Queere Künstler_innen of Color: Verhandlungen von Disidentifikation, Überleben und Un-Archiving im deutschen Kontext 9783839464052

Queers of Color kommen in der Kunstgeschichte und in der zeitgenössischen visuellen Kultur entweder gar nicht vor oder w

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German Pages 312 Year 2023

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Table of contents :
Inhalt
Danke
Prolog: BPOC ART AVENGERS
I. Verflechtungen von künstlerischem Wissen, Erfahrungswissen und akademischem Wissen
(1) Orientierungen: Queer of Color-Perspektiven als »starting point«
(2) Politiken der (Selbst-)Bezeichnung: Der Begriff Queer of Color
(3) Die »translokale« Situierung im deutschen Kontext
(4) Strukturelle Ein- und Ausschlüsse und materielle Effekte von Rassismus und Heterosexismus in Institutionen des Kunstbetriebs oder: Why have there been no great QTIBIPoC artists?
(5) Intersektionale Kritiken an akademischer Wissensproduktion und ihren Rahmenbedingungen
II. Queer of Color-Kritik und visuelle Kultur
Einleitung
(1) Forschungsstand
(2) Queer of Color-Kritik
(3) Visuelle Kultur, Machtverhältnisse und Transformation
(4) »Teilnehmende Lektüre« und »reparative Praxen«
III. Künstlerische Strategien der Disidentifikation, des Überlebens und des Un-Archiving
(1) Disidentifikatorische Wissensproduktionen in Hasan Aksaygıns Arbeit JHAD (2015)
(2) Überlebensstrategien und »Queer Futurity« in Sunanda Mesquitas Gemälde Silenced by Academia (2015)
(3) QTIBIPoCs und das (Er-)Finden eigener Geschichte(n): Umgang mit den Lücken im Archiv in Aykan Safoğlus Kurzfilm Kırık Beyaz Laleler (Off-White Tulips) (2013)
IV. Re /Orientierungen und vorläufige Ankunftsorte
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
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Image | Band 215

QUEERE KÜNSTLER _ KÜNSTLER  _  INNEN OF COLOR

RENA ONAT

Rena Onat, geb. 1986, ist Kunst- und Medienwissenschaftlerin und hauptamtliche Frauenbeauftragte an der Weißensee Kunsthochschule Berlin. Ihr Forschungsschwerpunkt ist Queer of Color-Kritik in Kunst und visueller Kultur.

Rena Onat Queere Künstler_innen of Color Verhandlungen von Disidentifikation, Überleben und Un-Archiving im deutschen Kontext

Das vorliegende Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation »Orientierungen. Queere Künstler_innen of Color und Verhandlungen von Disidentifikation, Überleben und Un-Archiving im deutschen Kontext.«, die im Oktober 2021 vom Promotionsausschuss der kulturwissenschaftlichen Fächer in der Fakultät III der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg angenommen wurde. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch das Autonome Feministische Referat des AStAs der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, durch den Karl-Heinrich-Ulrichs-Fonds der Hannchen-Mehrzweck-Stiftung (hms) und den Deutschen Akademikerinnen Bund.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Gestaltung: Thúy Hà Anita Nguyễn Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839464052 Print-ISBN 978-3-8376-6405-8 PDF-ISBN 978-3-8394-6405-2 Buchreihen-ISSN: 2365-1806 Buchreihen-eISSN: 2702-9557 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de/ Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

FÜR ALLE CutieBPoC Art Avengers

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Abbildung 1

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Abbildung 2 — 4

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Abbildung 62

26 38 53 60 67

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

I

Verflechtungen von künstlerischem Wissen, Erfahrungswissen und akademischem Wissen

(1) (2) (3) (4)

Orientierungen: Queer of Color-Perspektiven als »starting point« Politiken der (Selbst-)Bezeichnung: Der Begriff Queer of Color Die »translokale« Situierung im deutschen Kontext Strukturelle Ein- und Ausschlüsse und materielle Effekte von Rassismus und Heterosexismus in Institutionen des Kunstbetriebs oder: Why have there been no great QTIBIPoC artists? 69 72 74

79

82

(5)

Intersektionale Kritiken an akademischer Wissensproduktion und ihren Rahmenbedingungen 82 88 99

110 117 138 152

162

Institutionenkritik intersektional QTIBIPoC-Künstler_innen an Kunsthochschulen — Wer kann welchen Raum »bewohnen«? Materielle Bedingungen für Kunstproduktionen am Beispiel der Arbeit Where is your studio? (2016) von Raju Rage Konsequenzen für die Auswahl der künstlerischen Arbeiten

Die Akademia als Ort der Wissensproduktion Epistemische Gewalt unterbrechen Für eine Praxis von »Epistemic Community Accountability«

II

Queer of Color-Kritik und visuelle Kultur

(1) (2) (3) (4)

Forschungsstand Queer of Color-Kritik Visuelle Kultur, Machtverhältnisse und Transformation »Teilnehmende Lektüre« und »reparative Praxen«

III

Künstlerische Strategien der Disidentifikation, des Überlebens und des Un-Archiving

(1)

Disidentifikatorische Wissensproduktionen in Hasan Aksaygıns Arbeit JHAD (2015) 162 165 180 186 194

Disidentifikation als Analyseperspektive Die Arbeit JHAD und Disidentifikationen mit (neo-)orientalistischen Blicken Disidentifikation mit antimuslimischem Rassismus Disidentifikatorische Perspektiven auf Kunst_Geschichte Disidentifikation mit Konstruktionen des Künstlersubjekts

27 202

Inhaltsverzeichnis (2)

Überlebensstrategien und »Queer Futurity« in Sunanda Mesquitas Gemälde Silenced by Academia (2015) 202 206 210 214 217

221

(3)

»We were Never Meant to Survive« — Überleben bei Audre Lorde Das Bild Silenced by Academia Die Kunst, sich nicht zum Schweigen bringen zu lassen Handlungsfähig sein und Übungen im Anderssein — die Performance Catalysis IV (1979) von Adrian Piper Performing Futurity

QTIBIPoCs und das (Er-)Finden eigener Geschichte(n): Umgang mit den Lücken im Archiv in Aykan Safoğlus Kurzfilm Kırık Beyaz Laleler (Off-White Tulips) (2013) 221 227 231

Das Archiv und die Suche nach Langston Analysegegenstand und Vorgehen Kırık Beyaz Laleler (Off-White Tulips) von Aykan Safoğlu 251 251 253 256 263

268 IV

Queere Modi des Erzählens marginalisierter Geschichte(n) James Baldwin und seine Zeit in İstanbul »ent-archivieren« Autobiografisches und biomythografisches Erzählen als Selbstrepräsentation Der »transhistorische Dialog« in Kırık Beyaz Laleler (Off-White Tulips) (2013) »Imaginäre Archive« in Cheryl Dunyes Film The Watermelon Woman (1996) und in Kırık Beyaz Laleler Welten machen aus queerer Erinnerung

Re /Orientierungen und vorläufige Ankunftsorte 276 280 282 285

»Alternative Modi des Wissens«? Disidentifikatorische Selbstrepräsentationen Binaritäten überwinden und andere Visionen, oder: Maybe Queerness is Already Here Reorientierung zu reparativen Praxen

298 310

Literaturverzeichnis Abbildungsverzeichnis

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QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

»I want to note that, for me, the making of theory only transpires after the artists’ performance of counterpublicity is realized for my own disidentificatory eyes« (Muñoz) — deswegen danke ich zu allererst den Künstler_innen Raju Rage, Hasan Aksaygın, Aykan Safoğlu, Sunanda Mesquita, Maque Pereyra und Krishan Rajapashke für ihre Arbeit, ihr Vertrauen in mich, für Freundschaft, unterschiedlichste Formen von Kollaboration und wechselseitigem Support. Ich habe richtig viel von euch gelernt! Ich hoffe, dass ihr euch gesehen fühlt in meinen Analysen. Thank you, Raju, for your friendship and for our exchange! Your words and your work keep inspiring me. Sorry this is written in German! I need to thank all my friends, this project would neither have been started nor finished without the continuous input, empowerment, love, trust from my friends and our queer, PoC, CutieBIPoC networks. Ich danke den zahlreichen Menschen in (QTI)BIPoC-, Woman of Color-, queerfeministischen aktivistischen Gruppen, Räume und Community-Strukturen, an denen ich in Bremen und Berlin teilhaben durfte, für Empowerment, Austausch, Wissen, Solidarität und Freundschaften. Ohne diese Menschen und diese Orte der Wissensproduktion wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Besonders wichtig für mich persönlich waren und / oder sind das CutieBPoC Festival Netzwerk, das Berlin Colloquium of Color, das Move On Up Netzwerk, Diversity Arts Culture, xart splitta e.V., Women of Color Bremen, Transrecht e.V. in Bremen, Zucker Club und die Arbeit vom Migrationsrat Berlin-Brandenburg, LesMigraS, GLADT e.V., i-Päd und ADEFRA. Ich danke meinen Betreuerinnen Barbara Paul und Ulrike Bergermann für die Begleitung meiner Arbeit. Barbara Paul und ich kennen uns bereits seit meinem Masterstudium und sie war eine der ersten, die mir eine Doktorarbeit zugetraut hat. Dein Vertrauen in meine Fähigkeiten als Wissenschaftlerin war wichtig und ich danke dir auch für den Freiraum, den du mir dabei gelassen hast. Außerdem schätze ich, wie du mit dazu beiträgst, Räume für queere Forschung und kulturwissenschaftliche Geschlechterforschung aufrecht zu erhalten. Ulrike Bergermann hat mein medienwissenschaftliches Verständnis und Vokabular stark erweitert, mir sehr viele Möglichkeiten eröffnet und mich ebenfalls sehr gefördert. Besonders schätze ich, dass du trotz vieler institutioneller Zwänge Leidenschaft für Wissenschaft und kritisches Denken vorlebst. Besonders dankbar bin ich meinem Freund, Dozenten und Kollegen Josch Hoenes, den ich verloren habe, bevor ich meine Doktorarbeit beenden konnte. Josch hat als Dozent und Freund großen Anteil an meiner Ausbildung als Wissenschaftlerin und war Vorbild für Queer Survival in der Akademia.

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Danke Mit ihm verbinde ich Austausch zu Geschlechterkonstruktionen in visueller Kultur und das Suchen nach Möglichkeiten »nicht dermaßen regiert zu werden« (Foucault). Du fehlst. Ich hatte das Glück, dass ich den Großteil der Zeit, die ich mit der Arbeit an meiner Dissertation verbracht habe, als wissenschaftliche Mitarbeiterin auf Qualifikationsstellen arbeiten konnte und vielfältige Erfahrungen in der Wissenschaft machen durfte. Begonnen habe ich meine Doktorarbeit im Helene-Lange-Kolleg Queer Studies und Intermedialität: Kunst — Musik — Medienkultur an der Carl-von-Ossietzky Universität Oldenburg — wenn auch temporär einer der wenigen Orte institutionalisierter Queer Studies in Deutschland. Ich danke den Professorinnen, die dies möglich gemacht haben, Barbara Paul, Andrea Sick, Melanie Unseld und Silke Wenk. Silke Wenk war außerdem sehr wichtig für die Entwicklung meines Forschungsinteresses an visueller Kultur. Ganz besonders danke ich meinen ehemaligen Kolleg_innen Josch Hoenes, Atlanta Athens und Natascha Frankenberg, für intensiven Austausch und Unterstützung, Perverse Gefüge und vieles mehr. Das Kolloquium Methodologie Kunst- und Kulturwissenschaftlicher Geschlechterforschung in Oldenburg ist ebenfalls ein wichtiger Ort für meinen Forschungsprozess gewesen und ich danke allen Teilnehmenden für Diskussionen und Feedback. Besonders danke ich Renata Kutinka. Meine zweite Stelle hatte ich am Institut für Medienwissenschaft an der HBK Braunschweig und ich danke meinen ehemaligen Kolleg_innen Rolf Nohr, Heike Klippel, Tim Glaser, Franzi Wagner, Erika Kosch und Ingo Bednarek sehr für die Zeit, in der wir gemeinsam eine ganze Reihe an wirklich großartigen Projekten verwirklicht haben. Außerdem danke ich Adelheid und Ecki Ermgassen für mein Teilzeit-Zuhause in Braunschweig und für eure Herzlichkeit. In Oldenburg, Bremen, Berlin und in Braunschweig habe ich in meinen Seminaren das Glück gehabt, fantastische Studierende kennenzulernen, die sich für intersektionale Fragestellungen begeistern konnten und viel mit mir diskutiert haben. Besonders danke ich Süheda Tozlu, Kathrin Almes, Felix Kappeller, Anujah Fernando, Nielab Juyanda-Nassery, Dunja Lhadib, Maver Kosoğlu, Jaqueline Lisboa, Svetlana Kostic — ihr habt mir Hoffnung gegeben, auch wenn die Akademia mich an meine Grenzen gebracht hat. Unterstützung für meine wissenschaftliche Arbeit habe ich immer wieder beim Projekt Perspektive Promotion in Bremen — einem Projekt zur Förderung von Frauen in der Geisteswissenschaft — gesucht und gefunden. Ganz besonders danke ich Gabi Meihswinkel und Ulle Jäger für Schreibberatung und Peercoaching sowie für euren Feminismus!

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QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

Ich bin unendlich dankbar für die vielen (leider meist prekarisierten) queeren, trans* und BIPoC-Wissenschaftler_innen, die Wissen, Solidarität, aber auch Frust und Verletzlichkeit in akademischen Strukturen mit mir geteilt haben: Reyhan Şahin, Zülfükar Çetin, Jihan Jasmin Dean, Anja Michaelsen, Nanna Lüth, Onur Suzan Nobrega, Nana Adusei-Poku, Noa Ha, Azadeh Sharifi, Jin Haritaworn und besonders Yener Bayramoğlu. Viel von eurem Denken findet sich in meiner Arbeit wieder und ihr inspiriert mich immer wieder von Neuem. Besonders wichtig für die Entstehung meiner Arbeit war auch meine Freundin Sandrine Micossé-Aikins und unser kontinuierlicher Austausch. Danke an dich und auch an Kwesi Aikins, Efia und Kodwo für das Teilen von Wissen und Pancakes. Der Austausch, die Zusammenarbeit und die enge Freundschaft mit Iris Rajanayagam und ihre Perspektive auf Community- und Widerstandsgeschichte(n) haben mich immer wieder weiter gebracht bei meiner Forschung. Danke an dich und meine restliche Berliner Wahlfamilie David, Arasan und Kavini. Koray YılmazGünay hat ebenfalls sein umfangreiches und unschätzbar wertvolles Wissen zu Queer of Color- / QTIBIPoC-Politiken in Berlin und in der Türkei und zu Popkultur mit mir geteilt. Ich danke dir und Ulaş Günay auch für die unzähligen Male, die ich bei euch übernachten durfte, politische Gespräche, Kısır, Ajda Pekkan und ISS-Sichtungen. Besonders dankbar bin ich Koray auch für das Lektorat meiner kompletten Arbeit und ich bin stolz, dass du eine_r meine_r ersten Leser_innen warst. Saida Saad hat ebenfalls meinen gesamten Text gelesen und mir mit vielen klugen und liebevollen Kommentaren weitergeholfen bei der Finalisierung. Ich bin dir unendlich dankbar dafür und glücklich, dass du in meinem Leben bist (cheesy but true). Für die Begleitung in der letzten Phase der Arbeit an meiner Dissertation danke ich meiner geliebten Co-Working Crew Fallon Cabral und Diane Izabiliza, von denen ich gelernt habe wissenschaftliche Arbeit mit Care und vor allem mit Food zu verbinden. Ihr wisst, was ihr mir bedeutet. Tanya Bora möchte ich dafür danken, dass du dir etliche meiner ersten Ideen angehört hast, mir durch Krisen geholfen hast, du meine Nerdyness gefeiert und mich darin bestärkt hast ›Doktor‹ zu werden. Im letzten Jahr war der BPoC Artist Space und meine Zusammenarbeit und Freundschaft mit Kathy-Ann Tan kontinuierliche Quelle von Inspiration und Empowerment. Danke dafür! Außerdem inspirieren mich die Teilnehmenden und das Team der *Foundation Class an der weißensee kunsthochschule berlin immer wieder und die Menschen, die sich dort stark machen für institutionelle Veränderung. Anita Nguyễn, talented Gestalter*in, danke ich für das wunderschöne Layout.

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Danke Viele weitere Freund_innen und wichtige Menschen, die Teil meines Weges waren und sind, haben mich bei meiner Doktorarbeit unterstützt indem sie mich während dieser Zeit angefeuert, aufgefangen, beraten, begleitet, sensibilisiert und empowert haben, teilweise ihre Wohnungen, ihre Süßigkeiten, ihr Schreib- und Küchentische und vieles mehr mit mir geteilt haben: Jennifer Petzen, Emine Demir, Kim Ronacher, Panda Ortmann, Z Schmidt, Serhad Solin, Vika Kirchenbauer, Mathilde Manon, Annisa Chand, Anisha Müller, Bahareh Sharifi, Yemisi Babatola, Diren Yeşil, Britta Scholl, Ragna Müller, Romu Deiniger, Noa Werner, Elianna Renner, Nazanin Ghafouri, Newroz Çelik, Tuğba Tanyılmaz, Ed Greve, Canan Turan, Ford Kelly, Saboura Naqshband, Ruvel Kovalevski, Jonas Hamm, Elif Gökpınar, Jamie Spalt, Lisa Spanka, Tara Sanaaty, Gülden Ediger, Juli Mettler, Jana Behrens, Şükran Gündüz, Gülçin Özbey. Special thanks to my love and inspiring twospirit transactivist and artist Manuel Ricardo Garcia. Meiner Familie, vor allem meiner Schwester Neele Onat und meiner Mama Insa Lienemann danke ich ebenfalls für Cheerleading, Liebe und Unterstützung. Meiner Mama danke ich zusätzlich dafür, dass sie eine frühe Version meiner Doktorarbeit gelesen hat. Es berührt mich, dass du Anteil an meinen Überlegungen und meiner Forschung nimmst. Danke auch an Wolfgang Pruisken und meine Patchwork-Familie. Papa, danke und rest in peace, the painted ponies go up and down. Babaannecim, özledim seni. Dede, son zamanlarda hep seni düşünüyorum. Inanıyormusun? — Ben seni gibi Dr. Onat oldum. Danke an die Queers of Color, QTIBIPoCs, die vor mir da waren und Welten gemacht haben.

PROLOG: BPOC ART AVENGERS Eine Künstlerin of Color besucht eine Vernissage einer Gruppenausstellung verschiedener Berliner Nachwuchskünstler_innen in einer kleinen Popup Galerie. Sie hat mehrere der Signature Drinks getrunken, die dort umsonst angeboten werden und ist nicht satt geworden von den kleinen Appetizern, die performativ durch die Gegend getragen werden. Sie guckt sich die unterschiedlichen Arbeiten an, manche ganz cool, die meisten aber irgendwie gleich und langweilig und steht auf einmal vor einer großen Leinwand. Gemalt in Öl auf dem Bild ist deutlich erkennbar: sie selbst! Ok, ihre Nase ist noch größer als sonst und die feinen dunklen Härchen in ihrem Gesicht über ihrer Lippe sind übertrieben deutlich dargestellt. Aber sie erkennt sich, denn es handelt sich um eine fotorealistische Darstellung von einem Bild aus ihrer Instagram-Story, als sie vor zwei Monaten mit ihren Freund_innen am See war und sie alle Handyfotos mit Matsch und Blüten gemacht hatten. Jetzt hängt ein Bild von ihr – gemalt von einer weißen Künstlerin, die sie nicht mal kennt – hier in dieser Galerie. Und dann hatte die Künstlerin noch die Dreistigkeit, sie einfach nackt zu malen, wenn sie schon ihr Bild klaut! Offensichtlich hat die ihren ›orientalische Schönheit‹ Fetisch ausgelebt und im Hintergrund noch ausgedachte arabische Schriftzeichen, gemischt mit chinesischen Schriftzeichen gemalt. Die Kunststudentin of Color ist wütend und schockiert, sie konfrontiert die Künstlerin und die Galerie, die jedoch nicht einsichtig sind und sich gegen Zensur und für Freiheit von Kunst aussprechen, statt gegen

Diskriminierung und Verletzung von Persönlichkeitsrechten. Die Künstlerin of Color ruft das Kollektiv der BPoC Art Avengers an. Die BPoC Art Avengers brechen in die Galerie ein, schneiden die abgebildete Person of Color aus dem Bild aus und hinterlassen ein Bekenner_innenschreiben. Das Bekenner_innen schreiben ist ein Manifest der BPoC Art Avengers und beschreibt ihre Mission, die Ausbeutung und Objektifizierung von BPoC und ihrer Körper in der Kunst abzuschaffen. In Zukunft soll es nie wieder Bilder geben, die BPoC zum ›Anderen‹ machen, BPoC exotisieren, begaffen, zur Schau stellen, kriminalisieren, monstrifizieren oder entmenschlichen. Es gibt nur noch Selbstrepräsentation von BPoC. Bilder, die diverse Körper in ihrer Einzigartigkeit und Komplexität zeigen, mit denen sich BPoC identifizieren können. Das ist die Mission der BPoC Art Avengers. Die BPoC Art Avengers sind Emergent Strategists. Sie haben verlässliche Beziehungen aufgebaut in ihrer Gruppe – alle kennen sich und ihre jeweiligen Stärken, Grenzen und Fähigkeiten sehr gut und können Verantwortung für sich übernehmen. Alle haben Macht in einer Weise, die nicht bedrohlich ist für andere in der Gruppe. Die BPoC Art Avengers haben eine präzise Analyse von Machtverhältnissen und wollen radikale Veränderung. Sie kommunizieren untereinander direkt mit allen zur Verfügung stehenden Sprachen und können sich zuhören. Sie treffen Entscheidungen im Konsens. Die BPoC Art Avengers wissen genau, welches Wissen und welche Ressourcen nötig sind für ihren Aktivismus. Sie haben starke BPoC Anwält_innen in ihrem Netzwerk. Sie können sich selbst und andere heilen. Sie haben Autor_innen.

Sie haben Hacker_innen und sie haben Fähigkeiten, in verschlossene Gebäude zu kommen. Die BPoC Avengers sind ShapeShifters. Sie haben Fluchtfahrzeuge. Und Superkräfte. Auch einen coolen Titelsong. Das Kollektiv der BPoC Art Avengers funktioniert als ein Fraktal, es funktioniert im Kleinen so gut, dass es sich erweitern lässt in dem viele kleinere Fraktale zu größeren Fraktalen zusammengesetzt werden können, die wiederum zu noch größeren Fraktalen zusammengesetzt werden können. Die BPoC Art Avengers bringen ihrer Schwester ihr Bild zurück und heilen sie. All ihre Kraft platzt heraus aus ihrer Stirn als ein helles, strahlendes Licht, während sie zwei Meter hoch fliegt. Danach hat sie ein Emblem auf der Stirn, das Emblem der BPoC Art Avengers. Das Emblem tragen alle Mitglieder auf der Stirn, aber es ist manchmal unsichtbar. Mit jedem diskriminierenden Bild, welches zirkuliert, wächst das Kollektiv der BPoC Art Avengers.

I

VERFLECHTUNGEN VON KÜNSTLERISCHEM WISSEN, ERFAHRUNGSWISSEN UND AKADEMISCHEM WISSEN

38 1

Den Begriff Queer of Color verstehe ich als Sammel- und Bündnisbegriff für diverse Subjekte, die strukturell betroffen sind von Mehrfachdiskriminierung an den Kreuzungen von u.a. Gender, Sexualität und ›Rassisierung‹. Diese Positionierung ist mein Ausgangspunkt, jedoch einer der sich weiterentwickelt. Entsprechend gegenwärtiger Praxen innerhalb von Communitys, an denen ich mich orientiere, verwende ich im Folgenden eher das Akronym QTIBIPoC (Queer, Trans*, Inter, Black / Schwarze Menschen, Indigenous People, People of Color). Die Politiken der (Selbst-)Bezeichnung und meine Haltung erkläre ich ausführlich im nächsten Teilkapitel. Ich kann vorwegnehmen, dass meine Lösung nicht perfekt ist. Der Begriff Queer of Color droht, bestimmte Subjektpositionen unsichtbar zu machen, die Verwendung des Akronyms QTIBIPoC ebenfalls und kann wiederum Leerstellen überschreiben. So sind Perspektiven von queeren Künstler_innen of Color innerhalb meiner Studie am stärksten vertreten, während es trotz des intersektionalen Anspruchs einige Leerstellen, insbesondere in Bezug auf Kunst und Theorie von Intersex und Indigenous positionierten Subjekten, gibt. Es kommen leider auch keine queeren oder trans* Schwarzen deutschen Künstler_innen vor, sondern USamerikanische. Klasse — und vor allem Behinderung — werden als strukturelle Machtverhältnisse weitaus weniger stark reflektiert als Gender, Sexualität und ›Rasse‹. Trotz dieser Problematik ist es mein Anspruch, ausgehend von positionierten Queer of Color- bzw. von QTIBIPoC-Perspektiven zu denken.

2

Sara Ahmed: »A Phenomenology of Whiteness«, in: Feminist Theory 8 (2), 2007, S. 149—168, hier S. 150—151. Der Begriff ist in meiner Arbeit zentral und wird im Folgenden immer im Anschluss an Sara Ahmed verwendet.

3

adrienne maree brown: Emergent Strategy — Shaping Change, Changing Worlds, Chico, CA, Edinburgh: AK Press 2017, S. 19.

4

Wir bzw. uns meint bei adrienne maree brown in diesem Zusammenhang BIPoCs. Wenn sie jedoch im zweiten Teil des Zitates von »all of us« schreibt, dann könnten damit wiederum alle Menschen gemeint sein im Sinn einer Utopie gesamtgesellschaftlicher Befreiung. Innerhalb dieser Arbeit verwende ich ebenfalls stellenweise das Wort wir. Je nach Kontext sind dabei entweder alle Leser_innen und ich gemeint oder, Queers of Color bzw. QTIBIPoCs, mich eingeschlossen. Ich bemühe darum, kenntlich zu machen, welches ›wir‹ ich adressiere.

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

(1) Orientierungen: Queer of Color1 -Perspektiven als »starting point«2 »We must imagine new worlds that transition ideologies and norms, so that no one sees Black people as murderers, or Brown people as terrorists or aliens, but all of us as potential cultural and economic innovators. This is a time-travel exercise for the heart. This is collaborative ideation — what are the ideas that will liberate all of us?«3 Was sind die Ideen, die ›uns‹4 befreien? Was ist nötig, damit Stereotypisierungen von Schwarzen Menschen5 als ›Mörder‹, von People of Color als ›Terroristen‹ oder ›Fremden‹ nicht nur hinterfragbar werden, sondern tatsächlich aufhören und ersetzt werden durch angemessene, wertschätzende Repräsentationen, Blicke6 und Wahrnehmungen? Afrofuturistische Science-Fiction-Romane wie die von Octavia Butler und andere Formen von künstlerischem und kreativem Ausdruck aus Schwarzen und anderen strukturell minorisierten Perspektiven sind für die Schwarze queere emergent Strategistin7 und pleasure Aktivistin8 adrienne maree brown Mittel, die uns erlauben, andere Welten und Zustände zu imaginieren, die sich vom Status quo unterscheiden. Die Stereotype, die brown hier benennt, können mit dem Schwarzen Kulturwissenschaftler Stuart Hall bezeichnet werden als »regime of representation«.9 Wie würde eine Welt aussehen, in der Körper von Schwarzen, Indigenous, of Color Personen, die queer, trans* oder inter sind — von QTIBIPoCs oder Queers of Color — nicht regiert werden durch heterosexistische, transfeindliche und rassistische Bilder und Blicke? Wenn Rassismus und Heterosexismus unter anderem visuell (re-)produziert werden, beispielsweise in dem über visuelle Repräsentationen von ›Terroristen‹ ein Bild hergestellt wird, wie diese vermeintlich aussehen, wenn in Werbeclips für Leberwurst implizit ein Bild der idealtypischen deutschen Familie als heteronormative weiße Mittelschichtsfamilie konstruiert wird oder — in ›Meisterwerken‹ der Kunstgeschichte die ›Schönheit‹ weißer Frauen über kontrastive Schwarze Figuren im Bild betont werden soll, macht dies deutlich, dass Interventionen in rassistische und heterosexistische Verhältnisse unter anderem im Feld des Visuellen stattfinden müssen. Kunst, Medien und visuelle Kultur

39 5

Entsprechend der editorischen Richtlinie des für den deutschen Kontext wegweisenden, von Susan Arndt, Maisha Auma (Maureen Maisha Eggers), Grada Kilomba und Peggy Piesche herausgegebenen Sammelbandes Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland wird Schwarz auch in der adjektivischen Verwendung großgeschrieben, um zugleich kenntlich zu machen, dass dabei auf eine politische Selbstbezeichnung und nicht um eine biologistische Konstruktion wie Hautfarbe referiert wird. Die Großschreibung steht zugleich für ein Widersetzen gegen die Subordination Schwarzer Subjekte. Im Gegensatz zu den Herausgeberinnen von Mythen, Masken und Subjekte habe ich mich gegen die Kursivsetzung von weiß entschieden. Während die Markierung von Weißsein als dem, was üblicherweise unmarkiert bleibt, zwar ein gewichtiges Argument darstellt, produziert die Kursivsetzung in meiner Erfahrung doch den Effekt einer Hypersichtbarkeit von Weißsein im Schriftbild, was meinem Anliegen der Zentrierung von Queer of Color bzw. QTIBIPoC (Queer, Trans*, Inter, Schwarze (Black) Menschen, Indigenous People, People of Color) Perspektiven zuwiderlaufen kann. Vgl. Maureen Maisha Eggers / Grada Kilomba / Peggy Piesche / Susan Arndt: »Konzeptionelle Überlegungen«, in dies. (Hg.): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster: Unrast 2005, S. 11—13.

6

Ich verwende viele Begriffe, die von einer ableistischen Norm des Sehens ausgehen und Blinde und sehbehinderte Perspektiven nicht angemessen berücksichtigen. Dabei könnten gerade diese ein Verständnis Visueller Kultur bereichern. Es bedarf einer stärkeren Sensibilisierung für Ableismus (Behindertenfeindlichkeit) innerhalb der Disziplinen, in denen ich verortet bin und auch in Bezug auf mein eigenes Denken.

7

adrienne maree brown, 2017.

8

adrienne maree brown: Pleasure Activism. The Politics of Feeling Good, Chico, CA, Edinburgh: AK Press 2019.

9

»We may describe the whole repertoire of imagery and visual effects through which ›difference‹ is represented at any one historical moment as a regime of representation«, Stuart Hall (Hg.): Representation. Cultural Representations and Signifying Practices, London: Sage 1997, S. 232. Den Begriff des Repräsentationsregimes verwende ich innerhalb dieser Arbeit immer mit diesem Bezug auf Stuart Hall.

10

Silke Wenk bezeichnet mit Praktiken des Zu-Sehen-Gebens nicht nur Sichtbar-Gemachtes sondern auch

Verflechtungen von künstlerischem Wissen, Erfahrungswissen und akademischem Wissen

sind wichtige Gegenstände für rassismuskritische, postkoloniale und queere Forschung. Mit ästhetischen Strategien und Formen des »Zu-Sehen-Gebens«10 können Machtverhältnisse sowohl reproduziert als auch subvertiert werden. Studien zur visuellen Kultur / Visual Culture Studies und kritische Ansätze aus der Kunst- und Medienwissenschaft, insbesondere die Feministische Kunstwissenschaft, haben gezeigt, dass Visuelles in Auseinandersetzungen um Macht und Herrschaft eine zentrale Rolle spielt.11 Diesen Zugängen ist gemein, dass sie zu großen Teilen einem Modus der Ideologiekritik verschrieben sind, bei dem in visuelle Technologien der (Re-)Produktion bestehender Machtverhältnisse interveniert wird. Was ist jedoch mit den Perspektiven derer, die durch Regime der Repräsentation zum ›Anderen‹ gemacht oder durch Stereotypisierung besonders getroffen werden? Mein Ansatz ist einer, der mit dem Material, das heißt mit den künstlerischen Arbeiten von Queers of Color bzw. von QTIBIPoCKünstler_innen12, kritische Interventionen vornehmen will.13 Mit dieser Perspektivierung verbinde ich Queer of Color-Kritik mit Ansätzen der Kunst- und Medienwissenschaften und Studien zur visuellen Kultur. Die Frage, wie sich visuelle Regime der Repräsentation aufbrechen lassen, beschäftigt mich seit langem und hat mich zu Kunst von QTIBIPoCs gebracht. Kunst verstehe ich als Form der Wissensproduktion und mich interessiert das künstlerische Wissen in Verbindung mit einem positionierten Erfahrungswissen14 von QTIBIPoC-Künstler_innen. Ich gehe davon aus, dass eine solche Verbindung widerständige Strategien hervorbringen kann, die dominanzkulturelle15 Repräsentations- und Blickregime16 herausfordern, kritische Gegenöffentlichkeiten schaffen, eigene Visionen entwickeln oder sogar neue Welten vorstellbar machen. Analog zu adrienne maree brown und anderen argumentiere ich, dass für eine Kritik an rassistischen und heteronormativen Repräsentations- und Blickregimen die Perspektiven von Subjekten, die selbst von struktureller Diskriminierung betroffen sind, die Widerstand leisten gegen Projektionen auf den eigenen Körper und gegen gewaltvolle Zuschreibungen oder die auf lebbarere Selbstentwürfe angewiesen sind, besonders relevant sind. Wie lassen sich diese Entwürfe durch eine intensive Auseinandersetzung mit Kunst aus QTIBIPoC-Perspektiven nachzeichnen? Welche Skizze von Queer of Color-Kritik in Kunst und visueller Kultur wird entworfen? Queere Orientierungen und queere Phänomenologie »Queere Orientierungen«17 sind, so Sara Ahmed, solche, die Körper und Objekte erreichbar machen, die aufgrund von konventionellen Genealogien sonst unerreichbar sind,

40 Unsichtbar-Gemachtes. Mit dem Begriff wird auch eine Abgrenzung gegenüber dem Bild-Begriff der Bildwissenschaft vorgenommen. Ich präzisiere diesen Punkt später im Kapitel Visuelle Kultur, Machtverhältnisse und Transformation. Silke Wenk: »Praktiken des Zu-Sehen-Gebens aus der Perspektive der Studien zur visuellen Kultur«, in: Thomas Alkemeyer / Gunilla Budde / Dagmar Freist (Hg.), Selbst-Bildungen, Bielefeld: transcript 2013, S. 275—290, hier S. 277. 11

Hier kann aufgrund der großen Zahl an Studien nur exemplarisch auf einige Veröffentlichungen verwiesen werden, die im Kontext dieser Arbeit besonders relevant sind. Siehe u.a. bell hooks: Black Looks. Popkultur — Medien — Rassismus, Berlin: Orlanda 1994; Kaja Silverman: The Threshold of the Visible World, London, New York: Routledge 1996; Nicholas Mirzoeff (Hg.): The Visual Culture Reader, London, New York: Routledge 2002; W. J. T. Mitchell: Bildtheorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008; Johanna Schaffer: Ambivalenzen der Sichtbarkeit. Über die visuellen Strukturen der Anerkennung, Bielefeld: transcript 2008; Barbara Paul / Johanna Schaffer (Hg.): Mehr(wert) queer — Queer Added (Value). Visuelle Kultur, Kunst und Gender-Politiken — Visual Culture, Art, and Gender Politics, Bielefeld: transcript 2009; Amelia Jones (Hg.): The Feminism and Visual Culture Reader, London, New York: Routledge 2010 sowie Tobin Siebers: Disability Aesthetics, Ann Arbor: University of Michigan Press 2010. Für eine deutsche Einführung in visuelle Kultur als »transdisziplinäres Forschungsfeld« siehe: Sigrid Schade / Silke Wenk: Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld, Bielefeld: transcript 2011. Für eine neuere Studie zum Sehen in Kunst und visueller Kultur siehe: Susanne von Falkenhausen: Beyond the Mirror. Seeing in Art History and Visual Culture Studies, Bielefeld: transcript 2020.

12

Der Unterstrich lässt einen symbolischen Raum für die Personen, die weder von der femininen noch von der maskulinen Form repräsentiert werden, und soll im Schriftbild sichtbar machen, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt. Die Schreibweise wird auch als »Gender Gap« bezeichnet. Vgl. Steffen K. Hermann: »Performing the Gap — Queere Gestalten und geschlechtliche Aneignung«, in: Arranca! (28), 2003, S. 22—26.

13

Hier beziehe ich mich auf Josch Hoenes: Nicht Frosch — nicht Laborratte: Transmännlichkeiten im Bild. Eine kunst- und kulturwissenschaftliche Analyse visueller Politiken, Bielefeld: transcript 2014, S. 148.

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

solche die vorher vielleicht nur im Hintergrund18 waren oder solche, die nicht den tradierten Linien folgen, die es anderen Objekten erlauben, im Blickfeld zu erscheinen. Orientierung bestimmt für Ahmed nicht nur, wie wir die Welt als geteilten Raum wahrnehmen, sondern auch, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten.19 In diesem Sinn verstehe ich meine Fokussierung auf künstlerische Arbeiten von QTIBIPoCs als Einnehmen einer queeren Orientierung. Ich gehe davon aus, dass darüber hinaus die Künstler_innen und ihre Arbeiten selbst queere Orientierungen ermöglichen. Mit der Frage der Orientierung lässt sich darüber nachdenken, was die Voraussetzungen für Queer of Color-Kritik im Feld des Visuellen und innerhalb von Kunst- und Medienwissenschaft sind und was die Potenziale eines solchen Ansatzes sind. In ihrem Buch Queer Phenomenology. Orientations, Objects, Others20 fragt Ahmed, was es bedeutet, orientiert zu sein, welche Rolle Objekte für Orientierung spielen und welchen Unterschied macht es, wohin wir uns orientieren (bzw. orientiert werden)?21 Ihr theoretischer und philosophischer Rahmen ist die Phänomenologie, wobei sie sich insbesondere auf die Arbeiten von Edmund Husserl bezieht, aber auch auf Maurice Merleau-Ponty. Sie entwickelt einen Ansatz queerer Phänomenologie, der eine Analyse heteronormativer und postkolonialer Machtverhältnisse ermöglicht, indem sie unter anderem in Bezug auf sexuelle Orientierung das Wort Orientierung wörtlich nimmt und fragt, was es heißt, Begehren als orientiert zu denken. Begehren als Teil sexueller Orientierung ist bei ihr räumlich und zeitlich verortet. Damit verbunden ist zudem eine Ausrichtung zu Objekten (des Begehrens). Wie orientieren Objekte des Begehrens unsere Körper (räumlich) und wie wirken sie sich darauf aus, was unsere Körper tun können und welche Wege uns ›offen‹ stehen?22 Queere Phänomenologie beginnt für Ahmed damit, die Aufmerksamkeit umzuleiten auf ›andere‹ Objekte, auf solche die (aus dominanzkulturellen Perspektiven), weniger nah oder abweichend bzw. deviant sind.23 Standpunkte und Startpunkte Der Punkt, von dem aus wir starten und wie wir von ›hier‹ weiter machen ist zentral für die Frage der Orientierung:24 »If we start with the point of orientations, we find that orientations are about starting points. […] Orientations are about how we begin, how we proceed from ›here‹. Husserl relates the questions of ›this side or that side‹ to the point of ›here‹, which he also describes as the zero-point of orientation, the point from which the world unfolds, and which makes what is ›there‹ over ›there‹.«25

41 14

Vgl. Patricia Hill Collins: Black Feminist Thought. Knowledge, Consciousness, and the Politics of Empowerment, London, New York: Routledge 2009 (1990).

15

Zum Begriff der Dominanzkultur vgl. Birgit Rommelspacher: Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht, Berlin: Orlanda 1998; für eine Aktualisierung des Begriffs vgl. Iman Attia: Dominanzkultur reloaded. Neue Texte zu gesellschaftlichen Machtverhältnissen und ihren Wechselwirkungen, Bielefeld: transcript 2015. Der Begriff wird im Folgenden immer im Anschluss an Rommelspacher bzw. Attia verwendet.

16

Den Begriff des Blickregimes, die deutsche Übersetzung von Gaze, verwende ich hier und im Folgenden mit Bezug auf Kaja Silverman. Die Theorie des Blickregimes beschreibt, vereinfacht gesagt, wie das, was wir sehen und wie wir gesehen werden, normativ strukturiert ist. Es ist meines Erachtens ein sinnvolles Werkzeug, um zu verstehen, warum bestimmte Positionen aus einer dominanten Perspektive so gut wie unsichtbar sind, und warum es so schwer ist, Normen zu verändern. Vgl. Kaja Silverman: »Dem Blickregime begegnen«, in: Christian Kravagna (Hg.), Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur, Berlin: Edition ID-Archiv 1997, S. 41—64; Kaja Silverman, 1996. Siehe außerdem: Johanna Schaffer, 2008.

17

Sara Ahmed: Queer Phenomenology. Orientations, Objects, Others, Durham, London: Duke University Press 2006, S. 107.

18

Die Frage, was sich im Hintergrund und im Vordergrund befindet, spielt in Sara Ahmeds phänomenologischen Überlegungen eine wichtige Rolle und wird übertragbar auf die Analyse des Verhältnisses von minorisierten Subjekten zur Dominanzkultur. Vgl. ebd.

19

Ebd. S. 3.

20

Vgl. Sara Ahmed, 2006.

21

Vgl. ebd.

22

Vgl. ebd. S. 65—108.

23

Vgl. ebd. S. 3.

24

Vgl. Sara Ahmed, 2007, S. 150—151.

25

Ebd.

26

Sara Ahmed, 2006, S. 55.

27

Ebd. S. 107.

28

Prominent zum Verhältnis Zentrum / Peripherie aus Schwarzer feministischer Perspektive siehe: bell hooks: Feminist Theory: From Margin to Center, London: Pluto Press 2000 (1984).

29

Sara Ahmed, 2006, S. 107. Diese Überlegung Ahmeds dazu, wie Orientierung bedingen, was

Verflechtungen von künstlerischem Wissen, Erfahrungswissen und akademischem Wissen

QTIBIPoC-Perspektiven kommen innerhalb akademischer Diskurse nur selten in den Blick oder sind selten Teil des Horizonts der wissenschaftlichen Disziplinen, zwischen denen ich mich bewege — sie sind »beyond the horizon«26 bzw. nicht »within reach«27. Warum ist das so und welche Konsequenzen folgen daraus, dass QTIBIPoCs ausgehend von der Position der meisten Wissenschaftsdiskurse weit weg sind oder an den Rändern (margins), aber nicht im Zentrum erscheinen? Mit Sara Ahmed können wir das Verhältnis von Peripherie / Zentrum (margin / center)28 wörtlich nehmen als räumliche Anordnung, die Nähe und Ferne beinhaltet und damit nicht nur bestimmt, dass aus der Position der Peripherie, der marginalisierten Position, das Zentrum oft nicht erreichbar ist, sondern umgekehrt aus einer Position im Zentrum bestimmte, an den Rand gedrängte Objekte oder auch Subjekte nicht in Reichweite oder »within reach«29 sind. In der Regel ist das Zentrum der Ort, »from which the world unfolds«30, wie Sara Ahmed erklärt. Der Zusammenhang zwischen den Startpunkten und Orientierung bei Ahmed erinnert an die Formulierung der feministischen Standpunkttheoretikerin Sandra Harding »Thinking from Women’s Lives«31 — die gelebte Erfahrung von Frauen wäre der Ausgangspunkt für eine feministische (Neu-)Orientierung als Alternative zu einer androzentrischen Wissenschaft. In meiner Arbeit soll Queer of Color-Kritik der Anfangspunkt sein, der »starting point […] from which the world unfolds«32, und diese Welt ist möglicherweise eine die ›wir‹33 noch nicht kennen. Innerhalb meines Studiums der Gender Studies34 konnte ich beobachten, dass es in den Einführungsseminaren — meist zu einem der letzten Termine — eine Sitzung zum Thema Intersektionalität gab. Gender in Verschränkung mit z. B. Rassismus zu denken, war (und ist) in der Regel der Endpunkt, nicht der Anfangspunkt. Verschiedene Machtverhältnisse in ihren Verschränkungen und ihrem Zusammenwirken zu verstehen, scheint als so komplex, dass es quasi eine längere Hinführung braucht — erst Gender einzeln begreifen, dann in Verschränkung. Was bedeutet es für diejenigen Subjekte, zu deren Alltagserfahrung es gehört, ihr Geschlecht immer in Kombination mit anderen Identitäts- bzw. Differenzkategorien zu erleben? Und was bedeutet es wiederum für weiße Subjekte, ihr Geschlecht unverschränkt denken zu können? Wenn Weißsein, wie Ahmed erklärt, eine Form der Orientierung involviert,35 und es bei Orientierungen darum geht, wo wir beginnen und wie es von ›hier‹ weitergeht, dann können wir fragen, wie auch die Gender Studies in einer Weise orientiert sind, bei der Weißsein recht selbstverständlich der Punkt ist, von dem aus sich die Welt entfaltet. Diese Frage hat auch eine räumliche Dimension, wenn wir die Positionierung innerhalb von Ordnungen in

42 erreichbar ist oder sich in Reichweite befindet, greife ich — ähnlich wie den Begriff des Orientation Device — im Rahmen meiner Untersuchung immer wieder auf. Wenn ich den Ausdruck »within reach« oder deutsche Übersetzungen verwende, dann beziehe ich mich immer auf Ahmed. 30

Sara Ahmed, 2007, S. 150—151.

31

Sandra Harding: Whose Science? Whose Knowledge? Thinking from Women’s Lives, Ithaca: Cornell University Press 1991, Herv. R.O.

32

Sarah Ahmed, 2007, S. 150—151.

33

Mit ›wir‹ sind hier und allgemein in diesem Teilkapitel alle Leser_innen adressiert, was jedoch nicht homogenisierend gemeint ist.

34

Ich habe an der Universität Bremen und der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg zwischen 2007—2010 den BA Nebenfachstudiengang Gender Studies studiert und während meines Masters an der Carl-von-OssietzkyUniversität Oldenburg eine Reihe von Tutorien in den Gender Studies geleitet. Meine Eindrücke stammen also in erster Linie aus dieser Zeit und aus diesem Kontext.

35

Vgl. Sara Ahmed, 2006, S. 126. Dort schreibt sie: »I am not suggesting, that ›whiteness‹ is one such ›reachable object‹ but rather that whiteness is an orientation that puts certain things within reach.«

36

Vgl. u.a. Donna Haraway: »Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive«, in: Carmen Hammer / Immanuel Stiess (Hg.), Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt am Main, New York: Campus 1995, S. 73—98; Sandra G. Harding: Feministische Wissenschaftstheorie. Zum Verhältnis von Wissenschaft und sozialem Geschlecht, Hamburg: Argument 1999 (1990); Sandra Harding, 1991; Patricia Hill Collins, 2009 (1990). Zusammenfassend siehe: Mona Singer: »Feministische Wissenschaftskritik und Epistemologie: Voraussetzungen, Positionen und Perspektiven«, in: Ruth Becker / Beate Kortendiek (Hg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010, S. 292—301 sowie Sandra Harding (Hg.): The Feminist Standpoint Theory Reader. Intellectual and Political Controversies, London, New York: Routledge 2004.

37

Sara Ahmed, 2006, S. 5.

38

Vgl. Sara Ahmed, 2006, S. 139—140. Dort schreibt Sara Ahmed von einer »Phänomenologie des GestopptWerdens« die sie u.a. anhand ihrer

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

Macht- und Herrschaftsverhältnissen denken als Verortungen oder Standpunkte. Das Verständnis von Positionierung, das meinen Überlegungen zu Grunde liegt, geht aus von einer Definition die durch kollektive Prozesse der Wissensproduktion innerhalb von BIPoC-Communitys im deutsch(sprachig)en Kontext geprägt ist: Positionierung bedeutet eine spezifische Position innerhalb intersektionaler struktureller Machtverhältnisse, die wiederum relevant dafür ist, ob / wann / unter welchen Bedingungen ein Subjekt innerhalb dieser Machtverhältnisse privilegiert ist oder Diskriminierung erfährt. Allerdings bedarf es diesbezüglich einer Übersetzungsleistung für den wissenschaftlichen Diskurs, denn hier wird der Begriff der Positionierung teilweise als gleichbedeutend mit Identität(spolitik) verstanden. Der Standpunkt dagegen umfasst auch weitere Dimensionen — Positionierung ist nur ein besonders wichtiger Aspekt. Den eigenen Standpunkt zu reflektieren und transparent zu machen, um eine Situierung des Wissens zu praktizieren, ist eine der zentralen Forderungen feministischer Standpunkttheorie.36 Es gilt, mit Ahmeds Worten, auf feministischer Standpunkttheorie und Schwarzem Feminismus aufzubauen »by reconsidering the ›orientated‹ nature of such standpoints.«37 In Verbindung mit Sara Ahmeds phänomenologischer Perspektive lassen sich Ansätze feministischer Standpunkttheorie aktualisieren und produktiv erweitern, indem reflektiert wird, wie der Standpunkt die Richtung des Blicks bestimmt, welche Objekte von einem jeweiligen Standpunkt im Blickfeld oder am Horizont erscheinen und welche dieser Objekte uns dabei nah sind und welche fern. Es muss allerdings festgehalten werden, dass sich beides — Standpunkt und Orientierung — gegenseitig bedingt. Der Standpunkt ist der Ausgangspunkt für Orientierung. Das Wort Standpunkt setzt sich zusammen aus den Wörtern Stand — vom Verb stehen — und Punkt. Damit hat der Begriff etwas Statisches und scheint fixiert. Orientierung suggeriert Bewegung und Ausrichtung und ist damit ein dynamischerer Begriff. Wichtig ist, dass die größere Dynamik von Orientierung — im Vergleich zum Standpunkt — nicht zu verwechseln ist mit (Bewegungs-)Freiheit. Gerade Rassismus bewirkt es, »gestoppt«38 zu werden, an Grenzen zu stoßen bzw. sich in Räumen zu befinden, die die Reichweite beschränken. Der Standpunkt lässt sich nicht einfach zurücklassen, ohne dass dadurch eine Linie produziert würde, die sich zurückverfolgen lässt. Dennoch ermöglicht Orientierung eine Vorstellung davon, dass wir nicht auf einen Punkt festgelegt sind — das Subjekt innerhalb queerer Phänomenologie also eines, das über ein gewisses Maß an Handlungsfähigkeit bzw. Agency verfügt. Es scheint denkbar, dass es die Möglichkeit gibt, sich zu entscheiden, wohin ich mich orientiere, und meine Aufmerksamkeit richte, dass ich mich umorientieren oder desorientiert werden

43 eigenen Rassismuserfahrungen bei Passkontrollen an Flughäfen entfaltet. 39

Zu Objekten als »orientation devices« vgl. Sara Ahmed, 2006, S. 80.

40

Ebd.

41

Ebd. Ich verwende den Begriff im Folgenden immer mit Bezug auf Sara Ahmed.

42

An dieser Stelle verwende ich den Begriff anders als Sara Ahmed 2006, die ihn am Ende von Queer Phenomenology einführt und die in mit einem queeren, positiven Potenzial (S. 177) aufgrund der damit verbundenen Abweichung von den straight lines verbunden sieht. Während ich diesen Punkt ebenfalls wichtig finde, verwende ich den Begriff, um die Erfahrung zu beschreiben, vom eigenen Vorhaben oder Weg abgebracht zu werden im Versuch, von den hegemonialen Linien im Kontext akademischer Wissensproduktion abzuweichen. Dies könnte mit Sara Ahmed aber auch durch »straightening devices« geschehen (S. 92).

43

Vgl. Sara Ahmed, 2006, S. 86.

44

Ebd. S. 55.

45

Ebd.

Verflechtungen von künstlerischem Wissen, Erfahrungswissen und akademischem Wissen

kann, vielleicht sogar andere vom Weg abbringen oder bei der Orientierung behilflich sein kann mit Wegbeschreibungen oder Navigationsgeräte bzw. »orientation devices«39 benutzen kann. »Orientation devices«40 Objekte fungieren — mit Sara Ahmed — als »orientation devices«.41 Orientation Devices sind Orientierungshilfen, die dabei helfen sollen, Wege zu finden oder noch viel mehr — Ziele zu finden, Endpunkte, Orte, an denen man ankommen möchte. Das können zum Beispiel GPS-Geräte (Global Positioning System) sein, Karten, Sterne, Suchhunde. Solche Orientation Devices haben jeweils Vor- und Nachteile, je nachdem, wie man sich fortbewegt, was genau man sucht, über welche Fähigkeiten in der Nutzung von Orientation Devices man verfügt oder auch, wie gut die Technik entwickelt ist, wie anwendungsfreundlich sie ist und welche Fehler enthalten sind. Google Maps ist beispielsweise in vielen Situationen ein hilfreiches Orientation Device — mit dem Fahrrad kann es jedoch zum »disorientation device«42 werden oder zumindest zu Umwegen führen. So ähnlich fühlt es sich oft als queere Wissenschaftlerin of Color innerhalb der Akademia an. Es ist interessant, dass das Wort device sich nicht so leicht ins Deutsche übersetzen lässt und Gerät, aber auch Mittel, Vorrichtung oder Medium bedeuten kann. Unsere Orientierungen bestimmen beständig, wo sich welche Objekte im Verhältnis zu uns befinden, und im Gegenzug bestimmen Objekte auch, wohin wir unsere Körper bewegen und ausrichten, also wohin wir uns orientieren. Wichtig ist dabei, dass Objekte für Ahmed nicht nur materielle Objekte sind, sondern auch Werte, Kapital, Styles, Projekte oder Bestrebungen.43 Eine Reflexion über die Wirkweisen von Objekten als Orientation Devices liefert zudem Schnittstellen zu Kunstund Medienwissenschaften, in dem wir beispielsweise fragen können, welche Orientierungen durch künstlerische Objekte möglich werden. Das ist eine wichtige Frage in meinen Analysen der Arbeiten von QTIBIPoC-Künstler_innen. »What is reachable is determined precisely by orientations that we have already taken«44 Was wir wahrnehmen können, was unsichtbar bleibt und welche Objekte in unserem Blickfeld erscheinen, ist nicht willkürlich oder zufällig, wie Sara Ahmed betont, sondern wird bestimmt durch »Orientierungen, die wir bereits vorgenommen haben«45. Dies ist ein zentraler Punkt: Wie wir oben gesehen haben ist es für die Frage der Orientierung wichtig, welches die Startpunkte sind. Diese Startpunkte sind jedoch nicht ohne eigene Geschichten. Wenn Startpunkte vergleichbar mit Standpunkten sind, dann können wir hier genauer fragen, was die

44

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

46

Vgl. Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: de Gruyter 2010 (1945).

47

Sara Ahmed: »Kollektive Gefühle oder die Eindrücke, die andere hinterlassen«, in: Angelika Baier / Christa Binswanger / Jana Häberlein / Yv Eveline Nay / Andrea Zimmermann (Hg.), Affekt und Geschlecht. Eine einführende Anthologie, Wien: Zaglossus 2014, S. 183—214.

48

Vgl. Sara Ahmed, 2006, S. 28.

Geschichte dieser Standpunkte ist. Der Körper ist nach dem phänomenologischen Verständnis Ausgangspunkt von Wahrnehmung, es ist also keine körperlose Epistemologie.46 Körper, Objekte und Orientierung hängen insofern zusammen, als dass unsere körperliche Ausrichtung oder Orientierung, bestimmt, welche Objekte sich links oder rechts, nah oder fern von uns befinden. Umgekehrt gibt es im Ansatz queerer Phänomenologie ein verstärktes Nachdenken darüber, welche Wechselwirkungen Körper, Räume und Objekte miteinander hervorbringen und wie beispielsweise bestimmte Dinge, Tätigkeiten oder Geschichte Abdrücke in Körpern und anderen Objekten hinterlassen.47 Sara Ahmed erklärt dies anhand des Beispiels von Husserls phänomenologischer Beschreibung seines Arbeitsplatzes. Er sitzt an seinem Schreibtisch, sein Blick schweift ab durch das Fenster, wo im Garten seine Kinder spielen. Die Kinder seien weiter weg als das Papier, von dem Platz aus, an dem er sitzt, von dem aus er die Welt betrachte.48 Der Schreibtisch erscheint im Blickfeld des Philosophen aufgrund seiner Arbeit, der er sich zuwendet. Zugleich schreibt sich seine Tätigkeit auch ein in das Objekt, macht es zu einem Schreibtisch. Warum ist es gerade dieses Objekt, dem er sich zuwendet? Und warum gerade diese Art von Tisch und nicht etwa ein Küchentisch? Seine Arbeit ist eine Orientierung, die seiner phänomenologischen Beschreibung seiner Umwelt vorausgeht, also mit Sara Ahmed »eine Orientierung, die schon vorgenommen wurde.«49 Sie fragt weiter, welche Objekte durch die Orientierung Husserls zu seinem Schreibtisch, durch seine Arbeit als Philosoph, in den Hintergrund treten. Was im Hintergrund bleibt, ist beispielsweise die Reproduktionsarbeit seiner Ehefrau, die es ermöglicht, dass er sich seinem Schreibtisch zuwenden kann.50 Orientierungen, die ›wir‹ schon vorgenommen haben,51 sind demnach keine zufälligen oder keine, die nur etwas mit unseren persönlichen Interessen zu tun haben, sie geschehen immer im Kontext gesellschaftlicher Machtstrukturen, sind beispielsweise vergeschlechtlicht. Orientierungen bestimmen, welche Objekte überhaupt Objekte der Wahrnehmung werden (können) und welche Objekte innerhalb oder auch außerhalb unserer52 Reichweite sind:

49

Ebd. S. 56, eigene Übersetzung.

50

Vgl. ebd. S. 63.

51

Ebd. S. 56, eigene Übersetzung.

52

Es ist wichtig anzumerken, dass es sich individuell unterscheidet, für wen von ›uns‹ welche Dinge innerhalb und außerhalb der Reichweite sind, entsprechend der jeweiligen Positionierungen und »orientations that we have already taken«, wie ich im Folgenden weiter ausführe. Sara Ahmed, 2006, S. 55.

»We might think that we reach for whatever comes into view. And yet, what ›comes into‹ view, or what is within our horizon, is not a matter simply of what we find here or there, or even where we find ourselves as we move here or there. What is reachable is determined precisely by orientations that we have already taken. Some objects don’t even become objects of perception, as the body does not move toward them:

45 53

Ebd. S. 55—56, Herv. R.O.

54

Auch hier beziehe ich mich auf Ahmed und ihre Überlegungen zu »inheritance«: »Such an inheritance can be rethought in terms of orientations: we inherit the reachability of some objects, those that are ›given‹ to us or at least are made available to us within the family home.« Sara Ahmed, 2006, S. 126.

55

Ebd. S. 22.

56

Mit wir meine ich hier vor allem queere Wissenschaftler_innen of Color.

57

Sara Ahmed, 2006, S. 22.

Verflechtungen von künstlerischem Wissen, Erfahrungswissen und akademischem Wissen

they are ›beyond the horizon‹ of the body, and thus out of reach. The surfaces of bodies are shaped by what is reachable. Indeed, the history of bodies can be rewritten as the history of the reachable. Orientations are about the directions we take that puts some things and not others in our reach. So the object, which is apprehending only by exceeding my gaze, can be apprehended only insofar as it has become available to me: its reachability is not simply a matter of its place or location (the white paper on the table, for instance), but is shaped by the orientations I have taken that mean I face some ways more than others (toward this kind of table, which marks out the space I tend to inhabit).«53 Welche Orientierungen in der Vergangenheit haben dazu geführt, dass ich jetzt an meinem Schreibtisch sitze und dieses Buch schreibe? Wie ist meine Perspektive bestimmt durch meine Positionierung? Wenn ich mich mit Queer of ColorKritik und Arbeiten von QTIBIPoC-Künstler_innen beschäftige, dann sind dies Themen und Objekte, die mir aufgrund meiner eigenen Positionierung nah sind. Sie sind nah, aufgrund der Orientierungen, die ich bereits vorgenommen habe, die meinen Standpunkt und damit meinen Blickwinkel, meine Perspektive und meine Zugänge formen. Diese Orientierungen sind sowohl die vergangenen und gegenwärtigen Diskurse, die meine Subjektivität geformt, sich in meinen Körper eingeschrieben haben und die Räume, in denen ich verortet bin, eine Positionierung, die eine geerbte ist,54 als auch eine solche, um die ich mich aktiv bemüht habe, für die ich gearbeitet habe. »Disciplinary Lines«55 Die Frage der Orientierung ist auch eine Frage der Genealogie und des Kanons. Denn was sind die Anfangspunkte unseres Denkens oder die Stationen auf dem Weg, an denen immer angehalten werden muss? Die Stationen sind oft kanonisch gewordene Theorien weißer Theoretiker_innen, die wir nicht umfahren oder überspringen können, aber die oft den Weg sehr langsam machen oder dazu führen, dass wir aussteigen, bevor wir angekommen sind.56 Diese Stationen bilden eine Linie oder einen Pfad innerhalb der jeweiligen Disziplin oder dem Forschungsfeld, mit Sara Ahmed eine »disciplinary line«57. Denn Orientierungen basieren auf Wegen, die wir betreten, zwischen Start- und Zielpunkten. Wege oder Linien bestehen aus vielen Punkten. Die disciplinary lines erschweren eine Auseinandersetzung mit Queer of Color-Kritik, als Objekt, das im und vom deutschen akademischen Diskurs aus eines ist, das ›weit weg‹ ist bzw. nur am Rand in Erscheinung tritt. Folge ich

46

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

58

der disciplinary line, dann komme ich als Wissenschaftlerin of Color mit einem persönlichen Forschungsinteresse an QTIBIPOCWissen, womöglich erst nach einem langen Weg dort an wo ich eigentlich hinwill. Ich muss einen Umweg gehen. Oder ich werde desorientiert. Aber selbst die an sich geraden Linien der disciplinary lines führen je nach Disziplin woanders hin oder laufen woanders entlang. Was bedeutet dies für inter- oder transdisziplinäre Zugänge? Das Bild der Linien und die Frage, ob / an welchen Punkten sich diese Linien treffen, verdeutlicht die Schwierigkeit von inter- und transdisziplinärem wissenschaftlichem Arbeiten innerhalb einer nach Disziplinen organisierten Wissenschaft. Das Einnehmen anderer, queerer Orientierungen und das Folgen anderer Linien kann zu anderen, unvorhergesehen Punkten führen. Das Ernstnehmen von positioniertem Erfahrungswissen minorisierter Subjekte im Kontext akademischer Wissensproduktion kann eine Veränderung von Wissenschaft bewirken, denn es wirft die Fragen auf, wie sich Methoden, Theorien und Institutionen verändern und erweitern müssen, damit QTIBIPoCs, Lubunyas oder die »Jotería«58, überhaupt als Expert_innen vorkommen können und ›gehört‹ werden. Wie würde eine postkoloniale, intersektionale Kunst- und Medienwissenschaft im deutschen Kontext aussehen, die Theorie, Kämpfe, Analysen und kreative und künstlerische Artikulationen von QTIBIPoCs einschließt, sich an diesen orientiert, die aus Nähe59 und nicht aus Distanz arbeitet, die Allianzen eingeht und gemeinsame Pfade zu Straßen ausbaut, auf denen zumindest in vielen Streckenabschnitten in die gleiche Richtung gefahren werden kann und Spuren freigehalten werden? Ein Anfang dafür wäre das Zentrieren von QTIBIPoC-Perspektiven und damit eine Veränderung der Startpunkte.

Mit diesem Begriff für QTIBIPoCs beziehe ich mich auf Gloria Anzaldúa. Vgl. Gloria Anzaldúa: Borderlands. The New Mestiza / La Frontera, San Francisco: Spinsters / Aunt Lute 1987. S. 107.

59

»I do not intend to speak about. Just speak nearby« — die Filmemacherin Trinh T. Minh-ha, die für eine postkoloniale Ästhetik steht, hat diesen Satz in ihrem 1982 im Senegal gedrehten Film Reassemblage formuliert. Eine Praxis des »speaking nearby« wird oft als Alternative zum Sprechen-über benannt. Allerdings ist auch hier eine queerphänomenologische Reflexion des Standpunktes aufschlussreich, denn: wann und wo bin ich nah? Wer definiert diese Nähe? Bleibt es lediglich bei einer Behauptung? Und: wie beurteilen diejenigen, in deren Nähe ich mich befinde, das was ich sage?

60

Sara Ahmed, 2006, S. 22.

Abschweifungen ins Persönliche Aber bereits am Anfang droht die Gefahr, sich zu verlaufen, vom Weg abzuweichen. »And yet, even at this starting point I seem to lose my way. Perhaps my own orientation toward orientation is revealed by the style of the book, which tends to drift away from philosophy toward other matters. My writing moves between conceptual analysis and personal digression. But why call the personal a digression? Why is it that the personal so often enters writing as if we are being led astray from a proper course?«60 Mit diesen ›Abschweifungen‹ ins Persönliche, die tatsächlich Reflexionen ihrer eigenen positionierten

47 61

Besonders relevant ist hier die Arbeit von Gloria Anzaldúa und ihr Begriff der Autohistoría-Teoría.

62

Vgl. Sara Ahmed, 2006, S. 2.

63

Ich beziehe mich hier erneut auf: Sara Ahmed, 2007, S. 150.

64

Siehe hierzu auch meinen etwas älteren Artikel: Rena Onat: »›I speak, so you don’t speak for me!‹ (Queer) of ColorPerspektiven als Voraussetzung für Queering und Dekolonisierung von Kunst_ Wissenschaft,« in: Anna Greve (Hg.): Kunst & Politik. Schwerpunkt: Weißsein und Kunst. Neue postkoloniale Analysen, Göttingen: V&R unipress 2015, S. 101—116.

65

Vgl. Josch Hoenes, 2014, sowie Josch Hoenes: »Teilnehmende Lektüre. Überlegungen zur Objektivierung des Forschersubjekts«, in: Josch Hoenes / Michaela Koch (Hg.), Transfer und Interaktion. Wissenschaft und Aktivismus an den Grenzen heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit, Oldenburg: BIS-Verlag 2017, S. 61—85. Wenn ich im Folgenden von teilnehmender Lektüre schreibe, dann immer im Anschluss an Josch Hoenes.

66

Sara Ahmed, 2006, S. 70.

67

Krishan Rajapakshe st Künstler_in und Designer_in und lebt in Berlin. Krishan Rajapakshes Arbeit erforscht Strategien, Erzählungen und den Geschmack des verlorenen Zuhauses. Krishan Rajapakshe ist Mitglied des *foundation class collective und hat u.a. in der ngbk Berlin und der auf Documenta 15 in Kassel ausgestellt. Krishan Rajapakshe arbeitet für Colorful Voices und viele andere. https://krishanrajapakshe.home. blog/, vom 10.10.2022.

68

Vgl. Sara Ahmed, 2006, S. 70—79.

69

Zur Sackgasse oder »Impasse« aus queer- und affekttheoretischer Perspektive vgl. Lauren Gail Berlant: Cruel Optimism, Durham, London: Duke University Press 2011; im Anschluss daran siehe Käthe von Bose / Ulrike Klöppel / Katrin Köppert / Karin Michalski / Pat Treusch (Hg.): I is for Impasse. Affektive Queerverbindungen in Theorie_Aktivismus_Kunst, Berlin: b_books 2015.

70

Sara Ahmed, 2006, S. 22, Herv. R.O.

Vgl. Gloria Anzaldúa, 1987.

Verflechtungen von künstlerischem Wissen, Erfahrungswissen und akademischem Wissen

intersektionalen Erfahrungen sind, steht Sara Ahmed innerhalb der Queer of Color-Kritik nicht allein. Autoethnografische Zugänge und die Theoretisierung von verkörpertem Wissen, Erfahrungswissen und Diskriminierungserfahrungen sind eine wiederkehrende Gemeinsamkeit vieler von QTIBIPoC-Wissenschaftler_innen verfassten Studien.61 Diese Wertschätzung von gelebter Erfahrung ist eines der Potenziale von phänomenologischen Zugängen für Queer Studies.62 Die Frage der Bedeutung von gelebter Erfahrung im Kontext von Queer of Color-Kritik vertiefe ich im Zusammenhang mit einer Kritik am Mythos der Objektivität und in den Analysen der künstlerischen Arbeiten. Auch ich drifte ab, von den künstlerischen Arbeiten zu Institutionenkritik und politischen Fragen nach Ein- und Ausschlussmechanismen im Kunst- und Kulturbetrieb und in der Akademia. Bereits am Anfang komme ich vom Weg ab, indem ich nicht nur einen Starting Point63 habe, sondern zwei: Mich störte und stört ein ›Sprechen über‹ in der Wissenschaft — schon auf Grund meiner Auseinandersetzung mit postkolonialer Kritik und Forderungen von BIPoCs.64 Durch ›Sprechen über‹ wird häufig Othering und epistemische Gewalt reproduziert — selbst in Beiträgen, die kritische und postkoloniale Perspektiven einnehmen. Um dagegen anzuschreiben, möchte ich die Bedeutung des positionierten Erfahrungswissens und des verkörperten Wissens minorisierter Subjekte unterstreichen. Der zweite Ausgangspunkt sind QTIBIPoC-Netzwerke im deutschsprachigen Raum und insbesondere in Berlin, an denen ich teilhabe, die Arbeiten von QTBIPoC-Künstler_innen sowie die in diesen Kontexten entwickelte Queer of Color-Kritik, mit der ich blicke. Für meine Analysen der künstlerischen Arbeiten bedeutet dies, dass ich einen Ansatz von »teilnehmender Lektüre«65 praktiziere. Meine Startpunkte sind bedingt durch meine Orientierung, die der Arbeit vorausgeht und durch unterschiedliche Adressierungen in der Arbeit. Ich schreibe sowohl für einen Wissenschaftsdiskurs im deutschen Kontext als auch für eine QTIBIPoC-Community. Dadurch ergibt sich eine Herangehensweise, die nicht-linear, also keine »straight line«66 ist. Auch ich schweife in Auszügen aus meinem Forschungstagebuch stellenweise ins Persönliche ab und im Prolog BPoC Art Avengers — einer Geschichte die von Krishan Rajapashke67 illustriert wurde — auch ins Fiktive. Abweichungen von der »straight line«68 Umwege, Abwege und selbst Sackgassen69 müssen nicht immer schlecht sein. »Perhaps my preference for such queer turnings is because I don’t have a disciplinary line to follow — I was ›brought up‹ between disciplines and I have never quite felt comfortable in the homes they provide.«70 Ich kann mich mit der

48

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

71

Wer schon einmal in einem Neubau an einer Kreuzung mit einer vierspurigen Straße mitten in Berlin gewohnt hat, weiß, dass Häuser an Kreuzungen nicht die bequemsten Wohnorte sind.

72

Sara Ahmed, 2006, S. 22.

73

Ebd.

Aussage identifizieren, zwischen Disziplinen ›aufgewachsen‹ zu sein und mich innerhalb dieser Disziplinen nicht immer richtig wohl zu fühlen. Mein ›Zuhause‹ in der Wissenschaft liegt an einer Kreuzung71 verschiedener Disziplinen und Transdisziplinen — im Forschungsfeld der visuellen Kultur, in Kunstwissenschaft, Medienwissenschaft, der kulturwissenschaftlichen Geschlechterforschung, feministischer Theorie, queerer Theorie, Rassismusforschung und postkolonialer Theorie. Daraus ergibt sich keine eindeutige »disciplinary line«72. Ein Abweg von der »disciplinary line«73 kann auch ein »queer turning«74 sein, was bedeutet, anderen Linien zu folgen, sich nicht auf der geraden Linie, der straight line bzw. dem ›Weg der Heterosexualität‹ zu bewegen.75 Aus einer queeren Perspektive wird es um die Frage gehen, ob und welche Veränderungen von Wissenschaft überhaupt erst die Voraussetzung für queere Forschung darstellen. »Queer turning[s]«76, Umwege, Desorientierung und Reorientierung sind oft zu verführerisch, um nicht immer wieder von der geraden Linie oder der disziplinären Linie abzuweichen.77 Mein eigener Text folgt daher nicht streng einer »straight line«78. Ich komme von einem Objekt zu sehr vielen unterschiedlichen Punkten — und manchmal komme ich umgekehrt von sehr vielen unterschiedlichen Punkten aus immer wieder an ein und demselben Objekt vorbei, obwohl ich unterschiedliche Wege gegangen bin. Ich habe verschiedene Punkte, an denen ich einsteige, mich beschäftigen verschiedene Fragen und Themen, um die herum sich Theorien anordnen, die sich von verschiedenen Seiten und aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten lassen. Die Linie, die in der Arbeit mal mehr und mal weniger deutlich angelegt ist, ist ein Vorschlag für eine Lektürepraxis. Es ist möglich, die Arbeit nicht-linear zu lesen, sie kann von vorne nach hinten gelesen werden, um sich erst das Kontextwissen anzueignen und den theoretisch-methodologischen Rahmen und damit die Lesart der künstlerischen Arbeiten im Analyseteil nachzuvollziehen. Es ist aber auch denkbar, mit den künstlerischen Arbeiten anzufangen und anschließend über übergeordnete theoretische Rahmungen in Queer of ColorKritik und Ansätzen visueller Kultur nachzudenken sowie über Implikationen für Kunstinstitutionen und Wissensproduktion.

74

Ebd.

75

Sara Ahmed spielt hier mit der Doppeldeutigkeit des Wortes straight im Englischen, was sowohl mit gerade als auch mit heterosexuell übersetzt werden kann. Vgl. ebd. S. 70—79.

76

Ebd. S. 22.

77

Queere Subjekte sind schließlich legendär darin, andere vom geraden Weg abzubringen oder zu desoder reorientieren, wie die Sirenen in der Odysseus-Mythologie.

78

Sara Ahmed, 2006, S. 70.

79

Der Begriff Passing kommt vom englischen Verb to pass und bedeutet so viel wie durchgehen. In Trans*-Kontexten bezeichnet Passing, dass eine Person in der Lage ist, mit dem eigenen Körper und der Körpersprache als Angehörige_r des Geschlechts ›durchzugehen‹, mit dem sie sich identifiziert, also als cis-geschlechtlich wahrgenommen zu werden. Mit geschlechtsangleichenden Maßnahmen im Zuge einer Transition erhalten viele trans* Personen ein Passing. Das ›Durchgehen‹ findet innerhalb eines strukturellen Machtverhältnisses statt. Die Person, die passt, ist mit ihrer Positionierung von struktureller Diskriminierung betroffen, kann jedoch meist oder in vielen Räumen als die privilegierte Positionierung ›durchgehen‹. Das bedeutet eine gewisse Sicherheit zu haben. Der Begriff des Passings spielt auch im Zusammenhang mit anderen strukturellen Machtverhältnissen eine Rolle, wie beispielsweise ›Rasse‹, wenn eine Schwarze Person oder Person of Color ›durchgehen‹ kann als weiß. Im Kontext queerer, rassismuskritischer bzw. intersektionaler Theorien ist damit das Durchgehen einer strukturell marginalisierten Person als der dominanten Position zugehörig gemeint. Ich bin Christiane Hutson und Jihan Dean dankbar, bei denen ich als Studentin ein Seminar zum Thema Passing besucht habe, das mir ermöglicht hat meine eigenen Erfahrungen zu reflektieren. Für Auseinandersetzungen zu Passing und Rassismus in Deutschland vgl. Aisha Ahmed: »›Na ja, irgendwie hat man das ja gesehen‹. Passing in Deutschland — Überlegungen zu Repräsentation und Differenz«, in: Maureen Maisha Eggers / Grada Kilomba / Peggy Piesche / Susan Arndt (Hg.), Mythen, Masken und

Passieren Vielleicht hat meine doppelte Orientierung und diese Herangehensweise, alles von unterschiedlichen Seiten aus betrachten zu können und zu wollen, etwas mit meinem eigenen Standpunkt, meiner Positionierung und meinen Passing79Erfahrungen zu tun. Ich bin türkisch-deutsch, ich passe als weiß, bin in Almanya sozialisiert und habe mich trotzdem immer auch türkisch identifiziert. Ich bin eine queere Femme und Cis-Frau und habe ebenfalls ein Passing als heterosexuell. Passing erlaubt

49 Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster: Unrast 2005, S. 270—282. 80

Beispielsweise haben Raju Rage und ich bei Kollaborationen in Räumen, die akademisch und mehrheitlich weiß waren, die Erfahrung gemacht, dass Äußerungen von Raju Rage in Gesprächsrunden oft erst dann ›gehört‹ wurden, wenn ich dasselbe mit komplizierteren, akademischen Begriffen wiederholt habe.

81

Sara Ahmed, 2006, S. 59.

82

Vgl. u.a.: Regine Gildemeister: »Doing Gender: Soziale Praktiken der Geschlechterunterscheidung«, in: Ruth Becker / Beate Kortendiek (Hg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010, S. 137—145.

Verflechtungen von künstlerischem Wissen, Erfahrungswissen und akademischem Wissen

es mir, zu einem gewissen Grad unterschiedliche Rollen einzunehmen. Ich bin in vielen Situationen und an vielen Orten sicherer als BIPoCs ohne Passing und auch als Queers, Trans* Personen und Non-Binarys ohne Passing und kann mich deshalb anders bewegen. Ich werde zum Teil freundlicher behandelt und anders ernst genommen.80 Andererseits kenne ich von klein auf Rassismus gegen Türk_innen, nur wurde immer wieder betont, ich sei ja anders als ›die‹. Passing bedeutet für mich, dass ich unsichtbar bleibe mit wichtigen Teilen meiner Identität, zum Beispiel als Lesbe in queeren Räumen oder als Person of Color und dass ich weniger selbstverständlich an einem Ort ›zuhause‹ bin. Der Begriff Passing beinhaltet eine Bewegung, ein Passieren oder ein Durchgehen. Passing beschreibt eine Art und Weise, wie sich Körper durch Räume bewegen können, und verweist im Durchschreiten zugleich auf das Vorhandensein von Grenzen. Manchmal habe ich mich umgeschaut im Seminarraum, im Kolloquium oder im Institut und außer mir keine andere Person of Color gesehen — ist mein Passing der Grund, dass ich in diesen weißen Räumen sein kann? Dort, wo andere Körper aufgehalten werden, wie in einer Ticketkontrolle in der S-Bahn, werde ich häufig durchgelassen. Das führt dazu, dass bestimmte Dinge in meiner Reichweite sind, die für andere schwerer erreichbar sind. Verkörperung Objekte aber auch Körper werden geformt durch Arbeit, durch Tätigkeiten und vor allem durch wiederholte Tätigkeiten, die sich einschreiben oder einprägen beispielsweise in Form von Abdrücken, Spuren, Ausbeulungen, als Ausbildung von Hornhaut oder Verspannungen. Oder mit Ahmed: »what we ›do do‹ affects what we ›can do‹«81. Sara Ahmed argumentiert daran anschließend, dass sich Tätigkeiten — und weitergedacht auch Macht — in Körper einschreiben und Körper Dinge abspeichern. Gleichzeitig formen Körper und die Tätigkeiten, die sie verrichten, Objekte, wodurch wiederum Objekte zu Speichern von Geschichte(n) werden. Das Wort do, das Sara Ahmed verwendet, ist ein sehr weiter Begriff und beinhaltet weit mehr als professionelle Arbeit. Wenn wir beispielsweise an Doing Gender82 denken, dann sind Vergeschlechtlichung und Subjektivierung Dinge, die wir ›tun‹ und die mit Arbeit verbunden sind. Der Ansatz queerer Phänomenologie ermöglicht damit einen aktuellen Zugang zur Frage nach verkörpertem Wissen und nach Formen des Wissens, die — wie postkoloniale und feministische Ansätze deutlich gemacht haben — im hegemonialen westlichen Diskurs diskreditiert worden sind. Ahmeds Aussage, dass das, was wir tun, zugleich bedingt, was wir tun können, führt mich zu folgenden Fragen: Was können Künstler_innen tun? Wie schreibt sich künstlerische Arbeit in Körper ein? Was macht eine künstlerische Perspektive in und auf visuelle Kultur aus und wie kann sie zu

50

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

83

theoretischen Auseinandersetzungen beitragen? Zeichnung erfordert zum Beispiel nicht nur ein Trainieren der Hand im Umgang mit dem Stift, die Bewegungen zu lernen beim Schattieren, Linien zu ziehen, wie stark ich aufdrücke oder wie leicht. Es erfordert ein Training des Auges und der Wahrnehmung: Wenn ich etwas, das ich sehe, zeichnerisch so darstellen möchte, dass es auf dem Papier so aussieht wie ›in echt‹, dann muss ich dafür Details wahrnehmen, die ich sonst übersehen würde: In welchem Verhältnis steht welche Linie zur nächsten? Wie sind die Proportionen und Winkel? Woher kommt das Licht, wo in meinem Objekt wird es reflektiert? Welches ist die hellste Stelle und welches die dunkelste? Wohin wird ein Schatten geworfen? Menschen, die regelmäßig zeichnen, trainieren also eine bestimmte Wahrnehmung und lernen dabei etwas über die Objekte. Auch künstlerisches Wissen ist somit körperliches Wissen: Wenn ich gut im Training bin, muss ich als Zeichnerin den Blick kaum auf das Blatt Papier richten und meine Hand kann ausführen, was mein Auge sieht. Ähnliches gilt für die Arbeit mit einer Kamera, die den Blick schult für die vorgefundenen Kompositionen in der Umwelt oder die Lichtverhältnisse. Künstlerische Arbeit kann ein medienspezifisches künstlerisches Wissen produzieren, dass wiederum eine Form verkörperten Wissens sein kann. Ich verstehe die künstlerischen Arbeiten von QTIBIPoC-Künstler_innen deswegen als Produkte von künstlerischem und von verkörpertem Wissen.

Wie umstritten der Begriff ›Rasse‹ ist, zeigt die gegenwärtige politische Debatte um die Streichung des Begriffes aus dem Grundgesetz. Genau diese Formulierung im Grundgesetz bemängelt Susan Arndt in ihrem Beitrag zum Begriff ›Rasse‹ innerhalb des von ihr und Nadja Ofuatey-Alazard herausgegebenen Sammelbandes Wie Rassismus aus Wörtern spricht — (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. Wenn sie in ihrem Text den Begriff verwenden muss, dann kürzt sie ihn ab als ›R.‹. Im deutschen Diskurs war und ist es seit längerem gängige Praxis, den ›Rasse‹-Begriff nicht zu verwenden, um eine Reifizierung der Existenz von so etwas wie ›Rasse‹ in Bezug auf Menschen zu vermeiden und die rassistische ›Rasseforschung‹ zu diskreditieren. Während ich diesen Ansatz nachvollziehbar finde, überzeugen mich doch Critical Race Theoretiker_innen wie u.a. Cengiz Barskanmaz. Sie argumentieren für die Verwendung von ›Rasse‹ als Analysekategorie um Rassismus und insbesondere auch Prozesse der Rassisierung zu benennen. Allerdings löst auch bei mir das Schreiben des Wortes eine negative affektive Reaktion aus und ich bin mir der Gefahr bewusst, zu einer Normalisierung beizutragen. Ich teile außerdem die Kritik an der Verwendung anderer Begriffe wie ›Ethnizität‹, um den Begriff ›Rasse‹ zu vermeiden, jedoch das gleiche zu meinen. Ebenso habe ich mich innerhalb meiner im deutschen Kontext situierten Arbeit gegen eine Verwendung des englischen Begriffes race entschieden. Dies geschieht meines Erachtens häufig nur, weil das Wort auf Englisch weniger schockierend zu wirken scheint. Im Anschluss an Critical Race Theory verwende ich ›Rasse‹ als Analysekategorie aus einer explizit antirassistischen Haltung um einen Beitrag zum Verständnis von Rassismus zu leisten und nach Ansätzen zum Abbau und zur Überwindung rassistischer Diskriminierung zu suchen. Kritisch zur Verwendung vgl. u.a.: Susan Arndt: »›Rasse‹«, in: Susan Arndt / Nadja Ofuatey-Alazard (Hg.), Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache ein kritisches Nachschlagewerk, Münster: Unrast 2011, S. 660—664. Für die Verwendung als Analysekategorie vgl. u.a.: Cengiz Barskanmaz: »Rasse — Unwort des Antidiskriminierungsrechts?«, in: KJ Kritische Justiz 44 (4), 2011, S. 382—389, sowie Cengiz Barskanmaz: »Rassismus, Postkolonialismus und Recht — Zu einer deutschen Critical Race Theory?«, in: KJ Kritische Justiz 41 (3), 2008, S. 296—302.

84

Sara Ahmed, 2006, S. 107.

85

Vgl. ebd. S. 39.

Objekten folgen Es interessieren mich künstlerische Arbeiten von QTIBIPoCs also nicht ausschließlich aufgrund der Positionierung und des damit verbundenen Erfahrungswissens im Zusammenhang mit Sexualität, Gender oder ›Rasse‹83, sondern auch aufgrund dessen, was QTIBIPoC-Künstler_innen durch ihre Arbeit in und mit ihren jeweiligen Techniken und Medien tun können. Ihre Arbeiten sind die Objekte, denen ich folge, weil ich wissen möchte, welche Dinge für QTIBIPoC-Künstler_innen »within reach«84 sind, die möglicherweise für mich selbst nicht in Reichweite sind. Sara Ahmed sagt, dass es notwendig sein kann, nicht nur im phänomenologischen Sinn die Aufmerksamkeit auf Objekte zu richten, sondern diesen Objekten zu folgen.85 Sie zitiert Arjun Appadurai mit den Worten: »We have to follow the things themselves, for their meanings are inscribed in their forms, their uses, their trajectories«.86 Objekten zu folgen beinhaltet eine Bewegung des Mitgehens, ich muss also den Platz, an dem ich mich befinde, gegebenenfalls verlassen. Dies ist nicht der Fall, wenn ich lediglich die Aufmerksamkeit auf Objekte richte — es sind also unterschiedliche Orientierungen. Ich folge den Objekten denen eigene Fragen innewohnen. Jede künstlerische Arbeit ermöglicht eine Vielzahl möglicher Lesarten. In den

51

Verflechtungen von künstlerischem Wissen, Erfahrungswissen und akademischem Wissen

86

Analysen gibt es jeweils zwei Fragestellungen parallel: Meine übergeordnete(n) Fragestellung(en), mit der / denen ich die Arbeiten betrachte, und die offene Frage in der zunächst von der Arbeit ausgehend geklärt werden muss, worum es geht. Dies ist nicht nur ein formaler Schritt in der Analyse, sondern ich folge den Arbeiten als Orientation Devices, die mich auch zu Orten führen können, die ich vorher noch gar nicht kenne:

Arjun Appadurai: »Introduction: Commodities and the Politics of Value«, in: Arjun Appadurai (Hg.), The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective, Cambridge: Cambridge University Press 1988, S. 3—63, S. 5, zitiert nach Sara Ahmed, 2006, S. 39.

87

Sara Ahmed, 2006, S. 147.

88

José Esteban Muñoz: Disidentifications. Queers of Color and the Performance of Politics, Minneapolis: University of Minnesota Press 1999.

89

Der Begriff des Othering bezeichnet Prozesse der Konstruktion von Differenz, des Zum-Anderen-Machens. Vgl. u.a.: Stuart Hall: »The Spectacle of the ›Other‹«, in: Stuart Hall (Hg.), Representation. Cultural Representations and Signifying Practices, London: Sage 1997, S. 223—292.

»Objects also have their own horizons: worlds from which they emerge, and which surround them. The horizon is about how objects surface, how they emerge, which shapes their surface and the direction they face, or what direction we face, when we face them. So if we follow such objects, we enter new worlds.«87 Die Objekte, Arbeiten von QTBIPoC-Künstler_innen, führen mich nicht nur zu neuen Welten oder queeren Utopien, sondern sie schlagen zuerst translokale Wurzeln im deutschen Kontext, kreisen um Politiken der Selbstbezeichnung und stoppen in Institutionen — der Akademia als Ort der Wissensproduktion und Kunstinstitutionen und ihren Ein- und Ausschlussmechanismen. Danach führen sie hinein in theoretische Auseinandersetzungen mit Queer of Color-Kritik und visueller Kultur — zwei Linien, die sich stärker überlappen könnten — und finden in der methodischen Herangehensweise ein Werkzeug, das es ermöglicht, weitere Linien miteinander zu verbinden. Ich folge den Objekten, jedoch nicht, ohne selbst bereits über einen Orientierungssinn zu verfügen und mich auf diesen zu verlassen. Die im Hauptteil dieser Arbeit zur Diskussion gestellten Analysen der künstlerischen Arbeiten sind jeweils gerahmt durch einen spezifischen theoretischen Zugang und verbunden durch die übergeordnete Frageperspektive im Zusammenhang mit Queer of Color-Kritik. Die Arbeit JHAD (2015) von Hasan Aksaygın, die einen stark konzeptionellen Charakter hat und mit der der Künstler sich ein Alter Ego eines von weißen Schwulen erzeugten jihadistischen Superhelden schafft, kommentiert widersprüchliche stereotype Zuschreibungen an den männlich-muslimisch gelesenen Körper sowie Orientalismus in der Kunstgeschichte. Die theoretische Rahmung für die Lektüre der Arbeit bildet der Begriff der Disidentifikation nach José Esteban Muñoz88. Dabei wird erstens gefragt, wie durch disidentifikatorische Verhandlung von Mechanismen eines rassifizierenden und sexualisierenden Othering89 in diese interveniert wird, und zweitens wird argumentiert, dass die Arbeit zu einer Relektüre von Kunstgeschichte anregt in einer Weise, die Zugänge zu Orientalismus queert.

52

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

90

Das Selbstporträt von Sunanda Mesquita mit dem Titel Silenced by Academia (2015), ein Gemälde in Öl und Acryl auf Leinwand, gibt die Künstlerin auf einem Hocker sitzend zu sehen mit einem Stück weißen Stoff in den Mund gestopft. Sie zitiert damit eine Geste aus einer Performance von Adrian Piper aus den 1970er Jahren. Durch die Thematisierung von Silencing, also einer rassistischen Praxis des Zum-SchweigenBringens, wird sowohl die strukturelle Dimension von Rassismus angesprochen als auch die affektive Dimension und die Einschreibung von Rassismus in den Körper, so die zentralen Thesen meiner Analyse. Die theoretische Rahmung für diese Arbeit bildet der Begriff des Überlebens nach Audre Lorde, in dem Sinn, dass hier die künstlerische Arbeit den Mechanismus des Silencing unterbricht und die Künstlerin trotz ihrer Rassismuserfahrung eine alternative Form des Sprechens findet. Überleben ist hier nicht nur als physisches Überleben definiert. Vielmehr macht der Umstand, dass das Wissen, die Geschichte, die Kunst und das Vermächtnis von QTIBIPoCs aufgrund von gewaltförmigen rassistischen, homo- und transfeindlichen Strukturen von Auslöschung, Dethematisierung, »Ent-innerung«90 oft nicht tradiert werden konnten, nach diesem Verständnis (künstlerische) Akte der Selbstrepräsentation und Selbsterzählung zu Akten des Überlebens und des Widerstandes. Vor diesem Hintergrund fokussiere ich in meiner Analyse des Kurzfilms Kırık Beyaz Laleler (Off-White Tulips) von Aykan Safoğlu Fragen des Archivs.91 Die Arbeit handelt von James Baldwins Zeit in İstanbul, die von Aykan Safoğlu auf biomythografische92 Weise mit seiner eigenen Biografie verknüpft wird. Hier argumentiere ich — wiederum mit Muñoz — dass ein »transhistorischer Dialog«93 zwischen Aykan Safoğlu und James Baldwin entsteht. Im Zusammenlesen der Arbeit mit Cheryl Dunyes Film The Watermelon Woman94 wird die Notwendigkeit des (Er-)Findens eigener Geschichte diskutiert. Ein weiterer Fokus der Analyse liegt auf einer Medienreflexivität, die sich durch die Arbeit zieht. Die Analyse endet an einem Starting Point, nämlich bei der Frage nach den »worldmaking potentialities«95 von QTIBIPoCs — hier zugespitzt auf die Potenziale queerer Erinnerung. Gemeinsamkeiten in den verschiedenen Arbeiten, insbesondere im Umgang mit (Selbst-)Repräsentation und mögliche Schnittstellen zwischen künstlerischer und akademischer Wissensproduktion fasse ich am Schluss zusammen. Ich antworte auf die Frage, wohin meine Orientation Devices mich geführt haben, welches also die Ankunftsorte sind und schlage eine Re / Orientierung auf »reparative Praxen«96 von QTIBIPoCs vor.

Der Begriff der Ent-innerung ist im postkolonialen Erinnerungsdiskurs geprägt und betont im Gegensatz zum Ausdruck Vergessen die aktive Verdrängungsleistung im Umgang mit problematischen Anteilen der Geschichte wie z.B. der deutschen Kolonialgeschichte. Vgl. u.a. Joshua Kwesi Aikins: »›…wem Ehre gebührt‹ Koloniales Gedenken und antikolonialer Widerstand: Kontroverse Straßennamen in Berlin«, in: nGbK (Hg.), Re / Positionierung. Critical Whiteness — Perspectives of Color. (Post-)koloniale Sphären im Kunstbetrieb. [Anlässlich der sechsteiligen theoretischen Veranstaltungsreihe »Re-Positionierung — Critical Whiteness — Perspectives of Color«, die von Januar 2009 bis Juli 2009 in der nGbK in Berlin stattfand], Berlin: nGbK 2009, S. 52—58. Diesen Begriff diskutiere ich auch im Kapitel Die »translokale« Situierung im deutschen Kontext.

91

Kırık Beyaz Laleler (Off-White Tulips) (D 2013, R: Aykan Safoğlu).

92

Der Begriff der Biomythografie ist übernommen von Audre Lorde: Zami. A New Spelling of My Name, Trumansburg: Crossing Press 1982. Zami ist eine autobiografische Erzählung die von Lorde als Biomythografie bezeichnet wird.

93

Diesen Begriff, den ich in der Analyse von Aykan Safoğlus Arbeit einführe, verwende ich nach: José Esteban Muñoz, 1999, S. 61.

94

The Watermelon Woman (USA 1996, R: Cheryl Dunye).

95

José Esteban Muñoz: Cruising Utopia. The Then and There of Queer Futurity, New York: New York University Press 2009, S. 35. Den Begriff Worldmaking bzw. Queer Worldmaking verwende ich im Folgenden immer mit Bezug auf Muñoz. Die Bedeutung dieses Begriffes wird im Laufe der vorliegenden Untersuchung noch vertiefend diskutiert, insbesondere im Kapitel Queer of Color-Kritik.

96

Eve K. Sedgwick: »Paranoides Lesen und reparatives Lesen, oder paranoid, wie Sie sind, glauben Sie wahrscheinlich, dieser Essay handle von Ihnen«, in: Angelika Baier / Christa Binswanger / Jana Häberlein / Yv Eveline Nay / Andrea Zimmermann (Hg.), Affekt und Geschlecht. Eine einführende Anthologie, Wien: Zaglossus 2014, S. 355—399, hier S. 385.

53 1

Paola Bacchetta / Fatima El-Tayeb / Jin Haritaworn: »Queer of colour formations and translocal spaces in Europe«, in: Environment and Planning D: Society and Space (33), 2015, S. 769—778.

2

Haritaworn verwendet in vielen Publikationen explizit die britische Schreibweise des Begriffs um einen stärkeren Bezug zu europäischen statt US-amerikanischen Diskursen herzustellen. Da ich keinen starken eigenen Bezug zum britischen Kontext habe, bevorzuge ich die US-amerikanische Schreibweise.

3

Vgl. Paola Bacchetta / Fatima El-Tayeb / Jin Haritaworn, 2015, S. 769.

4

Vgl. ebd.

5

Sie verweisen hier u.a. auf Gloria Anzaldúa, 1987.

Verflechtungen von künstlerischem Wissen, Erfahrungswissen und akademischem Wissen

(2) Politiken der (Selbst-)Bezeichnung: Der Begriff Queer of Color Der Anspruch, positioniertes Erfahrungswissen von Queers of Color bzw. von QTIBIPoCs zum Ausgangspunkt zu machen, erfordert eine Reflexion von Bezeichnungspraxen. Weil es historisch und bis heute eine Reihe an rassistischen, sexistischen, homo- und transfeindlichen Fremdbezeichnungen gibt, ist hier eine besondere Sensibilität erforderlich. Die Benennung der Subjektpositionen, von denen ein Großteil der Wissensproduktion ausgeht, auf die ich mich beziehe, ist wichtig, um die Bedeutung des Standpunktes und der Orientierung darzustellen und Autor_innenschaft aus minorisierten Perspektiven zu affirmieren. Aus diesem Grund erkläre ich im Folgenden die Begriffe Queer of Color bzw. QTIBIPoC und Politiken der (Selbst-)Bezeichnung. Jin Haritaworn, Fatima El-Tayeb und Paolo Bacchetta diskutieren in ihrem Artikel »Queer of colour formations and translocal spaces in Europe«1 (2015) kritische Aspekte bei der Verwendung der Bezeichnung Queer of Color bzw. zunächst an den Kategorien queer und of colour2, für deren Verwendung sie sich dennoch entscheiden. Sie erklären, dass sowohl die Kategorie queer als auch of colour umstritten und unabgeschlossen seien und dazu tendieren, einen USA-Zentrismus zu verstärken sowie Differenzen unsichtbar zu machen zwischen verschiedenen, in Bezug auf Gender und Sexualität(en) nicht-konformen, rassisierten und kolonisierten Kollektivitäten über den sogenannten Globalen Norden und Globalen Süden hinweg.3 Die Autor_innen beschreiben eine Tendenz, dass das Narrativ von Europa als weiß reproduziert werde, während lokale antirassistische und antiimperialistische Kämpfe als unauthentisch oder als nachgeahmt abgetan werden. Sie formulieren eine scharfe Kritik am queer-Begriff, der, wie sie erklären, oft in einer Weise zirkuliere, die weiße, koloniale Formen von Geschlecht und Sexualität universalisiere, während dadurch alle anderen Formen unsichtbar gemacht würden.4 Unsichtbar werden beispielsweise solche Subjekte, wie die von Gloria Anzaldúa beschriebenen Dykes of Color der Arbeiterklasse in den USA,5 für die queer eine wichtige Alternative zu homonormativen Identifikationen gewesen sei. Weiter schreiben sie:

54

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

6

»The assimilation of ›queer‹ (and often ›queer of colour‹) into white-dominated academic formations in Europe has done nothing to contest how racialized people are inscribed as deficient, inferior and disentitled to life chances on account of their failed masculinities, femininities and heterosexualities [...]. Instead, it unproblematically coincides with the increased criminalization, pathologization, displacement, and / or spatial confinement of racialized populations.«6

Paola Bacchetta / Fatima El-Tayeb / Jin Haritaworn, 2015, S. 769.

7

Vgl. ebd. S. 769—770.

8

Zum People of Color-Begriff vgl. Jihan Jasmin Dean: »Person / People of Colo(u)r«, in: Susan Arndt / Nadja Ofuatey-Alazard (Hg.), Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache ein kritisches Nachschlagewerk, Münster: Unrast 2011, S. 597—607.

9

Vgl. ebd.

Trotz der Kritik am Queer of Color Begriff bzw. den Begriffen queer und People of Color, betonen die Autor_innen, dass diese verwendet werden können und sollten, um die radikalen Interventionen von Queers of Color im und in den europäischen Kontext, von dem sie auf gewaltvolle Art und Weise ausgeschlossen werden, zu beschreiben. Sie argumentieren, auch wenn Identitäten vielschichtig seien und sich immer wieder verschieben, ermögliche es die Kategorie QPoC (Queer People of Color) europäischen Queers of Color und Wissenschaftler_innen wie ihnen selbst, die aus diesem Kontext kommen, die spezifische europäische Situation zu beleuchten und Verbindungen nachzuzeichnen, die komplexer sind, als es dominante USAzentristische und eurozentristische Narrative implizieren.7 Sowohl die Kritik an den Begriffen als auch die Gründe für eine Verwendung gilt es zu berücksichtigen und zu reflektieren. Eine der Schwierigkeiten, ist, dass Queer of Color eine Zusammenführung von gleich zwei Sammelbegriffen ist, unter denen eine sehr heterogene Bandbreite an Positionierungen in Bezug auf ›Rassisierung‹, Geschlecht und Sexualität subsumiert sind. Der Begriff People of Color ist eine Selbstbezeichnung von und für Menschen mit Rassismus- und antirassistischen Widerstandserfahrungen — es geht also nicht um ›Rasse‹ als biologistisch konstruierte Kategorie.8 Jasmin Jihan Dean arbeitet heraus, dass der Begriff People of Colo(u)r etymologisch auf die französische Bezeichnung gens de couleur libres (engl. free people of color) zurückgeht, die zuerst in französischsprachigen Kolonien verwendet wurde, um freie Schwarze Menschen — häufig ehemalige Versklavte — zu bezeichnen. U.a. über die Schriften von Frantz Fanon fand der Begriff Eingang in den Sprachgebrauch sozialer Bewegungen in den USA der 1960er und 1970er Jahre und wurde dort durch Martin Luther King Jr. und andere weiterverbreitet.9 Der Begriff ist damit explizit in einer antirassistischen und antikolonialen Widerstandsgeschichte verortet. Eines der Anliegen im Schaffen solcher Sammelbegriffe war und ist es, positive Selbstbezeichnungen zu haben, die als Bündnisbegriffe fungieren können, um bestimmten Formen rassistischer Politiken des

55 10

Ebd. S. 606.

11

Iain Morland / Dino Willox: »Introduction«, in: Iain Morland / Dino Willox (Hg.), Queer Theory, Houndmills, New York: Palgrave MacMillan 2005, S. 1—5, hier S. 2.

12

Eine solche Haltung habe ich vor allem in queeren aktivistischen Räumen und queeren Diskursen im deutschen Kontext beobachtet.

13

Erweiterbares Akronym für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Transsexuelle, Intergeschlechtliche, Queere, Non-Binary, Asexuelle Menschen.

14

Cathy J. Cohen: »Punks, Bulldaggers, and Welfare Queens. The Radical Potential of Queer Politics?«, in: GLQ: A Journal of Lesbian and Gay Studies 3 (4), 1997, S. 437—465. Kürzlich hat Cohen selbst einen kurzen Artikel veröffentlicht, in dem sie ihren Text 20 Jahre später reflektiert. Siehe: Cathy J. Cohen: »The Radical Potential of Queer? Twenty Years Later«, in: GLQ: A Journal of Lesbian and Gay Studies 25 (1), 2019, S. 140—144.

15

Cathy Cohen, 1997, S. 441.

16

Ebd. S. 450.

Verflechtungen von künstlerischem Wissen, Erfahrungswissen und akademischem Wissen

Teile-und-Herrsche entgegenzutreten und unterschiedliche Kämpfe zu vereinen. »Die Bedeutung einer Bündnispolitik verschiedener Communities of Color zeigt sich auch darin, dass wir uns vor dem Hintergrund einer generell weiß und mehrheitsdeutsch dominierten Debatte über ›Rassismus‹, ›Migration‹ und ›Integration‹, die uns verweigerte gesellschaftliche Definitionsmacht (wieder)aneignen müssen.«10 Gleichzeitig drohen solche Begriffe erneut zu universalisieren. Auch der Begriff queer hat bereits verschiedene (Um-)Deutungen erfahren. So wurde beispielsweise Anfang der 2000er Jahre in Teilen queerer Bewegungen und in queerer Forschung explizit dazu aufgerufen, queer nicht als Identitätskategorie zu benutzen: »It was a strategy, not an identity. Put differently, the message that politics could be queer, but folk could not.«11 Diese Haltung entstammt einer grundlegenden postmodernen Kritik an Identitätspolitik und dem Versuch, Identitäten, insbesondere Geschlechtsidentitäten, zu verflüssigen.12 Inzwischen ist queer jedoch längst zu einer Selbstbezeichnung und einem Sammelbegriff geworden für LSBTTIQNA+13 und potenziell weitere queere Subjekte, auch wenn dies im akademischen Diskurs nach wie vor kritisch gesehen wird. Ein Vorteil von queer als Sammelbegriff gegenüber einer Auflistung verschiedener Subjektpositionen ist, dass er weniger stark erfordert, sich selbst als eine dieser Positionen verorten zu können und mehr Raum lässt, für eine Unklarheit in Bezug auf die eigene (A)Sexualität und (Non-)Geschlechtsidentität. Queere Theorie in ihrer stark poststrukturalistischen Ausrichtung fokussiert eine Kritik an Identitätspolitiken als essentialistisch und festen Identitätskategorien aufgrund der damit verbundenen Ein- und Ausschlüsse. Alternativ wird in weiten Teilen ein fluides Verständnis von Identität favorisiert und die Auflösung / Elimination von Identitätskategorien gefordert. Bereits Ende der 1990er Jahre kritisiert jedoch Cathy Cohen in ihrem berühmten Artikel »Punks, Bulldaggers, and Welfare Queens. The Radical Potential of Queer Politics?«14 das »single-oppression framework«15 von Teilen queerer Theorie und Politik. Sie erklärt, dass »Queer theorizing that calls for elimination of fixed categories seems to ignore the ways in which some traditional identities and communal ties can, in fact, be important to one’s survival«.16 Die Vorstellung es liege eine oppositionelle Trennung vor zwischen queeren Positionen, die für die Verflüssigung oder Auflösung von Identitätskategorien eintreten, während QTIBIPoCs für essentialistische Identitätspolitiken

56

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

17

Ebd. S. 460.

18

Siehe hierzu auch das Teilkapitel Politiken der (Selbst-)Bezeichnung: Der Begriff Queer of Color.

und stabile Identitätskategorien argumentieren, ist falsch. So erklärt Cathy Cohen mit Nachdruck: »I want to be clear that what I and others are calling for is the destabilization, and not the destruction or abandonment, of identity categories. We must reject a queer politics which seems to ignore, in its analysis of the usefulness of traditionally named categories, the roles of identity and community as paths to survival, using shared experiences of oppression and resistance to build indigenous resources, shape consciousness, and act collectively. Instead, I would suggest that it is the multiplicity and interconnectedness of our identities which provide the most promising avenue for the destabilization and radical politicalization of these same categories.«17 Diesem Zugang schließe ich mich an, denn er eröffnet die Perspektive, sowohl eine identitätskritische Haltung einzunehmen als auch die Bedeutung von Positionierungen und Standpunkten zu reflektieren und so queere Theorie gerade nicht als Kritik ohne Subjekt zu verstehen. Es lässt sich außerdem fragen, ob in dem Wunsch nach einer Auflösung von Identitätskategorien nicht nur das Motiv von Emanzipation und queerer Visionen fluider Identitäten enthalten ist, sondern möglicherweise auch der Wunsch nach dem Ablegen unangenehmer oder scham- und schuldbesetzter Anteile im Zusammenhang mit der eigenen Identität mitschwingt. Mit der Perspektive von Queer of Color-Kritik kann Identitätspolitik zwar kritisch gesehen werden, ist jedoch — konträr zu einer dominanten Annahme innerhalb queerer Diskurse — nicht zwangsläufig essentialistisch.18 Queer of Color-Kritik ist daher nicht einfach eine Nische innerhalb queerer Theorie, sondern bedeutet eine (Re-)Vision der innerhalb queerer Theorie dominant gewordenen Theoreme. Sie schafft damit Raum für positioniertes Sprechen und Affirmation minorisierter Identitäten innerhalb queerer Theorie und queerer Politiken. Die Frage, was wichtig ist für das Überleben von Queers und Trans*, insbesondere von denjenigen von uns, die besonders verletzlich sind in diesen nekropolitischen Zeiten und Zuständen, in denen wir uns befinden, sollte das Orientation Device für queere Theorie und queere Politik sein. QTIBIPoC-Perspektiven sind ein guter Starting Point für eine solche Ausrichtung oder Orientierung. In der letzten Zeit gibt es zunehmend die Tendenz, innerhalb der verschiedenen Communitys, bestimmte Identitäten, die unter Queer und People of Color subsumiert wurden — wie Trans* und Inter bei Queer oder Schwarz bei People of Color — doch explizit zu benennen. Das Ziel ist es, so eine stärkere Sichtbarkeit

57 19

Ich referiere hier auf Sara Ahmed, die darauf aufmerksam macht, wie schwer es für bestimmte Körper ist, Räume zu bewohnen, die nicht für sie vorgesehen sind.

20

Jin Haritaworn / C. R. Snorton: »Trans Necropolitics. A Transnational Reflection on Violence, Death and the Trans of Color Afterlife«, in: Jin Haritaworn / Adi Kuntsman / Silvia Posocco (Hg.), Queer Necropolitics, London, New York: Routledge 2012, S. 66—76, hier S. 67.

21

Die gendergerechte Schreibweise habe ich gelernt von RomaniPhen e.V., vgl. http://www.romnja-power.de/, vom 10.4.2020.

22

Ich habe hierzu keinen spezifischen Nachweis und kann nur darauf verweisen, dass ich von einer Vielzahl Schwarzer Menschen in meinem Umfeld und in öffentlichen Veranstaltungen gelernt habe.

Vgl. Sara Ahmed, 2006, S. 62—63.

Verflechtungen von künstlerischem Wissen, Erfahrungswissen und akademischem Wissen

für besonders verletzliche oder unterrepräsentierte Gruppen innerhalb des Bündnisbegriffes zu schaffen. Beispielsweise kann das Entstehen der Transgender Studies als eigener theoretischer Diskurs als Ausdruck einer von trans* Personen eingebrachten Kritik daran verstanden werden, dass Trans*-Perspektiven unter queer oder innerhalb von Queer Studies nicht genug reflektiert werden und diese somit nicht ausreichen, um die spezifische Situation von Trans* zu beschreiben. Oder anders gesagt: Die Queer Studies bieten kein ausreichend bewohnbares Zuhause (mehr) für die Wissensproduktion von trans* Personen.19 Wenn im Kontext von Queer bestimmte Positionalitäten mit mehr Privilegien ausgestattet sind, ohne dass dies ausreichend reflektiert wird und wenn diese Positionen dominant werden und sich im geteilten Zuhause zu breit machen, dann macht es dies weniger bewohnbar für verletzlichere Subjekte, es werden Ausschlüsse produziert. Jin Haritaworn hat beispielsweise erklärt, dass Forderung nach der Berücksichtigung von Trans* of Color-Perspektiven als »p.c. [politically correct] that goes too far«20 zurückgewiesen werden. Die Aussage Haritaworns verdeutlicht, dass auf Forderungen nach einer Solidarität mit trans* Personen, die zusätzlich von strukturellem Rassismus betroffen sind, häufig reagiert wird, als sei dies ›zu viel verlangt‹. Solche Ausschlüsse müssen als Versagen für eine queere Theorie und queere Politiken verstanden werden, die sich gerade als radikale Gegendiskurse und Gegenbewegungen zu bestimmten assimilatorischen Sexualpolitiken verstanden wissen wollen. Jedoch ist das berechtigte Bedürfnis, diesen Themen gerecht zu werden, in Politiken der Benennung nicht unproblematisch, denn es muss sozusagen diskutiert und entschieden werden, welche (historisch geformte) Positionalität eine besondere Sichtbarkeit ›verdient‹. So könnte man beispielsweise gerade im deutschen Kontext fragen, ob nicht Sinti*zze und Rom*nja21 innerhalb der Gruppe von People of Color besonders benannt werden müssten als nicht-weiße Minderheit, die bereits seit Jahrhunderten in Deutschland und Europa lebt und auf eine besonders gravierende Kontinuität von rassistischer Gewalt einschließlich eines Genozids zurückblicken muss. Dies ist mir nicht als Forderung von Sinti*zze und Rom*nja bekannt, allerdings habe ich dies nicht durch tiefergehende Rückfragen überprüft. Bisher sind mir nur die Forderungen Schwarzer Menschen bekannt, die sich explizit für eine Sichtbarmachung Schwarzer Perspektiven in (Selbst-)Bezeichnungspraxen ausgesprochen haben, was inzwischen in der Regel praktiziert wird.22 Des Weiteren lässt sich fragen, ob und wie im deutschen Kontext eine Sichtbarmachung von indigenen Perspektiven funktionieren kann, wie sie beispielsweise in den USA und Kanada, also durch Siedlerkolonialismus geprägten Ländern, in Bewegungen für soziale Gerechtigkeit praktiziert wird. Auch in

58

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

23

Exemplarisch siehe Forget Winnetou! (D 2018, R: Red Haircrow).

