuellen Inschrift. Der Sprecher, der belehren (beziehungsweise in diesem Fall: bekehren) will, erreicht sein Ziel in erster Linie dadurch, dass er ›in einer anderen Person‹ spricht – ebenso wie der tatsächliche Autor, der immer wieder Erzählerfiguren einführt und dennoch auf seine Präsenz verweist. Alle diese Momente lassen sich als »Verbildlichungen der auktorialen Instanz«44 lesen, die in der Herausgeberinstanz
40 Defoe* (1720): Serious Reflections, S. 70 f. 41 Defoe (1704): »The Storm. An Essay«, S. 52. Der Hinweis auf diesen intertextuellen Bezug stammt von Starrs Edition der Serious Reflections; er wird von Seidel aufgegriffen, der eine dem hier Vorgetragenen ähnliche Analyse der Szene vorlegt, ohne aber auf die auffällige Positionierung in einem fiktiven Paratext hinzuweisen; vgl. Seidel (2011): »›Robinson Crusoe‹ as Defoe’s Theory of Fiction«, S. 179–183. 42 »[W]ho writ the Lines in the Frontispiece!« Defoe* (1720): Serious Reflections, S. 79. 43 Seidel (2011): »›Robinson Crusoe‹ as Defoe’s Theory of Fiction«, S. 183. 44 Iser (2003): »Auktorialität. Die Nullstelle des Diskurses«, S. 223.
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Sichtbarkeit gewinnt, dabei jedoch nie gänzlich zu sehen ist. Die Vision of the Angelick World erscheint so als selbstreflexiver Schlusspunkt unter die Robinson Crusoe-Reihe, die in die reale Welt zurückführt und dort das Verfahren des gesamten Textes illustriert. Sie ist eine auffällige und instruktive Weise, wie ein fiktionaler Text peritextuell ausgestaltet und zu Ende geführt wird, indem das gesamte paratextuelle ›Setting‹ in einer Szene vorgestellt und seinerseits fiktionalisiert wird. Damit ist – einmal mehr – dargestellt, dass Peritexte oftmals hochgradig interpretationsbedürftige und selbstreflexive Momente im Ensemble eines Buches (oder wie hier, einer Reihe) darstellen. Dies betrifft keineswegs nur Vorworte oder längere kommentierende Peritexte, sondern auch die anderen, ›kleinen‹ und häufig wenig beachteten Elemente, die im Verlauf dieser Untersuchung ebenfalls thematisiert wurden. In allen Fällen lässt sich dabei eines nicht bestätigen, nämlich Genettes These vom einem Prinzip, »qui veut que l’on prenne le paratexte au mot et à la lettre, toute incrédulité, voire toute aptitude herméneutique suspendues«45. Zugleich – und dies ist die ebenfalls für alle Bereiche des Paratextes dargestellte Ambivalenz – beschreibt diese These aber völlig korrekt ein dem Paratext anhaftendes Prinzip, das ihn außerhalb des Textes stellt und damit zunächst darauf zu verpflichten scheint, über diesen lediglich Auskunft zu geben. Eben diese doppelte Perspektive von zunächst extrinsischer Rahmung, die aber intrinsisch funktionalisiert und reflektiert werden kann und damit interpretationsbedürftig wird, ist für den Peritext insgesamt charakteristisch. In allen hier untersuchten Bereichen, selbst in zunächst gänzlich extrinsisch erscheinenden wie etwa der Verlagsangabe, lassen sich Momente der intrinsischen Funktionalisierung ausmachen. Es gibt, so die Folgerung, keinen ›unschuldigen‹ Peritext, der grundsätzlich als rein extrinsisch motiviert zu begreifen wäre. Vielmehr ergibt sich häufig eine komplexe Interaktion zwischen den einzelnen Bereichen des Peritextes (und zwischen Peritext und Text), bei der durchaus widersprüchliche Signale gesetzt und Teile des Peritextes in anderen Teilen modifiziert und neu kontextualisiert werden können. Durch diese komplexe Beziehung von intra- und extratextuellen Bezügen wird der Paratext strukturell der Fiktion vergleichbar und zwischen den beiden können sich vielfältige Interaktionsmuster ergeben, die eine Markierung und Signalisierung von Fiktion betreffen. Denn auch die Fiktion ist bestimmt durch ein charakteristisches Verhältnis von einem ›Außen‹ zu einem ›Innen‹. Im Hinblick auf die Darstellung erscheint dies als Kommunikationssituation, die verdoppelt ist und zu einer Trennung zwischen den Verantwortungsbereichen von Autor und Erzähler auffordert, mit Blick auf das Dargestellte als Verhältnis von realer Welt und fiktiver Welt. Die beiden Rahmungsverfahren ›Fiktion‹ und ›Paratext‹ sind damit allerdings keineswegs notwendig parallel zueinander. Während zunächst die Möglichkeit besteht, dass Verfahren, die den Status des Textes im Paratext zu bestimmen suchen, als text-