24

›Wir‹ meint hier in Deutschland lebende Menschen.

25

Diesen Ausdruck übernehme ich von Native / First-Nation / IndigenousBewegungen in den Amerikas.

diesem Zusammenhang gibt es unterschiedliche Argumentationen. So weisen einige indigenous Aktivist_innen beispielsweise daraufhin, dass es gerade im deutschen Kontext, verstärkt durch Medien wie die Karl-May-Bücher, eine große Obsession mit (nordamerikanischen) Natives und First Nation People gibt, die diese auf eine Fantasie und auf Karnevalskostüme reduziert.23 Andere argumentieren, dass wir24 in Deutschland als ehemaliger Kolonialmacht nicht »on stolen land«25, auf gestohlener Erde von Menschen, die vor uns dort waren, leben und aus diesem Grund die Kategorie nicht sinnvoll übertragen werden kann. Allerdings leben wir teilweise auf und in gestohlenem Besitz von jüdischen Menschen und anderen, die im Zuge nationalsozialistischer Verfolgung und Vernichtungspolitik enteignet wurden. Ich habe mich für die Nennung und Sichtbarmachung von indigenous Menschen entschieden, da es im Kontext meiner Arbeit an vielen Stellen darum geht, auszuweisen, aus welcher Positionalität Wissen generiert wurde, auf das ich mich beziehe. Für postkoloniale und rassismuskritische Theoriebildung und für antirassistische und antikoloniale Befreiungsbewegungen ist das Wissen von First Nation People, Natives oder indigenous Menschen sowie das von Schwarzen Menschen ein zentrales Fundament, und es ist in die Denktraditionen, den Aktivismus und in das kollektive Wissen von People of Color-Bewegungen eingegangen. Diese Verbindungen gilt es zu würdigen. Im Angesicht der Tatsache, dass der Genozid an Indigenous People der Amerikas immer noch weiter geht und in Zeiten, in denen durch Klimakrise und Corona-Pandemie die Prekarität von indigenem Leben weiter verschärft wird, ist es umso wichtiger, die erneute Auslöschung der Perspektiven von indigenous Menschen zu vermeiden. Solche komplexen Aushandlungsprozesse zeugen davon, dass es sich bei Selbstbezeichnungen keineswegs um essentialistisch fixierte Identitätskategorien handelt. Ich persönlich bin für einen eher offen und weit gefassten queer-Begriff und für einen offen und weit gefassten People of Color-Begriff. Allerdings muss ich dazu transparent machen, dass mein eigener Empowerment-Prozess in einer Zeit stattgefunden hat, in der ein solches Verständnis weitestgehend Konsens innerhalb der Communitys war und ich mich selbst als Cis-Frau und türkeistämmige Person of Color mit weißem Passing leichter unter diesen weitgefassten Definitionen verorten kann. Ich verfolge den Anspruch, mich bei den Bezeichnungen an den geläufigen Selbstbezeichnungen innerhalb der Communitys zu orientieren. Deswegen verwende ich weitestgehend eine Schreibweise, in der Subjektpositionen expliziter sichtbar gemacht werden, statt subsumierend von Queers of Color zu schreiben. Wenn es um Subjektpositionen geht, dann schreibe

59

Verflechtungen von künstlerischem Wissen, Erfahrungswissen und akademischem Wissen

ich von QTIBIPoCs (also Queer, Trans*, Inter, Black / Schwarze Menschen, Indigenous People, People of Color), es sei denn in den entsprechenden Textstellen kommen spezifische Positionierungen vor. Ich bleibe bei dem Begriff der Queer of ColorKritik, wenn es um kritische Interventionen und Wissen von QTIBIPoC-Personen geht, um den unter diesem Begriff wachsenden theoretischen und aktivistischen Diskurs zu stärken. Dieser Umgang mit Bezeichnungen ist ein Versuch — möglicherweise lassen sich bessere Praxen finden. Oder, mit adrienne maree brown: »If this is being read in a future in which this language has evolved, then please know I would be evolving right along with you.«26 Die politische Frage der Wahl von Bezeichnungen ist verbunden mit Fragen der Repräsentation. Repräsentationskritik ist ein zentraler theoretischer Ansatz in meiner Arbeit, auf den ich im Kapitel zu Queer of Color-Kritik und visueller Kultur genauer eingehe.27 Abschließend lässt sich mit Jasmin Jihan Dean anmerken: »Für die Zukunft dieser Politikform hierzulande besteht die Notwendigkeit, ein spezifisches Konzept zu entwickeln, was People of Color-Politik in Almanya bedeutet.«28

26

adrienne maree brown, 2019, S. 18.

27

Siehe das Kapitel Queer of Color-Kritik und visuelle Kultur.

28

Jihan Jasmin Dean, 2011, S. 606.

60 1

Den Begriff verwende ich im Folgenden immer im Anschluss an: Paola Bacchetta / Fatima El-Tayeb / Jin Haritaworn, 2015, S. 773.

2

Jasbir K. Puar / Amit Rai: »Monster, Terrorist, Fag: The War on Terrorism and the Production of Docile Patriots«, in: Social Text (72 (Volume 20, Number 3)), 2002, S. 117—148, hier S. 130.

3

Vgl. ebd.

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

(3) Die »translokale«1 Situierung im deutschen Kontext Almanya ist der geografische, sprachliche und diskursive Kontext, innerhalb dessen meine Forschung situiert ist. Eine enge Definition des deutschen Kontextes läuft jedoch Gefahr, nationale Grenzen und einen starren, geschlossenen Kulturbegriff zu reproduzieren. Im Anschluss an Jasbir Puar und Amit Rai gilt es daher zu fragen, wie »Queers of Color both here and across the globe«2 verhindern können, dass Queerness mit Narrativen von Modernität, Patriotismus und Nationalismus verbunden wird, angesichts der Tatsache, dass bestimmte Formen queerer und progressiver Organisierung an bestimmte Formen nationalistischer und imperialistischer Dominanz gebunden sind.3 Zwar sind die Künstler_innen, deren Arbeiten ich analysiere, im Gegensatz zu mir alle nicht in Deutschland sozialisiert, doch betrachte ich ihre Kunst im Zusammenhang mit diskursiven Verhandlungen zu Rassismus, rassifizierter und geschlechtlicher / sexueller Differenz, die im deutschsprachigen Kontext zirkulieren. Noch konkreter sind dies Diskurse in der Gesellschaft, in der Wissenschaft, vor allem in der Kunst- und Medienwissenschaft und der kulturwissenschaftlichen Geschlechterforschung sowie innerhalb der BIPoC- und QTIBIPoC-Communitys in Deutschland und hier vor allem in Berlin. Die Auswahl der Künstler_innen wird nicht über die Staatsangehörigkeit vollzogen, sondern über eine inhaltliche und ästhetische Auseinandersetzung mit Rassismus und Heterosexismus in einer Weise, die hegemoniale Diskurse und Bildpolitiken in Deutschland herausfordert und transformiert. Wichtiger als das ›Deutschsein‹ ist, dass die Künstler_innen mit ihrer Arbeit oder als Person teilhaben an Artikulationen von Queer of Color-Kritik im deutsch(sprachig)en Kontext. Damit soll vermieden werden, nationale Grenzen und nationalstaatliche Zugehörigkeits-Logiken zu reproduzieren. Der Anspruch einer Situierung meiner Arbeit im deutschen Kontext stellt sich komplex und anspruchsvoll dar, denn es gilt, nicht nur die spezifischen Diskurse sowie künstlerischen und aktivistischen Strategien zu verstehen und zu analysieren, sondern auch zugleich die Transnationalität der QTIBIPoC-Community sowie die Globalisierungsprozesse der zeitgenössischen Kunstszene zu berücksichtigen. Ein Hindernis für die Herausbildung von Queer of Color-Kritik und anderen

61 4

Fatima El-Tayeb: European Others. Queering Ethnicity in Postnational Europe, Minneapolis: University of Minnesota Press 2011.

5

Fatima El-Tayeb: Anders europäisch. Rassismus, Identität und Widerstand im vereinten Europa, Münster: Unrast 2015.

6

Hito Steyerl / Encarnación Gutiérrez Rodríguez (Hg.): Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik, Münster: Unrast 2003.

7

Eines von mehreren aktuelleren Beispielen in diesem Zusammenhang ist die Ausstellung Der blinde Fleck. Bremen und die Kunst in der Kolonialzeit in der Kunsthalle Bremen (5.8.—19.11.2017), die von Julia Binter kuratiert wurde. Da ich selbst in dieser Zeit in Bremen gewohnt habe und die Kunsthalle gut kenne, hat mich dieses Projekt besonders interessiert. Die Kuratorin erhielt 2016 / 2017 ein von der Kulturstiftung des Bundes gefördertes Kurator_innenstipendium an der Kunsthalle Bremen zur Erforschung des Welthandels, der Mäzenatensysteme und der Geschichte des Sammelns in der Kolonialzeit. Es ist zwar positiv zu bewerten, dass Forschung zu (Post-)Kolonialität und Kunst an einer etablierten Kunstinstitution betrieben wird, doch scheint dieses Projekt mit der Ausstellung beendet zu sein. Es wurden keine erkennbaren langfristigen Veränderungen vorgenommen. Darüber hinaus ist bemerkenswert, dass eine weiße Kuratorin aus Österreich für dieses renommierte Stipendium ausgewählt wurde, deren Reichweite in Diskurse von BIPoCs in Bremen und Deutschland beschränkt ist, so dass auch hier die Frage bleibt, wer in einer Kunstinstitution als Expert_in für Fragen der (Post-)Kolonialität arbeiten und agieren darf.

Verflechtungen von künstlerischem Wissen, Erfahrungswissen und akademischem Wissen

partikularen und intersektionalen Forschungsansätzen im deutschen Kontext ist der ›brain drain‹ von Akademiker_innen of Color / Schwarzen Akademiker_innen ins Ausland aufgrund fehlender Stellen in der Wissenschaft und schlechter Arbeitsbedingungen. Themen wie Rassismusforschung, Queer of Color-Kritik, Postkolonialität und selbst Queer Theory werden in Deutschland als randständig bzw. als Spezialthemen gehandelt, so dass selbst herausragende Wissenschaftler_innen hierzulande kaum Fuß fassen können. Fatima El-Tayebs Studie European Others — Queering Ethnicity in Postnational Europe 4 ist beispielsweise zuerst in den USA auf Englisch erschienen und wurde erst vor wenigen Jahren auf Deutsch veröffentlicht.5 Der ›brain drain‹ verstärkt den USA-Zentrismus innerhalb wissenschaftlicher Diskurse insbesondere in Forschungsfeldern wie Queer und Transgender Studies, Critical Race Theory, Ethnic Studies und Postcolonial Studies, die im deutschen Kontext kaum oder gar nicht institutionalisiert sind. Analysen und theoretische Begriffe, die aus dem US-amerikanischen Kontext kommen, lassen sich nicht ohne Weiteres in andere geografische und nationale Kontexte übertragen. Daher erscheint es trotz der skizzierten Herausforderungen relevant, die lokal-spezifischen Ausformungen von Machtverhältnissen wie Rassismus oder Heteronormativität zu reflektieren. Exemplarisch für eine solche Perspektive kann der Sammelband Spricht die Subalterne deutsch? genannt werden, mit dem die Herausgeberinnen Hito Steyerl und Encarnación Gutiérrez Rodríguez fragen, inwieweit sich die Debatte um postkoloniale Kritik auf den deutschen Kontext anwenden lässt.6 Mit einer postkolonialen Perspektive lassen sich rassifizierte Ungleichheiten und strukturelle Formen rassistischer Diskriminierung in der Gegenwart auf Konstruktionen von ›Rasse‹ im kolonialen und neokolonialen Diskurs zurückführen, die in einer Weise funktionieren, die koloniale Gewalt und Ausbeutung legitimiert. Gegenwärtig besteht ein wachsendes Interesse an der Frage der Dekolonisierung. Es muss jedoch eingewendet werden, dass dieser Begriff oft sehr unspezifisch verwendet wird. Trotz eines Anstiegs von Veranstaltungen, Ausstellungen und Forschungen zu diesem ›Thema‹ gibt es keine wesentlich stärkere (Selbst-)Repräsentation, Partizipation oder verbesserte Arbeitsbedingungen von BIPoCs innerhalb von Kunst- und akademischen Institutionen. Selbst wenn sich (Kunst-)Institutionen in Deutschland mit Fragen der Dekolonialität beschäftigen, ist dies oft nur ein temporäres Unterfangen, wie etwa in Form singulärer und temporärer Ausstellungen zum ›Thema‹ (Post-)Kolonialismus oder Dekolonisierung. Gründliche Prozesse der Analyse und Aufarbeitung des kolonialen Erbes und der Entwicklung nachhaltiger Konzepte für einen adäquaten Umgang damit, fehlen.7

62

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

8

Siehe u.a. Karim Fereidooni / Meral El (Hg.): Rassismuskritik und Widerstandsformen, Wiesbaden: Springer VS 2017; Fatima El-Tayeb: Undeutsch. Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft, Bielefeld: transcript 2016; Susan Arndt / Nadja Ofuatey-Alazard (Hg.): Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache ein kritisches Nachschlagewerk, Münster: Unrast 2011; Kiên Nghị Hà / Sheila Mysorekar / Nicola Lauré al-Samarai (Hg.): Re / Visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland, Münster: Unrast 2007 sowie Maureen Maisha Eggers / Grada Kilomba / Peggy Piesche / Susan Arndt (Hg.), 2005.

9

Zum Begriff der Ent-innerung siehe oben.

Rassismuskritische Perspektiven auf Almanya In Bezug auf die Spezifik rassismuskritischer Perspektiven in und auf Deutschland8 sind Kritiken an der »Ent-innerung«9 des deutschen Kolonialismus und, damit einhergehend, die Prävalenz und Normalisierung kolonialer Kontinuitäten im Stadtbild, im Sprachgebrauch, in Museen und anderen Institutionen als bedeutende Themenfelder zu nennen. Für den deutschen Kontext spezifisch ist weiterhin ein widersprüchlicher und problematischer Umgang mit dem Nationalsozialismus und Diskursen zu Antisemitismus. Zudem ist eine problematische diskursive Gleichsetzung von Deutschsein und Weißsein zu verzeichnen. Des Weiteren gilt im deutschen Kontext (vermeintliche) Colorblindness nach wie vor als Ideal antirassistischer Haltung, wodurch die Thematisierung von Ungerechtigkeit bedingt durch rassisierte Differenz auch in kritischen und progressiven Zusammenhängen erschwert wird. Fatima El-Tayeb bemängelt in diesem Zusammenhang ein »fehlendes Vokabular«:

Vgl. u.a. Joshua Kwesi Aikins, 2009. 10

Fatima El-Tayeb, 2011, S. xxii.

»The lack of vocabulary adequately addressing a growing minority population, however, is far from reflecting the implied indifference of Europeans to racialized difference; instead it references and reinforces a common racial archive while simultaneously rendering inexpressible its workings.«10 Lange Zeit wurde im deutschen Mainstream-Diskurs fast ausschließlich von ›Ausländerfeindlichkeit‹ oder ›Fremdenfeindlichkeit‹ gesprochen, jedoch nicht von Rassismus. Erst seit kurzem ist ein zunehmendes Problembewusstsein für strukturellen Rassismus in Deutschland zu verzeichnen, so im Zusammenhang mit der international weiterwachsenden Black Lives Matter-Bewegung und den Reaktionen auf die rassistisch und antisemitisch motivierten Anschläge in Halle 2019 und in Hanau 2020. Rassismus wird im deutschen Kontext in der Regel nicht als strukturelles Machtverhältnis, das alle gesellschaftlichen Schichten und Bereiche durchzieht, das hierarchische Ordnungen und strukturelle Ungleichheiten hervorbringt, begriffen. Stattdessen wird Rassismus als Frage der individuellen politischen Haltung oder Einstellung wahrgenommen, die fast ausschließlich bei Rechtsextremen wie Neonazis zu finden sei, jedoch nicht in liberalen Kontexten wie der Kunst- und Kulturszene oder gar linken Kreisen. Dieses Unverständnis für die strukturelle Dimension von Rassismus hat mehrere problematische Effekte. Es wird verkannt, dass Rassismus die Ursache von Bias, Vorurteilen und Diskriminierungen, denen BIPoCs in Deutschland einschließlich der Wissenschaft (akademischer Diskurs, akademische Institutionen) und des Kunstfeldes ausgesetzt sind, ist. Das führt zu einem Mangel an Maßnahmen zur

63

Verflechtungen von künstlerischem Wissen, Erfahrungswissen und akademischem Wissen

11

Vgl. José Esteban Muñoz, 1999.

12

http://www.kanak-attak.de/ka/media_ video.shtml, vom 19.10.2019.

Überwindung dieser Vorurteile, Mechanismen von Ausgrenzung und Diskriminierung (institutionell, strukturell sowie individuell) oder zur Schaffung von Chancengerechtigkeit.

13

Vgl. Fatima El-Tayeb, 2011, S. xxxvii.

(Trans-)Nationale Kontexte und die Frage der Zugehörigkeit für QTIBIPoC Die nationale Zugehörigkeit von BIPoCs wird immer wieder infrage gestellt bzw. abgesprochen. Deswegen ist die Verwendung von Selbstbezeichnungen wie Schwarze Deutsche oder Afrodeutsche oder andere Formen der Disidentifikation11 mit Deutschsein durch BIPoCs in der Regel subversiv und nicht etwa Ausdruck von Patriotismus und Nationalismus. Denn dadurch, dass der Anspruch auf eine (nationale) Identität erhoben wird, von der BIPoCs ausgeschlossen werden, wird zugleich die Norm, die diesen Ausschluss produziert, sichtbar gemacht. Mit ähnlichen Strategien hat die Gruppe Kanak Attak bereits Anfang der 2000er Jahre in ihren Kanak TV-Videos gearbeitet.12 In ihrer Produktion Weißes Ghetto (2001) führten sie beispielsweise Interviews mit Bewohner_innen des Kölner Stadtteils Lindenthal, in dem fast ausschließlich weiße Deutsche der oberen Mittelschicht wohnen. Kanak Attak kritisiert den mangelnden Integrationswillen der Lindenthaler in die Migrationsgesellschaft und karikiert humorvoll den rassistischen Integrationsdiskurs. Strategische Sichtbarkeits- und (Dis-)Identitätspolitiken, denen queere Theorie zu großen Teilen kritisch gegenübersteht, können also für den BIPoC / QTIBIPoCAktivismus in Deutschland durchaus geeignete Mittel sein. Fatima El-Tayeb beschreibt, dass (queere) People of Color in Europa Zugehörigkeit stärker über Metropolen und / oder bestimmte Stadtviertel definieren als über Nationen.13 Dies bedeutet eine Herausforderung an eine Theorie für QTIBIPoC-Kunstproduktionen im deutschen Kontext, denn es stellt sich die Frage, inwieweit Städte wie Berlin für einen solchen Kontext repräsentativ sein können. In Deutschland ist Berlin ein wichtiger Knotenpunkt für QTIBIPoC-Aktivismus, -Community, -Kunst- und -Kulturproduktion und transnationale Vernetzung. Die Stadt hat eine große Anziehungskraft auf (QTI)BIPoC aus ganz Deutschland, die nach Community-Räumen suchen und in ihren Städten die Vereinzelung — z.B. als einzige Person of Color oder Schwarze Person in den dortigen (sub-)kulturellen Räumen, Arbeitskontexten und / oder akademischen Strukturen — leid sind. Queer of Color bzw. QTIBIPoC-Strukturen existieren im deutschen Kontext spätestens ab den 1990er Jahren und es gab und gibt zahlreiche Gruppen, Initiativen und Vereine, die spezifische Erfahrungen mit mehrdimensionaler Diskriminierung und eigene Perspektiven thematisierten in Gruppen wie AfroGays, Türkgay, Yachad, Pink Petokraka, Ermis, der Schwulen bzw. Schwul-Lesbischen Internationalen, Asian

64

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

14

Vgl. Tuğba Tanyılmaz / Koray YılmazGünay / Nadiye Ünsal: »Ein Leben, das für alle lebbar ist? Schutzsuchende LSBTTIQ zwischen Mainstreaming und Exzeptionalismus«, in: Carolin Küppers (Hg.), Refugees & Queers. Forschung und Bildung an der Schnittstelle von LSBTTIQ, Fluchtmigration und Emanzipationspolitiken, Bielefeld: transcript 2019, S. 137—153, hier S. 145.

15

https://LesMigraS.de/20_jahr_LesMigraS.html, vom 1.11.2019, die Seite existiert nicht mehr, 2.5.2023. Für eine chronologische Darstellung der Arbeit von LesMigraS siehe auch: https://LesMigraS.de/25-jahre-antidiskriminierungsantigewaltarbeit.html, vom 1.11.2019, die Seite existiert nicht mehr, 2.5.2023.

16

Vgl. https://cutiebpocfestblog. wordpress.com/, vom 1.11.2019.

17

Vgl. https://transformations-tffb.org/, vom 20.12.2019.

18

Christoper Sweetapple erklärt in der Einleitung zu dem von ihm herausgegebenem Sammelband The Queer Intersectional in Contemporary Germany, in dem deutschsprachige Texte antirassistischer und queerer Theoretiker_innen ins Englische übersetzt wurden, wie stark sich im deutschen Kontext in queeren und antirassistischen aktivistischen Zusammenhängen auf englischsprachige Theorien bezogen wird.

Babes in Potatoland, ADEFRA, GLADT, baraka oder LesMigraS (unter dem Dach der Lesbenberatung Berlin).14 GLADT und LesMigraS feierten 2019 ihr 20-jähriges Bestehen.15 Sie gewähren eine wichtige Kontinuität für QTIBIPoC-Organisierung. Aktivist_innen von ADEFRA — heute Generation Adefra und Grassroots Adefra — blicken inzwischen ebenfalls auf eine lange Geschichte Schwarzer queerer / feministischer Politik zurück und schaffen weiterhin Räume. Netzwerke unter QTIBIPoCs sind stark gewachsen und viele neue Projekte sind in den letzten Jahren entstanden. Seit 2014 hat das selbstorganisierte CutieBPoC-Festival16 regelmäßig in Berlin, einmal in Kopenhagen und einmal als Online-Event stattgefunden und eine immer größere Reichweite mit zum gegenwärtigen Zeitpunkt ca. 1000 Mitgliedern in der zugehörigen Gruppe eines Sozialen Netzwerks. Auch das Transformations-Filmfestival, ein Trans*-Filmfestival organisiert von trans* Personen of Color / Schwarzen trans* Personen, war ein wichtiges Community-Event.17 Es gibt in Berlin einige Räume und Strukturen, die zugleich Orte des Austauschs und der Produktion von Gegendiskursen und kollektivem Wissen sind. Zudem hat Berlin eine große Anziehungskraft auf Tourist_innen, internationale Kunstschaffende oder andere Menschen, die für kürzere Zeiträume in der Stadt leben und ist geprägt durch eine neoliberale Kreativwirtschaft und Start-UpSzene. Das führt zum Teil zu einer starken Internationalisierung, auch der QTIBIPoC-Community, wo inzwischen selbstverständlich Englisch gesprochen wird. Sprache ist ein weiterer Ausdruck von Transnationalität aber auch von Globalisierung. Dadurch entstehen wiederum neue Ausschlüsse, wenn es zur Notwendigkeit wird, Englisch auf einem hohen Level zu verstehen und zu sprechen, um an bestimmten CommunityVeranstaltungen teilnehmen zu können.18 Es sind gerade lokale Perspektiven von postmigrantischen19 People of Color und Schwarzen Deutschen, insbesondere denjenigen die sozial benachteiligt sind und / oder einen workingclass Hintergrund haben, die drohen, verdrängt zu werden. Zugleich gibt es schon lange eine große aktive (post-)migrantische / BIPoC-Community. Berlin bietet damit gewisse Möglichkeiten und Räume für kollektive Wissensproduktion aus QTIBIPoC-Perspektiven, die im Rest Deutschlands teilweise schwerer zu realisieren ist, was jedoch nicht heißt, dass sie weniger bedeutsam ist. Allerdings scheint es in den letzten Jahren auch gegenläufige Tendenzen zu geben: Aufgrund von Gentrifizierung wird es schwieriger, Vereins- und Veranstaltungsräume zu finden oder zu halten, es wird schwieriger, Wohnraum zu finden, Kieze verändern sich stark durch unsoziale Verdrängung. Das führt auch zu Veränderungen für QTIBIPoC-Strukturen in Berlin und im deutschen Kontext. Zwar bleibt Berlin im deutschen Kontext als Metropole

Vgl. Christopher Sweetapple: »Introducing a German Chapter of the Queer Intersectional«, in: Christopher Sweetapple (Hg.), The Queer Intersectional in Contemporary Germany. Essays on Racism, Capitalism and Sexual Politics, Gießen: PsychosozialVerlag 2018, S. 7—24. 19

Der Begriff des Postmigrantischen (Theaters) geht zurück auf die Theatermacherin Shermin Langhoff. Naika Foroutan hat ihn erweitert zur Beschreibung der »postmigrantischen Gesellschaft«. Vgl. Naika Foroutan: Die postmigrantische Gesellschaft. Ein Versprechen der pluralen Demokratie, Bielefeld: transcript 2019. Fatima El-Tayeb referiert dagegen kritisch auf den Begriff postmigrantisch, weil sie darin eine Gefahr sieht, dass dieser ähnlich wie der Englische Begriff postracial verwendet wird in einer Art und Weise, durch die ein Fortbestehen von strukturellem Rassismus abgesprochen wird. Vgl. Fatima El-Tayeb, 2016.

65 20

Vgl. https://www.facebook.com/ qpochh/, vom 20.12.2019.

21

Vgl. https://www.facebook.com/ magnus.diaspora.5, vom 20.12.2019.

22

Vgl. https://www.beyondcolor.de/, vom 20.12.2019.

23

Paola Bacchetta / Fatima El-Tayeb / Jin Haritaworn, 2015, S. 773.

24

Ebd.

Verflechtungen von künstlerischem Wissen, Erfahrungswissen und akademischem Wissen

für QTIBIPoC-Strukturen wichtig, aber zunehmend entstehen neue Gruppen von QTIBIPoC, wie zum Beispiel die erst seit kurzem bestehende Queer People of Color Hamburg20 Gruppe. In Bremen arbeitet Queeraspora21 bereits seit einigen Jahren zu den Themen Flucht, Queerness und Antirassismus. In vielen anderen deutschen Städten gibt es ebenfalls Initiativen von QTIBIPoC, wie beispielsweise in München, wo es die sehr aktive Gruppe Beyond Color gibt22 und auch Einzelpersonen, die teilweise ebenfalls über Jahre hinweg Strukturen aufbauen. Diese Aufzählung von QTIBIPoC-Strukturen ist keineswegs vollständig, sie soll vielmehr einen Kontext schaffen für die Situierung der Forschungsperspektive im deutschen Kontext. Ich möchte jedoch anmerken, dass der deutschsprachige Diskurs nicht abgeschnitten oder unbeeinflusst von anderen Diskursen ist. »Translokale« Perspektivierungen Es ergibt sich dementsprechend die Notwendigkeit, das Transnationale und das Lokale zusammenzudenken. Haritaworn, El-Tayeb und Bacchetta verwenden in diesem Zusammenhang den Begriff des »Translokalen«:23 »Building on the decentering of the nation in transnational feminist scholarship, ›translocal‹ shifts the focus to the concrete conditions under which coalitional politics are created among groups whose relationship to state and nation is fraught. The local, and in particular the city, emerge as central concepts not because we privilege urban spaces but because patterns of postcolonial and labour migration render cities sites of a critical mass of racialized bodies.«24 Während hier der Begriff des Translokalen einer Theoretisierung von Räumen, speziell von urbanen Räumen dient, greife ich ihn für eine Theoretisierung der Situierung von diskursiven Formationen auf. Eine wichtige Rolle für die transnationale Vernetzung von QTIBIPoCs spielen soziale Medien, durch die es relativ leicht ist, über nationale Grenzen hinweg in Kontakt zu bleiben, Debatten und Kämpfe mitzuverfolgen, wie die Black Lives Matter-Bewegung in den USA, aktuelle Ereignisse und Informationen, beispielsweise über rassistische und / oder transfeindliche Angriffe in Deutschland schnell zu kommentieren, zu teilen und weiterzuverbreiten. Selbst vor Zeiten des Internets gab es verschiedene Formen von transnationalem Austausch, transnationaler Vernetzung und Solidarisierung von Aktivist_innen, Künstler_innen und Akademiker_innen of Color bzw. QTIBIPoCs durch die Rezeption von Texten aus dem Kontext von Schwarzem / Women of Color-Feminismus, durch Reisen, persönliche Kontakte von

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25

(post-)migrantischen Aktivist_innen mit solchen in Herkunftsländern, aber auch durch internationale Konferenzen und Netzwerktreffen.25 Was bedeutet also die Transnationalität von QTIBIPoC-Netzwerken und -Wissensproduktion für eine im deutschen Kontext situierte Forschungsperspektive? Translokalität eröffnet eine theoretische Perspektive, die sich durch Partikularität auszeichnet und zugleich lokale und transnationale Diskurse als miteinander verschränkt versteht. Ein im deutschen Kontext situierter translokaler und intersektional perspektivierter Forschungszugang kann in verschiedener Hinsicht dazu beitragen, queere Theoriebildung zu erweitern.

Chandra Frank untersucht solche transnationalen Verbindungen anhand des Austausches Schwarzer Feminist_innen in den Niederlanden mit Audre Lorde. Vgl. Chandra Frank: »Sister Outsider and Audre Lorde in the Netherlands: on transnational queer feminisms and archival methodological practices«, in: Feminist Review (121), 2019, S. 11—25.

67 1

Kea Wienand: Nach dem Primitivismus? Künstlerische Verhandlungen kultureller Differenz in der Bundesrepublik Deutschland, 1960—1990. Eine postkoloniale Relektüre, Bielefeld: transcript 2015, S. 11.

2

Coco Fusco: »Decades of Identity Politics. Jahrzehnte der Identitätspolitik«, in: Texte zur Kunst (107), 2017, S. 114—121, hier S. 121.

3

Sandrine Micossé-Aikins: »Kunst«, in: Susan Arndt / Nadja Ofuatey-Alazard (Hg.), Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache ein kritisches Nachschlagewerk, Münster: Unrast 2011, S. 420—430, hier S. 426—427.

Verflechtungen von künstlerischem Wissen, Erfahrungswissen und akademischem Wissen

(4) Strukturelle Einund Ausschlüsse und materielle Effekte von Rassismus und Heterosexismus in Institutionen des Kunstbetriebs oder: Why have there been no great QTIBIPoC artists? »Bei meiner Suche nach möglichen Analyseobjekten wurde bald deutlich, dass zumindest in ›großen‹ Ausstellungen und Katalogen selten Arbeiten gezeigt oder veröffentlicht worden waren, die kulturelle Differenz aus der Perspektive von migrantischen, schwarzen oder in der BRD lebenden Künstler_innen of Color verhandelten. Nicht weißen, nicht deutschen und nicht westlichen Subjekten war der Zugang zur sogenannten ›Hochkultur‹ in der BRD, beispielsweise als KünstlerInnen oder auch als KuratorInnen und KunstkritikerInnen, in vielerlei Hinsicht bis in die 1990er Jahre hinein erschwert und verweigert worden.«1 »Der breite Kunstmarkt ist im Umgang mit Alterität versierter geworden. Die Erwähnung ethnischer und kultureller Differenzen kann Besuchermassen anziehen, Mäzene zufriedenstellen oder private Geldströme sichern. Die politische, gezielt gegen die Machthaber gerichtete Kritik an Kunsthochschulen und -institutionen bleibt allerdings weiterhin tabu.«2 »Künstler_innen of Color arbeiten in Deutschland in einem restriktiven Raum, der sie zwar einerseits auf Herkunft / ihr Aussehen reduziert und von ihnen erwartet, sich permanent dazu zu äußern, andererseits jedoch nicht alle Aussagen oder Tätigkeiten zulässt, sondern nur jene, die den Vorstellungen des hauptsächlich weißen Publikums entsprechen […].«3

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QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

4

Zusammengenommen erinnern die drei sehr unterschiedlichen Zitate von Kea Wienand, Cocos Fusco und Sandrine Micossé-Aikins daran, dass strukturelle Ein- und Ausschlussmechanismen in Institutionen des Kunstbetriebs wirkmächtig sind und stellenweise beginnende Prozesse der Diversifizierung und Transnationalisierung eine verhältnismäßig neue Entwicklung darstellen. QTIBIPoCs sind innerhalb von Kunsthochschulen, im Kunst- und Kulturbetrieb und in akademischen Einrichtungen unterrepräsentiert. Diese Abwesenheit ist kein Zufall oder Unfall, sondern eine Folge der vorherrschenden Formen von systemischem Rassismus und Heterosexismus, wie ich im Folgenden argumentiere. Damit will ich erklären, warum es nicht ohne weiteres möglich ist, bisher minorisierte Positionen in bestehende Institutionen zu ›integrieren‹, sondern dass es notwendig ist, diese zu queeren und zu dekolonisieren. Die Schwierigkeit des Zugangs zu Kunsthochschulen beziehungsweise die Schwierigkeit für bestimmte Körper, den Raum der Kunsthochschule einzunehmen sowie die materiellen Bedingungen für Kunstproduktion stellen die Schwerpunkte meiner weiteren Ausführung dar. Encarnación Gutiérrez Rodríguez bemängelt, dass in der aktuellen Rezeption postkolonialer Theorie aus dem Blickfeld gerate, dass im Kontext postkolonialer Kritik entstandene Konzepte wie u.a. Repräsentation, Subalternität oder Hybridität intendieren, die Ambivalenz zwischen materiellen und diskursiven Machtgeflechten auszuloten.4 Um Gründe für die Unterrepräsentation von QTIBIPoCs im Kunstkontext aufzuzeigen und zu problematisieren ist es notwendig, materielle Bedingungen, gelebte Erfahrung und diskursive Konstruktionen zusammenzudenken. Im Hauptteil der Arbeit geht es darum, zu fragen, welche Artikulationen von Queer of Color-Kritik im Feld des Visuellen sich in den künstlerischen Arbeiten von QTBIPoC-Künstler_innen ausmachen lassen. Zuvor will ich jedoch weiter für Schwierigkeiten und Hürden für solche Artikulationen sensibilisieren. Anhand einer Analyse der Arbeit Where is your Studio? von Raju Rage gehe ich auf die materielle Dimension von strukturellem und institutionellem Rassismus und Heterosexismus im Kunstbetrieb ein. Dabei hebe ich zwei Probleme hervor: Erstens die Prekarität künstlerischer Arbeit mit einem spezifischen Fokus auf die Prekarität von QTIBIPoC-Künstler_innen, Nachteile in Bezug auf Karrierechancen und Entlohnung von künstlerischer Arbeit. Zweitens rassistische und heterosexistische Ein- und Ausschlussmechanismen, die den Zugang zu und das Verbleiben in Institutionen des Kunst- und Kulturbetriebs regeln, insbesondere den Kunsthochschulen. Was sind die Hindernisse für Vielfalt und die Überwindung von struktureller und institutioneller Diskriminierung und Ungerechtigkeit im deutschen Kunstkontext? Wie wirken sie sich auf

Vgl. Encarnación Gutiérrez Rodríguez: »Repräsentation, Subalternität und postkoloniale Kritik«, in: Hito Steyerl / Encarnación Gutiérrez Rodríguez (Hg.), Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik, Münster: Unrast 2003, S. 17—37, hier S. 28.

69

Verflechtungen von künstlerischem Wissen, Erfahrungswissen und akademischem Wissen

5

Vgl. Linda Nochlin: »Warum hat es keine bedeutenden Künstlerinnen gegeben? [1972]«, in: Beate Söntgen (Hg.), Rahmenwechsel. Kunstgeschichte als feministische Kulturwissenschaft, Berlin: Akademie 1996, S. 27—56.

QTIBIPoC-Künstler_innen aus, die dort leben oder arbeiten? Diese Fragen diskutiere ich mit Bezug auf Sara Ahmed und ihren Ansatz queerer Phänomenologie.

6

Selbstverständlich hat es vor allem im zeitgenössischen Kunstkontext einige QTIBIPoC-Künstler_innen gegeben, die es mit ihrer Kunst zu großer Bekanntheit und internationaler Anerkennung gebracht haben und deren Arbeiten auf dem Kunstmarkt hochpreisig gehandelt werden. Zu nennen wären hier beispielweise Künstler_innen wie Jean-Michel Basquiat, Félix González-Torres, Laura Aguilar oder Lubaina Himid, die zwar erst spät Anerkennung erfahren hat, jedoch 2017 mit dem Turner-Preis geehrt wurde. Dennoch führen strukturelle Barrieren zu einer Unterrepräsentation minorisierter Subjekte innerhalb des Kunstkontextes, die es näher zu untersuchen gilt.

7

Michele Wallace: »Afterword: »Why Are There No Great Black Artists?« The Problem of Visuality in AfricanAmerican Culture«, in: Gina Dent (Hg.), Black Popular Culture. A Project by Michele Wallace, Seattle: Bay Press 1992, S. 333—346.

8

Das Projekt Art — School — Differences wurde von drei Schweizer Kunsthochschulen in Kooperation durchgeführt. Zu dem Forschungsprojekt gehörte neben einer Vorstudie, die 2012 durchgeführt wurde, eine vierjähriges Co-Research-Projekt mit dem Ansatz der partizipativen Aktionsforschung sowie mehrere Symposien. Es wurde zudem ein Reader entwickelt, der aus fünf Bänden bestehen wird und in Kürze erscheinen soll. Vgl. Sophie Vögele / Philippe Saner / Carmen Mörsch (Hg.): Inklusion. Exklusion. Künste. Textsammlung zu Ungleichheiten und Normativitäten an Kunsthochschulen. Penser l’inclusion et l’exclusion dans les arts. Recueil sur la normativité et les inégalités dans l’enseignement artistique supérieur, Bern [u.a.]: Peter Lang 2022. Vgl. https://blog.zhdk.ch/artschooldifferences/, vom 23.1.2020.

9

Linda Nochlin, 1996, S. 29.

10

Vgl. ebd.

INSTITUTIONENKRITIK INTERSEKTIONAL Meine Frage lässt sich — im Anschluss an Linda Nochlin und ihren berühmten und vielfach aufgegriffenen Aufsatz »Why have there been no great women artists?«5 aus dem Jahr 1972, der als einer der Grundsteine der feministischen Kunstgeschichte bezeichnet werden kann — folgendermaßen formulieren: Why have there been no great QTIBIPoC artists?6 Ich folge damit Michele Wallace, die bereits in den 1990er Jahren Linda Nochlins Fragestellung erweitert hat um die Dimension ›Rasse‹ als Analysekategorie für Ein- und Ausschlüsse im Kunstkontext, indem sie fragt »Why Have There Been No Great Black Artists?«7 Die Frage nach den Gründen für die Abwesenheit bestimmter Subjekte im Kanon der Kunst und für die fehlende Anerkennung künstlerischer Leistungen nicht-weißer und nicht-cis-männlicher Künstler_innen ist also nicht neu. Dennoch gibt es im deutsch(sprachig)en Kontext kaum Forschung zu Formen institutioneller und struktureller Diskriminierung in der Kunst und im Kunstbetrieb. Ebenso fehlen Daten hinsichtlich der Karrierewege von Schwarzen Künstler_innen und Künstler_innen of Color und / oder QTIBIPoCKünstler_innen. Eines der wenigen Forschungsprojekte zu Einund Ausschlüssen an Kunsthochschulen im deutschsprachigen Kontext ist das Projekt Art — School — Differences, das von Carmen Mörsch, Sophie Vögele und Philippe Saner in der Schweiz durchgeführt wurde.8 Ein wichtiger Ansatzpunkt der Studie war es, die Aufnahmeverfahren von Kunsthochschulen daraufhin zu untersuchen wie dort strukturelle Diskriminierung (re-)produziert wird und dadurch Diversität innerhalb der Institutionen eingeschränkt bleibt. Nochlin argumentiert, dass schon die Frage, warum es keine großen Künstlerinnen gegeben habe, sehr aufschlussreich ist, denn damit wird suggeriert, dass Frauen nicht dazu in der Lage seien, Großes zu schaffen.9 Dahinter steckt eine sexistische Argumentation, die man überspitzt folgendermaßen zusammenfassen könnte: Weil Frauen nicht das Talent / die Fähigkeit haben, große Künstlerinnen zu werden, seien sie nicht in der Kunstgeschichte repräsentiert. Dass in der Kunstgeschichte kaum Arbeiten von Künstlerinnen verzeichnet werden, ist der Beweis dafür, dass künstlerische Arbeiten von Frauen qualitativ nicht gut seien.10 Diese tautologische Begründung des Ausschlusses von Frauen aus dem Kanon sei bis zu den Interventionen

70

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

11

Anja Zimmermann: »Einführung: Gender als Kategorie kunsthistorischer Forschung«, in: Anja Zimmermann (Hg.), Kunstgeschichte und Gender. Eine Einführung, Berlin: Reimer 2006, S. 9—36, hier S. 9.

12

Das bedeutet nicht, dass die feministische Strategie, Frauen in der Kunstgeschichte sichtbar zu machen und Künstlerinnen, die ›vergessen‹ wurden, wiederzufinden, grundsätzlich abgelehnt werden sollte. Linda Nochlin selbst hat hier ebenfalls einen Beitrag geleistet. Für einen Überblick siehe: Linda Nochlin: Women Artists. The Linda Nochlin Reader, London: Thames & Hudson 2020.

13

Zu den hier beschriebenen Themen haben verschiedene feministische Kunsthistoriker_innen gearbeitet und die dargelegten Erkenntnisse erweitert und vertieft. Ich konzentriere mich hier auf Linda Nochlin aufgrund der historischen Relevanz sowie des Überblickscharakters ihres Aufsatzes.

Linda Nochlins und anderer feministischer Kunstwissenschaftlerinnen üblich gewesen, erklärt Anja Zimmermann.11 Statt zu versuchen, diese Behauptung zu widerlegen, indem man beweist, dass es doch bedeutende Künstlerinnen in der Kunstgeschichte gegeben hat — oder dass Frauen das Talent haben, Künstlerinnen zu sein —, richtet Linda Nochlin in »Why have there been no great women artists?« den Blick auf institutionelle und strukturelle Ausschlussmechanismen und diskutiert zudem Fragen in Bezug auf Repräsentation und Gender.12 Sie analysiert eine ganze Reihe an Faktoren, aufgrund derer es für Frauen ungleich schwerer bis hin zu unmöglich war, eine (erfolgreiche) künstlerische Karriere zu machen, die somit also einen strukturellen Ausschluss von Frauen aus der Kunst bewirken. Dazu gehören institutionelle Ausschlüsse wie der Umstand, dass Frauen lange Zeit der Zugang zu den Kunstakademien verwehrt wurde, was unter anderem damit begründet wurde, dass es unzumutbar sei, Frauen im Aktzeichnen zu unterrichten. Geschlechterrollen — und damit verbunden die Frage, welche Tätigkeiten und welche Verhaltensweisen Frauen offenstehen —, sind ebenfalls ein bedeutender Faktor. Zudem analysiert Nochlin Künstlermythen und dekonstruiert die Vorstellung, dass der Schlüssel für große Kunst im ›Talent‹ oder ›Genie‹ einer Person liege. Sie arbeitet heraus, dass der Geniebegriff ein männliches Prinzip ist. Außerdem argumentiert sie, dass sogenannte ›große‹ Künstler Zugang zu Förderung, Netzwerken und künstlerischer Ausbildung hatten. Sie zeigt den Einfluss von sozialer Herkunft und Geschlecht auf sowie die materiellen Bedingungen, die den Hintergrund für das Schaffen von Kunst bilden.13 Während Linda Nochlin somit eine umfangreiche und komplexe Institutionenkritik in genderkritischer Perspektive formuliert, bleibt ›Rasse‹ als Analysekategorie in ihren Ausführungen lediglich additiv mitgedacht und nicht in ihrer Spezifizität reflektiert, wie Michele Wallace zwanzig Jahre später kritisiert: »Throughout, as Nochlin grapples with the historical problem of the woman artist and, even more importantly, the visual problem of the representation of women in art, she adds to her formulations again and again the words, ›and black artists, too.‹ Of course, the key problematic among feminist theorists of color in our debates around identity and ›otherness‹ has been this notions of ›and blacks, too.‹ The insight of the most recent generation of feminists of color has been that blacks (or black women or women of color or black men) cannot be tacked onto formulations about gender without engaging in a form of conceptual violence. In no theoretically useful way whatsoever

71 14

Michele Wallace, 1992, S. 341—342.

15

Dieses Argument wird im Diskurs von Queer of Color-Kritik besonders stark gemacht, wie ich im Kapitel Queer of Color-Kritik und visuelle Kultur vertiefend darstelle.

16

Vgl. hierzu: Mirjam Shatanawi: »Contemporary Art in Ethnographic Museums«, in: Hans Belting / Andrea Buddensieg (Hg.), The Global Art World. Audiences, Markets, and Museums, Ostfildern: Hatje Cantz 2009, S. 368—385, sowie Isabel Dean, 2010.

Verflechtungen von künstlerischem Wissen, Erfahrungswissen und akademischem Wissen

are blacks like women. […] The question of the black nude is, then, one of the subjects for which the formulation ›and blacks, too‹ would be totally inappropriate.«14 Michele Wallace erklärt aus Schwarzer feministischer Perspektive, warum Nochlins historische Analyse von Geschlechterverhältnissen im Kunstbetrieb und der Repräsentation von (weißen) Frauen in der Kunst nicht greifen, wenn ›Rasse‹ als weitere Analysekategorie dazu kommt. Sie verdeutlicht dies am Beispiel von Aktdarstellungen Schwarzer Menschen in der (westlichen) Kunstgeschichte, die mit ganz anderen Bedeutungen belegt sind und anders vergeschlechtlicht sind als Aktdarstellungen weißer Menschen. Demnach müssen Genderkonstruktionen als rassisiert und ›Rasse‹-Konstruktionen als vergeschlechtlicht verstanden und in Bezug auf ihre spezifischen Auswirkungen reflektiert werden.15 In diesem Sinn gilt es, strukturelle und institutionelle Ein- und Ausschlüsse im Kunstkontext aus intersektionaler Perspektive zu reflektieren und dabei an die Arbeiten von Linda Nochlin, Michele Wallace und anderen anzuknüpfen. Der Eurozentrismus in der Kunstgeschichte muss ebenfalls reflektiert werden, wenn es um Ein- und Ausschlüsse im Kunstbetrieb geht. So wurde beispielsweise zeitgenössische außereuropäische Kunst innerhalb des ›Westens‹ bezeichnenderweise zuerst von ethnologischen Museen angekauft und gesammelt, die anfingen, sich kritisch mit ihrer Praxis des Ausstellens ›fremder Kulturen‹, den Objekten in den Sammlungen und des Anteils an ›Rasse‹-Konstruktionen zu beschäftigen, während in den ›großen‹ Kunstmuseen und Ausstellungen nahezu keine Arbeit von nicht-weißen, nicht-westlichen Künstler_innen zu sehen gegeben wurde. Das Ausstellen zeitgenössischer Kunst erlaubte den ethnologischen Museen eine Veränderung der Perspektive in zwei wichtigen Punkten, nämlich dass außereuropäische Künstler_innen als Autor_innen ihrer eigenen Werke vorkommen (im Gegensatz zu den kolonialen Sammlungsobjekten) und zweitens die Darstellung von Modernität und Zeitgenossenschaft von Kontexten außerhalb Europas, die häufig als ›rückschrittlich‹ konstruiert werden. Allerdings bedeutet es auch eine Reproduktion des Umstandes, dass nicht-weißen, nicht-westlichen Subjekten der Platz im ethnologischen Museum zugewiesen wird.16 Innerhalb des deutschen Kontextes stellt die bereits angesprochene Dethematisierung von Rassismus und die Ent-innerung des deutschen Kolonialismus eine Hürde für eine intersektionale Perspektive unter Berücksichtigung von ›Rasse‹ als Analysekategorie und für die Aufarbeitung kolonialer Kontinuitäten dar. In den Bereichen der Kunstvermittlung und

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QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

17

Für eine kritische Auseinandersetzung mit Prozessen des Othering in der (Kunst-)Vermittlung siehe: Carmen Mörsch: Die Bildung der A_n_d_e_r_e_n durch Kunst. Eine postkoloniale und feministische historische Kartierung der Kunstvermittlung, Wien: Zaglossus 2019. Zu Schwarzen Menschen und People of Color in Kunst und Kulturarbeit siehe: Sandrine Micossé-Aikins / Bahareh Sharifi: »Die Kolonialität der Willkommenskultur. Flucht, Migration und die weißen Flecken der Kulturellen Bildung«, in: Caroline Gritschke / Maren Ziese (Hg.), Geflüchtete und Kulturelle Bildung. Formate und Konzepte für ein neues Praxisfeld, Bielefeld: transcript 2016, S. 75—86

18

Siehe hierzu auch: Elisa Liepsch / Julian Warner (Hg.): Allianzen. Kritische Praxis an weißen Institutionen, Bielefeld: transcript 2018.

19

Ich referiere auf Sara Ahmed, 2006, S. 62.

Kulturarbeit werden BIPoCs oft eher als ›bildungsferne‹ mögliche Zielgruppen gesehen, die es zu erreichen gilt oder die künstlerisch ›gefördert‹ oder ›integriert‹ werden müssen, statt als Expert_innen, Fachleute, Künstler_innen, Theatermacher_innen oder Kulturarbeiter_innen.17 Wer kommt als ›Expert_in‹ zu Wort und wird als solche_r gehört, wessen Wissen und welche Formen von Wissen werden im akademischen und künstlerischen Diskurs validiert, wer kann sich innerhalb institutioneller Räume ›richtig am Platz‹ fühlen, wer ist in Kunst und visueller Kultur wie vertreten? Wie funktioniert Exklusion so, dass Räume der Wissenschaft und der Kunstwelt überwiegend weiß bleiben? Diese Fragen sind wichtig, um darüber nachzudenken, wie institutionelle Räume dekolonisiert werden können. Dekolonisierung muss als Prozess verstanden werden, der nicht nur eine Verschiebung der Epistemologie, sondern auch ein Engagement für strukturelle Veränderungen erfordert.18

20

Ebd.

21

Ebd.

QTIBIPOC-KÜNSTLER_INNEN AN KUNSTHOCHSCHULEN — WER KANN WELCHEN RAUM »BEWOHNEN«?19 Um die Frage nach institutionellen Ausschlüssen von QTIBIPoCs aus der Kunstwelt zu vertiefen, ist es lohnenswert, auf Sara Ahmed zurückzukommen. Sie reflektiert institutionelle Ein- und Ausschlüsse phänomenologisch und diskutiert, was es bedeutet für Subjekte mit rassifizierten Körpern in vorwiegend weißen Räumen — wie dem akademischen Raum — ›anzukommen‹. Sie schreibt in Queer Phenomenology: »Indeed, for bodies to arrive in spaces where they are not already at home, where they are not ›in place‹, involves hard work; indeed, it involves painstaking labor for bodies to inhabit spaces that do not extend their shape.«20 Die Idee, dass ein Raum die Form eines Körpers erweitern oder seine Reichweite begrenzen kann, leitet sich aus der Art und Weise ab, wie Ahmed die Orientierung von Körpern im Raum aus einer phänomenologischen Perspektive reflektiert. In einem Raum ›anzukommen‹ heißt, dass man ›neu‹ ist, und dies ist oft der Fall für BIPoCs in akademischen Räumen. Akademische Räume als weiße Räume zu denken, bedeutet nicht nur, dass es in der Regel die Körper weißer Menschen sind, die diese Räume »bewohnen« (inhabit)21, in diesen Räumen arbeiten, durch sie hindurchgehen, sondern auch, dass diese Räume von Geschichten und Epistemologien geprägt sind, die Weißsein zentrieren. Mit Sara Ahmed können wir uns Weißsein ferner als eine Form der Orientierung vorstellen, die durch frühere

73 22

Ebd. S. 132—135.

23

Ich danke Tanya Bora, die mich für Klassismus und die subtileren Einund Ausschlussmechanismen von Kunstinstitutionen sensibilisiert hat.

24

Sara Ahmed, 2006, S. 62.

25

Ebd.

26

Ebd.

27

Siehe den Blog von Collective Creativity: http://qtipoccollectivecreativity. tumblr.com/, vom 11.6.2019.

28

Raju Rage in: Sandrine Micossé-Aikins / Raju Rage / Rena Onat: »Queering and Decolonizing Art and Visual Culture. A Roundtable Discussion«, in: Barbara Paul / Josch Hoenes / Atlanta Ina Beyer / Natascha Frankenberg / Rena Onat (Hg.), Perverse Assemblages. Queering Heteronormativity Inter / medially, Berlin: Revolver 2017, S. 61—76, hier S. 70—71.

29

Sara Ahmed, 2006, S. 62.

30

Kunstproduktionen von Schwarzen Künstler_innen und Künstler_innen of Color kommt kaum in den Curricula von Universitäten und Kunsthochschulen vor. Dies macht es schwierig für BIPoC-Kunststudierende, die in ihrer Kunst Referenzen verwenden, die über den Horizont der westlich-europäischen Kunst hinausweisen, überhaupt verstanden zu werden. Inspiration aus künstlerischen Arbeiten, die in Bezug zum eigenen Erleben und eigenen Erfahrungen stehen, die bereits erfolgreich darin waren, eine Formsprache oder einen visuellen Ausdruck für Themen wie queeres Begehren, Rassismuserfahrungen, Polizeigewalt, Kontinuitäten von Kolonialgeschichte, Gender Trouble, Verlust, oder ähnliches zu finden, werden im Studium selten vermittelt, sondern müssen selbst gefunden werden. Ein Nicht-Verstanden-Werden durch die größtenteils weißen Lehrenden der Kunsthochschule bedeutet nicht nur, Schwierigkeiten dabei, sich künstlerisch weiterzuentwickeln, sondern behindert auch Karrierechancen. Denn in der Regel entstehen Kontakte zu Galerien und Ausstellungsmöglichkeiten durch die Lehrenden.

31

Raju Rage, in: Sandrine Micossé-Aikins / Raju Rage / Rena Onat, 2017, S. 70—71.

32

Es geht hier nicht um eine spezifische Kunsthochschule — die Mitglieder von Collective Creativity haben an verschiedenen Kunsthochschulen in Britannien studiert —, sondern um eine Institutionenkritik.

33

Raju Rage, in: Sandrine Micossé-Aikins / Raju Rage / Rena Onat, 2017, S. 70—71.

Verflechtungen von künstlerischem Wissen, Erfahrungswissen und akademischem Wissen

Handlungen geprägt ist, die so funktionieren, dass Weißsein als Hintergrund entsteht.22 Es ist für (QTI)BIPoCs schwer, in diese Art von Räumen ›hinein‹ zu kommen, weil häufig der Einlass verwehrt wird. Selbst wenn man es geschafft hat, kann es schwierig sein, ›drinnen‹ zu bleiben, sie zu ›bewohnen‹ und sie vertraut zu machen.23 Sara Ahmeds Aussage, dass es mit »mühsamer Arbeit«24 verbunden ist, »Räume zu bewohnen«25, die die »Form [bestimmter Körper] nicht erweitern«,26 kann verdeutlicht werden anhand einer Erzählung des_ Künstlers_ Raju Rage über die Gründe, gemeinsam mit Evan Ifekoya, Rudy Loewe und Raisa Kabir in London das QTIBPoC-Künstler_innen-Kollektiv Collective Creativity27 zu gründen: »Collective Creativity was born out of the fact that we needed space as artists of color who are marginalized within the mainstream to discuss how we grow as artists. We all went to art school and we all felt somewhat failed by it. We all didn’t feel (white) people understood our work and didn’t get what we were doing. We as artists of color have to form our own networks, we have to self-organize, we do so much to get through art school (and life) to survive, when we should just be able to come into the art school and focus on our work and grow and progress and do what everyone else does with entitlement. We were really frustrated by that. Why did we not get taught about Black Arts Movement in school? We were really pissed off about it. That is where we decided to do a lot of self-educating by researching and reading everything we could find.«28 Rage weist auf mehrere Faktoren hin, die es QTIBIPoCKünstler_innen erschweren, den Raum der Kunsthochschule zu »bewohnen«29, wie eurozentristische Lehrpläne und das Scheitern weißer Professor_innen daran, nicht-weiße Studierende zu verstehen und zu inspirieren.30 Die Frage »Why did we not get taught about Black Arts Movement in school?«31 formuliert eine Kritik daran, dass in der Lehre an der Kunsthochschule32 ein eurozentrischer, weißer Kanon tradiert wird, obwohl es wichtige Schwarze Künstler_innen und Künstler_innen of Color in der jüngeren britischen Kunstgeschichte gibt, deren Arbeiten in den Curricula berücksichtigt werden könnten. Einige Kunststudierende, so Rage, seien in der Lage, »einfach in die Kunsthochschule zu kommen und sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren und zu wachsen und voranzukommen [eigene Übersetzung]«33. Die Kunsthochschule erlaubt ihnen, Dinge zu erreichen, bringt Objekte in die Reichweite ihres Körpers, erweitert die Form

74

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

34

ihrer Körper, indem sie neue Möglichkeiten und Zugänge verschafft.34 Im Fall der Mitglieder von Collective Creativity ist es nicht die Kunsthochschule, die es ihnen erlaubt, »ihre Form zu erweitern«35, Dinge zu erreichen, sondern ihre eigene Arbeit, die sie investieren, um sich als Künstler_innen weiterzuentwickeln und zu wachsen, die Arbeit, selbst zu recherchieren, die Leerstellen und weißen Flecken von Curricula zu füllen, sich eine alternative Kunstgeschichte anzueignen und eigene Foren für Austausch aufzubauen. Dies ist eine Arbeit, die sie zusätzlich leisten zum eigentlichen Studium. Das Londoner QTIPoC-Kollektiv36 teilt die Ergebnisse dieser Arbeit als Ressourcen für Empowerment und Überleben mit anderen. 2016 hat es eine Broschüre mit dem Titel Surviving Art School: An Artist of Colour Toolkit herausgegeben.37 Darin reflektieren die Mitglieder welches Wissen, welche Texte, welche Kunst für ihr eigenes Empowerment als QTIPoCKünstler_innen wertvoll waren und von denen sie sich gewünscht hätten, eher davon zu erfahren. Diese Sammlungen wollen sie wiederum an andere QTIBIPoC-Künstler_innen und an nachfolgende Generationen weitergeben. Darüber hinaus bietet Collective Creativity Workshops an und arbeitet an der Vernetzung von QTIBIPoC-Künstler_innen. Künstlerische Arbeit, Bildungsarbeit, politische Arbeit und Care-Arbeit sind dadurch aufs Engste verbunden. Es bedeutet nicht nur Arbeit, den weiß dominierten Raum der Kunsthochschule zu »bewohnen«38, sondern es bedeutet auch Arbeit, die Subjektposition des_der Künstler_in an- und einzunehmen.

Ich beziehe mich hier erneut auf das Zitat von Sara Ahmed weiter oben: Sara Ahmed, 2006, S. 62.

35

Ebd.

36

Wie ich bereits erklärt habe, ändern sich Politiken der (Selbst-)Bezeichnung teilweise recht schnell. Die Bezeichnung ist die, die Collective Creativity zu dem Zeitpunkt verwendet hat. In dem Kollektiv sind auch Künstler_innen, die ihr Schwarzsein inzwischen explizit benennen.

37

Die Broschüre ist online verfügbar unter: https://issuu.com/rudyloewecomics/docs/surviving_art_school_as_ artists_of, vom 16.5.2020.

38

Sara Ahmed, 2006, S. 62.

39

Vgl. http://www.rajurage.com/2016/05/ where-is-your-studio-commission-formove-w-i-t-h-out-krisis/, vom 13.6.2019, die Seite existiert nicht mehr, 2.5.2023.

40

Raju Rage verwendet den Ausdruck »moving image collage«. Raju Rage, persönliches Gespräch, 20.5.2016.

41

Raju Rage lebt in London und arbeitet an den Schnittstellen von Kunst, Bildungsarbeit und Aktivismus »to forge creative survival« (Rage). Rage arbeitet in unterschiedlichen Medien, häufig mit Performance, ortsspezifischen Installationen und Workshop-Formaten. Einige der zentralen Themen in den Arbeiten sind Körper, Nachhaltigkeit, Care, Ökonomie und Widerstand. Raju Rage arbeitet meist kollaborativ und ist beispielsweise Mitglied des Künstler_innen-Kollektivs Collective Creativity, wie ich bereits erwähnt habe. Rage arbeitet u.a. im Projekt Another Roadmap School mit, einem transnationalen Projekt für kritische Kunstvermittlung. Raju Rage hat in zahlreichen Ausstellungen mitgewirkt, unter den jüngsten künstlerischen Projekten sind Recipes For Resistance (2020), ein kollaboratives Projekt mit diasporischen Perspektiven zum Thema Essen, aus dem ein Künstler_innen-Zine entstanden ist und eine Ausstellung in der Ort gallery. Ein weiteres größeres Projekt ist Under / Valued Energetic Economy welches 2018 stattfand in Jupiter Woods, London. Rage war immer wieder auch in Berlin bei Veranstaltungen und Ausstellungen vertreten u.a. in der nGbK oder bei xart splitta e.V. Vgl. http://www.rajurage.com/, vom 19.3.2021. Siehe auch: https:// another-roadmap.net/, vom 19.3.2021.

42

Ich habe diese Arbeit ausgewählt, weil hier einerseits eine Institutionenkritik formuliert wird und andererseits die oftmals unsichtbaren materiellen Bedingungen für Kunstproduktion in den Blick genommen werden (wodurch zusätzlich zu Rassismus / Heterosexismus auch Klassismus noch stärker

MATERIELLE BEDINGUNGEN FÜR KUNSTPRODUKTIONEN AM BEISPIEL DER ARBEIT WHERE IS YOUR STUDIO? (2016) VON RAJU RAGE Where is your studio?39 (ABB. 1) ist eine audiovisuelle »Bewegtbildcollage«40 des_ Londoner Künstlers_ Raju Rage aus dem Jahr 2016.41 Bevor Rage sie in dieser Form realisiert hat, ist zunächst eine digitale Skizze für eine pinkfarbene Neonleuchtschrift entstanden. Die vermeintliche Leuchtschrift wurde außerdem als Mock-up-Version aus Draht gebaut und von Raju Rage in Installationen und ortsspezifischen öffentlichen Interventionen eingesetzt.42 Im Folgenden gebe ich einen kurzen Überblick über die audiovisuelle Arbeit. In meinen weiteren Ausführungen im Anschluss beziehe ich mich vor allem auf die digitale Skizze. Die Bewegtbildcollage besteht aus Videoaufnahmen, die Gentrifizierungsgebiete, Baustellen, Werbung und Straßen sowie andere Orte im Stadtraum Londons zeigen. Diese Sequenzen werden digital mit

75 berücksichtigt wird). In anderen Arbeiten von Raju Rage wird stärker der eigene Körper als Medium eingesetzt, um darüber rassistische und heterosexistische Projektionen und Zuschreibungen zu thematisieren und auch Kontinuitäten von Kolonialgeschichte aufzuzeigen. 43

Ich verwende hier die männliche Form um zu unterstreichen, dass es sich um die männlich vergeschlechtlichte Konstruktion des Künstlers handelt, welche sich jedoch auf alle Künstler_innen auswirkt.

44

Der Begriff wird hier verwendet analog zu Sara Ahmed, wie ich weiter vorne bereits erklärt habe. Vgl. Sara Ahmed, 2006, S. 80.

45

Diese Arbeit wird von Kunstkritiker_innen zwar erwähnt, scheint jedoch eher als Hintergrund für Linders andere Arbeiten gesehen zu werden und nicht als eigenständiges Werk. Siehe: Philip Ekardt: »Makeup Collage Philipp Ekardt on Linder at the Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris«, in: Texte zur Kunst (90), 2013, S. 210; https://www.textezurkunst.de/90/ekardt-linder-makeupcollage/, vom 13.6.2019. Ich habe die Arbeit in der Ausstellung »Linder. Frau / Objekt« 2013 in der kestnergesellschaft in Hannover gesehen. Im dazugehörigen Ausstellungskatalog wird jedoch auch nur der Satz »Anatomy is not destiny« erwähnt als Zitat eines Songs der Band Ludus, jedoch nicht auf das Objekt eingegangen. Vgl. Heinrich Dietz: »Linder Trouble«, in: Linder / Veit Görner (Hg.), Linder. Frau / Objekt, Köln: König 2013, S. 39—44.

46

Raju Rage im persönlichen Gespräch 18.5.2016. Für weitere Informationen siehe http://www.rajurage.com/ 2016/05/where-is-your-studio/, vom 16.5.2020, die Seite existiert nicht mehr, 2.5.2023.

Verflechtungen von künstlerischem Wissen, Erfahrungswissen und akademischem Wissen

ABBILDUNG 1 ABBILDUNG 2

den pinkfarbenen blinkenden Worten »Where is your studio?« kombiniert. Sie erinnern an eine Leuchtreklame, deren Blinken die Aufmerksamkeit von Konsument_innen erregen soll. Die Arbeit wirft wichtige Fragen nach Gentrifizierung und der Rolle, die die Kunst darin oft spielt, auf. Es wird thematisiert, dass Gentrifizierung zum Verschwinden von günstigen Atelierräumen führt und ehemals ›heruntergekommene‹ Gebiete mit niedriger Miete längst lukrativ für Investitionen geworden sind. Ich werde mich hier jedoch auf eine andere Frage konzentrieren, die von der Arbeit angesprochen wird, nämlich wie sie eine bestimmte normative Konstruktion der Subjektposition des Künstlers43 herausfordert und wie sie zugleich als Orientation Device44 für (queere und trans*) BIPoC-Kunststudierende fungiert. In der digitalen Skizze (ABB. 1) sind die Worte »Where is your Studio?« in kursiven Buchstaben in leuchtendem Pink geschrieben. Neonleuchtschrift ist ein Material, das am häufigsten in der Werbung eingesetzt wird. Sie erinnert an Werke anderer Künstler_innen, die mit dem gleichen Medium gearbeitet haben, vor allem an bekannte Arbeiten des schwulen Künstlers Bruce Nauman. Er hat Neonleuchtschrift beispielsweise in einer seiner bekanntesten Skulpturen mit dem Titel Seven Figures (1985) verwendet. Schwuler Sex wird in der Arbeit auf explizite Art und Weise repräsentiert in Form von sieben leuchtenden Silhouetten, die als Gruppe miteinander Anal- und Oralsex haben (ABB. 2). Durch das An- und Ausschalten wechselnder Neonröhren innerhalb der Installation erscheinen die Figuren in Bewegung. Nauman arbeitet mit dem aggressiven Blinken der Neonleuchtschrift, um sein Publikum während des Höhepunktes der AIDS-Epidemie mit stigmatisierter schwuler Sexualität zu konfrontieren und damit die Binärität von öffentlich / privat zu stören. Ein weiteres Beispiel für die Verwendung des Mediums Neon für die künstlerische Reflexion von Geschlecht ist eine Arbeit der britischen feministischen Punk-Künstlerin Linder, die die Worte »ANATOMY IS NOT DESTINY«45 in blauer Neonleuchtschrift umgesetzt hat (ABB. 3.). Sowohl bei Bruce Nauman als auch bei Linder wird dieses Medium eingesetzt für radikale queere und / oder feministische politische Interventionen anstatt, wie sonst üblich, in Werbung und Konsumkultur. Where is your studio? zitiert eine Frage, die dem_ Künstler_ Raju Rage immer wieder gestellt wurde, als er_ 2015 das Fine Arts Programm am Goldsmiths College London begann. Die Fragenden wollten damit nur Smalltalk initiieren, aber Raju Rage schildert46, wie sehr diese Frage ihn_ irritierte, da sie implizierte, dass es offensichtlich als selbstverständlich erachtet wurde, als Kunststudent_in ein Atelier zu haben. Das muss man sich allerdings in London erst einmal leisten können, zusätzlich zu den exorbitant hohen Kosten für Miete, Lebensunterhalt und Schulgebühren. Ohne das Vorhandensein

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

47

Vgl. Sara Ahmed, 2006, S. 62.

48

Vgl. Paola Bacchetta / Fatima El-Tayeb / Jin Haritaworn, 2015, S. 773. Diesen Punkt erkläre ich ausführlich im Kapitel Queer of Color-Kritik und visuelle Kultur.

49

Vgl. Sara Ahmed, 2006, S. 62.

50

Vgl. ebd. S. 51—63.

51

Vgl. ebd. S. 62.

entsprechender finanzieller Ressourcen, oder finanzieller Absicherung durch Eltern / Familie, ist das Studium oder ein eigenes Atelier kaum bezahlbar. Das bedeutet, dass insbesondere sozial benachteiligte bzw. workingclass Menschen und — da ›Rasse‹, Geschlecht, Klasse usw. zusammenhängen und miteinander verwoben sind — (QTI)BIPoC strukturell bedingt häufiger größere materielle Schwierigkeiten haben, die Voraussetzungen für den Eintritt in die Institution zu erfüllen und sich dann zugehörig zu fühlen. Raju Rages Arbeit legt die zugrundeliegende Botschaft der Frage offen, die viel über die Menschen aussagt, die sie stellen: die Annahme, dass jede_r Künstler_in ein Atelier haben muss — und dass das Vorhandensein eines Ateliers als wesentliches Merkmal eines Künstlers erachtet wird. Wer kann in einem solchen Fall die Subjektposition des_der Künstler_in einnehmen? Wer kann es sich leisten, sie zu »bewohnen«?47 Auf Sara Ahmeds Zitat vom Anfang zurückkommend, lässt sich sagen, dass die scheinbar harmlose und gut gemeinte Frage »Wo ist dein Atelier?« eine Orientierung produziert. Bestimmte Subjekte werden über diese Frage in die Institution hereingeholt, indem sie am Smalltalk partizipieren können, darüber Bindung und Zugehörigkeit aufbauen können. Sie können sich ›wie zuhause‹ fühlen und ›richtig am Platz‹. Anderen, die als ›Andere‹ markiert sind, wird jedoch suggeriert, dass ihnen etwas für die meisten anderen Selbstverständliches ›fehlt‹. Die Frage produziert eine Orientierung aus der Institution heraus, indem sie ›nicht hineinpassen‹, ›nicht dazugehören‹ oder — mit Haritaworn, El-Tayeb und Bacchetta — sie produziert »not belonging«.48 Es wird erschwert, den Raum der Kunsthochschule zu »bewohnen«49. Mit der Perspektive queerer Phänomenologie lässt sich die Frage »Where is your Studio?« denken als Aktion — zusammen mit vielen anderen subtilen Handlungen, die über längere Zeiträume hinweg kontinuierlich wiederholt werden —, die den Raum der Kunsthochschule formt. Zugleich sind Räume nicht bloß Container für Körper, sondern bestimmen, was Körper ihn ihnen »tun können«.50 Es geht also weniger um eine Evaluation, wie problematisch die Frage ist, sondern vielmehr um ein Verständnis dessen, wie Räume hergestellt werden in einer Art und Weise, dass sie bestimmte Körper befähigen und ihre Reichweite erweitern, während sie andere limitieren.51 Anstatt auf die Frage »Where is your Studio?« zu antworten, wirft Raju Rage sie mit der Arbeit zurück. Die Frage verändert ihre Richtung und wird denjenigen zurückgespiegelt, die sie stellen. Sie wird an die Rezipient_innen der Arbeit zurückgegeben, indem sie ihnen / uns auf spöttische Weise ins Gesicht blinkt. Die Aufdringlichkeit und Irritation, die die Selbstverständlichkeit der Frage aufwirft, werden so erkennbar — und zugleich wird die Selbstverständlichkeit dekonstruiert, indem

ABBILDUNG 3

76

77 52

Für eine queer-theoretische Perspektive auf Scheitern siehe: Jack Halberstam: The Queer Art of Failure, Durham, London: Duke University Press 2011.

53

Der Diskurs über den Künstler Vincent Van Gogh kann hier als Beispiel herangezogen werden — gilt er doch als Inbegriff des zu Lebzeiten verkannten und verarmten Künstlers, der erst nach seinem Tod berühmt wurde. Zu Konstruktionen und Dekonstruktionen von Künstlermythen existiert eine Reihe an Untersuchungen. Einen Überblick über feministische kunsthistorische Perspektiven gibt: Kathrin HoffmannCurtius / Silke Wenk (Hg.): Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit im 20. Jahrhundert, Marburg: Jonas 1997.

54

https://qtipoccollectivecreativity.tumblr. com/, vom 16.5.2020. Der Workshop »Performing ›Professionality‹ — The politics of getting paid (AKA BBHMM)« fand am 15.4.2016 in London statt.

55

https://qtipoccollectivecreativity.tumblr. com/, vom 16.5.2020.

Verflechtungen von künstlerischem Wissen, Erfahrungswissen und akademischem Wissen

ABBILDUNG 4

sie parodiert wird und befremdlich erscheint. In diesem Sinn funktioniert die Arbeit wie ein Spiegel, der den Blick zurückwirft. Durch eine Umorientierung der Frage, durch die Veränderung der Richtung, wird die normative Anrufung unterbrochen, die ihr innewohnt und die normalisierenden Effekte der elitären Tendenzen innerhalb der Kunstwelt dekonstruiert. Ursprünglich war es die Intention von Raju Rage, die digitale Skizze tatsächlich mit Neonleuchtstoffröhren umzusetzen. Dies scheiterte an den hohen Kosten für dieses Material. Meines Erachtens macht das ›Scheitern‹ der Umsetzung der Skizze die Arbeit sogar kraftvoller.52 Es bringt das nur selten angesprochene Thema der Produktionskosten und der Schwierigkeit, sich bestimmte Materialien zu leisten, auf den Tisch. Immer noch existiert ein romantisierender Mythos des zu Lebzeiten verkannten und verarmten, hungernden Künstlers.53 Dazu gehört auch die Vorstellung, dass Künstler für ihre Kunst leben. Man erwartet von ihnen, dass sie unentgeltlich arbeiten, und stellt sich vor, sie seien frei von weltlichen Bedürfnissen wie Miete-Zahlen oder Lebensmittel-Kaufen. Dieser Mythos des Künstlers spielt in die »Politik des Bezahlt-Werdens« und der »performativen Professionalität« hinein,54 wie es von Collective Creativity in einem Workshop genannt wird: »In performing ›professionality‹ we ask what does it mean to be a ›professional‹ artist, how do we overcome the obstacles of getting paid, tackling classism and wider struggles in asking for renumeration for QTIPOC artistic capital and labour? How is our art compromised in gaining recognition as a professional, yet our work placed and celebrated for being on the margins? Who gets to be ›unprofessional‹ and how do we challenge the ways many artists are expected to work for free yet sustain a practice in London?«55 Die Erwartung, dass Künstler_innen ohne Bezahlung und allein für die Öffentlichkeit, die ihre Arbeit erhalten könnte, arbeiten, trifft QTIBIPoC-Künstler_innen besonders, da davon ausgegangen wird, sie seien bereits dankbar ›eine Stimme zu bekommen‹ und überhaupt repräsentiert zu werden. Tatsächlich kämpfen minorisierte Künstler_innen seit Jahrzehnten sowohl für Zugang und Repräsentation zu und in Kunstinstitutionen als auch gegen ökonomische Ausbeutung, wie beispielsweise die Künstlerin Laura Aguilar in ihrer Arbeit Will Work #4 vor fast 30 Jahren (ABB. 4). Die Schwarzweiß-Fotografie zeigt die Künstlerin — eine queere Chicana Butch — mit einem Schild aus Pappe auf dem steht: »Artist. Will work for Axcess«. Das Schild kann verstanden werden als eine Referenz auf arbeitssuchende, illegalisierte Migrant_innen, die in den USA häufig als

78

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

56

Onur S. Nobrega: »Materialität und Epistemologie postmigrantischer Kulturproduktion«, in: Kathrin Busch / Christina Dörfling / Kathrin Peters / Ildikó Szántó (Hg.), Wessen Wissen? Materialität und Situiertheit in den Künsten, Paderborn: Wilhelm Fink 2018, S. 51—58, hier S. 55.

57

Audre Lorde: »Age, Race, Class, and Sex: Women Redefining Difference«, in: Beverly Guy-Sheftall (Hg.), Words of Fire. An Anthology of African-American Feminist Thought, New York: New Press 1995, S. 284—292, hier S. 285, eigene Übersetzung.

Tagelöhner_innen arbeiten und andere prekäre People of Color. Hinter der Butch an der Wand, direkt über ihrem Kopf, formen Buchstaben aus Metall das Wort Gallery. Aguilar verbindet so die Kritik an schlechten Arbeitsbedingungen, Rassismus und gewaltvollen Migrationsregimen mit einer Kritik an den Ausschlüssen des High Art Kontextes. Onur Suzan Nobrega, die am Beispiel des postmigrantischen Theaters in Deutschland zu prekären und rassifizierten Arbeitsbedingungen von Künstler_innen of Color forscht, betont: »Für Künstler_innen of color, die sich rassistischer Ungleichbehandlung ausgesetzt sehen, sind die Chancen auf dem künstlerischen Arbeitsmarkt nicht die gleichen wie für weiße Künstler_innen.«56 Das Praktizieren von Kunst sichert häufig nicht den Lebensunterhalt und ist ohne alternatives Einkommen oder Sicherheitsnetz schwer aufrechtzuerhalten. Denn, wie die Schwarze feministische Autorin Audre Lorde in Bezug auf die Poesie so wortgewandt darlegt, ist »selbst die Form, in der sich unsere Kreativität ausdrückt, oft eine Klassenfrage.«57 Sie erklärt weiter:

58

Ebd. S. 285—286.

59

Auch Sara Ahmed greift dieses Zitat von Audre Lorde auf, um zu kritisieren, was sie die »Fantasie einer papierlosen Philosophie« nennt. Diese Fantasie sei zum einen zentral für ein Verständnis davon, wie Philosophie gegendert ist, aber auch, wie die Arbeit und die ›Materialien‹ der Philosophie zum Verschwinden gebracht werden. Mit ihrem phänomenologischen Ansatz wendet sie sich dem Papier zu, als dem Objekt, auf dem Schreiben stattfindet und das als Material philosophische Arbeit erst möglich macht. »If the suspension of the natural attitude, which sees itself as seeing beyond the familiar, or even seeing through it, involves putting the paper aside, then it might involve the concealment if the labor of philosophy, as well as the labor that allows philosophy to take up the time that it does.« Sara Ahmed, 2006, S. 34.

»Of all the art forms, poetry is the most economical. It is the one that is the most secret, that requires the least physical labor, the least material, and the one that can be done between shifts, in the hospital pantry, on the subway, and on scraps of surplus paper. [...] A room of one’s own may be a necessity for writing prose, but so are reams of paper, a typewriter, and plenty of time. The actual requirements to produce the visual arts also help to determine, along class lines, whose art is whose. In this day of inflated prices for material, who are our sculptors, our painters, our photographers? When we speak of a broadly based women’s culture, we need to be aware of the effect of class and economic differences on the supplies available for producing art.«58 Der Grund, warum ein_e Künstler_in mit einem bestimmten Medium oder in einem bestimmten Genre arbeitet, wird selten mit materiellen Bedingungen, der Positionierung oder mit struktureller Diskriminierung in Verbindung gebracht. Stattdessen wird dies in der Regel als Frage der individuellen Neigung, des Geschmacks oder Talents gesehen. Doch welche_r Kunststudent_in kann sich heutzutage beispielsweise ein MacBook mit Adobe Creative Suite und entsprechenden Lizenzen leisten? Oder Bronze für Metallguss? Audre Lorde verdeutlicht die Zusammenhänge zwischen künstlerischer Form und strukturellen Machtverhältnissen — wie z.B. den Klassenverhältnissen eindrücklich.59 Positioniertes Wissen und intersektionale Perspektiven sind dementsprechend wichtige Ausgangspunkte,

79 60

Onur Suzan Nobrega, 2018.

61

Vgl. Sara Ahmed, 2006, S. 62.

62

Ebd. S. 107.

63

Mit Gegenwissen meine ich hier, angelehnt an den Begriff einer Gegenöffentlichkeit, ein von minorisierten Subjekten hervorgebrachtes Wissen, welches sich unterscheidet oder im Gegensatz zu dem steht, was aus hegemonialen Positionen heraus ›gewusst‹ wird oder für selbstverständlich gehalten wird. Die Herausgeber_innen des Sammelbandes Gegen | Wissen verorten den Begriff in den nach 1968 entstandenen sozialen Bewegungen. Sie konzentrieren sich jedoch auf Umweltaktivismus und berücksichtigen nicht explizit migrantische oder BIPoCBewegungen. Vgl. Max Stadler / Nils Güttler / Niki Rhyner / Mathias Grote / Fabian Grütter / Tobias Scheidegger / Martina Schlünder / Anna-Maria Schmidt / Susanne Schmidt / Schwerin, Alexander, von / Monika Wulz / Nadine Zberg (Hg.): Gegen | Wissen, Zürich: intercom 2020.

Verflechtungen von künstlerischem Wissen, Erfahrungswissen und akademischem Wissen

um Fragen nach sozialer Gerechtigkeit und Diversität im Kunstund Kulturbetrieb anzugehen. Onur Suzan Nobrega sieht in den gelebten Erfahrungen von Künstler_innen of Color einen wichtigen Ausgangspunkt auch zur Erklärung der »[…] sozialen Verhältnisse, in denen diese Erfahrungen geformt werden.«60 Die Arbeit Where is your Studio? dekonstruiert klassistische Normen und normative Annahmen, die es QTIBIPoCs erschweren, den Raum der Kunsthochschule zu »bewohnen«61. Anstatt sich nach innen zu wenden und möglicherweise mit Gefühlen der Unzulänglichkeit darauf zu reagieren, nicht das erfüllen zu können, was von einem ›richtigen‹ Künstler erwartet wird, trägt Rage seine_ Kritik an fragwürdigen Normen innerhalb der Kunstwelt nach außen. Diese Orientierung von Rage, die Richtung, in die Rage sich wendet, hat verschiedene Effekte. Seine_ Kritik, seine_ Strategie im Umgang mit der Frage »Where is your Studio?« — und im übertragenen Sinn auch mit der Institution der Kunsthochschule — kommt potenziell in Reichweite (»within reach«)62 anderer QTIBIPoC-Kunststudierender. Es geht nicht nur um das eigene Überleben als trans* Person of Color an einer Kunsthochschule, das künstlerisch be- bzw. verarbeitet wird: Rage schafft ein Objekt, das wiederum als Orientation Device für andere QTIBIPoCs fungieren kann. Es ist eine Ressource, mit der Kritik als Überlebenswissen (strukturelle Dimensionen von Macht- und Herrschaftsverhältnissen in den individuellen Erfahrungen zu erkennen) geteilt wird und die damit Empowerment bewirken kann. Beim Nachdenken darüber, wie der institutionelle Raum — in diesem Fall den der Kunsthochschule — inklusiv gestaltet, also ›bewohnbarer‹ für QTIBIPoCs gemacht werden kann, erinnert Raju Rages Arbeit daran, nicht nur die diskursiven und repräsentativen Dimensionen von heterosexistischen, transfeindlichen und rassistischen Machtstrukturen zu reflektieren, sondern auch die materiellen Bedingungen, die Ein- und Ausschlüsse und ungleiche Chancen produzieren.

KONSEQUENZEN FÜR DIE AUSWAHL DER KÜNSTLERISCHEN ARBEITEN Die anhand der Arbeit Where is your Studio? von Raju Rage exemplarisch verdeutlichten institutionellen und strukturellen Hürden erschweren die Artikulation von minorisiertem Gegenwissen63 über Kunst und verstellen Zugänge für QTIBIPoCs zum Kunstkontext. Diese Ein- und Ausschlussmechanismen gilt es bei der Entwicklung eines theoretisch-methodologischen Rahmens für die Analyse von Kunst aus QTIBIPoC-Perspektiven und anderen minorisierten Perspektiven zu berücksichtigen, da die tradierten Herangehensweisen mitunter nicht greifen.

80

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

64

Siehe hierzu das Teilkapitel zum Forschungsstand.

65

Beispielsweise gibt es seit 2020 mit dem Impact-Förderprogramm Gelder für die Förderung von Diversität im Berliner Kulturbetrieb, welche durch die Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa ausgeschrieben sind.

Es gibt nur einen kleinen Materialkorpus, der hinsichtlich formaler, genre-spezifischer, historischer und geografischer Kriterien sehr heterogen ist und zugleich durch meine analytische Fokussierung auf den deutschen Kontext erst recht im Umfang beschränkt wird. Bisher gibt es (noch) keine Anthologien zu Kunst aus QTIBIPoC-Perspektiven und auch keine Überblicksausstellungen im deutschen Kontext, wie es auch insgesamt nur wenige Ausstellungen zu queeren und rassismuskritischen Fragestellungen in der Kunst gibt.64 Schließlich ist es nicht nur die Kunst- und Medienwissenschaft sowie Studien zur visuellen Kultur, die Kunst von QTIBIPoC-Künstler_innen zu wenig Beachtung geschenkt hat, was sich nachträglich korrigieren ließe, sondern es bestehen auch Ausschlüsse innerhalb vieler Kunstinstitutionen, weswegen sich Kunst von QTIBIPoCs häufig an alternativen Orten finden lässt. Dennoch haben QTIBIPoCPerspektiven auch in der Kunst in den letzten Jahren deutlich an Sichtbarkeit und Repräsentation dazugewonnen, sodass sich die Situation seit Beginn meiner Recherchen bereits verändert hat. Es gibt mehr Sensibilität für Intersektionalität im Kunstund Kulturbereich wie in der Wissenschaft, teilweise sogar eine stärkere Berücksichtigung von Diversitätskriterien in der Förderung von Künstler_innen65 und eine stark angewachsene, aktive und transnational vernetzte Community von QTIBIPoCAktivist_innen, -Künstler_innen und -Akademiker_innen. Die Unterrepräsentation von QTIBIPoC-Perspektiven in der Kunst hatte für meinen Forschungsprozess die Konsequenz, dass der erste Schritt nicht etwa darin bestand, das vorhandene Material zu sichten und zu sortieren, sondern zunächst Arbeiten ausfindig zu machen und zusammenzutragen. Erschwerend kam hinzu, dass die Positionierung von Künstler_innen als queer, trans*, inter oder als BIPoC nicht offensichtlich sein muss. Auch für mich ist durch meine eigene Positionierung und die »Orientierungen, die ich bereits vorgenommen habe«, bedingt, welche Arbeiten »within reach« sind.66 Zu diesen Orientierungen gehören queeres Abweichen vom geraden Weg und meine Suche nach geteilten Erfahrungen und Empowerment. Diese Orientierungen haben dazu geführt, dass sich künstlerische Arbeiten in der Nähe von Berliner QTIBIPoC-Community und -Aktivismus innerhalb meines Horizonts und in meiner Reichweite befinden. Freundschaften, aber auch meine Affizierung haben dazu geführt, dass mir manche künstlerischen Arbeiten näher sind als andere. Beispielsweise sind durch meine Schwerpunkte und Vorlieben vor allem zeitgenössische visuelle Arbeiten zum Gegenstand meiner Analysen geworden. Die starke Gewichtung auf Arbeiten von türkischsprachigen queeren Künstlern steht ebenfalls im Zusammenhang mit meiner Positionierung, ebenso wie bestimmte Leerstellen, die gerade in Bezug auf die Perspektiven,

Vgl. https://www.berlin.de/sen/kultur/ foerderung/foerderprogramme/interkulturelle-projekte/artikel.82020.php, vom 5.1.2021. 66

Vgl. Sara Ahmed, 2006, S. 107.

81 67

Vgl. Das Archiv vom Festival gegen Rassismus, https://festivalgegenrassismus.wordpress.com, vom 22.10.2020.

68

Die Trainerinnen hatten also bereits das Potenzial für Empowerment in der Arbeit erkannt. Ich nahm an dem Workshop teil, nachdem ich selbst innerhalb der Academia Silencing erfahren hatte. Das Bild habe ich seit dem immer wieder anderen gezeigt, die von Rassismuserfahrungen in akademischen Institutionen berichteten.

69

Die Ausstellung What Is Queer Today Is Not Queer Tomorrow war vom 13.6.2014—10.8.2014 in der nGbK in Berlin zu sehen. Vgl. https://archiv.nGbK.de/projekte/ what-is-queer-today-is-not-queertomorrow/, vom 6.7.2020.

Verflechtungen von künstlerischem Wissen, Erfahrungswissen und akademischem Wissen

gegenüber denen ich selbst privilegiert bin und selbst andere Erfahrungen mache, bestehen. Die künstlerischen Arbeiten, die ich in der vorliegenden Untersuchung analysiere, habe ich innerhalb von (QTI)BIPoC-Community-Räumen gefunden und nicht in Kunstmuseen, Galerien oder Katalogen, selbst wenn einige von ihnen auch in solchen Kontexten gezeigt werden. Beispielsweise habe ich die Arbeit von Aykan Safoğlu, die ich ausführlich diskutiere im Kapitel (Er-)Finden eigener Geschichte(n): Umgang mit den Lücken im Archiv in Aykan Safoğlus Kurzfilm Kırık Beyaz Laleler (Off-White Tulips) (2013), das erste Mal beim Festival gegen Rassismus67 2013 in Berlin gesehen, und zwar im Zelt von GLADT e.V.. Das Bild Silenced by Academia von Sunanda Mesquita, das Gegenstand meiner Analyse im Kapitel Überlebensstrategien und »Queer Futurity« in Sunanda Mesquitas Gemälde Silenced by Academia (2015) ist, wurde mir von Fallon Cabral und Nissar Gardi bei einem Empowerment-Workshop in Bremen gezeigt.68 Raju Rage kenne ich über gemeinsame Freund_innen. Ein intensiverer Austausch über Rages Kunst hat nach einer Performance in der nGbK in Berlin begonnen, die von Heidy, einem queeren Kurator_innen-Kollektiv, im Rahmen der Ausstellung What Is Queer Today Is Not Queer Tomorrow 69 organisiert wurde. Hasan Aksaygın, mit dessen Arbeit ich mich im Kapitel Disidentifikatorische Wissensproduktionen in Hasan Aksaygıns Arbeit JHAD (2015) beschäftige, kenne ich ebenfalls über gemeinsame Freund_innen, durch die ich auf seine Arbeit aufmerksam gemacht worden bin. Das Finden von QTIBIPoC-Kunst erfordert nicht nur eine spezifische Perspektive, sondern auch ein spezifisches Begehren. Mein Begehren hat mich zu den Objekten geführt, was wiederum eine Form von Orientierung ist.

82 1

Marlon Riggs: »Unleash the Queen«, in: Gina Dent (Hg.), Black Popular Culture. A Project by Michele Wallace, Seattle: Bay Press 1992, S. 99—105, hier S. 102.

2

Ebd.

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

(5) Intersektionale Kritiken an akademischer Wissensproduktion und ihren Rahmenbedingungen DIE AKADEMIA ALS ORT DER WISSENSPRODUKTION »At these conferences, I am typically called upon to speak on matters of race and sexuality in queer media; race and sexuality in black culture; race and sexuality in Western cinema. I have become the Race and Sexuality Resident Expert. The assumption, it seems, is that girlfriend can talk about nothing else—that is, with authority. Indeed, based on what I gather from the majority of those who invite me to tea, it’s easy to imagine a homo promo video on my behalf with these lines: Wanna find out what it’s like to be black and gay, how it looks, how it feels, to live and think that way? Call 976-DIVA.«1 Der Schwarze schwule Filmemacher Marlon Riggs kritisiert die limitierte Rolle, die ihm als Gast bei wissenschaftlichen Konferenzen zugewiesen wird. Er spricht aus dem USamerikanischen Kontext, das Zitat ist aus den 1990er Jahren. Seine Kritik ist nachvollziehbar, jedoch scheint es ausgehend von einem deutschen Kontext nahezu vorbildlich, dass eine Schwarze queere Person als »Race and Sexuality Resident Expert«2 eingeladen wird. Die Akademia ist kein neutraler Raum, sondern ebenso wie auf sämtlichen anderen gesellschaftlichen Ebenen wirken auch hier ungleichheitsgenerierende Machtverhältnisse, die die Institution, die akademische Wissensproduktion und die Wissenschaftskultur durchziehen und zugleich durch sie mithervorgebracht werden. Die weiße, heteronormative, bildungsbürgerliche, männliche Dominanzkultur in der Wissenschaft geht einher mit Praxen des Gate-Keepings, das die Zugänge und das Verbleiben in der Institution für strukturell benachteiligte Subjekte, darunter QTIBIPoCs, erschwert. Neben der Frage nach institutionellen Ein- und Ausschlüssen und nach sozialer

83 3

Zum Begriff der epistemischen Gewalt vgl. u.a. Gayatri C. Spivak: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien: Turia + Kant 2008.

4

In den meisten wissenschaftlichen Texten des Schwarzen Feminismus / Women of Color-Feminismus und der Queer of Color-Kritik befassen sich die Autor_innen zunächst mit der Wissenschaft, epistemischer Gewalt und der Abwertung von Wissen aus marginalisierten Perspektiven. Tatsächlich ist diese Kritik bereits so häufig geäußert worden und offensichtlich immer noch nicht angekommen oder wieder ›vergessen‹ worden, dass dies für sich schon ein Beispiel für rassistische epistemische Gewalt, Silencing und die Schwierigkeit des Sprechens und Gehörtwerdens innerhalb der Akademia darstellt. Exemplarisch möchte ich an dieser Stelle auf die Anthologie Words of Fire verweisen. Gerade durch die Zusammenstellung historischer und aktueller Texte, in denen immer wieder Ausschlüsse aus der Akademia angesprochen werden, wird die Kontinuität der Problematik und der Kritik deutlich. Vgl. Beverly Guy-Sheftall (Hg.): Words of Fire. An Anthology of African-American Feminist Thought, New York: New Press 1995. Siehe außerdem die Studie von Grada Kilomba, die insbesondere im ersten Teil eine sehr gute Kritik an institutioneller und epistemischer Gewalt in der Akademia aus rassismuskritischer Schwarzer Perspektive zusammenfasst. siehe: Grada Kilomba: Plantation Memories. Episodes of Everyday Racism, Münster: Unrast 2008.

5

Mit dem Begriff des Native Informant wird in postkolonialer Theorie eine Figur beschrieben, die als Quelle oder Informant_in für koloniale Wissensproduktion dient, jedoch selbst nicht als Autor_in gewürdigt wird. Vgl. Pramod K. Nayar: The Postcolonial Studies Dictionary, Malden: Wiley Blackwell 2015, S. 112.

6

Renate Lorenz: »Unfinished Glossary of Artistic Research«, in: Jan Kaila / Anita Seppä / Henk Slager (Hg.), Futures of Artistic Research. At the Intersection of Utopia, Academia and Power, Helsinki: The Academy of Fine Arts of Uniarts Helsinki 2017, S. 2—11, S. 3.

7

Dies gilt umso mehr, da ein großer Teil meiner Wissensproduktion auf Community-Wissen basiert, das bei Veranstaltungen, über soziale Medien und in persönlichen Gesprächen mit mir geteilt wurde. Damit ist Wissen gemeint, das innerhalb der Community zirkuliert und einen gewissen Konsens darstellt, ohne dass sich eine

Verflechtungen von künstlerischem Wissen, Erfahrungswissen und akademischem Wissen

Gerechtigkeit besteht ein weiteres Problem in der epistemischen Gewalt3 akademischer Wissensproduktion. Die Kritik an epistemischer Gewalt ist seit langem ein zentraler Ansatzpunkt sowohl von postkolonialen Theorien, Critical Race Studies, feministischen Theorien, queerer Theorie und Transgender Studies als auch von einer Queer of ColorKritik. Diesen Ansätzen ist eine grundlegende Kritik daran gemein, wie innerhalb der Akademia und einzelnen Disziplinen im Speziellen hegemoniale Ideologie und gesellschaftliche Machtverhältnisse produziert und fortgeschrieben werden.4 Dies ist nicht nur eine Frage des Inhalts, sondern auch der Methoden, Praxen und Räume. Institutionelle Diskriminierung und epistemische Gewalt führen dazu, dass strukturell benachteiligte Subjekte selten als Expert_innen gehört werden. Aus diesem Grund ist die Zentrierung von marginalisierten Perspektiven sowie eine Auseinandersetzung mit nicht-wissenschaftlichen Formen der Wissensproduktion innerhalb von akademischen Kontexten eine Herausforderung, die zudem mit verschiedenen Fallstricken verbunden ist. Es ist unter anderem wichtig zu reflektieren, wer eigentlich etwas von einer solchen Wissensproduktion hat. Wie kann vermieden werden, dass nicht-akademische Formen von Wissen und Erkenntnisse aus marginalisierten Perspektiven wiederholt im Status des (Roh-)Materials verbleiben und festgeschrieben werden? Ich möchte sicherstellen, dass die Künstler_innen, Freund_innen, Angehörige von QTIBIPoCCommunitys, die mich empowern, inspirieren und von denen ich in den letzten Jahren sehr viel gelernt habe, keiner epistemischer Gewalt ausgesetzt werden. Wie kann Wissensproduktion aussehen, die mich selbst als queere Femme of Color nicht in die Rolle des »native informant«5 bringt, die Wissen teilt, das »die Akademie […] nicht verdient«,6 sondern die bereichernd ist für QTIBIPoC, insbesondere diejenigen im Kunst- und Kulturbereich? Eine Herausforderung für meine Forschung besteht in dem eigenen Anspruch auf Verantwortlichkeit bzw. Accountability gegenüber der Community bzw. den Communitys, zu denen ich gehöre und / oder auf deren Wissen ich zugreife,7 und der Navigation von Ansprüchen, die innerhalb einer weiß- und hetero-normativen Institution an mich als Wissenschaftlerin gestellt werden. Die Akademia ist für mich selbst als deutschtürkische Femme of Color kein neutraler Ort. Der Ansatz in meiner Arbeit, positioniert zu schreiben, marginalisiertes Wissen zu zentrieren und eine parteiliche heteronormativitäts- und rassismuskritische Haltung zu vertreten, provoziert zum Teil Unverständnis und Abwehrreaktionen, die mich immer wieder auch desorientiert haben. Im Folgenden fasse ich zentrale Kritikpunkte an Wissenschaft und den Rahmenbedingungen akademischer

84 spezifische Person als Autor_in ausmachen ließe. 8

Ich habe diesen Begriff durch Jin Haritaworn kennengelernt. Darunter verstehe ich eine Sensibilität dafür, wie sich das eigene Handeln auf marginalisierte Communitys auswirken kann und ein damit verbundenes Verantwortungsbewusstsein. Vgl. Jin Haritaworn: »Viel zu viel und längst nicht genug: Queer-of-ColourPolitiken und nachhaltige Communities«, in: Freitext 10 (20), 2012, S. 46—52, hier S. 48. Im Buch Queer Lovers and Hateful Others verwendet Haritaworn den Begriff der »epistemic community accountability«, auf den ich weiter unten ausführlicher eingehe. Vgl. Jin Haritaworn: Queer Lovers and Hateful Others. Regenerating Violent Times and Places, London: Pluto Press 2015.

9

Donna Haraway, 1995, S. 80.

10

Innerhalb der Disziplin Kunstgeschichte äußert sich ein solcher Universalismus beispielsweise darin, dass sich das Forschungsfeld fast ausschließlich auf (west-)europäische Kunstproduktion von der Antike bis zur Moderne und kanonisierter Kunst nahezu ausschließlich männlicher Künstler beschränkt, jedoch üblicherweise von der Kunstgeschichte gesprochen wird und nicht von einer partikularen. Zur Kritik am Eurozentrismus der Kunstgeschichte siehe u.a. Kymberly N. Pinder (Hg.): Race-ing Art History. Critical Readings in Race and Art History, London, New York: Routledge 2002; Irene Below / Beatrice von Bismarck (Hg.): Globalisierung / Hierarchisierung. Kulturelle Dominanzen in Kunst und Kunstgeschichte, Marburg: Jonas 2005. Daraus ist für diese Arbeit besonders relevant: Rasheed Araeen: »Eurocentricity, Canonization of the White / European Subject in Art History, and the Marginalisation of the Other«, in: Irene Below / Beatrice von Bismarck (Hg.), Globalisierung / Hierarchisierung. Kulturelle Dominanzen in Kunst und Kunstgeschichte, Marburg: Jonas 2005, S. 54—61. Siehe außerdem: James Elkins (Hg.): Is Art History Global?, London, New York: Routledge 2007 sowie Sandrine Micossé-Aikins, 2011.

11

Donna Haraway, 1995, S. 80.

12

Ebd. S. 81.

13

Vgl. ebd.

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

Wissensproduktion aus BIPoC, queeren, feministischen und trans* Perspektiven zusammen und diskutiere, welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen für (m)eine wissenschaftliche Praxis daraus gezogen werden können. Zunächst gehe ich näher auf die Schwierigkeit des Sprechens bzw. Gehörtwerdens für marginalisierte Subjekte und auf epistemische Gewalt innerhalb der Akademia ein, die ich anhand eines Ausschnitts aus einem Gedicht von Philip Khabo Köpsell verdeutliche. Im Anschluss daran stelle ich einige Ansätze vor, die in Bezug auf das Praktizieren von »community accountability«8 in der Wissenschaft Vorbildcharakter haben. Ziel dabei ist es alternative Entwürfe von Wissen, Wissenschaftlichkeit, Objektivität und wissenschaftlicher Verantwortlichkeit nachzuzeichnen und im Anschluss daran meine eigene forschungsethische Haltung und mein theoretisch-methodologisches Vorgehen zu entwickeln. Der »göttliche Trick«9 — Objektivität in der Wissenschaft Feministische, queere und postkoloniale Ansätze zeigen auf, dass innerhalb der hegemonial-dominanten akademischen Wissensproduktion ein eurozentristischer, männlicher, heteronormativer Blick die Norm darstellt, während diese Wissensproduktion ihre eigene Universalität und Objektivität behauptet.10 »Das Auge hat zur Bezeichnung einer perversen Fähigkeit gedient, die in der mit Militarismus, Kapitalismus, Kolonialismus und männlicher Vorherrschaft verbundenen Geschichte der Wissenschaft zur Perfektion getrieben wurde, nämlich die im Interesse ungehinderter Machtausübung stehende Distanzierung des Wissenssubjekts von allem und jedem.«11 Das Verständnis von Wissenschaftlichkeit selbst ist im dominanten akademischen Diskurs eng verbunden mit einer bestimmten Vorstellung von Objektivität als die Abwesenheit einer Ich-Perspektive in der Forschung. Donna Haraway bezeichnet dies treffend als »göttlichen Trick«12: alles von nirgendwo aus sehen zu können.13 Das Paradigma der Objektivität führt dazu, dass der Blick des_der Forschenden unmarkiert bleibt und subjektive Zugänge verschleiert werden, die etwa beim Forschungsinteresse, in der Herangehensweise, im Zugang zu einem Feld, usw. zum Tragen kommen. Das Nicht-Markierte beziehungsweise die Norm stellt jedoch immer eine hegemoniale Perspektive dar und ist keineswegs eine neutrale Position. Wie beispielsweise feministische Theorie gezeigt hat, wird der Verweis auf Objektivität genutzt,

85 14

Für einen guten Überblick über Perspektiven feministischer Wissenschaftskritik Vgl. Mona Singer, 2004.

15

Mahdis Azarmandi diskutiert diese geteilte Erfahrung mit einem gemeinsamen Freund, Smaran Dayal, auf Facebook in einem privaten Post vom 21.5.2016. Es handelt sich somit um eine informelle Form der Wissensproduktion, die zugleich gekennzeichnet ist durch Intimität, Freundschaft und durch die Öffentlichkeit einer social media-Plattform. Azarmandi ist Friedens- und Konfliktforscherin und untersucht koloniale Kontinuitäten in Erinnerungskultur und in sozialen Bewegungen.

16

Kobena Mercer: »Black Art and the Burden of Representation«, in: Kobena Mercer (Hg.), Welcome to the Jungle. New Positions in Black Cultural Studies, London, New York: Routledge 1994, S. 233—258.

17

Vgl. Marlon Riggs, 1992, S. 102.

18

Vgl. Donna Haraway, 1995.

19

Vgl. Pierre Bourdieu: »Teilnehmende Objektivierung«, in: Elke Ohnacker / Franz Schultheis (Hg.), Schwierige Interdisziplinarität. Zum Verhältnis von Soziologie und Geschichtswissenschaft, Münster: Westfälisches Dampfboot 2004, S. 172—199.

Verflechtungen von künstlerischem Wissen, Erfahrungswissen und akademischem Wissen

um Wissensproduktion von Frauen als subjektiv und unwissenschaftlich abzuwerten, mit der Begründung, sie sei parteilich und interessengeleitet.14 Implizit wird damit Forschung von weißen, heterosexuellen Cis-Männern als nicht-parteilich und nicht-interessengeleitet konstruiert. Subjekte, deren Subjektposition als ›Andere‹ zur weißen, männlichen, heterosexuellen, cis-geschlechtlichen, bürgerlichen und nicht-behinderten Norm konstruiert ist, können entsprechend dieser Logik dem Ideal von Wissenschaftlichkeit niemals gerecht werden, da sie nicht von der vermeintlich neutralen Position aus sprechen können. Die Wissensproduktion der ›Anderen‹ gilt stets als Partialperspektive oder Spezialwissen, während Wissensproduktion aus einer strukturell privilegierten Perspektive Universalität beziehungsweise Verallgemeinerbarkeit zugesprochen wird. Veranschaulichen lässt sich dies über die Aussage von Mahdis Azarmandi: »They think what they do is RE-search and what I do is ME-search«15, mit der sie die Wahrnehmung ihrer Forschung innerhalb der größtenteils weißen akademischen Community beschreibt. Es ist eine geteilte Erfahrung von Akademiker_innen of Color, stets zu ihrer vermeintlichen Herkunftskultur befragt zu werden, egal zu welchem Thema sie arbeiten. Kobena Mercer spricht in diesem Zusammenhang von der »burden of representation«16, womit beschrieben wird, dass Schwarze Menschen, Indigenous People und People of Color stets als Stellvertreter_innen bzw. Repräsentant_innen ›ihrer‹ Gruppe behandelt werden. Diese Last der Repräsentation wird in dem Zitat von Marlon Riggs zu Beginn dieses Kapitels besonders anschaulich, wenn er sich ein homo promo-Video von sich selbst vorstellt, bei dem er damit wirbt, dass man bei ihm rausfinden könne, wie es ist, Schwarz und schwul zu sein.17 Trotz der Kritik am Paradigma der Objektivität und der Erkenntnis, dass es eine interessenlose Wissenschaft gar nicht geben kann, hält es sich immer noch hartnäckig und wird immer wieder mobilisiert, um marginalisiertes Wissen aus der Akademia auszuschließen. Es gibt jedoch auch verschiedene Ansätze, die die Frage danach aufgegriffen haben, wie eine wissenschaftliche Haltung aussehen kann, die das Subjekt der Forschung nicht unsichtbar werden lässt. Beispielsweise schlägt Donna Haraway eine »Situierung des Wissens«18 vor, womit gemeint ist, dass das Forschungsinteresse und die Perspektive sowie der Standpunkt, von dem aus Wissen produziert wird, offengelegt und reflektiert werden soll. Pierre Bourdieu verwendet den Begriff der »Teilnehmenden Objektivierung«19 für eine wissenschaftliche Haltung, bei der das forschende Subjekt zu sich selbst eine kritische Distanz einnimmt und die Beziehung zwischen sich, dem Forschungsthema und dem Forschungsgegenstand reflektiert und sich ein Stück weit selbst zum Forschungsobjekt macht. Noch stärker formuliert wird

86

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

20

Besonders eindrücklich hat dies der postkoloniale Theoretiker Edward Said dargelegt: Edward W. Said: Orientalism, London [u. a.]: Penguin Books 2003 (1978).

21

Hierzu ausführlich siehe: Maureen Maisha Eggers: »Rassifizierte Machtdifferenz als Deutungsperspektive in der Kritischen Weißseinsforschung in Deutschland«, in: Maureen Maisha Eggers / Grada Kilomba / Peggy Piesche / Susan Arndt (Hg.), Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster: Unrast 2005, Maureen Maisha Eggers / Grada Kilomba / Peggy Piesche / Susan Arndt (Hg.), 2005, S. 56—72.

eine Forderung nach einer Positionierung des Subjekts der Forschung innerhalb postkolonialer Theorien und Critical Race Theory, die zeigen, dass ein Sprechen über das ›Andere‹ dieses ›Andere‹ überhaupt erst herstellt.20 Postkoloniale Theorie diskutiert die Rolle der Wissenschaft für den Kolonialismus und für die Konstruktion von ›Rasse‹. Wissenschaft hat eine zentrale Rolle gespielt bei Prozessen von Rassisierung, Stereotypisierung und Othering, bei denen BIPoCs markiert, entmenschlicht, zum ›Anderen‹ gemacht und abgewertet werden.21 Diese Prozesse funktionieren diskursiv und performativ. Gayatri Chakravorty Spivak spricht in diesem Zusammenhang von epistemischer Gewalt: »Das klarste Beispiel für eine solche epistemische Gewalt ist das aus der Distanz orchestrierte, weitläufige und heterogene Projekt, das koloniale Subjekt als Anderes zu konstituieren.«22 Das weiße Subjekt dagegen bleibt unmarkiert, wird implizit zum ›Eigenen‹, zur Norm und wird im Zentrum positioniert. Deswegen fordern postkoloniale Theoretiker_innen eine Dezentrierung dominanter Positionen.23

22

Gayatri C. Spivak, 2008, S. 42.