45 Genette (1987): Seuils, S. 168.
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und fiktionsexterne Kommentare zu verstehen sind, ist zugleich zu beobachten, dass diese Markierungen bereits Teil der fiktionalen Kommunikationssituation sein können. Als solche können sie als Fiktionssignale wirksam werden, wenn eine – jeweils zu historisierende – Tradition entsteht (man denke etwa an die Herausgeberfiktionen in Vorworten), die zwar zunächst auf der Faktualität des Textes insistiert, jedoch als Topos das genaue Gegenteil durchscheinen lässt. Solche paratextuellen Topoi erweisen sich bei genauerem Hinsehen jedoch als wesentlich komplexere Erscheinungen, die ihrerseits eine Geschichte aufweisen. Im Verlauf dieser Untersuchung wurde gezeigt, dass gerade die Bedingtheit dieser Formen durch extrinsische Motivationen zunächst durchaus eine große Rolle spielt, dass sich in der Folge allerdings die paratextuellen Elemente von eben diesen extrin sischen Motivationen lösen können und eine intrinsische (Re-)Funktionalisierung erfahren können. Denkt man etwa an die Herausgeberfiktionen, die in Vorworten eingeführt werden (und auch auf dem Titelblatt bereits eingebunden sein können), so erscheinen diese im frühen 18. Jahrhundert als eine mögliche Form, die einen Umgang mit dem Text nahelegt, der zwischen Autor und Erzähler, zwischen fiktionsinterner und fiktionsexterner Kommunikationssituation differenziert. Dies allerdings vor einem zeitgenössischen Hintergrund, der für die Funktionsweise dieses Umgangs keine festen und vor allem keine (ästhetisch oder moralisch) legitimierten Vorbilder liefern kann. Der Peritext, der einen solchen Umgang nahelegt, erscheint damit zunächst extrinsisch motiviert als eine Inszenierung dieses Umgangs, die sich an Praktiken der Lektüre faktualer Texte anlehnt – diese aber gleichzeitig auf problematische Art und Weise in den Peritext einbindet. Die Herausgeberfiktion ist nicht einfach nur ein Topos, der ›bedient‹ wird, sondern von Beginn an ein Ort, an dem selbstreflexiv auf die (problematische) Stellung des Textes Bezug genommen wird. Erst in einem zweiten Schritt lässt sich eine ›Verselbständigung‹ des Topos feststellen, die jedoch ihrerseits selbstreflexiv in Vorworten aufgegriffen werden kann. In der spezifischen Verwendung des Topos zeigt sich dabei immer auch eine Verhandlung drängender Fragen, die für den jeweils zeitgenössischen Umgang mit fiktionalen Texten charakteristisch ist. Mit Blick auf das 20. Jahrhundert ist demgegenüber in Disclaimern oder auch in Vorworten und Gattungsbezeichnungen zunächst eine Situation zu beobachten, die als das exakte Gegenteil dessen erscheint, was sich für das 18. Jahrhundert konstatieren lässt. Ist für letzteren Zeitraum charakteristisch, dass Paratexte Faktualitätsund Faktizitätsmarkierungen einführen, so finden sich im 20. Jahrhundert vor allem Paratexte, die auf Fiktion insistieren. In Gattungsbezeichnungen deutet sich diese Verschiebung bereits im 19. Jahrhundert an. Nicht länger begegnet also die Behauptung, man habe es mit einem faktualen Text über faktisch Geschehenes zu tun, vielmehr wird nun auf die Fiktionalität des Textes (beispielsweise im Falle der Gattungsbezeichnung ›Roman‹) oder die Erfundenheit (mitunter auch explizit: Fiktivität) des
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D argestellten (Disclaimer)46 verwiesen. An der Oberfläche haben sich also die Vorzeichen umgekehrt.47 Und auch diese Verfahren scheinen zunächst durch extrinsische Motivationen bedingt, wenn etwa in Disclaimern auf vermehrte juristische Auseinandersetzungen reagiert wird. Es zeigt sich aber, dass dieser Versuch, den fiktiven Charakter des Dargestellten im Peritext zu bestimmen, eben aufgrund der beschriebenen Dynamik des Paratextes nicht gelingen kann – und wie schnell daher auch der Disclaimer eine eigene Tradition stiftet, die sich dadurch auszeichnet, dass die Subversion des vermeintlich autoritativen Peritextes ins Zentrum rückt. Zwar entstehen also diese paratextuellen Traditionen (zumindest auch) durch äußeren Druck und reagieren auf drängende Probleme im jeweils zeitgenössischen Fiktionsverständnis, entkoppeln sich aber mitunter recht schnell von diesen Anlässen und werden selbständig, entwickeln eine innerliterarische Funktion. Auch im 20. Jahrhundert kann die paratextuelle Inszenierung damit Teil einer Theoretisierung oder Beschreibung von Fiktion sein, die nun allerdings auch die andere Seite der Unterscheidung Fakt/Fiktion problematisiert. Insbesondere die in diversen Aspekten angesprochenen Leistungen und Begrenzungen der (Auto-)Biographie – aber nicht nur diese – erscheinen dabei zentral. Während im 18. Jahrhundert häufig fiktionales Erzählen als problematisch erscheint, so finden sich nun diverse Verfahren, die faktuales (autobiographisches) Erzählen problematisieren. Der Abgleich und die Verbindung mit fiktionalen Erzählverfahren ist dabei eine Möglichkeit, die Grenzen zwischen beiden Bereichen neu zu bestimmen. Auch in diesen Fällen lässt sich das für paratextuelle Markierungen charakteristische ›Dazwischen‹ feststellen, das einerseits Beschreibungen für ein Erzählverfahren zu finden sucht, andererseits aber immer schon als ein Teil dieses Verfahrens eingesetzt werden kann. Auf den ersten Blick mag es dabei tatsächlich so scheinen, als hätten sich die Verhältnisse im Verlauf des hier untersuchten Zeitraums umgekehrt, bei näherem Hinsehen allerdings ergibt sich, dass die Struktur und Funktionalisierung der p eritextuellen Traditionen durchaus vergleichbare Verläufe aufweisen. Über die oberflächlichen Differenzen hinweg erweist sich die Struktur als identisch, die einen vermeintlich externen Bereich des Buches nutzt, um dieses zu kommentieren, dabei aber selbst schon als Teil dessen, was kommentiert werden soll, erscheinen kann. Auch hier überlagern sich also die jeweiligen Unterscheidungen in ein ›Innen‹ und ein ›Außen‹, die Paratext und Fiktion einziehen: Die Ambivalenz, die darin besteht, ob ein Peritext ein externer Kommentar ist oder nicht, spiegelt diejenige, die in der Frage angelegt ist, ob bei diesem Kommentar auf ein externes Problem, das sich aus der Fiktion ergeben könnte,
46 Die Trennung ist hier nicht als scharfe anzusehen. So bestehen manche Disclaimer auf Erfundenheit, Fiktivität und Fiktionalität, ebenso wie mit der Gattungsbezeichnung ›Roman‹ auch die Intuition verbunden ist, hier werde eine fiktive Welt dargestellt. 47 Vgl. Seiler (1983): Die leidigen Tatsachen, S. 37.