23

Vgl. u.a. Uma Narayan: Decentering the Center. Philosophy for a Multicultural, Postcolonial, and Feminist World, Bloomington: Indiana University Press 2008.

24

Josch Hoenes, 2014.

25

Ebd. S. 14.

26

Ebd.

»Nicht Frosch und nicht Laborratte«24 Josch Hoenes diskutiert in der Einleitung zu seiner Studie »Nicht Frosch und nicht Laborratte«: Transmännlichkeit im Bild die Art und Weise, »wie und mit welchen Effekten dominanterweise Wissen über Transsexualität, Transgender und Transmänner innerhalb der Akademia produziert wird«.25 Einerseits haben verschiedene akademische Disziplinen wie die Sexualwissenschaft, die Medizin, die Psychologie, sowie neuere Ansätze der Geschlechterforschung, der Queer Theory oder der Transgender Studies, auf unterschiedliche Weise maßgeblich zur Sichtbarmachung und Konstituierung der Phänomene Transsexualität und Transgender beigetragen. Andererseits erscheinen »hegemoniale wissenschaftliche Perspektiven auf und Vorstellungen von Transsexualität und Transgender als hochgradig problematisch, wenn nicht gar unerträglich.«26 Mit Bezug auf den Künstler und Transaktivisten Jamison Green verdeutlicht Josch Hoenes die Gewalt, der trans* Personen in akademischen Räumen ausgesetzt sind, und wie ihnen darin — historisch und zum Teil bis heute — die Rolle des Forschungsobjektes zugewiesen wird: »Wenn Green die Transformation in ein Forschungsobjekt, die sich beim Vor-die-Klasse-Treten vollzieht, in die Metaphern von Laborratte, Frosch auf dem Seziertisch und interaktive multimediale Lernerfahrung fasst, zeichnet er ein Bild der Akademia als einen Raum des Wissens, innerhalb dessen der Transsexuelle — zumindest zunächst — ausschließlich als Objekt der Wissensbegierde von Forschenden und

87 27

Ebd. S. 15. Josch Hoenes zitiert zuvor den Künstler und Transaktivisten Jamison Green, der seine Erfahrungen im Rahmen von Aufklärungsarbeit zum Thema Transsexualität schildert, die er an Schulen und Universitäten leistet. Vgl. Jamison Green: »Look! No, don’t! The Visibility Dilemma for Transsexual Men«, in: Susan Stryker / Stephen Whittle (Hg.), The Transgender Studies Reader, London, New York: Routledge 2006, S. 499—508.

28

Che Gossett: Blackness, Animality, and the Unsovereign. verso books blog 2015, http://www.versobooks.com/ blogs/2228-che-gossett-blacknessanimality-and-the-unsovereign, vom 20.05.2020.

Verflechtungen von künstlerischem Wissen, Erfahrungswissen und akademischem Wissen

Studierenden fungiert und einer fundamental entmenschlichenden Gewalt ausgesetzt ist: vollständig objektiviert, bleibt kein Raum für das Subjekt- und Menschsein des Transsexuellen, mutiert er zum Tier oder zur fortschrittlichen Lerntechnologie, kurz: zu einem Objekt des Wissens.«27 Der Frosch und die Laborratte, die Josch Hoenes sogar im Titel seiner Studie aufgreift, sind Metaphern für den Status als Forschungsobjekt, welches auf dem Seziertisch platziert wird. Die hegemoniale akademische Wissensproduktion spielt(e) eine entscheidende Rolle für die Normierung und Naturalisierung von Heteronormativität und der Zweigeschlechterordnung sowie der Pathologisierung und des Othering von trans* Personen. Ausgehend von der Positionierung als Trans* und einer Reflexion spezifischer Erfahrungen innerhalb der Akademia, wie im Falle von Jamison Green, können spezifische Überlebensstrategien, Wissen und Gegendiskurse entwickelt werden. Die Erkenntnisse, die Josch Hoenes in seiner Untersuchung der komplexen Situation von Transsexualität / Transmännlichkeit und akademischer Wissensproduktion darlegt, gelten in weiten Teilen in ähnlicher Weise für weitere strukturell marginalisierte Subjektpositionen. Die Ausübung entmenschlichender Gewalt durch akademische Wissensproduktion trifft Schwarze Menschen, Indigenous People und People of Color ebenfalls auf brutale Weise. Historisch und bis heute wurde BIPoCs immer wieder das Menschsein abgesprochen, um koloniale Gewalt, Versklavung und Genozid zu legitimieren. Che Gossett zeigt wie Blackness / Schwarzsein die Kategorien Mensch / Tier verkompliziert, aufgrund der historischen und fortwirkenden gewaltvollen Konstruktion von Schwarzsein als außerhalb des Menschlichen. Gossett verbindet diese Fragen mit Fragen nach Abolition.28 Für die Unterbrechung und Vermeidung epistemischer Gewalt reichen Versuche der Situierung des Wissens, die auf ein rein performatives Offenlegen der eigenen Positionierung beschränkt bleiben, nicht aus. Vielmehr muss immer wieder gefragt werden, wie im Schreiben vermieden werden kann, minorisierte Subjekte erneut zum ›Anderen‹ zu machen. Statt den Fokus stets auf das ›Andere‹ zu richten, gibt es Versuche die Norm bzw. die normative, dominanzkulturelle Position selbst zum Gegenstand der Forschung werden zu lassen. Gleichzeitig wird gefragt, wie ungleichheitsgenerierende Machtstrukturen hergestellt und fortgeschrieben werden und es wird darauf hingewirkt Forschungsperspektiven zu pluralisieren. Beispiele hierfür sind u.a. weißseinskritische und auch heteronormativitätskritische Zugänge. Kritisches Weißsein benennt Weißsein, das in der Regel unmarkiert bleibt,

88

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

29

Für einen Überblick zu kritischem Weißsein im deutschen Diskurs vgl. u.a.: Maureen Maisha Eggers / Grada Kilomba / Peggy Piesche / Susan Arndt (Hg.), 2005. Siehe außerdem: Jihan Jasmin Dean: »Kritische Weißseinsforschung und Perspektiven of Color. Geschichte, Aktualität, Kontroversen«, in: Anna Greve (Hg.), Kunst & Politik. Schwerpunkt: Weißsein und Kunst. Neue postkoloniale Analysen, Göttingen: V&R unipress 2015, S. 19—36.

30

Vgl. Roderick A. Ferguson (Hg.): The Reorder of Things. The University and its Pedagogies of Minority Difference, Minneapolis: University of Minnesota Press 2012, S. 5.

31

Philipp K. Köpsell: »The Brainage«, in: Die Akte James Knopf. Afrodeutsche Wort- und Streitkunst, Münster: Unrast 2010, S. 8—12, hier S. 11.

macht es explizit und unterbricht damit Normalisierungsprozesse.29 In ähnlicher Weise richtet Heteronormativitätskritik ebenfalls den Blick auf eine hegemoniale Norm — in diesem Fall Heterosexualität und Zweigeschlechterordnung. Prozesse der Differenzierung in Bezug auf Gender und Sexualität wirken auf allen gesellschaftlichen Ebenen und produzieren Ordnungen innerhalb derer bestimmte Subjekte und Begehrensformen, wie beispielsweise als ›Abweichung‹, als ›Andere‹ im Gegensatz zur Norm konstruiert werden. Aus der Kritik an den sogenannten Master Narratives, epistemischer Gewalt, Eurozentrismus und daran, wie akademische Wissensproduktion das ›Andere‹ produziert und an der (Re-)Produktion herrschender Machtverhältnisse wie Heteronormativität oder weißer Suprematie beteiligt ist, lässt sich als Konsequenz die Notwendigkeit einer Dekolonisierung von Wissenschaft und der Entwicklung von Gegendiskursen, eigener Wissensproduktion, selbstbestimmten Bildern und die Forderung nach der Produktion und Berücksichtigungen von Selbstrepräsentationen ziehen. Hier unterscheidet sich der deutsche Kontext stark vom US-amerikanischem, in dem diese Forderungen zumindest zur Durchsetzung einer Institutionalisierung von Wissensproduktionen aus diversen minorisierten Perspektiven geführt haben, wie den Women’s Studies, Black Studies, Gay and Lesbian Studies, Chicana Studies und weiteren Zugängen.30

EPISTEMISCHE GEWALT UNTERBRECHEN »[…] we take childhood memories and unfinished conversations we take all the anger, the frustration, the insanity out of cobwebbed corners of suppression and denial we sharpen their edges and place them under the tip of our tongue Wissen schafft Waffen! might stab you with a kiss, with a word, with a term of endearment with a power point presentation — kill dead! I speak, so you don’t speak for me! we refuse to be identified, classified, verified and filed under: ix, üpsilon, zett«31 In seinem Gedicht the Brainage formuliert der afrodeutsche Dichter und Dramaturg Philipp Khabo Köpsell mit sarkastischem Humor eine postkoloniale Wissenschaftskritik. Er benennt Kontinuitäten rassistischer Strukturen in der Akademia sowie den Nexus von Wissen und Macht. In dem zitierten Abschnitt wird eine alternative Wissensproduktion beschrieben, die aus Kindheitserinnerungen, nicht zu Ende gebrachten

89 32

Ebd.

33

Dass es diverse Studien gibt, die verkörpertes Wissen und Gefühlsstrukturen ernst nehmen und rassismuskritische und queere Theorie mit Affekttheorie verbinden, soll hier nicht unbenannt bleiben. Vgl. u.a. Sara Ahmed: The Cultural Politics of Emotion, Edinburgh: Edinburgh University Press 2004; Jin Haritaworn, 2015.

34

Audre Lorde beschreibt die geteilte Erfahrung von Schwarzen Frauen als »angry black women« stereotypisiert zu werden, oft in solchen Situationen, in denen sie rassistische und heterosexistische Gewalt benennen und kritisieren. Durch die Abwehrreaktion, Schwarzen Frauen genau dann vorzuwerfen, sie seien ›angry‹, wenn diese versuchen, über Rassismus zu sprechen, kommt es häufig zu einer Umkehr von Täter_in und Betroffener von Gewalt: Die ›wütende‹ Reaktion auf Gewalt wird selbst als Gewalt betitelt, während die vorausgegangene rassistische Gewalt übergangen oder abgewertet wird. Audre Lorde: Sister Outsider. Essays and Speeches, Berkeley: Crossing Press 2007. Sara Ahmed stellt ihre Figur der »feminist kill-joy« an die Seite der »angry black woman«. Vgl. Sara Ahmed: »Happy Objects«, in: Melissa Gregg / Gregory J. Seigworth (Hg.), The Affect Theory Reader, Durham, London: Duke University Press 2010, S. 29—51, hier S. 38—39. Viele Schwarze Frauen haben sich inzwischen die Zuschreibung der ›angry black woman‹ angeeignet und positiv umgedeutet. Ein Beispiel dafür ist der von Mia McKenzie gestartete Blog Black Girl Dangerous. https://www.bgdblog.org/ about-bgd/, vom 07.4.2020.

35

Philipp Khabo Köpsell, 2010, S. 11.

36

Zu »Hiphop und Spoken Word als Orte möglicher Identititätsverhandlungen arabisch-muslimischer Frauen« hat Mona ElOmari geforscht, die leider ihre Promotion zu diesem Thema abgebrochen hat. Im Rahmen eines Vortrags am Institut für Medienwissenschaft an der HBK Braunschweig am 25.1.2017 erklärt sie, dass Hiphop und Spoken Word Kunstformen sind, die historisch und musikalisch im Kontext einer widerständigen Schwarzen Wissenstradition betrachtet werden müssen.

37

Die Black Poetry Night fand am 11.2.2011 in Hamburg statt und wurde musikalisch von Danielle Daude begleitet.

38

Die Tagung Sprache — Macht — Rassismus fand im Mai 2013 an der Hochschule Fulda statt und wurde von der AG Antidiskriminierung initiiert und veranstaltet vom Centre for Intercultural and European Studies (CINTEUS) sowie

Verflechtungen von künstlerischem Wissen, Erfahrungswissen und akademischem Wissen

Konversationen, aus Wut, Frustration und Wahnsinn besteht, die »geschärft«32 werden wie Messer. Dieses Wissen, das auch emotional und verkörpert ist, wird innerhalb von BIPoCCommunitys im Gegensatz zur Akademia,33 ernstgenommen. Die Aneignung und Umdeutung von Affekten und Gefühlen wie Wut ist — im Angesicht von rassistischer Stereotypisierung zum Beispiel als »angry black woman«34 — eine Strategie des Empowerments und Widerstands. In dem Gedicht von Köpsell geht es um die Reflexion eigener Rassismus- und Widerstandserfahrungen, aus denen sich Wissen gewinnen lässt, das eine mächtige Waffe sein kann und ermächtigend wirkt. Es findet eine Verschiebung statt von der Kritik an institutionellem Rassismus hin zu Empowerment und Widerstand. Die letzten drei Zeilen formulieren eine Verweigerung, zum passiven Objekt des Wissens gemacht zu werden, das klassifiziert und kategorisiert wird, und fordern eine aktive Sprecher_innen-Position ein: »I speak, so you don’t speak for me!«35 The Brainage ist zudem Teil von Philip Khabo Köpsells Repertoire bei Spoken Word Performances.36 Ich habe zwei Aufführungen bei sehr unterschiedlichen Veranstaltungen gesehen. Einmal im Rahmen der Black Poetry Night37 beim Black History Month in Hamburg 2011 und zwei Jahre später auf einer Tagung an der Hochschule in Fulda zum Thema Sprache — Macht — Rassismus 2013.38 Die Sprachkunst von Philipp Khabo Köpsell ist Ausdruck einer expliziten afrodeutschen Perspektive, die anknüpft an die Tradition von Hiphop und insbesondere in der Aufführungssituation zu Community-Building beitragen kann. Die Performance, gerahmt durch den Black History Month, ist ein Anlass, zusammen zu kommen, insbesondere für ein Schwarzes Publikum und dadurch einen Raum zu schaffen, in dem die gesellschaftlichen Mehrheitsverhältnisse verändert sind. In einem anderen Setting, dem einer akademischen Tagung, selbst wenn dort verhältnismäßig viele BIPoCs als Vortragende eingeladen worden sind, wirkt das Stück eher als Intervention. Das Format des Spoken Word-Stücks und dessen Performance brechen mit einem Habitus und mit Konventionen des Sprechens innerhalb akademischer Räume und verstärken damit die postkoloniale Wissenschaftskritik, die durch den Text artikuliert wird. Mithilfe von Köpsells Gedicht lässt sich über die Relevanz der Positionierung innerhalb von Wissenschaft weiter nachdenken. Es ist wichtig zu fragen: Wer spricht? Subjekte und Objekte des Wissens und die Frage: Wer spricht? »Erste Frage: Wer spricht? Wer in der Menge aller sprechenden Individuen verfügt begründet über diese Art von Sprache? Wer ist ihr Inhaber? Wer erhält von ihr seine Einzigartigkeit, sein Prestige, und umgekehrt:

90 der Hessischen Landeszentrale für Politische Bildung. Inzwischen ist auch der Tagungsband erschienen: Vgl. Jamila Adamou / Gudrun Hentges / Mechthild M. Jansen / Kristina Nottbohm (Hg.): Sprache — Macht — Rassismus, Berlin: Metropol 2014. 39

Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2013 (1961), S. 75.

40

Vgl. Foucault 2013 (1961).

41

Pierre Bourdieu: Language and Symbolic Power, Cambridge: Polity 2011 (1991), siehe insbesondere das Kapitel »Authorized Language«, S. 107—116.

42

Ebd. S. 111.

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

Von wem erhält sie wenn nicht ihre Garantie, so wenigstens ihren Wahrheitsanspruch? Welches Statut haben die Individuen, die (und zwar sie allein) das reglementäre oder traditionelle, juristisch definierte oder spontan akzeptierte Recht besitzen, einen solchen Diskurs vorzubringen?«39 Michel Foucault stellt diesen Fragenkatalog in seinem Buch Die Archäologie des Wissens auf, in dem er im Wesentlichen sein Vorgehen und sein Erkenntnisinteresse in den vorausgegangenen Büchern überdenkt und seine Herangehensweise als Archäologie definiert. Die Frage »wer spricht?«, beziehungsweise in Erweiterung »wer spricht nicht?«, ist ein wichtiges Werkzeug für die Analyse von Diskurs und Macht.40 Nicht jede Sprecher_innen- und Subjektposition verfügt über dieselbe Menge an Diskursmacht. Foucault zeigt beispielsweise, dass in der diskursiven Konstruktion von Wahnsinn als Krankheit Mediziner_innen eine zentrale Rolle einnehmen (ebenso wie bei der Pathologisierung von Homosexualität sowie von Inter- und Transsexualität). Die Frage danach, wer innerhalb von Diskursen eine besonders machtvolle Position einnehmen kann — und warum —, lässt sich verbinden mit Pierre Bourdieus Begriff der autorisierten Sprache beziehungsweise der_des autorisierten Sprechers_in. In seinem Buch Language and Symbolic Power kritisiert Bourdieu die Sprechakttheorie John L. Austins. Die Rolle der symbolischen Macht, also der Autorität, die einer_m Sprecher_in von Institutionen oder anderen Instanzen verliehen wird, werde von Austin vernachlässigt.41 Für Bourdieu ist Sprache nicht aus sich selbst heraus mächtig, sondern erhält ihre Autorität von außerhalb. Laut Bourdieu kann Sprache diese Autorität höchstens repräsentieren, manifestieren und symbolisieren. Die Frage, ob, wie und von wo aus Sprache eine performative Macht entfaltet, ist interessant aber muss an dieser Stelle zurückgestellt werden. Stattdessen möchte ich eine Verbindung zwischen Bourdieus Überlegungen zur Autorisierung von Sprache zu der Frage der Positionierung des_der Sprecher_in innerhalb von strukturellen Machtverhältnissen herstellen. Bourdieu selbst verweist auf die Notwendigkeit des Erscheinens eines_r Sprechers_in als »angemessen«42: »Most of the conditions of that have to be fulfilled in order for a performative utterance to succeed come down to the question of the appropriateness of the speaker — or, better still, his social function — and of the discourse he utters. A performative utterance is destined to fail each time that it is not pronounced by a person who has the ›power‹ to pronounce it, or, more generally,

91 43

Ebd. Bourdieu zitiert hier John L. Austin: How to Do Things with Words, Oxford: Clarendon Press 1962, S. 4.

44

Pierre Bourdieu, 2011, S. 111.

45

María d. M. Castro Varela / Nikita Dhawan: »Postkolonialer Feminismus und die Kunst der Selbstkritik«, in: Hito Steyerl / Encarnación Gutiérrez Rodríguez (Hg.), Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik, Münster: Unrast 2003, S. 270—290, hier S. 280. Unter Bezugnahme auf: Mary E. John: Discrepant Dislocations. Feminism, Theory and Postcolonial Histories, Berkeley: University of California Press 1996.

46

Wie ich bereits erklärt habe, lässt sich der Standpunkt oder die Positionierung über Sara Ahmeds Zugang zu Orientierung mit der Frage danach was sagbar oder wahrnehmbar ist, zusammendenken. Wir können uns sowohl aktiv orientieren und zu einem bestimmten Ort hinbewegen als auch orientiert werden durch ›Dinge‹. Zugleich sind unsere Orientierungen bestimmt von einem Punkt, einem Starting Point. Dieser kann als Standpunkt gedacht werden, von dem aus wir uns in die eine oder andere Richtung hin ausrichten, unsere Aufmerksamkeit und damit die Wahrnehmung auf bestimmte Objekte richten und auf andere nicht.

Verflechtungen von künstlerischem Wissen, Erfahrungswissen und akademischem Wissen

each time that the ›particular persons and circumstances in a given case‹ are not ›appropriate for the invocation of the particular procedure invoked‹; in short, each time the speaker does not have the authority to emit the words he utters.«43 Wann ist ein_e Sprecher_in »angemessen«?44 Was bedeutet dies für die Frage, wer spricht, und: Wer kann sprechen? Wer kann gehört werden? Während Bourdieu vor allem über institutionelle Macht nachdenkt, durch die bestimmten Sprecher_innen Autorität verliehen wird, lässt sich mit einer intersektionalen Perspektive fragen, welche Subjektpositionen eine Autorisierung ihres Sprechens (nicht) erfahren. Wichtige Grundlagen für die Reflexion dieser Problematik hat unter anderem die postkoloniale Theorie geschaffen. Nikita Dhawan und María do Mar Castro Varela greifen auf Mary John und ihr Konzept der Verortung zurück, um zu zeigen, wie ein Ort, von dem aus intellektuell interveniert wird, in direktem Zusammenhang mit der Subjektposition steht, von der aus interveniert wird: »Die Affirmierung einer Politik der Verortung bedeutet sich entlang der Achsen ›Rasse‹, Klasse, Geschlecht und Sexualität zu positionieren. Als politische Größe trägt die Kategorie der Verortung Sorge dafür, dass kritische Intervention immer auch danach fragt, wer von welcher Position welche Frage stellt. Die politische Verortung verdeutlicht somit, dass der Ort, von dem aus intellektuell interveniert wird, in direktem Zusammenhang mit der Subjektposition steht, insoweit dieselben durch die ungleiche Beziehungen zwischen den Räumen angerufen werden.«45 Die Begriffe Verortung und Positionierung sind hier nicht eindeutig unterschieden und haben zudem Ähnlichkeit mit dem in anderen theoretischen Kontexten verwendeten Begriffs des Standpunktes. All diesen Begriffen liegt die Annahme zugrunde, dass der Ort, von dem aus gesprochen wird, Relevanz hat für machtkritische Analysen. Dieser Ort kann ein physischer Ort sein, ein geografischer Kontext, eine Institution, eine Subjektposition innerhalb einer gesellschaftlichen Ordnung, ein Körper oder auch eine ideologische Position. Ich bevorzuge den Begriff der Positionierung, um die Situierung von Subjekten und Identitätskonstruktionen innerhalb intersektionaler Machtverhältnisse in ihrer strukturellen Dimension zu beschreiben. Allerdings wohnt dem Begriff auch eine Implikation einer aktiv gewählten Haltung inne, was nicht immer zutreffend ist.46 In Bezug auf das Fragewort »wer?« in der eingangs gestellten Frage »wer spricht?« ist also weniger die Identität eine_r Sprecher_in

92

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

47

gemeint, sondern die Positionierung innerhalb hierarchisch strukturierter Ordnungen. Für marginalisierte Subjekte ist es ungleich schwerer, wenn nicht gar unmöglich überhaupt die Position eines_r autorisierten Sprecher_in einzunehmen, selbst dann — und das ist wichtig — wenn sie Expert_innen zu einem bestimmten Thema sind.47 Dies ist begründet in den Effekten, die intersektionale Machtverhältnisse auf die Intelligibilität von Subjekten haben. Dieses Problem verdeutlicht die postkoloniale feministische Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak in ihrem breit rezipierten Essay »Can the Subaltern Speak?«.48 Sie formuliert eine beeindruckende »Kritik an den gegenwärtigen westlichen Bemühungen, das Subjekt zu problematisieren«49 und fährt fort mit der Frage danach, »wie das Subjekt der Dritten Welt innerhalb des westlichen Diskurses repräsentiert wird?«50 Spivak beantwortet ihre eigene Frage sehr drastisch: »Die Subalterne kann nicht sprechen.«51 Um die Frage und die Antwort richtig zu verstehen, ist es notwendig zu klären, welche Begriffe von Subalternität und von Sprechen Spivak ihrer Argumentation zugrunde legt.52 Mit Sprechen meint Spivak einen Kommunikationsakt, der erst durch das Gehörtwerden komplettiert wird.53 Der Begriff von Subalternität, den sie in Bezug auf ihre Ausführungen zum Witwenopfer in Indien und die Frage nach der (Sprach-)Handlungsfähigkeit der subalternen Dritte-Welt-Frau verwendet, ist ein sehr spezifischer und ist nicht gleichbedeutend mit Marginalisierung oder struktureller Unterdrückung. Ihre grundlegende Frage nach der Repräsentation des kolonialen Subjekts im westlichen Diskurs, vor allem des weiblichen Subjekts, sind bedeutsam geworden für feministische postkoloniale und rassismuskritische Theorien. Spivak ermöglicht es, die Frage der Diskursmacht mit der Frage nach einer spezifischen Subjektposition zusammenzudenken. In dieser Perspektive wird es umso wichtiger zu fragen: »Wer spricht nicht?«, um Ausschlüsse innerhalb bestimmter Diskurse sichtbar zu machen. Die Frage »wer spricht?« ist dementsprechend eng verknüpft mit dem Begriff der Repräsentation:54 In einer postkolonialen repräsentationskritischen Perspektive wird nicht nur gefragt wer (nicht) vertreten ist, sondern auch, wie etwas oder jemand dargestellt wird.

Fatima El-Tayeb schildert in ihrem Buch Undeutsch eine Situation, in der sie die Teilnahme an einer Konferenz zur Geschichte des Rassebegriffs in Deutschland absagte, als sie feststellte, dass dort fast ausschließlich weiße männliche Wissenschaftler eingeladen waren. In ihrer Absage nannte sie die Namen von mindestens fünf Schwarzen Wissenschaftler_innen und Wissenschaftler_innen of Color, die im deutschen Kontext arbeiten und die qualifizierte Beiträge zu diesem Thema leisten könnten. In der Antwort hieß es daraufhin, es sei den Veranstalter_innen um eine wissenschaftliche und nicht um eine politische Auseinandersetzung mit der Frage gegangen, sonst hätte man auch Betroffene aus marginalisierten Gruppen eingeladen. Vgl. Fatima El-Tayeb, 2016.

48

Gayatri C. Spivak, 2008.

49

Ebd. S. 19. Mit »gegenwärtigen Bemühungen« sind zur Zeit der Veröffentlichung des Essays in den 1980er Jahren poststrukturalistische Ansätze gemeint, wobei Spivak ebenfalls auf strukturalistische, marxistische und psychoanalytische Ansätze zurückgreift. Spivak unterzieht den Text »Die Intellektuellen und die Macht: Ein Gespräch zwischen Michel Foucault und Gilles Deleuze« einer tiefgreifenden Kritik und zeigt auf, wie in der Diskussion zwischen den beiden, die sich unter anderem mit dem Arbeiter_innenkampf und dem Maoismus auseinandersetzt, durch das Ignorieren der Frage der internationalen Arbeitsteilung und der Frage des eigenen Begehrens das Rechtssubjekt des sozialisierten Kapitals wieder eingesetzt werde. Sie bezieht sich des Weiteren auf Deleuze und Guattaris Definition des Begehrens als Maschine, die jedoch, so Spivak, nichts ändere an der Spezifität des begehrenden Subjekts. »Das Scheitern von Deleuze und Guattari daran, die Beziehungen zwischen Begehren, Macht und Subjektivität zu denken«, setze sie »außerstande, eine Theorie der Interessen zu artikulieren« (S. 24). Spivak bezieht sich auf: Michel Foucault: Language, Counter-Memory, Practice. Selected Essays and Interviews, Ithaca: Cornell University Press 2019 (1977). Spivaks Ausführungen sind relevant für die Frage des Zusammenhangs zwischen Positionierung und Wissensproduktion.

50

Gayatri C. Spivak, 2008, S. 19.

51

Ebd. S. 106.

52

Sie übernimmt die von der Subaltern Studies Group vorgenommene Neufassung von Gramscis Begriff der Subalternität und bezieht sich insbesondere auf Ranajit Guha. Der subalterne Raum werde bei Guha, so Spivak, definiert als »Raum, der

»Sprache, so die postkolonialen TheoretikerInnen, stellt ein Repräsentationssystem dar, auf deren Grundlage Räume der Performativität und Akte der Intelligibilität initiiert und fundiert werden. Die Fragen danach, wer spricht, was gesehen und wie etwas gesehen wird, berühren daher nicht nur die Ebene der Darstellung im Sinne der Sichtbarmachung, sondern auch die des Sprechens und des Gehörtwerdens.«55

93 in einem kolonisierten Land von den Mobilitätslinien abgeschnitten ist«. Gayatri C. Spivak: »Ein Gespräch über Subalternität«, in: Hito Steyerl / Alexander Joskowicz / Stefan Nowotny (Hg.), Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien: Turia + Kant 2008, S. 119—148, hier S. 121. 53

Ebd. S. 122.

54

Auf den Begriff der Repräsentation gehe ich im nächsten Kapitel ausführlich ein.

55

Encarnación Gutiérrez Rodríguez, 2003, S. 18.

56

Zu einer Kritik an der Viktimisierung der subalternen Frau vgl. u.a.: Gayatri C. Spivak, 2008.

57

Auf den Begriff Silencing komme ich im Kapitel Überlebensstrategien und »Queer Futurity« (Muñoz) in Sunanda Mesquitas Gemälde Silenced by Academia (2015) noch einmal zurück.

58

Ebd.

59

Ebd. S. 279—280.

60

Für eine Kritik an der Herstellung eines migrantischen Anderen in der Sozialwissenschaft siehe: Paul Mecheril: »Wer spricht über wen. Gedanken zu einer Methodologie des re_konstruktiven Umgangs mit dem Anderen der Anderen in den Sozialwissenschaften«, in: Wolf-Dietrich Bukow / Markus Ottersbach (Hg.), Fundamentalismusverdacht. Plädoyer für eine Neuorientierung der Forschung im Umgang mit allochthonen Jugendlichen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 1999, S. 231—266.

61

Grada Kilomba, 2008, S. 28.

Verflechtungen von künstlerischem Wissen, Erfahrungswissen und akademischem Wissen

Durch eine solche postkoloniale Kritik finden Interventionen in Prozesse der Viktimisierung und Stereotypisierung von marginalisierten Subjekten als Unterdrückte ohne Stimme, denen durch privilegiertere, mächtigere Subjekte geholfen werden könne, statt.56 Stattdessen wird der Fokus darauf gerichtet, wie Schwarze Menschen, Indigenous People und People of Color aus der (akademischen) Wissensproduktion ausgeschlossen und gesilenced werden.57 Der Begriff des Silencing ist eine Intervention von BIPoC-Aktivist_innen und -Akademiker_innen, der ein strukturelles Problem mit institutionellem Rassismus beschreibt. Es findet eine Verschiebung statt, in der das Problem nicht in den mangelnden Fähigkeiten zu sprechen auf Seite der marginalisierten Subjekte verortet wird, sondern im aktiven Nicht-Hören der dominanten Seite. Als Konsequenz aus diesen Kritiken schlagen María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan in einem selbstkritischen Artikel über postkolonialen Feminismus »Subversives Zuhören« vor:58 »Subversives Zuhören bedarf eines selbstbewussten Subjekts, das in der Lage ist, dann zu schweigen, wenn andere Perspektiven zum Vorschein kommen, genau in den Momenten, die die Gefahr des Verlustes des eigenen Privilegs in sich bergen.«59 Das Subversive Zuhören wendet sich sowohl gegen die epistemische Gewalt eines Sprechens-über, welches das Andere als Anderes herstellt, als auch gegen ein vermeintlich wohlgemeintes Sprechen-für, das Unterdrückten eine-Stimme-geben will. Das Subversive Zuhören verlangt einiges vom hörenden Subjekt, denn es droht der Verlust der eigenen Privilegien. Zum Umgang mit minorisiertem Wissen in der Akademia Die Fragen »wer spricht?« und »wer spricht nicht?« lassen sich mithilfe von Grada Kilomba vertiefen und um die Fragen »wer spricht über wen?« und »wessen Wissen wird (nicht) als Wissen anerkannt?« erweitern, um wissenschaftlichdiskursive Praxen des Othering zu analysieren.60 In ihrem Buch Plantation Memories beschreibt sie die institutionelle Gewalt in akademischen Räumen. »It is not that we have not been speaking, but rather our voices — through a system of racism — have been either systematically disqualified as invalid knowledge; or else represented by whites who, ironically, become the ›experts‹ on ourselves. Either way, we are caught in a violent colonial order. In this sense, academia is neither a neutral space nor simply a space of knowledge and wisdom, of science and scholarship, but also a space of v-i-o-l-e-n-c-e.«61

94

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

62

Zu den von Hoenes und Spivak beschriebenen Dimensionen von entmenschlichender und epistemischer Gewalt innerhalb der Akademia wird bei Kilomba eine weitere Dimension hinzugefügt, nämlich die, dass Wissen aus BIPoC-Perspektiven verworfen wird bzw. nur dann als relevant behandelt wird, wenn es durch Weiße (re-)präsentiert wird. Wie Kilomba erklärt, ist es eine geteilte und wiederkehrende Erfahrung von BIPoCAutor_innen, dass ihr Wissen, insbesondere dann (aber nicht nur), wenn es sich nicht um akademische Wissensproduktion handelt, als (Roh-)Material angesehen wird und von weißen Wissenschaftler_innen aufgegriffen wird, die es zu ›richtiger‹ Theorie verarbeiten. Jin Haritaworn reflektiert in der Einleitung zum Buch Queer Lovers and Hateful Others — Regenerating Violent Times and Places die eigenen Erfahrungen mit solchen Formen der Aneignung in Verbindung mit Backlash und Repression.62

Der Artikel »Queer Imperialism«, den Haritaworn gemeinsam mit Esra Erdem und Tamsila Taquir geschrieben hat und in dem die drei einen prominenten schwulen britischen Aktivisten hinsichtlich seines Rassismus kritisieren, wurde aus dem englischen Sammelband gestrichen, in dem er ursprünglich erscheinen sollte. Er wurde später auf Deutsch veröffentlicht: Vgl. Jin Haritaworn / Tamsila Tauqir / Esra Erdem: »Queer-Imperialismus: Eine Intervention in die Debatte über ›muslimische Homophobie‹«, in: Kiên Nghị Hà / Sheila Mysorekar / Nicola Lauré al-Samarai (Hg.), Re / Visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland, Münster: Unrast 2007, S. 187—206; noch ausführlicher zu dem Backlash vgl. Tamsila Tauqir / Jennifer Petzen / Jin Haritaworn / Sokari Ekine / Sarah Bracke / Sarah Lamble / Suhraiya Jivraj / Stacy Douglas: »Queer Anti-Racist Activism and Strategies of Critique: A Roundtable Discussion«, in: Feminist Legal Studies 19 (2), 2011, S. 169—191.

63

Jin Haritaworn, 2015, S. 13.

64

Peggy Piesche: »Das Ding mit dem Subjekt, oder: Wem gehört die Kritische Weißseinsforschung?«, in: Maureen Maisha Eggers / Grada Kilomba / Peggy Piesche / Susan Arndt (Hg.), Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster: Unrast 2005, S. 14—18.

65

Mit BIPoC-Wissen ist ein Wissen gemeint, das aus gemeinsamen Empowerment-Prozessen, aus der kritischen Reflexion von Positionierung innerhalb einer rassistisch strukturierten Gesellschaft und von (geteilten) Rassismus-Erfahrungen in BIPoC-Community-Räumen hervorgebracht wird. Es ist nicht in einem essentialistischen Sinn zu verstehen als Wissen, dass BIPoCs einfach ›haben‹, sondern als Wissen, das in kollektiven Aushandlungsprozessen entsteht, im Austausch über Diskriminierungs- und Widerstandserfahrungen. So wird Wissen dazu, wie Rassisierung und Rassismus funktionieren und konstruiert werden produziert und geteilt, sowie zu Strategien des Widerstands und des Überlebens.

»This experience taught me that intellectuals who cross organic-professional lines are especially vulnerable to backlash. […] In the meantime, our work was being plagiarised. We, too, became pre-theoretical raw material to which ›real‹ academics were able to help themselves, while depoliticising our messages and resourcing our labour for a sexy and newly respectable ›debate‹ whose cutting edge depended on culling the irrational and excessive margin. It is not a coincidence that repression occurs when our knowledges leave the kitchen table as queer of color knowledges.«63 Wie Haritaworn zeigen kann, handelt es sich um eine Form der Wissensproduktion, die bis zu dem Zeitpunkt eher in geschützteren Räumen entstanden ist, jedoch nicht unbedingt innerhalb der Akademia. Peggy Piesche benennt in ihrem Artikel »Das Ding mit dem Subjekt, oder: wem gehört die kritische Weißseinsforschung?«64 Abwehrreaktionen, die häufig dann geäußert werden, wenn die Anerkennung von Autor_innenschaft aus marginalisierten Perspektiven und die Berücksichtigung der Relevanz von Positionierung im Zusammenhang mit Wissensproduktion eingefordert werden. Auch sie äußert Kritik an der Aneignung des Wissens von BIPoCs65 durch weiße Wissenschaftler_innen. Diese Aneignung geschieht oftmals in einer Weise, die bewusst oder unbewusst institutionellen Rassismus und epistemische Gewalt fortschreibt. Das weiße Subjekt wird erneut in die Position gebracht, vermeintlich universelles Wissen produzieren zu können.

95

Verflechtungen von künstlerischem Wissen, Erfahrungswissen und akademischem Wissen

66

Peggy Piesche, 2005, S. 15—16.

67

Ein Beispiel hierfür war der Fall der Black Studies an der Universität Bremen, bei denen es sich um einen Forschungszusammenhang handelte, dem lediglich weiße Wissenschaftler_innen angehörten. Siehe hierzu das Community Statement: https://blackstudiesgermany.files.wordpress.com/2015/02/ communitystatement_blackstudiesbremen_dt_unterz815.pdf, vom 20.5.2020.

»Mit Positionen wie ›Wir brauchen keine Schwarzen, um uns über Weißsein auseinander zu setzen‹ scheint sich dieses ›kritische weiße Subjekt‹ wieder als Ergebnis asymmetrischer Machtverhältnisse und deren Zuschreibungspraxen zu situieren, wobei auch hierbei die Positionierung des Anderen die eigenen Grenzen zu erkennen gibt. Die privilegierte Position des weißen Subjekts wird so erfolgreich verschleiert.«66

Siehe auch: Noah Sow: »Schwarze Wissensproduktion als angeeignete Profilierungsressource und der systematische Ausschluss von Erfahrungswissen aus Kunst- und Kulturstudien«, in: Anna Greve (Hg.), Kunst & Politik. Schwerpunkt: Weißsein und Kunst. Neue postkoloniale Analysen, Göttingen: V&R unipress 2015, S. 167—178. 68

So gab es beispielsweise das Frankfurt Research Center for Postcolonial Studies unter Leitung von Nikita Dhawan nur für insgesamt sieben Jahre von 2009—2016 als Teil des Exzellenzclusters »Die Herausbildung normativer Ordnungen« der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Indem, wie in dem Beispiel von Peggy Piesche, weiße Wissenschaftler_innen, die zu Critical Whiteness arbeiten, die Relevanz von Wissen aus Schwarzen, Indigenous und People of Color-Perspektiven für ihre Forschung ›übersehen‹ oder sogar aberkennen, (re-)produzieren sie epistemische Gewalt. BIPoCs wird erneut ein Vorkommen innerhalb der Akademia als Subjekte der Forschung verwehrt, selbst dann, wenn erstmals Themen innerhalb der Wissenschaft als relevant und bedeutsam anerkannt werden, die lange Zeit fast ausschließlich außerhalb der Akademia verhandelt werden konnten.67 Kritische Ansätze wie postkoloniale Theorie oder Queer Studies sind in Deutschland immer noch sehr marginal, werden nur kurze Zeit als Modeerscheinung gefördert oder sind rechtskonservativen Angriffen ausgesetzt.68 Dieser Status als Spezialwissen oder Sonderthema zeigt, wie ungebrochen ein eurozentristischer, westlicher Wissen(schaft)skanon noch immer ist. Doch wer profitiert davon, dass bestimmte kritische Gegendiskurse nach langen Kämpfen als legitimes Forschungsfeld anerkannt werden? Führt eine diskursive Öffnung auch zu einer Öffnung von Strukturen zum Beispiel des akademischen Arbeitsmarktes? Wenn man Dekolonisierung / Dekolonialität als Ziel einer postkolonialen Theorie formuliert und dieses Anliegen ernst nimmt, bedarf es meines Erachtens einer Wissenschafts- und Institutionenkritik, die reflektiert, inwieweit die eigene Disziplin und ihre Methoden rassistische Strukturen beispielsweise über Praxen von Othering reproduzieren. Eine postkoloniale Wissenschaft kann nur dann kritisches, transformatorisches Potenzial entfalten, wenn sie rassistische Ausschlüsse wie die Marginalisierung von Schwarzen, Indigenous und People of Color-Perspektiven nicht selbst reproduziert — und wenn sich aus der Theoriearbeit ein Handeln ableitet, das rassistische (Zugangs-)Barrieren abbaut und für Chancengerechtigkeit im Bildungssystem aktiv ist. Queering und Dekolonialisierung von Wissenschaft erfordern einen besonders respektvollen Umgang mit marginalisiertem Wissen, um zu vermeiden, dass QTIBIPoCs zu Forschungsobjekten gemacht werden, plagiiert oder gesilenced werden. Neben Othering und fehlender Anerkennung von Wissen aus marginalisierten Perspektiven besteht eine weitere

96

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

69

Josch Hoenes, 2014, S. 12.

70

Für einen Überblick vgl. u.a. die beiden Sammelbände: Susan Stryker / Stephen Whittle (Hg.): The Transgender Studies Reader, London, New York: Routledge 2006 und Susan Stryker / Aren Z. Aizura (Hg.): The Transgender Studies Reader: Part 2, London, New York: Routledge 2013.

Schwierigkeit in den Bedeutungsverschiebungen, die entstehen können, wenn minorisierte Wissensformen in anderen Räumen als den Community-Räumen, in denen sie hervorgebracht werden, rezipiert werden, wie Josch Hoenes in Bezug auf Artikulationen von Transmännlichkeiten erklärt: »Die Umarbeitungen und Bedeutungsverschiebungen, die Codierungen von Männlichkeit hier erfahren, sind jedoch nicht aus sich selbst heraus verständlich. Als Ergebnis kollektiver Praxen sind sie an spezifische Orte und Gemeinschaften sowie die hier geteilten Praktiken der Wissensformation gebunden. Jenseits dieser Kontexte — und gewisser Weise ist das Feld der Akademia ein solches Jenseits — können Artikulationen von Transmännlichkeiten missoder unverstanden, teilweise ungesehen, bleiben und / oder andere, verschobene oder gar entgegengesetzte Bedeutungen produzieren.«69 Josch Hoenes benennt die Problematik, dass zwar die Wissenschaft selbst einerseits konstitutiv dazu beigetragen hat Transsexualität diskursiv (mit-)hervorzubringen, dass jedoch das Wissen von trans* Personen selbst größtenteils außerhalb der Akademia produziert und verhandelt wird, beispielsweise in subkulturellen Räumen und über kollektive Praxen. In diesen Räumen stehen die Interessen und das Empowerment von Personen, die aufgrund der hegemonialen heteronormativen Zweigeschlechterordnung Gewalt erfahren, im Mittelpunkt, was (in den meisten Fällen) eine andere Perspektive und Fragestellung darstellt als die der Forschung zu Transsexualität / Transgender. Es kann also anderes Wissen produziert werden, beispielsweise in Bezug auf Körper, Sexualität und Gesellschaft. Dieses Wissen ist wertvoll für das Empowerment von trans* Personen und Queers. Es kann dazu beitragen, Geschlecht bzw. Vergeschlechtlichung, Geschlechterrollen, Sexualität und Körper grundsätzlich anders zu denken, nämlich weniger essentialistisch und deterministisch. Wenn die Artikulationen dieses Wissens jedoch ein Jenseits der Akademia darstellen und das obwohl die Zahlen wissenschaftlicher Arbeiten von trans* Personen und Beiträge aus den Transgender Studies70 zunehmend steigen, dann verdeutlicht dies, wo Grenzen der akademischen Wissensproduktion bestehen. Es muss gefragt werden, ob und wie sich dieses Wissen von einem Kontext in einen anderen übersetzen lässt — oder ob dieses Wissen an subversiver Kraft verliert oder sich sogar für heterosexistische und transfeindliche Diskurse mobilisieren lässt, sobald es innerhalb der Akademia ankommt. Auch bei der Übersetzung von künstlerischen Artikulationen von QTIBIPoCs in einen akademischen Text können

97 71

Das Maíz ist ein Autonomes Zentrum von und für Migrant_innen in Linz, welches 1994 gegründet wurde und seitdem existiert. Vgl. http://www.maiz.at/de, vom 20.7.2020.

72

Siehe auch: Luzenir Caixeta / Azadeh Sharifi / Katrin Köppert: »Alien Sprache. Race in Academia. Luzenir Caixeta und Azadeh Sharifi im Gespräch mit Katrin Köppert«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 9 (17 Psychische Apparate), 2017, S. 169—176.

73

https://maiz.at/en/node/995, vom 20.7.2020.

74

Ebd.

75

Vgl. Gloria Anzaldúa, 1987.

Verflechtungen von künstlerischem Wissen, Erfahrungswissen und akademischem Wissen

Bedeutungen auf eine problematische Art verschoben werden. Diese Problematik hat mich sehr beschäftigt. Lässt das Format einer wissenschaftlichen Arbeit die Künstler_innen und Aktivist_innen unsichtbar werden, die mit ihrem Wissen und ihrer Kunst zu meinem Denken und meiner Forschung beigetragen haben? Macht es sie zu Forschungsobjekten, zu meinem ›Material‹? Was passiert mit künstlerischem Wissen, wenn es in einen akademischen Text übersetzt wird? Hierarchien zwischen verschiedenen Wissensformen Ein Ort, an dem aus migrantischen, dekolonialen, feministischen und queeren Perspektiven bereits seit vielen Jahren Hierarchien zwischen verschiedenen Formen des Wissens benannt und kritisiert werden und eine alternative Praxis erprobt wird, ist das Maíz71 in Linz. In der Arbeit von Maíz werden Formen der Wissensproduktion wie akademisches Wissen, künstlerisches Wissen und aktivistisches Wissen zusammengebracht und befragen sich gegenseitig.72 »Mediating between theory and practice. We relate ideas and concepts from theory to issues and experiences from practice. We question the practice. We question the theory. We draft strategies, planning, and methods. Mediating between different forms of knowledge. For this we use different languages and registers. Forms of knowledge are hierarchized. This means that forms of knowledge are not equally valued. Mediating takes this into consideration and thematizes it. We pose the question: What counts as knowledge? When? Where? Why? We also question ourselves.«73 Die Fragen »Was zählt als Wissen? Wann? Wo? Warum?«74 sind im Kontext meiner Arbeit relevant, denn die Auseinandersetzung mit Kunst von QTIBIPoC-Künstler_innen bedeutet die Befragung von Wissen, das in mehrfacher Hinsicht abgewertet, unterschätzt, ignoriert oder zum Schweigen gebracht wird. Erstens, weil künstlerischem Wissen nicht derselbe Stellenwert bzw. dieselbe Autorität beigemessen wird, wie akademischem Wissen. Zweitens weil eine Positionierung als QTIBIPoCs nach wie vor mit (Mehrfach-)Diskriminierung verbunden ist, was dazu führt, dass die Wahrscheinlichkeit, als Expert_in gehört zu werden, stark eingeschränkt ist. Drittens aufgrund von (westlichen) Definitionen, die Rationalität, Faktizität und Objektivität als überlegene Formen von Wissen konstruieren und Erfahrungswissen und Körperwissen verwerfen.75 Wie ich bereits zu Beginn dieses Kapitels dargestellt

98

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

76

Vgl. https://www.udk-berlin.de/ forschung/temporaere-forschungseinrichtungen/dfg-graduiertenkolleg-daswissen-der-kuenste/, vom 14.12.2020.

77

Für einen Überblick bzw. eine »Diskurstopographie« zu künstlerischer Forschung siehe u.a.: Jens Badura / Selma Dubach / Anke Haarmann / Mersch, Dieter, Anton Rey, Christoph Schenker, Germán Toro Pérez (Hg.): Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Berlin, Zürich: Diaphanes 2015. Siehe außerdem: Martin Tröndle / Julia Warmers (Hg.): Kunstforschung als ästhetische Wissenschaft. Beiträge zur transdisziplinären Hybridisierung von Kunst und Wissenschaft, Bielefeld: transcript 2012. Siehe außerdem Elke Bippus (Hg.): Kunst des Forschens. Praxis eines ästhetischen Denkens, Zürich, Berlin: Diaphanes 2009.

78

Vgl. Carmen Mörsch: »Undisziplinierte Forschung«, in: Jens Badura / Selma Dubach / Anke Haarmann / Mersch, Dieter, Anton Rey, Christoph Schenker, Germán Toro Pérez (Hg.), Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Berlin, Zürich: Diaphanes 2015, S. 77—80.

habe, wird das Einnehmen einer autorisierten Sprecher_innenPosition für QTIBIPoCs und andere von struktureller Diskriminierung betroffener Subjekte wie behinderte Menschen, sozial und klassistisch Benachteiligte und für Frauen erschwert aufgrund von Zuschreibungen sowie aufgrund institutioneller Ein- und Ausschlussmechanismen, die Barrieren für den Zugang zu akademischer Bildung bilden. Dies führt dazu, dass diese Perspektiven im akademischen Diskurs fehlen oder unterrepräsentiert sind. Die Anerkennung von außerakademischem Wissen, beispielsweise Erfahrungswissen oder künstlerisches Wissen, kann Zugänge öffnen und den Horizont akademischer Wissensproduktion erweitern. Man kann sagen, dass sich in Bezug auf die Anerkennung von künstlerischem Wissen gegenwärtig ein Umbruch abzeichnet. Beispielsweise gibt es seit 2012 das DFG-geförderte Graduiertenkolleg Das Wissen der Künste, welches in Berlin an der Universität der Künste angesiedelt ist.76 In eine ähnliche Richtung deutet der Diskurs zu Künstlerischer Forschung.77 Dieser Diskurs interessiert mich in Bezug auf die darin unternommenen Versuche, Wissen, welches außerhalb akademischer Kanäle und mit anderen Methoden generiert wird, anzuerkennen und aufzuwerten. Wissen aus marginalisierten Perspektiven ist, wie wir gesehen haben, oft außerhalb des Horizontes der Akademia, wird als (Roh-)Material oder als unwissenschaftlich abgewertet — möglicherweise kann eine Auseinandersetzung um Künstlerische Forschung dazu beitragen, die Hierarchisierung zwischen unterschiedlichen Formen der Wissensproduktion abzuflachen. Wünschenswert wären neue Ansätze mit denen künstlerisches Wissen einen selbstverständlicheren Platz auch innerhalb akademischer Wissensproduktion und Forschungsprozesse erhalten kann. Carmen Mörsch äußert jedoch ein Unbehagen an dem aktuellen Diskurs um künstlerische Forschung, wie er derzeit an Kunsthochschulen geführt wird.78 Es irritiere sie die Behauptung des Neuen und das Beharren auf einen Alleinanspruch. Der kritische Anspruch auf Selbstreflexion werde darin aufgegeben zugunsten von Selbstbehauptung bzw. der Behauptung einer »unique selling proposition«79, der weniger ein Interesse an gesellschaftlicher Veränderung zu Grunde liege, als vielmehr eines an der Erlangung eines hochschulpolitischen, drittmittelgestützten Trumpfes.80 Sie weist daraufhin, dass der Ansatz von künstlerischer Forschung an sich nichts Neues sei (mit Verweis auf den »ethnographischen Surrealismus«81 nach James Clifford oder auch die in den 1930er Jahren von Künstler_innen in England gegründete Mass Observation Bewegung). Die Verschränkung von Kunst und Wissenschaft, so Mörsch, sei eng verbunden gewesen sei mit »[…] feministischen und anderen anti-diskriminatorischen

79

Ebd. S. 78.

80

Konkret geht es beispielsweise um die Durchsetzung eines Promotionsrechtes für künstlerische Hochschulen und den damit verbundenen Zugang zu Mitteln zur Forschungsförderung und des Ausbaus eines künstlerischen Mittelbaus.

81

Vgl. James Clifford: »On Ethnographic Surrealism«, in: Comparative Studies in Society and History 23 (4), 1981, S. 539—564.

99 82

Carmen Mörsch, 2015, S. 77.

83

Vgl. u.a. Josch Hoenes / Barbara Paul (Hg.): un / verblümt. Queere Politiken in Ästhetik und Theorie, Berlin: Revolver 2014; Renate Lorenz (Hg.): Not now! Now! Chronopolitics, Art & Research, Berlin: Sternberg Press 2014; Imayna Caceres / Sophie Utikal / Sunanda Mesquita (Hg.): Anti*colonial Fantasies. Decolonial Strategies, Wien: Zaglossus 2017; Jan Kaila / Anita Seppä / Henk Slager (Hg.): Futures of Artistic Research. At the Intersection of Utopia, Academia and Power, Helsinki: The Academy of Fine Arts of Uniarts Helsinki 2017; Barbara Paul / Josch Hoenes / Atlanta Ina Beyer / Natascha Frankenberg / Rena Onat (Hg.): Perverse Assemblages. Queering Heteronormativity Inter / medially, Berlin: Revolver 2017; Kathrin Busch / Christina Dörfling / Kathrin Peters / Ildikó Szántó (Hg.): Wessen Wissen? Materialität und Situiertheit in den Künsten, Paderborn: Wilhelm Fink 2018; Ashkan Sepahvand / Schwules Museum* (Hg.): Odarodle. Sittengeschichte eines Naturmysteriums 1535—2017 An imaginary their_story of Naturpeoples, 1535—2017. [anlässlich der gleichnamigen Ausstellung 21.7.— 16.10.2017, Schwules Museum* Berlin], Berlin 2018. Siehe auch das Teilkapitel zum Forschungsstand.

84

Jin Haritaworn, 2015, S. 14.

85

Ebd.

86

Es war Jin Haritaworns erstmalige öffentliche Präsentation der Forschung zu Queer Lovers and Hateful Others bei der Konferenz Decolonize the City!, die mich zu meiner Forschungsfrage inspiriert hat. Die Konferenz Decolonize the City! fand vom 21.—23.9.2012 in Berlin statt und wurde organisiert von Noa Ha, Anna Younes, Veronika Zablotsky, Andrea Meza Torres und Mahdis Azarmandi. Inzwischen ist dazu auch ein Sammelband erschienen. Vgl. Zwischenraum Kollektiv (Hg.): Decolonize the City! Dekoloniale Perspektiven auf die neoliberale Stadt, Münster: Unrast Verlag 2014.

87

Jin Haritaworn, 2015, zuerst auf S. 2.

88

Vgl. ebd.

89

»Das Konzept der Community-Verantwortlichkeit [Community Accountability, Anm. Jin Haritaworn] ist in den nordamerikanischen Anti-GewaltBewegungen entstanden, oft im selben Atemzug mit dem der transformativen Gerechtigkeit. Wie so oft waren die treibende Kraft indigene und Feministinnen of Colour, eng gefolgt von Queer- und Transaktivist / innen of Colour. ›Gewalt‹ und ›Sicherheit‹ werden hier ihrem ›rechtmäßigen‹ Bereich der polizeilichen Kontrolle und Überwachung enteignet. Während dominante Sicherheits-Maßnahmen

Verflechtungen von künstlerischem Wissen, Erfahrungswissen und akademischem Wissen

Formen der akademischen Wissensproduktion, der Wissenschaftskritik und des Aktivismus verknüpften Projekten der Anthropologie, der Kultur-, Sozial- und Verhaltenswissenschaften«.82 Deren Methoden seien wiederum aufgegriffen worden in gesellschaftskritischen künstlerischen Projekten. Carmen Mörsch erinnert an eine herrschaftskritische Reflexion und Dekonstruktion als zentrales Moment von forschender Kunst / künstlerischer Forschung und warnt vor einer EntRadikalisierung von als Gegendiskurs entwickelter Theorie und einer Unsichtbarmachung nicht-akademischer Anteile an ebendiesem Wissen. Künstlerische Forschung ist damit nicht per se subversiv und inklusiv. Eine Institutionalisierung künstlerischer Forschung kann auch einfach bewirken, dass künstlerische Wissensproduktion innerhalb der Akademia stattfindet und zu akademischer Wissensproduktion wird, ohne dass sich maßgeblich etwas an Hierarchisierungen ändert. Relevant für meine Überlegungen sind daher besonders solche Studien, die zu Auseinandersetzungen mit intersektionalen Machtverhältnissen beitragen und darin künstlerische und wissenschaftliche Wissensproduktion zusammendenken.83

FÜR EINE PRAXIS VON »EPISTEMIC COMMUNITY ACCOUNTABILITY«84 Die Art und Weise, wie Jin Haritaworn mit QTIBIPoCWissen umgeht — durch eine Praxis von »epistemic community accountability«85, die ich im Folgenden näher beschreibe —, hat Vorbildcharakter.86 Haritaworns liebevolle Anerkennung und große Sensibilität im Umgang mit QTIBIPoC-Wissen zeigt sich auch in der Bevorzugung von »kitchentable conversations«87 gegenüber tradierten Interviewmethoden für die Forschung zu Queer Lovers and Hateful Others.88 Der Ausdruck Epistemic Community Accountability bezeichnet damit eine Praxis von Community-Verantwortlichkeit89 im Umgang mit marginalisierten Subjekten und mit Community-Wissen in der Wissenschaft sowie eine Verweigerung »to participate in the objectifiying gaze«90, also eine Verweigerung, bestimmte Subjekte in der Wissenschaft zum Objekt zu machen. Das bedeutet in meinem Verständnis das Vertreten einer radikalen Forschungsethik, die erstens um intersektionale gewaltvolle Machtstrukturen weiß, zweitens die eigene Positionierung als Wissenschaftler_in und damit verbundene Privilegien (Zugang zu Institutionen und Ressourcen, Autorität beim Sprechen), die eigene Perspektive und Leerstellen reflektiert und drittens daraus ein solidarisches Handeln entwickelt, das nach Möglichkeit zu einer größeren Sicherheit von QTIBIPoCs innerhalb und außerhalb der Akademia beiträgt

100 wie Krieg und Kiez-Überwachung das Leben vieler PoCs, gerade auch solcher, die eurozentrischen Vorstellungen von Moral und Anstand nicht entsprechen, unsicherer statt sicherer machen, versuchen diese Bewegungen, Communitys aufzubauen, wo neben Antworten auf Fragen wie ›Was ist Gewalt? Was ist Sicherheit, und welche Körper und Lebensentwürfe verdienen sie? Wie gehen wir mit intersektionaler Unterdrückung um?‹ auch Alternativen zu dominanten Logiken von Strafe und Ausschluss gesucht werden.« Jin Haritaworn, 2012, S. 48. 90

Ebd.

91

Dies ist vor allem in solchen Situationen notwendig, in denen QTIBIPoCs besonders häufig Gewalt erfahren. In der Praxis kann dies beispielsweise bedeuten, dass wenn wir zur eigenen Community bzw. in solidarischer Haltung zu marginalisierten Communitys forschen, wir uns konkrete und individuelle Strategien überlegen müssen und können, wie diejenigen, mit oder über die wir schreiben, sicher bleiben. Das kann in einem Fall Anonymität bedeuten, in einem anderen Fall kann es bedeuten, die Autor_innenschaft einer Person zu markieren oder jemanden auf ein Panel einzuladen. Es kann auch bedeuten, darüber nachzudenken, ob und wie der Weg zu diesem Panel aussieht für diese Person, ob eine Anreise mit Risiken verbunden ist und wie diese aufgefangen oder abgewendet werden können.

92

Weitere konkrete Handlungsmöglichkeiten für Verbündete in Bezug auf die Organisation von Veranstaltungen und Community Accountability benennt Jin Haritaworn in einem Artikel für das Freitext-Magazin: Jin Haritaworn 2012. Die Schwarze Autorin Noah Sow hat einen Onlinekurs entwickelt mit dem Titel »Erfolgreich rassismuskritisch veranstalten«. https://kurse.noahsow. de/erfolgreich-rassismuskritischveranstalten/, vom 15.7.2020.

93

Jin Haritaworn, 2015, S. 14—15, Herv. R.O.

94

Dennoch bleibt die Problematik, wer eigentlich ›die Community‹ ist, und wer für sie sprechen kann. Community ist kein konfliktfreies Konstrukt und kein homogenes Kollektiv, in dem stets Einstimmigkeit herrscht. Manche Stimmen sind hörbarer oder präsenter. Jedoch sind QTIBIPoCs gerade dadurch, dass sie / wir marginalisiert sind, von dem von Kobena Mercer beschriebenen Phänomen der Burden of Representation betroffen, also davon, dass einzelne Positionen als repräsentativ für eine ganze Gruppe behandelt werden. Dadurch ist es schwieriger, marginalisierte Subjekte

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

und auf die Veränderung von Strukturen abzielt.91 Ein konkretes Beispiel für das Praktizieren epistemischer CommunityVerantwortlichkeit,92 ist Jin Haritaworns Zitationspraxis, nach der auch informelles Wissen und nicht-wissenschaftliche Quellen wie persönliche Gespräche oder Emails direkt zitiert werden, um das Wissen von QTIBIPoCs anzuerkennen und die Autor_innenschaft kenntlich zu machen. Damit wird vermieden, marginalisiertes Wissen als Rohmaterial zu behandeln und die Unsichtbarmachung von nicht-akademischem Wissen in akademischen Texten verhindert: »To treat the important interventions that are happening there respectfully, we — as writers and readers attempting to form epistemic community accountability — can refuse to participate in the objectifying gaze. With this health warning in mind, I have nevertheless decided to cite fellow kitchen table organisers directly, as critics of the same forces that I have been writing about for a number of years. As this work is gaining an audience, it is increasingly important for me to acknowledge that the words that I use are not exclusively my own, and that they reflect the collective wisdom and brilliance gleaned from building community by and for trans and queer people of Color. I have long taken care to credit insights gained from personal conversations. In this book, I am going a step further to highlight my interlocutors as important knowledge producers in their own right.«93 Neben einer grundsätzlichen Anerkennung und Wertschätzung von marginalisiertem Wissen ermöglicht es die Herangehensweise von Jin Haritaworn, Wissensproduktion an sich anders zu denken. Der Umstand, dass für die Produktion von Wissen Diskussions-, Austausch- und wechselseitige Lernprozesse ganz entscheidend sind, wird hier ›zugegeben‹, indem Haritaworn das Verhältnis zwischen dem eigenen Denken und Community-Wissen94 beziehungsweise kollektiven Aushandlungsprozessen reflektiert. In der Wissenschaft herrscht — ähnlich wie in der Kunst in Bezug auf den Künstlermythos — ein Intellektuellen-Mythos vor, der geprägt ist von einem Bild des Eremiten, der vermeintlich allein im stillen Kämmerlein denkt und diese Gedanken unter Qualen zu Papier bringt. Diese Subjektkonstruktion ermöglicht nur ein sehr limitiertes Konzept von Autorschaft95 nämlich als individualisierten Besitz einer einzelnen Person. Autor_innenschaft zu benennen, erscheint viel schwammiger und schwieriger, wenn es sich um kollektives Wissen oder Community-Wissen handelt, was die Konsequenz

101 auch in ihrer Heterogenität wahrzunehmen und Beiträge von QTIBIPoCs als unterschiedliche Positionen in vielstimmigen und kontroversen Diskursen zu begreifen. Eine weitere Herausforderung ist es, dennoch kollektive Genealogien, Positionen und Haltungen, die von vielen Angehörigen einer (oder mehrerer) QTIBIPoCCommunity(s) geteilt werden und als kollektives Wissen zirkulieren, sichtbar zu machen als Queer of Color-Kritik, wobei dieses Kollektiv nicht fixiert und abgeschlossen ist. 95

Autorschaft ist hier grammatikalisch in der maskulinen Form geschrieben, da es sich hier um die Autorschaft der männlich vergeschlechtlichten (und zudem weißen) Subjekt-Konstruktion des ›Genies‹ handelt.

96

Vgl. Sara Ahmed, 2006.

97

Das Symposium habe ich 2017 am Institut für Medienwissenschaft an der HBK Braunschweig organisiert. Weitere Gäste waren Karin Michalski, Anja Michaelsen und Vika Kirchenbauer. Vgl. http://hbk-bs.de/aktuell/veranstaltungen/details/21699/, vom 10.11.2020, die Seite existiert nicht mehr, 2.5.2023.

98

Die Reihe wurde 2016 organisiert von Iris Rajanayagam. https://www.xartsplitta.net/en/reihe-dekolonisierung/, vom 10.11.2020.

99

Vgl. Sandrine Micossé-Aikins / Raju Rage / Rena Onat, 2017.

100 José Esteban Muñoz, 1999, S. 5. 101 Bei dem Symposium, welches in der Alpha Nova / Galerie Futura stattfand, präsentierte Daniele Daude Auszüge aus ihrem Forschungsprojekt zum Thema »Performanz analysieren im karibischen Raum«. Vgl. Daude, Daniele Daude: »Methode der Aufführungsanalyse am Beispiel des karibischen Raums«, in: Stacie C. C. Graham / Katharina Koch / Marie-Anne Kohl (Hg.), Prekäre Kunst: Protest et Widerstand. Eine Ausstellung und Veranstaltungsreihe in der alpha nova et galerie futura, Berlin 2015, S. 41—45. 102 Die Künstler_innen, auf die Daniele Daude sich bezogen hat, waren Lena Blou und Tirzo Marth.

Verflechtungen von künstlerischem Wissen, Erfahrungswissen und akademischem Wissen

hat, dass genau dieses Wissen oft unbenannt bleibt in der Akademia. Durch ein normatives Verständnis von Autor_innenschaft wird außerdem verkannt, welche (Reproduktions-)Arbeit den Hintergrund bildet, damit sich der_die Autor_in dem Schreibtisch und dem Papier zuwenden kann, wie es Sara Ahmed in Bezug auf Edmund Husserl verdeutlicht.96 An meinem Tisch habe ich häufig im wahrsten Sinn des Wortes nicht allein gesessen zum Schreiben — regelmäßig waren dort Fallon Cabral und Diane Izabiliza anwesend, um ihre Doktor- und Masterarbeit zu schreiben. Unsere feministische und rassismuskritische wissenschaftliche Arbeit haben wir verbunden mit gegenseitiger Care-Arbeit, unseren Hintergrund bildet ein großes Netzwerk, das wir über Jahre aufgebaut haben, sowie ein Bücherregal, in dem sich auch zunehmend die von Freund_innen verfassten und herausgegebenen Bücher ansammeln. Füreinander sind wir Orientation Devices, die helfen, weiße Institutionen zu navigieren. Der Austausch mit den Künstler_innen, deren Arbeiten ich analysiere, hat erheblich dazu beigetragen, mein Denken zu formen. Wir waren beispielsweise in unterschiedlichen Konstellationen gemeinsam auf Podien. Aykan Safoğlu und Hasan Aksaygın habe ich zu meinem Symposium zu New Queer Positionings in Media, Art and Theory an der HBK Braunschweig eingeladen.97 Mit Sunanda Mesquita war ich gemeinsam auf einem Podium im Rahmen der Reihe Decolonizing Arts and Visual Culture von xart splitta e.V. in Berlin98 und mit Raju Rage war ich gemeinsam auf Konferenzen in Oldenburg, Innsbruck, Zürich und Berlin — eines unserer öffentlichen Gespräche ist auch veröffentlicht.99 Ich verstehe die Künstler_innen, deren Arbeiten ich im Rahmen meiner Dissertation analysiere, mit Jin Haritaworns Worten als »important knowledge producers in their own right«, als Produzent_innen und Beitragende einer Queer of Color-Kritik in Kunst und Visueller Kultur im deutschen Kontext und darüber hinaus. Zudem möchte ich mit Muñoz darauf hinweisen, »[...] that, for me, the making of theory only transpires after the artists’ performance of counter-publicity is realized for my own dis-identificatory eyes.«100 Das bedeutet in meiner Auslegung, Kunst ernst zu nehmen als Form der Wissensproduktion und künstlerischem Wissen den gleichen Wert beizumessen wie wissenschaftlichen Wissen. Eine queere Neuinterpretation des Mäzenatentums? Bei einem Vortrag im Rahmen des Symposiums Prekäre Kunst: Protest und Widerstand in Berlin (2015) beschreibt die Musik- und Theaterwissenschaftlerin Daniele Daude,101 den Ansatz karibischer Performance-Künstler_innen102, ihre Kunst selbst zu analysieren um sich und ihre Kunst vor Exotisierung und Objektifizierung durch (weiße) Wissenschaftler_innen zu schützen.

102

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

103 Philipp Khabo Köpsell, 2010, S. 11.

Die Künstler_innen nehmen damit in Anspruch, eigene Definitionen und Interpretationsansätze für ihre Kunstpraxis zu produzieren. Dies sei eine Widerstandsstrategie, die aus der Erfahrung hervorgebracht worden ist, in einer Weise zum Forschungsobjekt zu werden, die exotistische Stereotype bestätigt. Es ist wie der Ausruf in Philipp Khabo Köpsells Gedicht »I speak, so you don’t speak for me!«103 — eine Intervention in Prozesse des exotisierenden Othering und des Silencing. Der Verweis darauf, dass die Künstlerinnen in Bezug auf ihre Kunst nicht nur künstlerisch-praktische, sondern auch theoretisch-reflexive Herangehensweisen verfolgen, zeigt, wie eng Kunst- und Theorieproduktion miteinander verzahnt sein können, vor allem, wenn es sich um eine politisierte Praxis handelt. Während der Ansatz des Analysierens der eigenen Kunst sehr beeindruckend ist, bedeutet er für die betreffenden Künstler_innen jedoch eine doppelte Arbeitsbelastung und die Voraussetzung, über große analytische Fähigkeiten zu verfügen oder sich anzueignen. Das ist für weiße Künstler_innen, insbesondere für weiße cis-männliche Künstler, nicht unbedingt erforderlich.104 Es ist zugleich eine Überlebensstrategie, die auf die Notwendigkeit zurückzuführen ist, dass Künstler_innen einen Diskurs um ihre Arbeiten benötigen und sie selbst diese Lücke füllen. Es fehlen Kunstanalysen, die bestehende rassistische, exotistische und (hetero-)sexistische Stereotype nicht (re-)produzieren. Nach Danielle Daude handelt es sich hier um eine lokalspezifische Strategie, die in der Karibik als besonders notwendig erscheint. Karibische Frauen sind besonders stark von Exotismus betroffen. Das ist ein Effekt kolonialrassistischer Diskurse, die in der Gegenwart fortwirken. Man denke beispielsweise an die Kunst Paul Gauguins und seine exotisierenden Bilder von Frauen105 auf Tahiti.106 Ein fetischisierendes Begehren nach der karibischen Frau durchzieht, so Daude, auch zeitgenössische westliche kunstwissenschaftliche Arbeiten zu karibischer PerformanceKunst. Deutlich wird hier die Problematik (post-)kolonialer Kontinuitäten in der Kunstwissenschaft. QTIBIPoC-Künstler_innen im deutschen Kontext fehlt es ebenfalls an qualifizierten Analysen und konstruktiven Kritiken der eigenen Arbeiten und an konstruktiver Kritik, ohne dass dabei ein dominanter weißer Blick reproduziert wird. Diese Erkenntnis ist wichtig, denn das bedeutet, dass es etwas Nützliches gibt, was ich den Künstler_innen, die mir ihre Arbeiten zur Verfügung stellen, geben kann. Inspirierend für mein eigenes Nachdenken darüber, wie eine queere und dekoloniale Herangehensweise für die Analysen von Kunst aus QTIBIPoC-Perspektiven aussehen kann, sind Überlegungen des queeren Performance-Theoretikers José Esteban Muñoz.107 Er reflektiert die Beziehung zwischen sich selbst und der Drag-Performerin Vaginal Creme Davis in den

104 Historisch gab es in der Kunstgeschichte lange Zeit eine Trennung zwischen Künstler und Kunstkritiker bzw. Kunsthistoriker (auch hier wieder als männlich-vergeschlechtlichte Subjektpositionen). Konstruiert wurde der Künstler als Genie, als Schöpfer und der Kunstkritiker als Verständiger, der in der Lage war, das Genie eines Künstlers zu erkennen und seine Intention zu verstehen und einem unwissenden Publikum zu erklären. Es war ein symbiotisches Verhältnis, in dem ein Teil des Genies und des Glanzes des Künstlers auf den Kritiker fiel, welcher wiederum dem Künstler als autorisierter Sprecher dessen Genie und Wert bescheinigen konnte. Zur Legende des Künstlers vgl. Ernst Kris / Otto Kurz: Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2010 (1980); für eine feministische kunsthistorische Analyse von Legenden der Kunstgeschichte siehe beispielsweise: Maike Christadler: »Kreativität und Genie: Legenden der Kunstgeschichte«, in: Anja Zimmermann (Hg.), Kunstgeschichte und Gender. Eine Einführung, Berlin: Reimer 2006, S. 253—272. Auf diesen Punkt komme ich noch einmal zurück in der Analyse von Hasan Aksaygıns Arbeit JHAD (2015). 105 Die Künstlerin Jaqueline Lisboa hat im Rahmen eines Seminars bei mir an der HBK Braunschweig eine beeindruckende Hausarbeit geschrieben, in der sie mittels eines autoethnografischen Ansatzes ihre Erfahrungen mit Exotismus als Studentin an einer deutschen Kunsthochschule reflektiert. Vgl. Jaqueline Lisboa Silva: Exotisierung in der Kunst. Unveröffentlichte Hausarbeit, Braunschweig 2018. 106 Für eine kritische postkoloniale Perspektive auf Paul Gauguins Kunst vgl. u.a. Abigail Solomon-Godeau: »Going Native«, in: Kymberly N. Pinder (Hg.), Race-ing Art History. Critical Readings in Race and Art History, London, New York: Routledge 2002, S. 139—153. 107 Auf die theoretische Arbeit von José Esteban Muñoz gehe ich in den nächsten Kapiteln noch ausführlich ein, insbesondere auf seinen Begriff der Disidentifikation, den ich im Kapitel zu Queer of Color-Kritik zusammenfassend erkläre und anschließend als Analyseperspektive produktiv mache in der Diskussion von Hasan Aksaygıns Arbeit JHAD (2015). Vgl. José Esteban Muñoz, 1999. Ein weiterer Bezugspunkt ist Muñoz Begriff von Queer Futurity sowie seine Ausführungen zu Utopie und Zeitlichkeit. Vgl. José Esteban Muñoz, 2009.

103 108 Vgl. José Esteban Muñoz, 1999, S. 111. 109 Ebd. 110 Für eine feministische kunsthistorische Kritik am Mäzenatentum und der Frage nach Frauen als Mäzeninnen siehe u.a. den Themenschwerpunkt »Muse — Mäzenatin — Museumspädagogin: Kunstvermittlung als Frauenarbeit« (S. 109—197) in: Ines Lindner / Sigrid Schade / Silke Wenk / Gabriele Werner (Hg.): Blick-Wechsel. Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit in Kunst und Kunstgeschichte, Berlin: Reimer 1989. Darin besonders relevant: Gotlind Birkle / Sabine Tischer: »Künstler und Mäzenin: Ein unmögliches Verhältnis? Peggy Guggenheims Biographie«, in: Ines Lindner / Sigrid Schade / Silke Wenk / Gabriele Werner (Hg.), 1989, S. 121—130. 111

José Esteban Muñoz, 2009, S. 111.

Verflechtungen von künstlerischem Wissen, Erfahrungswissen und akademischem Wissen

jeweiligen Rollen und reflektiert damit die Beziehung zwischen Theorieproduktion und Kunst.108 In leicht ironischer Weise nennt er das, was sich aus ihrer Arbeit ergibt, eine ›kranke‹ Art der Aneignung des Mäzenatentums: »Through our friendship and queer intimacy we have performed, through a certain sick reappropriation, a reimagined modality of the patronage system. She does her work, and I testify to the New York Times and the Los Angeles Times — with my academic credentials and letterhead well in place — that she is a certified art star in the tradition of Dada and Surrealism. I then get to see her work, which inspires me to no end.«109 Historisch ist das Mäzenatentum eine stark vergeschlechtlichte Konstruktion, die mit der Herausbildung eines männlichen, europäischen Künstlersubjektes in enger Verbindung steht, und die von feministischen Kunstwissenschaftlerinnen als einer der Faktoren theoretisiert worden ist, mittels derer Frauen und andere aus der Kunst und dem Kanon ausgeschlossen wurden (und werden).110 Der Begriff des Mäzenatentums ist dementsprechend problematisch und sehr aufgeladen. In ihn eingeschrieben ist eine hierarchische Struktur und ein gewaltförmiges Abhängigkeitsverhältnis, das insbesondere aus einer queerfeministischen Perspektive alles andere als begehrenswert erscheinen muss. Was meint also Muñoz mit »Reappropriation und Reimagination des Mäzenatentums«111? In meiner Lesart wird hier ein gewaltvoller Begriff in einem radikalen performativen Akt gequeert. Die Modalität des Mäzenatentums wird aus ihrer ursprünglichen Funktion in der Stabilisierung patriarchaler Machtverhältnisse innerhalb des Kunstkontexts enthoben, gegen sich selbst gewendet und produktiv gemacht, um die Kunstwelt durch Vaginal Davis mit Schwarzem queeren Drag Punk zu infiltrieren und einer Künstlerin zu Anerkennung zu verhelfen, die ihr in der Regel aufgrund struktureller Diskriminierung verwehrt wird. Dies ist ein Weg, um Strukturen zu verändern und diskursive Machtgeflechte mit materiellen Verhältnissen zusammenzudenken. Muñoz nutzt seine privilegierte Sprecherposition als Akademiker in solidarischer und parteilicher Art und Weise, um Vaginal Davis’ Kunst, die zuerst auf subkulturellen Bühnen in Los Angeles performt wurde und eng verbunden ist mit Queer Punk und queeren, antirassistischen Interventionen in der Punkszene, zu Anerkennung innerhalb von ›Hochkultur‹Kontexten der Kunstwelt zu verhelfen. Das Aufgenommenwerden vom Kunstbetrieb ist für eine Schwarze Drag-Performerin keineswegs selbstverständlich. Die Kunst von Vaginal Davis ist

104

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

112 Vgl. José Esteban Muñoz, 1999, daraus insbesondere das Kapitel: »›The White to Be Angry‹ Vaginal Creme Davis’s Terrorist Drag«, S. 93—118.

für Muñoz zugleich immer wieder Ausgangspunkt für die eigene Theoriebildung, entlang derer er beispielsweise seinen Begriff von Disidentification denken kann.112 Die Verwendung des Begriffs des Mäzenatentums legt die unterschiedliche Verteilung von Privilegien und die der Kollaboration zwischen Muñoz und Davis zugrundeliegenden Hierarchien offen, anstatt sie zu verschleiern, wodurch es möglich wird, sie zu dekonstruieren und umzuarbeiten. Dieses Potenzial eines gequeerten Begriffs des Mäzenatentums, entspringt jedoch nicht dem Begriff des Mäzenatentums, sondern erst die Freundschaft und queere Intimität zwischen Muñoz und Davis ermöglichen diese Form der Umarbeitung. Es ist eine Beziehung zwischen Wissenschaftler und Künstler*in, bei der Muñoz seine Privilegien und Ressourcen teilt und selbst von Vaginal Davis lernt. Beide profitieren.

II

QUEER OF COLOR-KRITIK UND VISUELLE KULTUR

108

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

1

Was ist Queer of Color Critique bzw. Queer of ColorKritik an und in Kunst und visueller Kultur? Wie sind künstlerisches, theoretisches und positioniertes Erfahrungswissen miteinander verflochten? Diese Fragen beschäftigen mich weiter. Nachdem im ersten Teil deutlicher geworden ist, innerhalb welcher Diskurse und Räume Wissen von QTIBIPoCs allgemein und Künstler_innen im Speziellen hervorgebracht wird, also was die Kontexte aber auch die Einschränkungen für eine solche Wissensproduktion sind, sollen in den Analysen im Hauptteil die Verflechtung unterschiedlicher Wissensformen in den künstlerischen Praxen von QTIBIPoCs anhand konkreter Beispiele nachvollzogen werden. Diese Art der Wissensproduktion bezeichne ich als Queer of Color-Kritik in der Kunst bzw. im Feld des Visuellen. Die theoretisch-methodischen Grundlagen für einen solchen Zugang diskutiere ich in diesem nächsten Kapitel, welches in vier Teilkapitel gegliedert ist: Im ersten Teilkapitel skizziere ich den Forschungsstand und verweise auf Studien an den Schnittstellen zwischen Queer of Color-Kritik und visueller Kultur- bzw. Kunst- und Medienwissenschaft. Ein weiterer Schwerpunkt sind Auseinandersetzungen mit intersektionalen Perspektiven auf Kunst und Medien im deutsch(sprachig)en Kontext — insbesondere solche, die von minorisierten Perspektiven ausgehen und diese Positionierung relevant machen für künstlerische und theoretische Wissensproduktion. Das Erheben und Darstellen des Forschungsstandes stellt sich in diesem Fall nicht einfach dar, da es nur wenige Veröffentlichungen gibt, die im engeren Sinn zu künstlerischen Strategien von QTIBIPoCs Künstler_innen arbeiten, insbesondere im deutschen Kontext. Dies macht es erforderlich, Que(e)rverbindungen herzustellen und solche Objekte des Wissens zu berücksichtigen, die »minor«1 erscheinen oder zwischen den Zeilen — »Between the Lines«2 — zu lesen. Im zweiten Teilkapitel gehe ich vertiefend auf den theoretischen Diskurs der Queer of Color-Kritik ein. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Queer of Color-Kritik ist im deutschen Kontext bislang wenig verbreitet,3 weswegen ein Überblick gegeben wird, und zentrale Begriffe und Erkenntnisse benannt werden. Das Anliegen ist es, die Spezifizität von Queer of Color-Kritik als Zugang, der u.a. Zusammenhänge von Sexualität und ›Rasse‹ ausgehend von Theoretisierungen bestimmter Positionierungen und damit verbundenem Erfahrungswissen und verkörpertem Wissen untersucht, aufzuzeigen. Theoretische, künstlerische und aktivistische Beiträge von QTIBIPoCs finden zwar in einigen Veröffentlichungen zu queerer Theorie, Geschlechterforschung, rassismuskritischer Forschung, Kunst- und Medienwissenschaft verstärkt Berücksichtigung, sind jedoch nur selten der Starting Point4 der

Ich referiere hier auf Mimi Thi Nguyen und ihren Artikel »Minor Threats«, dessen Titel wiederum eine Anspielung auf die gleichnamige Punkband ist. Nguyen ist nicht nur Wissenschaftlerin, sondern auch Autorin des Punkzines Race Riot, in dem queere und rassismuskritische Perspektiven im und auf Punk formuliert wurden. Sie diskutiert in ihrem Artikel die Dilemmata, die entstehen, wenn »minor objects« wie ihr Zine in institutionellen Kontexten zirkulieren statt in der Subkultur, aus der sie hervorgehen. Vgl. Mimi T. Nguyen: »Minor Threats«, in: Radical History Review (122), 2015, S. 11—24.

2

Hier referiere ich auf den Titel eines Kapitels zu Homophobie aus: Cherríe Moraga / Gloria Anzaldúa (Hg.), 1981, S. 107—160. Der Titel lautet auf Deutsch »zwischen den Zeilen« als auch — wörtlich übersetzt — »zwischen den Linien«. Ein Lesen zwischen den Zeilen ist eine Art des queeren Lesens, wenn Queerness nicht offen benannt werden kann. Durch die wörtliche Übersetzung lässt sich zudem ein Zusammenhang zu Ahmeds queerer Phänomenologie herstellen, denn Linien sind ein zentraler Bestandteil in ihren Ausführungen zu Orientierung. Es erscheint passend, dass Queerness zwischen den Linien zu finden ist, wenn diese Linien straight, also gerade oder heterosexuell verlaufen.

3

Vgl. u.a. Zülfukar Çetin: Homophobie und Islamophobie. Intersektionale Diskriminierungen am Beispiel binationaler schwuler Paare in Berlin, Bielefeld: transcript 2012; Fatima El-Tayeb, 2015 und Jin Haritaworn, 2015.

4

Sara Ahmed, 2007, S. 150. Siehe hierzu auch meine Ausführungen im ersten Kapitel.

109 5

Siehe u.a. Renate Lorenz: Queer Art. A Freak Theory, Bielefeld: transcript 2012; Käthe von Bose / Ulrike Klöppel / Katrin Köppert / Karin Michalski / Pat Treusch (Hg.), 2015; Barbara Paul / Josch Hoenes / Atlanta Ina Beyer / Natascha Frankenberg / Rena Onat (Hg.), 2017.

6

Vgl. Fatima El-Tayeb, 2011. Fatima El-Tayeb diskutiert darin unter anderem auch Performances von Queers of Color in Berlin beim Salon Oriental und bei den regelmäßig stattfindenden Gayhane Partys.

7

Vgl. Jin Haritaworn, 2015. Haritaworn verdeutlicht homonationalistische Konstruktionen von weißen Queers als Lovers oder Liebende, die als Antagonist_innen und potenzielle Opfer von pauschal als homophob und hateful konstruierten rassifizierten ›Anderen‹ gesetzt werden. Die Verhandlung dieser Politiken im Stadtraum analysiert Haritaworn unter anderem anhand des Beispiels einer Plakatkampagne (2009) des LSVDs mit dem Slogan Liebe verdient Respekt.

8

Zum Begriff der teilnehmenden Lektüre vgl. Josch Hoenes, 2014. Siehe darin das Kapitel »Objektivierung: visuelle Repräsentationen lesen — aber wie?«, S. 123—155. Seinen Ansatz der teilnehmenden Lektüre hat Josch Hoenes später noch zugespitzt: Vgl. Josch Hoenes, 2017.

9

Eve Kosofsky Sedgwick, 2014, S. 385.

Queer of Color-Kritik und visuelle Kultur

Forschung.5 Innerhalb von Queer of Color-Kritik werden Kunst, Medien und visuelle Kultur zwar immer wieder zum Gegenstand, beispielsweise bei Fatima El-Tayeb, die aktivistische künstlerische Arbeiten untersucht,6 und bei Jin Haritaworn in der Kritik an einer Plakatkampagne des LSVD (Lesben- und Schwulenverband in Deutschland)7, sie sind jedoch abgesehen von wenigen Veröffentlichungen bisher nur selten das Hauptforschungsinteresse. Ich argumentiere zunächst sehr grundlegend, dass antirassistische, queere und feministische Politiken für gesellschaftliche Veränderung auch im Feld des Visuellen und in der Kunst ansetzen müssen und dass hierfür die Arbeit von QTIBIPoC-Künstler_innen relevant ist. Dazu bedarf es eines Verständnisses davon, wie intersektionale Machtverhältnisse in der Kunst und im Feld des Visuellen (re-)produziert werden, um davon ausgehend weiter nach Möglichkeiten der Intervention, Transformation und alternativen Visionen zu fragen. Hier liefern Studien zur visuellen Kultur sowie kritische Ansätze aus Kunst- und Medienwissenschaften wichtige Erkenntnisse, die ich im dritten Teilkapitel skizziere. Dabei liegt der Fokus auf einer repräsentationskritischen Perspektive hinsichtlich der Konstruktion von ›Rasse‹. Ich kläre zudem mein Verständnis von Repräsentation und Repräsentationskritik, da dies angesichts eines häufig verkürzten Verständnisses dieser Begriffe notwendig erscheint. Queer of Color-Kritik und Studien zur visuellen Kultur, Kunst- und Medienwissenschaft sollen wechselseitig produktiv gemacht und stärker miteinander verbunden werden. Das vierte Teilkapitel umreißt — ausgehend von den zuvor dargestellten repräsentationskritischen Zugängen — den methodischen Ansatz der »teilnehmenden Lektüre«8 nach Josch Hoenes, den ich produktiv mache für eine Orientierung zu künstlerischen Strategien von QTIBIPoC, die sich mit Eve Kosofsky Sedgwick als »reparative Praxen«9 beschreiben lassen.

110 1

Vgl. u.a. Viktoria Schmidt-Linsenhoff (Hg.): Kunst und Politik. Jahrbuch der Guernica-Gesellschaft. Schwerpunkt: Postkolonialismus, Osnabrück: V&R unipress 2002; Barbara Paul: »Schöne heile Welt(ordnung). Zum Umgang der Kunstgeschichte in der frühen Bundesrepublik Deutschland mit außereuropäischer Gegenwartskunst«, in: Detlef Hoffmann (Hg.), Kunst der Welt oder Weltkunst? Die Kunst in der Globalisierungsdebatte, Rehberg-Loccum: Evang. Akademie 2003, S. 27—60; Karl Hölz, Viktoria Schmidt-Linsenhoff, Herbert Uerlings (Hg.): Weiße Blicke. Geschlechtermythen des Kolonialismus, Marburg: Jonas 2004; Irene Below / Beatrice von Bismarck (Hg.), 2005 und Kea Wienand, 2015.

2

Für die Medienwissenschaften siehe u.a. Ulrike Bergermann (Hg.): total. Universalismus und Partikularismus in post_kolonialer Medientheorie, Bielefeld: transcript 2014; Maja Figge: Deutschsein (wieder-)herstellen. Normalisierung, Männlichkeit, Weißsein im bundesdeutschen Kino der 1950er Jahre, Bielefeld: transcript 2015; Anja Michaelsen: Kippbilder der Familie. Ambivalenz und Sentimentalität moderner Adoption in Film und Video, Bielefeld: transcript 2017.

3

Für deutschsprachige Veröffentlichungen zu postkolonialen Perspektiven und Museologie vgl. u.a. Belinda Kazeem / Charlotte Martinz-Turek / Nora Sternfeld (Hg.): Das Unbehagen im Museum. Postkoloniale Museologien, Wien: Turia & Kant 2009; Anna Greve: Koloniales Erbe in Museen. Kritische Weißseinsforschung in der praktischen Museumsarbeit, Bielefeld: transcript 2019.

4

Siehe ihr Film Die leere Mitte (D 1998, R: Hito Steyerl) und ihre älteren und aktuelleren Veröffentlichungen, u.a.: Hito Steyerl: »Was ist K]uns[t?«, in: Cathy S. Gelbin / Kader Konuk / Peggy Piesche (Hg.), AufBrüche. Kulturelle Produktionen von Migrantinnen, Schwarzen und jüdischen Frauen in Deutschland, Königstein / Taunus: U. Helmer 1999, S. 155—171; Hito Steyerl: Die Farbe der Wahrheit. Dokumentarismen im Kunstfeld, Wien: Turia + Kant 2008.

5

Vgl. u.a. Detlef Hoffmann (Hg.): Kunst der Welt oder Weltkunst? Die Kunst in der Globalisierungsdebatte, RehbergLoccum: Evang. Akademie 2003; Hans Belting / Andrea Buddensieg (Hg.): The Global Art World. Audiences, Markets, and Museums, Ostfildern: Hatje Cantz 2009; Julia Allerstorfer / Monika Leisch-Kiesl (Hg.): »Global Art History«. Transkulturelle Verortungen von Kunst und Kunstwissenschaft, Bielefeld: transcript 2018.

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

(1) Forschungsstand Spätestens seit Anfang der 2000er Jahre hat es auch in den kunst-, medien- und kulturwissenschaftlichen Diskursen im deutsch(sprachig)en Kontext zunehmend Auseinandersetzungen mit postkolonialen Theorien und außereuropäischer Kunst gegeben,1 insbesondere durch feministische Kunst- und Medienwissenschaftlerinnen.2 Durch eine verstärkte wissenschaftliche Beschäftigung mit (post-)kolonialen Kontinuitäten innerhalb verschiedener Institutionen wie der Disziplin Kunstgeschichte aber auch in Museen und Ausstellungen, und Fragen nach Möglichkeiten der Dekolonisierung sind wichtige Beiträge geleistet worden.3 Hito Steyerl hat hier als Filmemacherin und Theoretikerin viel dazu beigetragen, postkoloniale Kritik in den deutschen Kontext und in den Kunstdiskurs einzubringen.4 Zudem wurden Kritik an Eurozentrismus und ein Diskurs um Global Art (History)5 in kunstwissenschaftlichen Studien sowie in Ausstellungen zu wichtigen Aushandlungsfeldern. Die meisten dieser wissenschaftlichen Beiträge sind aus weißen Perspektiven verfasst und adressieren implizit eine weiß imaginierte Leser_innenschaft.6 Diese Leerstelle wird nur wenig reflektiert. Zwar gibt es auch einige Studien, die kritisches Weißsein aufgegriffen haben7, doch gibt es insgesamt wenige Ansätze, in denen Bedeutungen von Positionierungen aus diskriminierungskritischer Perspektive reflektiert werden. Zudem fehlt es oftmals an explizit rassismuskritischen Forschungsansätzen.8 Obwohl es nach wie vor kaum institutionalisierte Queer Studies im deutschen Kontext gibt, existiert inzwischen ein recht beachtlicher Korpus an Publikationen zu queer- und transtheoretischen Themen in Kunst und visueller Kultur. Beiträge für ein solches Queeren von Kunst(-wissenschaft) und Kunstgeschichte im deutschsprachigen Raum haben unter anderem Barbara Paul,9 Josch Hoenes,10 Johanna Schaffer,11 Antke Engel12 und Renate Lorenz13 geleistet. Auch einige Ausstellungen waren wichtig, um die Auseinandersetzung mit queerer Kunst im deutsch(sprachig)en Raum zu stärken, wie u.a. die Ausstellung Das Achte Feld (2006) in Köln,14 die Ausstellung 1—0—1 Intersex. Das Zweigeschlechtermodell als Menschenrechtsverletzung (2005) in der nGbK in Berlin, die Ausstellung Homosexualität_en (2015) als Kollaboration zwischen dem Deutschen Historischen Museum und dem Schwulen Museum*15, beide in Berlin, sowie weitere Ausstellungen queerer Kunst, u.a. im Schwulen Museum*.16 Gerade in den etwas älteren Veröffentlichungen, die queer-theoretische Fragestellungen im Zusammenhang mit Kunst und visueller Kultur verhandeln,

111 6

Das Adressieren einer weiß imaginierten Leser_innenschaft mache ich u.a. an fehlender Sensibilität für Rassismus in der Sprache fest. Wenn beispielsweise rassistische Sprache wie N-Wort oder M-Wort oder rassistische Bilder ungebrochen verwendet werden, so ist dies für Schwarze Leser_innen und Leser_innen of Color unnötig verletzend und damit potenziell ausschließend. Dies ist beispielsweise in Viktoria Schmidt-Linsenhoffs weit rezipiertem Artikel »Das koloniale Unbewusste in der Kunstgeschichte« der Fall. Vgl. Viktoria Schmidt-Linsenhoff: »Das koloniale Unbewusste in der Kunstgeschichte«, in: Irene Below / Beatrice von Bismarck (Hg.), Globalisierung / Hierarchisierung. Kulturelle Dominanzen in Kunst und Kunstgeschichte, Marburg: Jonas 2005, S. 19—38.

7

Vgl. Anna Greve (Hg.): Kunst & Politik. Schwerpunkt: Weißsein und Kunst. Neue postkoloniale Analysen, Göttingen: V&R unipress 2015; Anna Greve, 2019.

8

Vgl. u.a. Annegret Friedrich / Birgit Haehnel / Viktoria Schmidt-Linsenhoff / Christina Threuter (Hg.): Projektionen — Rassismus und Sexismus in der visuellen Kultur. Beiträge der 6. Kunsthistorikerinnen-Tagung, Trier 1995, Marburg: Jonas 1997.

9

Vgl. u.a.: Barbara Paul: FormatWechsel. Kunst, populäre Medien und GenderPolitiken / FormatChange. Art, Popular Media and Gender Politics, Wien: Sonderzahl 2008; Barbara Paul (Hg.), 2009 sowie Barbara Paul / Lüder Tietz (Hg.): Queer as … — Kritische Heteronormativitätsforschung aus interdisziplinärer Perspektive, Bielefeld: transcript 2016.

10

Vgl. u.a.: Robin Bauer / Josch Hoenes / Volker Woltersdorff (Hg.): Unbeschreiblich männlich. Heteronormativitätskritische Perspektiven, Hamburg: Männerschwarm 2007; Josch Hoenes, 2014.

11

Vgl. u.a.: Johanna Schaffer, 2008.

12

Vgl. u.a.: Antke Engel: Wider die Eindeutigkeit. Sexualität und Geschlecht im Fokus queerer Politik der Repräsentation, Frankfurt am Main: Campus 2002 sowie Antke Engel: Bilder von Sexualität und Ökonomie. Queere kulturelle Politiken im Neoliberalismus, Bielefeld: transcript 2009.

13

Vgl. u.a. Renate Lorenz, 2012 und Renate Lorenz (Hg.), 2014.

14

Vgl. Frank Wagner (Hg.): Das achte Feld. Geschlechter, Leben und Begehren in der Kunst seit 1960. [anlässlich der Ausstellung Das Achte Feld. Geschlechter, Leben und Begehren in der Kunst seit 1960, Museum Ludwig, Köln, 19.8.— 12.11.2006], Ostfildern: Hatje Cantz 2006.

Queer of Color-Kritik und visuelle Kultur

kommen kaum Perspektiven von QTIBIPoC-Künstler_innen oder Theoretiker_innen vor, und wenn, dann sind es meistens keine Beiträge aus dem deutschen oder europäischen Kontext.17 Eine der wenigen Kunstwissenschaftler_innen, die im deutschen Kontext queere und rassismuskritische Perspektiven bearbeitet hat, ist Nana Adusei-Poku. Ihr Schwerpunktthema ist PostBlack Art, darüber hinaus hat sie im Themenfeld von rassismuskritischer Institutionenkritik und Diversität publiziert.18 Eine Sensibilität für diese Leerstelle und das Problem, dass auch in queerer Theorie häufig eine Zentrierung von Weißsein vorgenommen wird, wächst erst seit kurzem.19 Auseinandersetzungen mit Kunst und visueller Kultur aus BIPoC-Perspektiven kamen lange Zeit größtenteils aus aktivistischen Kontexten, sowie dem Kunst- und Kulturbetrieb, wobei sich in den letzten Jahren eine Zunahme an Ausstellungen, Publikationen und Institutionen verzeichnen lässt. Eine wichtige frühe Veröffentlichung ist hier der Sammelband AufBrüche. Kulturelle Produktionen von Migrantinnen, Schwarzen und jüdischen Frauen in Deutschland,20 der 1999 von Kader Konuk, Peggy Piesche und Cathy Gelbin herausgegeben wurde. Darin werden Beiträge aus bildender Kunst, Theater / Performance und Literatur gleichermaßen verhandelt. Für eine verstärkte Wahrnehmung von Schwarzen und People of Color-Perspektiven im Kunst- und Kulturbetrieb im deutschen Kontext waren zudem die Veranstaltungsreihe Re / Positionierung — Critical Whiteness / Perspectives of Color21 sowie die Ausstellung Making Mirrors — von Körpern und Blicken22, die 2009 und 2011 jeweils in der nGbK in Berlin stattfanden, wegweisend. Dies geschah in einem diskursiven Kontext, in denen Forderungen nach Dekolonisierung des Kunstbetriebs lauter wurden und gerade in Institutionen zeitgenössischer Kunst postkoloniale Themen und außereuropäische Kunst verstärkt Aufmerksamkeit erfuhren — eines von mehreren prominenten Beispielen ist hier u.a. die von Okwui Enwezor kuratierte documenta 11 (2002)23 in Kassel. Dabei wurde jedoch die Frage, was mit z.B. deutschen Künstler_innen ist, die strukturell von Rassismus betroffen sind, kaum behandelt. Wichtige Beiträge in diesem Zusammenhang hat u.a. Sandrine Micossé-Aikins geleistet.24 Der von ihr und Sharon Dodua Otoo herausgegebene Sammelband The little book of big visions. How to be an artist and revolutionize the world25 versammelt Beiträge, die sich mit Kunst und Kultur im deutschen Kontext aus Perspektive von Schwarzen und People of Color befassen, darunter beispielsweise eine Zusammenfassung von Kritik an Blackfacing an deutschen Theatern26 oder ein Artikel von Yvette Mutumba, die die Situation von Schwarzen Künstler_innen mittels Interviews untersucht.27 Yvette Mutumba arbeitet seit längerem zu Postkolonialität, Rassismuskritik und Repräsentation

112

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

15

Vgl. Birgit Bosold / Detlef Weitz / Dorothee Brill (Hg.): Homosexualität_en. [anlässlich der Ausstellung Homosexualität_en des Deutschen Historischen Museums und des Schwulen Museums* in Berlin 26.6.—1.12.2015], Berlin: Sandstein 2015.

16

Vgl. u.a. Justin Time / Jannik Franzen / Michael Fürst (Hg.): Trans*_Homo. Differenzen, Allianzen, Widersprüche [anlässlich der Ausstellung Trans*_ Homo — von Lesbischen Transschwulen und Anderen Normalitäten, 16.8.— 19.11.2012 im Schwulen Museum* Berlin], Berlin: NoNo 2012.

17

Beispiele dafür sind u.a.: Josch Hoenes / Barbara Paul (Hg.), 2014, sowie Claudia Reiche (Hg.): quite queer, Bremen: Thealit Frauen.Kultur.Labor 2014.

18

Vgl. Nana Adusei-Poku: Taking Stakes in the Unknown: Tracing Post-Black Art, Bielefeld: transcript 2021; Nana AduseiPoku: »Black Performance. Innenschau // und Aushalten«, in: KUNSTFORUM International (264 ACT! Die entfesselte Performance), 2019, S. 75—85; Nana Adusei-Poku: »Everyone Has to Learn Everything or Emotional Labor Rewind«, in: Elisa Liepsch / Julian Warner (Hg.), Allianzen. Kritische Praxis an weißen Institutionen, Bielefeld: transcript 2018, S. 34—49. Inzwischen lebt und arbeitet sie in New York.

19

Vgl. u.a.: Siehe u.a. Renate Lorenz, 2012; Käthe von Bose / Ulrike Klöppel / Katrin Köppert / Karin Michalski / Pat Treusch (Hg.), 2015; Barbara Paul / Josch Hoenes / Atlanta Ina Beyer / Natascha Frankenberg / Rena Onat (Hg.), 2017.

20

Vgl. Cathy S. Gelbin / Kader Konuk / Peggy Piesche (Hg.): AufBrüche. Kulturelle Produktionen von Migrantinnen, Schwarzen und jüdischen Frauen in Deutschland, Königstein / Taunus: U. Helmer 1999.

21

Vgl. nGbK (Hg.): Re / Positionierung. Critical Whiteness — Perspectives of Color. (Post-)koloniale Sphären im Kunstbetrieb [Anlässlich der sechsteiligen theoretischen Veranstaltungsreihe Re-Positionierung — Critical Whiteness — Perspectives of Color, die von Januar 2009 bis Juli 2009 in der nGbK in Berlin stattfand], Berlin: nGbK 2009.

22

Die Ausstellung Making Mirrors — von Körpern und Blicken wurde vom 25.6.— 31.7.2011 in der nGbK in Berlin gezeigt. Sie versammelte künstlerische Positionen von Schwarzen Künstler_innen und Künstler_innen of Color sowie einige kritische weiße Künstler_innen, die zu Fragen des Körpers und des Blicks arbeiten. Darunter u.a. Rajkamal Kahlon, Philip Metz und Sonia Barrett. Zur Ausstellung ist leider kein Katalog erschienen. https://archiv.nGbK.de/en/ projekte/making-mirrors/, vom 10.2.2021.

von afrikanischer Kunst.28 Sie war mit Gabi Ngboco eine der Kurator_innen des komplett Schwarzen Teams der 10. Berlin Biennale — We Don’t Need Another Hero (2018)29. Diese Ausstellung ist ein wichtiges Beispiel dafür, dass es eine beginnende Veränderung in Kunst- und Kulturinstitutionen gibt. Es wächst ein Bewusstsein dafür, dass Postkolonialität, Diversität und Antirassismus nicht nur als ›Themen‹ wichtig sind, sondern auch auf Organisationsebene eine Rolle spielen. Im Kontext zeitgenössischer Kunst ist ebenfalls das von Bonaventure Soh Bejeng Ndikung gegründete SAVVY Contemporary zu einem bedeutsamen diskursiven Ort geworden.30 Als thematische Schwerpunkte solcher Auseinandersetzungen mit Kunst aus BIPoCPerspektiven lassen sich Fragen nach Selbstrepräsentation, Identität, Rassismuskritik, Kritik an normativem Weißsein, aber auch eine Kritik an den materiellen Bedingungen für Künstler_innen ausmachen. Wichtige Impulse kommen zudem auch aus der (post-)migrantischen Theaterszene31, wobei in Berlin das Ballhaus Naunynstraße, das Maxim Gorki Theater und das Theater X eine wichtige Bedeutung haben. Onur Suzan Nobrega hat am Beispiel des Ballhaus Naunynstraße zur Prekarität rassifizierter Künstler_innen und ihren Arbeitsbedingungen geforscht. Ihre Erkenntnisse zur Situation (post-)migrantischer Künstler_innen / Künstler_innen of Color liefern wichtige Anknüpfungspunkte für die Frage nach den lokalen Spezifika im deutschen Kontext in Bezug auf rassistische Strukturen in der Kunst sowie auf kulturpolitische Kämpfe von Schwarzen Menschen und People of Color.32 Zu diesem Themenfeld sowie zu »kritischen Praxen an weißen Institutionen«33 leistet auch der von Julian Warner und Elisa Liepsch herausgegebene Sammelband Allianzen einen wichtigen Beitrag.34 Eine Institution, die besonders zum Gegenstand postkolonialer und rassismuskritischer Reflexion geworden ist, ist das Museum als Sammlungs- und Ausstellungsort.35 Belinda Kazeem-Kamiński, Nathalie Beyer und Nora Sternfeld versammeln in Kuratieren als antirassistische Praxis Beiträge, die diesbezüglich nach Strategien fragen.36 Der Band ist ein weiteres Beispiel dafür, dass sich Diskurse verschieben und Perspektiven von (QTI)BIPoC wesentlich stärker wahrgenommen werden als noch vor einigen Jahren. Queere Perspektiven, Verhandlungen von Sexualität und ›Rasse‹ sowie Verhandlungen von Queering und Dekolonisierung37 kommen in rassismuskritischen Beiträgen in und zu Kunst- und Kultur im deutsch(sprachig)en Kontext zwar vor, sind jedoch weit weniger stark vertreten als Weißseins- und Institutionenkritik. Die Frage nach dekolonialen Visionen in Verbindung mit QTIBIPoC-Perspektiven ist im deutschsprachigen Raum bisher kaum Gegenstand wissenschaftlicher Studien geworden,

113 23

Okwui Enwezor (Hg.): Documenta 11 Platform 5. Katalog zur Ausstellung: Kassel, 8.6.—15.9.2002, Ostfildern-Ruit, London: Hatje Cantz, Art Books International 2002. Zu den Effekten siehe u.a. Oliver Marchart: Hegemonie im Kunstfeld. Die documenta-Ausstellungen dX, D11, d12 und die Politik der Biennalisierung, Köln: König 2008; Katja Hoffmann: Ausstellungen als Wissensordnungen. Zur Transformation des Kunstbegriffs auf der Documenta 11, Bielefeld: transcript 2013.

24

Vgl. Sandrine Micossé-Aikins, 2011; Sandrine Micossé-Aikins: »Die Befreiung des Blicks — Wie afrikanische zeitgenössische Kunst sich selbst erzählt«, in: Manuel Aßner (Hg.), AfrikaBilder im Wandel? Quellen, Kontinuitäten, Wirkungen und Brüche, Frankfurt am Main: Lang 2012, S. 145—155 und Sandrine Micossé-Aikins: »›Die Kunst ist eine Tochter der Freiheit‹. Antirassistischer Kulturaktivismus zwischen Protest und Widerstand«, in: Anna Greve (Hg.), Kunst & Politik. Schwerpunkt: Weißsein und Kunst. Neue postkoloniale Analysen, Göttingen: V&R unipress 2015, S. 155—166.

25

Vgl. Sandrine Micossé-Aikins / Sharon Dodua Otoo (Hg.): The Little Book of Big Visions. How to be an Artist and Revolutionize the World, Münster: edition assemblage 2012.

26

Vgl. Sharon D. Otoo: »Reclaiming Innocence. Unmasking Representations of Whiteness in German Theater«, in: Sandrine Micossé-Aikins / Sharon Dodua Otoo (Hg.), The Little Book of Big Visions. How to be an Artist and Revolutionize the World, Münster: edition assemblage 2012, S. 54—70.

27

Vgl. Yvette Mutumba: »Artists of African Descent Living in Germany«, in: Sandrine Micossé-Aikins / Sharon Dodua Otoo (Hg.), The Little Book of Big Visions. How to be an Artist and Revolutionize the World, Münster: edition assemblage 2012, S. 15—31.

28

Vgl. u.a. Yvette Mutumba: Die (Re-)Präsentation zeitgenössischer afrikanischer Kunst in Deutschland. Eine Studie des Instituts für Auslandsbeziehungen e.V., Stuttgart: Institut für Auslandsbeziehungen e.V. 2008; Yvette Mutumba: »Parallele Wissensproduktion. Statement zu einem möglichen Kulturschaffen«, in: Kathrin Busch / Christina Dörfling / Kathrin Peters / Ildikó Szántó (Hg.), Wessen Wissen? Materialität und Situiertheit in den Künsten, Paderborn: Wilhelm Fink 2018, S. 41—50.

29

Vgl. Gabi Ngboco / Yvette Mutumba (Hg.): 10. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst. We don’t need another hero. [Ausstellungskatalog anlässlich der 10. Berlin Biennale (9.6.2018—9.9.2018 )], Berlin: DISTANZ 2018.

Queer of Color-Kritik und visuelle Kultur

sondern wurde größtenteils durch Veranstaltungsreihen und Ausstellungsprojekte bearbeitet, wie u.a. im Rahmen der Ausstellung Anti*Colonial Fantasies / Decolonial Strategies in Wien, zu der eine gleichnamige Publikation erschienen ist.38 Neben Imayana Caceres und Sophie Utikal ist Sunanda Mesquita, von der ich im Hauptteil eine künstlerische Arbeit analysiere, eine der Kurator_innen und Herausgeber_innen. Des Weiteren sind drei Ausstellungen im Schwulen Museum* bedeutsam, die zeitgleich bzw. in kurzem Abstand voneinander gezeigt wurden. Dazu gehört die Ausstellung Odarodle (2017), das Ergebnis eines künstlerischen Forschungsprozesses mit postkolonialer Perspektive auf das Schwule* Museum und dessen Archiv durch Ashkan Sepahvand unter Mitarbeit von Saida Mahalia Saad,39 sowie die Ausstellungen ğ — queere Formen migrieren (2017), kuratiert von Aykan Safoğlu und Emre Busse,40 und außerdem die Ausstellung The Lightest Shade of Aflatoon (2017), kuratiert von Hasan Aksaygın und zoya.41 Über den deutsch(sprachig)en Kontext hinaus finden sich eine Reihe relevanter Veröffentlichungen, die — ausgehend von den Perspektiven von QTIBIPoC-Künstler_innen — künstlerische Strategien, Wissensproduktion sowie alternative Visionen und Utopien untersuchen. Ich nenne hier eine kleine Auswahl der wichtigsten Publikationen, wobei ich mich auf Studien zu visueller Kultur, Bildender Kunst und Performance konzentriere. Bereits in den 1980er und 1990er Jahren gab es insbesondere in Britannien im Zuge des British Black Arts Movement und in den USA eine Reihe künstlerischer und kunstwissenschaftlicher Produktionen die ›Rasse‹, Gender, Sexualität und Klasse gemeinsam thematisierten.42 Zwei wichtige Autoren in diesem Zusammenhang sind Stuart Hall sowie Kobena Mercer. Letzterer hat in seinem Buch Welcome to the Jungle nicht nur eine Kritik an heterosexistischen und rassistischen Strukturen in der Kunst formuliert, sondern auch Arbeiten wichtiger Schwarzer schwuler Künstler diskutiert.43 Schwarze schwule Künstler und schwule Künstler of Color des British Black Arts Movements, darunter Isaac Julien, Ajamu, Rotimi Fani-Kayode und Sunil Gupta leisteten wichtige künstlerische und theoretische Beiträge zur Auseinandersetzung mit Schwarzen schwulen Männlichkeiten bzw. Männlichkeiten of Color (damals noch unter der gängigen Selbstbezeichnung politisch Schwarz).44 Diese Diskurse wurden transnational geführt. So formulierten in den USA beispielsweise Künstler wie Marlon Riggs45 Lyle Ashton Harris46 und Thomas Allen Harris47 aus Schwarzen schwulen Perspektiven Kritik an normativem Weißsein in der schwulen Szene, aber auch an einer machistischen Maskulinität innerhalb von Teilen Schwarzer Befreiungsbewegungen wie den Black Panthers. In diesem Themenfeld ist vor allem in den 1990er Jahren eine Reihe von Veröffentlichungen entstanden,

114

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

30

Vgl. https://savvy-contemporary.com/, vom 18.1.2021.

31

Vgl. u.a. Azadeh Sharifi: »Theater und Migration: Überlegungen zu einer europäischen Perspektive des postmigrantischen Theaters«, in: Michael Bachmann / Asta Vonderau (Hg.), Europa — Spiel ohne Grenzen? Zur künstlerischen und kulturellen Praxis eines politischen Projekts, Bielefeld: transcript 2020, S. 181—196.

32

Vgl. Onur Suzan Kömürcü Nobrega: »›We bark from the third row‹: The position of the Ballhaus Naunynstrasse in Berlin’s cultural landscape and the funding of cultural diversity work«, in: Şeyda Ozil / Michael Hofmann / Yasemin Dayıoğlu-Yücel (Hg.), 50 Jahre türkische Arbeitsmigration in Deutschland, Göttingen: V&R unipress 2011, S. 91—112; Onur Suzan Kömürcü Nobrega: »Alienation in Higher Education: Lived Experiences of Racial and Class Based Inequality in Film and Drama School«, Berlin 2013, https://heimatkunde. boell.de/2013/01/18/alienation-highereducation-lived-experiences-racial-andclass-based-inequality-film-and, vom 15.3.2021 und Onur Suzan Kömürcü Nobrega, 2018.

33

Vgl. Elisa Liepsch / Julian Warner (Hg.), 2018.

34

Vgl. ebd.

35

Vgl. u.a. Isabel Dean: Die Musealisierung des Anderen. Stereotype in der Ausstellung »Kunst aus AFRIKA«, Tübingen: Tübinger Vereinigung für Volkskunde e.V. 2010; Natalie Bayer / Mark Terkessidis: »Antirassistisches Kuratieren im Museum der Vielheit«, in: Naika Foroutan (Hg.): Postmigrantische Perspektiven. Ordnungssysteme, Repräsentationen, Kritik, Bonn: Bpb, Bundeszentrale für Politische Bildung 2018, S. 191—206, sowie Anna Greve, 2019.

36

Vgl. Nora Sternfeld / Belinda KazeemKamiński / Natalie Bayer (Hg.): Kuratieren als antirassistische Praxis, Berlin, Boston: de Gruyter 2017.

37

Vgl. Sandrine Micossé-Aikins / Raju Rage / Rena Onat, 2017; siehe auch die Veranstaltungsreihe: Decolonizing Visual Culture, xart splitta e.V. Berlin, 2016, https://www.xartsplitta.net/en/reihedekolonisierung/, vom 23.1.2021.

38

Vgl. Imayna Caceres / Sophie Utikal / Sunanda Mesquita (Hg.), 2017.

39

Vgl. Ashkan Sepahvand / Schwules Museum* (Hg.), 2018.

40

Die Ausstellung gab künstlerische Arbeiten zu sehen, die einen transkulturellen Austausch zwischen Deutschland und der Türkei und vor allem zwischen Berlin und İstanbul zum Thema hatten. Leider gibt es zu der Ausstellung keinen Katalog.

die ein intersektionales Zusammenwirken von ›Rasse‹- und Sexualitätskonstruktionen verstärkt bearbeiten.48 Es wurden — angestoßen durch diese künstlerischen Bewegungen — neue Strukturen und Institutionen geschaffen, wie in London INIVA (Institute for International Visual Arts) oder die in Britannien ansässige Filmproduktionsfirma Sankofa, die u.a. frühe Arbeiten von Isaac Julien produziert hat. In den anglophonen Filmwissenschaften und Visual Culture Studies hat es einige frühe Veröffentlichungen gegeben, in denen QTIBIPoC-Perspektiven verhandelt wurden. Beispielsweise diskutiert der Videokünstler Richard Fung unter dem provokativen Titel »Looking for My Penis« antiasiatischen Rassismus und Fetischisierung in schwulen Pornovideos.49 In Studien zu Film, Fernsehen und Fotografie hat es bereits früh Auseinandersetzungen mit queer-theoretischen Fragestellungen gegeben, wobei insbesondere feministische Blicktheorien weiter ausdifferenziert wurden.50 Dabei haben unter anderem die lesbische Filmemacherin und Autorin Prathiba Parmar oder auch der queere Künstler und Autor Sunil Gupta daran mitgewirkt QTIBIPoCs in theoretische Diskurse zu Fragen des Blicks / gaze einzubringen.51 Auch in Studien zur visuellen Kultur, Kunst- und Medienwissenschaften wurden Themen und Impulse aus dem Kontext von Schwarzem Feminismus, Women of Color Feminismus und Dritte-Welt-Feminismus,52 wie es damals teilweise genannt wurde, aufgegriffen. In diesem diskursiven Feld hat es ebenfalls immer wieder Verhandlungen von Kunst von QTIBIPoCs gegeben, beispielsweise in dem von Ella Shohat herausgegebenen Sammelband Talking Visions53, in dem künstlerische und theoretische Beiträge Seite an Seite abgedruckt werden und Arbeiten von u.a. Laura Aguilar, Carmelita Tropicana oder Shu Lea Chang zu sehen gegeben werden. Diese und andere Künstler_innen haben eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit postkolonialen und queeren Fragen in der Kunst- und Filmwissenschaft und den visuellen Kulturwissenschaft mit inspiriert und informiert und stellen außerdem eine wichtige Ressource für nachfolgende Generationen queerer Künstler_innen of Color dar. Die bereits erwähnten Bücher Disidentifications — Queers of Color and the Performance of Politics54 und Cruising Utopia — The Then and There of Queer Futurity55 von José Esteban Muñoz sind zwei bedeutsame Veröffentlichungen, die einem theoretischen Diskurs der Queer of Color-Kritik zugerechnet werden und explizit künstlerische Arbeiten von QTIBIPoCs zum Analysegegenstand haben. Muñoz berücksichtigt jedoch auch einige weiße queere Künstler_innen u.a. Andy Warhol. Mit den theoretischen und methodischen Werkzeugen der Performance Studies untersucht er in

115 Vgl. https://www.schwulesmuseum. de/ausstellung/g-queere-formenmigrieren/, vom 18.1.2021. 41

In der Ausstellung wurden Arbeiten von queeren Künstler_innen mit Fluchterfahrungen gezeigt. Auch hier gibt es leider keinen Katalog. Vgl. https://www.schwulesmuseum.de/ ausstellung/the-lightest-shade-ofaflatoon/, vom 18.1.2021.

42

Vgl. u.a. Nick Aikens / Elizabeth Kristiana Robles (Hg.): The Place is Here. The Work of Black Artists in 1980s Britain, Berlin: Sternberg Press 2019.

43

Vgl. Kobena Mercer: »Dark and Lovely Too: Black Gay Men in Independent Film«, in: Martha Gever / Pratibha Parmar / John Greyson (Hg.), Queer Looks. Perspectives on Lesbian and Gay Film and Video, London, New York: Routledge 1993, S. 238—256; Kobena Mercer / Isaac Julien: »Black Masculinity and the Politics of Race«, in: Kobena Mercer (Hg.), Welcome to the Jungle. New Positions in Black Cultural Studies, London, New York: Routledge 1994, S. 131—170.

44

Vgl. Sunil Gupta: »Culture Wars: Race and Queer Art«, in: Peter Horne / Reina Lewis (Hg.), Outlooks. Lesbian and Gay Sexualities and Visual Cultures, London, New York: Routledge 1996, S. 170—177.

45

Vgl. Marlon Riggs, 1992.

46

Vgl. Lyle A. Harris / Thomas A. Harris: »black widow. a conversation«, in: Deborah Bright (Hg.), The Passionate Camera. Photography and Bodies of Desire, London, New York: Routledge 1998, S. 248—262; Lyle A. Harris: Lyle Ashton Harris, New York: Gregory R. Miller & Co. 2003.

47

Vgl. Thomas A. Harris: »About Face: The Evolution of a Black Producer«, in: Gina Dent (Hg.), Black Popular Culture. A Project by Michele Wallace, Seattle: Bay Press 1992, S. 234—242.

48

Vgl. u.a. Thelma Golden (Hg.): Black Male, New York: Whitney Museum of American Art 1994.

49

Vgl. Richard Fung: »Looking for My Penis: The Eroticized Asian in Gay Video Porn«, in: Bad Objectchoices (Hg.), How do I look? Queer Film and Video, Seattle: Bay Press 1991, S. 145—168.

50

Vgl. u.a. Deborah Bright (Hg.): The Passionate Camera. Photography and Bodies of Desire, London, New York: Routledge 1998; Peter Horne / Reina Lewis (Hg.): Outlooks. Lesbian and Gay Sexualities and Visual Cultures, London, New York: Routledge 1996; Bad Objectchoices (Hg.): How do I look? Queer Film and Video, Seattle: Bay Press 1991.

Queer of Color-Kritik und visuelle Kultur

Disidentifications nicht nur Performances sondern auch Malerei, Fotografie, Film, Video und Fernsehauftritte. Zwar arbeitet Muñoz nicht direkt mit dem Begriff der Intermedialität, doch ist es ein intermedialer Ansatz in Kombination mit einer intersektionalen (Queer of Color-)Perspektive, durch den sehr genaue Analysen der von ihm untersuchten performativen Praxen entstehen. Cruising Utopia basiert ebenfalls auf Analysen künstlerischer Arbeiten allerdings zugespitzt auf Fragen nach »Queer Futurity«56, Hoffnung und Utopie. Muñoz’ Arbeit ist gerade aufgrund dieser Fokussierungen auf künstlerische Strategien, »queer worldmaking«57, alternative Visionen und Utopie ein wichtiger Bezugspunkt für eine Auseinandersetzung mit Kunst von QTIBIPoCs.58 Gayatri Gopinath, die seit längerem im Feld der Queer Diaspora Studies forscht, setzt sich in ihrem jüngeren Buch Unruly Visions. The Aesthetic Practices of Queer Diaspora59 verstärkt mit Kunst, visueller Kultur und ästhetischen Praxen auseinander, anhand derer sie »widerspenstige«60 Perspektiven und Visionen herausarbeitet. Durch die ästhetischen Praxen werden, wie sie erklärt, andere Arten der Wahrnehmung von Zeit, Raum, Geschichte und Erinnerung eröffnet.61 Jasbir Puar untersucht in ihrem weit rezipierten Buch Terrorist Assemblages: homonationalism in queer times, einen heterogenen Materialkorpus von u.a. visuellen und medialen Repräsentationen an den Schnittstellen von Sexualität, ›Rasse‹ und Nation. Ihre Arbeit ist besonders relevant für Medienwissenschaften und Studien zur visuellen Kultur, beispielsweise hinsichtlich Auseinandersetzungen mit der Verbindung von Repräsentation und Sicherheitsdiskursen. Verschiedene neuere Publikationen widmen sich zudem queeren Perspektiven auf künstlerische Strategien und Repräsentationen verschiedener rassifizierter Communities bzw. daraus hervorgegangenen künstlerischen Bewegungen und Diskursen. Beispielsweise leistet der Kunsthistoriker Derek Murray ein Beitrag zu einem Queering von Post-Black Art.62 Schwerpunkt dabei bildet die Frage nach Transformationen (Schwarzer) Identität. Robb Hernández untersucht Kunst einer Queer Chicanx Avantgarde vor dem Hintergrund von Fragen nach Archiven und (AIDS-)Pandemie.63 Nicht unerwähnt bleiben sollten außerdem die beiden von Nia King herausgegebenen Bände Queer and Trans Artists of Color — Stories of Some of Our Lives,64 in denen zahlreiche Künstler_innen, mit denen King Interviews für ihren Podcast We Want the Airwaves65 geführt hat, porträtiert werden, wobei leider kein visuelles Material beigefügt ist. Abschließend möchte ich anmerken, dass die relativ geringe Zahl wissenschaftlicher Veröffentlichungen zu Queer of Color-Kritik und Kunst bzw. visueller Kultur und Medienkultur nicht bedeuten muss, dass es diese Form der Kritik nicht gegeben hat oder gibt, sondern dass sie möglicherweise nur

116

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

51

Vgl. Martha Gever / Pratibha Parmar / John Greyson (Hg.): Queer Looks. Perspectives on Lesbian and Gay Film and Video, London, New York: Routledge 1993; Pratibha Parmar: »Hateful Contraries: Media Images of Asian Women«, in: Amelia Jones (Hg.), The Feminism and Visual Culture Reader, London, New York: Routledge 2010, S. 287—293.

nicht innerhalb wissenschaftlicher Räume produziert wurde / wird oder (noch) nicht so stark in wissenschaftliche Diskurse eingegangen ist. Möglicherweise sind trotz meiner intensiven Recherchen nicht alle relevanten Positionen für mich erreichbar, in Sara Ahmeds Sinn. Ich gehe also davon aus, dass es weiteres Un-Archiving66 braucht.

52

Vgl. u.a. Trinh T. Minh-ha: Woman, Native, Other. Writing Postcoloniality and Feminism, Bloomington: Indiana University Press 1989.

53

Vgl. Ella Shohat (Hg.): Talking Visions. Multicultural Feminism in a Transnational Age, New York, Cambridge, MA: New Museum of Contemporary Art; MIT 2001 (1998).

54

Vgl. José Esteban Muñoz, 1999.

55

Vgl. José Esteban Muñoz, 2009.

56

Der Begriff ist ein Schlüsselbegriff in Cruising Utopia, wie bereits durch den Titel des Buches deutlich wird. Vgl. José Esteban Muñoz, 2009.

57

Der Begriff ist in beiden Büchern von Muñoz zentral und wird im nächsten Kapitel genauer erklärt. Vgl. José Esteban Muñoz, 1999; José Esteban Muñoz, 2009.

58

Ich greife mehrfach Begriffe von Muñoz auf. Im nächsten Teilkapitel zu Queer of Color-Kritik gehe ich ausführlich auf seinen Disidentification Begriff ein, den ich in der Analyse der Arbeit JHAD von Hasan Aksaygın als Analyseperspektive verwende. Mit Muñoz’ Queer Futurity-Begriff arbeite ich in der Analyse der Arbeit Silenced by Academia (2015).

59

Vgl. Gayatri Gopinath: Unruly Visions. The Aesthetic Practices of Queer Diaspora, Durham, London: Duke University Press 2018.

60

Vgl. ebd.

61

Vgl. ebd. S. 12.

62

Vgl. Derek Conrad Murray: Queering Post-Black Art. Artists Transforming African-American Identity after Civil Rights, London: I.B. Tauris 2016.

63

Vgl. Robb Hernández: Archiving an Epidemic. Art, AIDS, and the Queer Chicanx Avant-Garde, New York: New York University Press 2019.

64

Vgl. Nia King (Hg.): Queer & Trans Artists of Color. Stories of Some of Our Lives. Interviews by Nia King, o.O.: o.A. 2014; Nia King (Hg.): Queer & Trans Artists of Color. Stories of Some of Our Lives. Volume Two, o. O.: o. A. 2016.

65

http://www.niaking.com/podcast.html, vom 18.1.2021.

66

Den Begriff Unarchiving verwende ich im Anschluss an Raju Rage, wie ich später ausführe im Kapitel:

117 QTIBIPoCs und das (Er-)Finden eigener Geschichte(n): Umgang mit den Lücken im Archiv in Aykan Safoğlus Kurzfilm Kırık Beyaz Laleler (Off-)White Tulips) (2013). 1

Vgl. Sara Ahmed, 2006, S. 5—12.

2

Ich verwende die deutsche Schreibweise, da ich den Anspruch habe, mit meiner Untersuchung zu Queer of Color-Kritik im deutschen Kontext beizutragen. Einen Überblick über einige der zentralen Positionen innerhalb dieses Diskurses gebe ich im nächsten Abschnitt.

3

Stuart Hall schreibt über die »neuen sozialen Bewegungen«, die in den sechziger Jahren entstanden: »Jede Bewegung appellierte an die soziale Identität ihrer Unterstützerinnen und Unterstützer: Der Feminismus an die Frauen, Sexualpolitik an Schwule und Lesben, Kämpfe gegen Rassismus an die Schwarzen usw. Dies ist die historische Stunde dessen, was später Identitätspolitik genannt werden sollte — eine Identität pro Bewegung.« Stuart Hall: »Die Frage der kulturellen Identität«, in: Ulrich Mehlem (Hg.), Rassismus und kulturelle Identität, Hamburg: Argument 2002, S. 181—222, hier S. 198—199. Siehe außerdem: Umut Erel / Jin Haritaworn / Encarnación Gutiérrez Rodríguez / Christian Klesse: »Intersektionalität oder Simultaneität?! — Zur Verschränkung und Gleichzeitigkeit mehrfacher Machtverhältnisse — Eine Einführung«, in: Jutta Hartmann / Christian Klesse / Bettina Fritzsche / Peter Wagenknecht / Kristina Hackmann (Hg.), Heteronormativität. Empirische Studien zu Geschlecht, Sexualität und Macht, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2007, S. 239—250.

4

Vgl. Chandan Reddy: »Convergence, Dissymmetry, Duplicities. Enactments of Queer of Color Critique«, in: Siobhan B. Somerville (Hg.), The Cambridge Companion to Queer Studies, Cambridge: Cambridge University Press 2020, S. 51—65.

Queer of Color-Kritik und visuelle Kultur

(2) Queer of Color-Kritik Queer of Color-Kritik — so habe ich zu Beginn geschrieben — ist für mich ein wichtiger Starting Point.1 Welche Orientierungen ergeben sich daraus, vom Punkt einer Queer of Color-Kritik ausgehend aufzubrechen? Wodurch zeichnet sich dieser Starting Point aus und welche Linien, welche Objekte erscheinen von ›hier‹? Queer of Color-Kritik kann erstens einen theoretischen Diskurs bezeichnen, der — ausgehend von QTIBIPoC-Wissenschaftler_innen — kritische Interventionen vor allem in queere Theorie vornimmt, um Tendenzen zu kritisieren, Sexualität als mehr oder weniger einzige Analysekategorie zu bearbeiten. Der theoretische Diskurs, der sich als Queer of Color Critique oder Queer of Color-Kritik bezeichnen lässt,2 ist nicht an eine bestimmte Disziplin gebunden. Die Analyse des Zusammenwirkens von ›Rasse‹ und Sexualität muss verstanden werden als Querschnittsaufgabe. Ich möchte Queer of Color-Kritik weiter fassen und verstehe darunter recht allgemein eine kritische Perspektive von als queer und of Color bzw. QTIBIPoC positionierten Subjekten, die innerhalb und außerhalb der Akademia eingebracht wird. Queer of ColorKritik stellt dabei auch eine kritische Auseinandersetzung mit Heteronormativität und strukturellem Rassismus in der Mehrheitsgesellschaft dar, sowie innerhalb politischer Bewegungen, wie etwa der Frauenbewegung, Homosexuellen- / queeren Bewegungen, Subkulturen, Szenen und Communitys und zeigt weiße Normativität und rassistische Ausschlüsse auf, die mit einer Ein-Thema-Identitätspolitik3 einhergehen. Es gibt keine homogene Gruppe von Queers of Color bzw. QTIBIPoCs und unter der Bezeichnung subsumieren von unterschiedlichen Identitäten und Erfahrungen.4 Nichtsdestotrotz gibt es bestimmte geteilte Erfahrungen im Zusammenhang mit der Positionierung, nämlich die Gemeinsamkeit, sowohl von strukturellem Rassismus als auch strukturell von Heterosexismus, Homo- und / oder Transfeindlichkeit betroffen zu sein. Spezifische (Mehrfach-)Diskriminierungserfahrungen machen wiederum spezifische Analysen, Interventionen sowie individuelle und kollektive Widerstands-, Überlebens- und Empowerment-Strategien erforderlich. In diesem Sinn hat Queer of Color-Kritik das Erfahrungswissen und das verkörperte Wissen von QTIBIPoCs zum Ausgangspunkt. Unter dem Begriff der Queer of Color-Kritik verstehe ich aktivistische, theoretische und künstlerische Positionen, die radikale nicht-normative Sexualitäten und Begehrensformen zusammendenken mit Rassismuskritik und Kritik an (neo-)kolonialen Kontinuitäten.

118

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

5

Roderick A. Ferguson: Aberrations in Black. Toward a Queer of Color Critique, Minneapolis: University of Minnesota Press 2004.

6

Vgl. Roderick A. Ferguson: Queer of Color Critique. Oxford Research Encyclopedias in Literature 2018, https://oxfordre. com/literature/view/10.1093/acrefore/9780190201098.001.0001/ acrefore-9780190201098-e-33, vom 1.10.2019.

7

Der Begriff des organischen Intellektuellen ist geprägt von Antonio Gramsci und bezeichnet Subjekte, deren Wissen für soziale Bewegungen eine wichtige Bedeutung zukommt, die sonst nicht als intellektuell gelten, weil ihnen beispielsweise eine akademische Ausbildung fehlt. Er ermöglicht somit eine Wertschätzung nicht-akademischer Wissensproduktion und findet aus diesem Grund Verwendung bei Wissenschaftler_innen of Color wie Encarnación Gutierréz Rodríguez oder Jin Haritaworn, die in ihrer Forschung Perspektiven minorisierter Subjekte darstellen und anerkennen.

Mit dieser Definition von Queer of Color-Kritik unterscheidet sich mein Verständnis von der Definition Roderick Fergusons, der mit seiner Studie Aberrations in Black — Toward a Queer of Color Critique stark dazu beigetragen hat, den Begriff Queer of Color Critique bekannt zu machen als Bezeichnung für kritische theoretische Beiträge und Interventionen von QTIBIPoC-Autor_innen.5 Ferguson verortet den Ursprung dieses Diskurses zeitlich und räumlich in den USA der 1990er Jahre und damit in einem Klima zunehmender staatlicher Kriminalisierung und Repression gegen BIPoCs.6 Dieser Kontext ist bedeutsam, jedoch droht eine solche Genealogie einen USA-Zentrismus zu (re-)produzieren und kritische Beiträge von QTIBIPoCs außerhalb der USA, sowie ältere Beiträge unsichtbar zu machen. Obwohl eine Zunahme wissenschaftlicher Veröffentlichungen mit Fokus auf QTIBIPoCPerspektiven oder unter dem Begriff Queer of Color Critique (englischsprachige Publikationen) sowie von Forschung von QTIBIPoC-Wissenschaftler_innen zu verzeichnen ist, wäre eine Rahmung von Queer of Color-Kritik als einem ›neuen‹ Ansatz falsch und problematisch. Die Relevanz der Arbeit und des Denkens früherer Generationen (minorisierter) Theoretiker_innen und »organischer Intellektueller«7, deren Schriften und Werke ohnehin nicht ausreichend gewürdigt werden, würden dadurch erneut entwertet oder unsichtbar gemacht. In der Definition von Queer of Color-Kritik, von der ich ausgehe, sollen explizit nicht-wissenschaftliche Beiträge berücksichtigt werden.8 Für Genealogien von Queer of Color-Kritik stellt sich ebenfalls die Frage, welche Objekte »within reach«9 sind — und warum. Auch Queer of Color-Kritik hat Linien, die sich zurückverfolgen lassen.10 Selbstverständlich ist Queer of Color-Kritik nicht homogen und es gibt nicht nur eine Linie. Die Linien erscheinen jedoch oft nur flüchtig, sind mal deutlicher, mal ephemer, mal fehlen Punkte auf der Linie oder Stationen auf dem Weg, die es einmal gab, die jedoch verschwunden sind durch Auslöschung, Vergessen, Repression, Gewalt oder Pandemien wie HIV / AIDS. Aus der Perspektive von Queer of Color-Kritik hat deshalb das Suchen und Finden eigener Genealogien und eigener Geschichten eine besondere Relevanz, wie ich später in den Analysen der künstlerischen Arbeiten noch weiter ausführe. Gemeint sind damit z.B. Widerstandskämpfe und Denkansätze früherer Generationen als Gegendiskurse zu hegemonialen Darstellungen. Bedeutsam ist zudem eine Kritik an normativem Weißsein innerhalb queerer Theorie sowie daran, dass in Rassismusforschung und postkolonialer Theorie, Sexualität und Gender stellenweise nur unzureichend berücksichtigt werden.11

Vgl. Wieland Elfferding / Volker Eckhard: »Società civile, Hegemonie und Intellektuelle bei Gramsci«, in: Manfred Behrens (Hg.), Theorien über Ideologie. Projekt Ideologie-Theorie, Berlin: Argument 1982, S. 61—81; siehe außerdem Encarnación Gutiérrez Rodríguez: Intellektuelle Migrantinnen. Subjektivitäten im Zeitalter von Globalisierung, Opladen: Leske + Budrich 1999 und Jin Haritaworn, 2015. 8

Im Umgang Fergusons mit seinem Material findet sich ein ähnlicher Ansatz. So untersucht er kanonische Texte der Soziologie in Bezug auf ihre Aussagen über rassisierte Formationen, die er Romanen Schwarzer Autor_innen gegenüberstellt, wodurch die Diskrepanz zwischen Fremd- und Selbstbeschreibung deutlich wird. In der Wahrnehmung einer solchen, strukturell bedingten Diskrepanz zwischen Diskursen und der Unterschiedlichkeit von Artikulationsmöglichkeiten majoritärer und minoritärer Subjekte sehe ich eine Parallele zwischen Fergusons Studie und meiner eigenen Arbeit.

9

Sara Ahmed, 2006, S. 107.

10

Siehe hierzu u.a.: Chandan Reddy, 2020.

11

Auf einige dieser Kritiken gehe ich im Folgenden noch ausführlicher ein. Vgl. u.a. Cathy Cohen, 1997; José Esteban Muñoz, 1999; Roderick A. Ferguson, 2004; Paola Bacchetta / Fatima El-Tayeb / Jin Haritaworn, 2015.

119 12

Ich beziehe mich hier auf die Information zum Wiederabdruck in This Bridge Called My Back. Vgl. Combahee River Collective, 1981 (1977). Auf Wikipedia wird die Genese des Statements als kollektiver Prozess bei über einen längeren Zeitraum stattfindenden Retreats beschrieben, die zwischen 1974 und 1980 stattgefunden haben sollen. Vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/ Combahee_River_Collective#cite_ note-:1—28, vom 15.3.2021.

13

Combahee River Collective, 1981 (1977), S. 210.

14

Vgl. bell hooks: talking back. thinking feminist, thinking black, Boston: South End Press 1989, wobei bell hooks hier eine kollektive Praxis theoretisiert, weswegen der Begriff nicht nur ihr zuzuschreiben ist. Beispielsweise verfolgte auch die Negritude-Bewegung explizit eine Strategie des Talking Backs im Sinn der Produktion eines Gegendiskurses. Für einen aktuellen Bezug aus dem europäischen Kontext siehe auch: Claudia Unterweger: Talking Back. Strategien Schwarzer österreichischer Geschichtsschreibung, Wien: Zaglossus 2016.

15

Vgl. Kimberlé W. Crenshaw: »Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory, and Antiracist Politics«, in: University of Chicago Legal Forum (1), 1989, S. 139—167.

16

Vgl. Patricia Hill Collins, 2009 (1990).

17

In der Auseinandersetzung mit Konzepten zu Überschneidungen und Wechselwirkungen unterschiedlicher Dimensionen von Machtverhältnissen wird zurecht auf aktivistische und akademische Interventionen aus dem US-amerikanischen Kontext verwiesen, aus dem zentrale Begriffe wie Intersektionalität hervorgegangen sind. Das bedeutet jedoch nicht, dass Intersektionalität ein US-amerikanisches Phänomen ist. Aktivist_innen im deutschen Kontext wie Tuğba Tanyılmaz, Projektleitung von i-Päd (Initiative Intersektionale Pädagogik), machen darauf aufmerksam, dass auch in anderen Kontexten ein Bewusstsein über die Gleichzeitigkeit und Wechselwirkungen von Machtverhältnissen existiert, jedoch teilweise unter anderen Begriffen. Sie verweist u.a. auf die kurdische Frauenbewegung, die sowohl antikurdischen Rassismus als auch sexistische und patriarchale Strukturen bekämpfen. Tuğba Tanyılmaz im persönlichen Gespräch, 2.2.2019.

18

Vgl. Patricia Hill Collins, 2009 (1990). Siehe auch: Philomena Essed: »Everyday Racism: A New Approach

Queer of Color-Kritik und visuelle Kultur

Intersektionalität Queer of Color-Kritik zeichnet sich vor allem durch eine intersektionale Perspektive aus. Ein solcher Ansatz ist bedingt durch den Umstand, dass QTIBIPoCs — wie andere Mehrfachdiskriminierte —, in besonderer Weise mit den Ausschlüssen zu kämpfen haben, die durch monokausale und monothematische Zugänge zu Gender, Sexualität und Rassismus (re-)produziert werden. Bereits 197712 schreiben die Mitglieder des Combahee River Collective: »The most general statement of our politics at the present time would be that we are actively committed to struggling against racial, sexual, heterosexual, and class oppression and see as our particular task the development of integrated analysis and practice based upon the fact that major systems of oppression are interlocking. The synthesis of these oppressions creates the conditions of our lives.«13 Women of Color / Schwarze Frauen übten Kritik an normativem Weißsein in der feministischen Bewegung und an einer essentialistischen Identitätspolitik, die unterschiedliche Positionierungen von Frauen und die ungleiche Verteilung von Privilegien nicht problematisierte. In ihren Arbeiten finden sich antirassistische und feministische Strategien sowie Strategien der Dekolonisierung, darunter Konzepte wie Selbstrepräsentation und Autobiografie als Gegendiskurse bzw. »Talking Back«14, Empowerment und Weißseinskritik. Women of Color Feminismus und Schwarzer Feminismus sind die Kontexte, aus denen wichtige Erkenntnisse hervorgegangen sind um die Art und Weise zu reflektieren, wie Macht- und Herrschaftsverhältnisse sich überschneiden und zusammenwirken. Kimberlé Crenshaw hat dafür 1989 den Begriff Intersektionalität geprägt15, während Patricia Hill Collins beispielsweise von einer »matrix of domination«16 spricht.17 Sie betont zudem die epistemologische Bedeutung des Erfahrungswissens Schwarzer Frauen im Umgang mit (Alltags-)Rassismus für die Analyse dieser Machtverhältnisse.18 Viele Persönlichkeiten, die bedeutsam waren und sind für Schwarzen- und Women of Color Feminismus, sind lesbisch, queer oder trans* und reflektieren Sexualität in ihren Publikationen.19 Queere und feministische Ansätze sind daher gar nicht trennscharf zu unterscheiden. Besonders deutlich wird dies in dem 1983 von Cherríe Moraga und Gloria Anzaldúa — zwei queeren Chicanas — herausgegebenen Buch This Bridge Called My Back.20 Darin werden Texte, darunter auch Gedichte, radikaler Frauen of Color zusammengebracht mit der Intention »to reflect an uncompromised definition of feminism by women of color in the United States«.21 Eines der sechs Kapitel ist der

120 to the Study of Racism«, in: Philomena Essed / David Theo Goldberg (Hg.), Race Critical Theories. Text and Context, Malden: Blackwell Publishers 2002, S. 176—194. 19

Siehe u.a. Cheryl Clarke: »Lesbianism: An Act of Resistance«, in: Cherríe Moraga / Gloria Anzaldúa (Hg.), This Bridge Called My Back. Writings by Radical Women of Color, Watertown: Persephone Press 1981, S. 128—137; Gloria Anzaldúa, 1987; June Jordan: »A New Politics of Sexuality«, in: Beverly Guy-Sheftall (Hg.), Words of Fire. An Anthology of African-American Feminist Thought, New York: New Press 1995, S. 407—412.

20

Vgl. Cherríe Moraga / Gloria Anzaldúa (Hg.), 1981.

21

Ebd. o. Sz. Ich zitiere hier aus dem Klappentext von This Bridge Called My Back.

22

Vgl. Kadji Amin: »Genealogies of Queer Theory«, in: Siobhan B. Somerville (Hg.), The Cambridge Companion to Queer Studies, Cambridge: Cambridge University Press 2020, S. 17—29, hier S. 24.

23

Vgl. David L. Eng / Judith Halberstam / José Esteban Muñoz: »Introduction. What is Queer About Queer Studies Now?«, in: Social Text (84—85), 2005, S. 1—18, hier S. 3.

24

Vgl. Roderick A. Ferguson, 2004.

25

Vgl. Cathy Cohen, 1997. Fergusons Argument ist mit ihrem fast deckungsgleich.

26

Vgl. Roderick A. Ferguson, 2004.

27

Auch hier besteht eine Überschneidung von Fergusons Argument und dem von Cathy Cohen bereits einige Jahre zuvor formulierten.

28

Vgl. u.a. Fatima El-Tayeb, 2011; Zülfukar Çetin, 2012; Jin Haritaworn, 2015; Fatima El-Tayeb, 2016 und HeinzJürgen Voß / Zülfukar Çetin: Schwule Sichtbarkeit — schwule Identität. Kritische Perspektiven, Gießen: Psychosozial-Verlag 2016.

29

Roderick A. Ferguson, 2004, S. 17. Ferguson verwendet den Begriff der rassisierten Formation im Anschluss an Karl Marx und seinen Begriff der Gesellschaftsformation.

Vgl. Cathy Cohen, 1997.

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

Auseinandersetzung mit Homophobie gewidmet. This Bridge ist auch in gegenwärtigen theoretischen Arbeiten, die eine Queer of Color-Kritik formulieren, ein wichtiger Bezugspunkt. Gegenwärtige Queer of Color-Kritik kann somit in der Nachfolge von Women of Color Feminismus / Schwarzem Feminismus mit ihren starken Verbindungen zu Ansätzen der Standpunkttheorie verortet werden. Durch diesen theoretischen Kontext zeichnet sich bereits ab, dass es ein konflikthaftes Verhältnis zu poststrukturalistisch oder psychoanalytisch geprägten Ansätzen queerer Theoriebildung gibt, die eine anti-identitäre Position vertreten und sich dafür aussprechen, sämtliche Identitätskategorien zu dekonstruieren und nach Möglichkeit auf deren performative Wiederholung zu verzichten. 22 Verschiedene QTIBIPoC-Wissenschaftler_innen problematisieren dagegen, dass Queer Studies und queere Politiken intendieren eine Kritik ohne Subjekt zu sein,23 implizit jedoch weiße Positionen zentrieren. Verschränkungen von Sexualität und ›Rasse‹ Queer of Color-Kritik ermöglicht im Anschluss an Roderick Ferguson eine Forschungsperspektive, die Sexualität nicht losgelöst von ›Rasse‹ als Analysekategorie untersucht und umgekehrt in der Forschung zu ›Rasse‹ / Rassismus keinen heteronormativen Blick reproduziert.24 Ferguson ist sehr präzise in seiner Beschreibung und seinem Zusammendenken von Prozessen des Othering, insbesondere dem Zusammenwirken von Rassisierung, Konstruktion von Sexualität, Geschlecht und Heteronormativität sowie von Klasse und Staatsbürger_innenschaft (citizenship) und daraus hervorgehenden unterschiedlichen hierarchischen Positionierungen. Ähnlich wie es zuvor bereits Cathy Cohen25 dargelegt hat, erklärt Ferguson, dass ›rassisierte‹ Differenz konstruiert wird über die Betonung von Devianz in Bezug auf Sexualität und Gender, wie beispielsweise über Stereotypisierungen als ›triebhaft‹, ›sexuell aggressiv‹, oder als ›zu-viele-Kinder-bekommend‹.26 BIPoCs, auch heterosexuelle (!), fallen damit häufig aus den heteronormativen Konstruktionen ›normaler‹ Sexualität und Geschlechterperformanz sowie dem Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie heraus und werden als Bedrohung für heteronormative Moral und Ordnung dargestellt.27 Die Frage, wie ›anders‹ rassisierte, gegenderte und sexualisierte Formationen im Widerspruch zum bürgerlichen Ideal-Subjekt sowie zu kapitalistischen Freiheitsversprechen stehen, ist auch im deutschen und europäischen Kontext relevant und wird bereits seit einiger Zeit wissenschaftlich bearbeitet.28 Beispielsweise bestehen Zusammenhänge zwischen europäischem Nationbuilding und homonationalistischen Diskursen, wie ich weiter unten noch genauer ausführe. Ferguson hebt hervor, dass Queer of Color-Kritik die nichtnormativen Komponenten von »racial formations«29 in den Blick nehme, also in

121 30

Ebd. S. 29, eigene Übersetzung. Ferguson zitiert hier: Angela Davis: »Reflections on Race, Class, and Gender in the U.S.A. Interview with Lisa Lowe«, in: Lisa Lowe / David Lloyd (Hg.), The Politics of Culture in the Shadow of Capital, Durham, London: Duke University Press 1997, S. 303—323.

31

Vgl. Roderick A. Ferguson, 2004, S. 29.

32

Ich beziehe mich hier auf den Titel von Cathy Cohen, 1997.

33

Ebd.

34

Vgl. ebd.

35

Roderick A. Ferguson, 2004, S. 29, eigene Übersetzung. Ferguson zitiert hier: Angela Davis, 1997.

Queer of Color-Kritik und visuelle Kultur

anderen Worten untersucht, wie Konstruktionen von Differenz in Bezug auf ›Rasse‹ mit denjenigen in Bezug auf Geschlecht und Sexualität einhergehen. In diesem Sinn ist Sexualität eine wichtige Analysekategorie nicht nur für queere Theorie, sondern auch für Rassismustheorie. Das bedeutet, dass Queer of ColorKritik nicht nur die spezifische Situation einer marginalisierten Gruppe darstellt und analysiert, sondern dass sie breitere Gesellschaftsanalysen hervorbringen kann, in der Machtverhältnisse aus intersektionaler Perspektive beleuchtet werden. Das Potenzial von Queer of Color-Kritik besteht für Ferguson darin, sich weiter von Identitätspolitiken weg zu bewegen und stattdessen in Richtung »unwahrscheinlicher und beispielloser Bündnisse«30 zu bewegen, wie er mit Bezug auf Angela Davis argumentiert.31 Diese Aussage wird verständlicher, wenn ein Bezug zu Cathy Cohen hergestellt wird: Wenn beispielsweise sowohl »Dykes«32 als auch »Welfare Queens«33 unsoziale Ausgrenzung erfahren aufgrund als abweichend konstruierter Sexualität und Abweichung vom Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie34 — wie würde ein Bündnis aussehen, in dem beide Seite an Seite gegen diese Formen von Benachteiligung, Diskriminierung und Ausschluss kämpfen? Ein solches Bündnis ist insofern »unwahrscheinlich und beispiellos«,35 als dass Wege gefunden werden müssen, Trennungen durch unterschiedliche Positionierung in gesellschaftlichen Machtverhältnissen zu überwinden. Wenn klassistisch und rassistisch benachteiligte Frauen dennoch heterosexuell und potenziell homo- / transfeindlich sein können und wenn Lesben auch weiß und bürgerlich sein können und potenziell rassistisch und klassistisch, dann braucht es für ein erfolgreiches Bündnis eine solidarische, intersektional-perspektivierte politische Praxis. Mehrfachzugehörigkeit und Disidentifikation QTIBIPoCs machen häufig die Erfahrung, dass weder die Identifizierungsangebote der Mainstream-Gesellschaft noch subkulturelle und aktivistische Identifizierungsangebote, die auf einer (Haupt-)Identität für die gesamte Gruppe beruhen, in der Lage sind, komplexen Identifikationen gerecht zu werden. Audre Lorde hat sehr eindrücklich beschrieben, wie sie in den unterschiedlichen Kontexten, in denen sie sich bewegte, immer wieder dazu angehalten wurde, Teile ihrer Identität zurückzustellen und jeweils nur auf einen bestimmten Anteil zu fokussieren: »As a black lesbian feminist comfortable with the many different ingredients of my identity, and a woman committed to racial and sexual freedom from oppression, I find I am constantly being encouraged to pluck out some one aspect of myself and present it as a meaningful whole, eclipsing or denying the other parts of self.

122 36

Audre Lorde, 1995, S. 289.

37

›Wir‹ meint hier QTIBIPoCs und soll an dieser Stelle ausdrücken, dass ich mich selbst mit darunter fasse.

38

Vgl. José Esteban Muñoz, 1999.

39

José Esteban Muñoz, 1999, S. 93, eigene Übersetzung.

40

Ebd. S. 94—95. Im Englischen verwendet Muñoz das Wort misrecognition.

41

Vgl. José Esteban Muñoz, 2010 (1997), S. 237—238.

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

My fullest concentration of energy is available to me only when I integrate all the parts of who I am, openly, allowing power from particular sources of my living to flow back and forth freely through all my different selves, without the restrictions of externally imposed definition.«36 Für QTIBIPoCs ist es doppelt schwierig, Räume zu finden, in denen sie / wir37 mit allen Anteilen der eigenen Identität vorkommen können und willkommen sind, was sie / uns in die Situation bringt, sich in ständigen Aushandlungsprozessen in Bezug auf Identifikationsangebote und Anrufungen sowohl im Mainstream als auch in subkulturellen- oder CommunityRäumen zu befinden. Die Erfahrungen, die Audre Lorde beschreibt, lassen sich mit José Esteban Muñoz bezeichnen als »Disidentification«38 oder auf Deutsch als Disidentifikation. Dieser Begriff ist eines der zentralen theoretischen Werkzeuge im Kontext meiner Arbeit, den ich insbesondere in der Analyse der Arbeit JHAD von Hasan Aksaygın weiter vertiefe. Muñoz analysiert die vielschichtigen und komplexen (Dis-)Identifikationsprozesse, die es QTIBIPoCs ermöglichen, trotz problematischer Anteile und phobischer Aufladungen Wege zu finden, in bestimmten Räumen und Strukturen zu bleiben. Die komplexen Aushandlungsprozesse, die viele QTIBIPoCs und Menschen mit Mehrfachzugehörigkeiten in Bezug auf die eigene Identität vollbringen, verdeutlicht Muñoz mit autoethnografischen ›Anekdoten‹. Beispielsweise theoretisiert er seine eigenen Erfahrungen in der normativ weiß und heteronormativ geprägten Punkszene von L.A. in den 1980er Jahren. Er zitiert eine rassistische und homophobe Zeile aus einem Lied der Band X, und fragt, wie es für ihn als queere Person of Color möglich sein konnte, dass eine solche Band trotz ihrer homophoben und rassistischen Äußerungen zu dieser Zeit seine Lieblingsband war. Im Nachhinein sei ihm klar, dass er die Band X und die Punk-Subkultur gebraucht habe, um »den identitätsauslöschenden Effekten von Normativität standzuhalten«.39 Er analysiert seinen eigenen Umgang mit den phobischen Anteilen im Punk als »Fehlerkennung«40, die ihm erlaubt habe, sich selbst als etwas anderes, als rassisiert und queer zu imaginieren, also in einer Weise zu imaginieren, die es erlaubt, diese Äußerungen nicht auf sich selbst zu beziehen. Ein solches Selbstbild, bei dem rassistisches und heterosexistisches Othering ausgeblendet werden kann, kommt jedoch zu einem hohen Preis, nämlich dem der Verleugnung oder Abspaltung von Anteilen des ›Selbst‹.41

123 42

José Esteban Muñoz, 2010 (1997), S. 237.

43

Ebd. S. 237—238.

44

Vgl. Kaja Silverman, 1997 und Kaja Silverman, 1996. Siehe außerdem: Johanna Schaffer, 2008.

45

José Esteban Muñoz: »›The White to Be Angry‹. Vaginal Creme Davis’s terrorist drag«, in: Amelia Jones (Hg.), The Feminism and Visual Culture Reader, London, New York: Routledge 2010, S. 237—248.

46

Ebd. S. 11. Er bezieht sich auf: Michel Pêcheux: Language, Semantics and Ideology, New York: St. Martin’s Press 1982.

47

Ebd.

Queer of Color-Kritik und visuelle Kultur

»The contradictory subjectivity one is left with is not just the fragmentary subjectivity of some unspecified postmodern condition; it is instead the story of the minoritarian subject within the majoritarian public sphere.«42 Fehlerkennung ist jedoch nicht ausschließlich das unhinterfragte Anpassen an Logiken und Subjektentwürfe der Dominanzkultur, das Ticket in den Mainstream. Muñoz räumt auch die Möglichkeit ein, dass dies eine widerständige Strategie sein kann. Er schreibt: »Sometimes misrecognition can be tactical. Identification itself can also be manipulated and worked in ways that promise narratives of self that surpass the limits prescribed by the dominant culture.«43 Genau in diesem Punkt interessieren mich Praxen der Identifikation und Disidentifikation: Wie nutzen QTIBIPoC-Künstler_innen Praxen von taktischen Fehlerkennungen, Disidentifikationen oder auch Identifikationen in einer Weise, die es ermöglicht, die durch die Dominanzkultur vorgegebenen Grenzen, Rollen oder auch Blickregime44 zu überschreiten? Welche Brüche und Verschiebungen lassen sich dadurch bewirken? Wie kann dominanzkulturellen Anrufungen widerstanden werden, wie können passendere Selbst-Entwürfe aussehen, die minorisierte Subjekte nicht zwingen, Teile des Selbst zu verleugnen oder abzuspalten? Was genau ist also Disidentifikation? Eine recht kurze, jedoch komplexe Definition lautet: »Disidentification is a performative mode of a tactical recognition that various minoritarian subjects employ in an effort to resist the oppressive and normalizing discourse of dominant ideology. Disidentification resists the interpellating call of ideology that fixes a subject within the state power apparatus. It is a reformatting of self within the social. It is a third term that resists the binary of identification and counteridentification.«45 Disidentifikation ist mit Michel Pêcheux, von dem Muñoz seine Theorie ableitet, ein Modus der Subjektivierung, der weder den Weg der Identifikation mit dominanter Ideologie als »gutes Subjekt«46 begeht, noch den der Gegenidentifikation als »schlechtes Subjekt«47, das gegen die herrschende Ideologie in einer Weise rebelliert, die diese implizit wieder affirmiert: »Instead of buckling under the pressure of dominant ideology (identification, assimilation) or attempting to break free of its inescapable sphere (counteridentification,

124 48

Ebd. S. 12.

49

Vgl. ebd. S. 11.

50

Cathy Cohen, 1997, S. 450.

51

Vgl. José Esteban Muñoz, 1999, S. 8.

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

utopianism), this ›working on and against‹ is a strategy that tries to transform a cultural logic from within, always laboring to enact permanent structural change while at the same time valuing the importance of local or everyday struggles of resistance.«48 Disidentifikation ist in diesem Sinn ein dritter Weg zwischen Identifikation und Gegenidentifikation.49 Diese Definition wird jedoch noch erweitert. Während man kritisch fragen kann, inwieweit es tatsächlich möglich ist, kulturelle Logiken von innen heraus zu transformieren, um permanenten strukturellen Wandel zu erreichen, ist der Begriff der Disidentifikation dennoch sehr produktiv gerade in der spezifischen Frage nach Politiken von minorisierten Subjekten wie QTIBIPoC, die von Mehrfachdiskriminierung betroffen sind. Für solche Subjekte stehen nämlich häufig die Optionen von Identifikation bzw. Assimilation auf der einen Seite und Gegenidentifikation / vollständige Ablehnung auf der anderen Seite gar nicht zur Verfügung. Denn Identifikation oder Assimilation mit den Interpellationen der dominanten Ideologie würde für QTIBIPoCs eine Identifikation mit einem gewaltvollen Fremdbild als Selbstbild bedeuten oder einen Verlust von ›Selbst‹ bzw. einem Anteil davon. Gegenidentifikation als Ablehnung sämtlicher gewaltförmiger oder phobischer Anrufungen würde möglicherweise bedeuten, dass auch Räume wegfallen, in denen zumindest ein Anteil der eigenen Identität gestärkt werden kann. Das kann auch zur Folge haben, dass gar keine Räume mehr bleiben. Cathy Cohen erläutert dieses Problem in ihrer Begründung, warum es keine Option ist, auf Räume und Communitys zu verzichten, die auf (Identitäts-)Kategorien und um geteilte Widerstandsgeschichten herum strukturiert sind, weil dies für sie unter anderem eine Frage der Sicherheit ist: »Because of my multiple identities, which locate me and other ›queer‹ people of color at the margins in this country, my material advancement, my physical protection and my emotional well-being are constantly threatened. In those stable categories and named communities whose histories have been structured by shared resistance to oppression, I find relative degrees of safety and security.«50 Muñoz analysiert die vielschichtigen und komplexen (Dis-)Identifikationsprozesse, die es QTIBIPoCs ermöglichen, trotz problematischer Anteile und phobischer Aufladungen Wege zu finden, in bestimmten Räumen und Strukturen zu bleiben. Er entwickelt eine intersektionale Analyseperspektive für Politiken minorisierter Subjekte im Aushandeln von Anrufung und Identifikation.51 Mit Bezug auf Eve Kosofsky Sedgwick argumentiert er:

125 52

Ebd.

53

Die Betonung der Performativität von Disidentifikation ist zum einen in der disziplinären Verortung von Muñoz in den Performance Studies begründet, zum anderen queer-theoretisch fundiert.

54

Zur Bedeutung von Disidentification für queere Performance Künstler_innen of Color vgl. u.a. Brittany Chávez: »A Living Legacy: What Disidentification Will Continue to Mean for Queer Performance Artists of Color«, in: QED: A Journal in GLBTQ Worldmaking 1 (3), 2014, S. 150—153.

55

Vgl. Sara Ahmed, 2006.

56

José Esteban Muñoz, 1999, S. 161.

Queer of Color-Kritik und visuelle Kultur

»Identification [...] is never a simple project. Identifying with an object, person, lifestyle, history, political ideology, religious orientation, and so on, means also simultaneously and partially counteridentifying, as well as only partially identifying, with different aspects of the social and psychic world. Although the various processes of identification are fraught, those subjects who are hailed by more than one minority identity component have an especially arduous time of it.«52 Disidentifikation muss verstanden werden als performativer Umgang53 mit hegemonialen Machtverhältnissen und damit einhergehenden Subjektivierungen und nicht etwa in einem essentialistischen Sinn als Praxis, die beispielsweise QTIBIPoCs einfach ›haben‹ aufgrund ›ihrer‹ vermeintlichen Identität, Kultur, ›Natur‹. Dem zu Grunde liegt ein Subjektbegriff, bei dem das Subjekt — gerade das minorisierte / marginalisierte Subjekt — über ein gewisses Maß an Handlungsfähigkeit oder Agency verfügt. Deswegen ist der Begriff Disidentifikation besonders relevant für die Beschreibung von performativen Praktiken minorisierter Subjekte im Umgang mit strukturellen Machtverhältnissen, denn er ermöglicht die Problematisierung von Machtverhältnissen und Mehrfachdiskriminierungen, ohne Betroffene zu viktimisieren und zu objektifizieren.54 Wenn eine QTIBIPoC-Subjektposition bedeutet, strukturell von Mehrfachdiskriminierung betroffen zu sein und in der dominanzkulturellen Öffentlichkeit, aber auch in Community-Räumen marginalisiert zu sein, dann ist sie keineswegs außerhalb von Ideologie und dominanten Diskursen. Diese Subjektposition verfügt aber über einen anderen Blickwinkel innerhalb diskursiver Machtstrukturen — und damit potenziell über ein anderes, (ideologie-)kritisches Verständnis in Bezug auf die Art und Weise, wie diese Machtstrukturen und damit einhergehende Ordnungen (re-)produziert werden. Mit Bezug auf Sara Ahmed lässt sich auch argumentieren: Sie ermöglicht andere Orientierungen.55 Muñoz antizipiert in seinem Buch Disidentifications bereits einen möglichen Hype um den Begriff und verdeutlicht, dass er ihn in einem machtkritischen Sinn verstanden wissen will: »Let me be clear about one thing: disidentification is about cultural, material, and psychic survival. It is a response to state and global power apparatuses that employ systems of racial, sexual, and national subjugation. These routinized protocols of subjugation are brutal and painful. Disidentification is about managing and negotiating historical trauma and systemic violence.«56

126

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

Der Begriff der Disidentifikation beschreibt einen spezifischen Umgang minorisierter Subjekte mit strukturellen Machtverhältnissen. Diese Machtverhältnisse, oder »Machtapparate«57, wie Muñoz sie hier nennt, sind gewaltvoll und brutal, weswegen einer Romantisierung von Disidentifikation als cooler, subversiver Praxis widerstanden werden muss. Disidentifikation ist explizit eine Überlebensstrategie und nicht (nur) eine freiwillig gewählte kritische Haltung. Muñoz Theorie der Disidentifikation leistet einen Beitrag zum Verständnis davon, wie QTIBIPoCs sich mit Queerness und Ethnisierungen / Ethnizität(en) bzw. ›Rasse‹ / Rassisierungen identifizieren trotz »phobischer Aufladung«58 in beiden Bereichen. Mit den phobischen Aufladungen ist erstens Rassismus und normatives Weißsein in queeren Kontexten, beispielsweise in den akademischen Queer Studies aber auch in der nordamerikanischen queeren Subkultur gemeint. Letzteres verdeutlicht Muñoz am Beispiel einer Passage aus Marlon Riggs Film Tongues Untied (USA 1989). Darin beschreibt Riggs seine Eindrücke und Erfahrungen als Schwarzer schwuler Mann im Castro-Viertel59 in San Francisco (dem schwulen / queeren Viertel bzw. der Gaybourhood) mit den ernüchternden Worten »[...] in this gay mecca I was an invisible man [...] I was a n*, still«.60 Ähnliche Kritiken an normativem Weißsein und Kompliz_innenschaft weißer Queers in rassistischen Diskursen sind auch im deutschen und europäischen Kontext laut geworden und in Teilen auch wissenschaftlich bearbeitet.61 Zweitens existieren für Muñoz phobische Aufladungen in Form von patriarchalen und heteronormativen Strukturen innerhalb antirassistischer und antikolonialer emanzipatorischer Bewegungen, innerhalb von BIPoC-Communitys sowie innerhalb rassismuskritischer, post- und dekolonialer Literatur. Diese können es für QTIBIPoC, aber auch für heterosexuelle (Cis-)Frauen of Color, Indigenous oder Schwarze Frauen, schwer machen, sich darin wiederzufinden. Ein Beispiel dafür ist das Narrativ, Homosexualität sei ein weißes oder westliches Phänomen — und damit eine koloniale sexuelle Praxis, das in einigen ehemalig kolonisierten Ländern verbreitet ist.62 Dekolonisierung und Emanzipation von Subjekten, die in Bezug auf Sexualität minorisiert sind, werden durch eine solches Narrativ als gegensätzlich konstruiert. Das bedeutet wiederum, dass Schwarze Queers / trans* Personen sich damit disidentifizieren müssen, um eine Identität anzunehmen, die sowohl queer als auch dekolonial emanzipiert ist. Das Problem mit universalistischen Tendenzen innerhalb queer-theoretischer Diskurse wird durch queere Wissenschaftler_innen des Globalen Südens besonders eindrücklich: so kritisiert beispielsweise der südafrikanische queere Wissenschaftler Thabo Msibi das USA-zentristische Vokabular queerer Theorie als unzureichend für die Analyse von »Homosexualität in Afrika«.63 Es braucht

57

Ebd. S. 161.

58

José Esteban Muñoz, 1999, S. 11.

59

Zum Castro-Viertel und Fragen nach kolonialen Logiken und rassistischer Verdrängung in der Schaffung eines schwul-lesbisch-queeren Viertels als Schutzraum und Rückzugsort im Zusammenhang mit Gentrifizierung schreibt auch Jin Haritaworn. Vgl. Jin Haritaworn, 2015, S. 36—39 und 43—47.

60

Tongues Untied (Regie: Marlon Riggs USA 1989) — zitiert nach José Esteban Muñoz, 1999, S. 9. Muñoz schreibt beim Zitieren von Marlon Riggs das N-Wort aus, was ich als Person, die nicht Schwarz ist, jedoch vermeide.

61

Vgl. hierzu u.a. Jin Haritaworn / Tamsila Tauqir / Esra Erdem, 2007; Newroz Çelik / Jennifer Petzen / Ulaş Yılmaz / Koray Yılmaz-Günay / GLadT e.V.: »Kreuzberg als Chiffre — Von der Auslagerung eines Problems bei der Thematisierung von homophober Gewalt«, in: apabiz e.V. / MBR (Hg.), Berliner Zustände 2008. Ein Schattenbericht über Rechtsextremismus, Rassismus und Homophobie, Berlin 2008, S. 22—28; Fatima El-Tayeb, 2011; Koray YılmazGünay (Hg.): Karriere eines konstruierten Gegensatzes: zehn Jahre »Muslime versus Schwule«. Sexualpolitiken seit dem 11. September 2001, Berlin 2011; Zülfukar Çetin, 2012; Jin Haritaworn: Queer Lovers and Hateful Others. Regenerating Violent Times and Places, London: Pluto Press 2015 und HeinzJürgen Voß / Zülfukar Çetin, 2016.

62

Vgl. u.a. Thabo Msibi: »The Lies We Have Been Told: On (Homo)Sexuality in Africa«, in: Africa Today 58 (1), 2011, S. 54—77 sowie Keguro Macharia: »Archive and Method in Queer African Studies«, in: Agenda — Empowering Women for Gender Equity 29 (1), 2015, S. 140—146.

63

Vgl. Thabo Msibi, 2011.

127 64

Vgl. u.a. Jin Haritaworn / Tamsila Tauqir / Esra Erdem, 2007; Zülfukar Çetin, 2012; Rahul Rao: »Echoes of Imperialism in LGBT Activism«, in: Kalypso Nicolaïdis / Berny Sèbe / Gabrielle Maas (Hg.), Echoes of Empire. Memory, Identity and Colonial Legacies, London: I.B. Tauris 2015, S. 355—372 sowie Heinz-Jürgen Voß / Zülfukar Çetin, 2016. Diese Beiträge konzentrieren sich stärker auf antimuslimischen Rassismus in LSBTQOrganisationen. Insgesamt gibt es bisher nur wenige wissenschaftliche Studien, die eine rassismuskritische / postkoloniale Perspektive auf internationalen queeren Menschenrechts-Aktivismus werfen. Gemeint sind hier u.a. solche Rhetoriken, die Stereotype bedienen, in denen BIPoCs als Täter oder Opfer konstruiert werden, während weiße queere Subjekte zu Retter_innen werden.

65

Vgl. Frantz Fanon: Black Skin, White Masks, London: Pluto Press 1986 (1967).

66

Muñoz verwendet die Bezeichnung Queer of Color, ich schreibe trotzdem QTIBIPoC, wie es gegenwärtig die geläufige Bezeichnungspraxis innerhalb der entsprechenden Communitys ist, da aus seinen Texten hervorgeht, dass bei Muñoz diese Identitäten im Begriff Queer of Color mitgedacht sind und Bezeichnungspraxen sich ändern.

67

Darin werde, so Muñoz, Homosexualität als weißes Importprodukt abqualifiziert. José Esteban Muñoz, 1999, S. 9.

68

Ebd.

Queer of Color-Kritik und visuelle Kultur

Analysen von Homo- / Transfeindlichkeit, sowie einen queeren Aktivismus, der keine kolonialen Rhetoriken bedient, wie es häufig in Diskursen (weißer) queerer Organisationen der Fall ist.64 Ein weiteres Beispiel in diesem Zusammenhang, das durch Muñoz eingebracht und diskutiert wird, ist das Buch Black Skin, White Masks65 des antikolonialen Theoretikers Frantz Fanon. Muñoz erörtert, wie QTIBIPoC66 die homophoben67 und sexistischen Anteile innerhalb Fanons Ausführungen navigieren und veranschaulicht daran die Notwendigkeit und die Potenziale von Disidentifikation: »Think, for a moment, of the queer revolutionary from the Antilles, perhaps a young woman who has already been burned in Fanon’s text by his writing on the colonized woman. What processes can keep an identification with Fanon, his politics, his work possible for that woman? In such a case, a disidentification with Fanon might be one of the only ways in which she is capable of reformatting the powerful theorist for her own project, one that might be as queer and feminist as it is anticolonial. Disidentification offers a Fanon, for that queer and lesbian reader, who would not be sanitized; instead his homophobia and misogyny would be interrogated while his anticolonial discourse was engaged as a still valuable yet mediated identification. This maneuver resists an unproductive turn toward good dog / bad dog criticism and instead leads to an identification that is both mediated and immediate, a disidentification that enables politics.«68 Disidentifikation ermöglicht für Muñoz einen Zugang zu Fanon, der es möglich macht, seine Theorien als bedeutsame analytische Werkzeuge für antikoloniale Kämpfe zu nutzen, anstatt sie aufgrund von Misogynie oder Homofeindlichkeit komplett zu verwerfen. Durch die disidentifikatorische Lektüre wird Fanons Theorie jedoch auch umgearbeitet und erweitert, ohne dabei die problematischen Anteile zu ignorieren oder über sie hinwegzusehen. Disidentifikatorische Kritik beinhaltet damit auch immer eine Form der Arbeit und produktive Momente, aus denen etwas Neues entstehen kann. Genau in diesem Punkt ist die disidentifikatorische Kritik bzw. Lektüre bedeutsam für die Analyse von Kunst aus QTIBIPoC-Perspektiven, denn sie ermöglicht eine Lesart der künstlerischen Arbeiten als eine Form der Wissensproduktion, die zu Veränderung beitragen kann. Wie das Beispiel von Muñoz in Bezug auf den Umgang mit misogynen oder homofeindlichen Anteilen innerhalb der dekolonialen Theorie Fanons zeigt, beinhaltet eine Queer of Color-Kritik notwendigerweise auch kritische

128

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

69

Auseinandersetzungen mit Heterosexismus innerhalb von (post-)migrantischen und BIPoC-Communitys.69 Eine Communityspezifische Aufklärungsarbeit und kritische Arbeit an Homound Transfeindlichkeit in den eigenen Communitys waren und sind auch für QTIBIPoC-Aktivismus im deutschen Kontext wichtige Themen.70 Jedoch ist in den letzten Jahren das Bewusstsein gewachsen, dass eine solche Arbeit in einer Weise geschehen muss, die vermeidet, den rassistischen Stereotypen von (Post-)Migrant_innen und BIPoC als ›besonders homophob‹ zuzuspielen.71 Es gilt zu verhindern, dass heterosexuelle und / oder cis-geschlechtliche BIPoC und queere / trans* / inter / non-binary BIPoC gegeneinander ausgespielt werden. Der im deutschen und europäischen Kontext geführte Diskurs um ›homophobe Migranten‹72 kann mit Jasbir Puar als »Homonationalismus«73 beschrieben werden. Puar arbeitet eine Verschiebung in den Diskursen zu Sicherheit, Patriotismus und Nation in den USA seit dem 11. September 2001 heraus. Bestimmte weiße queere Subjekte werden zu Nutznießer_innen und Kompliz_innen in nationalistischen Konstruktionen, sie erhalten erstmals Anerkennung als zugehörig zur Nation und als schützenswert und bekommen auf dieser Basis mehr Rechte eingeräumt. Ein Teil der (weißen) queeren Subjekte wird auf diese Weise zugehörig zu einem nationalen ›Wir‹, das es zu verteidigen und zu schützen gilt gegen ein rassifiziertes ›Anderes‹, ein ›Die‹. Dies passiere mittels Homonationalismen, die die Funktion haben zwischen ›richtigen‹ heterosexuellen und nun auch homosexuellen Patriot_innen, und den als ›pervers‹ sexualisierten und rassifizierten »terrorist look-alikes«74, also muslimisch-gelesenen BIPoC, zu unterscheiden. Jin Haritaworn hat diese Entwicklung zugespitzt benannt als »das Drama von queer lovers and hateful Others«75

In diesem Punkt zeichnen sich Verbindungslinien ab u.a. zu Schwarzer feministischer Kritik und zu Schwarzen queer-theoretischen Untersuchungen von Männlichkeitskonstruktionen. Vgl. u.a. Kobena Mercer / Isaac Julien, 1994.

70

LesMigraS achtet beispielsweise sehr auf Mehrsprachigkeit beim Angebot sowohl von Beratungen als auch bei Informationsmaterial in Form von Broschüren.

71

Eine Queer of Color-Kritik in Deutschland entbrannte insbesondere um Rassismus in der Schwulen- und Lesbenszene und den Diskurs ›Schwule vs. Muslime‹ in dem in verschiedenen Veröffentlichungen des LSVD und der Siegessäule (weiße) Schwule als Opfer ›muslimischer Homophobie‹ und (vermeintliche) Muslime als Täter konstruiert wurden. Im gleichen Atemzug werden Muslime pauschal als heterosexuell konstruiert und aus queeren Zusammenhängen ausgeschlossen. Muslimische Schwule, Lesben, Bisexuelle und trans* Personen kamen entweder gar nicht vor, oder wurden als unterdrückte Opfer dargestellt, die es zu befreien gelte. Auch muslimische heterosexuelle Frauen fallen aus dieser Konstruktion heraus und werden oft als ›unterdrückt‹, ›unemanzipiert‹ und als ›Opfer‹ repräsentiert. Die Kritik an Rassismus in LSBTIQZusammenhängen erreichte 2010 einen Höhepunkt, als Judith Butler, angeregt durch die Berliner Gruppe SUSPECT, den Zivilcourage-Preis des Berliner CSD ablehnte. Vgl. http://nohomonationalism. blogspot.com/, vom 11.11.2019.

72

Vgl. Jin Haritaworn / Tamsila Tauqir / Esra Erdem, 2007; Jin Haritaworn: »Queer Injuries: The Racial Politics of ›Homophobic Hate Crime‹ in Germany.«, in: Social Justice. Sexuality, Criminalization and Social Control Action Research 37 (1 (119)), 2010, S. 69—89. Haritaworn vertieft die Analysen der Diskurse um ›homophobe Migranten‹ und Hasskriminalität in Verbindung mit Fragen nach Gentrifizierungsprozessen in Berlin: Vgl. Jin Haritaworn, 2015.

73

Vgl. Jasbir K. Puar: Terrorist assemblages. Homonationalism in queer times, Durham, London: Duke University Press 2007.

74

Der Ausdruck wird von Jasbir Puar in Terrorist assemblages immer wieder verwendet.

75

Jin Haritaworn, 2015, S. 95.

76

Ebd.

»The drama of queer lovers and hateful Others is crucial in the conversion of queer intimacy from perversion into love. The queer lover requires the simultaneous emergence of a hateful Other who is already disposable to the neoliberal multicultural community [...]. In this, straight people of colour — always already homophobic — are not only the affect aliens forced to bear the residue of gender violence in the newly gay-friendly context. Queers of colour, too, emerge as unrecognisable — and threatening — to queer structures of love and happiness.«76 Das rassistische Stereotyp des ›homophoben Migranten‹ funktioniert so, dass BIPoCs und insbesondere Muslim_innen bzw. als solche gelesenen Menschen

129 77

Vgl. Zülfukar Çetin, 2012.

78

Vgl. u.a. Koray Yılmaz-Günay, 2011.

79

Marlen Vahle hat exemplarisch einen Fall aus der Beratungspraxis des Kölner Flüchtlingsrats e.V. analysiert, bei dem der Asylantrag einer lesbischen Marokkanerin vom BAMF abgelehnt wurde. In der Begründung habe es geheißen, dass der Antragstellerin in Marokko keine Verfolgung drohe, solange sie ihre Sexualität im Verborgenen lebe. Wie Vahle mit Verweis auf Erfahrungen aus der Arbeit des Kölner Flüchtlingsrats e.V. klarstellt, handelt es sich hier nicht um einen Einzelfall. Vgl. Marlen Vahle: »Sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität als Fluchtgründe. Rechtliche Situation«, in: Carolin Küppers (Hg.), Refugees & Queers. Forschung und Bildung an der Schnittstelle von LSBTTIQ, Fluchtmigration und Emanzipationspolitiken, Bielefeld: transcript 2019, S. 117—125.

80

Vgl. u.a. Fatima El-Tayeb, 2011.

81

Vgl. Jin Haritaworn, 2010.

82

Vgl. Fatima El-Tayeb, 2011; Joanna Mizielinska (Hg.): De-Centering Western Sexualities: Central and Eastern European Perspectives, Farnham: Ashgate 2016.

83

Die Art und Weise, wie Europa in Menschenrechtsdiskursen zu Homosexualität (und inzwischen auch Transsexualität) als progressiv konstruiert wird, bearbeiten einige Autor_innen. Vgl. u.a. Fatima El-Tayeb, 2011; Philip M. Ayoub / David Paternotte: »Introduction«, in: Philip M. Ayoub / David Paternotte (Hg.), Gender and the Making of Europe. A Rainbow Europe?, Basingstoke: Palgrave MacMillan 2014, S. 1—25; Jon Binnie / Christian Klesse: »Researching Transnational Activism around LGBTQ Politics in Central and Eastern Europe. Activist Solidarities and Spatial Imagings«, in: Joanna Mizielinska (Hg.), De-Centering Western Sexualities: Central and Eastern European Perspectives, Farnham: Ashgate 2016, S. 107—130.

84

Auf das Londoner QTIBPoC Künstler_innen-Kollektiv Collective Creativity, ein Londoner QTIBPoC Künstler_innen-Kollektiv, und ihre Arbeit bin ich bereits weiter oben im Kapitel Strukturelle Ein- und Ausschlüsse und materielle Effekte von Rassismus und Heterosexismus in Institutionen des Kunstbetriebs oder: Why have there been no great QTIBIPoC artists? eingegangen.

Queer of Color-Kritik und visuelle Kultur

eine religiös- und / oder kulturell-bedingte Homophobie zugesprochen wird. Es besagt, dass die Wurzel ›ihrer‹ Homophobie in der Religion oder Kultur zu finden sei, nicht in der allgemeinen Heteronormativität.77 Der diesem Narrativ zugrundeliegende Rassismus wird umso deutlicher, wenn bedacht wird, dass das Christentum zutiefst durchzogen ist von Homophobie, weißen christlich sozialisierten Menschen jedoch nicht pauschal eine solche religiös-kulturell bedingte Homophobie zugeschrieben wird. Die ›Toleranz‹ für Homosexualität wurde spätestens ab den 2000er Jahren zunehmend konstruiert als gesellschaftlicher Konsens in Deutschland und Europa; Muslim_innen passen entsprechend einer Logik, die sie pauschal als ›homophob‹ konstruiert und damit zugleich heterosexualisiert, nicht in die homo-tolerante deutsche Mehrheitsgesellschaft.78 Somit wird der Diskurs um ›homophobe Migranten‹ zu einem Werkzeug für den Ausschluss von Muslim_innen bis hin zur Legitimation von Abschiebung und — in Verbindung mit aktuellen Bestrebungen zu einer Verschärfung einer speziellen Hasskriminalitäts-Gesetzgebung — auch von Inhaftierungen. Dies ist besonders paradox, wenn gleichzeitig immer wieder auch queere Geflüchtete abgeschoben werden, denen in ihren Herkunftsländern Gewalt und Verfolgung drohen.79 Deutschland und Teile Europas können sich ein Image als ›bunt‹ und ›divers‹ schaffen, ohne dass es dafür BIPoCs bräuchte. Stattdessen werden — bestimmte — queere Körper assimiliert.80 Assimilierbar sind jedoch vor allem nicht-behinderte, weiße Schwule und Lesben der Mittelschicht, die in einer monogamen Partnerschaft leben, sich ›lieben‹ ohne sich zu offen sexuell zu zeigen.81 Das bedeutet, dass durch die Konstruktion von Europa als homophilem Hort der Menschenrechte82 Homofeindlichkeit ausgelagert wird als Problem der ›Anderen‹, sprich der nicht-weißen, insbesondere der muslimischen Menschen in Europa.83 Ein Sprechen über Homo- und Transfeindlichkeit innerhalb von BIPoC-Communitys wird dadurch erschwert, denn es droht die Bestätigung oder gar Verschärfung rassistischer Narrative. Raju Rage benennt eine ähnliche Schwierigkeit des Äußerns von queerer Kritik, mit der er_ und sein_ Kollektiv84 sich im Zuge ihrer Recherchen zum British Black Arts Movement konfrontiert sahen. Sie stellten kritisch fest, dass die Beiträge von Frauen und Queers zum British Black Arts Movement entweder Leerstellen darstellen oder nur wenig anerkannt wurden und werden. Aber wie lässt sich eine solche Kritik formulieren, ohne dabei das ohnehin nicht ausreichend gewürdigte British Black Arts Movement und dessen Bedeutung für jüngere Generationen von BIPoC-Künstler_innen und für die Kunstgeschichte Britanniens zu diskreditieren? Raju Rage erklärt:

130

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

85

Sandrine Micossé-Aikins / Raju Rage / Rena Onat, 2017, S. 70.

86

Jin Haritaworn, 2015, S. 13.

»I think we are also struggling in terms of how can you have a language to voice these issues within our communities, to talk about how difficult it is as queer artists of color, without taking away from the work of previous generations or feeding negative stereotypes about people of color. I think there is this fear of being further marginalized, which is why you don’t want to speak about those issues, because if you do, people will marginalize us even more and we want to be empowered, we want to be strong.«85

87

Ebd., eigene Übersetzung.

88

Ahmed verweist in diesem Zusammenhang auch auf den Namen des feministischen Verlags Kitchen Table: Women of Color Press, der von der Schwarzen Feministin Barbara Smith mitgegründet wurde.

89

Vgl. Sara Ahmed, 2006.

90

Jin Haritaworn / Tamsila Tauqir / Esra Erdem, 2007.

91

Der Begriff der Opazität ist geprägt vom dekolonialen Theoretiker Eduard Glissant und wird von einigen Theoretiker_innen und Künstler_innen aufgegriffen. Glissant wendet sich damit gegen die Vorstellung, dass Gerechtigkeit und ein respektvoller Umgang durch Kenntnis des ›Anderen‹ erreicht werden könnte bzw. dies die Voraussetzung sei. Stattdessen postuliert er ein Recht auf Opazität. Opak ist beispielsweise Milchglas, es ist nicht ganz durchsichtig. Opazität ist damit auch ein Zustand zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit was den Begriff wiederum interessant macht für Studien zur visuellen Kultur. Vgl. Édouard Glissant: Poetics of Relation, Ann Arbor: The University of Michigan Press 2010.

Queer of Color-Kritik kann somit nicht ohne weiteres in allen Räumen produziert werden. Jin Haritaworn betont im Buch Queer Lovers and Hateful Others die Relevanz von »Küchentischgesprächen«86 für QTIBIPoC-Wissensproduktion und sensibilisiert für Gefahren, wenn QTIBIPoC-Wissen »den Küchentisch verlässt«.87 Sara Ahmed, die ebenfalls den Küchentisch theoretisiert — als Objekt und als Oberfläche auf der feministisches Wissen produziert werden kann88 — ergänzt eine weitere Dimension zur Frage nach den Artikulationsmöglichkeiten von QTIBIPoC-Wissen, nämlich die, welche Objekte solche Artikulationen ermöglichen oder begünstigen.89 Der Küchentisch war und ist immer wieder ein Objekt, welches Queer of ColorKritik ermöglicht hat. Welche Kunstobjekte ermöglichen Queer of Color-Kritik? Die Schwierigkeit eine Sprache zu finden, um Probleme mit Sexismus, Homophobie oder Transphobie anzusprechen und dabei zu vermeiden, rassistische Stereotype über Schwarze Menschen und Menschen of Color zu bestätigen, zeigt erneut, was für komplexe und schwierige Aushandlungsprozesse QTIBIPoCs vollbringen müssen. Ein weiteres Beispiel dafür ist die paradoxe Gleichzeitigkeit von weitestgehender Unsichtbarkeit auf der einen Seite und einem großen Interesse an QTIBIPoCs als ›Hyper-Unterdrückte‹ und damit als handlungsunfähige Opfer auf der anderen Seite.90 Dies bedeutet gerade für QTIBIPoC-Künstler_innen die Herausforderung, künstlerisch Sichtbarkeiten oder Opazitäten91 zu schaffen, ohne dabei die Hypervisibilität des unterdrückten Opfers zu verschärfen oder andere Stereotype zu bedienen. Außerdem kann ein ›Mehr‹ an Sichtbarkeit auch zu einer größeren Vulnerabilität führen, statt nur eine verbesserte politische Teilhabe zu bewirken. Jin Haritaworn, Fatima El-Tayeb und Paola Bacchetta weisen darauf hin, dass aufgrund der vielfachen Ausschlüsse (z.B. aus dem Staatskörper über Konstruktionen als ›Ausländer‹, ›Migrant_innen‹, etc.) und Negierungen (z.B., dass Schwarzsein und Deutschsein als sich wechselseitig ausschließend konstruiert sind) die Erfahrung von (europäischen) BIPoCs im

131 92

Die drei Autor_innen verwenden die Bezeichnung Queer of Color — zum Zeitpunkt des Erscheinens ihres Textes war es die geläufige Selbstbezeichnung, die Trans* und Schwarze eingeschlossen hat. Zur besseren Übersichtlichkeit und um zu unterstreichen, dass die Autor_innen hier keinen Ausschluss vornehmen, verwende ich auch beim Paraphrasieren die gegenwärtig geläufige Selbstbezeichnung QTIBIPoC.

93

Paola Bacchetta / Fatima El-Tayeb / Jin Haritaworn, 2015, S. 773.

94

Vgl. ebd.

95

Sara Ahmed, 2006, S. 106.

96

Der Begriff ist, wie bereits erwähnt, in beiden Büchern von Muñoz zentral. Ich verwende ihn im Folgenden immer mit Bezug auf Muñoz. Vgl. José Esteban Muñoz, 1999 und José Esteban Muñoz, 2009.

97

José Esteban Muñoz, 1999, S. 200.

98

Vgl. José Esteban Muñoz, 2009.

Queer of Color-Kritik und visuelle Kultur

Allgemeinen und insbesondere von QTIBIPoC92 geprägt sei durch »not belonging«93, mit einer Hervorhebung des not. Die (Alltags-)Erfahrung von (QTI)BIPoC im europäischen Kontext und damit verbundene Subjektivierungsprozesse unterscheiden sich in diesem Punkt also fundamental von denen weißer (queerer und trans*) Subjekte im europäischen Kontext. Aus der Nicht-Zugehörigkeit in queere Welten Die Frage des Belonging oder Not-belonging hat eine räumliche Dimension: Zu und in welchen Räumen können sich (QTI)BIPoC zugehörig oder beheimatet fühlen? In welchen Räumen bleiben Gefühle von Zuhausesein, Zugehörigsein oder Angekommensein unangefochten? So argumentieren die drei weiter, dass es für QTIBIPoCs keine vorhandenen Strukturen gibt, die einfach bewohnt (inhabit) werden können, sondern dass Strukturen und Räume von QTIBIPoCs immer selbst geschaffen oder reappropriiert werden müssen.94 Während QTIBIPoCs beständig selbst Räume schaffen müssen, die ›bewohnbar‹ sind und häufig nur temporär bestehen, ist die Heterowelt »already in place«95, wie Sara Ahmed argumentiert. Das macht QTIBIPoCs potenziell jedoch auch zu Expert_innen für »queer worldmaking«96: »Queers of color and other minoritarians have been denied a world. Yet, these citizen subjects are not without resources — they never have been. [They] are not content merely to survive, but instead use the stuff of the ›real world‹ to remake collective sense of ›worldness‹ through spectacle, performances, and willful enactments of self for others. The minoritarian subject employs disidentification as a crucial practice of contesting social subordination through the project of worldmaking.«97 Queeres Worldmaking ist ganz konkret zu verstehen als Arbeit, durch die eine andere Welt geschaffen wird, eine, die bewohnbarer und lebbarer ist für QTIBIPoCs. Eine solche Welt mag ›weit weg‹ erscheinen in einem utopischen Raum oder in einer zeitlich unbestimmten Zukunft. Allerdings, so argumentiert Muñoz in seinem Buch Cruising Utopia98, lässt sich in der Vergangenheit und der Gegenwart, in künstlerischen Praxen und in flüchtigen Momenten eine solche Welt am Horizont erahnen. Bei Muñoz wird Queer Worldmaking unter anderem durch Disidentifikationen möglich. Disidentifikation kann auch verbunden werden mit den Überlegungen Sara Ahmeds zu der Verbindung von Wahrnehmungen und Perspektiven mit Orientierung. Ich würde argumentieren, dass Disidentifikation bewirken kann, die Welt »slantwise [Ahmed bezieht sich auf

132

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

99

Merleau-Ponty, R.O.]«, 99 oder que(e)r zu sehen, statt eine Perspektive einzunehmen, die straight oder gerade bzw. heteronormativ ist. Oder Disidentifikation bewirkt das Einnehmen eines »oppositional gaze«100, wie ihn bell hooks beschreibt. Wie verändert sich dadurch das Gewohnte? Roderick Ferguson bemängelt, dass Queer of Color-Formationen trotz ihrer signifikanten Potenziale in massiver Weise unterschätzt werden.101 Der Umstand, dass nicht-heteronormative ›rassisierte‹ Formationen bzw. QTIBIPoCs konstruiert werden als monströs und bedrohlich, erschwert einen Zugang, der eine kritische Handlungsfähigkeit von QTIBIPoCs anerkennt. Für Ferguson sind nichtheteronormative ›rassisierte‹ Formationen, »sites of ruptures, critiques and alternatives«102 und somit wird ihnen grundsätzlich ein kritisches Potenzial zugeschrieben. Dies ist eines der zentralen Argumente innerhalb diverser theoretischer Beiträge der Queer of Color-Kritik. Der Blick wird hier gedreht von der Frage danach, wie QTIBIPoCs viktimisiert, entmenschlicht, stereotypisiert oder zum Anderen gemacht werden, hin zu der Frage nach Ressourcen, Fähigkeiten, kreativen Potenzialen und Visionärem, also nach Praxen und Strategien, die (Über-)Leben ermöglichen und zu Befreiung führen. Auf diesem Kerngedanken von Queer of Color-Kritik, dass QTIBIPoCs aufgrund struktureller Mehrfachdiskriminierungserfahrungen nicht nur ›unterdrückt‹ sind, sondern kritische Perspektiven, Überlebens- und Widerstandsstrategien entwickeln sowie alternative Selbstentwürfe — und damit über signifikante Potenziale verfügen für Analyse, Gegendiskurse und Utopie —, baut meine Forschungsperspektive auf. Was ist also gemeint mit diesen kritischen Potenzialen und wie kommen sie zustande? Gloria Anzaldúa beschreibt in ihrem Buch Borderlands103 eine Fähigkeit, die sie »La Facultad«104 nennt, eine besondere Sensibilität, ein verkörpertes Wissen, das ein besonderes Gespür für Gefahren aber auch eine spezifische Wahrnehmung der (Um-)Welt und ein vertieftes Verständnis mit sich bringt. Diese Fähigkeit, la Facultad, wird vor allem von marginalisierten Subjekten ausgebildet als eine Art Überlebenswissen.

Sara Ahmed, 2006, S. 107.

100 bell hooks: »The Oppositional Gaze: Black Female Spectators«, in: Reel to Real: Race, Class and Sex at the Movies, London, New York: Routledge 2009, S. 253—274. 101 Paola Bacchetta / Fatima El-Tayeb / Jin Haritaworn, 2015, S. 776. 102 Roderick A. Ferguson, 2004, S. 17. 103 Vgl. Gloria Anzaldúa, 1987. 104 Ebd. S. 60—61.

»La facultad is the capacity to see in surface phenomena the meaning of deeper realities, to see the deep structure below the surface. [...] Those who are pushed out of the tribe for being different are likely to become more sensitized (when not brutalized into insensitivity). [...] Those who are pounced on the most have it strongest — the females, the homosexuals of all races, the darkskinned, the outcast, the persecuted, the marginalized, the foreign. [...] It’s a kind of survival tactic that people, caught between the worlds,

133 105 Ebd. 106 Ebd. 107 bell hooks, 1989. 108 Fatima El-Tayeb: »›Gays who cannot properly be gay‹: Queer Muslims in the neoliberal European City«, in: European Journal of Women’s Studies (19), 2012, S. 79—95, hier S. 89. 109 Ebd., Herv. R.O. 110 Ebd.

Queer of Color-Kritik und visuelle Kultur

unknowingly cultivate. [...] This shift in perception deepens the way we see concrete objects and people; the senses become so acute and piercing that we can see through things, view events in depth, a piercing that reaches the underworld (the realm of soul).«105 Strukturelle Diskriminierung, Gewalt und Trauma schreiben sich ein in Körper und sensibilisieren die Wahrnehmung (können jedoch auch das Gegenteil bewirken). »La Facultad«106 kommt um einen sehr hohen Preis, bewirkt jedoch potenziell ein vertieftes Verständnis, als eine Art analytische Perspektive. In einer ähnlichen Weise beschreibt bell hooks, zwar nicht aus einer queeren, jedoch aus Schwarzer feministischer Perspektive, dass die Peripherie nicht nur ein Raum von Verlust und Entbehrung ist, sondern auch der Kreativität und des Widerstandes.107 Das Verständnis der kritischen Potenziale von QTIBIPoCs lässt sich mit Fatima El-Tayeb weiter vertiefen. Sie argumentiert, dass QTIBIPoC-Aktivist_innen widerständige Strategien entwickeln, die sie als »Queering of Ethnicity«108 beschreibt. »Racialized queers and in particular queer Muslims are forced to negotiate an incredibly complicated terrain, constantly confronted with silencing, appropriation, exclusion and the overwhelming demand to adapt their reality to ideologies proclaiming them an oxymoron. Challenging as this is, queer activists of color have managed to successfully circumvent this pressure, resisting the divisions imposed on them by minority and majority communities through a politicized creolization, which I have called a queering of ethnicity.«109 Die von Fatima El-Tayeb beschriebenen Prozesse des Queerens von Ethnizität, man könnte auch sagen: von ›Rasse‹ / Rassisierung, stehen in enger Verbindung mit Praxen der Disidentifikation. Die Notwendigkeit, dass QTIBIPoCs im deutschen und europäischen Kontext ihre Realitäten immer an eine Ideologie anpassen müssen, die ihre / unsere Existenz zu einem »Oxymoron erklärt«110, indem beispielsweise Muslimisch-Sein und Queer-Sein als sich gegenseitig ausschließend konstruiert werden, macht Disidentifikationen erforderlich. Dabei handelt es sich nicht nur um Bewältigungs- oder Überlebensstrategien im Umgang mit einem unveränderlichen Ist-Zustand, sondern diese Disidentifikationen führen zu einem Queering, zu Transformation und zu Reorientierung. Transformative Potenziale, die von QTIBIPoCs ausgehen, zeigen auch Jin Haritaworn, Fatima El-Tayeb und Paola

134

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111

Bacchetta in einem gemeinsamen Artikel auf.111 Sie argumentieren, dass Queer of Color zwar nicht die einzige, aber eine von vielen möglichen Modalitäten sei, die es erlaube, neue Zugänge zu eröffnen. Diese Zugänge ermöglichen es, so die drei Autor_innen, innerhalb ihrer jeweiligen Forschungsfeldern der Environmental Studies, Urban Studies und European Studies, translokale Betrachtungsweisen zu Fragen nach Raum und ›Rasse‹ und zu Formen des Widerstands gegen rassistische und koloniale Herrschaft zu entwickeln. Kunst, Aktivismus und alltägliche Akte des Zusammenlebens und des CommunityBuildings von QTIBIPoCs sind, nach ihren Aussagen, bedeutsam, »to make places, and worlds, beyond the murderous logics of securitization, privatization and territorialization that characterize our current context of racial and colonial capitalism«.112 Die Autor_innen machen sich dafür stark, diese Akte stärker zu beachten und mit dazu beizutragen diskursive und materielle Räume für QTIBIPoC-Perspektiven zu schaffen. Der von Haritaworn, El-Tayeb und Bacchetta verwendete Ausdruck »to make places, and worlds«113 erinnert stark an Muñoz’ Konzept des Queer Worldmaking. Wie kommen diese Potenziale in der Praxis von Künstler_innen zum Einsatz? Und welche Rolle spielen Repräsentation, Medialität und Kunst für das Schaffen von bewohnbareren Welten und lebbaren Zukünften für QTIBIPoCs? Wie kann also Queer of Color-Kritik stärker mit Ansätzen aus der visuellen Kultur-, Kunst-, und Medienwissenschaft verbunden werden?

Vgl. Paola Bacchetta / Fatima El-Tayeb / Jin Haritaworn, 2015.

112 Vgl. ebd. S. 776. 113 Dies ist wiederum begründet in den Erfahrungen des »not belonging«. Zu »not belonging« siehe: Paola Bacchetta / Fatima El-Tayeb / Jin Haritaworn, 2015, S. 773.

RELATING TO DISIDENTIFICATIONS ere is one chapter where Muñoz writes about Vaginal Davis and starts by describing his own experience as queer of color within a white heterosexist punk scene and questioning, what it was that made him engage in this scene which was at a point when he was not yet empowered so much as Latino and Queer. Being punk was a way to be provocative and distance oneself from mainstream society (and one’s parents) but at the cost of being exposed to racist and heterosexist tendencies within one’s own subculture. Disidentifying with the punk scene was thus a survival strategy. Also, being queer and brown prohibited him from fully accessing an identity as punk. I could relate to this experience of being part of quite a few scenes where only one part of my identity fit. Growing up as a white-passing child I now feel that I was constantly asked (and still am) to disidentify with other PoC / Turkish people which makes it still hard for me today sometimes to identify as PoC. So having disidentification described as a shared experience of a lot of queers of color helped me a lot to be nicer to myself.

138 1

Silke Wenk, 2013, S. 276.

2

Ebd. S. 277.

3

Eine solche Perspektive ist umso relevanter für die Auseinandersetzung mit Kunst aus QTIBIPoC-Perspektiven, als dass der Zugang zur ›Hochkultur‹ in Deutschland (aber auch in anderen ›westlichen‹ Ländern) für Schwarze Menschen und Menschen of Color erschwert oder verweigert wurde und wird. Vgl. u.a. Kea Wienand: Nach dem Primitivismus? Künstlerische Verhandlungen kultureller Differenz in der Bundesrepublik Deutschland, 1960—1990. Eine postkoloniale Relektüre, Bielefeld: transcript 2015, S. 11.

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

(3) Visuelle Kultur, Machtverhältnisse und Transformation Studien zur visuellen Kultur — ein Ansatz, der im deutschen Kontext weniger stark institutionalisiert ist —, basieren auf den anglophonen Visual Culture Studies und untersuchen nicht nur ein weites Feld visueller Phänomene wie Kunst, wissenschaftliche Illustrationen, Video, Ausstellungsdisplays und bildgebende Verfahren, sondern allgemein visuelle Praktiken und wie diese mit Machtverhältnissen verwoben sind.1 In Bezug auf das Visuelle der visuellen Kultur präzisiert Silke Wenk: »›Visuell‹ meint hier keineswegs nur sichtbar Gemachtes, sondern — da jedes Sichtbar-Machen als ein Markieren oder Exponieren immer auch heißt, etwas anderes aus dem Blickfeld zu nehmen — auch unsichtbar Gemachtes: So bietet sich die Präzisierung visueller Praktiken als ›Praktiken des Zu-Sehen-Gebens‹ an.«2 Ein solches Verständnis des Visuellen, das Unsichtbarkeit mitberücksichtigt und sich für die Praktiken des Sichtbarund Unsichtbarmachens interessiert, ist im Kontext dieser Untersuchung in besonderem Maße relevant, denn QTIBIPoCPerspektiven stellen in vielen Kontexten eine Leerstelle dar und sind somit unsichtbar gemacht. Kunstwissenschaftliche Zugänge werden für ein Verständnis visueller Kultur produktiv gemacht, statt sich ausschließlich auf als Kunst definierte Objekte zu beschränken. In diesem Sinn ist die kritische Hinterfragung kunst- und kulturwissenschaftlicher Grenzziehungen zwischen High und Low, also zwischen Auseinandersetzungen mit ›Hochkultur‹, die in elitärer und klassistischer Weise abgegrenzt wird von ›Niedrig-‹ oder Populärkultur sowie von Ethnologie ein weiteres wichtiges Merkmal.3 Diese Ausrichtungen — die horizontale Auseinandersetzung mit Kunst und anderen visuellen und intermedialen Produktionen sowie der starke Fokus auf die Analyse von Machtverhältnissen und (Re-)Produktion von Gewalt und symbolischen Ordnungen im Feld des Visuellen — machen den Ansatz der Studien zur visuellen Kultur besonders relevant für die Auseinandersetzung mit visuellen (Selbst-)Repräsentationen minorisierter Subjekte. Studien zur visuellen Kultur und Kunst- und Medien(kultur)wissenschaftliche Zugänge und Fragestellungen

139 4

Bildwissenschaft und Studien zur visuellen Kultur / Visual Culture Studies sind voneinander abzugrenzen. Erstere ist stärker an neuen Theorien zum Bild, Bildlichkeit und Visualität interessiert und weniger an der Analyse von Bedeutungsproduktion und Machtverhältnissen im Feld des Visuellen. Die Bildwissenschaft kritisiert die stark linguistisch geprägten Zugänge zu Bildern (die im erweiterten Textverständnis ebenfalls als Texte gelesen werden), verwirft dabei jedoch meines Erachtens mit dem Postulat des ›Neuen‹ vermeintlich überholte Zugänge vorschnell und bleibt hinter den kritischen Zugängen zu Bildlichkeit semiotisch fundierter Ansätze zurück. Für eine überblicksartige Diskussion von Bildwissenschaft und Visual Culture vgl. Marius Rimmele / Klaus Sachs-Hombach / Bernd Stiegler (Hg.): Bildwissenschaft und Visual Culture, Bielefeld: transcript 2014.

5

In repräsentationskritischen Ansätzen werden intermediale Phänomene zwar teilweise mitgedacht, wie z.B. bei Stuart Hall, allerdings sind Auseinandersetzungen mit Visualität und Blick wesentlich präsenter und besser ausgearbeitet als z.B. Auseinandersetzungen mit Haptik und Sound. Siehe hierzu beispielsweise Ansätze aus den Sound Studies, die die Relevanz von Audio Culture als Forschungsfeld betonen, u.a. Jonathan Sterne (Hg.): The Sound Studies Reader, London, New York: Routledge 2012. Diese Fragen sind auch relevant im Hinblick auf Ein- und Ausschlüsse im Zusammenhang mit Ableism.

6

Johanna Schaffer, 2008, S. 78.

7

Siehe hierzu auch: Sigrid Schade / Silke Wenk, 2011.

8

Mit ›wir‹ sind in diesem Abschnitt alle Lesenden gemeint.

9

Vgl. Stuart Hall: »Kodieren / Dekodieren«, in: Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4, Hamburg: Argument 2004, S. 81—107.

Queer of Color-Kritik und visuelle Kultur

informieren sich wechselseitig.4 Dabei muss jedoch gerade aus medienwissenschaftlicher Perspektive kritisch auf die Begrenzung durch die Fokussierung auf Visualität hingewiesen werden, durch die auditive, haptische und intermediale Formen von Medialität, die ebenfalls performative und produktive Effekte hervorbringen und die ebenfalls in Machtverhältnisse verwoben sind, aus dem Blick geraten können.5 Zum Repräsentationsbegriff Repräsentation leitet sich ab von dem lateinischen Verb repraesentare, wie Johanna Schaffer erklärt, und bedeutet »etwas Abwesendes anwesend machen«.6 Zentral für den repräsentationskritischen Ansatz und seine Anwendung innerhalb von Studien zur visuellen Kultur sind die drei Ebenen von Darstellung, Vorstellung und Stellvertretung, die mit dem Begriff der Repräsentation verbunden sind. Repräsentation als Stellvertretung kennen wir beispielsweise aus der repräsentativen Demokratie, in dem gewählte Abgeordnete an Stelle von Wähler_innen selbst deren Interessen im Parlament vertreten sollen.7 Das Verständnis von Repräsentation als Darstellung oder Vorstellung verweist bereits stärker auf den Zeichencharakter von Repräsentationen, nach dem Repräsentationssysteme helfen, sich zu verständigen über etwas Abwesendes. Beispielsweise kann eine Repräsentation einer Rose, sei es als sprachliches Zeichen in Form eines Wortes oder als visuelles Zeichen in Form eines Bildes, auf die tatsächliche Rose verweisen. Wir brauchen das Objekt Rose nicht, um uns in der Kommunikation darauf zu beziehen und zu wissen, was damit gemeint ist. Stellvertretend für das Objekt Rose benutzen wir8 Zeichen. Stuart Hall ermöglicht es mit seinem Ansatz des Kodierens / Dekodierens9 zu verstehen, wie unterschiedliche Zeichen — (visuelle) Repräsentationen, aber durchaus auch Körperpraktiken — mit Bedeutung versehen werden und entschlüsselt werden können. Innerhalb von verschiedenen Kulturen teilen die Angehörigen Repräsentationssysteme und Bedeutungen — wir lernen, Zeichen in einer bestimmten Weise zu dekodieren. Ein Beispiel kann sein, dass lange Haare kodiert sind als weiblich und Menschen mit langen Haaren gelesen werden als Frauen (natürlich spielen hier weitere Zeichen eine Rolle für die Repräsentation von Geschlecht). Hier zeigt sich bereits die Problematik, dass Zeichensysteme potenziell gewaltvoll sind, weil Selbstbild und die Art und Weise, wie wir gelesen werden, nicht übereinstimmen müssen. Bedeutungen als konstruiert zu begreifen, impliziert zugleich ihre Veränderbarkeit. Theoretisch sind andere Verknüpfungen von Signifikaten und Signifikanten denkbar, als diejenigen, die tradiert, naturalisiert oder normalisiert sind in den gegenwärtigen hegemonialen

140

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

10

adrienne maree brown, 2017, S. 19. Ich referiere hier erneut auf ihre Aussage, die ich bereits zu Beginn des ersten Kapitels zitiere.

11

Diese Frage ließe sich in phänomenologischer Perspektive noch weiter vertiefen, worauf ich an dieser Stelle jedoch nicht weiter eingehe.

12

Genau in diesem Punkt gibt es Gegenstimmen aus den Ansätzen des New Materialism / Neuen Materialismus sowie den Affect Studies, die diese Aussage kritisch hinterfragen, wie ich im Folgenden noch weiter ausführe.

13

Stuart Hall, 1997, S. 25—26.

14

Mir geht es an dieser Stelle nicht darum, den kompletten Affekt-Diskurs daraufhin zu untersuchen, ob und in welcher Weise der Repräsentationsbegriff darin verhandelt wird. Vielmehr will ich hier meinen eigenen theoretischen Zugang und meinen Ansatz ausloten, in dem ich mein eigenes Verständnis von Repräsentation diskutiere.

15

Vgl. Marie-Luise Angerer: Vom Begehren nach dem Affekt, Zürich, Berlin: Diaphanes 2007.

Zeichensystemen und symbolischer Ordnung. Unter welchen Voraussetzungen lassen sich Signifikationen aufbrechen und verändern, »so that no one sees Black people as murderers, or Brown people as terrorists or aliens, but all of us as potential cultural and economic innovators«?10 Welche Repräsentationen produzieren wirklichkeitserzeugende Effekte, die eine solche Utopie konkret werden lässt? Die wirklichkeitserzeugenden Effekte von Repräsentation in den Blick zu nehmen, ist der zentrale Fokus des semiotisch-konstruktivistischen Ansatzes. Damit ist gemeint, dass Repräsentation nicht nur etwas abbildet oder wiedergibt, das bereits vorhanden ist, und somit Wirklichkeit lediglich imitiert / nachahmt, sondern es stellt diese immer zugleich mit her, da wir die Welt nicht außerhalb von Repräsentation wahrnehmen können. Das bedeutet nicht, so Stuart Hall, dass es keine materielle Welt gebe oder dass Zeichen nicht auch eine materielle Dimension haben,11 sondern dass die Bedeutung eines Zeichens abhängig sei von seiner symbolischen Funktion und nicht von seiner materiellen Qualität.12 »Things don’t mean: we construct meaning, using representational systems — concepts and signs. […] However, it is not the material world which conveys meaning: it is the language system or whatever system we are using to represent our concepts. […] Of course, signs may also have a material dimension. Representational systems consist of the actual sounds we make with our vocal chords, the images we make on light-sensitive paper with cameras, the marks we make with paint on canvas, the digital impulses we transmit electronically. Representation is a practice, a kind of ›work‹, which uses material objects and effects. But the meaning depends not on the material quality of the sign, but on its symbolic function.«13 Genau diese Frage, ob eine Wahrnehmung der materiellen Welt außerhalb des Systems Sprache möglich ist, ist eine umstrittene Konfliktlinie zwischen verschiedenen theoretischen und philosophischen Ansätzen. Mit dem affective turn scheint es eine Abwendung vom Begriff Repräsentation14 als veraltet und überholt zu geben und Affekt und Repräsentation werden teilweise als gegensätzliche Ansätze verstanden.15 So steht die Repräsentation nach Marie-Luise Angerer bei den Theoretiker_innen des Affektiven im Zentrum der Kritik, da sie als Mittlerin von Welt / Realität und dem Subjekt verstanden wird, die sie sich immer dazwischen stelle und somit den Zugang zur Realität verstellt. Affekte dagegen, so Angerer, würden als spontane Reaktionen des Körpers auf die Umwelt verstanden

141 16

Ebd. S. 123.

17

Vgl. Kaja Silverman, 1996 und Kaja Silverman, 1997. Silvermans Begriff des Screens wird von Johanna Schaffer übersetzt als kulturelles Bildrepertoire. Vgl. Johanna Schaffer, 2008.

18

Sigrid Adorf / Maike Christadler: »New Politics of Looking? — Affekt und Repräsentation. Einleitung«, in: FKW // Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur (55), 2014, S. 4—15, hier S. 6.

19

Ebd.

20

Ebd. Die Autorinnen verweisen hier auf: Sigrid Schade / Silke Wenk, 2011, S. 105ff.

21

Michel Foucault, 2019 (1977), S. 206—207. Spivak zitiert aus der Erstveröffentlichung, ich zitiere aus der benannten Neuauflage.

22

Gayatri C. Spivak, 2008, S. 28—29.

23

Vgl. ebd.

Queer of Color-Kritik und visuelle Kultur

und eine direkte Verbindung zwischen Körper und Welt signalisieren, bzw. eine Art »Eigenaussage des Körpers über seinen Zustand«.16 Eher als der Begriff der Repräsentation kann ein Konzept wie der Screen, den Kaja Silverman im Anschluss an Jacques Lacan entwickelt, in dieser Hinsicht verstanden werden.17 Dieser steht zwischen dem betrachtenden Subjekt und der ›wirklichen Welt‹, das heißt, er bedingt die Wahrnehmung von Welt und ermöglicht ein Verständnis des Sehens / des Blickes nicht als individuelle Praxis, sondern als Blickregime. Kann es tatsächlich Formen von (körperlicher) Wahrnehmung in Form von Affekten geben, die unvermittelt sind? Und wenn ja, wäre damit ein Begriff der Repräsentation überholt? Meines Erachtens wird der Begriff der Repräsentation mitunter vorschnell fallengelassen zugunsten eines aktueller anmutenden Begriffs des Affekts und beide werden unnötigerweise als gegensätzlich verhandelt. Ich schließe mich damit Sigrid Adorf und Maike Christadler an, die konstatieren, dass eine Betrachtungsweise, die Affekt und Repräsentation »in unlösbarer Spannung zueinander betrachtet«,18 nur möglich ist durch »eine unbefriedigende Verkürzung des Repräsentationsbegriffs auf das mittelalterliche Darstellungsprinzip (repraesentario)«19. Sie schreiben weiter mit Bezug auf Sigrid Schade und Silke Wenk, dass »ein Re-präsentationsbegriff aber, der sich auf die konstitutive Nachträglichkeit beschränkt [...] den performativen Wirklichkeitsbezug alles Darstellenden (Hinstellenden, Öffentlich- / Sichtbarmachenden, Ins-Sein-Setzenden)«20 verkenne. Eine vergleichbare Kritik übt Gayatri Chakravorty Spivak an Gilles Deleuze und dessen Aussage in einem Gespräch mit Michel Foucault »Representation no longer exists; there’s only action — theoretical action and practical action which serve as relays and form networks«21. Spivak kritisiert: »Sprachliche Fehlleistungen entstehen, wenn Signifikanten sich selbst überlassen bleiben. Der Signifikant ›Repräsentation‹ ist ein typisches Beispiel dafür.«22 Spivak bemängelt, dass Deleuze zwei Bedeutungen von Repräsentation vermische und dadurch eine zu schnelle und simple Gegenüberstellung zwischen abstrakter, ›reiner‹ Theorie und konkreter ›angewandter‹ Praxis vollziehe.23 Ich verweise hier auf Spivaks Kritik, gerade weil die Theorien Gilles Deleuzes einen zentralen Bezugspunkt für kunst- und vor allem medienwissenschaftliche Diskurse darstellen. Spivaks Kritik ist weniger von einer Verteidigung des Repräsentationsbegriffs motiviert als von der Frage nach den Konsequenzen für den Subjektbegriff bei Deleuze. Interessant ist jedoch die Frage, ob es eine Verkürzung und ein reduziertes Verständnis des Begriffs der Repräsentation sind, die dazu führen, dass dessen theoretischer und methodischer Nutzen in gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskursen verkannt wird. Worin genau bestehen

142

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

24

Vgl. Angelika Baier / Christa Binswanger / Jana Häberlein / Yv E. Nay / Andrea Zimmermann: »Affekt und Geschlecht: Eine Einleitung in Affekt-Theorien aus einer feministischen, queeren und post / kolonialen Perspektive«, in: Angelika Baier / Christa Binswanger / Jana Häberlein / Yv Eveline Nay / Andrea Zimmermann (Hg.), Affekt und Geschlecht. Eine einführende Anthologie, Wien: Zaglossus 2014, S. 11—56.

die Grenzen des Repräsentationsbegriffs und an welchen Stellen greifen semiotische Zugänge und Repräsentationskritik zu kurz? Diese Fragen bleiben weiterhin aktuell für kunst-, medienund kulturwissenschaftliche Theorien. Ich argumentiere für eine Aktualisierung des Repräsentationsbegriffes durch eine Relektüre von Ansätzen, die zur Komplexität dieses Konzepts beigetragen haben.

25

Vgl. ebd.

26

Vgl. ebd. S. 38.

Affektive repräsentationskritische Lektüren? Affekttheoretische Zugänge können eine produktive Verbindungen dekonstruktivistischen und repräsentationskritischen Ansätzen eingehen, wenn sie nicht als komplett gegensätzlich zu diesen verstanden werden. Dekonstruktivist_innen wird häufig vorgeworfen, die Materialität des Körpers aus dem Blick zu verlieren, was im Zuge von Body Turn oder Affective Turn zu korrigieren versucht wird, so die Herausgeber_innen des Sammelbandes Affekt und Geschlecht.24 Sie liefern einen guten Überblick über Fragestellungen der Affective Studies, insbesondere solche an den Schnittstellen von queerer, feministischer und postkolonialer Theorie, wie z.B. Fragen nach den Grenzen zwischen Menschlichem / Nichtmenschlichem, Organischem / Unorganischem, nach Gefühlsökonomien, Zeitlichkeit und Fragen nach dem Verhältnis von Innen / Außen. Interessant ist zudem, dass einige der versammelten Autor_innen, darunter Sara Ahmed, sich der Unterscheidung von Affekt und Emotion gegenüber verweigern. Zwar diskutieren die Herausgeber_innen die Frage des Repräsentationsbegriffs nicht explizit, dennoch wird deutlich, dass es — zumindest in dieser Ausprägung der Affective Studies — interessante Schnittstellen zwischen Repräsentation und Affekt gibt: Auch die Affective Studies arbeiten mit Lektüren (readings) von ›Texten‹, wobei sämtliche sozialen Interaktionen als Texte verstanden werden können.25 Darin folgen die Affective Studies letztendlich poststrukturalistischen und semiotischen Ansätzen, wie sie auch in den Cultural Studies aufgegriffen werden. Während schon frühere Ansätze, darunter feministische, stets darauf hingewiesen haben, dass solche Lektüren von Texten immer bedingt sind durch die Situiertheit der Perspektive der_des Analytiker_in, drängen die Affective Studies darüber hinaus darauf, die affektive Situiertheit wissenschaftlicher Lektüre-Praxis zu reflektieren. Zudem stellen die Affective Studies das Postulat auf, dass Emotion und Rationalität unumgänglich miteinander verschränkt sind.26 Dieser Zugang ist produktiv aus einer queerfeministischen und postkolonialen Perspektive, als Korrektiv für die Konstruktion von Rationalität / Emotion, Geist / Körper, Kultur / Natur als binäre Gegensatzpaare auf denen Konstruktionen weißer europäischer männlicher Überlegenheit basiert.

143 27

Zur »Evidenz und Ambivalenz des Herrenanzugs« fand 2009 an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg ein Symposium für Nachwuchswissenschaftler_innen statt unter der Leitung von Karen Ellwanger und Silke Wenk. Vgl. https://uol.de/zfg/archiv/forschungsprojekte/macht-moderne-und-maennlichkeit-ambivalenzen-des-herrenanzugs, vom 11.3.2021.

28

Vgl. Gloria Anzaldúa, 1987.

29

Vgl. Sara Ahmed, 2014.

30

Ebd. S. 194—195. Ahmed verweist hier auf: Frantz Fanon, 1986 (1967).