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reagiert wird, oder ob nicht vielmehr der Kommentar solche Problemlagen innerhalb der Fiktion selbstreflexiv aufgreift (und sich möglicherweise gar über sie lustig macht). Dass dieses Spiel mit dem Peritext auch im 20. Jahrhundert keineswegs ein rein formales ist und nicht primär auf eine rein ludische Funktion angelegt sein muss, das zeigen nicht zuletzt Texte aus dem Umfeld der Autofiktion und auch manche der TextBild-Kombinationen, die hier als piktoriale Peritexte thematisiert wurden. Der Umgang mit Fiktion und die jeweiligen Vorstellungen darüber, was Fiktion leisten kann (und was sie darf), sind hier ebenso Gegenstand einer ernsthaften Auseinandersetzung, in der das ästhetische Selbstverständnis reflektiert werden kann. Die Spannung allerdings, die darin besteht, dass sich diese Erklärungen in Peritexten nicht vom ›eigentlichen‹ Text ablösen lassen, machen sie weiterhin zu einem privilegierten Ort, an dem genau diese unmögliche Determination des Umgangs mit einem Text aufgegriffen werden kann. Zugleich bleibt die Beschreibung eines möglichen Umgangs mit dem Text damit nicht einfach folgenlos. In der historischen Analyse zeigt sich vielmehr ein diffiziles Wechselverhältnis, bei dem die (oftmals nur impliziten) Beschreibungen eines Umgangs mit dem Text Ausdruck eines spezifisch zeitgenössischen Verständnisses von Fiktion sind – und auf dieses Verständnis durchaus Einfluss nehmen können. Aus dieser Sicht erweisen sich Peritexte potentiell durchaus als Bestandteil einer Diskussion um Fiktion, bei der neue (oder auch nur veränderte) Formen des Umgangs mit Texten gefunden werden können.
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Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Titelblatt Defoe* (1719): Life and Adventures – S. 80 Abbildung 2: Weltkarte aus; Defoe* (1719): Farther Adventures – S. 230 Abbildung 3: Karte aus Defoe* (1720): Serious Reflections – S. 232 Abbildung 4: Frontispitz-Illustration Defoe* (1719): Life and Adventures – S. 233 Abbildung 5: Moll (1719): A New & Correct Map of the Whole World (Ausschnitt) – S. 235 Abbildung 6: Karte aus Swift* (1726): Travels into Several Remote Nations of the World – S. 237 Abbildung 7: Karte der »Île Lincoln« aus Verne (1875): L’Île mystérieuse – S. 241 Abbildung 8: Faksimile aus Hogg* (1824): The Private Memoirs – S. 251 Abbildung 9: Faksimile aus Wondratschek/Rinkens (1998): Kelly-Briefe – S. 254 Abbildung 10: Faksimilierter Abschiedsbrief aus Sheppard (2003): HA! A Self-Murder Mystery – S. 257 Abbildung 11: Photographie aus Rodenbach (1982): Bruges-la-morte – S. 264 Abbildung 12: Illustration aus Rodenbach (1904[1982]): Bruges-la-morte – S. 265 Abbildung 13: Photographie aus Doyle (1912): The Lost World – S. 266 Abbildung 14: Photographie aus Doyle (1912): The Lost World – S. 267 Abbildung 15: Photographie aus Shields (1993): The Stone Diaries – S. 278 Abbildung 16: Photographie aus Shields (1993): The