Queer of Color-Kritik und visuelle Kultur

Studien aus der visuellen und materiellen Kultur zeigen beispielsweise, wie Männlichkeit über eine Fokussierung auf den Kopf konstruiert wird, u.a. durch Kleidung wie den Herrenanzug27 während Frauen, bzw. allgemein als ›Andere‹ konstruierte Subjekte häufig auf den Körper reduziert werden. Die Trennung von Geist und Körper und die Ausklammerung des Körpers wird aus postkolonialen, rassismuskritischen, queerfeministischen und Disability Studies-Perspektiven kritisiert und zunehmend wird nach anderen Zugängen zu Wissens- und Erkenntnisgewinn gefragt, wie z.B. nach verkörpertem Wissen.28 In Teilen der Affective Studies werden Gefühlsökonomien und Gefühlsstrukturen gedacht als bedingt durch historische Konstruktionen.29 So sind bei Sara Ahmed Gefühle nicht etwas Individuelles, das zuerst im Inneren entsteht und dann nach außen dringen kann, das heißt, dass auch hier körperliche Zustände und Reaktionen nicht als unmittelbar und unvermittelt gedacht werden: »Wir können Rassismus als eine bestimmte Form der interkorporellen Begegnung betrachten: Ein weißes rassistisches Subjekt, dass ein_er rassisierten anderen begegnet, mag intensive Emotionen erleben (Angst, Hass, Ekel, Schmerz). Diese Intensivierung beinhaltet eine Bewegung vom Körper d_er anderen weg oder einen Akt der Gewalt auf diesen Körper zu, um sich dann zu entfernen. Der ›Augenblick des Kontaktes‹ ist von einer Vorgeschichte früherer Kontakte geprägt. […] Diese Geschichten haben bereits einen Eindruck auf der Oberfläche der Körper hinterlassen, zugleich erzeugen sie neue Eindrücke. […] Die Wiederholung von Zeichen ermöglicht es, andere mit emotionalem Wert zu versehen: Sie sind von vornherein hassenswert.«30 Über den Ansatz der Repräsentation, lässt sich fragen, mit welchen Bedeutungen Zeichen und Texte kodiert sind, welche Regime der Repräsentation hervorgebracht werden, wie Differenz konstruiert wird über Arten und Weisen des Zu-Sehen-Gebens, während aus affekttheoretischer Perspektive weitergefragt werden kann mit welchen Gefühlsstrukturen diese einhergehen. Es wird außerdem deutlich, dass in der Perspektive der Affective Studies das Potenzial besteht, verkörperte Erfahrung (hier über das Nachdenken von Eindrücken auf der Hautoberfläche) stärker in den Blick zu nehmen ebenso wie Politiken der Emotion und des Affekts, die zumindest mit Sara Ahmed gedacht werden können als in enger Verbindung mit Zeichen. Diese Einschreibungen in den Körper, die Wiederholung von Zeichen, durch die andere mit emotionalem Wert

144

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

31

versehen werden, und Fragen nach der Lesbarkeit von Körpern31 erfordern wiederum Lesarten oder Lektüren und implizieren eine Nähe zum Text. Ahmed wirft in ihrem Artikel die Frage auf, welche Effekte und Einschreibungen diese Zeichen in Körpern hinterlassen und Körper dadurch auch räumlich (re-)orientieren. Zudem interessiert sie, wie Emotionen zur Vermittlung zwischen Individuum und Kollektiv beitragen,32 oder anders formuliert, wie sich beispielsweise nationale Kollektive über gemeinsame Gefühle, etwa von Liebe zur Nation, zum Weißsein oder von Hass auf rassisierte Andere, bilden. Das bedeutet auch, dass Affekte, zumindest in einer rassismuskritischen und queeren Perspektive mit Ahmed, nicht verstanden werden als »Eigenaussage des Körpers«33, sondern dass sie durch Geschichte und durch strukturelle Machtverhältnisse geprägt werden. Diese Perspektive ist zudem relevant für die Analyse der von mir ausgewählten künstlerischen Arbeiten, um darin aufgeworfene Fragen nach Körperbildern, Identität und (Selbst-)Repräsentationen zu reflektieren.

Die Frage nach Lesbarkeiten von Körpern verhandelt das Haus der Kulturen der Welt (HKW) in Berlin im Anschluss an SAVVY Contemporary unter dem Begriff der »Corpoliteracy«. Entsprechend der Deutung dieser beiden Institutionen wohnt dem Begriff ein widerständiges Potenzial im Sinn einer intersektional-perspektivierten »Körper-Lese-Fähigkeit« inne. Ich bin jedoch skeptisch, ob damit nicht eine zu positive Konnotation des Lesens / der Lesbarkeit von Körpern transportiert wird, denn das Lesen von Körpern ist in der Regel verbunden mit gewaltvollen Prozessen von Einordnung, Zuschreibung und Stereotypisierung entlang der Kategorien vorherrschender Machtverhältnisse und einer Reiteration dieser. Die Veranstaltung Körper lesen! Corpoliteracy in Kunst, Bildung und Alltag fand vom 14.5.—15.9.2019 im HKW in Berlin statt. Vgl. https://www.hkw.de/de/programm/ projekte/2019/corpoliteracy/corpoliteracy_start.php, vom 9.12.2019. Zum Begriff bei SAVVY Contemporary bzw. Gründer und künstlerischem Leiter Bonaventure Soh Bejeng Ndikung vgl. Bonaventure Soh Bejeng Ndikung: »Corpoliteracy«, in: Sepake Angiama / Clare Butcher / Alkisti Efthymiou / Anton Kats / Arnisa Zeqo (Hg.), eine Erfahrung. documenta 14, Berlin: Archive Books 2018, S. 89—96.

32

Vgl. Sara Ahmed, 2014.

33

Marie-Luise Angerer, 2007, S. 123.

34

Vgl. https://sophiensaele.com/de/festival/after-europe/beyond-representation-ueber-kuenstlerische-kollektiveund-politische-allianzen, vom 7.10.2019.

35

Raju Rage, Beitrag auf Facebook vom 4.12.2016, https://www.facebook. com/missterrajurage/posts/ 10211614255978873, vom 23.12.2020. Ich muss an dieser Stelle noch einmal deutlich machen, dass ich nicht nur in wissenschaftlichen Publikationen veröffentlichtes Wissen zitiere, weil wichtige Stimmen in Queer und Trans* of Color-Kontexten in Deutschland und Europa wie die von Raju Rage sonst wegfallen würden. Ich frage die entsprechenden Personen nach ihrem Einverständnis.

Ist Repräsentation genug? Im Zusammenhang mit rassismuskritischen und postkolonialen Auseinandersetzungen gibt es auch unter BIPoCs kritische Haltungen zu politischen Forderungen nach Repräsentation. Veranstaltungstitel wie »Beyond Representation«34 implizieren ein Verständnis von Politiken der Repräsentation als zu kurz greifend und darüber hinaus die Möglichkeit der Existenz von Dingen und Themen, die jenseits der Repräsentation liegen oder jenseits dessen, was unter diesem Stichwort diskutiert werden kann. Allerdings meint hier Repräsentation eher die Frage der Stellvertretung oder des Vorkommens. Die Frage, ob BIPoCs in bestimmten Räumen oder in bestimmten Positionen vertreten sind, ist eine wichtige politische Frage, um Ein- und Ausschlüsse zu problematisieren. Wenn das Verständnis von Repräsentation jedoch darauf reduziert wird, dann gerät das Wie der Repräsentation, also die Ebene von Darstellung und des Weiteren die der Vorstellung aus dem Blick. Meines Erachtens ist eine Trennung von politischen Forderungen nach Repräsentation (möglicherweise auch analog dazu, nach Sichtbarkeit) und dem Begriff der Repräsentation als analytischem Begriff notwendig. Trotzdem sollten Kritiken, die auf Grenzen von Repräsentation hinweisen, ernst genommen werden. Raju Rage schreibt in einem Beitrag auf Facebook,35 Repräsentation sei nicht genug, wenn Menschen jeden Tag sterben, und bezieht sich damit auf die zu dem Zeitpunkt aktuelle politische Situation einer (wieder-)erstarkten Akzeptanz rechtspopulistischer / faschistischer Positionen, Brexit, Trump und Gewalt gegen Geflüchtete, Muslim_innen, Schwarze Menschen / PoC und Queers of Color, insbesondere Trans* of Color und auf

145 36

Ebd.

37

Ebd.

38

Vgl. Stuart Hall, 1997, S. 223—291.

39

Die Schreibweise verwende ich hier in Anlehnung an Stuart Hall, auch wenn es nicht exakt die gleichen Wortpaarungen sind.

40

Vgl. Stuart Hall, 1997.

41

Vgl. ebd. S. 259.

42

Vgl. Maisha Auma, 2005. (Publiziert als Maisha Maureen Eggers.)

Vgl. ebd. S. 235.

Queer of Color-Kritik und visuelle Kultur

die Kämpfe der Black Lives Matter-Bewegung gegen diese Gewalt. So wie ich Raju Rage verstanden habe, steht hinter der Aussage »Repräsentation reicht nicht«36 eine Kritik an einem künstlerischen / kulturellen Aktivismus sowie Bildpolitiken, die auf bessere Bilder, Identifikationsmöglichkeiten und Selbstrepräsentationen von / für QTIBIPoCs abzielen. Er_ schreibt: »just because we can see ourselves I don’t think the killing will stop«37 und warnt, dass Bilder wieder vereinnahmt und vermarktet werden und so subversives Potenzial einbüßen. Ich nehme daraus vor allem die Frage mit, was nötig ist, um gewaltvolle Zustände zu beenden und denke, dass es weiterhin Analysen braucht, die helfen zu verstehen, wie Bilder und Repräsentationen gewaltvolle Zustände (mit-)herstellen und aufrechterhalten und wie durch Praktiken der Repräsentation symbolische Macht ausgeübt wird. Repräsentation und Rassismuskritik Stuart Hall hat mit seinem repräsentationskritischen Ansatz einen wichtigen Beitrag geleistet, um Prozesse der Konstruktion von ›Rasse‹ in (visueller) Kultur zu verstehen. In seinen Ausführungen zum »Spektakel des Anderen«38 zeigt er historische Entwicklungen in der Art und Weise, wie ›Rasse‹ konstruiert wird, auf, und verbindet diese in einer rassismuskritischen und postkolonialen Analyse mit gesellschaftlichen und politischen Zusammenhängen. Ein besonderes Augenmerk gilt der Konstruktion von Differenz. Differenzkonstruktionen treten als binäre Gegensatzpaare auf, die zudem in einer hierarchischen Ordnung zueinander stehen: weiß / Schwarz, Mann / Frau, Hetero / Homo, Okzident / Orient usw.39 Hall weist darauf hin, dass Macht nicht nur in Begriffen von ökonomischer Ausbeutung oder physischer Unterdrückung verstanden werden muss, sondern auch in ihrer symbolischen Dimension — wie beispielsweise der Macht, jemanden oder etwas auf eine bestimmte Art zu repräsentieren im Rahmen eines Repräsentationsregimes.40 Demnach bedeutet Macht auch die Ausübung symbolischer Macht durch Praktiken der Repräsentation. Ein zentraler Bestandteil der Ausübung symbolischer Gewalt ist nach Stuart Hall die Stereotypisierung.41 Stereotypisierung reduziert Menschen auf einige wenige, einfache und essentialistische Charakteristika, die repräsentiert werden, als seien sie naturgegeben bzw. natürlichen Ursprungs und dadurch unveränderlich (also fixiert). Im Zusammenhang mit rassistischen Differenzkonstruktionen spielt Stereotypisierung eine wichtige Rolle, um BIPoCs zum ›Anderen‹ zu machen und gleichzeitig abzuwerten. Man kann — im Anschluss an Maisha Auma — auch von Markierung, Essentialisierung, Naturalisierung und Fixierung von Differenz in Bezug auf Rassismus sprechen.42 Weitere Dimensionen in der Konstruktion des ›Anderen‹, die

146

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

43

Stuart Hall untersucht, sind unter anderem die Rolle der Fantasie und des Fetischismus. Die Bedeutung von visuellen Repräsentationen für die rassistische Imagination und die Konstruktion von ›Rasse‹ verdeutlicht Sandrine Micossé-Aikins. Sie verbindet ebenfalls die Ebenen von Vorstellung und Darstellung:

Sandrine Micossé-Aikins, 2011, S. 420.

»Bilder sind zentral für die rassistische Imagination. Erst durch visuelle Repräsentation wird es möglich, das Konstrukt ›Rasse‹ in unsere physische Realität zu projizieren, es dort zu sehen und wieder zu erkennen. Wie auch Wissenschaftler_innen haben Künstler_innen durch das Erschaffen von Bildern zur Entwicklung, Etablierung und damit zur Kanonisierung westlicher Weltvorstellungen und Ideengeschichten beigetragen und so kolonialrassistische Strukturen aufrecht erhalten und gestärkt. […] In Gemälden, Zeichnungen, und später fotografischen und filmischen Arbeiten wurde rassistisches Wissen erfunden, gelehrt, gelernt und fundiert, wurde der imaginierten Andersartigkeit von Menschen of Color Leben eingehaucht, wurden weiße Herrschaftsdiskurse unterfüttert. Auch heute noch leben diese gewaltvollen Projektionen in weißen Vorstellungen des ›Anderen‹ fort. Sie manifestieren sich in visuellen Medien, wie Film und Fernsehen, der Werbung, aber eben auch in der bildenden Kunst, und schreiben sich in den inzwischen durch Transkulturalität geprägten deutschen Alltag ein. Vorstellungen materialisieren sich zu Kunstobjekten. Kunstobjekte kreieren und reflektieren Diskurse. Diskurse bestimmen Handlungen, die schließlich reale Konsequenzen für Menschen of Color und weiße Menschen haben.«43 Mit Sandrine Micossé-Aikins Ausführungen lassen sich die wirklichkeitserzeugenden Effekte von Repräsentation und Praktiken des Zu-Sehen-Gebens noch besser verstehen. Es wird deutlich, welche Rolle Kunst und visuelle Kultur für die Herstellung der Konstruktion ›Rasse‹ und für die Vermittlung rassistischen Wissens spielen. Visuelle Kultur ist ein Feld, in dem ›Rasse‹ und Rassismus nicht nur wiedergegeben, sondern hergestellt werden. In einer ähnlichen Weise gilt dies ebenfalls für andere Formen von Differenzkonstruktionen wie Gender, Sexualität, Behinderung. Bilder und Visuelles werden mobilisiert als sichtbare ›Beweise‹ rassisierter Differenz. Rassistische Stereotype werden unter anderem visualisiert, im Feld des Visuellen zirkuliert und naturalisiert. Dies macht Analysen von Visuellem, von visueller Kultur, von Kunst, Medien, Popkultur,

147 44

Michele Wallace, 1992, S. 343.

45

Vgl. Christine Hanke: Zwischen Auflösung und Fixierung. Zur Konstitution von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ in der physischen Anthropologie um 1900, Bielefeld: transcript 2007.

46

Christine Hanke: »Visualisierungen der physischen Anthropologie um 1900«, in: Anja Zimmermann (Hg.), Sichtbarkeit und Medium. Austausch, Verknüpfung und Differenz naturwissenschaftlicher und ästhetischer Bildstrategien, Hamburg: Hamburg University Press 2005, S. 129—150, hier S. 130.

47

Vgl. Kaja Silverman, 1997.

Queer of Color-Kritik und visuelle Kultur

aber auch dem Imaginären relevant für rassismuskritische Theorie / Critical Race Theory und de- / und postkoloniale Theorie. Die Notwendigkeit ästhetische Kriterien von rassistischen Konstruktionen zu dekonstruieren, hat Michele Wallace aus einer Schwarzen Perspektive bereits in den 1990er Jahren betont. Diese zu widerlegen, sei nicht annähernd so stark in den Fokus genommen worden wie die Zurückweisung von ›wissenschaftlichen‹ Rationalisierungen von Rassismus.44 Dabei sind die ästhetischen Kriterien von rassistischen Konstruktionen nicht getrennt von den wissenschaftlichen, insbesondere den naturwissenschaftlichen Konstruktionen von ›Rasse‹, beide greifen ineinander. Dies kommt nicht nur in der Kunst zum Tragen, indem Künstler_innen Bezug nehmen auf Diskurse ihrer Zeit und zugleich selbst zu diesen beitragen, wie Sandrine MicosséAikins im Zitat weiter oben ausführt, sondern in der naturwissenschaftlichen ›Rasseforschung‹ selbst spielt Visualisierung eine zentrale Rolle. Exemplarisch verdeutlichen lässt sich dies anhand der Forschung von Christine Hanke zu Visualisierungen im Diskurs der physischen Anthropologie um 1900.45 Sie kann zeigen, dass diese von einer Sichtbarkeit und visuellen Offensichtlichkeit ›rassischer‹ Differenz ausgehen, diese tatsächlich jedoch erst herstellen müssen. »Im physisch-anthropologischen Diskurs wird von einer Selbstverständlichkeit und Offensichtlichkeit ›rassischer‹ und ›geschlechtlicher‹ Differenz ausgegangen, die an den Oberflächen, aber auch den Knochen des Körpers zu bestimmen seien. ›Rassischen‹ und ›geschlechtlichen‹ Differenzen wird Sichtbarkeit zugesprochen — die Texte enthalten auffällig viele Formulierungen aus dem Begriffsfeld des Sehens. Diese Sichtbarkeit — als konstitutives Axiom der physischen Anthropologie — evoziert im Zusammenhang mit dem Primat des Blicks eine Evidenz von ›rassischen‹ und ›geschlechtlichen‹ Körpermerkmalen.«46 Diese Erkenntnis ist zentral — die geläufige Annahme, dass Differenz in Bezug auf ›Rasse‹ oder Geschlecht offensichtlich oder selbstevident sei — ist nicht zutreffend. Christine Hanke verdeutlicht, welche Anstrengung es erfordert, Differenz und nicht Ähnlichkeit aus den u.a. durch Körpervermessung gewonnenen Daten abzulesen. Vielmehr muss das Auge erst geschult werden, Differenz in einer bestimmten Weise wahrzunehmen und in bestimmten Kategorien zu sehen. Das bedeutet nicht, dass ein solcher Blick bzw. ein solches Blickregime47, das historisch geformt und immer wieder tradiert wird, sich ohne

148

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

48

Stuart Hall, 1997, S. 251—257.

49

Kaja Silverman, 1997, S. 58.

50

Während dazu inzwischen verschiedene kritische Beiträge veröffentlicht wurden, so waren es nicht diese Publikationen, sondern ein Vortrag von Makda Isak, Mitbegründerin des feministischen Ausnahmslos-Bündnisses und der PoC-Hochschulgruppe in Frankfurt am Main, durch den ich sensibilisiert wurde für die historische Kontinuität in der Bildsprache. In ihrem Vortrag zeigte sie die Bezüge zu kolonialer und nationalsozialistischer Propaganda in den Repräsentationen von Schwarzen Händen auf weißen Frauenkörpern auf.

Weiteres ablegen lässt. Es eröffnet dennoch die Möglichkeit, dass es auch ein anderes Sehen geben könnte. Man könnte sagen, dass seitdem viel Zeit vergangen ist und es im Zuge von post- und dekolonialen Denkund Befreiungsbewegungen, von Interventionen in und Umarbeitungen von rassistischen Diskursen bereits in vielen Punkten Veränderungen herbeigeführt werden konnten. Stuart Hall erklärt beispielsweise im Hinblick auf die Filmgeschichte, dass die Schwarze Bürgerrechtsbewegung veränderte Darstellungen Schwarzer kultureller Identität bewirken konnte, was ablesbar ist an Filmen, in denen sich die Repräsentation und die Agency / Handlungsfähigkeit Schwarzer Charaktere verbesserte und es zudem zunehmend Produktionen (zunächst im Independent-Bereich) von Schwarzen Filmemacher_innen gab / gibt.48 Dennoch erweisen sich Repräsentationsregime als äußerst stabil. Innerhalb des kulturellen Bildrepertoires gibt es bestimme Darstellungen, die dominant geworden sind, die Kaja Silverman als das »Vor-gesehene«49 bezeichnet. Es sind Bilder und Repräsentationen, die so oft gesehen wurden oder so eindrücklich waren oder so massiv tradiert wurden, dass sie sich mehr oder weniger automatisiert im Kopf aufdrängen, zum Beispiel rassistische Assoziationen beim Anblick Schwarzer Menschen und Menschen of Color. Die Wirkweise des Vor-gesehenen innerhalb des kulturellen Bildrepertoires im Zusammenhang mit Rassismus lässt sich verdeutlichen anhand des inzwischen oft diskutierten Bildes auf der Titelseite der Süddeutschen Zeitung und eines Covers des Magazins Focus im Zuge der Berichterstattung zu Vorfällen in der Kölner Silvesternacht 2015.50 Damals war es zu sexualisierten Grenzüberschreitungen und sexualisierter Gewalt gegen (weiße) Frauen durch mutmaßliche männliche Täter of Color gekommen. In beiden Publikationen zeigt jeweils das Bild auf der Titelseite die Darstellung einer weißen Frau mit dunklen Händen auf ihrem Körper. Im Fall der Süddeutschen in der abstrahierten Form einer Silhouette, wobei hier aus dem Hintergrund eine schwarze Hand in ihren Genitalbereich fasst.51 Im Fall des Focus handelt es sich um eine Schwarz-WeißFotografie eines nackten weißen Frauenkörpers, auf dem sich mehrere dunkle Handabdrücke befinden.52 Die Repräsentation von Schwarzen Männern als Vergewaltiger weißer Frauen ist ein rassistisches Stereotyp, das visuell tradiert ist, sowohl in Darstellungen aus der Kolonialzeit, als auch in deutscher Kriegspropaganda zum Ersten und Zweiten Weltkrieg. Auf einem NS-Propaganda-Plakat wird beispielsweise in Verbindung mit den Worten »Deutscher! Soll das wieder Wahrheit werden?« das Bild eines holzschnittartig und fratzenhaft stilisierten Schwarzen Soldaten zu sehen gegeben, der eine weiße Frau in zerfetzter Kleidung festhält.53 Das Plakat mobilisiert das

Vgl. Makda Isak, Veranstaltung der Interventionistischen Linken zum Thema »Feministische Kämpfe« am 10.3.2016 in Bremen. https://www. inventati.org/bremen/2016/02/14/ frauenkampftags-demo-12-maerz/, vom 2.12.2019. Siehe außerdem: Ulrike Bergermann: »Köln / Rape Culture. Von Ulrike Bergermann«, in: GenderBlog der Zeitschrift für Medienwissenschaft, online, 2016, vom 20.1.2020. 51

Ich verzichte auf die Reproduktion dieses Bildes. Es war erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 72. Jahrgang, 1. Woche, Nr. 4. München, 9. / 10.1.2016.

52

Ich verzichte auf die Reproduktion dieses Bildes. Es war erschienen in der Printausgabe des Focus 2 / 16 am 9.1.2016.

53

Ich verzichte auf die Reproduktion dieses Bildes. Ich beziehe mich auf ein undatiertes deutsches Propagandaplakat aus dem Zweiten Weltkrieg mit dem Titel »Deutscher! Soll das wieder Wahrheit werden?«, Poster Collection, GE 1200, Hoover Institution Archives. Vgl. https://digitalcollections.hoover.org/ objects/14296/deutscher-soll-daswieder-wahrheit-werden, vom 27.2.2021.

149 54

›Wir‹ meint hier vorerst alle Leser_innen. Allerdings gilt hier kritisch zu prüfen, ob in diesem Punkt eine zu starke Verallgemeinerung vorgenommen wird.

55

Sara Ahmed, 2006, S. 56.

56

Vgl. ebd. S. 107.

57

›Wir‹ meint hier alle Leser_innen.

58

Vgl. Kaja Silverman, 1997.

59

Nicholas Mirzoeff: »The Multiple Viewpoint. Diaspora and Visual Culture«, in: Nicholas Mirzoeff (Hg.), The Visual Culture Reader, London, New York: Routledge 2002, S. 204—214, hier S. 208. Im Begriff des Viewpoints, mit dem Mirzoeff operiert, ist der Begriff des Standpunkts mit der Frage des Sehens und des Sichtbaren bzw. des Wahrnehmbaren bereits verbunden.

Queer of Color-Kritik und visuelle Kultur

Stereotyp des ›Schwarzen Vergewaltigers‹ als Bedrohnungsszenario um die Zustimmung der (weißen) deutschen Bevölkerung zum Krieg zu gewinnen. Die Propaganda suggeriert, dass das Bedrohliche nicht nur die vermeintliche Gefahr sexualisierter Gewalt ist, sondern auch die ›Rassenmischung‹. Wie kommt es also, dass derart rassistische Bilder als nahezu direkte Bildzitate im Jahre 2015 in unterschiedlichen Medien zeitgleich erscheinen können und das trotz eines vermeintlich gesellschaftlichen Konsenses bezüglich der Ablehnung rassistischer und nationalsozialistischer Ideologie? Hier wird die strukturelle Dimension von Rassismus und anderer Machtverhältnisse auf der medialen Ebene deutlich. Das Potenzial rassismuskritischer Analysen von Kunst und visueller Kultur besteht darin, die Unmittelbarkeit herauszufordern und anzufechten, die Visuellem — wenn es sich nicht gerade um abstrakte Kunst handelt — zugesprochen wird. Die Vorstellung, Bilder seien ›selbsterklärend‹ und bedürften keiner Dekodierung, macht rassistische und andere Repräsentationsregime so machtvoll. Ein weiterer Ansatzpunkt von rassismuskritischen Analysen visueller Kultur ist zudem, genau bei den Aspekten anzusetzen, die die Herstellung, Darstellung und Vorstellung von ›Rasse‹ prägen, die sich jedoch häufig der Wahrnehmung entziehen. Der Kaja Silvermans Begriff des Blickregimes verdeutlicht, wie gesellschaftliche Machtverhältnisse bedingen, was und wie wir54 überhaupt wahrnehmen können. Allerdings wird die Frage, ob die Positionierung von Subjekten einen Unterschied in Bezug auf die Beschaffenheit des Vorgesehenen machen kann, leider nicht von ihr diskutiert. In ihrem Text adressiert sie ein nicht näher definiertes ›Wir‹, was ich so deute, dass sie davon ausgeht, dass ›unser‹ Verhältnis zum Blickregime das gleiche ist. Um kritisch zu hinterfragen inwiefern der Screen oder das kulturelle Bildrepertoire für alle Mitglieder einer Gesellschaft gleich sind, ist es nützlich, erneut auf Sara Ahmeds Argument zurückzukommen, wonach durch »orientations we have already taken«55 bedingt ist, welche Objekte zu Objekten der Wahrnehmung werden und was »within reach«56 ist. Mit Ahmeds Zugang kann eine Rekonfiguration des Blickregimes vorstellbar werden, denn — wenn wir57 das Blickregime materialisiert denken, im phänomenologischen Sinn als verkörpert und räumlich situiert, dann ist denkbar, dass der Screen in Abhängigkeit vom jeweiligen Blickwinkel, von der Positionierung zu ihm, ›anders‹ aussieht.58 Im Zusammendenken von Silvermans Theorie des Blickregimes mit Fragen von Positionierung und Orientierung besteht also ein Potenzial zur Veränderung des Screens bzw. kulturellen Bildrepertoires. Nicholas Mirzoeffs Begriff des »multiple viewpoint«59 kann in diesem Sinn produktiv gemacht werden: »The viewpoint

150

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

moves beyond the one-point perspective of Cartesian rationalism in the search for a forward-looking, transcultural and transitive place from which to look and be seen.«60 Während ich mit Mirzoeff darin übereinstimme, dass es eine Alternative braucht zu einer singulären, hegemonialen Perspektive, so denke ich nicht, dass von diesem multiplen Viewpoint aus ausschließlich nach vorne geblickt werden sollte. Denn in einer Orientierung des Blickes nach vorne, auch wenn damit eine progressive, transformative Ausrichtung gemeint ist, sind zwangsläufig die Objekte, die sich hinten befinden, keine Objekte der Wahrnehmung. Auch der Begriff des (multiplen) Viewpoint kann derart mit Sara Ahmeds queer-phänomenologischem Ansatz erweitert werden und in Bezug auf seine Orientiertheit reflektiert werden. Nichtsdestotrotz hat Mirzoeffs multipler Viewpoint auch etwas Visionäres — er ist transkulturell und transitiv und wird vorgestellt als ein Ort, von dem aus sehen und gesehen werden gleichermaßen möglich sind, also SubjektObjekt Beziehungen nicht einseitig sind.61 Verbunden mit einer Analyse von Machtverhältnissen im Feld des Visuellen ist damit die Frage nach deren Veränderung oder Überwindung. Wenn im Feld des Visuellen Macht- und Herrschaftsverhältnisse konstruiert, aufrechterhalten, legitimiert und normalisiert werden und somit Kämpfe um Hegemonie im Feld des Visuellen ausgetragen werden, dann müssen Bestrebungen zu gesellschaftlicher Veränderung und Versuche der Transformation auch dort ansetzen. Dieses Bewusstsein ist meines Erachtens noch nicht ausreichend in emanzipatorischen Bewegungen und machtkritischen wissenschaftlichen Ansätzen ›angekommen‹.

60

Ebd. S. 208.

61

Vgl. ebd.

62

Michele Wallace, 1992, S. 343.

63

Michele Wallace, 1992.

64

Ebd. S. 343.

»A Revolution in Vision«62 (Wallace) Michele Wallace fragt am Schluss ihrer Ausführungen in »Afterword: ›Why Are There No Great Black Artists?‹ The Problem of Visuality in African-American Culture«63 nach dem »potential for a revolution in vision«64. Ich verstehe darunter die Vision, dass eine intersektionale Revolution auch auf der Ebene von visueller Kultur ansetzt. Bilder bzw. ein kulturelles Bildrepertoire und Repräsentationsregime werden in dieser Vision umgearbeitet und verändert in einer Art und Weise, die die fortwährende (Re-)Produktion von rassistischem, queerund transfeindlichem, klassistischem, ableistischem, sexistischen, ageistischem, fettfeindlichem, etc. Othering nachhaltig unterbricht. Allerdings haben wir bereits gesehen, dass sich Bilder bzw. Repräsentationen, die u.a. rassistisch strukturierte hierarchische Machtordnungen hervorbringen und stützen, nicht so ohne weiteres verändern lassen. Beispielsweise reicht es nicht aus, bestimmte rassistische Stereotype als ›falsch‹ zu entlarven oder negativen Bildern positive, empowernde Bilder

151 65

Stuart Hall, 1997, S. 269—274.

66

Ebd. S. 269.

67

Ebd. S. 274—275.

68

Michele Wallace, 1992, S. 343.

69

Vgl. adrienne maree brown, 2017, S. 19.

Queer of Color-Kritik und visuelle Kultur

entgegenzusetzen, weil Stereotype einerseits häufig in sich widersprüchlich sind und sich positive Umdeutungen wieder schnell ins Gegenteil verkehren können, wie Stuart Hall erläutert.65 Zwar erwähnt er Strategien des »contesting racialized regimes of representation«66, die er in Arbeiten von Isaac Julien, Rotimi Fany-Kayode und anderen ausmacht, also gerade in Arbeiten schwuler Schwarzer Künstler, die, wie er sagt, die Mechanismen der Repräsentation selbst offenlegen,67 doch werden diese Strategie und die transformatorischen und emanzipatorischen Momente leider nur kurz angerissen und nicht ausführlich erklärt. Mich interessiert genau diese Frage: Wie lassen sich die Regime der Repräsentation aufbrechen, wenn zugleich sehr viele Mechanismen existieren, die sie aufrechterhalten, stabilisieren und damit letztlich einer Veränderung von rassistischer Ideologie im Weg stehen? Und was lässt sich in diesem Zusammenhang lernen von Arbeiten von QTIBIPoCKünstler_innen? Was für Strategien gibt es und was gibt es möglicherweise für utopische Momente einer »revolution in vision«68, eines Queer Worldmaking oder an Ideen, die dazu beitragen, ›uns‹ zu befreien?69 In dieser Frage entstehen produktive Verbindungen der Zugänge von Queer of Color-Kritik und visueller Kulturwissenschaft.

152 1

Siehe weiter oben. Vgl. Josch Hoenes, 2014 und Josch Hoenes, 2017.

2

Eve Kosofsky Sedgwick, 2014, S. 385.

3

Vgl. Kath Browne / Catherine J. Nash (Hg.): Queer Methods and Methodologies. Intersecting Queer Theories and Social Science Research, Farnham, Surrey, England, Burlington, VT: Ashgate 2010.

4

Ebd. S. 12.

5

Linda Tuhiwai Smith, 2012.

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

(4) »Teilnehmende Lektüre« 1 und »reparative Praxen«2 Methoden queeren und dekolonisieren Wissenschaftskritische Zugänge aus queeren, feministischen, postkolonialen und rassismuskritischen Perspektiven setzen neben den Ebenen der Forschungsethik und den diskursiven Praxen auch bei der Ebene der Methoden an. Die traditionellen Methoden verschiedener wissenschaftlicher Zugänge drohen, epistemische Gewalt zu (re-)produzieren, indem marginalisierte Subjekte zu (Forschungs-)Objekten gemacht werden. Oder sie können einfach ungeeignet sein für Fragestellungen, die über die Horizonte eurozentrischer und heteronormativer Perspektiven hinausweisen. Aus diesem Grund müssen queere und rassismuskritische Methoden (weiter-)entwickelt werden, die die (Re-)Produktion epistemischer Gewalt vermeiden und die brauchbare Werkzeuge liefern, um marginalisierten Perspektiven Raum zu verschaffen und sie in den Bereich des Sagbaren zu bringen. Welche Methoden erlauben es, zudem die gelebte Erfahrung und das verkörperte Wissen minorisierter Subjekte stärker zu berücksichtigen? Mit meinen methodischen Überlegungen knüpfe ich unter anderem an Fragestellungen aus Queer Methods and Methodologies3 an. Die Herausgeber_innen Catherine Nash und Kath Browne erklären, dass ein Queeren von Methoden sowohl Herausforderungen als auch neue Möglichkeiten für traditionelle Methoden bedeuten kann. Allerdings muss hier angemerkt werden, dass sie eher eine soziologische Perspektivierung einnehmen. Sie argumentieren, dass es keine queeren Methoden als solche gebe, denn queeres Leben könne durch eine Vielzahl von Methoden adressiert werden, bzw. könnten an sich alle Methoden dazu verwendet werden, Normativitäten kritisch zu befragen. Demnach ist für sie die Frage des Queerens von Methoden eine Frage politischer und ethischer Überlegungen.4 Ähnlich habe ich bereits weiter vorne argumentiert, dass wissenschaftliche Arbeit zu und mit Wissen und Kunst minorisierter Subjekte eine Haltung epistemischer Community Verantwortlichkeit bedarf. Was bedeutet das für methodische Fragen? Linda Tuhiwai Smith, die mit ihrem Buch Decolonizing Methodologies5 einen wichtigen Beitrag für Überlegungen zur Dekolonisierung von Methoden und Methodologien geleistet hat,

153 6

Ebd. S. 2. Ich danke Anisha Müller für den Hinweis auf dieses Zitat.

7

Vgl. u.a. Linda Tuhiwai Smith: Decolonizing Methodologies. Research and Indigenous Peoples, London, New York: Zed Books; Palgrave MacMillan 2012.

8

Ebd.

Queer of Color-Kritik und visuelle Kultur

schreibt direkt zu Beginn ihrer Studie: »The word itself, ›research‹, is probably one of the dirtiest words in the indigenous world’s vocabulary.«6 Eine ablehnende Haltung gegenüber Forschung ist im Angesicht der Gewalt und Entmenschlichung, denen Indigenous People im Namen der Wissenschaft ausgesetzt waren, mehr als verständlich. Koloniale Strukturen sind eingeschrieben in (westliche) Wissenschaft und drohen somit immer wieder reproduziert zu werden, wenn nicht aktiv an Dekolonisierung gearbeitet wird. Einen weiteren wichtigen Punkt, den Smith aufmacht, ist die Frage danach, wer von Forschung über / zu Indigenous People und ihren Geschichten und Kulturen profitiert, selbst wenn es sich um Forschungsprojekte mit kritischen und solidarischen Intentionen handelt. Einseitiges Extrahieren von Ressourcen ist eine koloniale Praktik7 — das betrifft auch Wissen und Kultur. Smith kritisiert, dass Indigenous People, die ihr Wissen und ihre Geschichten für (postkoloniale) Forschung zur Verfügung stellen, selbst oft nichts von dieser Forschung haben. Sie plädiert dafür, dass etwas zurückgegeben werden muss und gewonnene Erkenntnisse in die entsprechenden Communitys zurückgetragen werden.8 Was kann ich beispielsweise im Gegenzug zurückgeben an die Künstler_innen, an die Community von deren Wissen ich profitiere für meine Forschung und meine Karriere? Wie kann eine Wissenschaftspraxis aussehen, die nicht ausbeuterisch mit minorisiertem Wissen umgeht? Meines Erachtens erfordert dies sowohl ein kritisches Verständnis von intersektionalen Machtverhältnissen als auch eine Orientierung an den Perspektiven minorisierter Communitys. Eine erstrebenswerte Form der Wissensproduktion in diesem Sinn wäre eine, die auf Austausch basiert. Austausch beinhaltet eine Wechselseitigkeit und eine Begegnungssituation auf gleicher Augenhöhe. Allerdings stellt sich diesbezüglich erneut die Frage des Umgangs mit Hierarchien und Anerkennung unterschiedlicher Formen der Wissensproduktion. Künstlerische Arbeiten lesen? Wie wird Bedeutung produziert in den zeitgenössischen und intermedialen künstlerischen Arbeiten von queeren Künstler_innen of Color? Ich verstehe Kunst wie Sprache als ein Zeichensystem, innerhalb dessen Praxen des Codierens / Decodierens greifen. Damit folge ich Kunst- und Medienwissenschaftler_innen sowie Wissenschaftler_innen der Visual Culture Studies / Studien zur visuellen Kultur, die semiologische Zugänge z.B. im Anschluss an Roland Barthes und repräsentationskritische Zugänge im Anschluss an Stuart Hall aufgegriffen und weitergedacht haben. Daraus folgt die Notwendigkeit eine Lektürepraxis zu entwickeln, die es möglich macht, die Arbeiten zu lesen. Zur Bearbeitung des Wie der Bedeutungsproduktion arbeite ich mit einem semiologischen

154

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

Ansatz in der Analyse von Kunst und visueller Kultur. Gleichzeitig verfolge ich einen diskursanalytischen Ansatz, um die Effekte und Konsequenzen von Repräsentation zu reflektieren. Diese Verbindung ist mit Stuart Hall eine, die es erlaubt sowohl die »poetics«9 als auch die »politics«10 von Repräsentation in den Blick zu nehmen. Konkret ist damit gemeint, dass ich meine Analysen der künstlerischen Arbeiten und deren mögliche Bedeutungsproduktionen mit verschiedenen Diskursen zu Rassisierung / Rassismus, Homofeindlichkeit, Transfeindlichkeit und Sexismus in Verbindung bringe. Dabei referiere ich auf die Art und Weise, wie diese Themen in (QTI)BIPoC-Communitys verhandelt werden, und stelle Bezüge her zu Queer of ColorKritik mit Schwerpunkt auf die Themenfelder Disidentifikation, Überleben und Un-Archiving. Semiologische Analysen sind, wie Josch Hoenes argumentiert, üblicherweise einem Modus der Ideologiekritik verschrieben, in dem bestimmtes Material auf seinen Anteil an der (Re-)Produktion hegemonialer Diskurse hin untersucht und kritisiert wird.11 Ein solcher Zugang kann mit Eve Kosofosky Sedgwick als »paranoid reading«12 verstanden werden.13 Sedgwick verwendet diesen Begriff mit einer gewissen (Selbst-)Ironie. So lautet der Untertitel: »or, You’re So Paranoid, You Probably Think This Text Is About You«. Zudem nimmt sie sich selbst gar nicht davon aus, paranoide Lektüren produziert zu haben. Ihr Text ist eine Intervention in den theoretischen Diskurs der Queer Studies. Sie nimmt eine Tendenz wahr, stark in die transformative Wirkung der »Aufdeckung«14 von normalisierten und naturalisierten Gewaltverhältnissen zu vertrauen. Michel Foucault und Judith Butlers Theorien dienen Sedgwick als Referenzen um zu verdeutlichen, was sie mit einer paranoiden Hermeneutik meint. Ich verstehe Sedgwick so, dass sie damit eine Grundannahme ideologiekritischer und poststrukturalistischer Ansätze zur Disposition stellt, nämlich die, dass Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die gewaltvolle Zustände hervorbringen, tatsächlich so ›verschleiert‹ und nicht wahrnehmbar sind und dass ihre Enttarnung Veränderung bewirkt. Was aber, wenn auf ein solches Erkennen von Gewalt nicht mit Umdenken, sondern mit einem Schulterzucken reagiert wird? So erklärt Sedgwick:

9

Stuart Hall, 1997, S. 6.

10

Ebd.

11

Vgl. Josch Hoenes, 2014.

12

Eve K. Sedgwick, 2003. Der Text wurde 2014 auf Deutsch veröffentlicht: Eve Kosofsky Sedgwick, 2014

13

Anja Sunhyun Michaelsen diskutiert Anschlussmöglichkeiten von Sedgwicks Essay für die deutschsprachigen Queer Studies und die medienwissenschaftliche Geschlechterforschung. Vgl. Anja Michaelsen: »Sedgwick, Butler, Mulvey: Paranoide und reparative Perspektiven in Queer Studies und medienwissenschaftlicher Geschlechterforschung«, in: Manuela Günter / Annette Keck (Hg.), Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Gender Studies, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2018, S. 97—116.

14

Eve Kosofsky Sedgwick, 2014, S. 380.

»Darüber hinaus scheint die Kraft jedes Interpretationsprojektes, das versteckte Gewalt enthüllen will, auf einen kulturellen Kontext angewiesen zu sein, in dem Gewalt missbilligt wird und folglich von vornherein verborgen sein muss — ähnlich wie in Foucaults frühen Arbeiten. Doch warum in einem Land, in dem vierzig Prozent der jungen Schwarzen Männer dauerhaft in das Strafsystem verstrickt sind, die Mühe machen, die Listen der Macht aufzudecken? In den vereinigten Staaten wie auch international gibt es eine Menge

155 15

Ebd.

16

Sara Ahmed, 2006, S. 55.

17

Eve Kosofsky Sedgwick, 2003.

18

Yener Bayramoğlu: Queere (Un-)Sichtbarkeiten. Die Geschichte der queeren Repräsentationen in der türkischen und deutschen Boulevardpresse, Bielefeld: transcript 2017, S. 9.

Queer of Color-Kritik und visuelle Kultur

versteckter Gewalt, die aufgedeckt werden muss, während sich gleichzeitig zunehmend ein Ethos breitmacht, in dem von Anfang an hyper-sichtbare Formen von Gewalt eher als exemplarisches Spektakel dargeboten werden, als dass sie als skandalöses Geheimnis enthüllt werden müssten.«15 Aktuelle Beispiele, die, ähnlich wie die von Sedgwick für die USA beschriebenen, darauf hindeuten, dass rassistische Gewalt nicht versteckt ist und struktureller Rassismus nur dann unsichtbar ist, wenn ein aktives Wegsehen passiert, finden sich im deutschen Kontext einige. Tatsächlich können wir fragen, warum wir Zeit und Energie damit verbringen müssen, strukturellen Rassismus ›aufzudecken‹ und zu beweisen nach Hanau, nach Halle, nach dem NSU und NSU 2.0. Paranoid Readings involvieren eine Orientierung an der dominanzkulturellen Perspektive beziehungsweise ein Abarbeiten daran. Eine solche Orientierung beinhaltet jedoch oftmals eine Abwendung von minorisierten Perspektiven, denn das, was ›neu‹ und erklärungsbedürftig ist für einen dominanzkulturellen Diskurs, zum Beispiel dass es Probleme mit strukturellem Rassismus auch innerhalb von Institutionen wie der Polizei gibt, ist für viele nicht-weiße Menschen eindeutig und offensichtlich. Deswegen ist aus (QTI)BIPoC-Perspektive weniger die Frage wichtig, ob es Rassismus gibt, als wie wir größere Sicherheit schaffen und Rassismus überwinden können. So kann für (QTI)BIPoC gerade solches Wissen bedeutsam sein, welches im Kontext wissenschaftlicher Forschung als wenig relevant betrachtet wird oder »beyond the horizon«16 und deswegen nicht in Reichweite ist. Eine Kritik an »paranoid readings«17 bedeutet in meinem Verständnis nicht, dass dieser Zugang verworfen werden muss. Sedgwick ermöglicht es durch ihren kritischen Einwand, strategischer zu entscheiden, wann welche Arten von Analysen einer übergeordneten Frage nach Verwirklichung von sozialer Gerechtigkeit zuträglich sind. So geht es ihr auch darum, zu prüfen, wo und wie die begrenzten Ressourcen von sozialen Bewegungen und ihnen zugehöriger Wissenschaftler_innen am besten eingesetzt sind. Ich möchte außerdem anmerken, dass künstlerische und wissenschaftliche Forschung zu gewaltvollen Themen auch stark belastend oder retraumatisierend sein kann, insbesondere für (Forscher_innen-)Subjekte mit strukturellen (Mehrfach-)Diskriminierungserfahrungen. Yener Bayramoğlu, der zu queeren Repräsentationen in der türkischen und deutschen Boulevardpresse geforscht hat, spricht Gülay Akın zu Beginn des Buches nicht nur dafür Dank aus, dass sie geholfen hat, türkische Berichte zu übersetzen, sondern auch dafür, dass sie »aufgrund der Negativität, Homo- und Transfeindlichkeit der Texte, […] zusammen mit mir gelitten hat«.18 Er legt damit offen,

156

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

19

Vgl. Josch Hoenes, 2014. S. 148.

20

Eve Kosofsky Sedgwick, 2014, S. 385.

dass seine Forschung und sein Material etwas mit ihm machen, was nicht immer leicht auszuhalten ist.

21

Anja Michaelsen, 2018, S. 98.

22

Vgl. Josch Hoenes, 2014, siehe darin das Kapitel »Objektivierung: visuelle Repräsentationen lesen — aber wie?«, S. 123—155. Seinen Ansatz der teilnehmenden Lektüre hat Josch Hoenes später noch zugespitzt: vgl. Josch Hoenes, 2017.

Mit dem Material intervenieren Was wäre also eine alternative Herangehensweise zu den paranoiden ideologiekritischen Lesarten visueller Kultur? Im Gegensatz zu den meisten semiologischen Analysen ist Josch Hoenes Ausrichtung in seiner Forschung eine, die mit seinem Material hegemoniale Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität in Bezug auf Transmännlichkeit kritisieren will. Das Material — bei ihm die fotografischen Arbeiten von transmännlichen Künstlern — wird somit Ausgangspunkt für Ideologie- und Gesellschaftskritik.19 Indem er mit seinen Analysen im weiteren Schritt herausarbeitet, wie Transmännlichkeit in den jeweiligen Arbeiten konstruiert und verhandelt wird in einer — und das ist wichtig — für andere trans* Personen ermächtigenden Art und Weise, kann Hoenes mit den Arbeiten in hegemoniale Diskurse und in den Wissenschaftsdiskurs intervenieren. Diese Art der Orientierung ist eine, in der ich mich wiederfinden kann im Zusammenhang mit meinem methodischen Zugang bei der Analyse von Arbeiten von QTBIPoC-Künstler_innen. Das bedeutet keineswegs einen Zugang, in dem hermeneutisch die Intention der_des Autor_in rekonstruiert werden soll, sondern einen, bei dem mit dem Material eine Queer of Color-Kritik im Feld des Visuellen formuliert wird und die Fragestellung selbst erst einmal offen ist. Ein solcher Ansatz ist einer, der — mit Sedgwick — ausgerichtet ist auf »reparative Praxen«20, der nach den »lebensermöglichenden Strategien unterdrückter und marginalisierter Gruppen fragt«.21 Ich habe bewusst eine Fragestellung und künstlerische Positionen ausgewählt, die mich selbst und andere ermächtigen können und die kritische Wissensproduktionen und ästhetische Praxen aus QTIBIPoC-Perspektiven amplifizieren. Analyse und Teilnahme Josch Hoenes’ Theoretisierung seiner methodischen Herangehensweise ermöglicht mir eine Präzisierung meines eigenen Zugangs, weil seine semiologische Lektüre der Arbeiten transmännlicher Künstler auf seiner Teilnahme an den Kontexten, in denen diese zirkulieren und mit Bedeutungen versehen werden, basiert.22 Er entwickelt seinen methodischen Zugang ausgehend von seiner Situierung und der Problematik, als Transmann zugleich selbst Teil der Strukturen zu sein, in und zu denen er forscht. Aus diesem Grund ist sein Zugang von besonderer Relevanz für meine Arbeit, denn ich habe es ebenfalls mit dem Umstand zu tun, selbst Teil von Communitys zu sein, zu denen ich forsche und deren Angehörigen im Kontext von Wissenschaftsgeschichte in der Regel die Rolle des Forschungsobjekts zugewiesen wurde, jedoch selten die des

157 23

Josch Hoenes bezieht sich hier hauptsächlich auf Clifford Geertz und seinen Begriff der dichten Beschreibung. Siehe Clifford Geertz: »Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur«, in: Uwe Wirth (Hg.), Kulturwissenschaft. Eine Auswahl grundlegender Texte, Frankfurt am Main 2008, S. 453—487. Hoenes verweist für eine weiterführende Diskussion der teilnehmenden Beobachtung auf Brigitta HauserSchäublin: »Teilnehmende Beobachtung«, in: Bettina Beer (Hg.), Methoden ethnologischer Feldforschung, Berlin: Reimer 2008, S. 37—58.

24

Sara Ahmed, 2006, S. 107.

25

Sara Ahmed, 2006, S. 22.

26

Vgl. Josch Hoenes, 2017, S. 75.

Queer of Color-Kritik und visuelle Kultur

Forscher_innen-Subjekts. Hoenes verbindet die semiologischen und repräsentationskritischen Werkzeuge der Lektüre von Bildern und Zeichen mit denen der ethnografischen Methode der teilnehmenden Beobachtung. Die teilnehmende Beobachtung charakterisiert Hoenes mit Rückgriff auf Geertz und andere,23 als Methode, die darauf abzielt, eine Nähe herzustellen, um die Angehörigen einer bestimmten Kultur verstehen zu können, um Bedeutungen so erklären zu können, wie die Angehörigen der jeweiligen Kultur(en) sie selbst verstehen. Zugleich werde eine Perspektive der Distanz eingenommen, durch die es möglich sei, das Selbstverständliche, Alltägliche, das aus der Nähe der Eigenperspektive oft nicht beschreibbar / lesbar ist, zu analysieren. Diese Wahl der Methode mag zunächst verwundern, da Ethnologie und ihre Methodik aus einer postkolonialen Perspektive stark kritisiert werden hinsichtlich der wissenschaftlichen Herstellung des ›Anderen‹ und der Bereitstellung und Produktion von Wissen im Dienst des Kolonialismus. Hoenes benutzt diesen Ansatz dagegen, um sowohl seine Teilnahme als auch seine Nähe zu seinem ›Thema‹ methodisch zu reflektieren. Die Teilnahme ist hier nicht die eines Außenseiters, der große Anstrengungen vollbringt, um die Innenperspektive einer als ›Andere‹ konstruierten Gruppe zu erhalten, um Wissensobjekte erreichen zu können, die sonst nicht »within reach«24 sind. Hoenes reflektiert seine Arbeit als Wissenschaftler innerhalb der kulturwissenschaftlichen Geschlechterforschung, also einem Feld, in dem zu und über Transsein geforscht wird, jedoch selten von trans* Personen, im Zusammenhang mit seiner eigenen Situierung und der damit verbundenen Perspektive. Eine solche Selbstobjektivierung bringt für Wissenschaftler_innen, die selbst marginalisiert sind und strukturelle (Mehrfach-)Diskriminierungserfahrungen machen, zugleich ein Risiko mit sich, selbst verletzlich zu werden oder als Wissenschaftler_in weniger ernst genommen zu werden aufgrund von Abweichungen von den »disciplinary lines«25. Hoenes beschreibt, dass er aufgrund seiner doppelten Verortung eine Diskrepanz wahrnehmen konnte, zwischen den Artikulationen von trans* Personen selbst und von der Forschung zu trans* Personen bzw. dem ›Phänomen‹ von Transsexualität / Transgender. Außerdem machte er die Erfahrung bei Vorträgen vor einem kunst- und kulturwissenschaftlich geschulten Publikum, dass die Bilder und die darin zu sehen gegebenen Repräsentationen von Transmännlichkeit für dieses nicht lesbar waren, weil trans-spezifisch codierte Zeichen ›übersehen‹ wurden oder an der problematischen Vorstellung festgehalten wurde, Geschlecht anhand von Genitalien eindeutig ablesen zu können.26 Die Erfahrung, eine Diskrepanz und auch eine Distanz wahrzunehmen zwischen einer kunst- und

158

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

27

Dieser Umstand wird von Josch Hoenes selbst bedeutsam gemacht und hier wiedergegeben, weil es die Verbindung seines wissenschaftlichen Denkens mit der Reflexion seines verkörperten Erfahrungswissens und seines politischen Aktivismus ist, die seine Methode ausmachen.

28

Vgl. Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989 (1980).

29

›Uns‹ meint hier Fotografie visuell rezipierende, also sehende Leser_innen.

medienwissenschaftlichen Auseinandersetzung beispielsweise mit Fragen von Post- und Dekolonialität und den Diskursen innerhalb von BIPoC-Communitys ist eine, die ich aus meiner spezifischen Perspektive teile. Aufgrund meiner »Teilnahme« in (QTI)BIPoC-Communitys und in kunst- und medienwissenschaftlichen sowie künstlerischen Kontexten, verfüge ich über ein Wissen, wie darin bestimmte Themen diskursiv verhandelt werden. Meine subjektiven Disidentifikations-Erfahrungen in diesen unterschiedlichen Räumen bedingen ebenfalls meine Perspektive. Momente der Disidentifikation, beispielsweise mit normativem Weißsein in akademischen Räumen, haben mit der Zeit dazu geführt, dass ich eine spezifische Orientierung entwickelt habe, die sich sowohl durch die Nähe einer Innenperspektive als auch durch Distanz aufgrund von Disidentifikation auszeichnet. Meine Teilnahme, Momente der Disidentifikation und meine Orientierung bedingen meine Fähigkeit zur Wahrnehmung von Diskrepanzen zwischen akademischen Diskursen und (QTI)BIPoC-Community Diskursen. In der Wahrnehmung dieser Diskrepanz wird zugleich die Unterrepräsentation von BIPoCs und erst recht von QTIBIPoCs in der Wissenschaft im deutschen Kontext deutlich. Bei Josch Hoenes sind es Trans*-Community-Strukturen, innerhalb derer die künstlerischen Produktionen hervorgebracht werden, die ihn interessieren als Artikulationen von transmännlichen Selbstentwürfen sowie als Gegendiskurse und Unterbrechungen medizinischer, legislativer und juristischer Diskurse und des Mainstream-Diskurses, innerhalb dessen trans* Personen pathologisiert, entmenschlicht und zum Anderen gemacht werden. Diese Arbeiten affizieren ihn zugleich selbst, gerade im Prozess seiner Transition, die sich zeitlich mit seinem Forschungsprozess überschnitten hat.27 Sie machen etwas mit ihm, und er macht wiederum etwas mit den Bildern. Diese Art der Affizierung durch die Arbeiten, vergleicht Hoenes mit dem von Roland Barthes beschriebenen Punctum,28 das sich, etwas verkürzt gesagt, verstehen lässt als ein Moment des persönlichen, irrationalen Berührt-Werdens durch eine Fotografie. Etwas nur schwer Greifbares in einem fotografischen Bild fängt den Blick, weckt unser 29 Interesse, zieht uns ins Bild hinein. Hoenes macht seine Positionierung und damit verbundene subjektive Erfahrungen bedeutsam für seine Affizierung. Positionierung und Affizierung hängen miteinander zusammen. Mein EmpowermentProzess als deutschtürkische queere Femme of Color — der wiederum mit meinem Forschungsprozess verbunden ist, hatte beispielsweise großen Einfluss darauf, welche Arbeiten mich besonders anziehen. Diese Anziehung wiederum bewirkt eine spezifische Orientierung, indem sie mich in einer bestimmten Art und Weise ausrichtet und bestimmt, wohin meine Aufmerksamkeit und damit meine Energie fließt.

Vgl. Josch Hoenes, 2017.

159 30

Das bedeutet jedoch nicht, dass dies eine singuläre, einheitliche Perspektive wäre — vielmehr reflektiert Josch Hoenes mit Bezug zu Gayatri Spivak und Michel Foucault, dass von den sehr heterogenen Trans*-Perspektiven meist nur bestimmte Subjekte überhaupt die Möglichkeit haben ›für sich selbst zu sprechen‹. Analog dazu erklärt Manuel Ricardo Garcia, dass es oft nur bestimmte Trans*-Subjekte sind, nämlich die, die ›schön‹ sind und ›stylisch‹, die besonders sichtbar werden und Unterstützung und Anerkennung bekommen. Manuel Ricardo Garcia im persönlichen Gespräch (19.1.2021). Für einen fotografischen Beitrag von Garcia zur Repräsentation von trans* Personen siehe: http://www.garciaphotography.com/, vom 19.1.2021.

31

Vgl. Jack Halberstam: In a Queer Time and Place. Transgender Bodies, Subcultural Lives, New York: New York University Press 2005, S. 76—96. Halberstam differenziert nicht immer eindeutig zwischen den Begriffen Transgender Look und Transgender Gaze.

32

Josch Hoenes, 2014, S. 146—155.

33

Eve Kosofsky Sedgwick, 2014, S. 395.

34

Ebd.

35

Dzifa Afonu / Jin Haritaworn / Raju Rage: »Von Archiven und alternativen Zukünften«, in: Manuela Bauche / Sharon Dodua Otoo (Hg.), Geschichte schreiben, Frankfurt am Main: Fischer 2018, S. 133—139, hier S. 133.

36

Den Gedanken, dass wir gegenwärtig in einer Zeit der Postapokalypse leben, übernehme ich von adrienne maree brown und autumn brown, die gemeinsam einen Podcast mit dem Titel »How to Survive the End of the World« produzieren. Vgl. https://www.endoftheworldshow. org/, vom 16.10.2020.

Queer of Color-Kritik und visuelle Kultur

Die Bilder, die Hoenes untersucht, zirkulieren in subkulturellen Kontexten und sind an der Schnittstelle von Kunst und Subkultur verortet. Hoenes verfügt aufgrund seiner Teilnahme in queer- und trans*-subkulturellen Kontexten über ein Wissen, wie die Bilder innerhalb von (deutschen) Trans*-Communitys rezipiert und verbreitet werden und welche persönlichen Effekte / Affekte diese Bilder auslösen.30 Dies ist ein spezifisches Wissen und eine Fähigkeit, aufgrund der eigenen Orientierungen und Positionierungen einen Transgender Gaze 31 einnehmen zu können. Ein zentraler Aspekt dabei ist, die Bilder vor dem Hintergrund gelebter Realität von Transmännern zu verstehen und zu affirmieren.32 Ein Verständnis der gelebten Realität ist nur möglich durch Nähe und Teilnahme. Dies ist wiederum eine Hinwendung zu »reparativen Praxen«33. Eve Kosofosky Sedgwick schreibt: »Was wir vielleicht am besten von solchen Praxen lernen können, sind die vielen Arten und Weisen, wie es dem Selbst und den Gemeinschaften gelingt, Nahrung aus den Objekten einer Kultur zu ziehen — selbst aus einer Kultur, deren erklärtes Begehren es häufig war, sie nicht zu nähren.«34 Der Wunsch, genau das zu lernen, zieht sich als Frage durch meine Analysen, die sicherlich stellenweise ebenfalls paranoide Züge aufweisen. Reparative Praxen zu finden in dem verkörperten, theoretischen und künstlerischen Wissen von QTIBIPoCs scheint im Angesicht eines »mörderischen Status quo«35 den gegenwärtigen Zeiten der ›Postapokalypse‹,36 besonders wichtig.

III

KÜNSTLERISCHE STRATEGIEN DER DISIDENTIFIKATION, DES ÜBERLEBENS UND DES UN-ARCHIVING

162 1

José Esteban Muñoz, 1999, S. 25.

2

Wie zuvor verwende ich diesen Begriff analog zu Sara Ahmed, 2006, S. 80.

3

Sara Ahmed, 2006, S. 70.

4

José Esteban Muñoz, 1999, S. 25.

5

Ebd.

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

(1) Disidentifikatorische Wissensproduktionen in Hasan Aksaygıns Arbeit JHAD (2015) DISIDENTIFIKATION ALS ANALYSEPERSPEKTIVE Um Verbindungen zwischen positioniertem QTIBIPoCErfahrungswissen und künstlerischem Wissen herauszuarbeiten, arbeite ich im folgenden Kapitel weiter mit Muñoz Theorie der Disidentifikation als meine Analyseperspektive für die Arbeit JHAD von Hasan Aksaygın. Disidentifikation ist in meinem Verständnis eine Analyseperspektive in doppelter Hinsicht: Es ist ein methodologisches Werkzeug, das ich anwende, um disidentifikatorische Praxen in der künstlerischen Arbeit von QTIBIPoC-Künstler_innen herauszuarbeiten. Des Weiteren ist es die »hermeneutische Performance«1, die Analyseperspektive der Künstler_innen selbst, die künstlerisch ausgedrückt wird. Es ist der disidentifikatorische Blick, der mich in der Arbeit JHAD interessiert, sowie die Frage, welche Potenziale, Relektüren und neue Narrative daraus hervorgebracht werden. Die Arbeit ist dabei ein Objekt, dem ich folge, ein alternatives Orientation Device2, das mir helfen soll, Pfade abseits der »straight line«3 zu finden, von denen ich mir verspreche, dass sie mich zu einem kritischen Gegenwissen führen bzw. zu Orten, an denen sich widerständige Strategien im Umgang mit heteronormativen und rassistischen Repräsentationsregimen erlernen lassen. Um besser zu verstehen, wodurch sich eine disidentifikatorische QTIBIPoC-Perspektive auszeichnet und was sie von hegemonialen Positionen unterscheidet, lohnt es sich, den im Theoriekapitel zu Queer of Color-Kritik eingeführten Begriff der Disidentifikation weiter zu vertiefen. Muñoz schreibt: »For the critic, disidentification is the hermeneutical performance of decoding mass, high, or any other cultural field from the perspective of a minority subject who is disempowered in such a representational hierarchy.«4 Disidentifikation als »hermeneutische Performance«5 oder, einfacher gesagt, als Analyseperspektive, fragt also danach, wie minorisierte Subjekte Zeichen verschiedener kultureller

163 6

José Esteban Muñoz, 1999, S. 25.

7

Vgl. ebd. S. 31.

8

Vgl. ebd.

9

Der Begriff ist, wie bereits erwähnt, in beiden Büchern von Muñoz zentral. Ich verwende ihn im Folgenden immer mit Bezug auf Muñoz 1999 und Muñoz 2009. Siehe hierzu auch das Kapitel Queer of Color-Kritik.

Künstlerische Strategien der Disidentifikation, des Überlebens und des Un-Archiving

Felder decodieren. Hier ist wieder einer der Kerngedanken von Queer of Color-Kritik bedeutsam: Minorisierte Subjekte — konkreter: Queers of Color bzw. QTIBIPoCs — haben eine spezifische Perspektive, gerade weil sie ›disempowered‹ sind, also entmächtigt, innerhalb von Hierarchien der Repräsentation bzw. von Repräsentationsregimen, um bei Stuart Hall zu bleiben. Um innerhalb einer wissenschaftlichen Arbeit mit Disidentifikation als Analyseperspektive zu arbeiten, muss daran angeknüpft und ein Weg gefunden werden, die »hermeneutische Performances«6 von QTIBIPoCs nachzuzeichnen. Das ist keine Selbstverständlichkeit und wird erschwert aufgrund der bereits dargestellten Ausschlussmechanismen und Abwertungen von Wissen von QTIBIPoCs, wodurch diese Perspektiven innerhalb von Wissenschaft nahezu unintelligibel (nicht-wahrnehmbar / verstehbar) sind — oder nicht in Reichweite. Die Verwendung von Disidentifikation als Analyseperspektive ist stark mit meiner übergeordneten Frage verbunden, was für Orientierungen sich ergeben, wenn die Perspektiven von QTIBIPoCs der Startpunkt sind. Für mich bedeutet es darüber hinaus, als queere Wissenschaftlerin of Color selbst meinen disidentifikatorischen Blick zu nutzen und wertzuschätzen. Disidentifikation bedeutet, eine gewisse Distanz zu wahren zu bestimmten subjektivierenden Anrufungen der Dominanzkultur. Diese Distanz ermöglicht einen reflexiven Umgang mit strukturellen Machtverhältnissen, in anderen Worten: eine Form der Objektivierung. Welche Beschreibungen, Kritiken und Visionen kommen also in Reichweite durch eine disidentifikatorische Perspektive? Das Potenzial von Disidentifikation geht, so Muñoz, über das Aufbrechen und Aufdecken von normativen und hegemonialen Codes hinaus: Diese werden sozusagen als das Rohmaterial benutzt, um Positionalitäten und Politiken zu repräsentieren, die innerhalb der Dominanzkultur nicht denkbar sind.7 Disidentifikation wird von Muñoz an einer Stelle als Prozess des Recyclens und Neudenkens von codierten Bedeutungen beschrieben.8 Dabei wird die Botschaft eines kulturellen Textes durcheinandergewürfelt und rekonstruiert, sodass zugleich die dominanten, universalisierenden und ausschließenden Mechanismen offengelegt und umgearbeitet werden, und zwar in einer Weise, die empowernde Identifikationsangebote und Identitäten hervorbringt. Hier wird deutlich, dass für Muñoz die Dimensionen von Disidentifikation als Analyse, als ein produktiver Prozess und Queer Worldmaking9 sowie als Modus der Performance miteinander verbunden sind. Disidentifikation ist damit eine Analyseperspektive, durch die unterschiedliche Formen der Wissensproduktion zusammengedacht werden können. Das werde ich im Folgenden anhand der Arbeit JHAD von Hasan Aksaygın genauer darstellen.

164

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

10

Jasbir K. Puar, 2007.

11

Vgl. Sara Ahmed, 2004, S. 78—79.

12

Den Begriff des Terrorist Drag entwickelt Muñoz im Kontext seiner Analyse einer Performance von Vaginal Creme Davis. Ich verwende den Begriff im Folgenden mit Bezug auf Muñoz für die Analyse künstlerischer Strategien in Hasan Aksaygıns Arbeit JHAD.

Ich lese die Arbeit, deren Kernstück die Kunstfigur Jhad ist, die sich mit dem Künstler Hasan Aksaygın denselben Körper teilt, als Disidentifikation sowohl mit dem normativen Weißsein innerhalb des Kunstkontextes als auch mit Anrufungen an und Projektionen auf den Körper von Hasan Aksaygın. Der künstlerische Ansatz ist erstens eine Art Überlebensstrategie im Umgang und Aushandeln der normativen Fremd-Zuschreibungen an den männlich-muslimisch gelesenen Körper Jhads / Hasan Aksaygıns und zweitens ein Modus der Kritik, durch den ein künstlerischer Beitrag zu zentralen Themenfeldern von Queer of Color-Kritik wie Fragen nach »Homonationalismus«10, queeren Perspektiven auf die Figur des Terroristen sowie Zusammenhängen zwischen Rassisierung und Sexualisierung in kolonialen und postkolonialen Diskursen geleistet wird. Im Folgenden gebe ich zunächst einen kurzen Überblick über die Arbeit JHAD, wobei ich bereits einige Themen wie das Stereotyp des islamistischen Terroristen, Fetischisierung von Männern of Color innerhalb schwuler Szenen und orientalistisches Othering benenne. Ein wichtiges künstlerisches Mittel ist dabei das Spiel mit linguistischen und ikonografischen Zeichen — ein Recyclen und Rekonfigurieren von Codes ähnlich wie es Muñoz beschreibt. Im Anschluss daran widme ich mich den zwei disidentifikatorischen Strängen der Arbeit JHAD. Beim ersten Strang handelt es sich um die Disidentifikation mit den widersprüchlichen Projektionen auf den männlich-muslimisch gelesenen Körper deren ›Produkt‹ die Kunstfigur Jhad ist. Jhad ist dabei sowohl Objekt des Begehrens als auch »Objekt der Angst«.11 Die Arbeit JHAD lese ich mit Muñoz als eine Form von »Terrorist Drag«,12 über die bestimmte sexualisierte, vergeschlechtlichte und rassifizierte Stereotype parodiert und dekonstruiert werden. Diese disidentifikatorische Praxis ist besonders interessant im Hinblick auf die Frage, wie sich gewaltvolle Repräsentationen verändern oder zumindest entnormalisieren — das heißt auch: hinterfragbar machen — lassen. Der zweite Strang ist eine Disidentifikation mit dem normativen Weißsein und den (post-)kolonialen Kontinuitäten des Kunstkontextes, die sich darauf auswirken, wie Künstler_innen of Color innerhalb des Kunstbetriebs gelesen werden, wie sie ihre Kunst vermarkten können und welche Möglichkeiten von Identifikation mit der Subjektposition Künstler_in bestehen. Disidentifikation wird in diesem Zusammenhang also diskutiert als Modus der Kritik durch den Kulturanalysen produziert und künstlerisch vermittelt werden.

Vgl. José Esteban Muñoz, 1999, S. 93—115.

165 13

Hasan Aksaygın ist inzwischen neben Hank Yan Agassi, Jhad und Hasso Weiß Ehrenwerth nur noch eines von mehreren Pseudonymen bzw. Künstlerpersönlichkeiten, unter denen Natis arbeitet. »I named myself with a self-made word ›Natis‹, meaning ›nobody‹, compounding a prefix from the Persian language and a pronoun of ancient Greek. The reason of this is because the art-making that I materialize manifest itself through multiple and parallel research-based practices for each of which I create, embody, instrumentalize a different artist personality.« (Vgl. https://www. na-tis.com/about/, vom 15.08.2022). Ich behandle ausschließlich die Arbeit von Hasan Aksaygın, weswegen ich größtenteils bei diesem Pseudonym bleibe. Natis wurde 1986 in Nicosia, Zypern, geboren und lebt und arbeitet seit 2009 in Berlin. Natis hat Malerei an der Marmara Universität in İstanbul studiert und danach den Diplomstudiengang Malerei an der weißensee kunsthochschule berlin absolviert. Zwischen 2016—2018 studierte Natis den Masterstudiengang Kunst im Kontext an der Universität der Künste Berlin und hat vor kurzem eine künstlerisches Promotionsprojekt an der HFBK Hamburg begonnen. Die Arbeiten von Natis / Hasan Aksaygın Arbeiten waren in verschiedenen Gruppenausstellungen zu sehen, u.a. in »ğ — das weiche g. queere Formen migrieren«, im Schwulen Museum* in Berlin (2017), in der Ausstellung »Bodylandscapingtime« in der nGbK in Berlin (2017) und in der Ausstellung »Bufferzone: Checkpoint, Apartment Project« im DEPO in İstanbul (2013). Vgl. https://www.hasanaksaygin.com/, vom 22.7.2020, die Seite existiert nicht mehr, 2.5.2023.

14

Die anderen alter egos von Natis haben z.T. andere Schwerpunkte und arbeiten u.a. zu posthumanistischen Fragestellungen und dem Anthropozän, New Materialism, Erinnerung / Vergessen und spekulativem Storytelling. Vgl. https://www.na-tis.com/about/, vom 15.08.2022.

15

Ahmed, 2006, S. 114.

16

Ebd.

Künstlerische Strategien der Disidentifikation, des Überlebens und des Un-Archiving

DIE ARBEIT JHAD UND DISIDENTIFIKATIONEN MIT (NEO-)ORIENTALISTISCHEN BLICKEN Das Zusammendenken von Orientalismus mit Philhellenismus in der (Kunst-)Geschichte zeichnet Hasan Aksaygıns13 Kunst aus.14 ›Orientalismus‹ wird in seiner Kunst nicht nur in postkolonialer Perspektive kritisch befragt, sondern auch aus einer queeren bzw. schwulen Perspektive, die nach der Verbindung von Orientalismus und Begehren fragt, homoerotische Untertöne in Literatur und Kunst des Orientalismus (wieder) freilegt und zugleich Zusammenhänge zu zeitgenössischen Diskursen zu ›Terrorismus‹ / ›Islamismus‹ aufzeigt. Hasan Aksaygıns / Natis Herkunft ist inhaltlich bedeutsam innerhalb der theoretischen und künstlerischen Ansätze des Künstlers. Hasan Aksaygın ist in Nicosia geboren und aufgewachsen und gehört zur zyperntürkischen Bevölkerung. Zypern ist seit 1974 de facto geteilt in die Republik Zypern, die völkerrechtlich ganz Zypern umfasst und zur EU gehört, sowie in einen Nordteil, der kontrolliert wird durch die Türkische Republik Nordzypern, die nur von der Türkei anerkannt wird. Geografisch gehört Zypern zu Asien, politisch und kulturell wird es jedoch zu Europa gezählt. Bis 1960 war Zypern unter britischer Kolonialherrschaft. Hasan Aksaygın befragt die inner-zyprische Grenze auf ihre ideologische und diskursive Bedeutung als Grenze zwischen ›Orient‹ und ›Okzident‹, deren Binarität und Gegensätzlichkeit durch die künstlerische Befragung dekonstruiert werden. Der ›Orient‹ ist — wie Sara Ahmed erklärt — im europäischen Diskurs konstruiert als ›weit weg‹.15 Durch Orientalismus wird ›weit weg‹ von einer räumlichen Markierung zu einer Eigenschaft von Menschen und Objekten, so Ahmed weiter.16 Das ist ein Teil der Disidentifikations-Erfahrungen des Künstlers, die er von klein auf macht. Die geografische Verortung (in Zypern) ist verbunden mit einer gelebten Erfahrung, durch die diese binäre Oppositionen zugleich als besonders real und irreal wahrnehmbar werden. Die scheinbar extremen Gegensätze sind an ein und demselben Ort vereint — und gleichzeitig prägt die Grenze das alltägliche Leben. Durch den Umzug nach Almanya für sein Diplomstudium der Malerei an der weißensee kunsthochschule berlin war Hasan Aksaygın der Situation ausgesetzt, von einem nationalen Kontext, in dem er lediglich über seine Sexualität minorisiert war, in einen anderen Kontext zu wechseln, in dem er darüber hinaus rassistisch zum Anderen gemacht wird. Die damit einhergehenden widersprüchlichen Subjektivierungsprozesse be- und verhandelt Hasan Aksaygın in seiner 2015

166

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

17

Vgl. http://www.gslprojekt.com/, vom 22.7.2020, die Seite existiert nicht mehr, 2.5.2023. Die Ausstellung JHAD ist jedoch nicht im Archiv der Website zu finden.

entstandenen Arbeit JHAD. Ein weiteres Thema innerhalb der Arbeit ist eine Relektüre von Kunstgeschichte und Kunstdiskursen aus einer queeren und postkolonialen Perspektive.

18

Vgl. https://www.namosh.com/, vom 23.7.2020, leider ist der YouTube-Link zum während der Vernissage gespielten DJ-Set nicht mehr verfügbar.

19

Hasan Aksaygın, JHAD, Intro-Text, 2015. Der Text wurde mir vom Künstler am 13.3.2018 per Email zur Verfügung gestellt.

20

Vgl. http://sadakofficial.com, vom 15.08.2022.

21

Ich beziehe mich hier auf die Dokumentation der Eröffnung auf der FacebookEvent-Seite von JHAD.

Die Arbeit JHAD Die Arbeit JHAD von Hasan Aksaygın entstand 2015 als Abschlussprojekt seines Kunststudiums an der weißensee kunsthochschule berlin und war zuerst vom 22.—29. Mai 2015 in einer Ausstellung in den Räumen des Gravity Seeks LoveProjekts Berlin zu sehen.17 Die Ausstellung drehte sich um die von Hasan Aksaygın geschaffene Kunstfigur Jhad, die ein Performance-Alter-Ego des Künstlers darstellt. Zu sehen gegeben wurde ein Gemälde mit dem Titel JHAD (ABB. 5), auf dem die Figur Jhad — der Körper des Künstlers Hasan Aksaygın in einem eng anliegenden auffällig schwarz-weiß gemusterten Ganzkörper-Anzug, dem sogenannten Empowering Costume (ABB. 6) — abgebildet ist vor einem rosa-blauen Hintergrund in Pastelltönen, der durchzogen ist von weißen Ornamenten und Buchstaben im Jugendstil-Design, die das Wort Jhad bilden. Zu der Figur Jhad gibt es eine Hintergrundgeschichte, die bei der Eröffnung der Ausstellung wiederholt während eines DJ-Sets von DJ Namosh18 abgespielt wurde. Folgender Text war bei der Betrachtung des Bildes hörbar:

Vgl. https://www.facebook.com/photo. php?fbid=10153091384844597&set=pc b.1615398015369635&type=3&theater, vom 20.3.2018. ABBILDUNG 5

»Ich bin Jhad. Ich bin ein Verteidiger und Beschützer der deutschen Existenz, indem ich das wesentliche und unabtrennbare Andere zur deutschen Gesellschaft repräsentiere. Für diese Mission wurde ich von deutschen Schwulen erschaffen. Mir wurden fabelhafte sexuelle Kräfte verliehen. Hasan und ich leben im selben Körper zusammen; er als Künstler und ich als Jihadist.«19 ABBILDUNG 6

Der Text wurde von Hasan Aksaygın selbst geschrieben und auf Band gesprochen, sodass seine eigene Stimme im Raum präsent war. Sowohl der Inhalt des Texts als auch der Umstand, dass das Bild zum Sprechen gebracht worden ist, sind sehr wichtig für den konzeptionellen Charakter der Arbeit. Das Empowering Costume, das auch auf dem Gemälde zu sehen gegeben wird, existiert als materielles Objekt und ist eine Art Catsuit oder Superhelden-Anzug, den der Designer Saša Kovačević (Label: SADAK)20 eigens für die Arbeit JHAD entwickelt hat. Es fungiert als Markenzeichen der Figur Jhad. Während der Ausstellung war das Empowering Costume gehängt als Exponat und wurde nicht etwa vom Künstler getragen.21 Hasan Aksaygın war also — mit Verweis auf den Text der Figur Jhad — selbst in seinem eigenen Körper präsent, anstatt ihn Jhad zu überlassen. Zusätzlich zum Gemälde und zum Empowering Costume gehört ein weiteres Objekt zur Arbeit JHAD, und zwar

167 22

Einige Schwulen-Clubs haben — meist im Keller — eigene Darkrooms, in denen spontaner und unverbindlicher Sex stattfinden kann.

23

Adrian Piper / Lucy Lippard: »Catalysis: An Interview with Adrian Piper.«, in: The Drama Review 16 (1), 1972, S. 76—78, hier S. 76.

24

Eine der Arbeiten aus Adrian Pipers Catalysis-Serie diskutiere ich im Zusammenhang mit der Analyse der Arbeit Silenced by Academia (2015) von Sunanda Mesquita.

25

Hasan Aksaygın, persönliches Gespräch, Berlin, 1.4.2018.

26

Ich beziehe mich hier erneut auf Bilder, die auf Facebook auf der Event-Seite zu JHAD hochgeladen wurden. https://www.facebook.com/photo.php ?fbid=10153091384844597&set=pcb. 1615398015369635&type=3&theater, vom 20.3.2018.

Künstlerische Strategien der Disidentifikation, des Überlebens und des Un-Archiving

ABBILDUNG 7

das sogenannte Empowering Book (ABB. 7), für dessen Einband derselbe Stoff verwendet wurde wie für das Empowering Costume. Das Wort Empowerment kann hier in doppelter Bedeutung verstanden werden, als Ermächtigung im Sinn einer Stärkung des Selbst im Angesicht von struktureller Diskriminierung, aber auch als (Super-)Macht- oder (Super-)Kraftverleihend. Superheld_innen verfügen in der Regel über übernatürliche Kräfte oder Fähigkeiten, die entweder angeboren, angeeignet oder im Zusammenhang mit einem Schicksalsschlag aufgetreten sind. Oft sind die Held_innen anfangs im Konflikt mit ihren eigenen Fähigkeiten und ihrer Rolle bzw. ihrer Verantwortung für die Menschheit. Mit seiner Fähigkeit der übernatürlichen sexuellen Kräfte ist Jhad aber eher eine Parodie auf den Typus der Superheld_in. Jhad ist kein Superheld, der eine Identifikationsfigur oder ein Vorbild sein könnte (z.B. für QTIBIPoC) und dadurch selbst andere ermächtigen könnte. Die Figur Jhad ist zwar als Performance-Alter-Ego angelegt, tatsächlich ist die Arbeit jedoch weniger Performanceals Konzeptkunst. Daher spielt die öffentliche Aufführung oder Performance von Jhad durch Hasan Aksaygın eine untergeordnete Rolle. Live hat Hasan Aksaygın im Empowering Costume als Jhad nach eigenen Angaben bisher erst zweimal in Darkrooms22 in Schwulen-Clubs in Berlin-Schöneberg performt, mit der Absicht, dort als Jhad Sex zu haben. Die Aktionen waren nicht als Performances in Kunstkreisen oder anderswo angekündigt und wurden auch nicht dokumentiert. Es handelt sich somit, ähnlich wie beispielsweise bei den »Pieces«23 aus Adrian Pipers Serie Catalysis (1970 / 71)24, um eine Form von Performance-Kunst, die nicht für die zeitgenössische Kunstwelt angelegt ist. Der Künstler berichtet, dass die Männer in den Darkrooms großes Interesse daran gezeigt haben, mit ihm über Jhad und das Projekt zu reden (und nicht nur anonymen Sex mit Jhad zu haben).25 In meiner Analyse konzentriere ich mich nur auf konzeptionelle und visuelle Konstruktionen der Figur Jhad und analysiere keine Performance. Der Titel, die Namen der Menschen, mit denen der Künstler kollaboriert hat, sowie eine Danksagung wurden für die Ausstellung direkt auf die Wand im Eingangsbereich von GSL geschrieben, wie auf den Fotografien der Eröffnung zu sehen ist. In der Danksagung heißt es: »Special thanks to Göksu, Selin, Yener and the whiteness of Weißensee Kunsthochschule administration«26. Es wird hier ein Hinweis darauf gegeben, dass für den Künstler während des Studiums an der weißensee kunsthochschule berlin Probleme aufgrund von normativem Weißsein ein Thema waren.

168

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

27

Die Geschichte von Jhad als performative Ursprungslegende In dem kurzen Text über die Identität der von Hasan Aksaygın geschaffenen Kunstfigur, die von der Textform her an das Intro einer TV-Comic-Serie über eine_n Superheld_in erinnert,27 wird erklärt, wie dieser auf die Welt kam und was seine Mission sei. Demnach ist Jhad ein Jihadist mit sexuellen Superkräften. Der Text ist geschrieben aus der Perspektive der Kunstfigur Jhad, der als Ich-Erzähler spricht, statt aus der des Künstlers. Der Künstler ist hier nicht ausgewiesen als ›Schöpfer‹ von Jhad, geschaffen worden sei dieser von deutschen Schwulen. Lediglich der Körper des Künstlers wird für Jhad gebraucht, um darin mitzuleben. In dieser Konstruktion ist der Künstler Hasan Aksaygın paradoxerweise nicht definiert als Autor von Jhad. Performativ findet hier bereits eine Zuspitzung auf den Körper des Künstlers statt, die im Gemälde JHAD fortgeführt wird. Hasan Aksaygın beschreibt aus ›seiner‹ Perspektive sein Superhelden-Alter-Ego in seinem Konzeptpapier als:

Laut dem Künstler war der Text der Superheldin She-Ra, der Schwester von He-Man, Vorbild für das Intro von Jhad. Hasan Aksaygın im persönlichen Gespräch, Berlin, 1.4.2018. Die Zeichentrick-Fernsehserie She-Ra — Princess of Power wurde in den 1980er Jahren ausgestrahlt. 2018 gab es einen Reboot der Serie durch die Streaming-Plattform Netflix in der gleich mehrere Hauptcharaktere lesbisch sind. Vgl. https://www.imdb.com/title/ tt0126171/releaseinfo?ref_=tt_ov_inf, vom 23.7.2020.

28

Hasan Aksaygın. JHAD. Berlin, 2015. (unveröffentlichtes Konzeptpapier).

29

Hasan Aksaygın. Vortrag im Rahmen der Summerschool »Inside / Outside: Queer Networks in Transnational Perspective«. 12.9.—16.9.2016. Leibniz Universität Hannover.

30

Diese Auseinandersetzungen wurden von Natis in den letzten Jahren vertieft und sind noch komplexer geworden durch die Schaffung weiterer Pseudonyme. Vgl. https://www.na-tis.com/, vom 15.08.2022.

31

Vgl. Ernst Kris / Otto Kurz, 2010 (1980). Siehe im Anschluss daran aus feministischer Perspektive beispielsweise: Maike Christadler, 2006. Siehe außerdem: Nanette Salomon: »Der kunsthistorische Kanon — Unterlassungssünden«, in: Anja Zimmermann (Hg.), Kunstgeschichte und Gender. Eine Einführung, Berlin: Reimer 2006, S. 37—52.

32

Maike Christadler, 2006, S. 265. Maike Christadler paraphrasiert hier aus: Silke Wenk: »Einleitung«, in: Kathrin Hoffmann-Curtius / Silke Wenk (Hg.), Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit im 20. Jahrhundert, Marburg: Jonas 1997, S. 12—29.

»[...] a superhero, who carries my particular social, economical, and sexual codes in Germany. We co-habit the same body and learn from each other. The 1-year-old Jhad is a Jihadist, and his understanding of Jihad is shaped by the prejudices of the white German society. Jhad does not oppose these prejudices which brought him into existence; on the contrary defends them as he is the image of the orientalizing gaze, which is another constructed norm just like the notion of a German society.«28 Als performative Auftrittsorte oder Erscheinungsorte Jhads nennt der Künstler die Darkrooms schwuler Clubs, sowie die White Cubes von Galerien und Ausstellungsräumen.29 Warum werden gerade diese spezifischen Orte gewählt und welche konzeptionelle Verbindung kann zwischen diesen auf den ersten Blick recht unterschiedlichen Räumen gezogen werden? Bereits der Umstand, dass Hasan Aksaygın eine Legende über den Ursprung der Figur Jhad entwickelt, kann als parodierender Umgang mit einer über die Künstlerbiografie geprägten (europäischen) Kunstgeschichte verstanden werden,30 die durchzogen ist von Mythen hinsichtlich der Entdeckung künstlerischer Begabung in jungen Jahren durch zufällige Begegnungen mit einem älteren Mentor.31 Diese Erzählstrategien sind Teil spezifischer Subjektkonstruktionen des ›Künstlers‹ und künstlerischer Autorschaft als männlich, heterosexuell und weiß.32 Zugleich ist es ein Charakteristikum von Superheld_innen, über eine legendäre oder mythische Hintergrundgeschichte zu verfügen, die den Ursprung ihrer Superkräfte

169 33

Hasan Aksaygın, JHAD, Intro-Text, 2015. Der Text wurde mir vom Künstler am 13.3.2018 per Email zur Verfügung gestellt.

34

Siehe u.a.: Michel Foucault: Power / Knowledge. Selected Interviews and other Writings 1972—77, New York: Pantheon Books 1980.

35

Hasan Aksaygın, JHAD, Intro-Text, 2015. Der Text wurde mir vom Künstler am 13.3.2018 per Email zur Verfügung gestellt.

36

Vgl. Richard Fung, 1991.

37

Vgl. Kobena Mercer / Isaac Julien, 1994.

Künstlerische Strategien der Disidentifikation, des Überlebens und des Un-Archiving

erklärt. Die Konstruktionen des Künstlersubjekts und des — ebenfalls vornehmlich männlichen — Superhelden werden hier miteinander in satirischer Weise kombiniert. Diese Art, mit Zeichen aus dem Bereich der Alltags- oder Populärkultur und mit Referenzen auf kanonische westeuropäische Kunstgeschichte zu spielen und dabei Parodie, Satire und Ironie als dekonstruktive Mittel einzusetzen, zeichnet die künstlerische Arbeit von Hasan Aksaygın aus. Inhaltlich schafft der Text einen Rahmen für das Verständnis der Arbeit insgesamt und für ein Verständnis der Bedeutung der Figur Jhad und der zugehörigen Objekte. Jhad wird durch den Hinweis, dass er über sexuelle Superkräfte verfüge sowie den Umstand, dass er von deutschen Schwulen geschaffen wurde, konstruiert als eine queere / schwule Figur, wobei sich die Queerness Jhads weniger über sein eigenes Begehren definieren lässt als dadurch, dass seine Sexualität bzw. seine »sexuellen Kräfte«33 nicht-heteronormativ sind. Jhad erscheint nicht als begehrendes Subjekt, sondern vielmehr als das Objekt der Begierde — und zwar als Objekt der Begierde von deutschen Schwulen, wobei aus dem Kontext der Arbeit zu schließen ist, dass damit weiße deutsche Schwule gemeint sind. Der Umstand, dass Jhad von diesen ›geschaffen‹ wurde, lese ich als ironischen Verweis auf poststrukturalistische Ansätze, speziell auf Foucault’sche Überlegungen zur Produktivität von Macht und Diskurs, laut denen Sprache Wirklichkeit nicht nur beschreibe oder wiedergebe, sondern herstelle.34 In diesem Sinn wäre es der deutsche schwule Diskurs, der Jhad oder ein Konstrukt wie Jhad hervorbringt. Die Erwähnung der »fabelhaften sexuellen Kräfte«35 Jhads ist zudem eine Referenz auf Fetischisierung von BIPoCs in Diskursen und Medien der Schwulenszene, etwa in schwulen Pornos. LGBTIQ+ Kontexte sind nicht frei von exotistischen oder rassistischen Vorstellungen von körperlichen Eigenschaften oder von Sexualität von Schwarzen Menschen und Menschen of Color. Das rassistische Othering und die Fetischisierung von Schwarzen / Menschen of Color in schwuler, bzw. allgemeiner queerer Sex- und Dating-Kultur werden seit längerem und immer wieder kritisiert. Beispielsweise schreibt der Videokünstler Richard Fung über Stereotype von Asiat_innen in schwulen Pornos.36 Ein weiteres, älteres Beispiel sind Auseinandersetzungen um die Fotografien Schwarzer männlicher Körper von Robert Mapplethorpe, der u.a. von Kobena Mercer stark für die Fetischisierung Schwarzer Männer kritisiert wurde. Später jedoch ändert er seine Haltung und sieht eher ein dekonstruktives Potenzial im Explizitmachen eines weißen schwulen Begehrens nach dem Schwarzen männlichen Körper.37 Ein aktuelles Beispiel in Bezug auf von Rassismus und anderen -ismen durchzogene Konstruktionen davon, welche Körper als begehrenswert gelten, sind gehäufte Aussagen wie

170

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

38

Jennifer Petzen: »Wer liegt oben? Türkische und deutsche Maskulinitäten in der schwulen Szene«, in: Koray Yılmaz-Günay (Hg.), Karriere eines konstruierten Gegensatzes: zehn Jahre »Muslime versus Schwule«. Sexualpolitiken seit dem 11. September 2001, Berlin 2011, S. 25—45, hier S. 41—42.

39

Jennifer Petzen, 2011 (2005), S. 42.

40

Ausführlicher dazu siehe das Kapitel weiter vorne zu Queer of Color-Kritik.

41

Hasan Aksaygın, JHAD, Intro-Text, 2015. Der Text wurde mir vom Künstler am 13.3.2018 per Email zur Verfügung gestellt.

»no fats, no blacks, no femmes, no asians« auf Profilen von Nutzern der Sex- und Dating-App Grindr. Jennifer Petzen, die für ihren Artikel mit dem Titel »Wer liegt oben? Türkische und deutsche Maskulinitäten in der schwulen Szene« Kontaktanzeigen schwuler Männer in queeren Stadtmagazinen wie der Siegessäule analysiert hat, arbeitet zwei Kategorien von Vorstellungen des rassisierten Anderen heraus: Entweder ist es »das passive, feminisierte koloniale Objekt, das dominiert werden möchte, oder der gewalttätige, hypermaskuline Südländer, der den weißen Mann auf Verlangen dominiert«.38 Dabei wird »Hypermaskulinität des Anderen [...] fetischisiert und in Diskursen und Praktiken des Begehrens, der Macht und der Angst lokalisiert.«39 Jennifer Petzens Artikel ist Teil einer Reihe von Interventionen in den seit etwa Anfang der 2000er geführten Diskurs um ›homophobe Migranten‹, durch die Probleme mit Rassismus innerhalb der weiß und mehrheitsdeutsch geprägten queeren Bewegung zunehmend in den Blick genommen wurden.40 Wenn Jhad in seinem Intro-Text behauptet, er sei der »Verteidiger und Beschützer der deutschen Existenz«41, da er »das wesentliche und unabtrennbare Andere zur deutschen Gesellschaft«42 repräsentiere, lässt sich hier ein Zusammenhang herstellen zu der Art und Weise, wie durch Kritiken an homonationalistischen Diskursen Zusammenhänge zwischen nationalen Zugehörigkeiten, Sexualität und ›Rasse‹ aufgezeigt werden. Die Aussage steht darüber hinaus in Verbindung mit einer zentralen Erkenntnis postkolonialer Theorie, nämlich dass in den Konstruktionen des (kolonialisierten) Anderen und in der Abgrenzung von diesem immer implizit das ›Eigene‹, das Selbstbild der Kolonisator_innen, der kolonisierenden europäischen Nationalstaaten konstruiert und gefestigt wird.43 Jhad »schützt«44 die deutsche Existenz genau dadurch, dass er bereitwillig ihr Anderes verkörpert und dass eine solche Figur gerade nicht als Teil der deutschen Existenz, sondern außerhalb dieser erscheint. (Weiße) deutsche Schwule werden in diesem Text ausgewiesen als Komplizen in diesem Prozess, denn sie sind es, die Jhad — und damit einen Beschützer der deutschen Existenz —, erschaffen. Hasan Aksaygın behauptet, dass Jhad sein Othering und seine Objektifizierung einfach hinnehme und nicht etwa zurückweise.45 Tatsächlich wird durch die Figur Jhad eine Parodie von Rassismen und (post-)kolonialen Kontinuitäten in der deutschen Schwulenszene produziert.46 Der ironische Text der Figur Jhad verweist zudem auf das Dilemma für QTIBIPoCs, dass queere Räume und Strukturen keine sicheren, empowernden Orte für alle Queers sind, sondern dass auch dort Rassismus und andere Diskriminierungserfahrungen gemacht werden. Während die zu Jhad gehörigen Objekte, wie das Empowering Book oder das Porträt von Jhad auf eine (post-)koloniale Vergangenheit verweisen, wird in dem kurzen Introtext auf gegenwärtige Diskurse

42

Ebd.

43

Vgl. u.a. María do Mar Castro Varela / Nikita Dhawan: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung (2., komplett überarbeitete Auflage), Bielefeld: transcript 2015.

44

Hasan Aksaygın, JHAD, Intro-Text, 2015. Der Text wurde mir vom Künstler am 13.3.2018 per Email zur Verfügung gestellt.

45

Hasan Aksaygın im persönlichen Gespräch, Berlin, 4.5.2017.

46

Vgl. hierzu: Christopher Sweetapple (Hg.): The Queer Intersectional in Contemporary Germany. Essays on Racism, Capitalism and Sexual Politics, Gießen: Psychosozial-Verlag 2018.

171

Künstlerische Strategien der Disidentifikation, des Überlebens und des Un-Archiving

47

Ich danke Renata Kutinka für den Hinweis.

48

Der Name Daesh ist eine alternative Bezeichnung für den selbsternannten ›Islamischen Staat‹. Er ist ein Akronym für al-Dawlah al-Islāmīyah fī al-̀ Irāq wa al-Šām was auf Arabisch so viel wie der islamische Staat im Irak und der Levante bzw. im historischen Syrien bedeutet. Der Name Daesh wird von vielen Muslim_innen verwendet, um eine Trennung zwischen ihrem Glauben und der terroristischen Gruppe vorzunehmen. Daesh klingt außerdem wie das arabische Wort ‫( دﻋﺲ‬Daes), was jemanden bezeichnet, der etwas zertrampelt oder erdrückt.

im Zusammenhang mit Homonationalismus angespielt. Das dadurch ermöglichte Aufzeigen von Kontinuitäten historischer Konstruktionen eines homoerotisierten ›orientalischen‹ Anderen in gegenwärtigen Diskursen ist eine eindrucksvolle Leistung von Hasan Aksaygıns Arbeit.

Vgl. u.a. https://en.wikipedia.org/wiki/ Names_of_the_Islamic_State#Daesh_ and_variants, vom 15.08.2022. ABBILDUNG 8

Das Gemälde JHAD Das Gemälde JHAD von Hasan Aksaygın, bei dem es sich um eine 140 × 240 cm große Arbeit in Öl und Acryl auf Leinwand handelt, ist eine Art Selbstporträt als Superheld Jhad, dem Performance-Alter-Ego, mit dem der Künstler einen Körper teilt. Der Körper des Künstlers / Jhads ist auf der riesigen Leinwand in etwa lebensgroß. Der Kopf von Jhad ist glattrasiert, die Haarstoppeln sind zu sehen als gräulicher Schatten. Jhad hat einen kurzen dunklen Voll- und Oberlippenbart und dunkle Augenbrauen, von denen die Rechte etwas hochgezogen ist. Die Augen sind weiß und leer. Entweder sind die Augäpfel extrem nach oben gedreht oder Iris und Pupillen sind getrübt und wie von grauem Star überzogen. Jhad selbst kann nichts sehen, auch wenn der Blick, der Kopf und der Körper den Betrachtenden zugewandt sind. Der rechte Arm Jhads ist angewinkelt, wobei der Oberarm etwas zurückgenommen ist, sodass eine leichte Drehung im Oberkörper entsteht. Die rechte Hand zeigt nach oben und die Finger machen eine Art nach außen gedrehten Segensgestus. Als visuelles Beispiel für diese in christlicher Ikonografie häufig vorkommende Geste kann hier eine Jesusdarstellung in einem Mosaik in der Hagia Sophia in İstanbul herangezogen werden, innerhalb derer die Haltung der Finger besonders deutlich zu erkennen ist (ABB. 8). Auch der linke Arm ist angewinkelt, wobei der Unterarm nach oben weist und der Oberarm leicht abgespreizt ist. Mit der linken Hand macht Jhad ebenfalls den christlichen Segensgestus, aber wieder in einer leicht abweichenden Form. Der Handrücken zeigt hier nach vorn, sodass die typische Stellung von Daumen, Ringfinger und kleinem Finger nicht eindeutig erkennbar ist. Die religiöse Geste wird gleichzeitig konnotiert und gebrochen durch Verdoppelung und Abweichungen. Für Muslim_innen hat der erhobene rechte Zeigefinger ebenfalls eine religiöse Bedeutung47 und symbolisiert beim Gebet die Schahada, das muslimische Glaubensbekenntnis und steht für die Einheit Allahs und die Prophetie Mohammeds. Dabei werden jedoch Daumen, Ring- und Zeigefinger nicht zusammengeführt. Die Geste des erhobenen Fingers wird aufgrund der medial viralen Propaganda von Daesh 48 inzwischen stark mit islamistischem Terrorismus verbunden. Bei Jhad wird die religiöse Signifikation der Geste sowohl in ihrer christlichen als auch in ihrer islamischen Konnotation satirisch gebrochen.

172

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

49

Hasan Aksaygın, JHAD, Intro-Text, 2015. Der Text wurde mir vom Künstler am 13.3.2018 per Email zur Verfügung gestellt.

50

Der Anzug existiert, wie eingangs erwähnt, mit dem Empowering Costume auch als materielles Objekt aus elastischem Stoff.

51

Hasan Aksaygın im persönlichen Gespräch, Berlin, 18.3.2019.

52

Diese visuelle Referenz konnte ich selbst nicht entschlüsseln. Hasan Aksaygın hat mir diesen Hinweis gegeben (persönliches Gespräch, Berlin, 18.3.2019).

So verbietet das Erste der Zehn Gebote im Alten Testament die Anbetung anderer Götter. Wenn Jhad gleich zweimal den Zeigefinger erhebt und sich dadurch zweimal zu dem einen Gott bekennt, dann wird die Konnotation der Einzigartigkeit verworfen und die Geste an sich sinnentleert. Damit verstößt Jhad gegen das Erste der Zehn Gebote, wodurch er sündigt. Seine Hände haben etwas Verführerisches, Tänzerisches, Lockendes, Flirtendes. So könnte gerade der linke Zeigefinger auch deuten »Komm her zu mir!« was eine Anspielung auf die »fabelhaften sexuellen Kräfte«49 Jhads, die in seinem Intro-Text angesprochen werden, sein kann. In der Komposition bringen die Arme und Hände eine Leichtigkeit und Dynamik in den Körper Jhads und in das Bild. Bekleidet ist Jhad mit einem eng anliegenden, körperbetonten, einteiligen Superhelden-Anzug, einer Art Catsuit, in schwarz-weiß. Das große abstrakte Muster zeichnet die Muskulatur nach. Die sechs nierenförmigen weißen Flächen im Bereich des Bauches suggerieren einen Sixpack.50 Durch den elastischen Stoff, der eng am Körper anliegt, wird der Anzug bzw. das Empowering Costume wie zu einer zweiten Haut. Das Design des Anzugs wirkt modern und futuristisch und erinnert etwas an ein Skelett, an Tribal-Tätowierungen oder Blackout-Tattoos. Tatsächlich sind die Formen angelehnt an arabische Kalligrafie und speziell Kalligrafie aus dem Koran.51 Das Empowering Costume könnte ein Kostüm aus einem Science-Fiction-Film sein, aber weckt ebenfalls Assoziationen zu Fetischkleidung, auch wenn es nicht aus dafür ›typischen‹ Materialien wie Latex oder Lack geschneidert ist, sondern aus Polyester. Mittig auf der Brust von Jhad prangt, wie bei Superheld_innen wie Batman oder Superman, ein Emblem. Bei Jhad ist es eine rote Raute, die aus eckigen geometrischen Formen zusammengesetzt ist und damit — anders als bei anderen Superheld_innen — keine visuelle Referenz zu Jhads Namen oder seinen übernatürlichen Fähigkeiten macht. Die rote Raute stellt eine Art stilisierte Rose dar, die wiederum auf den Propheten Mohammed verweist.52 Die Figur Jhad kann damit als eine moderne Erscheinungsform Mohammeds gelesen werden. Die Farben Schwarz, Weiß und Rot haben im deutschen Kontext eine starke Konnotation sowohl mit dem Zweiten deutschen Kaiserreich, dessen Nationalfarben sie sind, als auch mit dem Dritten Reich, das dieselbe Flagge bis 1935 weiterbenutzte — sie unterstreichen damit die nationalistisch anmutende Aussage, Jhad sei der Beschützer der deutschen Existenz. Die Referenzen auf Superheld_innen sind eher als parodistische Überspitzung zu lesen, in dem die Figur des Jihadisten oder sogar des Propheten als popkulturelles Phänomen und Kunstfigur erscheint. Interessanterweise werden dabei unterschiedliche archetypische Figuren — wie der Heilige / Prophet, der Terrorist, der Superheld und der Künstler — in parodistischer

Zur Bedeutung der Rose als Zeichen für den Propheten Mohammed in der Kunst des späten Osmanischen Reiches vgl. Christiane Gruber: »The Rose of the Prophet: Floral Metaphors in Late Ottoman Devotional Art«, in: David J. Roxburgh (Hg.), Envisioning Islamic Art and Architecture. Essays in Honor of Renata Holod, Leiden: Brill 2014, S. 223—249.

173 53

Vgl. Günter Spitzing: Lexikon byzantinisch-christlicher Symbole. Die Bilderwelt Griechenlands und Kleinasiens, München: Diederichs 1989, S. 283.

Künstlerische Strategien der Disidentifikation, des Überlebens und des Un-Archiving

ABBILDUNG 9

Weise ineinander gefaltet und gegeneinander befragt. Tatsächlich scheinen in den visuellen und mythischen Konstruktionen dieser Figuren Parallelen durch, die mit bissigem Humor offengelegt werden. An den Füßen trägt Jhad schwarze knöchelhohe Schuhe mit weißen Kappen an den Fußspitzen, Klettverschlüssen und weißen Klickverschlüssen. Die Schuhe wirken sehr zeitgemäß und setzen das Schwarz-Weiß des Anzuges fort. Die Fußspitzen zeigen nach unten. Die Stellung der Füße erinnert an christliche Darstellungen von Jesus am Kreuz, allerdings sind die Füße von Jhad nicht übereinandergelegt, sondern parallel zueinander, er ist im Gegensatz zu Jesus nicht barfuß. Der Eindruck, dass Jhad schwebt, wird dadurch verstärkt, dass der Körper Jhads malerisch mit dem Hintergrund nicht verbunden ist. Wie in anderen Arbeiten des Künstlers, beispielsweise dem 2012 entstandenen Gemälde Idiom IV (ABB. 9), zeichnet sich die Malweise durch eine Flächigkeit aus, einen ›Mangel‹ an Räumlichkeit durch Verzicht auf zentralperspektivische Darstellung, der eine Verweigerung von räumlicher Tiefe zu sein scheint. Lediglich im Bereich von Kopf, Gesicht und Händen wird über Licht und leichte Schattierung optisch eine Dreidimensionalität erzeugt. Der fehlende Schatten Jhads könnte hier auch als Referenz auf frühchristliche und byzantinische Kunst gelesen werden, in der keine Schattenwürfe vorkommen. Heilige verkörpern das göttliche Licht und strahlen es wiederum selbst aus, sie sind die Lichtquelle; böse Mächte dagegen werfen keine Schatten, denn sie sind selbst welche.53 Im Hintergrund des Gemäldes JHAD sind mit transparentem Farbauftrag die Farben Rosa und Blau flächig gemalt, sie verlaufen etwa in der Bildmitte ineinander, sodass ein schmaler Streifen in Lila entsteht. Dieser Farbverlauf erinnert an einen Sonnenuntergang oder an einen Horizont. Das Schweben der Figur im Vordergrund lässt ebenfalls an Luft oder den Himmel denken. Über die semantisch stark aufgeladenen Farben Pastellblau und Pastellrosa, die umgangssprachlich auch als Baby-Blau und Baby-Rosa bezeichnet werden, werden Geschlecht und Geschlechterkonstruktion als Bedeutungsebene nahegelegt. Baby-Blau und Baby-Rosa spielen eine große Rolle in der farblichen Markierung und Vereindeutigung von Geschlechtsidentität von Kindern, insbesondere von Babys, die nicht auf Basis körperlicher Eigenschaften (z.B. Frisur) von der Umwelt eindeutig zugeordnet werden können. Folgt man der alltagskulturellen Semantisierung von Pastellblau als männlich und Pastellrosa als weiblich konnotierten Farben, überlagern sich im Bildhintergrund Weiblichkeit und Männlichkeit, verlaufen ineinander und vermischen sich, statt als binäre Opposition, oder als klar voneinander abgegrenzte

174

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

54

Vgl. u.a. Jack Halberstam, 2005. Siehe darin insbesondere das Kapitel »Technotopias: Representing Transgender Bodies in Contemporary Art«, S. 97—124. Siehe außerdem Jack Halberstam: »Queer Scapes or Spaces of Desire«, in: Kornelia Imesch (Hg.), Inscriptions / Transgressions. Kunstgeschichte und Gender Studies = histoire de l’art et études genre = art history and gender studies, New York: Peter Lang 2008, S. 287—306; Renate Lorenz, 2012; Zach Blas: »Informatic Opacity«, in: Journal of Aesthetics and Protest (9), 2014, o. Sz. und Zach Blas: »Adjust Opacity. Conversation with Jacolby Satterwhite«, in: DIS Magazine (Privacy issue), 2014. Siehe auch die künstlerischen Arbeiten von Vika Kirchenbauer http://www.vk0ms.com/, vom 27.7.2020.

55

Die Arbeit war 2012 im Schwulen Museum* in Berlin im Rahmen der Ausstellung Trans*_Homo — von lesbischen Trans*schwulen und Anderen Normalitäten zu sehen. Dazu ist auch ein Katalog erschienen:

bzw. in sich begrenzte Sphären dargestellt zu werden. Visuell wird damit Queerness evoziert, wobei ich queer als radikale Infragestellung und Transgression der Zweigeschlechterordnung fasse. Queerness ist somit auf subtile Weise im Bildhintergrund angelegt. Vor dem Hintergrund queer-theoretischer und künstlerischer Auseinandersetzungen mit der Frage, wie queere Repräsentationen aussehen können, die Queerness nicht allein an queere Körper binden, nach Möglichkeiten abstrakter queerer Kunstpraxen oder opaken queeren Sichtbarkeiten fragen,54 liegt eine solche Lesart des Hintergrunds von JHAD nahe. Beispielsweise spielt der queere Künstler eddie gesso in seiner Serie Attempt to Complicate Baby Pink with Baby Blue and Baby Yellow (2007—2012)55 mit der vergeschlechtlichten Konnotation der Farben Baby-Blau und Baby-Rosa. Indem er so lange Schichten von Rosa, Blau und Gelb in transparentem Farbauftrag übereinander auf quadratische Holzpaneele oder Leinwände malt, bis sich letztendlich ein stumpfer gräulicher Mischton ergibt, findet er eine Bildsprache, mit der die vergeschlechtliche Semantik der Farben und ihre Eindeutigkeit dekonstruiert und gebrochen werden. In der Arbeit JHAD wirkt der lilafarbene Streifen an der Schnittstelle von blau und rosa als queerer Horizont, in dem vergeschlechtlichte Codes veruneindeutigt sind. Wenn man diesen malerischen Horizont zusammendenkt mit der Aussage von Muñoz, dass für ihn »queer futurity [...] not an end but an opening or horizon«56 sei57, dann ergeben sich noch weitere Lesarten. Der lilafarbene Streifen im Gemälde könnte damit eine andere Zeitlichkeit ansprechen, die über das Hier und Jetzt hinausweist.58 Allerdings scheint es im Angesicht des stark sarkastischen Humors des Künstlers unwahrscheinlich, dass dies seine Intention war und dass er eine solch hoffnungsvolle Lesart vorgesehen hat. Das muss uns jedoch nicht davon abhalten, Spuren des Utopischen in der Arbeit zu folgen. Im Hintergrund der Arbeit passiert aber noch mehr. Im unteren Bildteil steht das titelgebende Wort JHAD in weißen Kapitälchen. Die Typografie erinnert an die von Otto Eckmann entwickelte Eckmann-Schrift. Als visuelles Beispiel kann hier die Schrift eines ebenfalls von Eckmann gestalteten Titelbildes der Zeitschrift Jugend aus dem Jahr 1896 verglichen werden (ABB. 10). Im Bild von Hasan Aksaygın sind die Buchstaben oben und unten gerahmt durch weiße Balken, sodass sie eine Art Sockel im Bild bilden. Die Buchstaben H und A sind durch die Füße Jhads teilweise verdeckt. Aus den geschwungenen Linien der Buchstaben ragen jeweils rechts und links gerade weiße Linien heraus, die von einer weiteren weißen Linie umschlungen werden. Sie verbinden das Wort JHAD mit dem oberen Kreis. Die beiden geraden Linien sind Parallelen zu den Beinen von Jhad. Die ornamentalen Elemente, die aus der Schrift am Boden

Vgl. Justin Time / Jannik Franzen / Michael Fürst (Hg.), 2012. 56

José Esteban Muñoz, 2009, S. 91.

57

Auf Muñoz’ Begriff von Queer Futurity (siehe oben) gehe ich im nächsten Kapitel noch ausführlicher ein.

58

Ebd.

ABBILDUNG 10

175 59

José Esteban Muñoz, 1999, S. 107.

Künstlerische Strategien der Disidentifikation, des Überlebens und des Un-Archiving

aufzusteigen scheinen, bilden im oberen Bildteil einen runden Rahmen für den Torso, die Arme und den Kopf von Jhad, der durch die ineinander gelagerten Kreise wie von einem Heiligenschein umgeben wird. Es besteht zu dem eine Doppelung der Kreiselemente im glattrasierten Kopf Jhads, der durch gemalte Lichtreflexe ebenfalls zu leuchten scheint. Der Hintergrund ›macht‹ also selbst etwas, er rahmt die Figur in einer Art und Weise, die sie heilig und überirdisch erscheinen lässt. Die Aureole, die Jhad umgibt, ist übergroß und bricht damit durch Übertreibung oder Überspitzung mit der Darstellungskonvention des Heiligenscheins. Wenn Jhad als Heiliger erscheint, dann immer »with a difference«59, immer mit einer Abweichung, wodurch Brüche und parodistische Effekte entstehen. Die stellenweise subtile und stellenweise sehr offensichtliche parodierende Wirkung, die mehrfach im Kontext der Arbeit zum Tragen kommt, entfaltet sich auch hier wieder, sodass sich die Referenzen auf christliche Kunst wie ein ironischer, repräsentationskritischer Kommentar auf die visuelle Konstruktion von Heiligen interpretieren lassen. Normen und Darstellungskonventionen werden über Parodie und Ironie dekonstruiert, wobei insbesondere Übertreibung / Überspitzung sowie Doppelungen eingesetzt werden, um tradierte Signifikationen aufzubrechen oder sich zumindest darüber lustig zu machen. Im visuellen Medium des Gemäldes werden hier Visualität und visuelle Repräsentationen selbst mitgedacht und reflektiert. Im Bild JHAD werden ikonische und schriftliche Zeichen zusammengebracht. In dieser Hinsicht gibt es eine gewisse Nähe des Gemäldes zum Plakat, zu angewandter Kunst, aber auch zur Popart. Sprachlich verweist der Titel JHAD auf den Namen der Figur Jhad sowie auf das Wort ›Jihad‹ und damit auf den Islam sowie auf zeitgenössische Diskurse im Zusammenhang mit ›Terrorismus‹. Visuell erinnert das schriftliche Zeichen an die Ästhetik des Jugendstils und damit an ein spezifisches kunsthistorisches Phänomen, das nicht nur in Bezug auf das damit einhergehende stilästhetische Verständnis relevant ist, sondern auch in Bezug auf gesellschaftspolitische Ideen und einen historischen Kunstbegriff, die darin verhandelt werden. Zwischen den verschiedenen Zeichenebenen entsteht eine Spannung in der Signifikation, durch die Fragen aufgeworfen werden: Wofür steht der Jugendstil im Kontext der zeitgenössischen Arbeit JHAD — und welche Zusammenhänge zwischen zeitgenössischen Diskursen um ›Terrorismus‹ und dem Jugendstil werden damit suggeriert? Bevor ich diese Fragen weiter diskutiere, folge ich zunächst einem anderen Objekt.

176

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

60

Wilfred Thesiger: Die Brunnen der Wüste. Mit den Beduinen durch das unbekannte Arabien, München, Berlin: Piper 1991 (1959).

61

Ich gehe im Folgenden nicht tiefer auf den Inhalt von Die Brunnen der Wüste ein, da dieser für ein Verständnis der Arbeit JHAD weniger relevant ist als der Umstand, dass die Reiseberichte Thesigers von homoerotischen Untertönen durchzogen sind. Das Buch steht meines Erachtens eher exemplarisch für die Frage nach Verbindungen von Orientalismus und (Homo-)Sexualität.

62

Eine umfangreiche Biografie über Thesiger wurde 2006 von Alexander Maitland veröffentlicht, in der bezeichnenderweise keinerlei Berücksichtigung postkolonialer Theorien oder -Konzepte stattfindet. Obwohl diese Biografie erst 2006 erschienen ist — und damit zu einem Zeitpunkt, als beispielsweise Edward Saids Studie Orientalismus längst kanonisch geworden war und deswegen dem Biografen eines ›Reisenden‹ in den ehemaligen britischen Kolonialgebieten bekannt sein dürfte — wird die Heroisierung Thesigers in kolonialer Sprache als »großer Entdecker« (o. Sz.) fortgeschrieben. Alexander Maitland: Wilfred Thesiger. The Life of the Great Explorer, New York: HarperCollins 2006.

63

Vgl. Edward W. Said, 2003 (1978).

64

María do Mar Castro Varela / Nikita Dhawan: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld: transcript 2009, S. 32.

65

Vgl. Edward W. Said, 2003 (1978).

Das Empowering Book und Disidentifikationen mit der Homoerotik des Orientalismus Schlägt man das Empowering Book auf (ABB. 7), wird deutlich, dass es sich um das Buch Die Brunnen der Wüste60 und damit um die deutsche Übersetzung des Buches Arabian Sands (1959) des weißen britischen Autors Wilfred Thesigers aus dem Genre der Reiseliteratur handelt, der darin in orientalistischer und homoerotischer Weise über seine ›Reisen‹ durch nordafrikanische Wüstenregionen mit jungen männlichen beduinischen Nomaden schreibt.61 Durch den Einband aus dem Material des Empowering Costumes wird das Buch visuell als Teil von Jhad markiert. Zudem wird über das Wort Empowering im Titel sprachlich eine Verbindung zwischen den beiden Objekten hergestellt. Welche Verbindungslinien können gefunden werden zwischen dem durch Jhad zum Empowering Book erklärten Objekt Die Brunnen der Wüste und der Figur Jhad? Was ist das für eine Orientierung? Sowohl das Buch als auch die Person und Biografie des Autors Wilfred Thesigers62 sind eng verknüpft mit (britischer) Kolonialgeschichte und aus einer postkolonialen Perspektive nahezu illustrativ für den von Edward Said geprägten Begriff des Orientalismus.63 Said hat sich in seiner gleichnamigen Studie ausführlich mit der Rolle von Forschenden in Kolonisierungsprozessen befasst. Er konnte aufzeigen, dass diese, beispielsweise durch Kartografieren, anthropologische Studien und andere wissenschaftliche und pseudo-wissenschaftliche Arbeit, Wissen generieren, das koloniale und imperialistische Politiken unterstützt oder sogar ermöglicht. Said erklärt damit, wie es Nikita Dhawan und María do Mar Castro in ihrer Einführung in postkoloniale Theorien formulieren, »inwieweit Europas Strategien des angeblichen ›Kennenlernens‹ letztendlich Strategien der Weltbeherrschung darstellen.«64 Das Hauptargument von Orientalismus ist dabei, dass der europäische Diskurs zum Orient diesen überhaupt erst herstellt und zwar in einer spezifischen Weise, nämlich als das ›Andere‹ des ›Abendlandes‹, das diesem in verschiedener Hinsicht unterlegen sei.65 Des Weiteren wird durch Repräsentationen des ›Anderen‹ eine kulturelle Überlegenheit Europas konstruiert. Der ›Orient‹ ist dabei zugleich Erfindung, Fantasie und ein Objekt des Begehrens — so schreibt Said: »The Orient was almost a European invention, and had been since antiquity a place of romance, exotic beings, haunting memories and landscapes, remarkable experiences.«66 Sara Ahmed verbindet Überlegungen zu Orientalismus mit ihren Überlegungen zu Orientierung. Der ›Orient‹ wird vom ›Westen‹ begehrt als etwas, was im Besitz von ›Dingen‹ ist, von denen angenommen wird, dass sie dem ›Westen‹ fehlen.67 Wenn der Orient ein Objekt des Begehrens ist, dann produziert dies eine Orientierung zum Orient. Ahmed führt diesen Gedanken fort

66

Ebd. S. 1.

67

Vgl. Sara Ahmed, 2006, S. 114.

ABBILDUNG 7

177 68

Ebd. S. 115.

69

Ebd. S. 116.

70

Vgl. Joseph Allen Boone: The Homoerotics of Orientalism, New York: Columbia University Press 2014, S. 63—64.

71

Vgl. ebd. S. 390—92.

72

Ebd.

73

Er benennt noch eine Reihe weiterer Topoi, darunter beispielsweise den tanzenden Jungen, den hypervirilen männlichen ›Anderen‹ oder auch den Eunuchen. Vgl. Joseph Allen Boone, 2014.

74

Georg Klauda schreibt unter der Überschrift »Reiseberichte aus dem Land der Perversen«: »Kurioserweise diente der ›Orient‹ noch vor nicht allzu langer Zeit als Projektionsfläche für die homoerotischen Wunschphantasien der europäischen Bohème. Zahlreiche Schriftsteller und Künstler wie André Gide, Oscar Wilde, Edward M. Forster und Jean Genet pilgerten im 19. und frühen 20. Jahrhundert aus dem homophoben Europa nach Algerien, Marokko, Ägypten und in diverse andere arabische Länder, wo gleichgeschlechtlicher Sex nicht nur auf keinerlei Diskriminierung und subkulturelle Gettoisierung traf, sondern sich, zumal aufgrund der rigiden Geschlechtertrennung, an jeder Ecke anzubieten schien.« Georg Klauda: Die Vertreibung aus dem Serail. Europa und die Heteronormalisierung der islamischen Welt, Hamburg: Männerschwarm Verlag 2016 (2008), S. 17.

75

Für Darstellungen von Verbindungen von Blick, Sexualität und Kolonialismus innerhalb anderer geografischer Kontexte, u.a. in Kamerun, siehe: Nicholas Mirzoeff: »Sexuality Disrupts. Measuring the Silences«, in: Marius Rimmele / Klaus Sachs-Hombach / Bernd Stiegler (Hg.), Bildwissenschaft und Visual Culture, Bielefeld: transcript 2014, S. 171—185.

Künstlerische Strategien der Disidentifikation, des Überlebens und des Un-Archiving

und macht eine Unterscheidung zwischen einer Orientierung zu (toward) einem Objekt und einer Orientierung um (around) ein Objekt herum.68 Sie erklärt, dass durch die Orientierung zum ›Orient‹ der Okzident geformt wird als etwas, um das herum wir orientiert sind. »Or we could even say that ›the world‹ comes to be seen as orientated ›around‹ the Occident, through the very orientation of the gaze toward the Orient, the East, as the exotic other that can just be seen on the horizon.«69 Ahmed nimmt damit eine queer-phänomenologische Theoretisierung von Orientalismus und Eurozentrismus vor. Mit der Verbindung von Orientalismus und Begehren im Hinterkopf lässt sich Hasan Aksaygıns Buchobjekt besser verstehen. Wilfred Thesigers Berichte über seine Reisen sind Teil eines orientalistischen Diskurses. Die Beschreibungen seiner beduinischen Reisegefährten sind homoerotisch aufgeladen, so vergleicht Thesiger in schwülstiger Weise die Schönheit und Grazie des 15–jährigen Jungen Salim bin Ghabaisha, der sein konstanter Reisegefährte war, mit der von Frauen.70 Das Buch enthält nicht nur schriftliche Darstellungen, sondern auch Amateur-Fotografien des Autors, die die beduinischen Jugendlichen und jungen Männer zeigen, mit denen Thesiger reiste. Die Masse dieser Fotografien und der starke Fokus auf attraktive junge männliche Beduinen (dabei auch immer wieder Bilder von Salim bin Ghabaisha) lässt das unterschwellige Begehren Thesigers durchscheinen, wie Joseph Allen Boone in seiner umfangreichen Studie The Homoerotics of Orientalism argumentiert.71 Anhand der Bilder und Texte Thesigers kann Boone den »Schönen Jungen«72 als wiederkehrenden Topos in orientalistischen Konstruktionen homoerotischer Männlichkeit herausarbeiten.73 Arabian Sands ist somit ein jüngeres historisches Beispiel für einen homoerotisch aufgeladenen Orientalismus und sexualisierte Konstruktionen sowie Fetischisierung des ›orientalischen Anderen‹, die sich, wie sich anhand der Arbeit JHAD argumentieren lässt, auch heute noch auf (QTI)BIPoC auswirken. Konstruktionen von ›Rasse‹ durch das orientalistische Othering kolonialisierter Subjekte werden verstehbar als untrennbar verbunden mit Konstruktionen von Sexualität. Dieses orientalistische Othering ist nicht nur durch ein heterosexuelles Begehren und heterosexuelle Fantasien geprägt, sondern auch durch homosexuelle Begehrenskonstellationen.74 Rassisierte Konstruktionen von Sexualität, aber auch die sexualisierten Konstruktionen von ›Rasse‹ entstehen in einem weißen, kolonialen Blickregime auf das ›Andere‹. Thesiger ist ein Beispiel dafür, dass dieses koloniale, weiße Blickregime nicht ausschließlich heterosexuell war und ist, sondern tatsächlich auch schwul oder queer.75 Die Arbeit JHAD sensibilisiert durch den Verweis auf ältere und jüngere historische Beispiele für (männliches) homosexuelles Begehren nach dem orientalisierten ›Anderen‹ im Kontext der

178

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

76

Vgl. Joseph Andoni Massad: Desiring Arabs, Chicago, London: University of Chicago Press 2008.

77

Jasbir K. Puar, 2007.

Kolonialgeschichte für die historische Gewordenheit und postkoloniale Kontinuitäten in der Konstruktion von ›orientalischer‹ oder ›muslimischer‹ Männlichkeit und Sexualität.76 Implizit geht mit diesen Praxen der Differenzierung und Subordination des ›Anderen‹ auch eine Konstruktion des Okzidents und okzidentaler (homosexueller) männlicher Subjekte einher. Zugleich wird durch JHAD ein komplexeres Verständnis von Zusammenhängen zwischen Begehren, Rassisierung / Fetischisierung von BIPoC auch in homosexuellen / queeren Kontexten ermöglicht, das gerade vor dem Hintergrund aktueller Debatten um »Homonationalismus«77 relevant ist. Interessanterweise wird in der Arbeit JHAD nicht die englischsprachige Originalversion von Thesigers Buch verwendet und appropriiert, sondern die deutsche Übersetzung. Dies kann ein Hinweis darauf sein, dass die Verbindung von homosexuellem Begehren und Orientalismus auch im deutschen Kontext bedeutsam war und ist. Die Verwendung des Begriffs Empowering in der Arbeit JHAD ist Ausdruck des sarkastischen Humors des Künstlers. Empowerment bezeichnet eine antirassistische Strategie, bei der es darum geht, die strukturellen Dimensionen von Rassismus zu erkennen und konkrete Strategien für den Umgang mit Rassismus zu entwickeln. Aus einer rassismuskritischen, QTIBIPoC-Perspektive scheint es erst einmal absurd, ein solches Buch wie Die Brunnen der Wüste als Empowering Book zu bezeichnen, da es offensichtlich das Gegenteil von Ermächtigung — nämlich Othering, Objektifizierung, Fetischisierung und Exotisierung — bewirkt und Ausdruck eines hegemonialen weißen Blickes und kolonialer Inbesitznahme ist. Warum wählt Hasan Aksaygın also diesen Titel? Die Art und Weise, wie das Buch durch Jhad und für Jhad appropriiert und parodiert wird, kann empowern, indem ein »oppositional gaze«78 eingenommen wird, bei dem ein gewisses Vergnügen entsteht durch kritische Analyse und Dekonstruktion. Der Oppositional Gaze ist bei bell hooks eine Strategie, die Schwarze Kinobesucherinnen im Angesicht rassistischer und sexistischer Repräsentationen Schwarzer Weiblichkeit im Film praktizieren. Sie antwortet damit aus Schwarzer feministischer Perspektive auf eine Frage im feministischen filmtheoretischen Diskurs zu Schaulust im Kino.79 Das Empowering Book ist umhüllt von dem Stoff des Empowering Costumes, das als Erkennungsmerkmal / Markenzeichen von Jhad und Symbol seiner Identität fungiert, bzw. die Figur Jhad erst produziert. In diesem Sinn ist die Umhüllung des Buches eine Form der Aneignung eines Objektes, das symbolisch für ein weißes, koloniales, schwules Blickregime steht, durch eine Kunstfigur, die vorgibt, durch dieses Blickregime geschaffen worden zu sein. Die Figur Jhad wird konstruiert als geschaffen durch deutsche Schwule, als das ›Andere‹ der

78

bell hooks, 2009.

79

Vgl. ebd.

179 80

Ich schreibe hier tatsächlich vom Künstler und nicht von der Arbeit, da an dieser Stelle die Positionierung des Künstlers relevant ist für die Rekonstruktion von disidentifikatorischen Momenten, die wiederum in der Arbeit verhandelt werden.

Künstlerische Strategien der Disidentifikation, des Überlebens und des Un-Archiving

deutschen Nation und als ausgestattet mit sexuellen Superkräften. Konstruktionen von Körpern von Schwarzen Menschen und Menschen of Color als ›Andere‹ sowie Konstruktionen Schwarzer Männlichkeit und muslimisch-gelesener Männlichkeit als hyperviril, sind wiederkehrende Topoi kolonial-rassistischer Diskurse. Durch den Stoff, der ein sichtbares Erkennungszeichen Jhads ist, wird das Buch Die Brunnen der Wüste in Besitz genommen. So wird die Frage forciert, in welcher Relation das Buch zu Jhad / JHAD steht, wodurch eine Relektüre erforderlich wird. Mit Jhad auf Die Brunnen der Wüste zu schauen oder es zu lesen, bewirkt etwas anderes als ein ›Mitgehen‹ mit seinem Autor beim Lesen. Es führt zu einer Veränderung der Blickrichtung, durch die die Performativität und die produktive Macht des kolonialen Blickes und kolonialer Beschreibungen als Strategien der Beherrschung ins Auge gefasst werden, anstatt dem kolonialen Blick auf das ›Andere‹ zu folgen und diesen zu reproduzieren. Diese Unterbrechung wird möglich durch eine Disidentifikation mit dem Objekt der Begierde weißer schwuler europäischer ›Orient‹-Reisender zum Ende des 20. Jahrhunderts. Die Disidentifikation besteht hier darin, dass der Künstler sich ›selbst‹80 ›erkennt‹ in dem objektifizierenden Blick Thesigers, sich erkennt als Objekt eines schwulen Begehrens nach ›orientalischen‹ Männern. Es ist hier nicht die Kunstfigur, die sich disidentifiziert, denn Jhad ist ja konstruiert als habe er keinerlei Einwände gegen die Stereotype, deren Produkt er ist. Hasan Aksaygın verarbeitet in seiner Kunst ein Buch, in dem Körper junger Männer of Color — wenn auch in einer anderen Zeit — in homoerotisch aufgeladenen orientalistischen Texten und Bildern repräsentiert werden, und bringt sie in Verbindung mit einer Kunstfigur, mit der er einen Körper teilt. Der Körper des Künstlers / Jhads ist positioniert als queer, männlich, nicht-weiß und zypriotisch. Die Disidentifikation besteht in einem Wissen darum, gemeint zu sein und einen (begehrenden) weißen Blick auf den eigenen Körper bzw. auf Körper, die dem eigenen ähneln, zu erkennen. Eine Identifikation mit der Rolle des Objekts des Begehrens würde jedoch eine Reduktion auf den Status als Objekt und nicht als Subjekt bedeuten. In der Disidentifikation wird die Objektifizierung gebrochen durch eine ironisierende Distanznahme, ohne sie jedoch komplett zurückzuweisen, sondern viel mehr wird der objektifizierende Blick selbst sichtbar. Zugleich erscheint Hasan Aksaygın in der Arbeit JHAD gleichzeitig in den Rollen des Künstler-Autor-Subjekts und zumindest in Form seines Alter Egos, das seinen Körper bewohnt, als Objekt seiner Kunst. Die Disidentifikation ermöglicht eine Relektüre eines homoerotisch aufgeladenen Orientalismus aus einer queeren und postkolonialen Perspektive. Zugleich kann hier eine Kontinuität zu gegenwärtigen Formen von Rassismus

180

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

81

Vgl. Sara Ahmed, 2006, S. 55—56.

82

Vgl. ebd.

83

Vgl. ebd.

84

Siehe beispielsweise: Sohail H. Hashmi: »Jihad«, in: Richard C. Martin (Hg.), Encyclopedia of Islam and the Muslim World, New York: Macmillan Reference USA; Thomson / Gale 2004, S. 377—379.

und Fetischisierung innerhalb schwuler Szenen ausgemacht werden. Das Buchobjekt erfüllt somit im Kontext der Arbeit Jhad noch stärker als die visuellen Referenzen auf den Jugendstil die Funktion einer Historisierung eines homoerotisch aufgeladenen Orientalismus. Es verweist darauf, wie die Konstitution deutscher / europäischer weißer schwuler Identität und Emanzipation eng verbunden ist mit Kolonialgeschichte. Dies geschieht durch das Aufzeigen von Parallelen, aber auch von Brüchen in der homoerotischen Konstruktion ›orientalischer‹ Männlichkeit und gegenwärtigen Konstruktionen der Figur des ›Jihadisten‹ bzw. von ›muslimischer‹ oder ›terroristischislamistischer‹ Männlichkeit. Diese werden lesbar durch die künstlerische Strategie einer ironischen Appropriation eines kolonialrassistischen Objekts und einer Disidentifikation mit diesen Konstruktionen. Eine Berücksichtigung von Akten der Disidentifikation des Künstlers ermöglicht ein Verständnis davon, welche Rolle seine Positionierung dafür spielt, welche (anderen) Objekte und Themen innerhalb der Arbeit JHAD erreichbar und zu Objekten der Wahrnehmung werden.81 Mit Sara Ahmed lässt sich die Frage vertiefen, was erreichbar ist — und was nicht. Wenn sich Objekte außerhalb der Reichweite von Körpern befinden, werden sie gar nicht erst zu Objekten der Wahrnehmung.82 Das Empowering Book als Produkt einer Disidentifikation Hasan Aksaygıns ermöglicht, dass andere Geschichten erreichbar und so zu Objekten der Wahrnehmung werden. Wenn Orientierungen bestimmt sind durch Richtungen, die wir einschlagen, durch die wiederum Objekte erreichbar werden,83 dann ist umgekehrt auch denkbar, dass andere Objekte, die vorher nicht in Reichweite waren, andere Richtungen ermöglichen.

DISIDENTIFIKATION MIT ANTIMUSLIMISCHEM RASSISMUS Der Titel der Arbeit — JHAD — verweist offensichtlich auf das Wort Jihad, welches im gegenwärtigen Diskurs nahezu synonym für islamistischen Terror verwendet wird. Wörtlich heißt das Wort Jihad auf Arabisch so viel wie streben, sich abarbeiten, kämpfen. In verschiedenen Auslegungen des Korans wird zwischen einem inneren und einem äußeren Jihad unterschieden84. In dieser Lesart kann der Titel JHAD tatsächlich auf mehr als die Ironisierung islamfeindlicher Projektionen und antimuslimischen Rassismus verweisen, sondern auch auf einen inneren und äußeren Kampf, auf ein Abarbeiten an den Effekten dieser Formen von Diskriminierung. Der Körper des Jihadisten Jhad ist schließlich auch der Körper Hasan Aksaygıns, weshalb der Schluss nahe

181 85

Dies wird vom Künstler in seinem Konzeptpapier (siehe Zitat weiter oben) direkt benannt, lässt sich aber auch aus der Arbeit herleiten.

86

Sie verbindet hier zwei von ihr geprägte Begriffe, nämlich den des »klebrigen Zeichens« (»sticky sign«) (S. 76) und den literaturwissenschaftlichen Begriff der Metonymie, den sie verwendet, um zu zeigen, wie bestimmte Wörter dadurch miteinander verbunden werden, dass sie häufig gemeinsam genannt werden. Diese Verbindung sei mehr als nur temporär. Die Beispiele, die Ahmed hier nennt, sind die Worte Islam und Terrorismus. Vgl. Sara Ahmed, 2004, S. 76.

87

Sara Ahmed, 2004, S. 76.

88

Vgl. Leti Volpp: »The Citizen and the Terrorist«, in: UCLA Law Review 49 (5), 2002, S. 1575—1600.

89

Jasbir K. Puar, 2007, S. 38.

90

Vgl. José Esteban Muñoz, 1999, S. 94—95.

Künstlerische Strategien der Disidentifikation, des Überlebens und des Un-Archiving

liegt, dass der Künstler über die von ihm geschaffene Figur auch Zuschreibungen, Blicke und Projektionen auf seinen eigenen Körper verhandelt, der männlich, ›türkisch‹, ›muslimisch‹ und je nach Kontext möglicherweise auch schwul codiert ist.85 Das Wort ›Terrorist‹ ist, mit Sara Ahmed, ein »klebriges Zeichen« (»sticky sign«)86, dass an bestimmten Körpern kleben bleibt und zugleich in andere Wörter über gleitet. »The sliding between signs also involves ›sticking‹ signs to bodies: the bodies who ›could be terrorists‹ are the ones who might ›look Muslim‹. Such associations stick precisely insofar as they resist literalisation.«87 So haftet das Wort ›Terrorist‹ an ›muslimisch-aussehenden‹ Körpern bzw. muslimisch-gelesenen Körpern — und damit auch an dem Körper Hasan Aksaygıns / Jhads. Hasan Aksaygın ist türkischsprachiger Zypriot und nicht religiös — warum bleibt also das Wort an seinem Körper kleben? Im hegemonialen Diskurs wird die religiöse Identität von Muslim_innen rassialisiert und Subjekte unterschiedlicher nationaler und ethnischer Herkünfte werden zusammengefasst als ›Muslime‹, wie Jasbir Puar in ihrem Buch Terrorist Assemblages, mit Verweis auf Leti Volpp88 erläutert: »Leti Volpp suggests, ›September 11 facilitated the consolidation of a new identity category that groups together persons who appear ›Middle Eastern, Arab, or Muslim.‹ This consolidation reflects a racialization wherein members of this group are identified as terrorists, and are dis-identified as citizens.‹ This disidentification is a process of sexualization as well as of racialization of religion. But the terrorist figure is not merely racialized and sexualized; the body must appear improperly racialized (outside the norms of multiculturalism) and perversely sexualized in order to materialize as the terrorist in the first place. Thus the terrorist and the person to be domesticated— the patriot—are not distant, oppositional entities, but ›close cousins‹.«89 Puar verwendet hier Disidentifikation im Sinn von Missidentifikation, also einer verfehlten Identifikation, was kein (intentionaler) widerständiger Modus ist, wie er von Muñoz herausgearbeitet wird.90 Interessant ist jedoch, dass Jasbir Puar zeigt, dass der Prozess der Herstellung einer konsolidierten Identitätskategorie der ›Muslime‹ sowohl mit einer Rassialisierung als auch einer Sexualisierung von Religion einhergeht. Genau an dieser Intersektion befindet sich der Körper von

182

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

91

Jin Haritaworn, 2015, S. 160.

92

Jennifer Petzen, 2011 (2005), S. 42—43.

93

Vgl. Jin Haritaworn, 2015, S. 125—141.

94

Vgl. Zach Blas, 2016.

Jhad / Hasan Aksaygın, der in parodierender Weise dieser doppelten und zugleich widersprüchlichen Anrufung folgt. Er / sein Körper wird — unabhängig von seiner tatsächlichen Religions(nicht)zugehörigkeit — gelesen als muslimisch und potenziell ›terroristisch‹. Im gegenwärtigen Diskurs werden Muslim_innen pauschal stereotypisiert als rückschrittlich in Bezug auf ihre Haltung zu Sexualität und Geschlechtergerechtigkeit — sind sozusagen nicht queer genug. Dies ist eine diskursive Verschiebung, denn in den orientalistischen Diskursen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts wurden Menschen des sogenannten ›Orients‹, zu dem auch islamisch geprägte Länder gehören, konstruiert als unzivilisiert, triebhaft, sexuell ausschweifend und pervers (u.a. in den Beschreibungen von Harems oder Badehäusern). Sie wurden also zum Anderen gemacht und abgewertet über eine als unnormal oder abweichend konstruierte, zugeschriebene Sexualität. Ein europäischer kolonialer Herrschaftsanspruch im ›Orient‹ konnte legitimiert werden als Zivilisierungs- und Modernisierungsmission.91 Die Konstruktion von Geschlecht und Sexualität im ›Orient‹ bzw. analog dazu in der ›islamischen Welt‹ in den gegenwärtigen Diskursen, hat dementsprechend einen Wandel durchlaufen. Jennifer Petzen fragt nach den Gründen für diesen Wandel und kommt zu dem Schluss, dass es einen Zusammenhang zum Ende der Präsenz der Kolonialmächte in den ehemaligen Kolonien und zu Migration gibt: »Dies [die Spannung zwischen Vorstellungen von europäischen und nicht-europäischen Männlichkeiten] stellt eine Veränderung in der Art und Weise dar, wie kolonialistische und post-kolonialistische Diskurse den ›Osten‹ / ›Süden‹ traditionell als feminisiertes, schwaches Anderes porträtiert haben. Es scheint, dass diese Schemata funktioniert haben, solange die Kolonialmächte in den Kolonien anwesend waren. Aber in der heutigen Welt der Migration, in der die Kolonialisierten nach Europa gekommen sind, sieht die gängige Vorstellungskraft nicht-europäische, insbesondere muslimische Kultur als gefährliche, patriarchale Krankheit an, die sich auszubreiten droht.«92 Zu dieser Konstruktion ›muslimischer‹ Männlichkeit und ›muslimischer‹ Kultur als gefährlich und pathologisch gehören die Figuren des ›islamistischen Terroristen‹, des ›homophoben Migranten‹ oder — etwas älter — die des ›Intensivtäters‹93 und des ›Ehrenmörders‹ mittels derer männlich-muslimisch gelesene Personen of Color — mit Sara Ahmeds Worten — als »Objekte der Angst«94 konstruiert werden.

183 95

José Esteban Muñoz, 1999, S. 93.

96

Ebd.

97

Ebd.

98

Vgl. ebd. S. 93—115.

99

»Davis’s drag, this reconfigured cross-sex, cross-race minstrelsy, can best be understood as terrorist drag — terrorist in that she is performing the nation’s internal terrors around race, gender and sexuality. It is also an aesthetic terrorism: Davis uses groundlevel guerilla representational strategies to portray some of the nation’s most salient popular fantasies. The fantasies she acts out involve cultural anxieties around miscegenation, communities of color, and the queer body.« José Esteban Muñoz, 2010 (1997), S. 246.

100 José Esteban Muñoz, 1999, S. 103.

Künstlerische Strategien der Disidentifikation, des Überlebens und des Un-Archiving

Die Arbeit JHAD suggeriert dagegen, dass trotz der diskursiven Verschiebung beide Bilder — das von ›Oriental_innen‹ als zu queer aufgrund einer zugeschriebenen ausschweifenden Sexualität und das von ›Muslim_innen‹ als sexuell unterdrückt bzw. unterdrückend und rückschrittlich, nicht queer genug — gleichzeitig Bestand haben, obwohl sie sich gegenseitig auszuschließen scheinen. Orientalismus und anti-muslimischer Rassismus gehören in dieser Lesart folgerichtig zusammen. Die Veränderung des Diskurses bedeutet in diesem Verständnis dann keineswegs eine komplette Ablösung des einen Bildes durch ein anderes, ihm widersprechendes. Indem die Figur des Jihadisten bzw. Terroristen mit den homoerotischen orientalistischen Bildern von Männern of Color sowie den sexualisierten Projektionen auf Männer of Color innerhalb deutscher Schwulenszenen miteinander kombiniert werden, erscheinen sie nicht nur absurd und gewaltvoll, sondern auch als Produkte ihrer Zeit und wandelbar. Dieser Effekt der Dekonstruktion wird möglich durch eine Disidentifikation des Künstlers mit den Projektionen und Anrufungen, mit denen er in unterschiedlichen Kontexten wie den Institutionen der Kunst, auf der Straße oder in den Darkrooms von Schwulen-Clubs konfrontiert ist. Die Rückspiegelung der widersprüchlichen rassistischen Projektionen auf den männlichen, muslimisch gelesenen Körper über die Figur Jhad lese ich im Anschluss an José Esteban Muñoz als »terrorist drag«95 und als disidentifikatorische Strategie: Die Bezeichnung »terrorist drag«96 entwickelt Muñoz anhand der Analyse einer spezifischen Performance der Dragkünstlerin und Punk-Ikone Vaginal Creme Davis. Vaginal Davis’ Drag ist »terrorist drag«97 nicht in dem Sinn, dass sie sich als ›Terrorist‹ inszeniert, sondern ihr Drag ist terroristisch dahingehend, dass sie, so Muñoz, nationale Ängste in Bezug auf ›Rasse‹, Geschlecht und Sexualität performt.98 Das Publikum werde durch Davis’ Performance ›terrorisiert‹, indem es auf radikale Art und Weise mit diesen kollektiven nationalen Ängsten beispielsweise in Bezug auf ›Rassenmischung‹, Communitys of Color, Angst vor queeren Körpern, etc. konfrontiert wird.99 Darüber hinaus betreibe Vaginal Creme Davis einen ästhetischen Terrorismus. In einer von Muñoz genauer analysierten Szene der terroristischen Drag-Performance von Vaginal Creme Davis performt sie in der Rolle eines weißen Milizionärs namens Clarence. Sie verkörpert mit ihrem eigenen (Schwarzen, queeren Körper) einen weißen rassistischen homophoben Cis-Mann, während sie, laut der Beschreibung von Muñoz, erklärt, dass sie weiße Paramilitärs »really hot«100 findet. »[…] the work done by this performance of illicit desire for the ›bad‹ object, the toxic force, should be considered as an active disidentification with strictures against

184 101 Ebd. S. 103—105. 102 Ebd. S. 105. 103 »The performance magnifies images from the homophobic popular imaginary. Davis is once again inhabiting phobic images with a parodic and cutting difference. Thus, although many gay people eschew negative images, Davis conversely explodes them by inhabiting them with a difference.« José Esteban Muñoz, 2010 (1997), S. 245.

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

cross-racial desire in communities of color and the specters of miscegenation that haunt white sexuality. The parodic performance works on Freudian distinctions between desire and identification: the ›to be or to have‹ binary is queered and disrupted.«101 In Muñoz Lesart von Vaginal Davis’ Performance ist es das Explizitmachen eines (tabuisierten) Begehrens nach dem ›schlechten‹ Objekt der Begierde durch eine performative Verkörperung dieses Objekts, durch das die Freud’sche Unterscheidung von Begehren und Identifikation und zwischen »sein oder haben«102 auf ironische Art und Weise gestört wird und queere Potenziale entfaltet werden. Das Begehren nach dem ›schlechten‹ Objekt könnte bei Jhad ein Begehren nach dem weißen deutschen Schwulen sein, durch den er zugleich rassistisch und exotistisch fetischisiert wird. Es könnte aber auch ein Begehren danach sein, die rassistischen Projektionen zu verkörpern, ihnen zu entsprechen und so zu ›sein‹, was bedeuten würde, selbst zum Objekt des Begehrens zu werden. Mich interessiert hier die Frage der Verkörperung des ›schlechten‹ Objekts und der Umgang mit der toxischen Kraft, die diesem Objekt innewohnt, die für mich anknüpfungsfähig ist für die Analyse von Hasan Aksaygıns Arbeit. Mit toxischen Kräften sind bei Muñoz Rassismus, Heterosexismus und Nationalismus gemeint, die von Clarence, dem weißen Paramilitär, ausgehen. Er ist trotzdem (!) gleichzeitig Objekt der Begierde von Vaginal Davis, die ihn verkörpert. (Genau hier verschwimmt die Grenze zwischen Identifikation und Begehren, wie Muñoz herausgearbeitet hat.) Lässt sich diese Lesart übertragen auf die Analyse von Jhad? Jhad verkörpert ebenfalls ein Objekt der Begierde, aber es ist nicht das als solches inszenierte eigene Begehren, sondern das — ebenfalls toxische — exotisierende, orientalisierende, fetischisierende Begehren von anderen, dem der Künstler Hasan Aksaygın, dessen Körper Jhad bewohnt, auch an vermeintlich liberalen Orten wie in der schwulen Szene oder dem Kunstkontext begegnet. Nach José Esteban Muñoz ist es eine performative Strategie von Vaginal Davis, Bilder aus dem populären homophoben Imaginären wie mit einer Lupe zu vergrößern und sie dadurch zu dekonstruieren und diese (negativen) Bilder zu verkörpern, aber in veränderter und parodierender Weise.103 Im Englischen wird hier das Verb to inhabit verwendet. Von einem Einnehmen oder Bewohnen phobischer oder toxischer Bilder (wie z.B. homofeindlicher oder islamfeindlicher Bilder) zu sprechen, konnotiert einen aktiven Umgang. Können solche Bilder überhaupt bewohnbar sein? Ist es aus einer minorisierten Subjektposition heraus möglich, diese Bilder zu bewohnen, sich in ihnen einzurichten und sie nicht nur zurück-

185 104 ›Wir‹ meint hier alle Leser_innen, jedoch insbesondere diejenigen, die von struktureller Diskriminierung betroffen sind. 105 José Esteban Muñoz, 1999, S. 93—115. 106 Jasbir K. Puar, 2007, S. xxiii. 107 Ebd. 108 Vgl. ebd. S. 76.

Künstlerische Strategien der Disidentifikation, des Überlebens und des Un-Archiving

zuweisen? Das Wort bewohnen lässt zudem an ein Zuhause denken. Gerade für Queers muss Zuhause nicht immer ein Ort der Sicherheit sein. Es kann der Ort sein, von dem man nach einem Outing verstoßen wurde. Haben wir104 uns zum Teil in toxischen Bildern eingerichtet? Sollten wir dann lieber umziehen — und wenn ja, wohin? Welche Bilder bieten ein besseres Zuhause für QTIBIPoC? Wichtig ist anzumerken, dass José Esteban Muñoz’ Buch vor dem 11. September 2001 veröffentlicht wurde und damit vor den gegenwärtigen Diskursen zu Terrorismus und den Politiken eines War on Terror, die daraufhin folgten und aktuelle Assoziationen mit dem Begriff Terrorismus geprägt haben. Jasbir Puar bemerkt, dass sich Muñoz’ Kapitel zu Vaginal Davis’ »terrorist drag«105 wie aus einer anderen Zeit liest, in der Terroristen zwar bedrohlich erscheinen, jedoch zugleich weiter weg. Dies bedeutet nicht, dass Muñoz’ Text überholt ist, im Gegenteil erinnere er, so Puar, an die historischen Konvergenzen zwischen Queers und Terror im US-amerikanischen Diskurs, wo Homosexuelle unter anderem als Verräter der Nation bezeichnet wurden, während der McCarthy Ära mit Kommunist_innen in Verbindung gebracht wurden oder die Homo-Ehe als schlimmste Form des Terrorismus bezeichnet worden sei.106 Puar schreibt weiter: »Clearly, one can ask: What is terrorist about the queer? But the more salient and urgent question is: What is queer about the terrorist? And what is queer about terrorist corporealities?«107 Es sind genau diese Fragen, die in der Arbeit JHAD von Hasan Aksaygın verhandelt werden. Ergänzt werden sie durch die Frage: Was ist ein queeres Begehren nach dem Terroristen? Die künstlerische Arbeit leistet damit zugleich einen Beitrag zu Queer of Color-Kritik. Der Terrorist Drag in der Arbeit JHAD umfasst noch eine weitere Dimension. Jhad verkörpert ein aktuelles phobisches Bild, das am Körper von Hasan Aksaygın klebt. Die Arbeit JHAD spielt auf dominante antimuslimisch-rassistische ›Ängste‹ an, in denen jeder muslimisch gelesene Mann unter TerrorismusVerdacht steht. Über Verweise auf ein fetischisierendes schwules Begehren nach dem (hyper-)männlichen ›muslimischen‹ Körper wird im antimuslimischen Rassismus eine Begehrensstruktur und eine Sexualisierung der Figur des ›Terroristen‹ und des Angstobjekts erkennbar. Dieses Begehren wird durch verschiedene kunst- und kulturhistorische Referenzen, wie auf den Jugendstil oder auf Wilfred Thesiger, historisiert als orientalistisches Begehren. Durch Parodie bis hin zu Satire sowie durch Ironie in der Arbeit, entsteht eine gewisse Distanz zu den »klebrigen Zeichen«108 — und damit die Möglichkeit für Disidentifikation als performativem Modus im Umgang mit hegemonialen Diskursen und Anrufungen dominanter Ideologie. Die Figur Jhad, die mit Hasan Aksaygın einen Körper teilt, ist

186

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

109 Hasan Aksaygın. Impulsvortrag im Rahmen der Summerschool »Inside / Outside: Queer Networks in Transnational Perspective«. 12.9.—16.9.2016. Leibniz Universität Hannover.

der Effekt einer Disidentifikation mit diesen Zuschreibungen. Die Disidentifikation besteht hier genau darin, dass diese Projektionen (auf den Körper) nicht zurückgewiesen, sondern zurückgespiegelt werden. Das Publikum wird bei der Rezeption von JHAD in einer ähnlichen Weise wie Muñoz es in Bezug auf Vaginal Davis’ Performance beschreibt, mit kollektiven nationalen Ängsten konfrontiert, nicht weil Jhad selbst bedrohlich erscheint, sondern weil er als Produkt dieser Ängste repräsentiert wird. Die disidentifikatorische Strategie des Terrorist Drag funktioniert so dass die phobischen und fetischisierenden Projektionen auf den Körper Hasan Aksaygıns / Jhads nicht zurückgewiesen werden, sondern performativ bestätigt und ironisiert werden: Jhad verfügt über sexuelle Superkräfte, ist (Sex-)Objekt, Heiliger, Superheld, queer, und zugleich als Jihadist ›muslimischer‹ Mann und potenzieller Terrorist. Hasan Aksaygın selbst hat einmal erklärt, sein Ansatz für die Arbeit sei gewesen, »to give them what they want from me«.109 Die Figur Jhad ist damit die Antwort auf die Frage, wie es aussehen würde, sämtliche Stereotype, Vorstellung und Fantasien, die von der weißen deutschen Mehrheitsgesellschaft, der Kunstwelt und weißen deutschen Schwulen mit dem Körper Hasan Aksaygıns bzw. einem muslimisch-männlich gelesenen Körper verknüpft werden, gleichzeitig zu erfüllen. Der Effekt ist, dass die Absurdität und Widersprüchlichkeit und die Massivität der Anrufungen und Projektionen auf den Körper Hasan Aksaygıns erkennbar wird. Der Blick selbst, der Hasan Aksaygıns Körper rassistisch objektifiziert und zum Objekt homosexuellen Begehrens werden lässt, wird sichtbar gemacht und darüber entnormalisiert. Diesem Blick, dem Othering und den Fremdzuschreibungen wird jedoch kein ›authentisches Selbst‹ als Korrektiv gegenübergestellt, sondern eine Kunstfigur.

DISIDENTIFIKATORISCHE PERSPEKTIVEN AUF KUNST_GESCHICHTE Bin ich zunächst auf die Art und Weise zu sprechen gekommen, wie in der Arbeit JHAD eine Disidentifikation mit antimuslimisch-rassistischen sowie (neo-)orientalistischen und fetischisierenden Projektionen auf den Körper Hasan Aksaygıns ausgedrückt wird, über die künstlerische Konstruktion der Figur Jhad als jihadistisches Superhelden-Alter-Ego des Künstlers, sowie über Historisierung, Parodie und Terrorist Drag, zeichne ich im Folgenden eine weitere disidentifikatorische Dimension der Arbeit nach, nämlich eine Disidentifikation Hasan Aksaygıns mit der Subjektposition des ›Künstlers‹ sowie dem Objekt-Status, den BIPoCs in der Kunst(-geschichte) fast

187 110 José Esteban Muñoz, 1999, S. 25. 111

Ich verwende diesen Begriff in Anlehnung an den von Judith Butler geprägten Begriff Gender Trouble und meine damit eine Irritation (hetero-)normativer Zeitlichkeitsvorstellungen. Vgl. Judith Butler: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, London, New York: Routledge 2007 (1990).

Künstlerische Strategien der Disidentifikation, des Überlebens und des Un-Archiving

ausschließlich zugewiesen bekommen. Damit ist gemeint, dass Schwarze Menschen, Indigenous People und People of Color in der Kunstgeschichte zwar immer wieder vorkommen — als Bildmotive —, jedoch so gut wie nie als Autor_innen. Die Disidentifikation, die über zahlreiche Anspielungen und Referenzen an Kunst(-geschichte) und visuelle Kultur in der Arbeit JHAD künstlerisch artikuliert wird, wird verhandelt als bedingt und konstruiert durch Normen und strukturelle und institutionelle Machtverhältnisse in der Kunst. Um dies besser zu verstehen, ist es notwendig, einigen der in der Bildsprache der Arbeit gelegten Spuren als Orientation Devices zu folgen und zu sehen, wohin sie führen. Bei diesen Spuren, die über Referenzen in die Kunstgeschichte und Andeutungen gelegt werden, handelt es sich um ›Objekte‹, die in unterschiedliche Richtungen weisen und performative (Re-)Orientierungen hervorbringen. Sie führen immer wieder weg von der Arbeit und zu einer queeren und postkolonialen, oder genauer: orientalismuskritischen Relektüre von Kunstgeschichte und von dort aus zurück zum Künstler Hasan Aksaygın. Visuelle Referenzen auf den Jugendstil als disidentifikatorische Relektüren von Kunstgeschichte Die Dimension von Disidentifikation als »hermeneutische Performance«110 und als Modus der Kritik lässt sich innerhalb der Arbeit JHAD anhand der darin gemachten visuellen Referenzen auf den Jugendstil besonders gut nachzeichnen. Die typografische Gestaltung des titelgebenden Wortes JHAD sowie der daraus aufsteigenden Ornamente in Anlehnung Jugendstil-Design sind zunächst ein kleineres Detail. Allerdings wird dadurch unmittelbar die Frage provoziert: warum? Es entsteht eine Irritation durch den zeitlichen Bruch, in dem in der zeitgenössischen Arbeit auf einen anderen kunsthistorischen Kontext verwiesen wird, dessen Zusammenhang sich nicht offensichtlich erschließt. Die Bedeutung ist nicht einfach zu entschlüsseln — gerade in der Kombination mit anderen historischen Referenzpunkten und zeitlich bestimmten Repräsentationsweisen in Kunst und / oder visueller Kultur. Damit meine ich beispielsweise die Referenzen auf christliche Kunst des Mittelalters, zeitgenössische Repräsentationen von ›Terroristen‹, Kalligrafie und Ikonografie älterer islamischer Kunst und Verweise auf eine unbestimmte Zukunft über die futuristisch anmutende Kleidung. Referenzen, die mit bestimmten Zeitlichkeiten belegt sind, werden auf eine widerspenstige Art und Weise miteinander in Beziehung gebracht. Zwischen diesen Zeitlichkeiten entsteht etwas, das als Temporal Trouble111 bezeichnet werden kann: Es wird keinem logischen oder linearen Zeitverlauf gefolgt und Quer- (oder Queer-)Verbindungslinien zwischen unterschiedlichen

188

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

112 Eine genauere Analyse des Umgangs mit Zeitlichkeit in der Arbeit JHAD vor dem Hintergrund von queeren Theorien zu Zeitlichkeit würde sicherlich ebenfalls interessante Ergebnisse liefern.

historischen Momenten erschließen sich nicht ohne Weiteres.112 In diesem Temporal Trouble wird die Frage aufgeworfen, in welcher Hinsicht diese unterschiedlichen Bezugspunkte auf den dargestellten Körper verweisen. Welche Grundlage für Identifikation und Disidentifikation bietet der Jugendstil aus der Perspektive einer Queer of Color-Kritik? Meine These ist, dass über die visuelle Referenz auf den Jugendstil spezifische diskursive Momente in der Kunstgeschichte aufgerufen werden, die aus postkolonialen und queeren Perspektiven in zweifacher Hinsicht interessant sind. Erstens, weil der Jugendstil sich teilweise mit dem Orientalismus als kunst- und kulturhistorischem Phänomen überschneidet und sich daran die Frage anknüpft, wie Kunst an der Konstruktion des ›Orients‹ als westlich-imaginärem Bild von den ›Orientalen‹ als den ›Anderen‹ mitgearbeitet hat. Verflechtungen von kolonialen Diskursen und Themen- und Motivwahl in der Kunst werden so nachvollziehbar. Zweitens lassen sich in den heftig geführten Debatten gegen den Jugendstil und zu seinem Ende hin diskursive Verschiebungen in der Kunst ausmachen, die einhergehen mit Etablierung und Naturalisierung neuer Normen in der Kunst. Sie sind unter anderem geprägt von spezifischen Formen von Vergeschlechtlichung, Sexualisierung und Rassifizierung.

113 Der Begriff Jugendstil bezeichnet das Phänomen im deutschsprachigen Raum, während es ähnliche Strömungen zu dem Zeitpunkt in verschiedenen europäischen Ländern gab — so in Großbritannien die Modern Style-Bewegung oder in Frankreich die Art Nouveau. 114 Vgl. Birgit Dahlke: »Jugendstil«, in: Achim Trebeß (Hg.), Metzler-Lexikon Ästhetik. Kunst, Medien, Design und Alltag, Stuttgart: Metzler 2006, S. 189. 115 Der Jugendstil wird verstanden als Gegenbewegung zum damals von Künstler_innen als rückwärtsgewandt empfundenen Historismus und als Reaktion auf die Industrialisierung. Stilistisch kennzeichnende Elemente sind — grob verallgemeinernd — geschwungene Linien, ornamentale Verzierungen, insbesondere florale Ornamente und Aufgabe von Symmetrie.

Das westlich-imaginäre Bild des ›Orients‹ Der Jugendstil113 bezeichnet eine künstlerische Bewegung, die zeitlich um den Übergang vom 19. Jahrhundert zum 20. Jahrhundert (etwa 1890—1914) verortet ist.114 Der Jugendstil wollte ein Gesamtstil sein, der sowohl Kunst als auch Architektur, angewandte Kunst, aber auch Literatur einschloss.115 Eines der zentralen Anliegen des in sich sehr heterogenen und durch Paradoxien gekennzeichneten Jugendstils bzw. der Art Nouveau war die Verschmelzung von Kunst und Leben, die der Künstler Hasan Aksaygın in seiner Arbeit in überspitzter Art aufgreift und parodisiert, wenn er mit Jhad eine Figur schafft, die in seinem Körper ›lebt‹. Kunst und Leben sind in Jhad wortwörtlich miteinander verschmolzen. Eine postkoloniale Relektüre des Jugendstils, insbesondere in Verbindung mit postkolonialen Kritiken an Orientalismus, kann eine interessante Forschungsperspektive sein. Zeitlich überschneidet sich der Jugendstil mit dem Spätkolonialismus bzw. Imperialismus sowie dem Ende der Hochphase des Orientalismus, was sich visuell niederschlägt in Form orientalistischer Elemente im Jugendstil, der Japan-Begeisterung zu der Zeit oder in der Popularität ornamentaler Gestaltungselemente, wie etwa der Arabeske. Der Orientalismus im Kontext des Jugendstils liegt in hegemonialen Diskursen der Kunstwissenschaft und den gesamtgesellschaftlichen Diskursen zeitlich in der Vergangenheit und damit hinter uns. Andererseits

189 116 Sara Ahmed, 2006, S. 31. 117

Mit einer queer-phänomenologischen und postkolonialen Perspektive sind solche sprachlichen Formulierungen fraglich, die suggerieren, dass Akte des Vergessens oder der Verdrängung passive und ›zufällige‹ Ereignisse sind, die einfach passieren. Was erinnert und was vergessen wird, ist immer eine Frage der gesellschaftlichen Machtverhältnisse.

118 Ahmed schreibt: »a queer phenomenology, I wonder, might be one that faces the back« Ebd. S. 29.

Künstlerische Strategien der Disidentifikation, des Überlebens und des Un-Archiving

ist er ein Objekt, das nicht mehr in den Blick genommen wird, das in den Hintergrund relegiert wurde durch eine diskursive Verschiebung im Zusammenhang mit den zeitgenössischen Diskursen zu Terrorismus und den daraus hervorgehenden aktuellen diskursiven Konstruktionen von Muslim_innen, des ›Orients‹ und der ›islamischen Länder‹. Ein Hintergrund wird laut Sara Ahmed durch Akte der Verdrängung produziert. »We can think, in other words, of the background not simply in terms of what is around what we face, as the ›dimly perceived‹, but as produced by acts of relegation: some things are relegated to the background in order to sustain a certain direction; in other words, in order to keep attention on what is faced.«116 In den aktuellen Diskursen ist es genau der historische Zusammenhang mit dem Orientalismus als Teil der kolonialen Vergangenheit, der ent-innert wird, aus dem Blick verschwindet und somit in den Hintergrund tritt.117 Eine queere phänomenologische Perspektive, wie sie von Sara Ahmed vorgeschlagen wird, richtet den Blick gerade auf den Hintergrund118 und ermöglicht es, den historischen Kontext als konstituierend und prägend für die Gegenwart zu begreifen. Damit werden (post-)koloniale Kontinuitäten und diskursive Verschiebungen nachvollziehbar. Das Hinten des Hintergrundes kann sowohl zeitlich als auch räumlich verstanden werden — der Hintergrund ist oft nur schwer wahrnehmbar, weil er räumlich weiter entfernt ist oder zeitlich weiter zurück liegt. Auch in der Bildkomposition ist die Funktion des Hintergrunds oft eher die, die Aufmerksamkeit auf das Geschehen im Vordergrund zu richten oder dieses zu rahmen. Wie spielen also der Hintergrund als kompositorisches Element und der zeitliche und räumliche Hintergrund zusammen in der Arbeit JHAD? Welche Verbindungslinien lassen sich ziehen durch eine queere phänomenologische Perspektive? Wie bereits dargelegt, werden ausgehend von den visuellen Referenzen auf den Jugendstil sowie durch die Referenzen auf Thesigers Die Brunnen der Wüste Linien gezogen in der zeitgenössischen Arbeit, aus der Gegenwart, zurück zum historischen Orientalismus. Dadurch werden diskursive Verschiebungen in Bezug auf orientalistische Diskurse angesprochen, die bedeutsam sind für die Konstruktion eines ›orientalischen Anderen‹, die sich bis heute auswirken auf die Art und Weise, wie BIPoCs wahrgenommen werden, und die aktuelle Bio- und Nekropolitiken informieren. Noch konkreter: Historische und gegenwärtige Bilder des ›orientalischen Anderen‹ als Teil eines kulturellen Bildrepertoires wirken sich darauf aus, wie Körper, wie beispielsweise der von Hasan Aksaygın, zu sehen gegeben und gelesen werden — sie produzieren ein Blickregime. Aus heutiger

190

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

119 Vgl. »Orientalism«, in: Jonathan Bloom / Sheila Blair (Hg.), The Grove Encyclopedia of Islamic Art and Architecture. Volume III. Mosul to Zirid, Oxford, New York: Oxford University Press 2009, S. 67—71, hier S. 68.

Perspektive können wir in Bezug auf den Orientalismus in der Kunst von einem historischen Phänomen kultureller Aneignung — einer Cultural Appropriation — sprechen: ›Fremde‹ Kulturen wurden zum Material, zum Reservoir, aus dem europäische Künstler_innen, Schriftsteller_innen und andere schöpfen konnten oder Anregungen für die eigene Fantasie fanden. Das Orientbild um 1900 ist in weiten Teilen recht ›positiv‹ besetzt und romantisierend. Das bedeutet jedoch nicht, dass es nicht im Dienst einer kolonialen Agenda mobilisiert wurde. Orientalistische Bilder von Nomaden und Harems, Ruinendarstellungen und ›exotischen‹ Hochzeitsbräuchen — all das konnte interpretiert werden als Darstellungen von Rückschrittlichkeit, Verfall und Barbarei, so heißt es in der von Jonathan Bloom und Sheila Blair herausgegeben Enzyklopädie für islamische Kunst und Architektur unter dem Stichwort »Orientalism«. Damit wurde die Botschaft vermittelt, dass der Kolonialismus gerechtfertigt sei als zivilisierende und modernisierende Kraft.119 Kunst und visuelle Kultur müssen verstanden werden als Teil eines orientalistischen Diskurses, innerhalb dessen der europäische Kolonialismus legitimiert wird und Europa in einer spezifischen Weise als überlegen und als unmarkiertes Zentrum konstruiert werden kann. Von diesem Zentrum geht ein weißer, objektifizierender Blick auf das ›Andere‹ aus. Die Perspektive der ›Anderen‹ selbst kommt nicht vor. Viele der sogenannten Orientalist_innen, waren niemals selbst im ›Orient‹. Die Repräsentation des ›Orients‹ in westeuropäischer Kunst und Literatur ist Ausdruck eines (west-)europäischen Imaginären und verrät damit viel mehr über die westeuropäische Imagination des ›Orients‹ und über ein weißes, westeuropäisches Begehren innerhalb orientalistischer Darstellungen als über die tatsächlichen Bewohner_innen und ihre Kulturen. In den Werken der Orientalist_innen wurden Vorstellungen und Repräsentationen des ›Orients‹ produziert und im ›Westen‹ verbreitet. Diese Repräsentationen des ›Orients‹ stereotypisieren und schreiben orientalisierte Subjekte in einer spezifischen Weise in die Position des ›Anderen‹ fest. Dieses ›Andere‹ ist jedoch kein gleichberechtigtes Gegenüber, sondern wird untergeordnet entlang binärer Differenzkonstruktionen.120 Auch wenn es sich bei orientalistischen Repräsentationen um imaginäre und sogar um falsche Bilder handelt, haben die darin enthaltenen Vorstellungen dennoch reale Auswirkungen in Bezug auf die Art und Weise, wie bestimmte BIPoCs innerhalb der Dominanzkultur als ›orientalisch‹, ›asiatisch‹, ›muslimisch‹, etc. wahrgenommen werden — und welche kulturalistischen und rassialisierten Vorstellungen mit bestimmten Subjektpositionen verbunden werden. Die fremdbestimmten Bilder und Zuschreibungen erfordern permanente Akte der Disidentifikation von BIPoCs — es sei denn, sie identifizieren

120 María do Mar Castro Varela / Nikita Dhawan, 2009, S. 36.

191 121 Ich referiere hier auf den Begriff »misrecognition« in: José Esteban Muñoz, 1999, S. 93—95. 122 Kurt Bauch identifizierte dies in einem Text von 1959 als den »Keim seines Verfalls«: »Hier lag der Keim seines Verfalls.[…] Dabei erwies sich gerade die Ausbreitung ins Volkstümliche als gefährlich. […] Die funktionelle Linie wurde zur Dekoration, statt der dynamischen Gestaltung kam die weltanschaulich unterlegene Verzierungssucht der Kunstgewerblerinnen in ihren Reformkleidern auf.« Kurt Bauch: »Einleitung«, in: Helmut Selig (Hg.), Jugendstil. Der Weg ins 20. Jahrhundert, Heidelberg, München: Keysersche Verlagsbuchhandlung 1959, S. 9—36, hier S. 33. Die Grenzziehungen selbst werden dabei keineswegs kritisiert, sondern (re-)produziert — aus feministischer Perspektive ist insbesondere die Rede von »Frauen in Reformkleidern« aussagekräftig. Des Weiteren argumentiert Bauch gegen die allgemeine Abwertung des Jugendstils, indem er bestimmte künstlerische Qualitäten nachzeichnet und argumentiert, dass die Kunst und Architektur der Moderne aus dem Jugendstil hervorgegangen seien und seine Fortsetzung darstellten. Der Autor scheint sich hier für seine Auseinandersetzung mit dem Jugendstil (noch) rechtfertigen zu müssen und sieht sich genötigt, den künstlerischen Wert des Jugendstils zu ›beweisen‹. Kunstgeschichte ist entsprechend dieses Verständnisses eine Fortschrittsgeschichte, ein Ansatz, der ebenfalls recht problematisch ist.

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sich mit den hegemonialen Repräsentationen und machen (neo-)koloniale, rassistische oder kulturalistische Bilder zum Selbstbild oder sie »misserkennen«121 sich als nicht gemeint oder betroffen von rassistischen Diskursen. Mit der Perspektive der Disidentifikation lassen sich orientalistische Repräsentationen in einer repräsentationskritischen Lesart daraufhin untersuchen, welche Rolle ihnen innerhalb (post-)kolonialer Machtgefüge zukommt. Repräsentationskritik in Verbindung mit dem Ansatz von Disidentifikation ermöglicht es, die Perspektiven derjenigen zum Ausgangspunkt von Analysen zu machen, die von Rassismus und Heterosexismus im Feld der Visuellen Kultur selbst betroffen sind, und zu fragen, welche Prozesse von Identifikation, Missidentifikation und Disidentifikation erforderlich werden im Angesicht ständiger Fremd- und Fehlrepräsentationen, denen koloniale Herrschaftslogiken eingeschrieben sind. Wenn beispielsweise über diese kolonialistischen und orientalistischen Diskurse die nicht-westliche Welt, wie in diesem Beispiel der ›Orient‹, als rückschrittlich und unmodern konstruiert wurde und diese Konstruktionen bis heute nicht vollständig aufgelöst werden konnten, hat dies Konsequenzen in der Gegenwart. Auch Kunst- und Kulturkontexte sind durchzogen von Kontinuitäten solcher (post-)kolonialer Konstruktionen, die wiederum zu Ausschlüssen von (QTI)BIPoC-Künstler_innen und nicht-westlicher Kunstproduktion beitragen oder ihnen spezifische Plätze zuweisen. Kolonialrassistische Subtexte der Kunstgeschichte Für eine disidentifikatorische Relektüre des Jugendstils aus queerfeministischer und postkolonialer Perspektive sind die Ablösungs-Diskurse besonders aussagekräftig, die sich gegen den Jugendstil wenden und dessen Ende markieren. Darin lässt sich die Etablierung bestimmter Konzepte innerhalb der Kunst nachvollziehen, die zum Teil bis in die heutige Zeit wirken und in der Gegenwart normalisiert sind. Ein Verständnis davon, welche Idealvorstellungen des ›Künstlers‹, von Kunst und von Gestaltung vorherrschen, ermöglicht es, Zusammenhänge zwischen diesen Konstruktionen sowie rassifizierten und vergeschlechtlichten strukturellen Ausschlussmechanismen nachzuvollziehen. In den Diskursen, die sich gegen den Jugendstil richten, finden Grenzziehungen zwischen freier und angewandter Kunst statt — Kunsthandwerk gilt als ›verweiblicht‹. Der Jugendstil und die ornamentalen Verzierungen und Dekorationen erscheinen als unzeitgemäß, unmodern und ebenfalls ›verweiblicht‹, die Nähe zur ›Volkskunst‹ ist peinlich oder gar gefährlich.122 Die Abwertung bis dahin vorherrschender Kunst und Gestaltung sowie ihrer Stilmittel, Motivwahl und etablierter ästhetischer Konventionen

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123 Vgl. Silke Wenk: »Kraft als ›Urquelle der Linie‹ — Eine Notiz zur Abstraktion und Geschlechterdifferenz in Kandinskys Theorie.«, in: Peter K. Klein / Konrad Hoffmann / Regine Prange (Hg.), Zeitenspiegelung. Zur Bedeutung von Traditionen in Kunst und Kunstwissenschaft. Festschrift für Konrad Hoffmann zum 60. Geburtstag am 8. Oktober 1998, Berlin: Reimer 1998, S. 257—266.

funktionierte somit über sexistische und klassistische Rhetoriken, über die gleichzeitig Weiblichkeit, Volkstümlichkeit und das Populäre als minderwertig und negativ besetzt werden. Ähnliche Argumentationen finden sich in den Diskursen, die für die Anerkennung der abstrakten Kunst warben: Künstler_innen wie Wassily Kandinsky betonten den immateriellen Charakter der abstrakten Kunst, um sie näher an das Geistige und an die Philosophie heranzurücken, die Hegel als die höchste Kunstform bezeichnete.123 Weiterhin betonten männliche Künstler der Abstraktion den Aspekt der ›Reinheit‹ der abstrakten Kunst.124 ›Unreinheit‹ wurde als etwas Weibliches konnotiert, weswegen sich von den vermeintlich ›unreinen‹ und / oder ›weiblichen‹ Einflüssen der abstrakten Kunst (darunter Kunsthandwerk, Volkskunst und außereuropäische Kunst) abgegrenzt wurde.125 Im Streit darum, welches die ›höchste‹ Form der Kunst sei, wurden Grenzen gezogen zwischen dem, was Kunst ist und was nicht. Der Kunstbegriff, der dabei hervorgebracht wurde, schließt implizit eine ganze Reihe von Subjekten aus, die als ›Andere‹ konstruiert sind, wie beispielsweise Frauen, Schwarze Menschen, Indigenous People und People of Color. Künstlerische Autor_innenschaft und erst recht die Produktion der ›höchsten‹ Form der Kunst, ist für sie gar nicht oder nur unter besonderen Bedingungen »within reach«126, denn ihnen ist es nicht möglich, sich ihrer ›Unreinheit‹ zu entledigen. Der berühmt-berüchtigte Vortrag »Ornament und Verbrechen«127 des Wiener Architekten Adolf Loos, mit dem er sich gegen die Wiener Secessionisten richtete, ist eines der bekanntesten Beispiele für die Vehemenz der Debatten, die für den Übergang zwischen Jugendstil und Moderne und zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert konstitutiv sind.128 Seine Argumentation ist zutiefst kolonial-rassistisch und sozialdarwinistisch: Loos ›vergleicht‹ das Ornament mit Tätowierungen, die Kriminelle oder Einwohner_innen von Papua auf ihrer Haut trügen, die für ihn Kriminalität, Sittenverfall, Primitivität und Rückschrittlichkeit verkörpern. Darüber hinaus seien Verzierungen aufgrund ihres Arbeitsaufwands eine Verschwendung von Arbeitskraft und Ressourcen und würden dadurch auch der Wirtschaft schaden. Hier werden bereits etablierte koloniale Konstruktionen von ›Rasse‹ und der entsprechenden Einordnung dieser ›Rassen‹ in ein hierarchisches Modell sowie koloniale Konstruktionen von Fortschrittlichkeit / Primitivität benutzt, um — analog dazu — künstlerische Praxen und Stilmittel zu hierarchisieren. Wieder kommt es dabei auch zu einer (Re-)Produktion von Othering und Abwertung rassifizierter Menschen (Papuaner_innen) und auch von sozial benachteiligten weißen Menschen (Tätowierte, Kriminelle). In ihrem Artikel »White Cube und Black Box — Kunst und Kino«129 verweist die Filmtheoretikerin und Filme-

124 Vgl. Mark A. Cheetham: The Rhetoric of Purity. Essentialist Theory and the Advent of Abstract Painting, Cambridge: Cambridge University Press 2009. 125 Vgl. Sigrid Schade: »Zu den ›unreinen‹ Quellen der Moderne. Materialität und Medialität bei Kandinsky und Malewitsch«, in: Jennifer John / Sigrid Schade (Hg.), Grenzgänge zwischen den Künsten. Interventionen in Gattungshierarchien und Geschlechterkonstruktionen, Bielefeld: transcript 2008, S. 35—62. 126 Sara Ahmed, 2006, S. 107. 127 Der Vortrag wurde zuerst 1908 in München gehalten, aber erst 1929 in deutscher Sprache veröffentlicht. In der Zwischenzeit ist er bereits auf diversen anderen Sprachen erschienen. Vgl. Adolf Loos: Ornament und Verbrechen. Ausgewählte Schriften — die Originaltexte, Wien: Prachner 2000. 128 Genau wie Kurt Bauch scheint sich auch Helmut Selig 1959 noch rechtfertigen zu müssen, überhaupt kunsthistorisch zum Jugendstil zu arbeiten, wenn er schreibt: »Es ist immer noch ein Wagnis, über den Jugendstil zu schreiben. So dicht vor Augen sind noch seine Auswüchse und Entartungen, so tief eingewurzelt ist der Haß, der ihm von seinen Nachfolgern entgegengebracht wurde, die doch aus ihm hervorgegangen waren und seine Fortsetzer sind.« Helmut Selig: »Vorwort«, in: Helmut Selig (Hg.), Jugendstil. Der Weg ins 20. Jahrhundert, Heidelberg, München: Keysersche Verlagsbuchhandlung 1959, S. 5—7, hier S. 5. Offensichtlich ist ihm der »Hass« »so dicht vor Augen«, dass er die entsprechenden Diskurse und Personen zu seiner Zeit voraussetzen konnte und nicht explizit benennen musste. Zudem verwendet er den nationalsozialistisch konnotierten Begriff der ›Entartung‹ unkritisch. 129 Hito Steyerl, 2008, S. 101—111. Der Begriff der Black Box in Steyerls Titel ist missverständlich, da er auch in der Kybernetik verwendet wird und dort eine sehr spezifische Bedeutung hat. Dieser Begriff ist jedoch nicht gemeint, sondern bei Steyerl ist die Black Box ausgehend vom Kino gedacht und bezeichnet eine Raumkonstellation, die als antagonistisch zum White Cube konstruiert ist. Die Black Box

193 ist hier — wörtlich — ein schwarzer Würfel, ein dunkler Raum, dessen räumliche Beschaffenheit eine möglichst ideale kinematografische Projektion ermöglichen soll. Darin werden Subjekte auf eine spezifische Art und Weise konstituiert und angerufen (durch die Ausrichtung des Blicks auf die Leinwand, durch das Sitzen in Sesselreihen, usw.). Eine Bezeichnung des Kinoraums als Black Box ist in kunstwissenschaftlichen Texten, die sich mit kuratorischen Fragestellungen befassen, üblich. Sie verhandeln die Frage, wie welche Kunst am besten zu präsentieren sei, denn der White Cube ist immer noch die am weitesten verbreitete Präsentationsform für visuelle Kunst. Gerade in dem Moment, in dem Künstler_innen anfangen in den (Massen-) Medien Video / Film zu arbeiten, und diese dadurch zunehmend auch in Ausstellungsräumen der Kunst gezeigt werden, entsteht aus kuratorischer Sicht ein Dilemma hinsichtlich der idealen Präsentations- und Rezeptionsbedingungen von Kunst. So brauchen Film- und Videokunst beispielsweise andere Begebenheiten in Bezug auf Licht als Malerei oder Objektkunst. Siehe beispielsweise: Ralf Beil (Hg.): Black Box. Der Schwarzraum in der Kunst, Ostfildern: Hatje Cantz 2001. 130 Hito Steyerl bezieht sich hier auf den 1925 erschienen Text: Le Corbusier: L’Art décoratif d’aujourd’hui: collection de »l’Esprit Nouveau«, Paris: Cres 1925. 131 Hito Steyerl, 2008, S. 102. 132 Ebd. 133 Ebd. 134 Siehe hierzu auch das Kapitel Strukturelle Ein- und Ausschlüsse und materielle Effekte von Rassismus und Heterosexismus in Institutionen des Kunstbetriebs, oder: Why have there been no great QTIBIPoC artists? 135 Siehe hierzu auch die Debatten um Global Art und die Frage, ob sich der Eurozentrismus der Kunstgeschichte überwinden lässt, in dem immer mehr internationale Künstler_innen und Kunstgeschichte(n) mitberücksichtigt werden oder ob es nicht grundlegendere Veränderungen u.a. in der Disziplin Kunstgeschichte bräuchte. Vgl. u.a. James Elkins (Hg.), 2007.

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macherin Hito Steyerl auf die Argumentationen von Loos und Le Corbusier130 um nach kolonialrassistischen Semantisierungen der vorherrschenden Farbgebung von Kunstraum und Kinoraum zu fragen. Steyerl kann überzeugend darstellen, dass der Kunstdiskurs von kolonial-rassistischen Diskursen durchzogen war und ist und nicht losgelöst von politischen und gesellschaftlichen Debatten und Phänomenen. Sie argumentiert, dass sowohl bei Loos als auch bei Le Corbusier »die Weißheit der Wände […] zum Merkmal der Zivilisation an sich«131 werde und diese Zivilisation »als Überwindung des kulturell oder sozial Anderen definiert«132 sei. Sie fasst ironisierend zusammen: »Die tätowierte Haut des Papuaners und des Kriminellen werden der weißen nackten Haut des modernen Gebäudes gegenübergestellt. Während die Ersteren Verworfenheit, Barbarei und Rückständigkeit bezeugen, erstrahlt die weiße Haut der modernen Architektur im Lichte von Fortschritt und Zivilisation.«133 Das Weiß des White Cubes ist entsprechend ihrer Analyse weder neutral noch zufällig. Vielmehr ist die Farbe Weiß in einer ähnlichen Weise mit Bedeutungen belegt, über die entsprechend kolonialer Rassenideologie die angebliche Überlegenheit weißer Menschen konstruiert wird. Die Entwicklung des White Cubes könnte historisch in ihrem Artikel noch genauer nachgezeichnet werden. Allerdings wird deutlich, dass rassistische Ideologie in einen kunsthistorischen Diskurs eingeschrieben ist und diesen prägt, selbst wenn es um Fragen geht, die nicht auf den ersten Blick etwas mit ›Rasse(n)‹ zu tun haben, sondern mit Gestaltung, Medien und Ästhetik. Wenn der White Cube so durchzogen ist von kolonialistischen Diskursen, was macht das mit der Kunst, die darin ausgestellt wird, insbesondere mit außereuropäischer Kunst und Kunst von BIPoCs? Zugleich stellt der White Cube einen Raum dar, in dem außereuropäische Kunst und Kunst von BIPoCs lange Zeit überhaupt nicht vorkommen konnte134 und zu dem der Zugang für als different konstruierte Künstler_innen immer noch stark erschwert ist.135 Ist es diese Verzahnung von Kunstdiskurs und kolonialrassistischem Diskurs, auf die in der Arbeit Hasan Aksaygıns über die Referenzen auf den Jugendstil angespielt wird oder auf die Konstitution des White Cubes und das normative Weißsein in der Kunst? Der White Cube und der Darkroom werden in der Arbeit JHAD als mögliche Erscheinungsorte der Figur Jhad benannt, an denen er deutschen Schwulen seine sexuellen Superkräfte bereitstellt. Dadurch werden Parallelen zwischen den Orten suggeriert, die zunächst sehr absurd oder lustig

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136 Göksu Kunak schreibt: »Reminiscent of women in the history of art, arranged as the object of desire without a gaze, Jhad has no eyes at all. His eyeballs are turned, we only see the whites of them: did he ever have pupils, or color in his eyes at all? Since he doesn’t have eyes, you would never know if he even considers your existence or not.« In: Art & Feminism // Hasan Aksaygın: A Superhero Jhad at GSL Projekt. Berlin Art Link 2015, http://www.berlinartlink.com/2015/ 06/10/artfeminism-hasan-aksaygina-queer-jhad-at-gsl-projekt/, vom 12.8.2020.

erscheinen. Der White Cube ist historisch der Ort, der die darin zu sehen gegebenen Bilder und Objekte derart auratisiert, dass sie als Kunst vom Profanen abgegrenzt werden, indem beispielsweise Darstellungen nackter Körper betrachtet werden können, ohne dass diesem etwas Obszönes anhaftet, ohne dass die Bilder und Objekte selbst als Pornografie erachtet werden. In der Arbeit JHAD dagegen ist der White Cube ein Ort von Schaulust und Fetischisierung, wo Jhads sexuelle Superkräfte genauso gefragt sind wie in den Darkrooms von Schwulen-Clubs. Der White Cube, der durch Le Corbusier und andere diskursiv mit Reinheit und Intellekt verbunden wurde, wird hier re-sexualisiert und gequeert. Die Arbeit JHAD spielt mit der Hypokrisie von Ideologien, Räumen und Kontexten und spielt diese gegeneinander aus. Die Grenzen zwischen high und low, zwischen Kunst und Pornografie und die Binarität von White Cube und Darkroom werden parodierend infrage gestellt. Sowohl die Orte der Kunst (Galerien, Museen, White Cubes) als auch die Orte schwuler Subkultur (Club, Darkroom, schwule Social Media Plattformen wie Grindr) sind gekennzeichnet durch spezifische Medialitäten, die wiederum den Körper Hasan Aksaygıns auf spezifische und in sich widersprüchliche Weise konstruieren und stereotypisieren. In der Arbeit JHAD wird der Körper von Jhad / Hasan Aksaygın repräsentiert als einer, der sich genau an der Schnittstelle zwischen White Cube und Darkroom befindet und deren Gegensätzlichkeit unterläuft und radikal in Frage stellt.

137 Feministische Kunstwissenschaftler_innen haben viel dazu beigetragen, vorherrschende Normen in der Kunst und Kunstwissenschaft über Geschlecht als Analysekategorie kritisch zu befragen, Ausschlussmechanismen von Frauen aus der Kunst aufzuzeigen und scheinbar neutrale Konzepte wie Genialität, Originalität oder die Konstruktion der Subjektposition des Künstlers zu dekonstruieren. Prominent hierzu beispielsweise Linda Nochlin, 1996, auf deren weit verbreiteten Text ich weiter vorn ausführlich eingegangen bin. Speziell zur Frage nach »Mythen von Weiblichkeit und Autorschaft« vgl. Kathrin HoffmannCurtius / Silke Wenk (Hg.), 1997. (Siehe auch das Kapitel: Strukturelle Ein- und Ausschlüsse und materielle Effekte von Rassismus und Heterosexismus in Institutionen des Kunstbetriebs, oder: Why have there been no great QTIBIPoC artists?) 138 Vgl. Nicholas Mirzoeff: Bodyscape. Art, modernity, and the ideal figure, London, New York: Routledge 1995, S. 29. (Siehe hierfür ebenfalls das Kapitel: Strukturelle Ein- und Ausschlüsse und materielle Effekte von Rassismus und Heterosexismus in Institutionen des Kunstbetriebs, oder: Why have there been no great QTIBIPoC artists?)

DISIDENTIFIKATION MIT KONSTRUKTIONEN DES KÜNSTLERSUBJEKTS Die Kunstkritikerin Göksu Kunak liest den Umstand, dass Jhad selbst nicht sehen kann, in ihrer Besprechung der Arbeit als Referenz auf die objektifizierende Repräsentation von Frauenkörpern in der Kunstgeschichte136 und stellt damit einen Bezug zu feministischen kunstwissenschaftlichen Kritiken137 her, in diesem Falle im Zusammenhang mit der Repräsentation von Frauen und Weiblichkeit in der Kunst. Im 19. Jahrhundert, das in der Arbeit JHAD zum historischen Bezugspunkt wird, wird die vermeintlich neutrale körperliche Kondition der Blindheit gegendert, wie Nicholas Mirzoeff herausarbeitet, »so as to contrast masculine insight with female blindness.«138 Was heißt es im Kontext der Arbeit JHAD, dass die männliche, nicht-weiße, homosexuelle Figur Jhad von Hasan Aksaygin in einer Art und Weise gemalt wird, die üblicherweise die Funktion erfüllt, Frauen zu objektifizieren? Welche Parallelen gibt es hier in der Repräsentation unterschiedlicher Subjektpositionen? Wie ermöglicht eine Disidentifikation mit der Repräsentation von

195 139 Für eine wissenschaftliche Aufarbeitung zum integrierten Selbstporträt, hier am Beispiel von Hans Baldung Grier, vgl. Sabine Söll-Tauchert: Hans Baldung Grien (1484 / 85—1545). Selbstbildnis und Selbstinszenierung, Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2010. 140 Vgl. Maike Christadler, 2006. 141 Vgl. ebd. 142 Ebd. S. 260. 143 Anja Zimmermann: »Künstler / Künstlerin«, in: Ulrich Pfisterer (Hg.), Metzler Lexikon Kunstwissenschaft: Ideen, Methoden, Begriffe, Stuttgart: Metzler 2003, S. 188—192, hier S. 189.

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Frauen in der Kunst eine kritische Dekonstruktion von stereotypen Projektionen auf muslimisch gelesene männliche Körper? In der Arbeit JHAD werden verschiedene mehrdeutige Referenzen gemacht, die die Figur Jhad in einer satirischen Art und Weise als ›Heiligen‹ konstruieren, indem die Figur des Propheten, des ›Jihadisten‹ und die des ›Heiligen Kriegers‹ verbunden wird mit christlichen Figuren, popkulturellen Superhelden sowie mit der Figur des ›Künstlers‹, die alle gleichzeitig aufgerufen und dadurch ineinander gefaltet und als ›ähnlich‹ konstruiert werden. Die parodistischen Referenzen auf das ›Heilige‹ oder ›Gottgleiche‹ können gelesen werden als queerer Blick auf Homoerotik in christlicher Kunst — und verweisen damit auf eine sexuelle Dimension und die Rolle des Begehrens in der Rezeption von Kunst. Der Umstand, dass es Hasan Aksaygıns eigener Körper ist, der hier als heilige Figur zu sehen ist, könnte darüber hinaus als Verweis auf den Umstand gelesen werden, dass sich in Bildern und Skulpturen von Heiligenfiguren in und an Kirchengebäuden häufig heimliche Selbstporträts der Künstler und Bildhauer finden.139 Dadurch werden Fragen nach der Konstruktion künstlerischer Autor_innenschaft angerissen. In Verbindung mit der Lesart der Arbeit von Göksu Kunak liegt es nahe, die Referenzen auf das ›Heilige‹ als Anspielungen auf feministische Kritiken an Konstruktionen des männlichen Künstlers als ›gottgleichem Schöpfer‹ und alter Deus im kunsthistorischen Diskurs zu lesen.140 Maike Christadler untersucht Episteme in der Kunstgeschichte, die sich negativ auf weibliche Autorinnenschaft in der Kunst auswirken, beispielsweise indem die Konstruktion des ›Künstlers‹ immer eine männliche ist und mit verschiedenen Eigenschaften und Charakteristika belegt wird, die Frauen abgesprochen werden beziehungsweise nicht mit hegemonialen Konstruktionen von Weiblichkeit kompatibel sind.141 Speziell zur Konstruktion des Künstlers als gottgleich schreibt sie, dass beispielsweise Michelangelo bei Vasari, der aufgrund seiner im 16. Jahrhundert verfassten Schriften über Künstler_innenBiografien als einer der ersten Kunsthistoriker gilt, als divino (göttlich) bezeichnet wurde. Sie verfolgt diese Konstruktion weiter zurück und erklärt, dass bereits Giovanni Battista Alberti die mittelalterliche Konzeption des Deus artifex benutzt habe, um den Künstler als alter Deus zu beschreiben und den künstlerischen Schaffensprozess als Schöpfungsakt zu charakterisieren.142 Auch Anja Zimmermann, die in ihrer Definition der Begriffe Künstler / Künstlerin für das Metzler Lexikon Kunstgeschichte einen historischen Überblick über die Veränderungen und Entwicklungen des Künstlerbegriffs liefert, schreibt von einer »›Vergöttlichung‹ des K[ünstler]-Genies [als] maßgebend für den Konnex von Genie- und K[ünstler]-Begriff ab dem 18. Jh.«.143 Sie unterstreicht ebenfalls die vergeschlechtlichten

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144 Ebd.

Konnotationen des Künstlerbegriffs: Weiblichen Künstlerinnen werde bei Vasari in seinen Viten zwar ein eigener Platz zugebilligt, jedoch ist weibliche Künstlerinnenschaft in seinem Schema nur denkbar als »›Sonderform‹ gegenüber einem männlich gedachten K[ünstler]-Ideal.«144 In der Moderne sei, so Zimmermann, der Künstlerbegriff zunehmend geprägt durch ein verändertes Verständnis von Individualität und Subjektivität, die Subjektivität des Künstlers werde dabei zur ausschließlichen Bedingung für Kunstproduktion erhoben. Auch in der Moderne sei die Feier kreativer Subjektivität »mit einem systematischen Ausschluss weiblicher Kreativität verbunden.«145 Zimmermann schreibt weiter:

145 Ebd. S. 191. 146 Ebd. 147 Vgl. u.a. Rasheed Araeen, 2005. 148 Vgl. u.a. Sandrine Micossé-Aikins, 2011 und Sandrine Micossé-Aikins, 2012. 149 Rasheed Araeen, 2005, S. 57.

»[…] die Konzeption des modernen K[ünstlers] beruhte auf einer hierarchisierten Zuordnung geschlechtsspezifischer Eigenschaften und Merkmale an Kreativität und Genialität. Während der männliche K[ünstler] zunehmend über eine ›aus sich selbst‹ schöpfende Kreativität bestimmt wird, festigt sich die bis zur Renaissance zurückreichende Konzeption einer ›anderen‹ weiblichen Kreativität.«146 Durch die feministischen Analysen des Künstlerbegriffs innerhalb kunsthistorischer Diskurse wird deutlich, dass Künstlerinnen darin als ›Andere‹ konstruiert werden und systematisch über die ihnen zugesprochenen weiblichen Eigenschaften aus der Kunstgeschichte ausgeschlossen werden. Aus einer postkolonialen Perspektive lässt sich feststellen, dass BIPoC-Künstler_innen ebenfalls als ›Andere‹ konstruiert werden,147 die innerhalb der eurozentristischen Kunstgeschichte, in der die Kunst ganzer Kontinente lange Zeit überhaupt nicht oder nur in abwertender Weise berücksichtigt wurde, bis heute meistens nur einen Platz als Sonderform zugebilligt bekommen (zum Beispiel in Ausstellungen, die einen spezifischen geografischen oder nationalen Kontext repräsentieren oder in denen Differenz selbst das Thema der Ausstellung ist).148 Rasheed Araeen, Künstler und Theoretiker, der einen wichtigen Beitrag zur Kritik am Eurozentrismus der Kunstgeschichte geleistet hat, stellt klar: »So, the issue is not really about ignorance of the other artists or their lack of success in the market place, but their exclusion from contexts and grand narratives of art history.«149 Dass Hasan Aksaygın in dem Gemälde JHAD gleichzeitig als Künstler, als eine Art Heiliger und als queeres, feminisiertes und rassifiziertes Objekt des Bildes erscheint, lässt sich als satirische Anspielung auf die Vergöttlichung des Künstler-Genies lesen. In einem Akt der Disidentifikation kann Hasan Aksaygın im Medium des Gemäldes zu einer Art

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150 Kea Wienand, 2015, S. 10—11. Kea Wienand verweist hier auf: Irit Rogoff: »Er selbst — Konfigurationen von Männlichkeit und Autorität in der deutschen Moderne«, in: Ines Lindner / Sigrid Schade / Silke Wenk / Gabriele Werner (Hg.), Blick-Wechsel. Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit in Kunst und Kunstgeschichte, Berlin: Reimer 1989, S. 21—40.

Gott werden — und damit eine Rolle einnehmen, die einerseits (weißen, männlichen) Künstlern zugesprochen wird und die ihm selbst aufgrund seiner Positionierung nicht offensteht. Weiße Künstler_innen können sich dagegen durch positive Bezugnahmen auf das Andere subjektivieren als Teile einer Avantgarde, als außerhalb des (Spieß-)Bürgertums und einer um 1900 empfundenen zunehmenden Last der ›Zivilisation‹. So schreibt Kea Wienand:

151 Vgl. Stuart Hall, 1997; Kymberly N. Pinder, 2002; Sander Gilman: »The Hottentot and the Prostitute. Toward an Iconography of Female Sexuality«, in: Kymberly N. Pinder (Hg.), Race-ing Art History. Critical Readings in Race and Art History, London, New York: Routledge 2002, S. 119—138.

»Um 1900 — mitten in der Hochzeit des Kolonialismus — etablierte sich die Vorstellung, als Künstler mit ›primitiven‹ Anderen irgendwie verbunden zu sein, und offensiver als vorher wurden diese Anderen und ihre Kulturen als ›primitive‹, aber zu begehrende Gegenwelten dargestellt (eine Projektion, die später als ›Primitivismus‹ bezeichnet wurde). Irit Rogoff hat dargelegt, dass die Vorstellung vom Künstler als Außenseiter und als marginalisierte Person zentral für den Künstlermythos gerade auch der deutschen Moderne war.«150 Das heißt, weiße Künstler(_innen) konnten bereits damals aus Praxen, die sich aus heutiger Perspektive als kulturelle Aneignung bezeichnen lassen, ein gewisses kulturelles Kapital generieren. Was bedeuten solche Mythisierungen des (weißen) Künstlers als Anderem und Marginalisiertem für Künstler_innen of Color, Indigenous Künstler_innen und Schwarze Künstler_innen, die sich eine solche Position des Anderen nicht erst aneignen müssen, sondern beständig in diese festgeschrieben werden? BIPoC-Künstler_innen wird der Status des ›Anderen‹ eher zum Verhängnis als zur Quelle von (kulturellem) Kapital bzw. wenn, dann nur um den sehr hohen Preis von Selbstexotisierung und dem Bedienen von Stereotypen. Kea Wienand erklärt in ihrer Studie zu Auseinandersetzungen mit kultureller Differenz in den Arbeiten von weißen Künstler_innen in der BRD zwischen 1960 und 1990, dass sich auch zu diesem späteren historischen Zeitpunkt unter den von ihr untersuchten Künstler_innen eine Tendenz ausmachen lasse, sich in eine gewisse Nähe zu rassisierten Anderen zu rücken — beispielsweise in Form von Selbstporträts als nordamerikanische Indigenous / First Nation People. (QTI)BIPoC-Künstler_innen müssen sich disidentifizieren mit dem Status ›Andere‹, als Objekt oder Bild sowie mit den hegemonialen Repräsentationen nicht-weißer Menschen. Dies gilt umso mehr, da BIPoC in der Kunst, ähnlich wie beispielsweise Frauen, zwar als Motiv oder Gegenstand der Kunst vorkommen — oft in einer Weise, die sie / uns entweder exotistisch fetischisiert oder rassistisch als minderwertig, hässlich oder abjekt konstruiert151 — jedoch kaum als Autor_innen oder als Subjekte mit einer eigenen Perspektive und einer eigenen

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152 Vgl. Hasan Aksaygın: The Power of Myth and Sexual Desire: The Representations of »Artist of Color« in Contemporary Art. Thesis im Rahmen des Kunst-Diploms, Berlin 2015.

Wahrheit, die von der hegemonialen weißen Narration unterschiedlich sein kann. In eine Kunstgeschichte, die das Schaffen weißer männlicher Künstler zentriert und die ihren zentralen Bezugspunkt im Ideal der griechischen Antike sucht, können sich (QTI)BIPoC-Künstler_innen nicht einfach einreihen oder nachträglich hinzugefügt werden. Ebenso wenig ist es selbstverständlich für (QTI)BIPoC-Künstler_innen in der Subjektposition der_des Künstler_in ernst genommen zu werden. Ist ›der Künstler‹ oder besser, der universelle Künstler (oder, wie Hasan Aksaygın es nennt: der »absolute Künstler«152) gedacht als männlich, weiß, europäisch, dann ist die Subjektposition des Künstlers eine, die für BIPoC, Frauen, Queers, Trans*, Arbeiter_innen und behinderte Menschen nur schwer eingenommen werden kann. Es erfordert Akte der Disidentifikation mit der vergeschlechtlichten und rassifizierten Normen in Bezug auf Konstruktionen des Künstlersubjekts, um sich selbst als Künstler_in bezeichnen zu können. All dies erfordert hohe reflexive Leistungen von (QTI)BIPoC-Künstler_innen. Disidentifikation ermöglicht nicht nur das Einnehmen von Subjektpositionen, die aufgrund der eigenen Sexualität oder ›Rasse‹ nur schwer ›bewohnbar‹ sind, sondern ist auch ein Modus der Kritik, aus dem ein Wissen über die Art und Weise hervorgebracht wird, wie beispielsweise Rassismus und Heteronormativität in den Diskursen und Institutionen der Kunst wirken. Dieses Wissen und diese Expertise sind wiederum interessant und unabdingbar für die Veränderung der Strukturen, aber auch für das Überleben und das Empowerment von QTIBIPoCs innerhalb dieser Räume. In der Arbeit JHAD wird die Disidentifikation möglich durch ein kunstwissenschaftliches Wissen um die Beschaffenheit von Konstruktionen künstlerischer Subjektivität und Künstlermythen. Dieses Wissen kann durch die Disidentifikation des Künstlers Hasan Aksaygıns mit der Konstruktion des ›Künstlers‹ zum Ausdruck gebracht werden. Das vergöttlichte SuperheldenAlter-Ego Jhad erfüllt jedoch in keiner Weise ein idealtypisches Bild eines Künstler-Subjekts. Wie bereits von Göksu Kunak beschrieben, ist er visuell in einer Weise, die an den Status von Frauen als angeschaute, als Objekt des Bildes und als Objekte männlicher Schaulust erinnern lässt. Dieser Objektstatus wird über die Narration, die Jhad als Objekt sexuellen Begehrens, männlicher Schaulust und als abhängig von diesem Begehren konstruiert, zusätzlich verstärkt. Die disidentifikatorischen Referenzen auf Konzepte und Normen innerhalb der Kunstgeschichte wie beispielsweise die auf die normative Konstruktion des Künstlersubjekts, führen jeweils für sich zu interessanten Frage- und Problemstellungen. Hasan Aksaygıns Arbeit JHAD lässt sich mit Muñoz als disidentifikatorische Praxis des Recyclens und Neudenkens von kodierten Bedeutungen diverser

199 153 José Esteban Muñoz, 1999, S. 31. 154 Der Begriff ist, wie bereits erwähnt, in beiden Büchern von Muñoz zentral. Ich verwende ihn im Folgenden immer mit Bezug auf Muñoz. Vgl. José Esteban Muñoz, 1999 und José Esteban Muñoz, 2009. 155 Ich referiere hier erneut auf Sara Ahmed und ihre Frage danach, wie manche Körper in bestimmten Räumen ankommen. Sara Ahmed, 2006, S. 62.

Künstlerische Strategien der Disidentifikation, des Überlebens und des Un-Archiving

kultureller Texte153 — von Die Brunnen der Wüste über den Jugendstil zu Repräsentationen islamistischer ›Terroristen‹ — verstehen. Dominanzkultur wird dabei zum Rohmaterial für alternative Geschichten und Narrative und für ein Queer Worldmaking.154 Durch die Verbindung des kunsthistorischen und künstlerischen Wissens des Künstlers, das in die Arbeit JHAD einfließt und Reflexionen der eigenen Positionierung im deutschen Kontext als queer und Person of Color, wird mit Nachdruck die Frage aufgeworfen, wie Kunstgeschichte von kolonialrassistischen Diskursen, Eurozentrismus und Prozessen des Othering durchzogen und geprägt ist und wie sich dies auf QTIBIPoC-Künstler_innen in der Gegenwart auswirkt. Das künstlerische und kunsthistorische Wissen in Verbindung mit einer Disidentifikation mit den üblichen Darstellungen von BIPoC in Kunst und (visueller) Kultur, sowie mit den Rollen, die BIPoC im Kontext von Kunst üblicherweise zugewiesen werden, produziert eine Orientierung, durch die Objekte erreichbar werden und »ankommen«155 können, die innovativ sind für Studien zur visuellen Kultur, Kunst- und Medienwissenschaften im deutschen Kontext. Kunstgeschichte lässt sich mit einer disidentifikatorischen Perspektive und ausgehend von QTIBIPoCPositionierungen aus erweitern und anders denken. Es ist notwendig, innerhalb der Kunstwissenschaft eine Reorientierung vorzunehmen, und wissenschaftlichen sowie künstlerischen Beiträgen von QTIBIPoCs als Orientation Devices zu folgen, um andere Perspektiven einzunehmen und auf epistemische Gerechtigkeit sowie institutionelle und strukturelle Veränderungen vergeschlechtlichter und rassifizierter Machtverhältnisse in der Akademia hinzuwirken. Nach wie vor wird auch in kritischen Teilen der Kunstwissenschaft häufig aus einer weißen Perspektive auf das ›Andere‹ geschaut oder über das ›Andere‹ geforscht und diese bleibt — zum Teil trotz guter Intentionen — in einem Sprechen-über verhaftet, bei dem die ›Anderen‹ nur als (Forschungs-)Objekte vorkommen. Während es tatsächlich wünschenswert ist, dass sich Kunstgeschichte, Kunst- und Medienwissenschaft und Studien zur visuellen Kultur — wie bereits vielfach geschehen — stärker mit postkolonialen Ansätzen befassen, ist es dennoch notwendig, die Parameter der Forschung selbstkritisch daraufhin zu befragen, ob und wie (post-)koloniale Muster darin reproduziert werden, ob die eigene Arbeit zu strukturellen Veränderungen und zur Überwindung rassifizierter und vergeschlechtlichter Ausschlussmechanismen beizutragen vermag. Der Ansatz der Disidentifikation nach Muñoz kann hier eine Linse sein, mit der sich komplexe, intersektionale Verhandlungen von ineinander verschränkten Machtverhältnissen und ihre Manifestationen und Umarbeitungen im Feld des Visuellen durch QTIBIPoC-Künstler_innen stärker in den Blick nehmen lassen.

MY LETTER TO JHAD I wish I could meet Jhad sometime, maybe I don’t go to enough of the spaces lately, where Jhad might materialize — the dark rooms and white cubes of Berlin. Instead, I’m spending most of my time in the library of the university in Bremen, my gaze is drifting back and forth between the screen of my laptop and the rooftop terrace with its concrete 70ies architecture that is ugly and soothing at the same time. ere is no ornament here. Maybe Jhad could fly here, because in my imagination, superheroes can fly. What would our relationship be like? Jhad does not really exist for me. Jhad is determined to be an object of desire to bring pleasure to white German gays. What about Turkish-German lesbians? Maybe we could be friends. But to be honest, Jhad, while I think you do amazing postmodern work deconstructing how (anti-Muslim) racism is connected to desire and fear at the same time and exposing a certain kind of orientalist fetishism, as your friend I would be concerned for your psychological wellbeing. How much of this objectification can you digest? Don’t you have the need to escape the status of object of desire at some point and just be able to be yourself? I mean, I get that this is your superpower and all, but I still hope you have a safe-word. One last question: Where are you when you are not in Hasan’s body and which form do you take? Edit: When I wrote the letter, I forgot that Jhad only speaks German. I made this mistake because I mistook Jhad for Hasan and Hasan and I speak mostly English… Also: Jhads reaction to my letter was quite rude. Hasan was more understanding though.

202 1

José Esteban Muñoz, 2009, siehe insbesondere S. 91. Im Folgenden verwende ich diesen Begriff immer mit Bezug auf Muñoz.

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

(2) Überlebensstrategien und »Queer Futurity« 1 in Sunanda Mesquitas Gemälde Silenced by Academia (2015) »WE WERE NEVER MEANT TO SURVIVE« — ÜBERLEBEN BEI AUDRE LORDE Audre Lorde: A Litany for Survival (1978) For those of us who live at the shoreline standing upon the constant edges of decision crucial and alone for those of us who cannot indulge the passing dreams of choice who love in doorways coming and going in the hours between dawns looking inward and outward at once before and after seeking a now that can breed futures like bread in our children’s mouths so their dreams will not reflect the death of ours; For those of us who were imprinted with fear like a faint line in the center of our foreheads learning to be afraid with our mother’s milk for by this weapon this illusion of some safety to be found the heavy-footed hoped to silence us For all of us this instant and this triumph We were never meant to survive.

203 2

Audre Lorde: The Black Unicorn. Poems, New York: Norton 1978, o. Sz.

3

Ebd.

Künstlerische Strategien der Disidentifikation, des Überlebens und des Un-Archiving

And when the sun rises we are afraid it might not remain when the sun sets we are afraid it might not rise in the morning when our stomachs are full we are afraid of indigestion when our stomachs are empty we are afraid we may never eat again when we are loved we are afraid love will vanish when we are alone we are afraid love will never return and when we speak we are afraid our words will not be heard nor welcomed but when we are silent we are still afraid So it is better to speak remembering we were never meant to survive.2 In ihrem Gedicht A Litany for Survival formuliert Audre Lorde die bekannte Zeile »we were never meant to survive«.3 Mit diesen Worten, denen immer noch eine große Kraft innewohnt, hat Audre Lorde Generationen von BIPoCs und insbesondere Women of Color beigebracht, dass ihr / unser Überleben nicht selbstverständlich ist, und dass Überleben etwas Widerständiges ist im Angesicht alltäglicher Erfahrungen mit Rassismus, (Hetero-)Sexismus, Transfeindlichkeit, Ableism, Klassismus und anderen Diskriminierungsformen, die strukturell wirken und negative Folgen für die psychische und physische Gesundheit von minorisierten Subjekten haben. Das Wort Überleben wird üblicherweise verbunden mit dem Überstehen einer akuten, lebensgefährlichen Situation, einer (Natur-)Katastrophe oder einer schweren Krankheit. Die Gefahr, die eine Bedrohung darstellt in der (Weiter-)Leben nicht (mehr) sicher ist, wird meist eher als direkt auf den menschlichen Körper wirkend gedacht. Die Zeitspanne zwischen Auftreten der Bedrohung und der Entwarnung beziehungsweise dem Zeitpunkt, ab dem die direkte Gefahr für das Leben überstanden ist, wird als begrenzt und klar umrissen verstanden, sie hat in der Regel einen Anfang und ein Ende, zeitlich ist Überleben dementsprechend temporär und begrenzt. Zugleich ist der Begriff Survivor / Überlebende_r in feministischen Diskursen geprägt worden als Alternative zum Begriff des Opfers in Bezug auf Betroffenheit von sexualisierter Gewalt. Im deutschen Kontext ist der Begriff darüber hinaus sehr stark verbunden

204

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

4

Ebd.

5

Der Begriff der Nekropolitik wurde geprägt von Achille Mbembe.

mit nationalsozialistischer Vernichtungspolitik und nationalsozialistischen Genoziden. In diesem Sinn mag es als Verharmlosung anmuten, den Begriff des Überlebens in metaphorischer Hinsicht zu nutzen und auszuweiten. Die Worte »we were never meant to survive«4 sind sowohl niederschmetternd als auch ermächtigend. Sie erinnern an systemische Gewalt und Vernichtung im Zusammenhang mit Kolonialismus, Maafa und Versklavung sowie in anderen Kontexten wie dem deutschen Kontext an Shoah, Porajmos und an Gewalt durch das NS-Regime. Sie entlarven rassistische Logiken in der Bemessung des Wertes von Menschenleben in der Geschichte und in der Gegenwart. Audre Lorde prägt in ihrem Gedicht ein ähnliches Argument wie gegenwärtige theoretische Diskurse zu Nekropolitiken.5 Sie ermöglichen ein Verständnis davon, wie menschliches Leben als unterschiedlich wertvoll, schützenswert und betrauerbar6 konstruiert wird entlang sich überschneidender Differenzkategorien wie ›Rasse‹, Klasse, Gender, Sexualität, Behinderung, Alter. Beispielsweise beschreibt Ruth Wilson Gilmore mit dem Begriff des »pre-mature death« (vorzeitigem Tod),7 dass bestimmte Gruppen von Menschen strukturell verletzlicher sind, früher zu sterben aufgrund von Gewalt, schädlicher Umwelt, Vernachlässigung, Masseninhaftierung, Drogen, schlechtem Zugang zu medizinischer Versorgung, gesundem Essen und anderen Ressourcen. Ruth Wilson Gilmore erinnert damit daran, dass es Formen des »slow death«8 eines langsamen Todes, gibt, dass bestimmte Zustände über längere Zeiträume hinweg vergiftend, zehrend und tödlich wirken. Aufgrund solcher Nekropolitiken sterben Menschen nicht nur, weil sie umgebracht werden, sondern weil sie in tödlichen Zuständen belassen werden. Wichtig ist hier, dass diese Tode vermeidbar wären, jedoch billigend in Kauf genommen werden. Bestimmte Leben werden als überschüssig konstruiert. Ein Beispiel für den deutschen und europäischen Kontext kann das Massensterben an den EUAußengrenzen sein als Effekt einer europäischen Abschottungspolitik und zahlreicher politischer Maßnahmen zur Verhinderung illegalisierter Migration in die EU.9 Der ›Schutz‹ von Grenzen wird über den Schutz von Menschenleben gestellt.10 Rassistische, heterosexistische, klassistische und ableistische Diskurse haben reale Effekte auf das (Über-)Leben minorisierter Subjekte. Die Schwierigkeit des Überlebens wird mit der Erinnerung daran, dass ›unser‹11 Überleben entsprechend einer rassistischen und heterosexistischen Logik niemals vorgesehen war und dass ›unser‹ Tod als weniger tragisch bewertet wird, entindividualisiert. Die Traumata, die über Generationen weitergegeben werden, Ängste, die »durch die Muttermilch«12 aufgenommen werden, werden zu einer geteilten Erfahrung von BIPoCs, insbesondere für trans* Personen, Queers und Frauen und diejenigen, die in Armut leben und / oder anders prekarisiert

Vgl. Achille Mbembe: Necropolitics, Durham, London: Duke University Press 2019. Für Queer- und Transtheoretische Ansätze in Bezug auf Nekropolitik siehe: Jin Haritaworn / Adi Kuntsman / Silvia Posocco (Hg.): Queer Necropolitics, London: Routledge 2012. 6

Siehe auch: Judith Butler: Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt am Main 2005 (2004), sowie: Anja Michaelsen: »Nicht-Trauern-Können und demonstratives Trauern. Affektive Folgen rassistischer Gewalt«, in: Käthe von Bose / Ulrike Klöppel / Katrin Köppert / Karin Michalski / Pat Treusch (Hg.), I is for Impasse. Affektive Queerverbindungen in Theorie_Aktivismus_ Kunst, Berlin: b_books 2015, S. 33—45.

7

Ruth Wilson Gilmore: Golden Gulag. Prisons, Surplus, Crisis, and Opposition in Globalizing California, Berkeley: University of California Press 2007.

8

Ebd.

9

So ist das Ziel der deutschen Politik, dass möglichst wenig Geflüchtete bei ›uns‹ ankommen: Mit dem sogenannten ›Asylkompromiss‹ wurde in Deutschland das grundgesetzlich geltende Recht auf Beantragung von Asyl faktisch abgeschafft. Durch die Dublin-Verordnung ist geregelt, dass Asylsuchende in dem EU-Staat, in dem die Ersteinreise erfolgte, Asyl zu beantragen haben. Auch der sogenannte ›Flüchtlingspakt‹ zwischen der EU und der Türkei soll Geflüchtete von einer Ein- bzw. Weiterreise in die EU abhalten.

10

Tuğba Tanyılmaz, Koray Yılmaz-Günay und Nadiye Ünsal vom MRB erklären in einem gemeinsamen Artikel: »Es bräuchte schon lange Mechanismen, die dem Massensterben im westlichen Mittelmeer und in der Ägäis effektiv entgegenwirken. Der Tod Tausender ist kein Naturgesetz, das hingenommen werden muss oder der Schleuserei in die Schuhe zu schieben ist — die zum Teil menschenverachtenden Praktiken der Grenzschutzagentur Frontex und anderer Programme zur Abwehr ›irregulärer Migration‹ verlagern das Sterben nur auf immer neue Routen, beseitigen es aber nicht.« Tuğba Tanyılmaz / Koray Yılmaz-Günay / Nadiye Ünsal, 2019, S. 148—149.

11

Das ›Uns‹ soll hier nicht ausblenden, dass bestimmte Gruppen wesentlich verletzlicher sind und wesentlich größeren Risiken in Bezug auf das Erleben von Gewalt oder Pre-mature Death ausgesetzt sind. Des Weiteren gibt es diskursive Brüche, die zu Veränderungen in Bezug darauf führen,

205 welches Leben als schützenswert gilt. Wurde beispielsweise noch in den 1980er und 1990er Jahren im Rahmen der AIDS-Krise queerem Leben kaum Wert beigemessen, gelten gegenwärtig (bestimmte) Queers und sogar Trans* (erstmals) als schützenswert. Vgl. Jin Haritaworn, 2015. Auch die NSU-Mordserie und der Umstand, dass diese in rassistischer Weise als »Dönermorde« tituliert wurde, kann als Beispiel dafür verstanden werden, wie Menschen of Color, die historisch nicht im selben Maße (kolonial-)rassistischer Gewalt und rassistischer Verfolgung ausgesetzt waren wie andere, dennoch zur Zielscheibe tödlicher rassistischer Gewalt werden. Die Liste an Beispielen für Zusammenhänge zwischen Rassismus, Heterosexismus, anderen strukturellen Machtverhältnissen und Premature Death in der Geschichte und in der Gegenwart lässt sich leider viel zu lang fortsetzen. Daher gilt es, sich zu vergegenwärtigen, dass rassistische und andere entmenschlichende Diskurse eine tödliche Ideologie beinhalten, gegen die es zu kämpfen gilt, wie es beispielsweise die Black Lives Matter-Bewegung vormacht. Der Begriff des Pre-mature Death wird hier erneut mit Bezug auf Ruth Wilson Gilmore verwendet: Vgl. Ruth Wilson Gilmore, 2007. 12

Audre Lorde, 1978, o. Sz.

13

Ebd.

14

Ebd.

15

Ebd.

16

Siehe hierzu auch: Sara Ahmed, 2014.

17

Audre Lorde, 1978, o. Sz.

18

Ebd.

19

Der Begriff des Überlebens findet sich in zahlreichen Beispielen, die zu diesen Diskursen beitragen. Bereits weiter oben wurde folgende Broschüre von Collective Creativity erwähnt: Surviving Art School: An Artist of Colour Tool Kit, Nottingham: Nottingham Contemporary 2016, https://issuu.com/ rudyloewecomics/docs/surviving_art_ school_as_artists_of_, vom 14.3.2021. Sara Ahmed hat in ihrem Buch Living a Feminist Life ein Kapitel mit dem Titel »A Killjoy Survival Kit«. Vgl. Sara Ahmed: Living a Feminist Life, Durham, London: Duke University Press 2017. Der Podcast »How to Survive the End of the World« von adrienne maree brown und autumn brown ist ein weiteres Beispiel. Vgl. https://www.endoftheworldshow. org/, vom 28.11.2020. Für José Esteban Muñoz ist Disidentifikation zugleich eine Überlebensstrategie.