Stone Diaries – S. 279 Abbildung 17: Photographien aus Kriwaczek (2006): An Incomplete History – S. 282 Abbildung 18: (Pseudo-)Faksimile aus Kriwaczek (2006): An Incomplete History – S. 285 Abbildungen mit freundlicher Genehmigung von: © Cambridge University Library; Abb. 1, 3, 4, 6, 8, 13, 14 © The British Library Board; Abb. 2 © David Rumsey Map Collection, www.davidrumsey.com; Abb. 5 © Bibliothèque Nationale de France; Abb. 7, 11, 12 © MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbh; Abb. 9 © Carol Shields Literary Trust; Abb. 15, 16 © Rohan Kriwaczek; Abb. 17, 18
Register der besprochenen Autoren und Werke [Anonym] Der sächsische Robinson 153 L’Inconnu 177 Balzac, Honoré de Le Lys dans la vallée 178–180 Le Père Goriot 201 Baret, Paul Le Grelot 114 Barth, John Giles Goat-Boy 220–222 Behn, Aphra Oroonoko 53, 68, 128, 221 Béliard, François Rézéda 120–122 Bierbichler, Josef Mittelreich 49 Biller, Maxim Esra 54, 108, 211, 214–216, 222 Boleslawski, Richard (Regie) Rasputin and the Empress 203–206 Böll, Heinrich Die verlorene Ehre der Katharina Blum 219 Breton, André Nadja 270–273, 286 Capote, Truman In Cold Blood 64, 256 Céline, Louis-Ferdinand Voyage au bout de la nuit 49, 193 Cervantes, Miguel de Don Quixote 78 Chaplin, Charles (Regie) The Great Dictator 209 Choderlos de Laclos, Pierre-Ambroise-François Les Liaisons dangereuses 92, 162–165, 172 Clemens, Samuel L. Siehe Mark Twain Coen, Joel/Ethan (Regie) Fargo 34 Crichton, Michael Next 97, 213 Dampier, William A New Voyage Round the World 230 Danielewski, Mark Z. House of Leaves 22, 119
Defoe, Daniel Moll Flanders 91, 143–152, 156 Robinson Crusoe 3, 4, 12, 33, 40, 61, 78–80, 89–91, 99, 100, 105, 128–144, 150–153, 156, 180, 229–234, 292–296 The Consolidator 68, 91 The Storm 142 Doubrovsky, Serge Fils 183–185, 187, 189 Doyle, Arthur Conan Sherlock Holmes 69 The Coming of the Fairies 268 The Lost World 263–269, 286 Eco, Umberto Il nome della rosa 176 Fargo (Serie) 33 Faulkner, William Absalom, Absalom! 242 Federman, Raymond Double or Nothing 292 Take It or Leave It 218 Fénelon, François Les Aventures de Télémaque 78 Fielding, Henry The History of Tom Jones 14 Foer, Jonathan Safran Extremely Loud and Incredibly Close 276, 286 Ford, John (Regie) They Were Expendable 208 Fournel, Paul Banlieue 36 Fowles, John The French Lieutenant’s Woman 49 Gerhardi, William Futility 182, 189 Gildon, Charles The Life and Strange Surprizing Adventures of Mr. D.––– de F–– 130, 134–137 Goethe, Johann Wolfgang Die Leiden des jungen Werthers 172–174 Goetz, Rainald Johann Holtrop 196
Register der besprochenen Autoren und Werke