Künstlerische Strategien der Disidentifikation, des Überlebens und des Un-Archiving

sind, zum Beispiel in Bezug auf ihren Aufenthaltsstatus. Die Ängste, die Audre Lorde benennt, sind vielfältig. Sie schreibt von der Angst, dass die Sonne nicht wieder aufgehen könnte, davor, nicht geliebt zu werden, davor, nicht genug Nahrung zu haben und hungrig zu bleiben — und von der Angst davor, nicht gehört zu werden, wenn ›wir‹ sprechen. Die ersten beiden Strophen von Lordes Gedicht A Litany For Survival beginnen jeweils mit den Worten »for those of us«13. In der zweiten Strophe geht es daraufhin weiter mit »who were imprinted with fear«14. Sie schreibt also »für diejenigen von uns, die geprägt wurden durch Angst«15. Das englische Verb to imprint heißt so viel wie abdrücken, prägen, einen Abdruck hinterlassen. Die Angst als Affekt hinterlässt Spuren und geht nicht einfach durch den Körper hindurch, sie wird von ihm gespeichert. Der Körper speichert Traumata, Geschichten und Gefühle.16 Diese Ängste sind nicht unberechtigt, denn Audre Lorde betont ja mehrmals: »we were never meant to survive«17. Dennoch fordert sie dazu auf, sich nicht in einer Weise von Angst leiten zu lassen, die dazu führt dass minorisierte Subjekte aufhören zu sprechen. Lorde erinnert an die widrigen Bedingungen, die die Artikulation von QTIBIPoC-Perspektiven so schwierig machen und damit kontinuierlich Gegendiskurse zur vorherrschenden weißen Normativität und Heteronormativität behindern. Bei Audre Lorde sind die Fragen des Überlebens, der Selbstartikulation minorisierter Subjekte und der Ängste, die aus rassistischen, heterosexistischen Zuständen resultieren, miteinander verwoben. Die Zeile »it is better to speak, than to remain silent«18 fordert dazu auf, Silencing zu durchbrechen und auch die Ängste zu überwinden, die damit verbunden sind zu sprechen. Des Weiteren wird Silencing (Zum-SchweigenGebracht-Werden) als Teil von strukturellen Machtverhältnissen benannt. Im Begriff des Überlebens steckt eine gewisse Stärke, es ist etwas Aktives und etwas Widerständiges. Nicht zufällig ist das Wort Survival / Überleben zu einem zentralen Begriff innerhalb von Queer of Color-Kritik sowie von trans*, queeren, feministischen und antirassistischen Diskursen geworden.19 Die Zeile »the heavy-footed hoped to silence us«20, verweist darauf, dass nicht nur Leben auf dem Spiel stehen, sondern auch Worte und Wissen aus minorisierten Perspektiven. Der (Selbst-)Ausdruck von QTIBIPoC-Perspektiven durch Kunst ist damit ebenfalls eine Form von Überleben. Toi Scott schreibt: »Seeds of survival exist within liberatory art that helps us see the unseen and speak the unspoken. Art can raise awareness about oppression, move people into action, and help us envision the better world we are working towards.«21

206 Vgl. José Esteban Muñoz, 1999. Bei vielen weiteren Theoretiker_innen wie Gloria Anzaldúa, Audre Lorde, Cathy Cohen, Jin Haritaworn und anderen werden Fragen der Prekarität des Lebens subalterner Subjekte und Fragen des Überlebens bearbeitet. 20

Audre Lorde, 1978, o. Sz.

21

Toi Scott: »Foreword«, in: Nia King (Hg.), Queer & Trans Artists of Color. Stories of Some of Our Lives. Interviews by Nia King, o.O.: o.A. 2014, S. i—iv, hier S. iii.

22

Sunanda Mesquita aka Decolonial Killjoy ist Künstlerin und Kuratorin aus Wien und Mitbegründerin des WE DEY x SPACE, einem Raum für zeitgenössische Kunst von QTIBIPOCKünstler_innen, in dem von 2013—2022 zahlreiche Ausstellungen, Veranstaltungen und Workshops stattgefunden haben, u.a. Solo-Ausstellungen von Amoako Boafo sowie die Gruppenausstellung »Anticolonial Fantasies« (2016). Mesquita hat einen Abschluss in Modedesign und eine Ausbildung als Friseurin / Make Up-Artist. Sie hat den Master-Studiengang Kunstpädagogik sowie den Master-Studiengang Freie Kunst mit Schwerpunkt auf Video und Videoinstallation an der Akademie der Künste in Wien studiert. Sie arbeitet zudem als Illustratorin und hat eine Reihe von Plakaten für QTIBIPoC-zentrierte Veranstaltungen gestaltet. In einer ihrer neueren Serien Femme4Femme arbeitet sie mit digitalem Tracing und porträtiert QTIBIPoCs. Vgl. https://decolonialkilljoy.com/, vom 25.8.2020. Vgl. https://we-dey.in/about/about-theproject/, vom 25.8.2020.

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

Kunst — auch visuelle Kunst — hat in diesem Zusammenhang das Potenzial, als alternative Form des Sprechens für QTIBIPoCs zu funktionieren, wie sich durch die Arbeit Silenced by Academia von Sunanda Mesquita eindrücklich darlegen lässt. Der Umstand, dass QTIBIPoCs weder im kulturellen Mainstream noch in der hegemonialen Geschichtsschreibung besonders stark repräsentiert sind und dass für eigene Subjektivierungsprozesse kaum positive Identifikationsfiguren zur Verfügung stehen, macht die Rekonstruktion und Neuerfindung eigener Geschichten notwendig. Überleben steht damit im Zusammenhang mit der Kontinuität eines Generationengedächtnisses und mit Zukunftsperspektiven. Hierfür spielen auch Auseinandersetzungen mit Fragen des Archivs eine wichtige Rolle, wie ich im nächsten Kapitel anhand der Videoarbeit Kırık Beyaz Laleler von Aykan Safoğlu weiter ausführe.

DAS BILD SILENCED BY ACADEMIA

ABBILDUNG 11

Das Bild Silenced by Academia (ABB. 11) ist ein Selbstporträt der Künstlerin Sunanda Mesquita aka Decolonial Killjoy.22 Es gibt die Künstlerin — eine junge Frau of Color — zu sehen, die auf einem Barstuhl sitzt, der jedoch nicht sichtbar ist, sondern sich nur aus der Pose erahnen lässt. Ein Bein ist angewinkelt, der Fuß abgestellt auf der Sprosse des Stuhls. Dabei tritt sie mit ihrem Fuß auf ihren Sari, mit dem sie bekleidet ist. Das andere Bein hängt herab. Ein Arm ist auf dem angewinkelten Bein abgelegt, der andere abgestützt auf der Hüfte. An den Füßen trägt sie graue Chucks mit weißen Schnürsenkeln, aus denen die schwarzen Socken oben herausgucken. Ihr Sari ist rosafarben und mit schwarzem Paisley-Muster bedruckt. Er hat einen weißen Saum. Die Person im Bild, also Sunanda Mesquita, trägt ihn um die Hüften gewickelt und über ihre linke Schulter gelegt. Von dort hängt der Sari herab, wodurch sich eine visuelle Trennung zwischen linker und rechter Körperhälfte ergibt. Unter dem Sari ist sie bekleidet mit einem schwarzen, kurzärmligen Oberteil mit weißem ornamentalem Muster. Die Unterarme und die Beine sind von knapp über dem Knie abwärts nackt. Die Haut ist mit recht dynamischen, expressiven Pinselstrichen und deckendem Farbauftrag in warmen Braun-, Orange-, Rosa-, und stellenweise auch Blautönen gemalt. Am auffälligsten jedoch ist das Gesicht der jungen Frau. In ihren Mund ist ein weißes Tuch gestopft, dass vorn ein ganzes Stück heraushängt, wie eine Art Fahne. Ihre Lippen sind um das Tuch geschlossen, die Wangen sind ausgebeult, ihr Gesicht ist durch das Stück Stoff im Mund regelrecht verzerrt. Dennoch geht der Blick gerade und direkt nach vorne, trifft den Blick der Betrachter_innen. Die Augen wirken ruhig und ausdrucksstark, sind nicht etwa

207 23

Vgl. Valerie Reilly: The Paisley Pattern. The Official Illustrated History, Salt Lake City: Peregrine Smith Books 1987.

24

Über die Kolonialgeschichte des Paisley-Musters schreibt Shailja Patel in ihrem Buch Migritude. Ich danke Sunanda Mesquita für den Hinweis. Vgl. Shailja Patel: Migritude, New York: Kaya Press 2010.

Künstlerische Strategien der Disidentifikation, des Überlebens und des Un-Archiving

zusammengekniffen oder verdreht. Ihr Gesicht ist umrahmt von ihren dunklen, gelockten Haaren, die sie offen trägt. Das Licht scheint von vorne zu kommen und wird reflektiert vom Gesicht, vom Tuch und den Beinen. Der Hintergrund ist weniger ausgearbeitet und abstrakt gehalten. In expressiver Malweise wurde wässrige dunkelgraue und schwarze Farbe aufgetragen, die auf der Leinwand hinunterfließt, Linien bildet und stellenweise aquarellartig ausfasert. Die Leinwand darunter scheint an den Stellen, an denen die Farbe transparenter aufgetragen wurde, durch. Vor allem in der Bildmitte, rund um die Figur, ist über die dunklere Farbe deckende weiße Farbe in Spachteltechnik aufgetragen, teilweise sind — rund um den Kopf — Blautöne dazu gemischt. Der Hintergrund wirkt damit eher kühl, während die Figur im Vordergrund in warmen Farben gemalt ist. Die weiße Farbe ist nicht nur gespachtelt, sondern auch wässrig aufgetragen, sodass sie ebenfalls auf der Leinwand fließt, wodurch sich Linien bilden, die an einer Stelle sogar über das linke Knie der Frau laufen. Die expressive, abstrakte Gestaltung des Hintergrunds bildet einen Kontrast zu den ausgearbeiteten Details und der realistischen Darstellung der Frau of Color und ihrer Kleidung. Die HellDunkel- oder auch Schwarz-Weiß-Kontraste, die zwischen den dunklen Haaren und dem weißen Tuch im Mund entstehen, oder in der Musterung des Oberteils, werden in der Farbigkeit des Hintergrunds wiederholt. Die Kleidung im Bild funktioniert als Zeichen mit vielschichtigen Bedeutungen. Das sogenannte Paisley-Muster, mit dem der Sari bedruckt ist, stammt ursprünglich aus Persien und wird auch als Boteh-Muster bezeichnet. Im 15. Jahrhundert kam es von dort zunächst durch Moguln auf den indischen Subkontinent.23 Es wurde im 18. und 19. Jahrhundert in Europa populär, wohin es im Zuge kolonialen Handels durch die East India Company auf wertvollen Kaschmir-Schals kam. Aufgrund der großen Popularität und Nachfrage wurde es später in Schottland und Frankreich in Massen produziert. Der Name Paisley ist der einer schottischen Stadt, in der Stoffe mit dem Muster hergestellt wurden. Das Muster ist also bereits ein Archiv kolonialer und vorkolonialer Geschichte, ein Medium, das Wissen speichert über europäischen Kolonialismus und koloniale Aneignung, in diesem Fall der von materieller Kultur und Design des indischen Subkontinents.24 Kulturelle Aneignung ist verbunden mit Löschen und Überschreiben, wie an diesem Beispiel deutlich wird, denn tradiert wird der Name der schottischen Stadt, wodurch ein europäischer Ursprung suggeriert wird. Die verschiedenen vorkolonialen Namen werden überschrieben. Während der Sari als Kleidungsstück in dominanzkulturellen ›westlichen‹ Kontexten codiert ist als ›traditionell‹ und als ›indisch‹, signifizieren die Chucks, die die Frau of Color

208

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

25

An dieser Stelle muss betont werden, dass diese Lesart des Bildes und der zu sehen gegebenen Kleidung gebunden ist an meine Rezeption der Arbeit im deutsch(sprachig)en Kontext. Woanders, zum Beispiel in Südostasien, kann das Tragen eines Saris ganz anders gelesen werden.

26

Vgl. Fatima El-Tayeb, 2012, S. 89.

27

Als Kind — wohlgemerkt als blondes Kind, dem man kulturelle Differenz nicht ›ansieht‹ — wurde ich oft in dem Moment gefragt, in dem jemand erfuhr, dass mein Vater Türke ist, ob ich mich eher deutsch oder eher türkisch fühle. Auch diese Frage ist ein Orientation Device, indem ihr entweder / oder zwei sich gegenseitig ausschließende Möglichkeiten vorsieht. Sie forciert eine Orientierung, eine Ausrichtung des Körpers, zu einer Seite — und damit eine Abwendung von einer anderen Seite. Es wird also eine Grenze durch den Körper gezogen. Zugleich spürte ich genau, aufgrund der Reaktionen Anderer im Zusammenhang mit der ›Enthüllung‹ der Migrationsgeschichte meines Vaters, was die ›richtige‹ Antwort auf die Frage ist.

28

Yvette Mutumba arbeitet dies heraus in Interviews, die sie mit in Deutschland lebenden Schwarzen Künstler_innen geführt hat.

bzw. die Künstlerin trägt, die Zuschreibungen ›westlich‹ und ›modern‹, aber auch ›alternativ‹.25 Die Kleidung verweist auf eine Schwierigkeit, mit der BIPoCs im deutschen und europäischen Kontext konfrontiert sind: dass die (meist nur vermeintlich relevante) ›Herkunftskultur‹ als rückschrittlich und damit als gegensätzlich zur als ›fortschrittlichen‹ deutschen / europäischen Kultur konstruiert wird und dass die Menschen als ›dazwischen‹ verortet werden. Dies lässt sich auch in diesem Fall mit Sara Ahmed als Frage der Orientierung denken. Die vermeintliche Gegensätzlichkeit ist hergestellt über unterschiedliche Zeitlichkeiten: Europa als Gegenwart (und sogar Zukunft), ehemals kolonisierte Länder als in der Vergangenheit gefangen und zurückgeblieben. Zugleich gibt es — über die Forderung nach ›Integration‹ — eine Anforderung, sich zu orientieren zum ›Westen‹ — und dafür die ›Herkunftskultur‹ hinter sich zu lassen. Räumliche und zeitliche Verortung wirken also zusammen. Wie sind die Körper von QTIBIPoCs orientiert in einem (Zeit-)Raum? Wo ist vorn, und wo ist hinten? (Post-)Koloniale, nationale und rassifizierte Konstruktionen von Modernität / Traditionalität produzieren für (QTI)BIPoC widersprüchliche Verortungen in unterschiedlichen Zeitlichkeiten, die sich überlagern und eine gleichzeitige räumliche Orientierung nach vorn und hinten. Die eigene Identität wird — wie Fatima El-Tayeb erklärt — zu einer Art Oxymoron.26 Wichtig ist dabei, dass sich Schwierigkeiten damit, sich zu verorten, nicht aufgrund von Mehrfachzugehörigkeit zu (vermeintlich) unterschiedlichen Kulturen ergeben, sondern aus deren Konstruktion als different und gegensätzlich, als entweder / oder, wodurch eine gleichzeitige Zugehörigkeit zu mehreren Kontexten, Räumen, Identitäten und Subjektpositionen als Unmöglichkeit erscheint.27 Auch wenn es sich hier um eurozentristische und (post-)koloniale Konstruktionen handelt, haben diese dennoch reale Effekte auf (QTI)BIPoC. Das zeigt sich beispielsweise in der von (QTI)BIPoC-Künstler_innen beschriebenen Erfahrung, im Kunstbetrieb mit widersprüchlichen Erwartungen konfrontiert zu werden: Entweder ist ihre Arbeit nicht ›universell‹ genug oder es wird ihnen vorgeworfen, nicht ›authentisch‹ zu sein, wenn sie nicht zu ihren ›Wurzeln‹ arbeiten.28 Als Kleidungsstück ist der Sari vergeschlechtlicht und mit Weiblichkeit besetzt. Der Look der Frau of Color im Bild / der Künstlerin wirkt alltäglich, obwohl der Sari edel aussieht. Sie trägt ihn hier nicht als festliche Kleidung zu einem erkennbar besonderen Anlass. Zumindest kombiniert sie ihn weder mit Schmuck, noch ist sie geschminkt oder trägt eine aufwendige Frisur, sondern offene Haare. Statt High Heels trägt sie Chucks, aus denen sogar die Socken herausgucken. Ist das schon »sartorial anarchy«29 (Bekleidungsanarchie)? Die nackten Beine gucken unter der Kleidung heraus, während die meisten Saris eher komplett bis zum Boden gehen. Bestimmte normative

Vgl. Yvette Mutumba, 2012. 29

Siehe den Titel Sartorial Anarchy einer umfangreichen Fotoserie (2013) des Schwarzen queeren Künstlers Iké Udé, in der er Kleidungsstücke, Schmuck, Artefakte und Möbel aus unterschiedlichsten historischen und geografischen Kontexten in ›anarchistischer‹ Weise an und um seinen Körper herum kombiniert und sich so fotografiert. Vgl. https://ikeude.com/sartorialanarchy/, vom 16.3.2021, die Seite existiert nicht mehr, 2.5.2023.

209 30

Diese Femme-Weiblichkeit entsteht zugleich in meinem Blick, dem Blick einer Femme of Color, die für Femmeness sensibilisiert ist, aber auch danach sucht.

31

Vgl. u.a. Joan Nestle (Hg.): The Persistent Desire. A Femme-Butch Reader, Boston: Alyson Publications 1992; Sabine Fuchs: Femme! Radikal — queer — feminin, Berlin: Querverlag 2009, sowie Ivan E. Coyote / Zena Sharman (Hg.): Persistence. All Ways Butch and Femme, Vancouver: Arsenal Pulp Press 2011.

32

Sandrine Micossé-Aikins, 2015, S. 163.

33

Skype-Gespräch mit Sunanda Mesquita am 01.6.2016.

Künstlerische Strategien der Disidentifikation, des Überlebens und des Un-Archiving

Vorstellungen von Weiblichkeit sind damit gebrochen oder zumindest irritiert. Ihre Haltung und insbesondere ihr Blick strahlen Stärke aus. Die Frau of Color im Bild verkörpert eine queere Weiblichkeit, genauer eine Femme-Weiblichkeit.30 Die queere Positionierung bzw. das queere Gender Femme bricht mit heteronormativen Geschlechterrollen — nicht, indem Weiblichkeit überwunden oder gebrochen wird durch Überschreitungen ins Männliche oder Androgyne, wie es in queeren und feministischen Kontexten häufig der Fall ist, sondern indem Weiblichkeit aufgewertet und umgearbeitet wird.31 Das Genre Selbstporträt beinhaltet das Wort Selbst. Das ›Selbst‹, das Decolonial Killjoy hier zu sehen gibt, ist ein positioniertes als Femme of Color: Das Tragen des Saris als Person of Color im österreichischen / europäischen Kontext und innerhalb der Akademia kann als Verweigerung des Anpassens an die dominanzkulturelle weiße Norm verstanden werden. Sandrine Micossé-Aikins schreibt mit einem von ihr selbst um alltagskünstlerische Praxen erweiterten Kunstbegriff über künstlerische Praxen von Protest und Widerstand: »Kunst und Kreativität, ob in Form von Musik, Geschichten, Kleidung oder auch Frisuren, fungieren als Trägerinnen und Vermittlerinnen widerständiger Kultur und Geschichte, denen in dominanzkulturellen Erzählungen kein Raum gewährt wird. In alltagskünstlerischen Praxen konnten durch koloniale Gewalt, Versklavung und Entmenschlichung strapazierte transatlantische Schwarze Verbindungen bewahrt und neu geknüpft werden. Als Vehikel von Handlungswissen geht künstlerisches Schaffen eine radikale Verbindung mit der Realität ein, auf die sie trifft, und wird zum Überlebenswerkzeug.«32 Genau wie Toi Scott betont Sandrine Micossé-Aikins — bei ihr mit einem spezifischen Bezug auf Schwarze Perspektiven — dass künstlerisches Schaffen ein Überlebenswerkzeug sein kann sowie Trägerin von Gegendiskursen und Vermittlerin widerständiger Kultur und Geschichte. Kunst von (QTI)BIPoC wirkt in diesem Verständnis als (Gegen-)Archiv. In einem SkypeGespräch erklärt die Künstlerin Sunanda Mesquita, dass der Sari ihrer Mutter gehört und aus den 1970er Jahren ist.33 Das Kleidungsstück transportiert damit nicht nur (post-)koloniale, sondern auch Familiengeschichte, die sich beide überlagern und den Körper der Künstlerin umhüllen. ›Zufällig‹ ist der Sari damit aus einer Zeit, in der Adrian Piper ihre Catalysis-Pieces performte, die Sunanda Mesquita aka Decolonial Killjoy in ihrem Bild zitiert.

210 34

Skype-Gespräch mit Sunanda Mesquita am 1.6.2016.

35

Vgl. https://decolonialkilljoy.com/ portfolio/silenced-by-academia/, vom 15.12.2019.

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

DIE KUNST, SICH NICHT ZUM SCHWEIGEN BRINGEN ZU LASSEN Das Tuch im Mund lässt sich gerade im Zusammenhang mit dem Titel der Arbeit lesen als eine Art Knebel, der die Frau im Bild bzw. die Künstlerin am Sprechen hindert. Das weiße Tuch füllt den Mund aus, es quillt heraus. Die Farbe Weiß ist sicherlich nicht zufällig gewählt, sie verweist auf normatives Weißsein und den Ausschluss von BIPoC-Perspektiven aus (hegemonialen / akademischen) Diskursen. Das Tuch im Mund der Künstlerin ist ein Bildzitat aus der Performance Catalysis IV der Künstlerin Adrian Piper von 1979, auf die ich später noch ausführlicher eingehen werde. Die Hände der Frau of Color / der Künstlerin sind frei, wodurch sich die Frage stellt, weshalb sie das Tuch nicht ausspuckt oder herausnimmt? Ist es, dass die Akademia, die durch den Titel als Ursache des Silencing benannt wird, sie zur Selbstzensur bringt? Hat es etwas mit den Ängsten zu tun, die Audre Lorde in ihrem Gedicht A Litany for Survival benennt? Oder ist die Gewaltförmigkeit und die Kontrolle durch die Institution so stark, dass die Person nicht sprechen kann, obwohl sie sprechen könnte? Der Umstand, dass es das Tuch ist, das hervorsticht, lenkt die Aufmerksamkeit auf den Mund und das Sprechen. Was genau ihr widerfahren ist, wissen wir nicht aus der Bildlektüre. Es geht damit weniger um einen konkreten Fall von Diskriminierung (den es jedoch gegeben hat)34 als um die Effekte des Silencing auf (QTI)BIPoC und den Widerstand dagegen. Das Tuch wird zum Symbol für etwas Verallgemeinerbares, nicht für eine singuläre Erfahrung. Durch den Titel der Arbeit wird das Silencing im spezifischen institutionellen Raum der Akademia verortet. Auf der Internetseite der Künstlerin heißt es über die Arbeit: »[...] Mesquita’s self-portrait transfers the notion of being silenced into the specific location of Academia, where still up to today the voices of women of colour are being constantly suppressed.«35 Tatsächlich geht die Arbeit sogar einen Schritt weiter, denn es heißt nicht Silenced in Academia, sondern by Academia. In diesem Sinn ist die Akademia eine Akteurin. Die Institution handelt, statt nur ein Raum zu sein, in dem etwas stattfindet, sie wird markiert als ausübende Instanz rassistischer Gewalt. Wie bereits angeklungen in dem Gedicht von Audre Lorde und zuvor im Kapitel Intersektionale Kritiken an akademischer Wissensproduktion und ihren Rahmenbedingungen ausgeführt, bezeichnet der Begriff Silencing eine Form von strukturellem Rassismus — das Zum-Schweigen-Bringen oder Unhörbar-Machen der Stimmen von (QTI)BIPoC. Er verweist sehr konkret auf die Frage: Wer spricht? bzw. wer spricht nicht?

211 36

Vgl. Grada Kilomba, 2008, S. 28.

37

Über die koloniale Strategie des Teileund-Herrsche schreibt u.a. Sheila Mysorekar: »Weiße Taktik, weiße Herrschaft«, in: Ika Hügel / Dagmar Schultz / Ilona Bubeck / May Ayim / Chris Lange / Gülşen Aktaş (Hg.), Entfernte Verbindungen. Rassismus, Antisemitismus, Klassenunterdrückung, Berlin: Orlanda 1993, S. 110—117.

38

Beispielsweise berichteten mir mehrere meiner Student_innen of Color in Sprechstunden sowie Schwarze Freund_ innen und Freund_innen of Color von ihren Rassismus-Erfahrungen mit Lehrer_innen, die ihnen u.a. sagten, dass aus ihnen ohnehin nichts werden würde, dass sie nicht geeignet seien für höhere Bildung — oder Schlimmeres. Es bedeutet eine große Kraftanstrengung und Selbstbewusstsein, solche Botschaften zu ignorieren und sich ein Studium und noch einmal mehr eine Wissenschaftskarriere zuzutrauen. Das bedeutet, dass die Akademia ein weißer Raum bleibt, auch aufgrund von Diskriminierungen, die auf einer früheren Bildungsstufe stattgefunden haben. Zu diesem Thema schreibt auch Reyhan Şahin: Vgl. Reyhan Şahin: Yalla, Feminismus!, Stuttgart: Tropen 2020.

39

Zu Konfigurationen von Männlichkeit im Selbstporträt siehe: Irit Rogoff, 1989.

Künstlerische Strategien der Disidentifikation, des Überlebens und des Un-Archiving

Wie Grada Kilomba sehr treffend beschreibt, ist die Akademia kein neutraler Ort der Wissensproduktion, sondern ein gewaltvoller Ort.36 Silencing bewirkt Vereinzelung und funktioniert somit im Sinn eines kolonialen Teile-und-Herrsche.37 Sunanda Mesquitas Bild ist ein Akt des Widerstandes gegen diese Gewalt. Es werden Parallelen suggeriert zwischen Kolonialgeschichte, Formen von kolonialer Ausbeutung und kultureller Aneignung und der Aneignung von marginalisiertem Wissen innerhalb akademischer Institutionen bei gleichzeitigem Ausschließen von marginalisierten Subjekten. Silencing kann dabei sehr unterschiedliche Formen annehmen: Es kann bedeuten, dass BIPoCs innerhalb der Akademia bzw. allgemein im Bildungssystem rassistisch diskriminiert werden38, dass ihre / unsere Beiträge ignoriert oder unterbrochen oder schlechter bewertet werden, es kann aber auch ein Effekt des normativen Weißseins der Institution sein, in der Schwarze Menschen, Indigenous People, People of Color, (Post-)Migrant_innen als Subjekte unterrepräsentiert sind und auch in den Curricula und im Kanon kaum vorkommen. Es gibt also direkte und subtilere Formen des Silencing, die jedoch alle bewirken, dass Artikulationsmöglichkeiten eingeschränkt bleiben. Wenn man bedenkt, dass Silencing nicht (nur) durch direkte rassistische Angriffe wirkt, sondern meist eher durch das Auslösen diffuser Gefühle von Unzulänglichkeit, Fehl-amPlatz-Sein, Unwichtig-Sein, Unverstanden-Sein, Klein-Sein, Handlungsunfähig- / Ohnmächtig-Sein, wird deutlich, wie stark die Arbeit der Künstlerin ist, in der sie sich selbst als gesilenced darstellt. In einer sehr verletzlichen Lage zeigt man sich in der Regel nicht gerne Anderen. Zudem ist es in einem Zustand von Verletzung und Selbstzweifel nicht leicht, die Ursache dieser Gefühle in rassistischen, sexistischen und klassistischen Strukturen zu erkennen, statt sie in sich selbst zu suchen. Aus diesem Grund ist gerade der Umstand, dass es sich bei dem Bild Silenced by Academia um ein Selbstporträt der Künstlerin handelt, besonders bemerkenswert. Die Leinwand ist mit den Maßen von 160 × 180 cm sehr groß und die Femme of Color im Bild in etwa lebensgroß, was gelesen werden kann als Verweigerung, sich klein zu machen. Das Genre des Selbstporträts ermöglicht zudem eine Autor_innenschaft und Kontrolle über das eigene Bild.39 Die Künstlerin, also die (queere) Femme of Color, der Silencing widerfahren ist, bestimmt selbst, wie sie sich repräsentiert, wie sie gesehen werden will. Das bedeutet nicht, dass nicht auch andere Lektüren möglich sind als die, die sie selbst anlegt und intendiert. Dennoch schafft sie eine Form der Selbstrepräsentation, was gerade aus einer queeren, weiblichen, Person of Color-Position heraus als Intervention in Praxen des Othering und der Fremddefinition und Fremdzuschreibung

212

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

40

verstanden werden kann. Ihre Positionierung ist eine, die historisch und strukturell in den Status des (passiven) Objekts festgeschrieben wurde. Mesquita nutzt ihre Kunst, um damit zu brechen. Der direkte Blick nach vorn in die Augen der Betrachter_innen ist einer, der sich einem Angestarrt-Werden widersetzt. Das aktive Zurückblicken ist eine wichtige Strategie feministischer Künstler_innen, die damit den Objektstatus der Frau in der cis-männlich dominierten Kunstgeschichte aufbrechen. Es ist eine Verweigerung, den Status eines passiven Objekts einzunehmen. Dies ist eine widerständige Blickstrategie, die ich als »Looking Back«40 bezeichne. Das Looking Back wird verstärkt durch das Genre des Selbstporträts: Sunanda Mesquita aka Decolonial Killjoy ist zugleich Autorin ihres Kunstwerks, also dessen Subjekt und die Abgebildete, also das Objekt innerhalb ihres Bildes. »Die Polarität von Subjekt und Objekt ist das dauerhafte Skelett der Herrschaft, jederzeit bereit, mit manifester Geschlechtsspezifik ausstaffiert zu werden, sobald die Situation es verlangt«,41 schreibt die Psychologin Jessica Benjamin. Diese Polarität wird mittels der künstlerischen Strategie des Looking Back und des gleichzeitigen Einnehmens der Subjekt- und Objektposition unterlaufen. Das Selbstporträt von Decolonial Killjoy wird zu einem Medium der Subjektivierung, durch das die Femme of Color zum (aktiven) Subjekt werden kann genau in einem Moment der Objektifizierung, der Viktimisierung durch Diskriminierung. Indem sich Sunanda Mesquita als gesilenced zeigt, wird sie aktiv und handlungsfähig. Sie teilt ihre Erfahrungen und ermöglicht es anderen, die selbst gesilenced wurden oder werden, daran teilzuhaben, sich nicht allein in diesem Zustand zu fühlen und Silencing als rassistische Struktur zu erkennen, von der viele betroffen sind. Das Teilen eigener Rassismuserfahrungen mit anderen Betroffenen und Biografiearbeit spielen eine wichtige Rolle für Prozesse von Empowerment. »Von Seiten der PoC wird es vor allem darum gehen, die Überwindung ihrer Ohnmacht und Unterdrückung und die Entwicklung von Empowerment- und Widerstandsstrategien […] bewusst und sichtbar zu machen […]«42, schreibt Halil Can. Das Bild Silenced by Academia wirkt in ähnlicher Weise und ermöglicht Empowerment. Nicht nur zeigt sich die Künstlerin selbst als gesilenced, sie stellt sich zugleich selbst dar als wissend um die Praxen des Silencing und kann diese mit dem Einsatz von Kunst durchbrechen. Wie bereits weiter oben in dem Zitat von Toi Scott angeklungen, hat Kunst hier ein wichtiges Potenzial für QTIBIPoCÜberleben, indem mit dem Bild eine alternative Ausdrucksform entwickelt wird, die abgesehen vom Bildtitel, ohne Worte auskommt, wenn der Mund verstopft ist und ein Sprechen mit Worten nicht möglich erscheint. Emily Ngubia Kessé schreibt

Erarbeitet habe ich diesen Begriff im Rahmen meiner Masterarbeit zum Thema »Looking Back. Widerständige Blickpolitiken in Praxen queerer Künstler_innen of Color«, die ich im Rahmen meines Masterstudiums der Kunst- und Medienwissenschaft an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg verfasst habe. Vgl. Rena Onat: Looking Back. Widerständige Blickpolitiken in Praxen queerer Künstler_innen of Color. Masterarbeit, Oldenburg 2013.

41

Jessica Benjamin: Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht, Frankfurt am Main, Basel: Stroemfeld 2015 (1990), S. 246.

42

Halil Can: »Empowerment«, in: Susan Arndt / Nadja Ofuatey-Alazard (Hg.), Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache ein kritisches Nachschlagewerk, Münster: Unrast 2011, S. 587—590, hier S. 590—591.

213 43

Emily Ngubia Kessé. Call for Contributions The eloquence of silence / speaking the silence / Aus dem lauten Schweigen reden 2016. Leider scheint das Buchprojekt nicht verwirklicht worden zu sein. Sie hat jedoch im Jahr zuvor einen Sammelband zu Rassismus an deutschen Hochschulen veröffentlicht. Vgl. Emily Benice Ngubia Kuria (Hg.): Eingeschrieben. Zeichen setzen gegen Rassismus an deutschen Hochschulen, Berlin: W_orten & meer 2015.

44

Die Ausstellung Making Mirrors — Von Körpern und Blicken wurde vom 25.6.— 31.7.2011 in der nGbK in Berlin gezeigt. Vgl. https://archiv.nGbK.de/en/projekte/ making-mirrors/, vom 29.12.2020.

45

Sandrine Micossé-Aikins in einem Begleittext zur Ausstellung auf: http://www.makingmirrors.org/, vom 6.10.2019, die Seite existiert nicht mehr, 28.8.2020.

Künstlerische Strategien der Disidentifikation, des Überlebens und des Un-Archiving

in einem Call für ein Buchprojekt mit dem Arbeitstitel The eloquence of silence / speaking the silence / Aus dem lauten Schweigen reden: »From our decolonizing perspective, we know that we have been speaking through actions, music, poetry, artwork, mimic, dance, theatre, comics, space, silence [...]«.43 Das Wissen um Silencing als Form struktureller Gewalt, die zu Leerstellen und Abwesenheiten bestimmter Perspektiven in hegemonialen Diskursen führt, inspiriert eine alternative Haltung, nämlich die Stille und Leerstelle nicht zu verstehen als Indikator dafür, dass das Wissen minorisierter Subjekte, nicht existieren würde, sondern dass dieses Wissen vermutlich nicht archiviert, nicht tradiert, überschrieben oder gelöscht wurde. Das Wissen um Silencing trainiert, im Anschluss Emily Ngubia Kessé, eine dekoloniale Perspektive, die sich durch eine Sensibilität für alternative Artikulationsformen und ein Horchen in die Stille auszeichnet. Als Sprach- und Ausdrucksmittel hat Kunst das Potenzial, ein Ort der Wissensproduktion und -weitergabe für minorisierte Perspektiven zu sein, ohne dass dabei den Logiken akademischer Wissensproduktion gefolgt werden muss. Sandrine Micossé-Aikins findet in einem Text zu der von ihr mitkuratierten Ausstellung Making Mirrors (2011) in der nGbK44 folgende Worte: »Obwohl, und manchmal, gerade weil [...] für Künstler_innen of Color der Zugang zu etablierten kulturellen Institutionen sehr eingeschränkt wird, ist Kunst für sie ein Mittel des Protests und des Widerstandes, mit dessen Hilfe sie neue, selbstbestimmte Bilder jenseits weißer Zuschreibungen kreieren und damit diese häufig marginalisierten Perspektiven sichtbar machen.«45 Nicht nur machen Künstler_innen auf Color wie Sunanda Mesquita Perspektiven sichtbar, die sowohl im (Bild-)Diskurs des Mainstreams als auch im Kunstbetrieb selten oder gar nicht vorkommen, sie arbeiten auch mit den stereotypisierenden, exotisierenden und rassistischen Bildern, die uns tagtäglich umgeben, dekonstruieren diese, thematisieren (rassistische) Sehgewohnheiten und intervenieren in die visuelle (Re-)Produktion von Machtverhältnissen. Künstlerisches Wissen und Sprechen in Form von Kunst wird innerhalb der Akademia in der Regel reduziert auf den Status als Material und nicht als eigenständiger Beitrag zu Wissensproduktion. Bestehende Zugangsbarrieren und Ausschlüsse von QTIBIPoCs und anderen Menschen, die strukturell von (Mehrfach-)Diskriminierung betroffen sind, schränken Artikulationsmöglichkeiten und die Anerkennung alternativer und marginalisierter Formen von

214

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

46

Vgl. José Esteban Muñoz, 2009.

47

Für eine Ausstellung im deutschen Kontext, die Adrian Pipers Arbeiten ab 1965 untersuchte und auch auf die Arbeit Catalysis IV einging siehe: Sabine Breitwieser (Hg.): Adrian Piper seit 1965: Metakunst und Kunstkritik. [Ausstellung, Generali Fondation, Wien, 17.5. bis 18.8.2002], Wien: Generali Foundation 2002.

48

In einem Interview mit Lucy Lippard benutzt Adrian Piper den Begriff Pieces an Stelle von Performance.

Wissen sowie deren Wahrnehmung und Verbreitung zusätzlich ein. Vor dem Hintergrund der Kritik an Silencing, Aneignung marginalisierten Wissens und Cultural Appropriation ist es eine widerständige Strategie, sich auf historische Beispiele von Wissen, Diskursen und Interventionen aus QTIBIPoC-Perspektiven zu beziehen und Genealogien nachzuzeichnen. Durch die Referenz auf die Schwarze feministische Künstlerin Adrian Piper, die bereits in den 1970er Jahren in ihren Performances Rassismus und Sexismus im Kunstbetrieb kritisiert hat, knüpft Sunanda Mesquita an eine Geschichte von Women of ColorAktivismus, -Theorie und -Kunst an und weist sie als bedeutsam für ihre Arbeit aus. Mit Muñoz lässt sich Sunandas Arbeit als Suche nach Spuren und Energien von Schwarzem Feministischen Aktivismus früherer Generationen beschreiben, die im Jetzt Potenziale für Empowerment, Utopie und Queerness entfalten.46

Vgl. Adrian Piper / Lucy Lippard, 1972. 49

Der Forschungsstand zu Adrian Piper und ihrem Werk ist umfangreich. Einen Überblick gibt der kürzlich veröffentlichte Adrian Piper Reader. Vgl. Emily Hall (Hg.): Adrian Piper. A Reader, New York: The Museum of Modern Art 2018. Zu weiteren relevanten Veröffentlichungen zählen u.a. John P. Bowles: Adrian Piper. Race, Gender, and Embodiment, Durham, London: Duke University Press 2011 sowie Kobena Mercer: »Adrian Piper, 1969—1975: Exiled on Main Street«, in: Kobena Mercer (Hg.), Exiles, Diasporas & Strangers, London: Iniva 2008, S. 146—165. Adrian Piper hat als Autorin und Philosophin selbst an dem Diskurs über sich und ihre Kunst mitgearbeitet. Vgl. u.a. Adrian Piper: Out of Order, Out of Sight, Cambridge, Mass: MIT Press 1996. Außerdem hat sie in Berlin das Adrian Piper Research Archive gegründet. Vgl. http://www.adrianpiper.com/ index.html, vom 28.8.2020.

50

Vgl. Adrian Piper / Lucy Lippard, 1972.

HANDLUNGSFÄHIG SEIN UND ÜBUNGEN IM ANDERSSEIN — DIE PERFORMANCE CATALYSIS IV (1979) VON ADRIAN PIPER

ABBILDUNG 12

Die Performance Catalysis IV,47 die von Sunanda Mesquita zitiert wird, ist Teil einer ganzen Serie von »Pieces«48 in denen sich Adrian Piper zwischen 1970—71 im öffentlichen Raum ›anders‹ verhält, nicht ›normal‹ agiert, Grenzen testet und Reaktionen der Öffentlichkeit provoziert mittels Kleidung, Geruch und Handlung. In der Performance Catalysis IV stopft sie sich ein großes weißes Handtuch so in den Mund, dass ihr Gesicht regelrecht verbeult erscheint und ein Rest des Handtuches aus dem Mund heraushängt, während sie ansonsten eher unauffällig bis konservativ gekleidet ist (ABB. 12). Mit dem Handtuch im Mund fährt sie dann in New York mit dem Bus, in der Metro und im Fahrstuhl des Empire State Buildings. Anders als in den etwas späteren Arbeiten Pipers wie Mythic Being (1973), Cornered (1988) oder Calling Cards (1986—1990) ist in der Serie Catalysis eine Kritik an Rassismus und Sexismus weniger direkt und offensichtlich artikuliert.49 Beispielsweise thematisiert sie in Mythic Being, ihre eigene Identität als Schwarze Frau mit weißem Passing und kritisiert und dekonstruiert dabei essentialistische Vorstellungen von Identität: Sie tritt in Drag auf und konfrontiert Stereotype einer als bedrohlich und machistisch konstruierten Schwarzen Männlichkeit. Ich argumentiere, dass Piper in den Catalysis »Pieces«50 stärker die affektiven Reaktionen verhandelt, die durch Rassismus ausgelöst werden, beispielsweise in Form von Gefühlen wie Anderssein, Nicht-Sprechen-Können, Falschsein,

215

Künstlerische Strategien der Disidentifikation, des Überlebens und des Un-Archiving

51

Ebd. S. 77.

52

Ebd.

53

Ebd.

54

Ebd.

55

Ebd.

56

Ebd.

57

Ebd.

58

Ebd.

ohne sich zuerst auf Kategorien von Identität und Differenz zu beziehen. Die Catalysis-Serie war zudem ein Stück weit losgelöst vom Kunstkontext, sie fand im öffentlichen Raum statt, ohne von Piper als Kunst angekündigt zu werden. Adrian Piper äußert in einem Interview mit Lucy Lippard über Catalysis IV: »It is almost as if I manage to make contact in spite of how I look, in spite of what I’m doing.«51 Gegenüber Lucy Lippard beschreibt Adrian Piper einige ihrer Erfahrungen und Gefühle während der Performances, beispielsweise erklärt sie, dass sie sich psychisch vorbereitet, sobald sich ihr jemand nähert, dass sie schon eine ganze Präsentation bereit hat, obwohl sie dies eigentlich gar nicht will und dass sie sich der Gegenwart der anderen Person sehr bewusst ist. Auf die Frage, ob sie die Personen, denen sie begegnet, anschaut, erklärt sie, wie schwer es ihr anfangs gefallen sei, den Blick direkt zu erwidern: »I looked odd and grotesque, and somehow just confronting them head-on was very difficult. It makes me cringe every time I do it, but I’m trying to approach them in a different way.«52 Rassismus und Sexismus produzieren oft Situationen, in denen Schwarze Menschen und Personen of Color, wenn sie kein Passing haben, angestarrt werden. Viele kennen die Erfahrung im Umgang mit Alltagsrassismus jederzeit vorbereitet zu sein, zu intervenieren, eine ganze Präsentation bereit zu haben inklusive einer Literaturliste, für den Fall einer rassistischen Konfrontation. Oft kommt es zu Situationen, einem starrenden Blick ausgesetzt zu sein, der einer_m das Gefühl gibt, »odd«53 und »grotesque«54 zu sein und der schwierig zu erwidern ist. Ich denke, man kann die Catalysis-Serie verstehen als Übungen ›anders‹ zu sein in einer Weise, die ein Othering als Frau, als Schwarze Frau / Frau of Color übertrumpfen und eher nebensächlich erscheinen lassen — und zugleich den eigenen Handlungsspielraum bzw., die eigene Handlungsfähigkeit zu erweitern. Piper begibt sich aktiv in die Situation, »odd«55 und »grotesque«56 zu sein, in einer Weise, die ihr Kontrolle und Macht gibt: »Yes, you know you are in control, that you are a force acting on things, and it distorts your perception. The question, whether there is anything left to external devices or chance. How are people when you are not there? It gets into a whole philosophical question. I found that exhilarating, too. It is a heady thing, which has to do with power, obviously [...]57« In Catalysis IV ist Piper dadurch »odd and grotesque«58, dass sie sich ein Handtuch in den Mund gestopft hat, das so groß ist, dass es ihre Wangen verformt und aus dem Mund

216

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

59

Audre Lorde, 1978, o. Sz.

60

Sara Ahmed, 2006, S. 4. Sie bezieht sich auf: Maurice Merleau-Ponty: Phenomenology of Perception, London, New York: Routledge; Kegan Paul 2002 (1945), S. 296.

61

Vgl. Frantz Fanon, 1986 (1976).

heraushängt. Auch wenn sie es selbst nicht so benennt, kann man dies als Geste lesen, die auf das Silencing von Frauen of Color verweist. Mit einem derart verstopften Mund kann sie nicht sprechen. Nicht nur ist dies sichtbar, sondern der Umstand, dass ihr Mund verstopft ist, lässt ihr Gesicht anders aussehen als im ›normalen‹ Zustand. Das Gesicht ist zugleich das, woran wir eine andere Person erkennen, es ist eng verbunden mit der Identität eines Menschen. Die Mimik des Gesichts kommuniziert zudem emotionale und affektive Zustände. Die Performance Pipers verweist somit darauf, dass Rassismus und Sexismus affektive körperliche Reaktionen auslösen können und sich auch in Körper einschreiben, wie es Audre Lorde in ihrem Gedicht A Litany for Survival beschreibt, wenn sie sich an »those of us who were imprinted with fear«59 wendet. Der Zustand des verstopften Mundes muss unangenehm sein: Atmen ist nur durch die Nase möglich, der Mund ist so voll, dass ein Brechreiz ausgelöst werden kann. Übelkeit kann, mit Sara Ahmed, ein Effekt von Desorientierung sein. Sie verweist auf Maurice Merleau-Ponty, der beschrieben hat, dass Momente der Desorientierung nicht nur auf intellektueller Ebene eine Erfahrung der Unordnung beinhalten, sondern auch auf körperlicher.60 Diese körperliche Erfahrung muss nicht zwangsläufig verbunden sein mit Rassismus. Jedoch kann auch Rassismus Effekte der Desorientierung, und damit auch körperliche Reaktionen wie Übelkeit bewirken. Diese Desorientierung verdeutlicht Sara Ahmed anhand eines Zitat Fanons, in dem dieser beschreibt, wie der weiße Blick ihn als Schwarzen Mann in einer Weise trifft, dass sich sein Bewusstsein in Bezug auf seinen eigenen Körper verändert, dass sein Körper umgeben ist von einer Atmosphäre der Unsicherheit. Er verdeutlicht ein implizites, verkörpertes Wissen mit der Beschreibung dessen, was er tun würde, wenn er rauchen wollen würde, wie er seinen Arm mehr oder weniger automatisch zu der entsprechenden Schublade seines Schreibtischs strecken würde, in der sich die Zigaretten befinden.61 Genau hier setzt Ahmed an, um ihre Überlegungen zu Orientierung zu vertiefen. Der Moment, in dem Fanon weiß, wo die Zigaretten sind, ein Objekt, zu dem er sich orientiert, ist ein Moment des Zuhause-Seins. Für sie ist es, als beschreibe Fanon einen Körper, bevor er durch den weißen Blick rassifiziert und objektifiziert wird. Eine solche Orientierung wird jedoch durch Rassismus verunmöglicht: »For Fanon, racism ›stops‹ black bodies inhabiting space by extending through objects and others; the familiarity of the ›white world‹, as a world we know implicitly, ›disorients‹ black bodies such that they cease to know where to find things—reduced as they are to things

217 62

Sara Ahmed, 2006, S. 111.

63

José Esteban Muñoz, 2009, S. 99.

64

Ebd.

65

José Esteban Muñoz, 2009, siehe insbesondere S. 91. Im Folgenden verwende ich diesen Begriff immer mit Bezug auf Muñoz.

66

Ebd. S. 91. Er bezieht sich hier auf: Lee Edelman: No Future. Queer Theory and the Death Drive, Durham, London: Duke University Press 2004.

Künstlerische Strategien der Disidentifikation, des Überlebens und des Un-Archiving

among things. [...] The disorientation affected by racism diminishes capacities for action.«62 Dieser Effekt von Rassismus und Desorientierung, BIPoC die Fähigkeit für Aktion und Handlung zu reduzieren, erfordert immer wieder neue Strategien, um handlungsfähig zu bleiben oder es zu werden. Sicherlich ist hier die Verbindung zu Performance als Kunstform, deren Medium Aktion ist statt Materie, bedeutsam. Piper findet performative Gesten, mit denen sich Erfahrungen, Zustände und Gefühle transportieren lassen, die von anderen geteilt werden und die möglicherweise dabei helfen können, Dinge (wieder) zu finden, sich zu (re-)orientieren. Ihre Performance kann so über den Moment der Aufführung hinauswirken.

PERFORMING FUTURITY In der Kunstwissenschaft und den Performance Studies wird Performance in der Regel als Kunstform charakterisiert, die sich durch ihre Flüchtigkeit und Vergänglichkeit auszeichnet. José Esteban Muñoz dagegen schreibt, dass eine gute Performance nicht einfach vorbei sei, sondern Spuren hinterlasse: »What is left? What remains? Ephemera remain. They are absent and they are present, disrupting a predictable metaphysics of presence. The actual act is only a stage in the game; it is a moment, pure and simple. […] It is something like a trace or potential that exists or lingers after a performance. At performance’s end, if it is situated historically and materially, it is never just the duration of the event. Reading for potentiality is scouting for a ›not here‹ or ›not now‹ in the performance that suggests a futurity.«63 Diese Idee des »something […] that lingers after a performance«64 interessiert mich für die Beziehung zwischen Sunanda Mesquita und Adrian Piper bzw. ihrer Kunst. In dem, was bleibt, auch nachdem die Performance bereits zu Ende ist, gibt es ein Potenzial für Zukunft. Muñoz untersucht in seinem Buch Cruising Utopia Performances, Kunst, kulturelle Produktionen im weitesten Sinn auf eine Potenzialität hinsichtlich Queerer Utopie und »Queer Futurity«65. Sein Verständnis von queerer Zukunft ist motiviert von queeren Kritiken an »reproductive futurism«66, also queeren Kritiken an heteronormativen Zeitlichkeiten, in denen ein gutes Leben im Hier-und-Jetzt weniger bedeutsam ist, als dass von Kindern, die es einmal besser haben sollen. Lee Edelman kommt,

218

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

67

Vgl. José Esteban Muñoz, 2009, S. 91.

68

Ebd. S. 92.

69

Der Begriff ist, wie bereits erwähnt, in beiden Büchern von Muñoz zentral. Den Begriff verwende ich im Folgenden immer mit Bezug auf Muñoz.

grob zusammengefasst, zu dem Schluss, dass eine solche Zukunft nichts für Queers sei und dass deswegen die Gegenwart eine größere Bedeutung haben sollte.67 Während Muñoz diese Kritik teilt, zieht er daraus andere Konsequenzen als Lee Edelman, indem er erklärt, dass er sich weigere »to give up on concepts such as politics, hope, and a future that is not kids stuff«68. Sein durch Afrofuturismus inspiriertes Argument ist, dass für viele Queers, insbesondere QTIBIPoC, der Status Quo und das Hier-und-Jetzt einfach nicht genug seien und Zukunft deswegen nicht aufgegeben werden könne. In Performances und anderen künstlerischen Arbeiten, die für ihn Queer Worldmaking69, also eine Arbeit an anderen Zuständen und an einer anderen Welt, einer »that should be, that could be and that will be«70 bedeuten, macht er Utopien, Visionen und Materialisierungen von Queer Futurity aus. Queerness ist in Muñoz’ Definition noch nicht da.71 Aber es gab und gibt viele Momente — gerade in der Kunst —, in denen Queerness als Horizont aufblitzt und erahnt werden kann. Queere Utopie ist daher nicht etwas, was in der Zukunft, sozusagen nach der Epoche der Heteronormativität kommt, sondern was sich im Jetzt — und im Nicht-Mehr-Bewussten der Vergangenheit72 — zumindest punktuell und temporär finden lasse. Dabei liegt der Schwerpunkt von Muñoz’ auf der Analyse von Arbeiten aus der Zeit vor den Stonewall-Protesten73, wenngleich durchaus spätere zeitgenössische Positionen analysiert werden. Muñoz sagt an einer Stelle: »[W]e were queer before we were gay«74. Damit ist gemeint, dass es im Vorfeld und im Zug der StonewallProteste eine queere Energie und Potenzialität gegeben habe, die queeren Widerstand überhaupt möglich gemacht hat, jedoch gescheitert sei (nicht zu Queerness geführt hat). Dominant geworden sind schwul-lesbische (Identitäts-)Politiken, die für den Zugang zu problematischen Institutionen wie Ehe und Militär kämpfen, die konservativ sind und Politiken stützen, die auf Kosten von QTIBIPoCs gehen, die transfeindlich, sexarbeitsfeindlich sowie homonationalistisch etc. sind.75 Was ist mit diesen revolutionären Energien passiert, die Stonewall ermöglicht haben? Muñoz sucht nach Spuren (Traces) der queeren Energien und Potenziale, die nicht einfach vorbei sind, sondern sich (wieder-)finden lassen zum Beispiel in Kunst, in Performances, in Erzählungen und in Gesten. Er blickt in die Vergangenheit, um dort queere, utopische Momente zu suchen, denen eine gewisse widerständige Energie und revolutionäre Potenziale innewohnen, die weitergegeben werden und die queere Utopie am Horizont aufschimmern lassen. Es geht darum, in diesen queeren Ausdrucksformen eine andere Welt und Zeit zu erahnen. Muñoz schreibt weiter:

Vgl. José Esteban Muñoz, 1999 und José Esteban Muñoz, 2009. Siehe hierzu auch das Kapitel Queer of Color-Kritik. 70

José Esteban Muñoz, 2009, S. 64.

71

Ebd. S. 1.

72

Den Ausdruck »no-longer-conscious« verwendet Muñoz immer wieder synonym für Vergangenheit. Vgl. José Esteban Muñoz, 2009.

73

Mit den Stonewall-Protesten werden die queeren Proteste im Sommer 1969 in New York bezeichnet, bei denen Widerstand geleistet wurde gegen die häufig stattfindenden homo- und transfeindlichen Razzien in queeren Bars wie dem Stonewall Inn auf der Christopher Street durch die New Yorker Polizei. Die Stonewall Proteste gelten als Initiationsmoment für LGBTund queere Bewegungen. Sie werden jährlich zelebriert in den Pride-, im Street Day-Paraden (CSD). Die zentrale Rolle, die Drag Queens, Schwarze Transfrauen und Transfrauen of Color wie Marsha P. Johnson oder Sylvia Rivera hier gespielt haben, blieb in Darstellungen der Stonewall Proteste in queerer Geschichte, Theorie und Aktivismus trotzdem lange ungewürdigt. Vgl. u.a.: David Carter: Stonewall. The Riots that Sparked the Gay Revolution, New York: St. Martin’s Press 2005 (2004).

74

Vgl. José Esteban Muñoz, 2009.

75

Vgl. ebd. S. 20.

219

Künstlerische Strategien der Disidentifikation, des Überlebens und des Un-Archiving

76

Ebd. S. 98—99.

77

Ebd. S. 71—72.

78

Der Ausdruck kommt sehr oft vor, u.a. hier: José Esteban Muñoz, 2009, S. 26.

79

Dieser Begriff ist ebenfalls ein zentraler Begriff in Cruising Utopia, den Muñoz in Anlehnung an Ernst Bloch entwickelt, siehe u.a. hier: José Esteban Muñoz, 2009, S. 27—28.

»[…] we see that performance is the kernel of a potentiality that is transmitted to audiences and witnesses and that the real force of performance is its ability to generate a modality of knowing and recognition among audiences and groups that facilitates modes of belonging, especially minoritarian belonging.«76

80

Ebd. S. 98—99.

81

Ebd. S. 20.

Im Rahmen ihrer Performance Catalysis IV erschafft Adrian Piper ein Bild von sich selbst mit einem vollgestopften Mund, das fast 40 Jahre später von der Künstlerin Sunanda Mesquita aufgegriffen wird. Die von Piper geschaffene Geste aus den 1970er Jahren berührt Sunanda Mesquita, die sie in ihrer eigenen Kunst aufgreift und zugleich aktualisiert. Es ist eine performative Geste, wie sie von José Muñoz beschrieben wird, wenn er davon spricht, wie über das Publikum und die Erinnerung nach einer Performance bestimmte Energien weiter bestehen. Er schreibt: »And although we cannot simply conserve a person or a performance through documentation, we can perhaps begin to summon up, through the auspices of memory, the acts and gestures that meant so much to us.«77 Diese Akte und Gesten, die uns so viel bedeuten, sind für Muñoz solche, die eine queere Bedeutung transportieren und die auf eine queere Utopie verweisen, die im »not-yet-here«78 oder dem »no-longer-conscious«79 enthalten ist. Das Tuch im Mund von Sunanda Mesquita kann im Anschluss daran verstanden werden als Geste, die ihr etwas bedeutet, eine Geste, die etwas transportiert, was nicht nur auf einer Ebene der Repräsentation signifikant ist, sondern stärker auf einer emotionalen Ebene, im Zusammenhang mit dem Schmerz und der Wut, die von Rassismus ausgelöst werden. Mit Muñoz ist dieser Akt nicht nur ein einfaches Zitat, sondern die Weitergabe einer bestimmten radikalen, revolutionären Energie und einer Potenzialität für Kritik und Utopie eines »kernels of potentiality«80. Die (mittels Fotografie dokumentierte und überlieferte) Performance Pipers transportiert eine Erfahrung, ein Gefühl, eine Kritik, ein Wissen und eine Strategie gegen Rassismus und Sexismus, die heute immer noch (oder wieder) anknüpfungsfähig ist für die künstlerische Auseinandersetzung mit Rassismus, Sexismus, der eigenen Identität und der Situation von Frauen of Color in der Akademia. Mit der Referenz auf Adrian Piper bezieht sich Sunanda Mesquita zugleich auf eine Schwarze feministische Tradition von Kritik und Widerstand. Auf diese Weise holt sie Schwarze Perspektiven aus dem »no-longer conscious«81 und verweist auf die Existenz einer

220

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

82

Vgl. Collective Creativity, 2016; Sandrine Micossé-Aikins / Raju Rage / Rena Onat, 2017 und Dzifa Afonu / Jin Haritaworn / Raju Rage, 2018.

83

Dzifa Afonu / Jin Haritaworn / Raju Rage, 2018, S. 137.

84

Den Begriff Un-Archiving führe ich im nächsten Kapitel QTIBIPoCs und das (Er-)Finden eigener Geschichte(n): Umgang mit den Lücken im Archiv in Aykan Safoğlus Kurzfilm Kırık Beyaz Laleler (Off-White Tulips) (2013) weiter aus.

85

Dieser Begriff aus einem deutschen Feminismus of Color wird im nächsten Kapitel ausführlich erklärt.

(Kunst-)Geschichte Schwarzen Widerstandes und Schwarzer Kritik, die durch Aneignung und Silencing minorisierter Perspektiven immer wieder negiert oder überschrieben wurden. Dies kann mit Raju Rage und Collective Creativity auch als »Un-Archiving«82 oder »Ent-Archivierung«83 von Schwarzer feministischer Kunst verstanden werden.84 Es werden »entfernte Verbindungen«85 zwischen den beiden Künstlerinnen aufgebaut, die räumliche und zeitliche Grenzen überschreiten, zwischen den 1970er Jahren und heute, zwischen Wien und New York, die wiederum Potenziale für Kontakte, Kollektivität, Community und Bewegung zwischen (QTI)BIPoCs, und neue Räume eröffnen.86

Vgl. Ika Hügel / Dagmar Schultz / Ilona Bubeck / May Ayim / Chris Lange / Gülşen Aktaş (Hg.): Entfernte Verbindungen. Rassismus, Antisemitismus, Klassenunterdrückung, Berlin: Orlanda 1993. 86

Eine frühere Version dieser Analyse entstand für einen Vortrag im Rahmen der Veranstaltungsreihe »Dekolonisierung in Kunst und Visueller Kultur«, organisiert von Iris Rajanayagam für xart splitta e.V. in Berlin. Mein Vortrag fand am 16.6.2016 in Verbindung mit der Performance Der Ruf der Berge von Serfiraz Vural statt. Serfiraz Vurals Performancekunst lässt sich ebenfalls verbinden mit Muñoz’ Ansatz, danach zu fragen »what lingers after a performance« (2009, S. 99) und nach revolutionären Energien, die weitergetragen werden, sowie mit Fragen nach verkörpertem Wissen, Trauma und Widerstand. In ihrer Performance geht es um die Positionierung als Kurdin in der Diaspora, sie greift wiederum alltägliche Performances kurdischen Widerstands auf, die sie medial erreichen, etwa über das Internet in Form von YouTube-Videos. Die revolutionären Energien werden weitergegeben, berühren affektiv, lösen komplexe Gefühle aus in Kurd_innen der Diaspora. Serfiraz Vural spürt über Tanz und Gesang diesen Gesten, die etwas bedeuten, im eigenen Körper nach. Sie imitiert Bewegungen und Laute, fragt nach dem eigenen verkörperten Wissen, dem Verbindenden und Trennenden, der Diaspora-Erfahrung.

87

José Esteban Muñoz, 2009, S. 91.

88

Ebd. S. 99.

89

Toi Scott, 2014, S. iii.

»The queer futurity that I am describing is not an end but an opening or horizon. Queer utopia is a modality of critique that speaks through quotidian gestures as laden with potentiality. The queerness of queer futurity, like the blackness of a black radical tradition, is a relational and collective modality of endurance and support.«87 Gerade dieses Potenzial für Verbindungen macht für mich die Stärke von Sunanda Mesquitas Arbeit aus, da sie über ihr Bild Wege aufzeigt, das Teile-und-Herrsche zu überwinden. Kollektivität wird zum Modus gegen Vereinzelung und Silencing und lässt eine andere Welt am Horizont aufscheinen, eine Welt jenseits weißer Normen und der Hetero-Zeit. Als Mitbegründerin des WE DEY x spaces in Wien, einem selbstorganisierten Kunstraum mit dem Ziel, Perspektiven von QTIBIPoC-Künstler_innen sichtbar zu machen, sind Queer Worldmaking, das Ermöglichen von »minoritarian belonging«88 ein wichtiger Teil von Sunanda Mesquitas künstlerischer und aktivistischer Praxis. Auch wenn diese Arbeit aufgrund befristeter Förderungen und knapper Ressourcen nur schwer langfristig von QTIBIPoCs aufrechterhalten werden kann, finden sich darin dennoch »seeds of survival«89. Wie diese Fragen des Überlebens von QTIBIPoC-Künstler_innen und -Wissenschaftler_innen in Verbindung mit Fragen des Archivs und der Suche nach ›eigenen‹ Geschichten verhandelt werden, führe ich im nächsten Kapitel aus.

221 1

Looking for Langston (GB 1989, R: Isaac Julien). Der Film ist inzwischen selbst zu einem wichtigen Dokument Schwarzer queerer Filmgeschichte geworden. Die Nicht-Selbstverständlichkeit selbstbestimmter, empowernder Repräsentationen von und für Schwarze(n) Queers und Queers of Color zeigt sich beispielsweise in der deutschen DVD-Edition des Films im Abdruck eines rassistischen Zitats aus der taz aus dem Jahr 1990, in dem das N-Wort verwendet wird. Das heißt, dass selbst bei einem solchen Film wie Looking For Langston QTIBIPoCs als Rezipient_innen im deutschen Kontext mit Rassismus konfrontiert werden. Vgl. die durch die Salzgeber und Co. Medien GmbH vertriebene deutsche DVD-Edition des Films, Copyright 2006.

2

Für eine Analyse des Films mit spezifischem Fokus auf Queer of ColorPerspektiven siehe das Kapitel »Photographies of Mourning. Melancholia and Ambivalence in Van DerZee, Mapplethorpe and Looking for Langston« in: José Esteban Muñoz, 1999, S. 57—74. Siehe außerdem: Kobena Mercer, 1993.

3

Format »In Conversation With«, Gespräch mit Filmemacher und Teddy Award-Gewinner Isaac Julien bei der Queer Academy. Die Queer Academy ist das jährliche internationale Treffen von Filmemacher_innen und Filmfestival-Organisator_innen bei der Berlinale in Berlin, die im Kontext von schwul-lesbisch-trans* und / oder queeren Themen arbeiten. Sie fand am 13.2.2019 in Berlin in der Nähe des Potsdamer Platzes statt. Die Wahl des Veranstaltungsortes kann als Ausdruck zunehmender Professionalisierung und Institutionalisierung gelesen werden, denn bis vor wenigen Jahren fanden solche Events eher in queeren Community-Spaces statt.

Künstlerische Strategien der Disidentifikation, des Überlebens und des Un-Archiving

(3) QTIBIPoCs und das (Er-)Finden eigener Geschichte(n): Umgang mit den Lücken im Archiv in Aykan Safoğlus Kurzfilm Kırık Beyaz Laleler (Off-White Tulips) (2013) DAS ARCHIV UND DIE SUCHE NACH LANGSTON Im Film Looking For Langston1 verbindet Isaac Julien immer wieder eigene Aufnahmen mit Archivmaterial aus der Zeit der Harlem Renaissance.2 Darin kommen unter anderem Schwarze Künstler_ vor, die aufgrund ihres dandyesken Styles und ihres Auftretens schwul oder queer gelesen werden können. Bei einem Panel der Queer Academy auf der Berlinale 2019 erklärten Isaac Julien und Mark Nash,3 sie seien 1989 davon ausgegangen, sie könnten in Archive gehen und dort relativ einfach altes Film-Material mit Langston Hughes bekommen, um es in Juliens Film zu verwenden. Es war aber, vor allem in Zeiten, in denen Archive noch nicht damit begonnen hatten, ihren Bestand zu digitalisieren, kaum oder gar nicht möglich, solches Material zu finden. Um überhaupt Archivmaterial zu bekommen, habe man stets mit Archivar_innen zusammenarbeiten müssen, da man alleine kein Material sichten durfte. Dass der Zugang zu Archiven für queere Subjekte (und insbesondere für QTIBIPoC, die versuchen, historische Spuren queeren Lebens zu rekonstruieren), ein strukturelles Problem darstellt, verdeutlicht José Esteban Muñoz: »When the historian of queer experience attempts to document a queer past, there is often a gatekeeper, representing a straight present, who will labor to invalidate the

222 4

José Esteban Muñoz, 2009, S. 65.

5

Ebd.

6

José Esteban Muñoz kritisiert in diesem Zusammenhang Arnold Rampersad und die von ihm verfasste Biografie von Langston Hughes, in der er die Möglichkeit der Homosexualität aufgrund mangelnder empirischer Beweise verwerfe. Mit einer solchen Argumentation und dem Verweis auf das Faktische, bleiben Homosexualität und Queerness in der Geschichte oftmals unsichtbar, wie José Esteban Muñoz und andere verdeutlicht haben. Vgl. José Esteban Muñoz, 1999, S. 59. Muñoz bezieht sich hier auf Arnold Rampersad: The Life of Langston Hughes. Volume I & II, New York: Oxford University Press 1988 (1986).

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

historical fact of queer lives — present, past, and future.«4 Ich verstehe Muñoz hier so, dass queere Erfahrungen systematisch abgewertet werden, um eine heteronormativ strukturierte Gegenwart aufrechtzuerhalten. Umgekehrt lässt sich daraus schlussfolgern, dass die Arbeit an queerer Geschichte eine Herausforderung heteronormativer Narrative und Ordnungen in der Gegenwart bedeutet, — und damit über eine ›Korrektur‹ von historischen Auslassungen hinausweisen kann. Die von Isaac Julien beschriebenen Schwierigkeiten bei der Arbeit an seinem Film, können vor diesem Hintergrund verstanden werden als eingebettet in einen größeren Kontext und als exemplarisch für grundlegende Problemstellungen beim Versuch der Rekonstruktion queeren Lebens der Vergangenheit. Der Titel Looking For Langston erschließt sich aus dem Umstand, dass Isaac Julien ohne Erfolg nach historischem Archivmaterial mit Langston Hughes gesucht hatte, ganz anders: Eine Suche nach Langston Hughes, wie sie der Film Looking For Langston unternimmt, kann verstanden werden als Suche nach Schwarzer queerer Repräsentation in der Geschichte, die jedoch durch »gatekeeper«5 und Vertreter_innen einer weißnormativen Hetero-Gegenwart unzugänglich bleiben. So ist eine Suche nach Langston auch Ausdruck eines Schwarzen queeren Begehrens nach historischen Vorbildern und Identifikationsfiguren in der Geschichte und Ausdruck des Zweifels am Narrativ, das suggeriert, diese hätten nicht existiert. Langston Hughes, ein Schwarzer Dichter der Harlem Renaissance, dessen Gedichte immer wieder direkte und indirekte Anspielungen auf homosexuelles Begehren und Homoerotik machen, ist eine wichtige historische Figur für QTIBIPoC, denn seine Kunst ermöglicht Vorstellungen von einer Geschichte und einer Vergangenheit, die Schwarzes queeres Leben und Schwarze queere Subjekte enthält, von einer Vergangenheit, die — im Anschluss an Muñoz —, nicht heterosexuell und nicht weiß ist. Als Dichter, dessen Gedichte bis heute bekannt sind, bildet Langston Hughes einen positiven Bezugspunkt in der Geschichte, in der QTIBIPoCs sonst häufig nur vorkommen als Unterdrückte und als Opfer von Gewalt und Diskriminierung, jedoch selten als Akteur_innen, als Kreative oder Intellektuelle. Sein Werk und seine Person affirmieren und empowern damit QTIBIPoC. Dabei ist die Homosexualität von Langston Hughes umstritten, da es von ihm keine Selbstaussagen zu seiner sexuellen Identität gibt.6 Dies verdeutlicht ein Problem queerer Forschung im Umgang mit Geschichte, nämlich die Frage danach, wie Gender und Sexualität von historischen Personen aus heutiger Perspektive benannt werden können, wenn (Selbst-)Bezeichnungen von Queers nicht überliefert sind oder

223 7

Vgl. Mathias Danbolt: »Touching History: Archival Relations in Queer Art and Theory«, in: Mathias Danbolt / Jane Rowley / Louise Wolthers (Hg.), Lost and Found. Queerying the Archive, Kopenhagen: Nikolaj Copenhagen Contemporary Art Center 2009, S. 27—45, hier S. 34.

8

Mit Queer Readings meine ich hier recht allgemein Lektüren von unterschiedlichen Texten in einer queer-theoretischen oder queer-identifizierten Perspektive. Eine solche Perspektive, ein Lesen-gegen-den-Strich ermöglicht das Auffinden von Spuren von Queerness, die sich nicht offensichtlich erschließen oder in einer (hetero-)normativen Lesart ›übersehen‹ werden und damit unsichtbar bleiben. Es ist ein Lesen mit einer Haltung, die Queerness erwartet, eine, wie Muñoz im Anschluss an eine Korrespondenz mit der Literaturwissenschaftlerin Katie Kent beschreibt als eine, »die sensibilisiert ist für die unterschiedlichen Arten und Weisen, durch die, über kleine Gesten, bestimmte Intonationen und andere ephemere Spuren, queere Energien und queeres Leben offengelegt werden.« José Esteban Muñoz, 2009, S. 72, eigene Übersetzung. Siehe hierzu auch weiter unten die Bezugnahmen auf José Esteban Muñoz und seine Diskussion von Ephemera. Mit dem Begriff des Queer Reading arbeiten auch: Anna Babka / Meri Disoski / Susanne Hochreiter (Hg.): Queer Reading in den Philologien. Modelle und Anwendungen, Göttingen: V&R unipress 2008. Weitere Verwendungen des Begriffes des Lesens bzw. Reading oder Lektüre speziell in queer-theoretischer Perspektive finden sich bei Eve Kosofsky Sedgwick und ihren Paranoid Readings bzw. Reparative Readings vgl. Eve Kosofsky Sedgwick, 2014, sowie bei Josch Hoenes und seinem methodischen Ansatz der teilnehmenden Lektüre. Vgl. Josch Hoenes, 2014, darin S. 123—155.

9

Mathias Danbolt theoretisiert das Spekulieren als queeren Zugang zu Archiv und Geschichte unter dem Begriff Speculating. Vgl. Mathias Danbolt, 2009.

10

Siehe auch Susan Arndt / Nadja Ofuatey-Alazard (Hg.), 2011.

11

Zum Evidenz-Charakter der Fotografie vgl. Tom Holert: »Evidenz-Effekte. Überzeugungsarbeit in der visuellen Kultur der Gegenwart«, in: Matthias Bickenbach / Axel Fliethmann (Hg.), Korrespondenzen. Visuelle Kulturen zwischen Früher Neuzeit und Gegenwart, Köln: DuMont 2002, S. 198—225.

Künstlerische Strategien der Disidentifikation, des Überlebens und des Un-Archiving

sich historisch verändert haben. Welche Kategorisierungen und Definitionen nehmen wir als queere Wissenschaftler_innen vor, um Formen von Queerness in der Geschichte sichtbar zu machen, wenn aus queerer Perspektive doch grundsätzlich Fixierungen und Kategorisierungen von Identitäten kritisch zu sehen sind?7 Das Begehren nach einer eigenen Geschichte und der Umstand, dass diese Geschichte erst ausgegraben und gefunden werden muss, dass QTIBIPoCs sich oft selbst auf die Suche nach Spuren von vorherigen Generationen und ihren Kämpfen, ihrer Kultur und ihrem Vermächtnis machen müssen, zeugt von der klaffenden Lücke, die diese Geschichten oder das Wissen um sie darstellt. Wenn es Spuren queeren Lebens im Archiv gab / gibt, dann oft nur, weil diese durch Queer Readings,8 durch queere Perspektiven auf das Material und durch queere Praktiken des Decodierens queerer Codes und des Spekulierens9 erkennbar werden. Selbst die bestehenden Archive, die Wissen und Material enthalten könnten, sind oft nicht zugänglich für Communitys und Subjekte, die ein Interesse daran haben und als Betroffene von rassistischer und / oder heterosexistischer und transfeindlicher Gewalt sowie von struktureller Diskriminierung einen besonderen Bedarf haben an historischen Vorbildern, an alternativen Geschichten, an (positiven) (Selbst-)Verortungen in der Geschichte und an Geschichte als Ressource für Empowerment und Subjektivierung. Wie kann dann archiviertes Wissen (wieder) zugänglich werden? Das Fehlen bzw. die Unzugänglichkeit von historischem Filmmaterial und anderen Dokumenten im Archiv, die die Geschichte(n) von QTIBIPoCs dokumentieren, für die Realisation von Filmen wie Looking For Langston wirft auch Fragen auf nach Medialität beim Schreiben von Geschichte.10 Beispielsweise werden den Medien Film und Fotografie, bzw. der indexikalischen Fotografie und dokumentarischen Filmaufnahmen in besonderem Maße das Potenzial zugeschrieben, eine historische Beweiskraft11 zu haben und Geschichte dokumentieren und wiedergeben zu können. Eines der wichtigsten Speichermedien ist immer noch das beschriebene oder bedruckte Papier, wobei es besonders offizielle Dokumente von staatlichen Institutionen sind, die als historisch glaubwürdige Quellen archiviert werden. Es stellt sich somit nicht nur die Frage danach, ob es Material gibt, das Hinweise auf unterschiedliche minorisierte Geschichten enthält, sondern auch danach, in welchen Medien Spuren von Geschichte(n) vorliegen, um als relevant — respektive: glaubwürdig — eingestuft zu werden? Geschichte(n) von QTIBIPoCs wurde(n) entweder überhaupt nicht dokumentiert, oder es fehlen historische Dokumente, weil sie im Zug rassistischer, antisemitischer,

224

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

12

Siehe das Kapitel »Gesture, Ephemera, and Queer Feeling. Approaching Kevin Aviance« in: José Esteban Muñoz, 2009, S. 65—81.

13

In einer ähnlichen Perspektive untersucht Marc Siegel in seiner PhD-Thesis die Bedeutung von Gossip, also Klatsch, für eine queere Gegenöffentlichkeit. Zwar verfolgt die Arbeit keine explizit historische oder archivtheoretisch motivierte Fragestellung, sondern eine filmwissenschaftliche, dennoch gibt es Parallelen in Bezug auf die Aufwertung des Nicht-Faktischen.

heterosexistischer und / oder anderen Formen struktureller Gewalt oder tatsächlich aufgrund staatlicher Gewalt, in Diktaturen oder im Zuge von Regimewechseln zerstört wurden oder verloren gingen. Dieses Fehlen von ›offiziellen‹ Dokumenten und das Fehlen von Dokumenten insgesamt erfordert demnach die Suche nach Methoden und Strategien, um minorisierte Geschichte(n) — oder wenigstens bestimmte Teile von Geschichte — aufzuarbeiten und zu rekonstruieren. Hierbei stellt sich auch die Frage, in welchem Material und in welchen Medien sich Geschichten (wieder-)finden lassen? José Esteban Muñoz argumentiert, dass Queers ihre Queerness, Identität, Sexualität und ihr Begehren oft codiert kommuniziert haben, über Erkennungszeichen, die nicht von der Mehrheitsgesellschaft verstanden wurden / werden, über Gesten, Blicke, über Camp-Ästhetik, über eigene Räume, eigene Sprachen und Begriffe, über Flyer und Aufkleber und andere Ephemera.12 Für die Rekonstruktion queerer Geschichte(n) sind aus einer queeren oder queer-theoretischen Perspektive diese ephemeren oder flüchtigen Medien sehr viel aussagekräftiger und enthalten viel mehr und wichtigere Informationen,13 als die Quellenlage in offiziellen Archiven hergibt, in denen sich Spuren queeren Lebens oft nur in Kriminal- oder Krankenregistern finden lassen, die somit vor allem den Aspekt von Stigmatisierung, Pathologisierung und Kriminalisierung von Queerness, Homosexualität, Transgeschlechtlichkeit und / oder Intergeschlechtlichkeit wiedergeben sowie degradierende Repräsentationen enthalten.14 Der Umstand, dass viele Queers ihre Sexualität nicht offen leben konnten sowie die gesellschaftliche NichtAnerkennung von Homosexualität, Queerness, Intergeschlechtlichkeit oder von trans* Personen führen zu Unsichtbarkeit und Leerstellen in der Geschichte. Das bedeutet, dass Leerstellen im Archiv nicht nur bestehen, weil keine Dokumente zu queerem Leben gesammelt wurden oder Dokumente verloren gegangen sind oder zerstört wurden, sondern weil es für bestimmte minorisierte Subjekte mitunter schwer oder gar unmöglich war, zu deutliche Spuren zu hinterlassen (insbesondere dann, wenn die eigenen Aktivitäten oder das eigene Leben kriminalisiert, illegalisiert oder gesellschaftlich stigmatisiert waren). Zudem bestehen Leerstellen, weil Ephemera und solche Medien, deren historische Relevanz aus einer normativen Perspektive fragwürdig erscheint oder die sich aus praktischen Gründen nur schwer sammeln und archivieren lassen (wie die Einrichtung alter Gaybars), oftmals, wenn überhaupt, nur in privaten oder alternativen Archiven aufbewahrt werden.15 Aus diesen und anderen Gründen betonen queere Theoretiker_innen die Notwendigkeit eines Queerens des Archivs.16

Vgl. Marc H. Siegel: A Gossip of Images. Hollywood Star Images and Queer Counterpublics. PhD-Thesis, Los Angeles 2010. 14

Vgl. Mathias Danbolt, 2009.

15

Vgl. Katrin Köppert: »Queere Archive des Ephemeren. Raum, Gefühl: Unbestimmtheit«, in: sub \ urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 3 (2), 2015, S. 67—90.

16

Vgl. Mathias Danbolt, 2009; für queertheoretische Auseinandersetzungen mit Fragen des Archivs siehe u.a. Harry M. Benshoff / Sean Griffin (Hg.): Queer Cinema. The Film Reader, London, New York: Routledge 2004; Jack Halberstam, 2005; Deborah Bright (Hg.), 1998; Paul Sendziuk / Roger Hallas / Jim Hubbard / Debra Levine: »Moving Pictures: AIDS on Film and Video«, in: GLQ: A Journal of Lesbian and Gay Studies 16 (3), 2010, S. 429—449; Frank Wagner (Hg.), 2006, sowie Alana Kumbier (Hg.): Ephemeral Material. Queering the Archive, Sacramento: Litwin Books 2014.

225 17

Beispielsweise in Amelia Jones (Hg.), 2010 sowie in Anita Moser: Die Kunst der Grenzüberschreitung. Postkoloniale Kritik im Spannungsfeld von Ästhetik und Politik, Bielefeld: transcript 2011.

18

Michel Foucault 2013 (1961), S. 188.

19

Knut Ebeling bezieht sich hier auf Wolfgang Ernst: Das Rumoren der Archive, Berlin: Merve Verlag 2002, S. 39 und S. 92.

20

Knut Ebeling: »Archiv«, in: Clemens Kammler / Rolf Parr / Ulrich Johannes Schneider / Elke Reinhardt-Becker (Hg.), Foucault Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart: J.B. Metzler 2008, S. 221—222, hier S. 221.

21

Michel Foucault 2013 (1961), S. 188.

22

Zum Begriff des kollektiven Gedächtnisses siehe Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt am Main: Fischer 1996 (1950). Siehe außerdem Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, Bonn: Bpb, Bundeszentrale für Politische Bildung 2007, kritisch zum Begriff des kollektiven Gedächtnisses siehe Susan Sontag: Regarding the Pain of Others, New York: Picador 2003, S. 85—86.

Künstlerische Strategien der Disidentifikation, des Überlebens und des Un-Archiving

Der Begriff des Archivs Der Begriff des Archivs meint dabei nicht nur den Speicher und die Sammlung von Dokumenten und damit verbundene Fragen der Auswahl, der Bewahrung von Wissen, etc. sondern ist darüber hinaus ein theoretischer Begriff durch den u.a. die poststrukturalistischen Theoretiker Jacques Derrida und Michel Foucault Fragen nach den Zusammenhängen von Wissen und Macht sowie Ordnungen des Wissens aufgeworfen haben, die vielfach aufgegriffen worden ist.17 So ist bei Foucault das Archiv das »System der Formation und Transformation der Aussage«18. Sein Archivbegriff muss im Zusammenhang mit seinen weiteren Ausführungen zu Macht und Diskurs verstanden werden. An dieser Stelle interessiert jedoch weniger, was der Diskurs macht, oder wer innerhalb eines Diskurses sprechen kann, sondern Aussagesysteme und die Gesetze und spezifischen Regelmäßigkeiten, die das Erscheinen von Aussagen bedingen. In seiner Zusammenfassung von Foucaults Archivbegriffs beschreibt Knut Ebeling unter Bezugnahme auf Wolfgang Ernst19, dass es eine der Leistungen von Foucault sei, durch eine »Wendung von der Aufbewahrung zur Produktion des Wissens [...] dem Archiv seine dokumentarische Passivität und konservierende Unschuld«20 genommen zu haben. In dieser Aussage scheinen sich der Archivbegriff, wie ihn Foucault in Archäologie des Wissens definiert, und das Archiv als Speicher von Dokumenten zu vermischen. Dennoch ist genau dieser Aspekt bedeutsam für queer-theoretische, postkoloniale und andere kritische Perspektiven auf Geschichtsschreibung, Erinnerung und Archive. Denn Archive — auch als Speicher oder Sammlungsorte — sind nicht einfach neutrale oder objektive Instanzen, sondern durchzogen von Macht. Sie wirken auf performative Weise an der Herstellung und Tradierung von Wissen und Geschichte mit. Welches Wissen und wessen Wissen wird überliefert bzw. welches Wissen wird als erinnernswert erachtet? Welches Wissen verschwindet, indem es nicht archiviert, nicht restauriert oder sogar nachträglich entfernt bzw. zerstört wird? Archive wirken sich in dieser Weise auch auf das Archiv als Gesetz der »Formation und Transformation der Aussage«21 aus, denn wenn Dinge im »kollektiven Gedächtnis«22 nicht vorkommen oder daraus verschwinden, dann sind sie nicht (mehr) sagbar. Umgekehrt landen Dinge, die nicht sagbar sind, weil es für sie keine Sprache gibt, nicht im Archiv. Toi Scott betont die Bedeutung von Kunst für das Sammeln und Bewahren der Geschichten von Queers und Trans* of Color: »Gathering and sharing our stories — expressing our voices through art — is and has always been necessary for queer and trans people of color’s survival. Since the

226 23

Toi Scott, 2014, S. i.

24

Allgemeiner zum »Archival Impulse« in der Kunst vgl. Hal Foster: »An Archival Impulse«, in: October (110), 2004, S. 3—22; auch queere Theoretiker_innen erwähnen die Rolle von (queeren) Künstler_innen als Archivar_innen, vgl. u.a. Ann Cvetkovich: »Photographing Objects: Art as Queer Archival Practice«, in: Mathias Danbolt / Jane Rowley / Louise Wolthers (Hg.), Lost and Found. Queerying the Archive [anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im Nikolaj, Kopenhagen, 29.5.—2.6.2009], Kopenhagen: Nikolaj Copenhagen Contemporary Art Center 2009, S. 49—65.

25

Vgl. Thomas Weitin / Burkhardt Wolf (Hg.): Gewalt der Archive. Studien zur Kulturgeschichte der Wissensspeicherung, Paderborn: Konstanz University Press 2012.

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

cultural theft that took place during colonization and slavery, people of color had the immense task of resisting invisibility, assimilation, and erasure. This is particularly true for queer and trans people of color because violently eliminating gender and sexual diversity was an integral part of the colonization process in many countries.«23 Toi Scott verbindet mehrere Themenkomplexe, die wichtige Impulse für ein Nachdenken über Potenziale von künstlerischen Produktionen von QTIBIPoC-Künstler_innen geben und die Relevanz von Fragen des Archivs und nach Geschichte im Zusammenhang mit einer Queer of Color-Kritik verdeutlichen. Es wird darauf hingewiesen, dass historische Formen von rassistischer Gewalt wie Kolonialismus und Versklavung mit Auslöschung, Unsichtbarmachung, Zwang zu Assimilation und dem Diebstahl von Kulturgütern einherging, wodurch die eigenen Geschichte(n) von Indigenous Menschen, Schwarzen Menschen und Menschen of Color, insbesondere die aus vor-kolonialen Zeiten, nicht über Generationen hinweg weitergegeben und tradiert werden konnten. Toi Scott verdeutlicht die Notwendigkeit eines Zusammendenkens von queeren und postkolonialen Fragestellungen, indem daran erinnert wird, dass im Zuge des Kolonialismus gerade geschlechtliche Vielfalt und eine Vielfalt an Begehrensformen, die es in vor-kolonialen Zeiten in unterschiedlichen indigenen Gesellschaften gab und teilweise weiterhin gibt, nahezu eliminiert wurde. Der Zugang zur ›eigenen‹ Geschichte ist für QTIBIPoCs somit schwierig und sicher keine Selbstverständlichkeit. Toi Scott verdeutlicht, dass QTIBIPoCs die Arbeit machen, (eigene) Geschichten zu sammeln und zu teilen, also aktiv daran arbeiten, Geschichte(n) von und aus QTIBIPoC-Perspektiven zu schreiben und zu erzählen. Kunst ist hier für Toi Scott ein Mittel zum Selbstausdruck, mit dem QTIBIPoCs sich eine Stimme verschaffen und eine Überlebensstrategie.24 Queer of Color-Kritik und Fragen des Archivs als Analyseperspektive Im Folgenden diskutiere ich, ausgehend von queerer und postkolonialer Kritik an hegemonialer Geschichtsschreibung und der Kritik an der Gewalt von Archiven,25 künstlerische Arbeiten, die sich mit vergessenen oder überschriebenen Geschichten beschäftigen, nach Spuren queeren Lebens von People of Color und Schwarzen Menschen in der Geschichte forschen und dabei nach alternativen Archiven und künstlerischen Formen der Geschichtserzählung suchen. Wie gehen QTIBIPoC Künstler_innen mit Lücken im Archiv um? Wie sieht ein künstlerischer Zugang der (Re-)Konstruktion ›eigener‹

227 26

José Esteban Muñoz, 2009, u.a. auf S. 27.

27

Dzifa Afonu / Jin Haritaworn / Raju Rage, 2018, S. 137. Auf den Begriff Ent-Archivierung bzw. Un-Archiving.

28

Der Künstler Aykan Safoğlu wurde 1984 in İstanbul geboren. Nach seinem Film-Studium an der İstanbul Bilgi Universität absolvierte er 2010 den Master Kunst im Kontext an der Universität der Künste in Berlin. In New York am Bard College schloss er 2013 den MFA Photography ab. Dort studierte Aykan Safoğlu u.a. bei Zoe Leonard. Aykan Safoğlu arbeitet mit Film und Fotografie, aber auch als Schriftsteller. Darüber hinaus ist er auch kuratorisch tätig. Mit seinem Kurzfilm Kırık Beyaz Laleler (Off-White Tulips) gewann er 2013 den Großen Preis der Stadt Oberhausen bei den 59. Internationalen Kurzfilmtagen. 2014 erhielt Aykan Safoğlu eine Künstlerresidenz der Rijksakademie van beeldende kunsten in Amsterdam. 2016 hatte Aykan Safoğlu eine weitere Residenz bei Ashkal Alwan in Beirut und von 2017—2019 war er Fellow an der Akademie Schloss Solitude in Stuttgart. Er ist Mitglied des kuratorischen Kollektivs ğ (weiches g). Gemeinsam mit Emre Busse hat er die Ausstellung, ğ — queere Formen migrieren, die 2017 im Schwulen Museum* in Berlin zu sehen war, kuratiert. 2020 ist er bei der 11. Berlin Biennale vertreten. Zurzeit lebt und arbeitet er in Wien und İstanbul. Vgl. http://kunstaspekte.art/person/ aykan-Safoğlu, vom 24.7.2019; https://artreview.com/features/ jan_feb_2019_future_greats_aykan_ Safoğlu/, vom 24.7.2019 https://www.schwulesmuseum.de/ausstellung/g-queere-formen-migrieren/, vom 24.7.2019.

29

Sedat Pakay (Hg.): James Baldwin in Turkey. Bearing Witness from Another Place, Seattle: Northwest African American Museum; Distributed by the University of Washington Press 2012.

30

James Baldwin: Bearing Witness From Another Place (USA 1973, R: Sedat Pakay).

Künstlerische Strategien der Disidentifikation, des Überlebens und des Un-Archiving

Geschichte aus — und wie werden Sexualität und Rassismuserfahrungen darin verhandelt? Mit welchen Methoden, mit welchen Objekten lassen sich die Geschichte(n) von QTIBIPoCs und anderen minorisierten Subjekten erzählen und ›vergessene‹ Perspektiven wieder erinnern und somit aus dem »no-longerconscious«26 hervorholen und »ent-archivieren«27? Welche künstlerischen, ästhetischen oder kreativen Strategien im Umgang mit Archiven, Archivmaterial und Geschichte(n) kommen dabei zum Einsatz und wie können diese ein Nachdenken über Fragen des Archivs an den Schnittstellen von queerer Theorie, postkolonialer Theorie, Kunst- und Medienwissenschaft sowie visueller Kulturwissenschaft inspirieren? Ich verfolge dabei zwei Hauptthesen. Erstens gehe ich davon aus, dass Fragen des Archivs, der Erinnerung und der Möglichkeiten des Erzählens marginalisierter Geschichte(n) in Verbindung mit Queer of Color-Kritik einen nützlichen Analyserahmen darstellen für Gegendiskurse, (Re-)Konstruktionen von Vergessenem oder Entinnertem und alternative Geschichte(n), die innerhalb von künstlerischen Arbeiten von QTIBIPoCs hervorgebracht werden. Zweitens liegt es nahe, dass sich in den künstlerischen Arbeiten interessante Ansätze zu und möglicherweise auch Antworten auf theoretische und methodische Fragestellungen an den Schnittstellen von Archiv, queerer Theorie, postkolonialer Theorie, Kunst und Visueller Kultur, Medienwissenschaft und Affekt finden lassen, gerade aufgrund der Tatsache, dass QTIBIPoC-Künstler_innen, vor allem dann, wenn sie sich mit ›vergessenen‹ Geschichten oder minorisierten Perspektiven auseinandersetzen, einen kreativen Umgang mit Lücken im Archiv und einen sensiblen Umgang mit minorisierten Subjekten finden müssen. Wie sieht dieser Umgang konkret aus?

ANALYSEGEGENSTAND UND VORGEHEN Der Hauptgegenstand der Analyse ist in diesem Kapitel die Arbeit Kırık Beyaz Laleler (Off-White Tulips) (2013) des Berliner Künstlers Aykan Safoğlu.28 Der ca. 25-minütige Kurzfilm handelt von James Baldwin und dem wenig bekannten Umstand, dass dieser zwischen 1961 und 1971 mit einigen Unterbrechungen in İstanbul lebte. Visuell basiert die Arbeit größtenteils auf Aufnahmen des Fotografen Sedat Pakay,29 der mit James Baldwin befreundet war, ihn häufig fotografierte und auch einen kurzen Dokumentarfilm mit ihm gedreht hat.30 Diese Fotos werden manuell von zwei Händen (denen von Aykan Safoğlu) nach und nach auf einen Tisch gelegt, der von oben abgefilmt wird. Der Künstler selbst hat dieses Vorgehen als TabletopPerformance beschrieben, also eine Performance auf einer

228

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

31

Telefonat mit Aykan Safoğlu am 5.10.2016.

32

James Baldwin hat sowohl Männer als auch Frauen begehrt, was er in seinen Romanen und anderen Büchern immer wieder zum Thema macht. Dennoch ist es problematisch, Bezeichnung wie bisexuell, schwul oder queer für ihn zu verwenden, da sich Selbstbezeichnungen mit der Zeit verändern und z.B. queer aus heutiger Perspektive sicherlich am passendsten ist, weil es Spielräume offenlässt, jedoch erst später angeeignet und umgedeutet wurde. Ähnlich wie bereits in Bezug auf Langston Hughes dargestellt, ergibt sich die Problematik von Bezeichnungspraxen im Kontext queerer Geschichtsschreibung.

33

I Am Not Your Negro, (Regie: Raoul Peck, F / US / CHE / B 2016).

Tischoberfläche.31 Interessanterweise ist die Suche nach Baldwin eine Suche in Fotos und Objekten und nicht etwa direkt im İstanbuler Stadtraum. Die Erzählung von James Baldwins Zeit in İstanbul wird von Aykan Safoğlu mit seiner eigenen Biografie, türkischer Geschichte und türkischer Populärkultur verwoben. Der berühmte queere32 afro-amerikanische Schriftsteller James Baldwin ist mit seinen Essays und Romanen, in denen er unter anderem den Rassismus der US-amerikanischen Gesellschaft kritisiert, über homosexuelles Begehren schreibt und Verhältnisse von ›Rasse‹, Sexualität, Klasse und Geschlecht reflektiert, eine wichtige Figur für Schwarzen Aktivismus und QTIBIPoCs weltweit. Während James Baldwin in den USA bereits zu Lebzeiten sehr berühmt war, ist er in Europa — zumindest in Deutschland — weniger bekannt. (2016 hat der international erfolgreiche Dokumentarfilm I Am Not Your Negro von Raoul Peck33 James Baldwins Werk und dessen Bedeutung (wieder) bekannt gemacht). Auch der Umstand, dass James Baldwin überhaupt in İstanbul gelebt hat, war lange Zeit kaum bekannt. Dieser Zeitraum im Leben Baldwins wurde erst 2009 von Magdalena Zaborowska erstmals wissenschaftlich bearbeitet.34 In diesem Sinn ist der Kurzfilm von Aykan Safoğlu ein Beitrag zu einer Auseinandersetzung mit James Baldwin und seinem Werk. Durch den offensiv subjektiven Zugang des Künstlers wird eine explizit queere und türkische Perspektive auf James Baldwin geworfen. Was hat es für Baldwin bedeutet, in İstanbul zu leben? Was für Spuren hat Baldwin hinterlassen? Was bedeutet James Baldwin für QTIBIPoCs heute? Warum setzt sich Aykan Safoğlu als schwuler türkischer Künstler gerade mit diesem Schwarzen US-amerikanischen Bürgerrechtsaktivisten und Schriftsteller auseinander? Ich lese in der Arbeit ein Begehren nach transnationalen und transhistorischen QTIBIPoC-Verbindungen. Im nächsten Teilkapitel gebe ich eine ausführliche Darstellung der Arbeit Kırık Beyaz Laleler. Eine einfache Beschreibung des Kurzfilms als erster Analyseschritt ist kein leichtes Unterfangen. Die Narration ist nicht linear, sondern eher rhizomartig strukturiert. Der Erzählstil ist poetisch, scheinbar abschweifend, statt sachlich-erklärend gehalten, wie es von einer Arbeit über eine reale Person in ihrer historischen Perspektive vielleicht zu erwarten wäre. Bereits hier verschwimmen Genregrenzen und Grenzen zwischen Realität und Fiktion. Komplexe politische und theoretische Themen werden aufgeworfen, vor allem durch Anspielungen und Referenzen, jedoch häufig nicht weiter ausgeführt. Ein tiefergehendes Verständnis dessen, worüber in der Arbeit gesprochen wird, erfordert daher umfangreiche Hintergrundinformationen und Kontextwissen, beispielsweise in der Sequenz, in der ein Dinner Baldwins bei Elijah Mohammed erwähnt wird, ließe sich sehr ausführlich

Der Dokumentarfilm von Raoul Peck basiert auf dem unvollendeten Manuskript von Baldwins letztem Buch mit dem Titel Remember This House, in dem er über die Ermordung der Bürgerrechtsaktivisten Malcolm X, Martin Luther King Jr. und Medgar Evers schrieb. Der Film transferiert den Inhalt des Buches jedoch in die USA der Gegenwart. 34

Magdalena J. Zaborowska: James Baldwin’s Turkish Decade. Erotics of Exile, Durham, London: Duke University Press 2009.

229 35

James Baldwin: The Fire Next Time, London [u. a.]: Penguin 1964.

36

Cana Bilir-Meier / Madeleine Bernstorff: »Off-White Tulips (Kırık Beyaz Laleler) A Short Film by Aykan Safoğlu (2013)«, in: Hans Scheirl / Christiane Erharter / Ruby Sircar / Dietmar Schwärzler (Hg.), Pink Labor on Golden Streets — Queer Art Practices, Berlin: Sternberg Press 2015, S. 196—205.

Künstlerische Strategien der Disidentifikation, des Überlebens und des Un-Archiving

darstellen, wer Elijah Mohammed war, wie Baldwin selbst über diese Begegnung in seinem Buch The Fire Next Time35 schrieb — und es ließen sich auch weitere Linien verfolgen. Ein solches Verfolgen der Referenzen birgt die Gefahr des Verlustes eines Gesamteindrucks. Dies gilt ebenso für die visuelle Ebene und die Mikroebene einzelner Sequenzen und Bildausschnitte. Die Handlungsträger des Films sind nicht etwa reale Personen oder Schauspieler_innen, sondern Fotografien, andere Bilder und Gegenstände, die jeweils für sich sowie im Kontext der Arbeit Bedeutungen entfalten und deren jeweils spezifische Interaktion mit dem erzählten Text eigentlich eine ganze Reihe an einzelnen und sehr detaillierten Teilanalysen inspirieren könnte. Denn durch die Art und Weise, wie die Bilder vor die Kamera gelegt, angeordnet und vor ihr verschoben werden, mal als Bilderstapel, mal wie ein Blättern in einem Fotoalbum, mal wie Collagen, entstehen beständig Bedeutungsverschiebungen. Cana BilirMeier und Madeleine Bernstorff finden einen kreativen Umgang mit dieser Problematik in einem Artikel über die Arbeit für den Sammelband Pink Labor on Golden Streets.36 Statt die Arbeit in einem zusammenhängenden Text zu beschreiben, legen sie ein Glossar an, in dem Namen, Objekte, Orte, Daten und Begriffe, die im Film eine Rolle spielen, erklärt werden. Sie wählen damit eine fragmentarische Textform. Dieses Glossar bricht zugleich aus den Konventionen der Textform des Glossars aus, indem es sich nicht an eine alphabetische Ordnung oder anderweitig systematische Reihenfolge hält. Wie es auch im Film selbst der Fall ist, werden historische Figuren und ephemere Objekte wie die Postkarte eines blonden Jungen sowie Familienangehörige des Künstlers gleichermaßen aufgelistet. Mein methodisches Vorgehen im folgenden Abschnitt ist eine Verbindung von Filmanalyse und Bildanalyse in einer Art dichter Beschreibung. Ich folge dem Kurzfilm chronologisch bzw. in der Abfolge von Themen, wie sie in der Arbeit angelegt ist. Mir ist es wichtig, neben den inhaltlichen Schwerpunkten der Arbeit auch die künstlerischen Strategien darzustellen, die sich insbesondere im Zusammenwirken von Narration und visuellem Material entfalten und in den Zusammenstellungen, den Verschiebungen, Interaktionen und Manipulationen des visuellen Materials. Durch dieses Zusammenspiel, so will ich verdeutlichen, werden nicht nur verschiedene Themen in komplexen Zusammenhängen aufgeworfen, sondern es entstehen Momente von Medienreflexivität. Fragen um ›Rasse‹, Gender und Sexualität in transnationalen Machtgefügen werden in ihrem medienspezifischen Vermittelt-sein bearbeitet. Es liegt die These nahe, dass im nicht-linearen und im fluiden An- und Umordnen des Materials queere Potenziale enthalten sind. Im Film wird eine Vielzahl von Themen aufgeworfen, die ich nicht alle beleuchten kann, obwohl sie jeweils für sich eine ausführliche Bearbeitung verdienen.

230

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

37

The Watermelon Woman (USA 1996, R: Cheryl Dunye).

38

Vgl. Collective Creativity, 2016; Sandrine Micossé-Aikins / Raju Rage / Rena Onat, 2017 und Dzifa Afonu / Jin Haritaworn / Raju Rage, 2018.

Darunter ist beispielsweise die Verhandlung kultureller Appropriation und der Übernahme kultureller Zeichen aus einem Kontext in einen anderen. Des Weiteren wird der damit einhergehende Verlust oder die Veränderung von Bedeutung angesprochen. Beachtenswert sind außerdem der spezifische Umgang mit Sprache innerhalb der Arbeit, die verschiedenen Familienkonzepte, Verhandlungen von Identität sowie kritische Verhandlungen von Weißsein in transnationaler Perspektive. Mein Fokus in der Analyse liegt auf der Beziehung zwischen James Baldwin und Aykan Safoğlu und auf queeren bzw. Queer of Color / Schwarzen queeren künstlerischen Strategien im Umgang mit Geschichte, Archiv und Leerstellen, sowie auf der Reflexion des Visuellen / Medialen innerhalb der Arbeit. Im letzten Teilkapitel, in dem ich queere Modi im Umgang mit marginalisierten Geschichten herausarbeite, verknüpfe ich Strategien aus der Arbeit Kırık Beyaz Laleler (Off-White Tulips) von Safoğlu mit weiteren Beispielen für künstlerische Strategien im Umgang mit Lücken im Archiv. In Cheryl Dunyes Film The Watermelon Woman37, einem frühen und bedeutsamen Beitrag zu Schwarzer lesbischer Filmgeschichte, in dem der Geschichte einer Schwarzen — und wie sich herausstellt — lesbischen Schauspielerin nachgegangen wird, werden Fragen des Archivs in intersektionaler Perspektive verhandelt. Die explizite Schwarze queere Perspektive in Verbindung mit den Themen des Archivs und der Suche nach der schlecht dokumentierten Geschichte einer Schwarzen queeren Frau in der Vergangenheit, machen den Film interessant, um die im Kurzfilm Kırık Beyaz Laleler gefundenen künstlerischen und konzeptionellen Ansätze in einem größeren Kontext zu betrachten. Auf Looking For Langston komme ich zum Ende hin noch einmal zurück. Das Vorgehen ist dabei nicht das eines Vergleichs — vielmehr dienen die Filme von Dunye und Julien zur vertiefenden Theoretisierung spezifischer Praxen innerhalb des Kurzfilms von Aykan Safoğlu, indem sie sich für die Einführung und Entwicklung weiterer Begriffe produktiv machen lassen. Die Künstler_innen von Collective Creativity beschreiben ihre Suche nach QTIBIPoC-Künstler_innen in der Kunstgeschichte und ihre Auseinandersetzung mit dem British Black Arts Movement als »Un-Archiving«38 — und schaffen damit einen wichtigen Begriff für die Darstellung von Praktiken von QTIBIPoCs im Umgang mit Geschichte und Archiv. Anhand der Verweise soll zudem die Bedeutung von Fragen des Archivs innerhalb Queer of ColorKritik in Kunst und visueller Kultur aufgezeigt werden.

231 39

Vor einigen Jahren kam es in der Türkei zu einem Eklat bei der Casting-Show Popstar Alaturka, als die Sängerin Gülşen Ebru in der Jury einen der Kandidaten, der etwas effeminiert wirkte, als »kırık« bezeichnete. Mit in der Jury saß die berühmte Diva und Transfrau Bülent Ersoy, die sich daraufhin im Fernsehen über dieses Verhalten aufregte und damit Stellung bezog gegen Homophobie. Vgl. Ausschnitt der Sendung: https://www.youtube.com/watch?v=_ c7fRPIGV_I, vom 29.6.2014, das Video ist nicht mehr verfügbar 1.1.2021. Dieser Vorfall ging über die Show hinaus durch die türkischen Medien und wurde von der LGBT-Community gefeiert. Bülent Ersoy wurde auch für einen öffentlichen Kommentar, dass sie, wenn sie Mutter sein könnte und einen Sohn hätte, nicht wollen würde, dass dieser zum Militär geht, von einem Teil der Bevölkerung als unpatriotisch angefeindet, während andere, insbesondere Kurd_innen, diese Aussage als antimilitaristische Äußerung begrüßten. Allerdings zeigt sich Bülent Ersoy in den letzten Jahren immer stärker als Freundin des türkischen Präsidenten Erdoğan, weswegen sich türkische und türkeistämmige Queers mit ihr disidentifizieren. Künstlerisch hat u.a. der Berliner Künstler und Freund von Aykan Safoğlu Ming Wong mehrfach zu Bülent Ersoy gearbeitet. Entstanden ist dabei beispielsweise die Performance und Videoarbeit Biji Diva (Part 1) (2011).

40

Diese Darstellung wird inzwischen jedoch kritisch gesehen, weil sie tatsächlich ein Anfang des 20. Jahrhunderts durch den Historiker und Schriftsteller Ahmet Refik Altınay geschaffenes diskursives Konstrukt ist, das wiederum ebenfalls im historischen Kontext der politischen Diskurse in der Türkei zu der Zeit gesehen werden muss und kontextualisiert werden muss mit türkischem Nationbuilding. Vgl. Can Erimtan: Ottomans Looking West? The Origins of the Tulip Age and its Development in Modern Turkey, London: Tauris 2008. Das komplexe und widersprüchliche Verhältnis zwischen dem ›Westen‹ und der Türkei, welches sich in diesen Diskursen und Repräsentationen widerspiegelt, ist ein zentraler Topos in Kırık Beyaz Laleler (Off-White Tulips).

41

Natascha Frankenberg schreibt: »Unlike film, photography is characterized first of all by stasis and, through it, an ever-present past and the nearness of death«. Natascha Frankenberg: »Queer Temporalities, Media, and Movement: An Introduction«, in: Barbara Paul / Josch Hoenes / Atlanta Ina Beyer / Natascha Frankenberg / Rena Onat

Künstlerische Strategien der Disidentifikation, des Überlebens und des Un-Archiving

KIRIK BEYAZ LALELER (OFF-WHITE TULIPS) VON AYKAN SAFOĞLU Der Titel der Arbeit Kırık Beyaz Laleler (Off-White Tulips) spielt mit der Doppeldeutigkeit des Wortes kırık. Kırık heißt auf Deutsch kaputt. Umgangssprachlich wird das Wort häufig als homophobes Schimpfwort gebraucht.39 Kırık beyaz bedeutet darüber hinaus soviel wie gebrochen-weiß / off-white, wodurch der Titel gleichzeitig auf Sexualität und weiße Normativität anspielt. Laleler bedeutet auf Deutsch Tulpen. Die Blumen kommen im Verlauf der Arbeit immer wieder vor als Bildmotiv, als Blumenstrauß und in der Narration. Sie können verstanden werden als eine Referenz auf die als Tulpenzeit bezeichnete Epoche osmanischer Geschichte (1718—1730), in der angeblich Tendenzen der ›Verwestlichung‹ begannen und Säkularisierung angestoßen wurde.40 Der Kurzfilm Kırık Beyaz Laleler beginnt mit dem Titel in weißen Großbuchstaben vor einem neutralen Hintergrund, der an Packpapier erinnert. Die Farbigkeit des Hintergrunds variiert leicht, wird blasser, bläulich und rötlich dann gelblicher (ABB. 13—15). Eine Hand legt eine ausgerissene Buchseite mit einer Landkarte der Türkei ins Blickfeld der Kamera. Die Kamera ist gerade von oben auf einen flachen, braunen Untergrund — vermutlich eine Tischoberfläche mit Packpapier —, gerichtet. Im Film Kırık Beyaz Laleler begleiten Narration und Bildfolge sich gegenseitig. Im gesamten Film variiert die Einstellung der Kamera kaum, die Kamera bleibt quasi starr und fixiert, was eine Reibung erzeugt mit dem Charakteristikum der Bewegung von Bild und Kamera im Medium des Films.41 Bewegung ist gegeben durch die Hände des Künstlers, die nacheinander unterschiedliche Bilder, größtenteils Fotografien, aber auch kleine Objekte, Postkarten, Familienfotos und Tulpen auf den abgefilmten Untergrund legen. Diese Art, unbewegte Bilder wie Fotografien von Hand zu bewegen, hat etwas von einem Blättern in einem Fotoalbum oder einer Diaprojektion und erinnert somit an Medien, die in der Regel im Privaten zirkulieren, wodurch zusätzlich zur Intimität durch die Stimme und die Worte des Künstlers der Eindruck von Intimität auf einer visuellen Ebene entsteht. Die Narration beginnt, es ist die Stimme des Künstlers Aykan Safoğlu, der auf Türkisch spricht, während die Worte zugleich auf Englisch als Untertitel eingeblendet werden. »You were jaded and in search for a way-out In fact, you were intending to go to Africa. But you had fears and reservations.«42

232 (Hg.), Perverse Assemblages. Queering Heteronormativity Inter / medially, Berlin: Revolver 2017, S. 87—92, hier S. 89. 42

Kırık Beyaz Laleler (Off-White Tulips) (D 2013, R: Aykan Safoğlu), Minute 00:13—00:24.

43

Ebd. Minute 00:25—00:30.

44

Ebd. Minute 00:33—00:38.

45

Ebd. Minute 00:39—00:42.

46

Ebd. Minute 00:44—00:48.

47

Ebd. Minute 00:48—00:52.

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

Ein neues Bild wird auf den Untergrund gelegt, es handelt sich um einen Kontaktabzug eines Fotos von James Baldwins Gesicht, genau genommen, um eine Kopie einer Buchseite aus Magdalena Zaborowskas Buch Erotics of Exile, auf der der Kontaktabzug abgedruckt ist. Das Bild zeigt James Baldwin, der mit gerunzelter Stirn und nachdenklichem Blick nach rechts unten schaut (ABB. 16—17).

ABBILDUNG 13

»You anticipated that the circumstances you encountered there might displease you. Being marginalized was possible too…«43

ABBILDUNG 14

Eine neue Fotografie Baldwins, die der vorherigen stark ähnelt, bei der jedoch die Augen etwas mehr geöffnet sind und der Blick wacher erscheint, wird auf den Tisch ins Blickfeld der Kamera gelegt. »You set off and found yourself just a little bit far away at an old friend’s door.«44

ABBILDUNG 15

Schwarzbild der Kamera. »You knocked without hesitation.«45 Vor einem schwarzen Hintergrund ist ein weißes Blatt zu erkennen, die Einstellung ist jedoch zunächst unscharf.

ABBILDUNG 16

»They honestly welcomed you in. You happened upon a party«46

ABBILDUNG 17

Die Tischoberfläche bleibt zunächst leer, von oben wird ein Foto von zwei Händen an den oberen Ecken gehalten, in die Bildmitte geschoben. Es zeigt James Baldwin in enger Umarmung mit Gülriz Sururi und Engin Cezzar (ABB. 18).