Greene, Graham The Comedians 182, 189 Hall, Radclyffe The Well of Loneliness 206 Hardy, Thomas The Woodlanders 242 Hase, Friedrich Traugott Gustav Alderman 179 Hawthorne, Nathaniel 189, 262 Hildesheimer, Wolfgang Marbot 287 Hogg, James The Private Memoirs and Confessions of a Justified Sinner 248–252, 258 James, Henry 262 Jean Paul Hesperus 174–176 Jordane, Benjamin. Siehe Jean-Benoît Puech King, Stephen The Shining 217 Knight, Renée Disclaimer 220 Kriwaczek, Rohan An Incomplete History of the Art of Funerary Violin 281–286 La Fayette, Marie Madeleine La Princesse de Monpensier 72–74, 191 La Roche, Sophie von Geschichte des Fräuleins von Sternheim 10 Larsen, Reif The Selected Works of T. S. Spivet 118 Locke, John An Essay Concerning Humane Understanding 288 Lukian von Samosata 153 Wahre Geschichten 1–3, 8 Magny, Jean Mémoires de Justine 165 Mann, Klaus Mephisto 211–214 Moers, Walter Die 13 1/2 Leben des Käpt’n Blaubär 245, 258
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Moon, Lorna Dark Star 206 Moritz, Karl Philipp Anton Reiser 102 Morris, Wright The Home Place 273–276, 286 Newton, Isaac Opticks 289 Niebelschütz, Wolf von Die Kinder der Finsternis 243 Oates, Joyce Carol Wonderland 219 Perec, Georges Cantatrix sopranica L. 15 La vie mode d’emploi 108, 287 Un Cabinet d’amateur 192 W ou le souvenir d’enfance 185–187, 189 Powers, Richard Three Farmers on Their Way to a Dance 276 Prager, Stefan. Siehe Jean-Benoît Puech Prévost, Antoine François Le philosophe anglais (Cleveland) 120 Puech, Jean-Benoît Toute ressemblance … 93–95 Queneau, Raymond Le Dimanche de la vie 199, 218 Reeve, Clara The Champion of Virtue (The Old English Baron) 79–81 Richardson, Samuel Clarissa 90, 106 Pamela 106 Richter, Johann Paul Friedrich. Siehe Jean Paul Robbe-Grillet, Alain La maison de rendez-vous 200 Rodenbach, Georges Bruges-la-morte 261–265 Rogers, Woodes A Cruising Voyage Round the World 231 Rousseau, Jean-Jacques Nouvelle Héloïse 92, 107, 157–161, 165, 171, 177
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Register der besprochenen Autoren und Werke
Sackville-West, Vita The Edwardians 218 Saint-Réal, César de Dom Carlos 72–74 Schickele, Peter The Definitive Biography of P. D. Q. Bach (1807–1742)? 283 Schmidt, Arno Kaff auch Mare Crisium 97, 198 Schnabel, Johann Gottfried Wunderliche Fata (Insel Felsenburg) 152–157, 165, 171, 290 Scudéry, Madeleine de Clélie 228 Sheppard, Gordon HA! A Self-Murder Mystery 255–258, 286 Shields, Carol The Stone Diaries 276–281, 286 Spiegelman, Art Maus 115–118 Sterne, Laurence The Life and Opinions of Tristram Shandy 247 Stevenson, Robert Louis Treasure Island 238–240, 240 Swift, Jonathan Travels into Several Remote Nations of the World (Gulliver’s Travels) 234–238 Tolkien, J.R.R. The Lord of the Rings 243 Twain, Mark The Adventures of Huckleberry Finn 198 Verne, Jules L’Ile mystérieuse 240 Vian, Boris L’Ecume des jours 218 Wallace, David Foster Infinite Jest 22, 219 The Pale King 115, 200–203 White, William L. They Were Expendable 208 Wieland, Christoph Martin 10 Agathon 107, 166–170 Wilkins, John The Discovery of a World in the Moone 68
Winckler, Martin La Maladie de Sachs 218 Wollstonecraft, Mary Mary 103 Wondratschek, Wolf Kelly-Briefe 252–255, 258, 284 Woolf, Virginia Orlando 271–273, 286, 287 To the Lighthouse 291 Zaffran, Marc. Siehe Martin Winckler