ABBILDUNG 18

»Immediately you felt warmth for these otherwise distant people Because you love people They love you very much in return This country, which suddenly appeared in your frame, in time turned into an inevitable home away from home.«47 Nach der ersten Sequenz der Narration, in der es um das Ankommen Baldwins in İstanbul geht, findet ein inhaltlicher Bruch statt und es wird die Einstellung des Weißabgleichs der Kamera thematisiert. Auf der visuellen Ebene wird im selben Moment der Weißabgleich verändert (ABB. 19—20).

233 48

Ebd. Minute 01:05—01:15.

49

Vgl. Laura Mulvey: »Visuelle Lust und narratives Kino«, in: Peter Gorsen / Gislind Nabakowski / Helke Sander (Hg.), Frauen in der Kunst, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980, S. 30—46. Laura Mulvey arbeitet drei unterschiedliche Formen des Blickes im Kino heraus: Den Blick der Kamera, den Blick des Publikums auf die Leinwand und den Blick / die Blicke der Schauspieler_innen auf der Leinwand. All diese Blicke bzw. Blickregime produzieren nach Mulvey einen männlichen Blick im Kino auf Kosten der Frau. Ihre Studie ist vielfach kritisch diskutiert worden, u.a. von der Schwarzen feministischen Kulturwissenschaftlerin bell hooks, die deutlich macht, dass Laura Mulvey in unzulässiger Weise verallgemeinernd von Frauen schreibt, während ihre Erkenntnisse auf Schwarze Frauen, die Rassismus und Sexismus gleichzeitig erfahren und mit spezifischen Stereotypen konfrontiert sind, nicht zutreffen. Vgl. bell hooks, 2009.

50

Vgl. u.a. Bertolt Brecht: Schriften zum Theater. Über eine nicht-aristotelische Dramatik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1969.

51

So arbeiten weißseinskritische Studien heraus, dass eine zentrale Komponente der (Re-)Produktion und Aufrechterhaltung weißer Privilegien darin besteht, dass diese als Norm konstruiert und als selbstverständlich und normal naturalisiert werden, wodurch sie nicht mehr als Privilegien wahrgenommen werden aus der dominanten Position. Vgl. u.a. Maureen Maisha Eggers / Grada Kilomba / Peggy Piesche / Susan Arndt (Hg.), 2005.

52

In der digitalen Fotografie wird mit der Funktion des Weißabgleichs die Kamera auf die Lichtverhältnisse am Aufnahmeort eingestellt, so dass diese in der Aufnahme nach dem Maßstab des menschlichen Auges möglichst realitätsgetreu wiedergegeben werden. Je nachdem, wie die Lichtsituation beschaffen ist, kann es zu Farbstichen im Bild kommen. So bewirkt beispielsweise das künstliche Licht aus Neonröhren einen Grünstich. Der Weißabgleich kann entweder automatisch oder manuell eingestellt werden. Beim automatischen Weißabgleich definiert die Kamera den hellsten Punkt im Bild als weiß und berechnet die Lichtsituation entsprechend. Im manuellen Weißabgleich wird in der Regel ein weißes Blatt Papier vor die Kamera gehalten. Die Art und Weise, wie das Licht von dem Blatt Papier reflektiert wird, vermittelt Sensoren in der Kamera die Beschaffenheit der Lichtverhältnisse.

Künstlerische Strategien der Disidentifikation, des Überlebens und des Un-Archiving

»Wait a second... I think the White Balance setting of my camera is off? Anyway... There won’t be a certain white balance setting for this film.«48 Ein und dasselbe Bild wird mehrfach hintereinander geschnitten mit jeweils unterschiedlichen Einstellungen für den Weißabgleich, so dass es mal rötlicher, mal blasser, mal gelblicher erscheint. Der Weißabgleich in einem Foto oder einem Film ist etwas, was üblicherweise nicht thematisiert wird und nicht wahrnehmbar ist, da die Einstellung in der Regel vor Beginn der Aufnahme erfolgt. In Kırık Beyaz Laleler werden Wechsel im Weißabgleich als Gestaltungsmittel eingesetzt und im Film selbst benannt, wodurch eine Komponente der Kameratechnik sichtbar gemacht wird. Wie Laura Mulvey prominent argumentiert hat, wird das, was sie den »Blick der Kamera«49 nennt, im (Hollywood-)Kino üblicherweise verschleiert für die Produktion von Schaulust des Publikums, das temporär vergessen kann, dass das Zu-Sehen-Gegebene medientechnisch konstruiert und nicht ›real‹ ist. In Kırık Beyaz Laleler wird dagegen keine Immersion ins Filmgeschehen zugelassen. In einer ähnlichen Weise hat Bertolt Brecht mit seinem Ansatz des Epischen Theaters Versuche unternommen,50 das Publikum zu politisieren und zu aktivieren, indem es über Verfremdungseffekte das Schauspiel gegenüber dem ›wirklichen‹ Leben erkennen sollte, statt in das Stück ›einzutauchen‹. Kırık Beyaz Laleler erscheint als medientechnisches Produkt, mediale Konventionen und Normen werden erkennbar, gerade weil mit ihnen gebrochen wird. Beispielsweise wird durch die Anmerkung, dass es keine einheitliche Einstellung des Weißabgleichs in diesem Film gebe eine technische Frage zum Teil der Narration. Auch hier wird also — in einer queer-phänomenologischen Perspektive — der Blick auf den Hintergrund gelenkt. Ich stelle die These auf, dass der Weißabgleich hier zugleich als Metapher für die weiße Norm in der Gesellschaft funktioniert. Weißsein wird an anderen Stellen in der Arbeit noch expliziter verhandelt, deswegen liegt der Schluss nahe, dass hier auf die Technologien in der Produktion einer weißen Norm in Film und Fernsehen angespielt werden soll. Eine Parallele zwischen Weißsein als Norm und dem Weißabgleich als Teil der Medientechnik, besteht genau darin, dass beide in der Regel unsichtbar bleiben oder aktiv verschleiert werden.51 Die Einstellung des Weißabgleichs bedingt u.a., wie Haut am Ende auf einem Foto bzw. im Film aussieht. Mit dem Weißabgleich wird die Kamera an die jeweiligen Lichtverhältnisse angepasst, in der Regel, indem ein Blatt weißes Papier vor die Linse gehalten wird oder die hellste Fläche im Bildausschnitt fokussiert wird.52 Da jedoch Haut je nach Pigmentierung Licht

234

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

53

unterschiedlich stark absorbiert, passiert es häufig, dass Schwarze Menschen und People of Color / Indigenous People mit stärkerer Hautpigmentierung auf Fotos oder im Film unvorteilhaft abgelichtet werden, insbesondere dann, wenn weiße Personen mit ihnen im Bild sind, da es dann meistens zu Unterbelichtungen kommt. Dies führt dazu, dass Schwarze Schauspieler_innen im Film häufig Schatten im Gesicht haben, stark zu glänzen scheinen oder mit dem Hintergrund verschmelzen. Es erfordert spezifische fotografische bzw. filmische Fähigkeiten und Kenntnisse, um gute Aufnahmen von (darkskinned) Schwarzen Menschen und BIPoCs mit besonders hohem Melaningehalt in der Haut zu machen.53 Dieses Problem steht in direktem Zusammenhang mit weißer Normativität: Richard Dyer kann in seiner Studie White54 darlegen, wie ›Rasse‹ in die Film- und Fototechnik eingeschrieben ist. Anhand historischer Analysen der Entwicklung von Foto- und Filmmaterial, Entwicklungschemie, Beleuchtungstechnik für Filmsettings sowie Film-Make-Up kann er zeigen, dass sämtliche technische Verfahren im Film unter der Prämisse weiterentwickelt wurden, weiße Haut im Film möglichst vorteilhaft darzustellen. Zwar hat es seitdem technische Veränderungen gegeben und mit der Entwicklung der digitalen Fotografie ist die weiße Norm in der Fotografie zumindest nicht mehr apparativ gegeben,55 wie Ulrike Bergermann in ihrem Artikel »Weißabgleich und unzuverlässige Vergleiche« herausarbeitet, doch, wie sie klarstellt, bedeute dies jedoch nicht zwangsläufig, dass andere Bilder produziert werden.56 Wie also, stellt Aykan Safoğlu den Weißabgleich ein, in seinem Film über einen Schwarzen Bürgerrechtsaktivisten? Er entscheidet sich gegen eine fixe Einstellung in einer performativen Art und Weise, denn schließlich filmt er Fotos, die ein anderer geschossen hat und bei denen er selbst keinen Einfluss auf den Weißabgleich hatte. Die Thematisierung des Weißabgleichs innerhalb der filmischen Arbeit ist beispielhaft für eine medienreflexive und repräsentationskritische Herangehensweise, die sich durch den gesamten Kurzfilm zieht. So geht es nicht nur um die Erzählung einer Geschichte, sondern immer wieder um die Frage, mit welchen Medien und auf welche Weise diese Geschichte künstlerisch umgesetzt wird. Dies mag in vielen Arbeiten der Fall sein, in Kırık Beyaz Laleler findet dies jedoch nicht nur in Form künstlerischer Entscheidungen vor und beim Realisieren der Arbeit statt, es wird zum Teil der Narration. Durch die Narration, in der Aykan Safoğlu zu James Baldwin spricht, erfahren wir etwas über James Baldwin und seine Motivation, in die Türkei zu reisen. Die Erzählung ist dabei spekulativ und affektiv, es geht weniger um konkrete Fakten zu Baldwins Biografie als um seine Gefühle wie Erschöpfung, Ängste, Zögern. Es wird der Moment imaginiert und sehr bildlich

Die 2016 gestartete HBO-Fernsehserie Insecure von Issa Rae fiel beispielsweise dadurch auf, dass die Schwarzen Schauspieler_innen durch exzellente Beleuchtung so gut aussehen. Vgl. dazu beispielsweise den Artikel von Nadia Latif »It’s lit! How film finally learned to light black skin« in the Guardian 2017. https://www.theguardian. com/film/2017/sep/21/its-lit-how-filmfinally-learned-how-to-light-black-skin, vom 3.7.2020.

54

Vgl. Richard Dyer: White, London, New York: Routledge 1997.

55

Vgl. Ulrike Bergermann: »Weißabgleich und unzuverlässige Vergleiche«, in: Ulrike Bergermann (Hg.), Verspannungen. Vermischte Texte, Münster: Lit 2013, S. 11—30.

56

Vgl. ebd.

ABBILDUNG 19 ABBILDUNG 20

235 57

Dies geht aus Magdalena Zaborowskas Recherchen hervor und wird ebenfalls in Kırık Beyaz Laleler thematisiert, wo es heißt »Still, you preferred not to learn their language«. Kırık Beyaz Laleler (OffWhite Tulips) (D 2013, R: Aykan Safoğlu), Minute 02:50.

58

James Baldwin: Giovanni’s Room, London: Joseph 1966 (1956).

59

Vgl. Magdalena J. Zaborowska, 2009.

60

Angeblich habe James Baldwin gegenüber dem kurdischen Autor Yaşar Kemal geäußert, dass er sich frei fühle in der Türkei, worauf dieser entgegnet habe »Jimmy, that’s because you’re an American.« Cana Bilir-Meier / Madeleine Bernstorff, 2015, S. 197. Yaşar Kemal war ein linker Schriftsteller und ein Freund von Baldwin, der während des Militärputschs in im Jahr 1980 verhaftet wurde und ins Gefängnis kam, wodurch wiederum die Unfreiheit von kurdischen Intellektuellen in der Türkei exemplarisch verdeutlicht wird.

Künstlerische Strategien der Disidentifikation, des Überlebens und des Un-Archiving

erzählt, an dem James Baldwin in İstanbul ankommt, an die Tür eines alten Freundes klopft und auf einer Party von Engin Cezzar und Gülriz Sururi erscheint. In dieser Hinsicht erinnert der Erzählstil an eine Kurzgeschichte. Historische Fakten werden vermischt mit Spekulationen, Abschweifungen und vor allem mit Erzählungen des Künstlers Aykan Safoğlu, der zu James Baldwin spricht und ihm von sich selbst, seiner Familiengeschichte, der Stadt İstanbul und Popkultur in der Türkei erzählt. Dabei spricht er zu Baldwin auf Türkisch, einer Sprache, die Baldwin absichtlich nicht lernte, obwohl er über einen Zeitraum von zehn Jahren immer wieder in İstanbul lebte und dort einen großen Freundeskreis hatte. Das Fremdbleiben, das Nicht-Sprechen der Sprache, schien er für hilfreich in Bezug auf seine Arbeit und seinen Schreibprozess zu empfinden.57 James Baldwin war mit dem in der Türkei sehr berühmten Schauspieler Engin Cezzar befreundet, den er in den USA kennengelernt hatte und der in einer Inszenierung eines Theaterstücks von James Baldwins erstem Roman Giovanni’s Room58 die Rolle des Giovanni spielte.59 In der Narration, wird zudem über James Baldwins Persönlichkeit, seine Liebe zu Menschen und deren Erwiderung gesprochen, womit wieder affektive und affizierende Aspekte aus seinem Leben in den Mittelpunkt gerückt werden. Da Aykan Safoğlu James Baldwin duzt, während er über ihn und mit ihm spricht, erzählt er Baldwin gewissermaßen etwas über ihn selbst, obwohl James Baldwin diese Dinge ja selbst erlebt hat. Auf dieses performative Sprechen Aykan Safoğlus mit James Baldwin gehe ich später ausführlicher ein. Es heißt weiter: James Baldwin habe sich in der Türkei freier und weniger unterdrückt gefühlt. Dort sei es ihm beispielsweise anders ergangen als bei seinem Aufenthalt in der Schweiz, wo er Ausgrenzung erfahren habe. Diese Information wirft Fragen dahingehend auf, warum gerade die Türkei für James Baldwin ein Ort war, der ein Gefühl von Freiheit ermöglicht hat? Ein Grund hierfür mag seine US-amerikanische Staatsbürgerschaft gewesen sein.60 Andererseits werden später im Film Indizien thematisiert, dass James Baldwin auch in der Türkei anti-Schwarzen Rassismus erfahren hat. Das wird jedoch nicht genauer erklärt. Allerdings wird die Komplexität von Privilegierung und Minorisierung bzw. struktureller Diskriminierung entlang der Achsen ›Rassisierung‹, Herkunft, Gender und Sexualität im weiteren Verlauf des Films immer wieder verhandelt. Fragen danach, wie es James Baldwin in der Türkei als Schwarzem Mann mit schwulem bzw. bisexuellen Begehren ergangen ist, was ihn motivierte zu kommen und lange dort zu bleiben, wie sein Umfeld war und wie die türkische Gesellschaft auf ihn reagierte, werden in der Arbeit implizit gestellt, bleiben jedoch offen, sind

236

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

61

Vgl. James Baldwin, 1964.

62

Kırık Beyaz Laleler (Off-White Tulips) (D 2013, R: Aykan Safoğlu), Minute 01:42—02:10

63

Ebd. Minute 01:24. Ich übernehme im Folgenden diesen Begriff von Aykan Safoğlu.

nicht beantwortbar oder können nur durch Spekulation und Vermutung ›geklärt‹ werden. Beispielsweise wird gleich zu Beginn über die Motivation Baldwins, die USA zu verlassen und nach İstanbul zu ziehen, spekuliert, indem auf ein Abendessen verwiesen wird, zu dem James Baldwin in Chicago beim Begründer der Nation of Islam, Elijah Mohammed, eingeladen war und von dem er in seinem autobiografischen Buch The Fire Next Time61 schreibt. Über die Schwarze Nation of Islam Bewegung wird eine Brücke geschlagen zwischen Baldwin als US-amerikanischem Bürgerrechtsaktivisten und seinem Leben in der Türkei, in einer mehrheitlich muslimisch geprägten Gesellschaft.

64

Ebd. Minute 01:14—01:25.

65

James Baldwin: Another Country, New York: Vintage Books 1993 (1962); der Roman wurde auch ins Türkische übersetzt: James Baldwin: Bir Başka Ülke, İstanbul: YKY 2005.

ABBILDUNG 24

»Maybe you were trying to digest the dinner you had in Chicago with Elijah Muhammed, the founder of the Nation of Islam movement, and his disciples in İstanbul Telling your beads... Maybe you were dreaming of an order that can hold everyone together regardless of race Or maybe you started to understand what Islam means to the blacks in the USA«62 In der nächsten Sequenz erklärt der Erzähler / Künstler, dass er einen genaueren Blick (»closer look«63) auf die Fotografien von Baldwin werfen wolle, »to be able to understand you and this country, that did your writings good«64. Der Closer Look ist wörtlich zu verstehen. Die Schwarz-Weiß-Fotografien von James Baldwin werden unter eine Lupe gehalten, vergrößert, herangezoomt, scharf gestellt, zum Teil wird ein anderer Ausschnitt gewählt (ABB. 24). Der Zoom der Kamera auf ein analog aufgenommenes Foto, führt jedoch zu Unschärfe und Körnigkeit des Bildes. Der performative Versuch, ›mehr‹ zu sehen, mit der Lupe oder dem Zoom Details wahrnehmbar zu machen, scheitert zwangsläufig. In diesem Sinn ist der Closer Look vielmehr Ausdruck eines Begehrens, mehr zu erfahren, mehr sehen zu können, dem jedoch nicht nur durch das Medium der Fotografie, sondern auch durch den begrenzten Umfang des Bildmaterials, das James Baldwins Leben in İstanbul dokumentiert, Grenzen gesetzt sind. Inhaltlich wird ein zentrales Anliegen der Arbeit deutlich: sowohl James Baldwin als auch das Land, die Türkei, zu verstehen und sich dabei Fotografien zuzuwenden. Im weiteren Verlauf liegt der Fokus zunächst noch auf James Baldwin und seinem Leben in İstanbul. Es wird erwähnt, dass Baldwin seinen Roman Another Country 65 in İstanbul fertiggestellt habe, und zwar bei einer Party von seinem İstanbuler Umfeld. Sein Freundeskreis wird genauer vorgestellt, neben Engin Cezzar und Gülriz Sururi, die gemeinsam mit Baldwin als

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66

Kırık Beyaz Laleler (Off-White Tulips) (D 2013, R: Aykan Safoğlu), Minute 04:13—04:18.

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Tatsächlich ist der Umstand, dass es in der Türkei eine Schwarze Minderheit gibt, außerhalb dieser Community kaum bekannt. Durchgesetzt hat sich die Selbstbezeichnung Afro Türkler (Afrotürk_innen). Ihre Existenz im Osmanischen Reich und in der Türkei lässt sich über 300 Jahre zurückverfolgen. Mit dem Verweis auf Avni Salbaş wird dies im Film thematisiert.

»inseparable family«66 bezeichnet werden, war James Baldwin unter anderem mit Avni Salbaş, einem Afrotürken67, befreundet. Diese Freundschaft wird filmisch dokumentiert über eine Fotografie, die Avni Salbaş zeigt und auf deren Rückseite sich James Baldwin handschriftlich für einen herzlichen Empfang bedankt. Auf der visuellen Ebene folgt als nächstes eine Seite aus Magdalena Zaborowskas Buch Erotics of Exile.68 Darauf zu sehen gegeben wird ein Kontaktabzug vom Negativ einer Fotografie, die James Baldwin an einer Schreibmaschine zeigt. In der Narration spricht Aykan Safoğlu über das türkische Wort für Tinte:

Vgl. http://www.afroturc.org/, vom 22.7.2019. Die Freundschaft zwischen James Baldwin und Avni Salbaş ist jedoch auch ein wichtiger Hinweis auf Berührungspunkte zwischen James Baldwin und Schwarzen Türk_innen, die wiederum interessant sind vor dem Hintergrund von Fragen danach, ob er sich auch während seiner Zeit in der Türkei mit Rassismuskritik und anderen Formen von Gesellschaftskritik befasste und was er wohl in diesem Punkt über die Türkei dachte. 68

Magdalena J. Zaborowska, 2009.

69

Kırık Beyaz Laleler (Off-White Tulips) (D 2013, R: Aykan Safoğlu), Minute 03:09—03:23.

70

Zum Begriff Ent-innerung siehe oben. Vgl. u.a. Joshua Kwesi Aikins, 2009.

71

Kırık Beyaz Laleler (Off-White Tulips) (D 2013, R: Aykan Safoğlu), Minute 06:00—06:05.

72

Zu Sprache als Wissensarchiv in einer rassismuskritischen Perspektive siehe: Susan Arndt / Nadja OfuateyAlazard (Hg.), 2011.

»Ink, mürekkep, means something forming when two things merge. Its meaning is forgotten during the project of purifying Turkish. For me, this is the best word to describe your writing: Mürekkep (Ink) in Arabic.«69 Noch während diese Worte gesprochen werden, wird Baldwins Roman Another Country ins Bild gehalten und durchgeblättert. Das Wort mürekkep wird benutzt, um Baldwins Arbeit zu charakterisieren — zugleich werden Baldwin und seine Texte so zu einem Ausgangspunkt, um vergessene oder entinnerte70 Aspekte türkischer Geschichte (wieder) zu erzählen. Die Türkei wird charakterisiert als »country that had slowly started to forget its history«71 — offensichtlich ist es Aykan Safoğlu ein Anliegen, diesem Vergessen etwas entgegenzusetzen, in dem er James Baldwin performativ von historischen Entwicklungen und Hintergründen erzählt. Die Sequenz ist außerdem exemplarisch für den spezifischen Zugang zu Sprache innerhalb der Arbeit Kırık Beyaz Laleler, die als Archiv benutzt wird,72 in dem sich Spuren von kultureller Diversität aufspüren lassen. Mehrfach werden die etymologischen Wurzeln bestimmter Begriffe erklärt, mit dem Ziel, die diversen sprachlichen Einflüsse und die multilinguale, multiethnische, multireligiöse und multikulturelle Heterogenität der türkischen Bevölkerung als Gegendiskurs zu nationalstaatlichen Politiken der Homogenisierung kenntlich zu machen. In dieser kritischen Perspektivierung des Umgangs der Türkei mit der eigenen Geschichte klingt eine gesellschaftskritische Haltung bzw. eine kritische Haltung gegenüber dem türkischen Staat an. Während diese Kritik an sich ein interessantes Thema darstellt, erfüllt sie darüber hinaus die Funktion, inhaltlich ein Kontextwissen mitzugeben, das es gestattet, besser zu verstehen, wie es James Baldwin in İstanbul gegangen sein mag. Es wird ein Nachdenken über die Frage ermöglicht, ob und wie James Baldwin in der Türkei von Rassismus erfahren hat. Eine weitere Frage, die sich stellt, ist, wie seine rassismus- und

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QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

73

heterosexismuskritische Kunst und Politik in der Türkei verhandelt wurde. Ein Bereich, der dazu befragt wird, ist der Freundeskreis von James Baldwin in İstanbul. Paradoxerweise war Engin Cezzar, der erste türkische Schauspieler, der die Rolle des Othello spielte, wozu er jedoch in Blackface auftrat (ABB. 25),73 der beste Freund von James Baldwin. Hatte Baldwin diesen Auftritt gesehen? Die Literaturwissenschaftlerin Magdalena Zaborowska sieht dies als wahrscheinlich an.74 Etwas später im Kurzfilm wird ein Ausschnitt aus einer türkischen Zeitung gezeigt, indem die Fertigstellung von James Baldwins Buch in İstanbul thematisiert wird (ABB. 28). In der Überschrift heißt es: »James Baldwin Hisarda son romanını bitirdi«75 und im Untertitel »Ahmet Vefik Paşa kitaplığında sanatçı zenci davasını savunuyor«.76 Es wird deutlich, dass James Baldwin als relativ prominente Persönlichkeit von der türkischen Öffentlichkeit durchaus wahrgenommen wurde. Somit muss es eine gewisse Auseinandersetzung mit der Politik, für die er eintrat, gegeben haben. Jedoch wird über die Sprache und die Verwendung des Wortes ›zenci‹, das eine geläufige, jedoch rassistische Bezeichnung für Schwarze Menschen ist, deutlich, dass Rassismus auch in der Türkei, wo Baldwin sich recht ›frei‹ gefühlt haben soll, ein Thema gewesen sein muss. Auf der Ebene der Narration geht Aykan Safoğlu hier wieder auf eine Spurensuche in Dokumenten und in der Sprache. Dabei werden erneut Fakten und Spekulation kombiniert.

Sicherlich ist es kein Zufall, dass Aykan Safoğlu dieses Thema aufgreift zu einem Zeitpunkt, zu dem in Deutschland die Kritik an Blackfacing in deutschen Theatern besonders laut und auch in Medien des Mainstreams debattiert wurde. Vgl. Sharon Dodua Otoo, 2012.

74

Magdalena Zaborowska schreibt dazu: »I have no information on whether Baldwin saw this […] performance, but it is likely that he did.« Magdalena J. Zaborowska, 2009, S. 59.

75

Deutsch: James Baldwin stellte seinen neuesten Roman in Hisar [einem Viertel, das an die Rumeli-Festung am europäischen Ufer des Bosporus grenzt] fertig. Eigene Übersetzung.

76

Deutsch: In der Ahmet-Vefik-PaşaBuchhandlung verteidigt der Künstler die Sache der Schwarzen. (Anmerkung: Die Übersetzung ist nicht korrekt, denn ich überschreibe den rassistischen Gehalt des Wortes zenci, um ihn nicht zu wiederholen. Eigene Übersetzung.

77

Kırık Beyaz Laleler (Off-White Tulips) (D 2013, R: Aykan Safoğlu), Minute 06:06—07:06.

ABBILDUNG 25 ABBILDUNG 28

»You tried to explain your case and they tried to understand it. With their language revealing and feeding other discriminations they probably didn’t know how to define you. Zenci stands in Arabic for dark-skinned or African. It is widely believed that this word in Ottoman Turkish originated from Arabic. But no one remembers that etymologically it comes from the Farsi word ›zangï‹ meaning ›rusty‹. One of your fans said: If you hadn’t been born there, your skin wouldn’t have been black. If this is really the case, how were we supposed to explain the beating you got in Erdek? With the rust color of your skin?«77 Auf der visuellen Ebene wird das Dokument, der Zeitungsausschnitt — dem als historisches Dokument und als Archivmedium eine gewisse Faktizität zugesprochen wird —

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Ebd. Minute 04:00.

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Ebd. Minute 04:20—04:25.

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ABBILDUNG 30

auf eine andere Weise zum Sprechen gebracht, indem das rassistische Wort ›zenci‹ mit grünem Filzstift unterstrichen und mit einem Pfeil versehen wird. Dadurch sticht es sichtbar aus dem Text und wird damit problematisiert (ABB. 28). Es kommt häufig zu solchen kleinen Manipulationen oder Interaktionen mit dem Material, was eine Besonderheit von Kırık Beyaz Laleler ist. Das Material wird fast zu einem Gegenüber, zu einem Akteur. In İstanbul bekam James Baldwin Besuch von Freund_innen aus den USA, unter anderem vom Maler Beauford Delaney, der wie ein älterer Bruder für Baldwin gewesen sein soll.78 James Baldwin scheint dort ein sehr aktives Sozialleben gehabt zu haben. Er verkehrte mit türkischen und internationalen Intellektuellen und Künstler_innen. Kırık Beyaz Laleler zeigt hier ein Foto von Delaney und Sururi vor einem Porträt, das Delaney von Sururi gemalt hat (ABB. 30). Auch dieses Schwarz-WeißFoto stammt von einer Seite aus Magdalena Zaborowskas Buch. »I wonder if Delaney had used yellow in this painting?«79, wird auf der Ebene der Narration gefragt. Eine Hand malt mit gelber Ölkreide auf die Buchseite (ABB. 30). Die Frage, die hier gestellt wird, nämlich nach der Farbigkeit des Gemäldes und damit eine Frage, die sich mittels einer Schwarz-Weiß-Fotografie nicht beantworten lässt, kann ebenfalls als exemplarisch für den affektiven und subjektiven Zugang zu Geschichte durch Aykan Safoğlu verstanden werden, der sich hier einem nebensächlichen Detail zuwendet, das ihn persönlich interessiert. Es sind nicht die Fakten und Hintergründe zu Delaneys Besuch in İstanbul, die besprochen werden. Damit wird von der tradierten Art und Weise der Darstellung von Informationen zu historisch relevanten Ereignissen in biografischen und dokumentarischen Formaten abgewichen. Vielmehr wird erneut performativ vorgeführt, wie begrenzt die Möglichkeiten sind, mit Fotografien Vergangenes zu rekonstruieren und fotografisch konservierte Erinnerungen lebendig werden zu lassen. Dies verweist auf Fragen der Medialität im Archiv: Selbst dann, wenn, wie hier, eine Fotografie vorhanden ist, die das Ereignis — Beauford Delaneys Besuch in İstanbul — dokumentiert, transportiert das (Archiv-)Medium nicht alle Informationen, die die Vergangenheit in der Gegenwart vorstellbar werden lassen, hier etwa die Farbe. In der nächsten Sequenz zitiert Aykan Safoğlu einige Zeilen aus einem Lied von Big Bill Broonzy für James Baldwin, ohne es jedoch zu singen, während eine Fotografie von Baldwin gezeigt wird, der im Bett liegt. Dabei variiert immer wieder die Farbeinstellung der Kamera, sodass das Bild unterschiedlich eingefärbt ist. Davor heißt es im Text: »White Americans seem to feel that happy songs are happy

240 80

Ebd. Minute 07:10—07:26.

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Ebd. Minute 09:03—09:09.

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

ABBILDUNG 32

and sad songs are sad, you wrote in The Fire Next Time And I try to pick the melody and the color of the song you sang«80

ABBILDUNG 33 ABBILDUNG 34

Aykan Safoğlus Hand legt in einer zärtlichen Geste, einen kleinen Papierschnipsel wie eine Decke auf den schlafenden Baldwin (ABB. 32). Wieder scheinen die Bilder Baldwins nicht als passive Dokumente behandelt zu werden, sondern als Akteure, mit denen Interaktionen möglich sind. Inhaltlich wird zudem das Thema Musik und Sound angesprochen — und damit eine weitere mediale Ebene, die den Fotografien von James Baldwin in İstanbul fehlt. Es wird gefragt, zu welchen Liedern Baldwin dort getanzt habe (ABB. 33), und vermutet, dass sein Musikgeschmack sich von dem der Leute auf der Straße unterschied. Was war (möglicherweise) der Soundtrack von James Baldwins Zeit in İstanbul? Oft verknüpfen sich Gefühle mit Musik und Sound. Sie sind bedeutsam für eine affektive Ebene von Erinnerung, jedoch fehlen diese Informationen über Baldwin, sie lassen sich auch nicht durch rein visuelle Archivmedien rekonstruieren. Über die Musik führt die Erzählung von Baldwin zur türkischen Gesellschaft beziehungsweise zu türkischer Popkultur und Sexualität, indem in der Narration der Musiker Orhan Gencebay erwähnt wird, dessen Lieder — so heißt es in der Arbeit Kırık Beyaz Laleler — zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung als ›obszön‹ galten. Später in seiner Karriere erhält Gencebay den Spitznamen Orhan Baba, also auf Deutsch Papa Orhan. Aykan Safoğlus eigene Familie wird an dieser Stelle in die Narration eingeführt, denn sein Vater klinge manchmal wie Orhan Gencebay und auch er rauche gern und spiele mit seinem Rosenkranz. Auch visuell wird eine Gemeinsamkeit zwischen Orhan Baba und Aykans Baba hergestellt, indem Fotos der beiden Vaterfiguren nebeneinandergelegt werden, auf denen Ähnlichkeiten in Frisuren, Schnurrbärten und dem Kleidungsstil ins Auge springen (ABB. 34). Zugleich wird die Vaterfigur visuell vervielfältigt — und damit das heteronormative Familienkonzept, das nur einen biologischen Vater vorsieht, gequeert. Über diese lose assoziative Verbindung kommen James Baldwin, türkische Gesellschaft, türkische Prominente und Aykan Safoğlus Familie zusammen, sie werden bedeutsam füreinander. Aykan Safoğlu singt auf Türkisch das Lied Hatasız Kul Olmaz (1976) von Orhan Gencebay, in dem es heißt »Liebe Mich« und fragt dann James Baldwin: »Have you ever met my father?«81

241 82

Vgl. Sara Ahmed, 2006, S. 3.

83

Dies ist ein zentraler Begriff in Queer Phenomenology, der zum ersten Mal hier erwähnt wird: Sara Ahmed, 2006, S. 101.

84

Im Englischen gibt es den Ausdruck »it is a stretch«, um zu sagen, dass etwas weit hergeholt und / oder bezweifelbar ist. Die Wahrheit muss gedehnt werden. All diese Ausdrücke lassen sich in einer queer-phänomenologischen Perspektive weiterdenken im Zusammenhang mit Fragen der Orientierung, der Reichweite von Körpern und der Erreichbarkeit von Objekten.

85

Kırık Beyaz Laleler (Off-White Tulips) (D 2013, R: Aykan Safoğlu), Minute 09:03—09:09.

86

James Baldwin 1993 (1962), S. 436.

87

Kırık Beyaz Laleler (Off-White Tulips) (D 2013, R: Aykan Safoğlu), Minute 10:10—10:14.

88

Ebd., eigene Übersetzung.

89

Ebd., eigene Übersetzung.

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ABBILDUNG 35 ABBILDUNG 36 ABBILDUNG 37

Die Möglichkeit, wenn auch eine sehr vage, besteht, dass der Vater von Aykan Safoğlu und James Baldwin sich in İstanbul begegnet sind, denn es gibt ein Foto von Baldwin, auf dem dieser in einem Restaurant zu sehen ist, das einem Freund des Großvaters von Aykan Safoğlu gehörte (ABB. 35). Natürlich ist es unwahrscheinlich, dass die beiden aufeinandertrafen, und selbst wenn, wird es eher eine flüchtige Begegnung gewesen sein. Dennoch rückt die Frage James Baldwin, der sehr weit entfernt von Aykan Safoğlus Lebensrealität erscheinen mag, auf performative Weise in die Nähe, lässt ihn den Horizont von Safoğlus Familiengeschichte streifen. Das Foto von James Baldwin im Urcan Restaurant (ABB. 36) ist somit ein »orientation device«82, ein Objekt, das Aykan Safoğlu zu James Baldwin orientiert und eine Verbindung zwischen den beiden schafft, wenn auch eine sehr flüchtige. Es ist ein Objekt, das die Reichweite oder — mit Sara Ahmed — die »reachability«83 von Aykan Safoğlu erweitert. Es ist, als würde Safoğlu seine Hand möglichst weit ausstrecken, um von seinem eigenen Vater zu James Baldwin zu gelangen, um so etwas zu erreichen, was sich nicht eh schon in seiner Reichweite befunden hat.84 Von der Frage »Have you ever met my father?«85 aus werden in der Narration nun stärker die Stadt İstanbul, türkische Popkultur und Aykans Familie in den Fokus gerückt, das Leben Baldwins in der Stadt tritt vorerst in den Hintergrund. Vor die Linse der Kamera wird eine Postkarte gelegt, die İstanbul in den 1960er Jahren zeigt (ABB. 37). In dieser Zeit kam Baldwin nach İstanbul. Sein Buch Another Country signierte er »Istanbul, Dec. 10, 1961«.86 Die 1960er Jahre waren auch die Zeit des ersten Militärputsches in der Türkei (gegen die Regierung von Adnan Menderes). Die Bevölkerung İstanbuls wuchs sprunghaft, da zahlreiche Menschen vom Land in die Stadt zogen, um Arbeit zu finden. Veranschaulicht wird der Wandel der Stadt, indem eine neue Postkarte, die dieselbe Ansicht wie die vorherige zeigt, über die Erste gelegt wird. Im direkten Vergleich wird eine gravierende Veränderung im Stadtbild deutlich. »While the peasant migrants tried to grasp the bitter city live, they met Ayşecik.«87 Die Stadtgeschichte İstanbuls wird über die Bezugnahme auf Ayşecik mit türkischer Filmgeschichte und dem Yeşilcam Sinema zusammengebracht. Ayşecik ist eine Figur in mehreren türkischen Filmen. Sie ist ein kleines Mädchen, die in der Arbeit Kırık Beyaz Laleler charakterisiert wird als »arm, aber stolz«88, »hungrig, aber bescheiden«89 und die, trotz ihres

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

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Ebd.

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Ebd. Minute 10:42—10:48.

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Ebd.

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Der Umstand, dass Film- und TV-Produktionen des türkischen Mainstreams bis in die 2000er Jahre kaum außerhalb der Türkei zirkulierten, wenn man die Videokassetten für die ›Gastarbeiter_innen‹-Generationen in Europa außer Acht lässt, während US-amerikanische Produktionen wie die TV-Serie Dallas, auf die innerhalb der Arbeit ebenfalls referiert wird, u.a. in Deutschland und in der Türkei ausgestrahlt und rezipiert wurden, verweist auf einen USA-Zentrismus innerhalb der Populärkultur. Diese Perspektive würde jedoch noch verkompliziert und weiter auf eine Hegemonie des Westens verweisen, wenn zusätzlich reflektiert würde, dass wiederum zeitgenössische türkische Serien u.a. in vielen arabischen sowie afrikanischen, mittel- und südamerikanischen Ländern sehr populär sind.

94

Kırık Beyaz Laleler (Off-White Tulips) (D 2013, R: Aykan Safoğlu), Minute 11:01—11:06, eigene Übersetzung.

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Kırık Beyaz Laleler verzichtet auf allgemeinere Erklärungen zu politischen und geschichtlichen Hintergründen und Ereignissen. Diese werden, wenn überhaupt, kurz erwähnt oder angedeutet. Stattdessen wird der Closer Look beibehalten, ein Blick, der Details scheinbar nebensächlicher Dinge gegenüber einem Überblick, für den eine größere Distanz eingenommen werden müsste, favorisiert.

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Kırık Beyaz Laleler (Off-White Tulips) (D 2013, R: Aykan Safoğlu), Minute 11:12—11:18.

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Ebd. Minute 11:17—11:38.

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Ebd. Minute 11:12—11:18.

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Ebd. Minute 11:17—11:38.

Alters, Erwachsenen aus der Patsche hilft und trotz widriger Umstände stets fröhlich bleibt (ABB. 38).90 Die Figur des reinherzigen, verwaisten Kindes war im türkischen Kino sehr populär (ABB. 39), wie Aykan Safoğlu in Kırık Beyaz Laleler eindrücklich zeigt: Autogrammkarten und Filmstills, die übereinandergelegt werden, verdeutlichen die Folge der populären Kinderfiguren im Film: Ayşecik, Sezercik, der den Satz »Could I call you Mother?«91 ins Türkische eingeführt habe, Yumurcak »who had a golden heart just like his golden hair«92 und Ömercik. Türkische Populärkultur und Filmgeschichte, die außerhalb der Türkei kaum bekannt sind, werden hier thematisiert, es werden dadurch Fragen nach Hegemonie und globalen Machtgefällen in Bezug auf (Pop-)Kulturen aufgeworfen93. Das Machtgefälle zwischen den USA und der Türkei ist wiederum relevant für James Baldwins Leben in İstanbul und Fragen nach Privilegien aufgrund seines Status als US-amerikanischer Bürger. Mit einer Postkarte mit dem Motiv eines blonden, blauäugigen weinenden Kindes, die es in fast jedem Haushalt gegeben habe, »so, als hätten alle dieses Kind adoptiert«94, geht es weiter in die 1970er Jahre. Diese Zeit war geprägt von politischer Instabilität, linkem Aktivismus von Gewerkschaften, der Student_innenbewegung, der Gründung der kurdischen Arbeiterpartei PKK und zugleich von großer politischer Repression und Verfolgung von Oppositionellen. Der kurdische Autor und James Baldwins Freund Yaşar Kemal wurde beispielsweise inhaftiert. Auch rechte Gruppen erstarkten. 1980 gab es den dritten Militärputsch, die Junta verbot sämtliche politische Parteien.95 Zu dem Zeitpunkt, als James Baldwin İstanbul verließ, sei die Türkei »besessen gewesen«96 von diesen »surrealen Kindern«97 (ABB. 40). Wieder werden in assoziativer Weise James Baldwin, Populärkultur, Filmgeschichte, die Geschichte der Türkei und die der Stadt İstanbul miteinander verflochten. Die »surrealen«98 Kinder scheinen etwas zu repräsentieren, nämlich eine Diskrepanz zwischen Baldwins komplexen Theorien und ihrer Anschlussfähigkeit innerhalb der türkischen Gesellschaft:

ABBILDUNG 38

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ABBILDUNG 39

»When you decided to leave, Turkey was obsessed with these surreal children I don’t mean they didn’t understand you. I just say that a society that recruits children for social justice can only understand the intricate structures you discuss as a child does.«99 Der Zeitpunkt von Baldwins Fortgehen aus İstanbul wird hier historisch kontextualisiert über türkische Popkultur, über die wiederum eines der zentralen Motive des Films — Kinder

243 100 Ebd. Minute 11:36. 101 In der Arbeit Kırık Beyaz Laleler wird mehrfach auf das Vorhandensein weißer Normen und strukturellen Rassismus innerhalb der Türkei verwiesen, beispielsweise über die Thematisierung der Haarfarbe von Aykan Safoğlus Mutter und eines Trends unter türkischen Frauen, sich die Haare zu blondieren, aber auch über die Kommentierung eines Fotos von Baldwin, der in einem Fischlokal unter Porträts von John F. Kennedy und Atatürk sitzt. Implizit werden Fragen danach aufgeworfen, inwieweit die türkische Gesellschaft durchzogen ist von weißen Normen, ob es sich hierbei (nur) um westliche Normen handelt und wie diese Normen sich medial konstituieren. Dabei wird das Verhältnis zwischen der Türkei und dem Westen, insbesondere in İstanbul als Stadt, die eine europäische und eine asiatische Seite hat, von Aykan Safoğlu beleuchtet. Innerhalb der Türkei herrschen auch rassisierte Hierarchien vor, die sich an einer weißen Norm orientieren. Beispielsweise werden Kurd_innen, Sinti_zze und Rom_nja und andere ethnische und religiöse Minderheiten in der Türkei rassistisch diskriminiert. Es wäre durchaus lohnenswert, hier postkolonial und weißseinskritisch perspektivierte Analysen zu entwickeln. Zugleich besteht das (scheinbare) Paradox, dass die Türkei im hegemonialwestlichen Diskurs nicht als westlicher Staat verstanden wird. Türkeistämmige Deutsche und /oder Türk_innen in Deutschland werden selbst dann, wenn ihre / unsere Familienangehörigen / Vorfahren in der Türkei der türkischen Mehrheitsbevölkerung angehör(t)en und als weiße Türk_innen gelten, in Deutschland nicht als Weiße behandelt oder wahrgenommen, sondern über OtheringProzesse und Konstruktion ›rassischer‹ Differenz als ›Andere‹ im Gegensatz zur als weiß konstruierten deutschen Mehrheitsbevölkerung gesetzt. Vgl. hierzu auch Yasemin Shooman: »… weil ihre Kultur so ist« Narrative des antimuslimischen Rassismus, Bielefeld: transcript 2014. Somit lässt sich mit der Arbeit Kırık Beyaz Laleler neu über die Komplexität von Weißseinskonstruktionen nachdenken. Dies erlebe ich immer wieder an meinem eigenen Körper, da ich als weiße Person passe, ist es immer wieder eine Überraschung für weiße Deutsche, wenn sie erfahren, dass ich türkische Wurzeln habe. Eine sehr häufige Reaktion ist daraufhin die Feststellung, ich hätte genetisch anscheinend nicht so viel von meinem Vater geerbt, denn ich würde ja gar nicht so aussehen wie »die«. Damit wird impliziert, dass es einen eindeutigen, nicht-weißen türkischen Phänotyp gäbe, in den ich aufgrund meiner äußeren Erscheinung nicht falle.

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und Familie — eingebracht werden. In der Erzählperspektive des Filmes scheint hier suggeriert zu werden, dass Kinder(-Figuren) eine Art Eskapismus und / oder Katharsis-Funktion für die türkische Bevölkerung erfüllen und von strukturellen Problemen ablenken. In einem weiteren Schritt wird dann gefragt, was eine solche Haltung für das Verhältnis von Baldwin zur türkischen Gesellschaft bedeutet. James Baldwin verkehrte dort in der bildungsbürgerlichen Intelligenzia, sprach die Sprache nicht, wie sehr beschäftigten ihn also die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in der Türkei? Geschichte wird dabei stets in einer Verflechtung mit der Familiengeschichte Aykan Safoğlus und teilweise ausgehend von Kindheitserinnerungen von Aykan Safoğlu selbst erzählt, sodass auch der Künstler bestimmte Themen versteht »as a child does«100. In den 1970er Jahren habe die Mutter Aykan Safoğlus, wie viele türkische Frauen, angefangen, sich die Haare blond zu färben. Die scheinbar nebensächliche Anekdote über die Haarfarbe der Mutter entfaltet wiederum Bedeutung als Indikator für eine Orientierung an westlichen Schönheitsidealen und als Ausdruck einer weißen Norm.101 Zur selben Zeit sei der erste Öltanker auf dem Bosporus explodiert. Es geht weiter mit den 1980er Jahren, in denen James Baldwin bereits nicht mehr in İstanbul lebte. In der Narration wird der Auftritt der türkischen Diva Ajda Pekkan beim Eurovision Song Contest102 1980 erwähnt. Der Umstand, dass sie ihr Lied Aman Petrol über Öl (als Metapher für Liebe) singt, ermöglicht wiederum inhaltliche Querverbindungen zu dem Umstand, dass das Erdöl-Unternehmen der Familie Safoğlu bankrott ging. Später werden über den Begriff Öl andere Querverbindungen zum Golfkrieg und dessen medialer Repräsentation in den Ausstrahlungen des US-amerikanischen Fernsehsenders CNN im türkischen Fernsehen hergestellt sowie zur US-amerikanischen Fernsehserie Dallas und deren türkischer Synchronisation. Die Serie handelt von der schwerreichen Familie Ewing, deren Vermögen aus der Förderung von Erdöl stammt. Zuvor geht es jedoch stärker um Aykan Safoğlus Kindheit. Er ist das jüngste von drei Kindern, deren Namen alle mit der Silbe Ay- beginnen, was Mond heißt. Er imaginiert sich und seine Geschwister als Gruppe Moonlight beim Eurovision Song Contest 1984. Auf der visuellen Ebene werden nun mehrere Fotos von Aykan Safoğlu als Kind gezeigt: Er als Baby, er als Baby mit seinen Geschwistern, er erst mit seiner Schwester (ABB. 42), dann allein mit einem Wellensittich im Kinderzimmer. Im Hintergrund ist ein Poster der Sängerin La Toya Jackson zu sehen (ABB. 43).

244 102 Der Eurovision Song Contest ist bis heute ein wichtiges Ereignis in schwuler Subkultur (zumindest in der Türkei und Deutschland), aufgrund des starken Camp-Charakters, der auch durch Diven wie Ajda Pekkan ausgemacht wird. 103 Kırık Beyaz Laleler (Off-White Tulips) (D 2013, R: Aykan Safoğlu), Minute 12:49—13:06. 104 Ebd. Minute 13:38—13:41. 105 Hierzu heißt es in der Arbeit, dass die Tulpen aus dem Iran nach Anatolien und von dort nach Europa kamen. Über Wien gelangte die Tulpe nach Holland, wo im 17. Jahrhundert eine ›Tulpomanie‹ ausbrach, während der die Tulpenzwiebeln zum Teil zu aberwitzigen Preisen gehandelt wurden. Bis heute sind die Niederlande berühmt für Tulpen, sie wurden quasi appropriiert. 106 In der Ikonografie (west-)europäischen Kunstgeschichte war die Tulpe in der flämischen Malerei des 17. Jahrhunderts ein Vanitas-Symbol und verwies auf Verantwortungslosigkeit, leichtfertigen Umgang mit Geld und Leichtsinn. Die Tulpe hat in İstanbul /in der Türkei noch weitere Bedeutungen, insbesondere rote Tulpen gelten auch als Symbol für Gott. Tulpen spielen aber auch eine Rolle als Metapher in Liebesgedichten und galten eine Zeit lang als Wahrzeichen der Stadt İstanbul. Vgl. u.a.: André van der Goes (Hg.): Tulpomanie. Die Tulpe in der Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts, Zwolle: Waanders 2004. 107 Cana Bilir-Meier / Madeleine Bernstorff, 2015, S. 204.

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

»Because being tan was hip in my childhood, every summer my sister got darker And I look as La Toya gets whiter on the posters. My sister getting darker as La Toya gets whiter was preoccupying my mind«103

ABBILDUNG 40 ABBILDUNG 42 ABBILDUNG 43

Die Körper von La Toya Jackson und der Schwester von Aykan Safoğlu erscheinen direkt hintereinander im Bild und werden visuell und narrativ in Beziehung gesetzt. Beide scheinen — entsprechend der Beobachtung Aykan Safoğlus — die Komplexion ihrer Haut entsprechend des zeitgenössischen Trends anzupassen. Jedoch unterscheidet sich das anzustrebende Schönheitsideal für die weiße Türkin und die afroamerikanische Pop-Ikone. Rassistische Repräsentationsregime und wie sich diese in Form von Schönheitsidealen in verschiedenen Körpern und verschiedenen nationalen Kontexten unterschiedlich auswirken und dabei zugleich medial transnational verbunden sind, werden verhandelt über den Mikrokosmos der Familie von Aykan Safoğlu. In Bezug auf die 1990er Jahre wird erwähnt, dass Aykan Safoğlu für ein Theaterstück seiner Grundschule die Hauptrolle bekam. Während er als Kind den Text seiner Rolle auswendig lernte, heißt es in der Narration, hätten die älteren Schwestern und Brüder der Kinder, die keine Rolle bekamen, die Bühne gestürmt »and beautifully ran over the tulips«104. Diese Sequenz ist ein zentraler Moment in der Arbeit Kırık Beyaz Laleler. Nachdem vor der Kamera zuvor ein Bild von Aykan Safoğlu als Kind in seiner Klasse zu sehen gegeben wurde, wird im Anschluss ein anderes Foto vor die Linse gelegt, von dem jedoch zunächst nur ein Ausschnitt erkennbar ist. Es zeigt ein Tulpenbeet und die Beine einer Person. Die Fotografie wird verschoben, bis die Person ganz zu sehen ist (ABB. 44), es werden ihr kurze Zeit später weitere Bilder mit stilisierten osmanischen Tulpenblüten sowie eine Postkarte mit blühenden Tulpen vor der Blauen Moschee zur Seite gestellt (ABB. 45). Auf der Ebene der Narration werden keine Hintergrundinformationen zu dieser Fotografie gegeben, stattdessen geht es um den osmanischen Dichter Nedim, das ›Tulpenzeitalter‹ im Osmanischen Reich und die Frage, wie die Tulpen nach Anatolien kamen105. Die Bedeutung der Tulpen106 erscheint schon allein deswegen signifikant, weil sie der Arbeit ihren Titel geben. In Cana Bilir-Meier und Madeleine Bernstorffs Artikel heißt es unter dem Stichwort »AWOMANDESTROYINGTULIPS«107 zum Hintergrund der Fotografie: »[...] on May 1, 1996, three left-wing protesters were killed and thirty-three policemen injured. For quite some time Turkish media didn’t understand the anger of

245 108 Ebd. 109 Kırık Beyaz Laleler (Off-White Tulips) (D 2013, R: Aykan Safoğlu), Minute 14:00—14:08. 110 Interessanterweise passiert hier auch ein Wechsel in der Adressierung: Während Aykan Safoğlu in der Arbeit durchgängig zu Baldwin spricht, scheint jetzt ein als ›europäisch‹ konstituiertes ›wir‹ angesprochen zu werden. 111

Kırık Beyaz Laleler (Off-White Tulips) (D 2013, R: Aykan Safoğlu), Minute 14:00—14:08.

112 James Baldwin inszenierte 1969 am Theater seiner engsten Freund_innen Engin Cezzar und Gülriz Sururi auf deren Anfrage hin das Stück Fortune and Men’s Eyes. Mit dem Stück wurde Homosexualität in der Türkei erstmals in einer derart expliziten Weise auf eine öffentliche Bühne gebracht. Dies wurde unter anderem ermöglicht durch James Baldwins Status als berühmten US-amerikanischen Autor. A Fortune and Men’s Eyes, bzw. Düşenin Dostu, wie es in der türkischen Übersetzung hieß, war trotz seines provokanten Inhaltes ein großer Publikumserfolg in İstanbul. Vgl. Magdalena J. Zaborowska, 2009.

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the woman whose frustration was taken out on the flowers, because one of her friends had been killed in the afternoon by the police. The year 1996 marked the peak of Kurdish resistance — in Turkey as well as in Europe.«108

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Über die Bildebene wird somit der kurdische Widerstand, militärische Gewalt und Polizeigewalt gegen Oppositionelle durch die türkische Regierung thematisiert, während auf der Ebene der Narration ebenfalls von Aufständen und einem Aufbegehren gegen die herrschende Klasse die Rede ist, jedoch in einer anderen Zeit nämlich zum Ende des sogenannten Goldenen Zeitalters des Osmanischen Reichs. Später heißt es dann weiter: »To understand why the tulips were smashed we have to take a closer look at our reflections of our European faces in our eastern mirrors«.109 Die Frage nach der Reflexion ›unserer‹110 europäischen Gesichter in unseren »östlichen Spiegeln«111 bleibt jedoch offen. Die Bedeutung der Tulpen ist mehrdeutig. Streckenweise erscheint die Tulpe wie eine Metapher für eine weiße Norm in der Türkei, ein Symbol für das Weißsein der türkischen Mehrheitsbevölkerung und das Zertrampeln der Tulpen als Aufbegehren, als revolutionärer Akt. Wenn die Tulpen zertrampelt sind, sind sie kaputt — kırık. Dann wiederum wirkt die Tulpe eher wie ein kultureller Agent, ein Phänomen wie das weinende Waisenkind oder Orhan Baba. In der Arbeit Kırık Beyaz Laleler wird — wiederum über eine Kette von Zusammenhängen —, ein inhaltlicher Sprung vorgenommen zu einem von Baldwin in İstanbul inszenierten Theaterstück des kanadischen Autoren John Herbert.112 (In dieser Kette wird beispielsweise der Umstand erwähnt, dass Tulpen aus dem Iran nach Anatolien kamen (ABB. 46), aber auch über den Dichter Nedim erzählt, der über Persien spricht und dabei die Bezeichnung Acem verwendet, was zum türkischen Wort acemi (dt: unerfahren) führt. Die etymologischen Wurzeln werden erklärt — Acem war, den altgriechischen ›Barbar_innen‹ ähnlich, eine abwertende Bezeichnung für Nicht-Araber_innen, die ihren Weg aus dem Arabischen ins Türkische gefunden hat — und eine Verbindung hergestellt zu Baldwin, dem Unerfahrenen von İstanbul.) Es ist bemerkenswert, dass Baldwin offensichtlich im Theater-Bereich für ein türkisches Publikum gearbeitet hat — und dazu noch mit einem Stück, das Homosexualität in expliziter Weise thematisiert. In der Türkei war Homosexualität zu der Zeit etwas, worüber nicht gesprochen wurde, dessen Existenz jedoch geduldet wurde, wie Magdalena Zaborowska mittels Berichten von Gülriz Sururi und dem schwulen Schauspieler Ali Poyrazoğlu — einen weiteren Menschen aus dem Umfeld von James Baldwin

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113 Ebd. S. 157—158.

in İstanbul — über das Theaterstück darstellt.113 Ein interessanter Aspekt an der türkischen Inszenierung, auf den auch in Kırık Beyaz Laleler eingegangen wird, ist der Umstand, dass dafür der Slang der queeren Protagonist_innen ins Türkische übersetzt werden musste. Dazu wurde Lubunca verwendet. Lubunca ist eine eigene queere Sprache von türkischen Transfrauen114, die in Tarlarbaşı entstand, einem Stadtteil in der Nähe des İstanbuler Taksim-Platzes, der ein sehr armes Viertel mit stark baufälligen Gebäuden war, in dem historisch viele Rom_nja und sexarbeitende Transfrauen lebten, später auch Kurd_innen. Durch großflächigen Abriss und Neuaufbau sowie über Gentrifizierung ist die eingesessene Bevölkerung mehr und mehr verdrängt worden.115 Lubunca enthält aber bis heute viele Wörter aus dem Romanes, aus anderen Sprachen, aber auch gequeerte türkische Wörter. Lubunca wird von den meisten Heterosexuellen nicht verstanden und funktioniert als subkulturelle Geheimsprache, die beispielsweise ein explizites Sprechen über queeren Sex, Sexarbeit und staatliche und gesellschaftliche Repression (beispielsweise bei Razzien) möglich macht.116 Aykan Safoğlu beschreibt, dass die Besucher_innen von Baldwins Inszenierung von Fortune and Men’s Eyes im Anschluss an den Besuch Vokabeln übernahmen und Lubunca appropriierten:

114 Im Rahmen der von Emre Busse und Aykan Safoğlu kuratierten Ausstellung ğ — queere Formen migrieren, die im Schwulen Museum* in Berlin vom 2.3.2017—29.5.2017 zu sehen war, gab es unter anderem eine Veranstaltung mit Demet Demir, einer türkischen Transaktivistin der ersten Stunde, die dort ihr Lexikonprojekt zu Lubunca vorstellte. Leider habe ich diese Veranstaltung verpasst. Vgl. https://www.schwulesmuseum.de/ ausstellung/g-queere-formen-migrieren/, vom 25.7.2020. 115 Ich danke Aykan Safoğlu für diesen Hinweis. 116 Mein Wissen zu diesem Thema verdanke ich Aykan Safoğlu und anderen queeren Aktivist_innen aus İstanbul, Ankara, Diyarbakır und Berlin. 117

Kırık Beyaz Laleler (Off-White Tulips) (D 2013, R: Aykan Safoğlu), Minute 15:01—15:14.

118 Magdalena J. Zaborowska, 2009, S. 150—151. 119 Transaktivist_innen in der Türkei arbeiten seit Jahren an Kampagnen gegen transfeindliche Gewalt und Diskriminierung und fordern besseren (verfassungs-)rechtlichen Schutz. Vgl. http://www.istanbullgbti.org/lgbtt/, vom 5.2.2020, die Seite existiert nicht mehr, 2.5.2023.

»It was not easy to translate the heavy gay jargon into Turkish. After the gala Lubunca (gay slang) was appropriated by the elite spectators, in a sense Lubunca jumped a class.«117 Magdalena Zaborowska zitiert Oktay Balamir, der gemeinsam mit Ali Poyrazoğlu das Stück von John Herbert ins Türkische übersetzt hat: »›Turkish gays have a language of their own,‹ and the play ›shocked the Turkish audience … because for the first time, onstage, they heard how the Turkish gay people spoke, how they addressed one another. … And since then, even today, many of these words are being commonly used in Turkish high society.‹«118 Lubunca, die Sprache der Transfrauen und anderer Queers, erhielt Einzug in die obere Klasse, wurde gesellschaftsfähig, während die Transfrauen selbst aufgrund struktureller Diskriminierung häufig äußerst prekär und gefährdet leben.119 Innerhalb der Arbeit Kırık Beyaz Laleler wird Kritik geübt an dem Theaterstück als unzureichend eingebettet in

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Künstlerische Strategien der Disidentifikation, des Überlebens und des Un-Archiving

120 Kırık Beyaz Laleler (Off-White Tulips) (D 2013, R: Aykan Safoğlu), Minute 15:16.

den sozio-kulturellen Kontext der Türkei und Klassismus. In der Narration fragt Aykan Safoğlu James Baldwin:

121 Ebd. Minute 13:16. Emrah ist noch eine weitere Kinderfigur im türkischen Kino. 122 In James Baldwin’s Turkish Decade: Erotics of Exile von Magdalena Zaborowska finden sich hierzu widersprüchliche Meinungen unter Baldwins İstanbuler Freund_innen: Während Oktay Balamir beschreibt, dass es zum größten Teil die intellektuelle Elite gewesen sei, die ins Theater gekommen sei, hätten andere Interview-Partner_innen Zaborowskas erklärt, dass es tatsächlich ›alle‹, auch die ›gewöhnlichen‹ Leute gewesen seien, die das Stück ansahen. Magdalena J. Zaborowska, 2009, S. 160. 123 Kırık Beyaz Laleler (Off-White Tulips) (D 2013, R: Aykan Safoğlu), Minute 15:19—15:42.

»James, do you think they could get to the premiere of the play?«120 Fotos von Aykan Safoğlus Vater, »Child of Sorrows«121 Emrah und Ayşecik werden vor die Kamera gelegt (ABB. 47). Durch dieses Nebeneinanderlegen wird eine Gemeinsamkeit angedeutet. Sie stehen für Menschen, die nicht zur intellektuellen Elite gehörten, es wird suggeriert, dass das Stück deswegen für sie nicht zugänglich war.122

ABBILDUNG 47 ABBILDUNG 48

»Would you embed the play deeper in the Turkish context? Would you make a Smithy out of the Blondy Ömercik? And Ayşecik wouldn’t be a bad Queenie for instance? Or would you have preferred amateur actors? I, for one, would like to play Rocky. It is not nice to gossip about me, this lubunya (faggot) is crazy’ off the stage. I won’t be a Rocky but would make a good İstanbulite Queenie.«123 Aykan Safoğlu imaginiert sich selbst auf performative Weise als Schauspieler in Baldwins Inszenierung und in den Rollen der queeren Charaktere des Stücks, spricht Baldwin wieder direkt an, während er ihm erklärt, warum er besonders qualifiziert für die Rolle der Queenie sei. Dies ist die Überleitung zu Safoğlus Kindheitserinnerungen an das Fernsehen (die Serie Dallas, Nachrichtenberichte über den Golfkrieg und die Musik von Peter Gabriel). Er fragt Baldwin, wie dieser Nachrichten erhalten habe und berichtet ihm vom letzten Brief, der an seine İstanbuler Adresse geschickt wurde. Zu sehen ist ein Umschlag, adressiert an Aykan Safoğlu im İstanbuler Stadtteil Cihangir, der zumindest bis vor seiner Gentrifizierung und bestimmten Gesetzesverschärfungen zum öffentlichen Raum, das schwule / queere (Ausgeh-)Viertel der Stadt war. Der Brief ist frankiert mit Briefmarken mit Blumen-Motiven und wurde versendet durch die türkische Armee. Darin enthalten ist ein medizinischer Bericht, der Aykan Safoğlu attestiert, dass er aufgrund seiner Homosexualität ausgemustert worden sei. Über die Adresse wird ein Foto von Aykan Safoğlu gelegt, er ist gekleidet in Drag, sein Look erinnert an den Style von Carmen Miranda. Er hat die Worte Don’t Ask, Don’t Tell auf den Arm geschrieben (ABB. 48). Dieses Foto ist eine frühe künstlerische Arbeit von Aykan Safoğlu, die eigens für den

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124 Aykan Safoğlu hat mir in einem Telefonat (5.10.2016) den Hintergrund zu diesem Bild erklärt. Er hatte dem Militär bereits Bilder vorgelegt, die ihn als Aktivisten in der LSBT-Community zeigen, um sich über die Begründung der Homosexualität vom Militärdienst ausmustern zu lassen. Der für seinen Fall zuständige Arzt in einem Militärkrankenhaus habe jedoch noch mehr bzw. andere Bilder sehen wollen, nämlich pornografische, die Aykan Safoğlu als Bottom beim Analsex zeigen sollten. Dies zeugt von einer sehr spezifischen Vorstellung von männlicher Homosexualität innerhalb des Militärs: Obwohl Homosexualität nicht als Krankheit klassifiziert ist, besteht das Militär darauf, eine ›psychosexuelle Störung‹ festzustellen, die durch rezeptiven Analverkehr belegt werden muss. Es ist zudem bemerkenswert, dass das türkische Militär offensichtlich darauf besteht, visuelles pornografisches Evidenzmaterial zu sichten. Türkische Aktivist_innen erklären halb im Scherz, halb ernst, dass das türkische Militär im Besitz eines der größten Archive für schwule Pornografie sei.

Zweck geschaffen wurde, auf die Aufforderung des türkischen Militärs zu reagieren, ›Beweise‹ für die eigene Homosexualität zu liefern, um sich so ausmustern zu lassen.124 Aykan Safoğlu macht hier eine Referenz auf Carmen Miranda, die er laut eigener Aussage ausgewählt hat, um in anachronistischer Weise eine historische Frauenfigur zu verkörpern. Kunst wird hier eingesetzt als Widerstands- und Überlebensstrategie, im Moment extremster homophober Diskriminierung und Pathologisierung, um sich Würde und ›Selbst‹ zu bewahren. Durch den Brief und das fotografische Selbstporträt wird auf Homophobie und institutionelle Diskriminierung verwiesen. Die Art der Erzählung hat etwas Humorvolles, tatsächlich wird hier jedoch ein gewaltvoller Zustand angesprochen. Die Pathologisierung von Homosexualität in der Türkei durch das türkische Militär ist ein gravierendes Beispiel von Heterosexismus, mit dem zahlreiche junge schwule Männer, Transfrauen und potenziell auch Transmänner, die bereits offiziell ihren Geschlechtseintrag haben ändern lassen, in der Türkei konfrontiert werden. Es lässt sich hier fragen, ob und wie Baldwin, der in seinen Büchern mit seinem homosexuellen Begehren sehr offen umgeht, in der Türkei ebenfalls Homophobie erlebt hat und ob, wie und mit wem er dort seine Sexualität ausgelebt hat? Wie wurde damit umgegangen? War er im Kontakt mit Schwulen, Transfrauen, Queers in İstanbul?

125 Kırık Beyaz Laleler (Off-White Tulips) (D 2013, R: Aykan Safoğlu), Minute 18:07—18:11. 126 Ebd., eigene Übersetzung. 127 Ebd. Minute 18:20—18:25. 128 Ebd.

»So, when humble tulips turn into proud lilies.«125

ABBILDUNG 49

Der Satz endet, ohne dass ausgeführt wird, was passiert, wenn sich »bescheidene Tulpen in stolze Lilien«126 transformieren, suggeriert jedoch queere Emanzipation. In der Narration heißt es anschließend: »Some things are better understood from a distance«127 Es handelt sich hier um eine Anspielung darauf, dass Aykan Safoğlu İstanbul verlässt und nach Deutschland zieht. Vom deutschen Staat erhält er als Aufenthaltstitel zunächst eine Fiktionsbescheinigung, die ebenfalls als Material im Film erscheint (ABB. 49). Sie kann als Hinweis auf Einwanderungspolitik und nationale Grenzen verstanden werden. Es folgt eine Auflistung von Dingen, die sich offensichtlich »besser aus der Distanz«128 verstehen lassen. Die Migrationserfahrung ist dabei, wenn es sich auch um unterschiedliche Migrationsbewegungen handelt, etwas, das James Baldwin durch seine Zeit in İstanbul und Aykan Safoğlu durch seinen Umzug nach Deutschland, miteinander teilen. Noch einmal geht es explizit um die Fotografien, die Baldwin in İstanbul zeigen. Es folgt eine Reihe von Bildern von Baldwin bei Partys und mit bekannten Persönlichkeiten.

249 129 Ebd. Minute 19:36—19:41. 130 Der US-amerikanische Schauspieler Marlon Brando nutzte seinen CelebrityStatus um die Aufmerksamkeit für die Schwarze Bürgerrechtsbewegung, Kämpfe von Indigenous People / Native Americans in den USA und andere gesellschaftspolitische Themen zu erhöhen. Als Brando 1973 den Oscar für seine Rolle in The Godfather (R: Francis Ford Coppola, USA 1972) gewann, verzichtete er auf die Teilnahme an der Auszeichnungszeremonie und schickte stattdessen die Native AmericanSchauspielerin Sacheen Littlefeather. Vgl. Cana Bilir-Meier / Madeleine Bernstorff, 2015. 131 Kırık Beyaz Laleler (Off-White Tulips) (D 2013, R: Aykan Safoğlu), Minute 20:48—22:04.

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»In fact, without Sedat Pakay’s beautiful photographs, who would believe you have lived in İstanbul for a while?«129

ABBILDUNG 50 ABBILDUNG 51

Auf der Ebene der Narration wird hier nicht nur die künstlerische Leistung von Sedat Pakay gewürdigt, sondern darüber hinaus der Evidenz-Charakter, der indexikalischer Fotografie häufig zugesprochen wird, reflektiert (ABB. 50). Es werden Fragen nach der Bedeutung von Medialität im Archiv und nach der Archivierbarkeit von queerer Geschichte aufgeworfen. Mit welchen Medien lässt sich die Existenz queeren Lebens in der Vergangenheit belegen? (Was) Wüssten wir von James Baldwins Leben in der Türkei ohne die Fotos von Sedat Pakay? In einer der letzten Sequenzen des Films erzählt Aykan Safoğlu von einem Traum, den er in betrunkenem Zustand hatte. Zuvor wurde auf der Ebene der Narration und auf der audiovisuellen Ebene das alkoholische Getränk Rakı dargestellt und erklärt, dass es die Farbe von klar zu einem gräulichen Weiß verändert, wenn es, wie üblich, mit Wasser vermischt wird (ABB. 51). (Auch Rakı hat somit die Farbe eines Off-White, wie die im Titel angesprochenen Tulpen.) »Drunk with rakı, I had weird dreams one night. Marlon Brando was named best actor at Oscars. He sends Ajda Pekkan to receive his award.130 After her thank you speech, Ajda starts singing like Aman Petrol, my heart Petrol... At that moment a Patriot hits the stage and Oscars turn into Eurovision. There the audience appears. You are among them. After a while, Gülriz disappears to pose for Delaney. My father has pity for you and tries to teach you how to play with your rosary. All of the sudden, Engin Cezzar appears on the front stage, dressed as Othello. When my mom asks him for an autograph, he flees saying he is supposed to invade Cyprus in the next play as Ögeday, a Turkish commander. Bored with the indifference of the audience, Ajda Pekkan turns into the ›Crying Child‹. And s /he starts to cry tulips. Seeing all this, my mom vanishes before someone can ask her ›may I call you mother?‹. With Marlon’s intervention, Ajda Pekkan adopts the ›Crying Child‹ and avoids a scandal. In the end Marlon ›Father‹ was the king of Arabesque.«131

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ABBILDUNG 52 ABBILDUNG 53 ABBILDUNG 54 ABBILDUNG 55 ABBILDUNG 56

In dem Traum, ausgelöst vom Rakı, verbinden sich fast sämtliche Figuren und Themen, die bisher im Film vorkamen. Die Ebene des Faktischen oder der Realität werden hier radikal aufgegeben. Durch den Traum werden, quasi in utopischer Weise, Begegnungen und Dinge möglich, die im ›echten Leben‹ z.B. bedingt durch Grenzen von Zeit und Raum, unmöglich wären. Interessanterweise wird dies verstärkt durch einen Wechsel der Medialität: Statt Fotografien einzusetzen, wird hier ausschließlich mit sehr zarten Bleistift-Zeichnungen gearbeitet (ABB. 52). Diese zeigen auf Umrisslinien reduzierte Figuren und Objekte aus dem Film. Die gezeichneten Figuren sind grob ausgeschnitten und werden auf der bereits bekannten Tischoberfläche angeordnet. Dadurch, dass sie allesamt auf Packpapier oder bräunlichen Zeichenkarton gezeichnet sind, verschwimmen sie fast mit dem Hintergrund. Es ist, als ob hier ein Schatten oder ein Gespenst aus den vorherigen Bildern ausgebrochen sei, um sich in den Traum zu schleichen und dort ein Eigenleben zu führen. Die Zeichnung als Medium kann sowohl ein Bild hervorbringen, das die_der Künstler_in tatsächlich gesehen hat, als auch ein Bild, das der Fantasie entsprungen ist. Im Gegensatz zur Fotografie wird ihr deswegen kein Evidenz-Charakter zugesprochen. In der Traumsequenz sind die gezeichneten Figuren genau wie der restliche Film nicht animiert (denkbar wäre z.B. ein Stopp-Motion-Verfahren), auch sie werden von Hand bewegt und hin und hergeschoben zu verschiedenen Kompositionen. Durch den Modus des Traums können in utopistischer Weise Personen wie James Baldwin, Ajda Pekkan, Marlon Brando, Gülriz Sururi und Aykan Safoğlus Eltern miteinander interagieren, es werden neue Verbindungen möglich und alternative Erzählungen. Der utopisch-queere Charakter des Traums korrespondiert mit der Medialität der Zeichnung, die das Erfinden und Schaffen eigener Bilder ermöglicht. Die Zeichnungen, die sich als reduzierte, unvollständige Kopien der Bilder lesen lassen, die zuvor im Film in anderen Medien zu sehen gegeben wurden, produzieren einen (er)neu(t)en Blick auf bereits Gesehenes. Der Film Kırık Beyaz Laleler endet jedoch nicht mit diesem Traum, sondern kommt noch einmal zurück auf James Baldwin und Aykan Safoğlu, die jetzt filmisch in direkte Beziehung zueinander gebracht werden. Eine der letzten Sequenzen zeigt eine Schwarz-Weiß-Fotografie von James Baldwin, der ein Glas mit Tee umrührt und mit leicht skeptischem Blick nach rechts schaut. Daneben werden nach und nach in scheinbar chronologischer Abfolge Fotos übereinandergelegt, die Aykan Safoğlu erst als Kind, dann als Teenager und schließlich in Drag, zeigen (ABB. 53—56). Durch die Anordnung der Bilder entsteht der Eindruck, dass der Blick Baldwins auf Aykan Safoğlu gerichtet ist, während dieser aufwächst. Dazu spricht Safoğlu:

251 132 Ebd. Minute 22:06—22:52. 133 Zu fotografischen Konstruktionen von Familie vgl. Marianne Hirsch: Family Frames. Photography, Narrative and Postmemory, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1997. 134 Eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der Art und Weise, wie innerhalb der Arbeit Kırık Beyaz Laleler Familie und familiäre Konstellationen dargestellt und verhandelt werden, wäre sicherlich aus queer-theoretischer Perspektive ebenfalls interessant. 135 José Esteban Muñoz, 1999, S. 61. 136 Vgl. Collective Creativity, 2016; Sandrine Micossé-Aikins / Raju Rage / Rena Onat, 2017 und Dzifa Afonu / Jin Haritaworn / Raju Rage, 2018. 137 Ebd. 138 Der Begriff Un-Archiving wird stellenweise in wissenschaftlicher Literatur anders verwendet. Gyanendra Pandey benutzt den Begriff Unarchiving, um in einer postkolonialen Perspektive zu problematisieren, wie bestimmte Geschichten und Perspektiven aus offiziellen Archiven gelöscht worden sind. Dies ist ebenfalls ein wichtiger Zugang. Allerdings folge ich der Verwendung des Begriffs durch Collective Creativity. Vgl. Gyanendra Pandey (Hg.): Unarchived Histories. The »mad« and the »trifling« in the colonial and postcolonial world, London, New York: Routledge 2013. 139 Vgl. https://www.iniva.org/, vom 23.7.2019.

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»Although you give me weird looks I would say, your writings help me to see clearly my childhood, and all the different ways life happens to us as well as what fear, love, hate and desire mean. In a way, what my own life story is. And to make a meaning out of it. Just the possibility that we could have seen the same city from the same point of view is exciting to me. Especially after I have left İstanbul. Maybe that is why I read your German translations nowadays.«132 An dieser Stelle erinnert die Ästhetik des Films erneut sehr stark an ein Fotoalbum, wodurch medial fast so etwas wie eine familiäre Zusammengehörigkeit von James Baldwin und Aykan Safoğlu konstruiert wird, da sie beide im selben privaten Archiv des Fotoalbums erscheinen. Das Fotoalbum ist üblicherweise ein sehr heteronormativ konnotiertes Medium, das die heterosexuelle Familie mit herstellt,133 dessen Ästhetik hier jedoch für eine Art queere Wahlverwandtschaft verwendet wird.134 Diese Sequenz ist eine Schlüsselsequenz innerhalb der Arbeit und konstruiert besonders stark einen Moment des Kontakts zwischen James Baldwin und Aykan Safoğlu. Ich komme auf diese Sequenz im nächsten Abschnitt noch einmal zu sprechen und diskutiere anhand dieses Beispiels die Konstruktion eines »transhistorischen Dialogs«.135

QUEERE MODI DES ERZÄHLENS MARGINALISIERTER GESCHICHTE(N) James Baldwin und seine Zeit in İstanbul »ent-archivieren«136 Raju Rage und Collective Creativity bezeichnen ihre Auseinandersetzung mit dem British Black Arts Movement als »Un-Archiving«137, um so zu unterstreichen, dass das Wissen über diese rassismuskritische Künstler_innen-Bewegung aus dem Archiv heraus und aktiv in den Umlauf gebracht werden muss.138 Im Zuge ihrer Recherchen nach Schwarzen Künstler_innen und Künstler_innen of Color in Geschichte und Gegenwart als Ressource für Empowerment und als Inspiration für die eigene Kunstpraxis, arbeitete das Kollektiv intensiv mit INIVA (Institute of International Visual Arts)139 und in der Stuart Hall Library. Sie kritisierten, dass sie im Kunststudium nichts über das British Black Arts Movement lernten und dass wiederum innerhalb

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140 Vgl. Morgan Quaintance: »PostRacialism: Morgan Quaintance Looks Beyond Identity Constructs.«, in: Art Monthly (370), 2013, S. 1—6.

des Diskurses über das British Black Arts Movement kaum weibliche und queere Künstler_innen vorkommen.140 Collective Creativity versuchten, diese Künstler_innen zu »ent-archivieren«141. Der Begriff Un-Archiving verbindet Archivierung, also das Dokumentieren und das Speichern von Wissen, insbesondere von minorisiertem Wissen, mit Unarchiving oder Entarchivierung. Letzteres ist weniger selbsterklärend. Unarchiving meint, Objekte minorisierten Wissens aus dem Archiv herauszuholen und (erneut) in den Umlauf zu bringen. Un-Archiving meint nach Collective Creativity einerseits die Aufarbeitung von Wissen zum und über das British Black Arts Movement, beinhaltet aber andererseits auch eine Kritik an institutionellem Umgang mit Community-Wissen, Bewegungsgeschichte, Wissen aus minorisierten Positionen, das im Archiv verschlossen bleibt und den entsprechenden Communitys, Bewegungen und aktivistischen Initiativen nicht (mehr) zugänglich ist. Un-Archiving beinhaltet daher auch ein Nachdenken über die Verbreitung und die Verbesserung von Zugänglichkeit, es stellt die Frage, wie marginalisiertes Wissen in die Community zurück gebracht werden. Leerstellen im Archiv in Bezug auf minorisierte Stimmen sind darin begründet, dass bestimmte Erzählungen tradiert und hegemonial werden, während andere verschwinden oder entinnert bzw. gesilenced werden. Lücken im Archiv entstehen nicht nur durch Nicht-Archivieren oder Vernichten von bestimmten Dokumenten, sondern auch durch die Politiken im Umgang mit vorhandenem Material. Das bedeutet, dass das Archivieren und Bewahren von marginalisierten Geschichten, das oft genug ausbleibt, nicht ausreicht, damit bestimmte minorisierte Subjekte wie QTIBIPoCs über Wissen über die eigene Geschichte verfügen können. Un-Archiving lässt sich mit Überlegungen von Aleida Assmann zum kulturellen Gedächtnis verbinden, wobei sie zwischen Speicher- und Funktionsgedächtnis unterscheidet.142 Dabei ist das Speichergedächtnis das kulturelle Archiv, in dem materielle Überreste vergangener Epochen aufbewahrt werden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie auch Teil der »lebendigen Erinnerung«143 sind. Um ins Funktionsgedächtnis einer Gesellschaft Eingang zu finden, brauche es »aktive Wertschätzung und persönliche Aneignung.«144 Der Begriff des Un-Archiving lässt sich für die Theoretisierung des Umgangs mit James Baldwin und seinem Leben in İstanbul innerhalb der Arbeit Kırık Beyaz Laleler erweitern. James Baldwin und seine Texte sind im deutschen aber auch im türkischen Kontext nicht so stark präsent, obwohl sie ein wichtiges Vermächtnis für intersektionalen politischen Aktivismus sowie künstlerische / kulturelle Arbeit darstellen. Durch die Arbeit Kırık Beyaz Laleler, die sich in besonderem Maße durch die von Assman beschriebene aktive Wertschätzung und die persönliche Aneignung auszeichnet, wird dieses Vermächtnis aktualisiert.

141 Raju Rage in: Dzifa Afonu / Jin Haritaworn / Raju Rage, 2018. 142 Vgl. Aleida Assmann, 2007, insbesondere S. 54—58. 143 Ebd. S. 54. 144 Ebd. S. 56.

253 145 Tatsächlich beschreibt Magdalena Zaborowska, die sich zu dem Zeitpunkt bereits intensiv mit James Baldwin befasst hatte, dass sie erst durch Pakays Film aufmerksam wurde auf diese Phase in Baldwins Leben und dieser ihre Forschung inspirierte. 146 Vgl. Mathias Danbolt, 2009. 147 Ann Cvetkovich, 2009, S. 57. 148 José Esteban Muñoz, 2009, u.a. auf S. 27.

Künstlerische Strategien der Disidentifikation, des Überlebens und des Un-Archiving

Insbesondere der Umgang mit den Bildern des Fotografen Sedat Pakay kann als Ansatz des Un-Archiving verstanden werden, denn obwohl es ein — durch ebendiesen geschaffenes — Archiv von Baldwins Zeit in İstanbul gibt, waren lange Zeit weder der Umstand, dass James Baldwin in İstanbul gelebt hat, noch die Bilder Pakays besonders bekannt.145 Sie sind Teil eines spezifischen Speichergedächtnisses jedoch nicht Teil eines Funktionsgedächtnisses. In der Arbeit Kırık Beyaz Laleler werden die Fotografien von Sedat Pakay ihrem ursprünglichen Kontext entnommen, in einem neuen Medium wieder-aufgeführt und finden damit Eingang in ein neues Archiv. Dieses Entnehmen und Wiedereinfügen von Material in ein Archiv ist eine Form der Arbeit daran, Erinnerung lebendig zu halten bzw. zu (re-)animieren. Das haptische Berühren der Bilder und anderer Objekte durch Aykan Safoğlu und die visuelle Repräsentation seiner Hände lese ich als Versuche des Be-Greifens oder, mit Mathias Danbolt, als Momente des »touching history«.146 Nicht nur das Abbild, sondern auch die Materialität der Fotografie ermöglichen dabei einen ›fühlbaren‹ Zugang zu Geschichte, wie Ann Cvetkovich argumentiert: »Photographs often function like objects when they hold memories and feelings — the materiality of the paper is as important as what the image represents, providing a tangible connection to a lost place, person, or object.«147 Mit einem Un-Archiving von James Baldwins Zeit in İstanbul durch die Arbeit Kırık Beyaz Laleler wird zwar die Erinnerung an diese Phase in James Baldwins Leben aktiviert bzw. Wissen darüber verbreitet, jedoch bleiben Lücken im Archiv bestehen. Viele Fragen, die sich mit dem Umstand, dass James Baldwin zeitweise in der Türkei lebte, verbinden, bleiben offen und können nicht beantwortet werden. Un-Archiving ist eine künstlerische und aktivistische Praxis minorisierte Geschichte(n) aus dem »no-longerconscious«148 im Hier-und-Jetzt ins Bewusstsein zu holen wo sie bestenfalls Potenziale für Belonging, Empowerment und Widerstand entfalten können. Autobiografisches und biomythografisches Erzählen als Selbstrepräsentation Vor dem Hintergrund postkolonialer Kritiken an Othering kann eine filmische Arbeit über eine historisch bedeutsame Schwarze queere Person wie James Baldwin ein Dilemma darstellen: Einerseits soll sein aktivistisches und intellektuelles Vermächtnis gewürdigt und in Erinnerung gehalten werden, andererseits birgt dies das Risiko der Objektifizierung und der (Re-)Produktion epistemischer Gewalt. Diesem Dilemma, eine Arbeit zu machen über den verstorbenen James Baldwin, den man nicht mehr selbst fragen kann, um seine eigene

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149 Audre Lorde, 1982. Zum biomythografischen Schreiben bei Audre Lorde und anderen minorisierten Autor_innen als Überschreitung des literarischen Genres der Autobiografie siehe Karen Weekes: »Othered Writers, Other Forms: Biomythography and Automythography«, in: Genre: Forms of Discourse and Culture (39), 2006, S. 329—346.

Perspektive und seine eigenen Erinnerungen zu berücksichtigen und dabei trotzdem zu vermeiden, hegemoniale Formen der Repräsentation von QTIBIPoCs wie Othering, Objektifizierung und epistemische Gewalt durch Sprechen-Über zu reproduzieren, wird in der Arbeit Kırık Beyaz Laleler sehr bewusst begegnet. Beispielsweise wirkt das sehr persönliche autobiografische bzw. »biomythografische«149 Erzählen, wie es Aykan Safoğlu inspiriert durch Audre Lordes Buch Zami — A new spelling of my name150 selbst nennt,151 bis hin zum Over-Sharing Aykan Safoğlus, wie ein Versuch zu vermeiden, aus einer auktorialen oder objektiven Erzählerposition heraus über Baldwin zu sprechen und stattdessen einen radikal subjektiven Zugang zu wählen. Der Künstler zeigt sehr viel von sich selbst, macht sich selbst verletzlich und nicht nur zum Autor, sondern auch zum Gegenstand des Filmes. Diese Strategien lassen sich im Anschluss an feministische Standpunkttheorie, postkoloniale Theorie und an Kritiken von BIPoCs am Mythos der Objektivität verstehen als Offenlegung des eigenen Standpunkts und als Versuch, mit bestehenden Konventionen innerhalb von dokumentarischen oder historischen Filmformaten zu brechen. Durch die Verortung wird Aykan Safoğlus Perspektive, aus der heraus er sich mit James Baldwins İstanbuler Zeit beschäftigt, erkennbar als partiale Perspektive, die explizit nicht-Schwarz, türkisch und queer ist. Autobiografisches oder biomythografisches Erzählen von marginalisierten Subjekten ist außerdem ein Modus des Erzählens marginalisierter Geschichten — und hier konkret ein Modus von QTIBIPoCs für die (Re-)Konstruktion eigener Geschichte(n), wie ich im Folgenden vertiefe. Am Beispiel der Arbeit Kırık Beyaz Laleler, in der versucht wird, einen wenig bekannten Teil aus dem Leben Baldwins mit begrenzten Mitteln zu rekonstruieren, lässt sich grundsätzlich die Frage diskutieren, wie sich vergessene oder nicht-erzählte marginalisierte Perspektiven in der Geschichtsschreibung erzählen und erinnern lassen. Die Art des Erzählens von Geschichte innerhalb der Arbeit Kırık Beyaz Laleler kann in tradierten Praxen verschiedener marginalisierter Communities verortet werden. Dazu gehört beispielsweise das Festhalten eigener Geschichten als Gegendiskurs zur hegemonialen Geschichtsschreibung. Autobiografisches Arbeiten war und ist dafür ein wichtiges Instrument, insbesondere für (QTI)BIPoC. Exemplarisch verdeutlicht und ausgeführt werden soll dies anhand eines längeren Zitats der Brüder Lyle Ashton Harris und Thomas Allen Harris. Die zwei Schwarzen queeren US-amerikanischen Künstler, diskutieren die Art und Weise, wie sie in ihrer Kunst mit Autobiografie arbeiten und warum dies eine emanzipatorische Strategie, ist in einem Gespräch über ihre gemeinsame Arbeit Brother Hood, Crossroads, Etcetera.152

150 Audre Lorde, 1982. 151 Vgl. Cana Bilir-Meier / Madeleine Bernstorff, 2015. 152 In seinem fotografischen Triptychon Brotherhood, Crossroads, Etcetera (1994), posiert der Künstler Lyle Ashton Harris gemeinsam mit seinem Bruder, dem Filmemacher Thomas Allen Harris, nackt vor einem an die UNIA-Flagge angelehnten rot-schwarz-grünen Hintergrund in homoerotisch aufgeladenen Posen und verbindet damit symbolisch Black Power und Queerness.

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153 Lyle Ashton Harris / Thomas Allen Harris, 1998, S. 249.

»Thomas: Miss Thing! You love autobiography and so do I. Just look at our respective projects: The Secret Life of a Snow Queen (1990), Heaven, Earth & Hell (1993), The Good Life (1994), and Vintage: Families of Value (1995). All of these engage autobiography as a liberatory strategy. Historically, the black literary tradition of autobiography as self-creation and self-fashioning has been a necessary and radical act. The first novels written by Africans in this country were autobiographical texts.«153

154 Henry Louis Gates (Hg.): Bearing Witness. Selections from African-American Autobiography in the Twentieth Century, New York: Pantheon Books 1991. Zitiert nach: Lyle Ashton Harris / Thomas Allen Harris, 1998, S. 249.

In diesem Zusammenhang zitieren Harris und Harris Henry Louis Gates, jr., der schreibt: »Of the various genres that comprise African-American literary tradition, none has played a role as central as autobiography. For hundreds of black authors, the most important written statement that they could make seems to have been the publication of their life stories. Through autobiography, these writers could at once shape the ›self‹ in language, and protest the degradation of their ethnic group by the multiple forms of American racism. The ultimate form of protest, certainly, was to register in print the existence of a ›black self‹ that had transcended the limitations and restrictions that racism had placed on the personal development of the black individual.«154 Der Schwarze Literaturwissenschaftler Henry Louis Gates, jr., der von Harris und Harris zitiert wird, erklärt die Bedeutung von Autobiografie für die afroamerikanische Literaturgeschichte. Autobiografie, so Gates, hat(te) für Schwarze Autor_innen das Potenzial, zugleich gegen rassistische, degradierende Repräsentationen von Schwarzen anzukämpfen und sprachlich ein ›Selbst‹ zu schaffen, ein ›Selbst‹, das die Grenzen überschreitet, die Schwarzen Menschen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung und anderen Bereichen des Lebens durch ein rassistisches System gesetzt werden. Die Bedeutung eines solchen (künstlerischen) Schaffens eines ›Selbst‹ ist kaum zu überschätzen im Angesicht von Othering, permanenter und gewaltvoller Fremdrepräsentationen durch einen hegemonial weißen Blick innerhalb eines rassisierten Regimes der Repräsentation und normativem Weißsein. Autobiografisches Erzählen aus einer marginalisierten Perspektive ist somit potenziell mehr als die Auseinandersetzung mit sich selbst oder das Erzählen persönlicher Geschichten, sondern kann angesichts der Abwesenheit von QTIBIPoC-Perspektiven in der Geschichte und im öffentlichen

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155 Der Begriff ist, wie bereits erwähnt, in beiden Büchern von Muñoz zentral. Ich verwende ihn weiterhin mit Bezug auf Muñoz.

Diskurs Widerstand, Empowerment und Queer Worldmaking155 bedeuten, in dem es andere Sichtweisen, andere Zustände und eine andere Welt vorstellbar macht. Autobiografie aus marginalisierten Perspektiven ist eine Form der Selbstrepräsentation als Gegendiskurs und Gegenbild zu hegemonialen Formen der Repräsentation. Darin enthalten ist ein Moment des Teilens individueller Erfahrung, sie als exemplarisch und relevant für andere zu begreifen und die Bedingtheit von Gemeinsamkeiten bestimmter Erfahrungen in den strukturellen Dimensionen von Rassismus und Heterosexismus zu erkennen. Das Teilen von Erfahrungen ist eine wichtige Strategie für Empowerment, denn es ermöglicht es, den ›Fehler‹ nicht in sich selbst, sondern in struktureller Diskriminierung und Benachteiligung zu sehen. Das Sammeln und Teilen von ›unseren‹156 Geschichten,157 ermöglicht ein strategisches Selbstrepräsentieren als Gegendiskurs und um die eigene Perspektive, die eigene Wirklichkeit und das eigene Erleben mit anderen zu teilen und als Intervention gegen epistemische Gewalt, Auslöschung, Ent-innerung oder Silencing wirksam werden zu lassen.158 Autobiografie als Fiktion zu erzählen und nicht als ›objektiv‹, wird für Aykan Safoğlu durch Lordes Zugang der Biomythografie ermöglicht.159 Diese schafft eine größere Freiheit in der Erzählung und in der Selbstdarstellung. Autobiografische Narration ist in Kırık Beyaz Laleler damit nicht etwa eine authentische Ergänzung zu den spekulativen und imaginierten Momenten, die immer wieder vorkommen, insbesondere dann, wenn es darum geht, sich das Leben von James Baldwin in İstanbul vorzustellen, sondern auch hier verschwimmen Realität und Imagination. ›Authentizität‹ ist keine Priorität. Bevor ich erkläre, inwieweit dies eine queere Strategie darstellt, zeichne ich einen weiteren spezifischen Zugang zu Geschichte und Zeitlichkeit nach. Die Art und Weise, wie in der Narration aber auch auf der visuellen Ebene dialogische und intime Momente zwischen Aykan Safoğlu und James Baldwin konstruiert werden, beschreibe ich im Folgenden als »transhistorischen Dialog«160 innerhalb der Arbeit und diskutiere dessen Potenziale für QTIBIPoC-Zugänge zu Geschichte.

Vgl. José Esteban Muñoz, 1999 und José Esteban Muñoz, 2009. Siehe hierzu das Kapitel Queer of Color-Kritik. 156 Gemeint sind hier QTIBIPoC. 157 Toi Scott, 2014, S. i. 158 Zahlreiche Sammelbände mit Sammlungen (auto-)biografischer Erzählungen und anderer Textformen von Autor_innen of Color / Schwarzen Autor_innen verdeutlichen die Bedeutung dieser Form der Selbstrepräsentation beispielsweise für Schwarzen Feminismus und Women of Color Feminismus. Publikationen wie This Bridge Called My Back, Farbe Bekennen und Talking Home stellen nach wie vor wichtige Bezugspunkte für Frauen und Queers of Color dar. Auch andere minorisierte Communitys nutzten und nutzen Autobiografie und Textsammlungen mit Perspektiven aus der eigenen Community für Selbstrepräsentation und Empowerment. Vgl. u.a. Cherríe Moraga / Gloria Anzaldúa (Hg.), 1981, Katharina Oguntoye / May Opitz / Dagmar Schultz (Hg.): Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte, Berlin: Orlanda 1986, Olumide Popoola / Beldan Sezen (Hg.): Talking home. Heimat aus unserer eigenen Feder, Frauen of Color in Deutschland, Amsterdam: Blue Moon Press 1999. 159 Aykan Safoğlu im persönlichen Gespräch, 5.10.2016. 160 José Esteban Muñoz, 1999, S. 61. 161 Ebd. 162 Looking for Langston (GB 1989, R: Isaac Julien). 163 Muñoz bezieht sich auf Gayl Jones: Liberating Voices. Oral Tradition in African American Literature, Cambridge, MA: Harvard University Press 1991. 164 José Esteban Muñoz, 1999, S. 61—62.

Der »transhistorische Dialog«161 in Kırık Beyaz Laleler (Off-White Tulips) (2013) Den Begriff des transhistorischen Dialogs verwende ich in Anlehnung an José Esteban Muñoz und seine Analyse des Films Looking For Langston.162 Der ›Dialog‹ kommt zustande durch einen Modus, den Muñoz mit Gayl Jones163 als »Call-andResponse«164 bezeichnet. Call-and-Response bedeutet wörtlich ein Rufen-und-Antworten, eine Person —, z.B. ein_e Prediger_in ruft, die Gemeinde antwortet. Call-and-Response ist eine

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165 Ebd.

mündliche Schwarze Tradition und u.a. in Gospel und Rap ein häufig vorkommendes Element. In einer Sequenz aus Looking For Langston repräsentieren, so Muñoz, Essex Hemphill und Langston Hughes jeweils einen historischen Pol, der für schwule Männlichkeiten in der Gegenwart und in der Vergangenheit steht. Durch filmische Verfahren von Montage und Überlagerung werden beide miteinander in einen Dialog gebracht. Essex Hemphill ruft, so Muñoz, in Looking For Langston durch die Zeit zu einer ›vergessenen‹ oder ›verlorenen‹ Schwarzen queeren Identität, die repräsentiert wird durch Langston Hughes. Dieser »Dialog durch die Zeit«165 ermöglicht eine Historisierung Schwarzer schwuler Kultur über die Bezugnahme auf Langston Hughes, die zugleich eine Kontextualisierung für gegenwärtige kulturelle Produktionen von Schwarzen schwulen Männern wie Essex Hemphill bietet und damit Schwarze queere Genealogien ermöglicht. Wie Muñoz herausarbeitet, nehmen die filmästhetischen Verfahren, die Isaac Julien entwickelt, Bezug auf eine Tradition, die explizit in Schwarzer Kultur verortet ist und zum Zeitpunkt des Erscheinens von Looking For Langston zugleich neu und innovativ in der Filmgeschichte waren.166 Es kommt somit nicht nur auf der Ebene des Inhalts, sondern auch auf der audiovisuellen Ebene zu einer Zentrierung Schwarzer Perspektiven. Dies ist begründet in der Notwendigkeit, alternative Darstellungsformen und Repräsentationen zu (er-)finden, um Geschichten Schwarzer Schwuler erzählen zu können, ohne dabei weiße (visuelle) Dominanzkultur zitieren oder sich daran orientieren zu müssen. In Kırık Beyaz Laleler findet ebenfalls ein Rufen durch die Zeit zu einer historisch bedeutsamen Figur statt. James Baldwin steht für eine starke rassismuskritische Position aber auch für die explizite Thematisierung bi- und homosexuellen Begehrens. Der Umstand, dass er zehn Jahre in İstanbul lebte, eröffnet Fragen danach, in was für einem Umfeld er dort lebte, ob und wie dort damals über Rassismus und Homosexualität gesprochen wurde und wie sich queeres Leben in İstanbul zu einem früheren Zeitpunkt vorstellen lässt. Aykan Safoğlu spricht zu Baldwin in seiner eigenen »Mutterzunge«167 [türkisch: ana dili] Türkisch, die dieser absichtlich nie gelernt haben soll. Der verstorbene Autor kann selbstverständlich nicht selbst antworten, aber er wird von dem jüngeren Künstler so adressiert, als ob. Aykan Safoğlu duzt James Baldwin dabei, er gibt sich ihm als queer zu erkennen, es entsteht ein Gefühl von Intimität zwischen den beiden. Zeitliche, nationale und sprachliche Grenzen, die die beiden voneinander trennen, werden dabei konsequent ignoriert und überschritten. In diesem intimen ›Gespräch‹ wird ein Begehren offenbart, ein Begehren danach, mit dem Verstorbenen, dem Idol in Kontakt zu treten, sich mit ihm zu unterhalten, ihm Fragen stellen zu können, vielleicht

166 Vgl. ebd. 167 Vgl. Emine S. Özdamar: Mutterzunge. Erzählungen, Berlin: Rotbuch 1991.

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168 Kırık Beyaz Laleler (Off-White Tulips) (D 2013, R: Aykan Safoğlu), Minute 22:06—22:52.

sogar sein Freund oder Liebhaber zu sein oder zusammen in İstanbul um die Häuser zu ziehen. Der ›Dialog‹ entsteht durch das Aufzeigen und Ignorieren seiner Unmöglichkeit, indem aus dem Sprechen zu Baldwin die Dringlichkeit eines Begehrens nach einem solchen Gespräch durchscheint. Dialogische Momente werden nicht nur sprachlich über die Narration angelegt, sondern ebenso auf der visuellen Ebene durch das Nebeneinanderlegen von Fotografien. Dieser Effekt ist besonders stark gegen Ende des Films in der Sequenz, in der es heißt »Although you give me weird looks...«168 (ABB. 53—56) und dazu neben eine Schwarz-Weiß-Fotografie von James Baldwin Fotos von Aykan Safoğlu gelegt werden in einer Weise, die dessen Aufwachsen zu dokumentieren scheint. Die Bildfolge beginnt mit Kinderfotos und endet mit Safoğlu sichtbar queer codiert in Drag. Es ist, als ob Baldwin non-verbal durch seinen Blick spricht, während er lässig seinen Çay umrührt. Dieser Blick hat zugleich etwas Familiäres und Baldwin wirkt fast wie eine Vaterfigur oder wie ein Amca / Onkel. Der Satz »Obwohl du mir sonderbare Blicke zuwirfst...«169 macht mehrere Dinge gleichzeitig: Er suggeriert, dass auf dem Foto von Baldwin nicht nur sein Blick eingefangen, abgebildet und eingefroren wurde, sondern dass Baldwin aktiv blickt. Damit erscheint das fotografische Objekt, das in der Geschichte der Fototheorie immer wieder mit dem Tod zusammengebracht wurde,170 — beispielsweise wegen der Analogie zum Schuss und dem Einfrieren von Bewegung — wie ein lebendiger171 Akteur und wie ein Subjekt mit Agency. Der Blick von Baldwin wird imaginiert als einer, der auf Aykan Safoğlu gerichtet ist und damit als Form des Kontaktes zwischen den beiden. Dieser Kontakt wiederum wird über die grammatikalische Form des Präsens zeitlich in der Gegenwart verortet, obwohl Baldwin verstorben ist und ein zeitlicher Abstand zwischen ihm und Aykan Safoğlu besteht. Der transhistorische Dialog zwischen Aykan Safoğlu und James Baldwin hat den Effekt, dass die Zuschauenden nicht Adressat_innen der Erzählung sind, sondern vielmehr in die Position gebracht werden, ein Gespräch zwischen zwei Personen mit anzuhören. Dies ermöglicht eine Veränderung etablierter Konstellationen von Publikum, Narration und / oder Figuren auf der Leinwand bzw. auf dem Bildschirm. Das Wissen, das durch den Film geteilt wird, wird nicht repräsentiert als Wissen, das dem Publikum zusteht, sondern als Wissen für James Baldwin. Der Erzähler im Film, der Künstler Aykan Safoğlu selbst, ist weder ein auktorialer Erzähler, noch adressiert er das Publikum, um ›uns‹ etwas über Baldwin zu erzählen, wie es in Formaten des Dokumentarischen oder Biografischen den Regelfall darstellt. Performativ wird hier mit James Baldwin gesprochen, statt über ihn, selbst dann, wenn dies eigentlich gar nicht möglich ist.

169 Ebd. 170 Katharina Sykora arbeitet den Diskurs zum Tod in der Fototheorie im zweiten Band ihrer Reihe Tode in der Fotografie auf, wobei sie sich schwerpunktmäßig auf die Positionen von Roland Barthes und Siegfried Kracauer konzentriert. Vgl. Katharina Sykora: Die Tode der Fotografie. Band 2: Tod, Theorie und Fotokunst, Paderborn: Fink 2015, S. 12—107. 171

Tatsächlich untersucht Sykora ebenfalls die Denkfigur der ›Belebung‹ als vermeintlich paradoxe Umkehr. Sie erklärt, dass gerade die Kunstfotografie im Wettstreit mit den traditionellen Künsten, versuchte, sich gegen den Vorwurf der rein mechanischen Reproduktion und des leblosen Klischees der Wirklichkeit zu behaupten, in dem die Subjektivität des Fotografen als Autor (männliches Autorschaftskonzept) besonders betont wurde. Vgl. ebd. S. 63—95.

ABBILDUNG 53 ABBILDUNG 54 ABBILDUNG 55 ABBILDUNG 56

259 172 Kırık Beyaz Laleler (Off-White Tulips) (D 2013, R: Aykan Safoğlu), Minute 22:06—22:52. 173 Ebd. 174 James Baldwin war selbst an intergenerationalem Austausch interessiert. So widmete er sein Buch The Fire Next Time seinem Neffen. Vgl. James Baldwin, 1964.

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Tatsächlich entsteht dabei dennoch eine Geschichte über James Baldwin von Aykan Safoğlu. In derselben Sequenz, gegen Ende des Films, in der James Baldwin Aykan Safoğlu »weird looks«172 zuwirft, heißt es weiter: »your writings help me to see clearly my childhood […] in a way, what my own life story is«173. Mit der Aussage zeichnet Aykan Safoğlu Verbindungen zwischen sich und James Baldwin nach und weist dessen Arbeit als bedeutsam für einen Blick auf sich selbst aus. Baldwin und sein Werk sind hier markiert als Ressource für Selbstfindung und Subjektivierung. Hier wird erneut ein Begehren deutlich nach James Baldwin als Vorbild, das als Wegweiser fungieren kann, für eine Orientierung in Bezug auf die eigene Lebensgeschichte. James Baldwin steht damit für ein Begehren nach intergenerationalem Austausch und queeren Vorfahren.174 Dieses subjektive Begehren Aykan Safoğlus nach James Baldwin, das in der Arbeit zum Ausdruck gebracht wird, ist kein rein individualisiertes Begehren, sondern ein kollektives, denn es verbindet sich mit dem geteilten Begehren vieler QTIBIPoCs nach einer ›eigenen‹ Geschichte und nach historischen Vorbildern für antirassistische und queere Kämpfe. Dies ist ein Umgang mit Geschichte, der nach Möglichkeiten der (Selbst-)Repräsentation von marginalisierten Perspektiven innerhalb der Geschichte fragt und der den transhistorischen Dialog und Begehren gegenüber einer linearen, objektiven, rationalen Geschichtsschreibung vorzieht. Zugleich kommt in diesem geteilten Begehren die Leerstelle zum Ausdruck, die Lücke im Archiv, die QTIBIPoC-Perspektiven in der Geschichte und innerhalb des normativen Weißseins innerhalb westlicher Kultur darstellen, denn es ist nicht leicht positive Identifikationsfiguren, Personen, mit den man bestimmte Diskriminierungs- und Widerstandserfahrungen teilt und Vorkämpfer_innen, die Wege geebnet haben, zu finden. Der transhistorische Dialog in Aykan Safoğlus Arbeit ist in meiner Lesart Ausdruck der Suche danach. Was sind Gemeinsamkeiten und Verbindungen über die Tatsache hinaus, dass beide zu unterschiedlichen Zeiten in İstanbul gelebt haben? Verbindungen, wenn auch entfernte, bestehen in einem queeren Begehren, in der Erfahrung, in einem anderen Land zu leben als dem, in dem man aufgewachsen ist und dort zunächst ›fremd‹ zu sein und durch diese Distanz einen anderen Blick auf das Herkunftsland zu bekommen sowie — wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise — mit der eigenen Positionierung strukturellen Rassismus zu erleben. Das bedeutet nicht, dass sich die Erfahrungen des Schwarzen bisexuellen Bürgerrechtsaktivisten und die eines schwulen türkischen Künstlers, der innerhalb der Türkei als weiß und in Deutschland als Person of Color positioniert ist, gleichsetzen lassen. Vielmehr muss die Verbindung zwischen Aykan Safoğlu

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QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

175 Ika Hügel / Dagmar Schultz / Ilona Bubeck / May Ayim / Chris Lange / Gülşen Aktaş (Hg.), 1993.

und James Baldwin, die hier künstlerisch-performativ konstruiert wird, als »entfernte Verbindung«175 verstanden werden. Der Begriff der entfernten Verbindung ist bedeutsam im Zusammenhang mit frühen Frauen of Color-Bündnispolitiken im deutschen Kontext der 1990er Jahre. Er bezeichnet einen Ansatz, aktiv nach Verbindungen und Gemeinsamkeiten zu suchen, ohne dabei jedoch eine Gleichsetzung verschiedener Diskriminierungserfahrungen vorzunehmen. Er ist im Zusammenhang mit Frauen of Color-Politiken aus der Erkenntnis heraus entstanden, dass weiße Vorherrschaft über Praktiken des Teile-und-Herrsche (re-)produziert wird, indem verschiedene Communitys of Color unterschiedlich privilegiert werden, sehr unterschiedliche Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen machen und so Bündnisse und Zusammenschlüsse erschwert werden. Aus diesem Grund ist es eine widerständige und utopische Strategie, nach (entfernten) Verbindungen zu suchen, denn es ermöglicht Vernetzung und Formation von gemeinsamen Bewegungen über Trennlinien hinweg. Aykan Safoğlu erzählt James Baldwin immer wieder von sich selbst, seiner Biografie, seiner Familiengeschichte, seinem Aufwachsen in İstanbul und fügt diese Erzählungen den anderen Geschichten, den Geschichten über Baldwin und die Türkei hinzu, obwohl die Verbindungen zwischen James Baldwin und Aykan Safoğlu in gewisser Weise willkürlich und weit weg erscheinen. Die Entfernung zwischen James Baldwin und Aykan Safoğlu ist sowohl eine zeitliche Distanz zwischen Gegenwart und Vergangenheit als auch eine räumliche Distanz zwischen unterschiedlichen nationalen Kontexten, als auch eine Distanz zwischen den differenten Positionierungen. Durch das Begehren, das immer wieder durchflimmert in dem gleichermaßen unmöglichen und intimen transhistorischen Dialog, passiert jedoch etwas, es entsteht ein flüchtiger, dünner Pfad, der eine Verbindungslinie entstehen lässt. Sara Ahmed erklärt, dass es in der Landschaftsarchitektur den Begriff der »desire line«176 gibt für Trampelpfade, die entstehen, weil Menschen von den vorgezeichneten Wegen abweichen. Die Abweichung, so Ahmed, hinterlässt Spuren auf dem Boden und bringt unerwartete und alternative Pfade hervor. Diese Linien sind Spuren des Begehrens. Sie entstehen deswegen, weil wiederholt dem Wunsch nachgegangen wurde, von einem Punkt zu einem anderen zu gelangen und dabei einen Weg zu gehen, der nicht Vor-gesehen177 ist.178 Der Vor-gesehene Weg wäre der — meist gerade — fest angelegte. Es greift wieder die Doppeldeutigkeit des Begriffes straight im Englischen als gerade und heterosexuell: Tatsächlich sind es die ›Abweichungen‹ von der »straight line«179, dem geraden Weg bzw. im übertragenen Sinn dem Weg der Heterosexualität, die zu Desire Lines führen. Der Begriff aus der Landschaftsarchitektur wird somit zu einer bedeutsamen Metapher, um über (sexuelle)

176 Sara Ahmed, 2006, S. 19—20. 177 Ich verwende diese Schreibweise um auf Johanna Schaffers Verwendung des Begriffs des Vor-gesehenen anzuspielen. Vgl. Johanna Schaffer, 2008. 178 Vgl. Sara Ahmed, 2006, S. 19—20. 179 Ebd. S. 70.

261 180 Vgl. ebd. S. 19—20.

Künstlerische Strategien der Disidentifikation, des Überlebens und des Un-Archiving

Orientierung nachzudenken. Queere Subjekte gehen Verbindungen miteinander ein, obwohl in einer heteronormativ strukturierten Welt der Weg der Heterosexualität Vor-gesehen ist. Die Desire Line funktioniert hier zugleich zur Verdeutlichung, wie durch ein Begehren nach Baldwin eine verbindende Linie zwischen Baldwin und Aykan Safoğlu entstehen kann.180 Dennoch ist interessant, dass es gerade James Baldwin ist, der hier zum Ausgangspunkt gemacht wird für eine türkische Queer of Color Perspektive auf İstanbul und die Türkei. Stellt dies eine Aneignung Schwarzer Perspektiven dar? Inwieweit ist dies auch Ausdruck einer besonderen Stellung von US-amerikanischen Diskursen innerhalb von Aktivismus, Kunst und Theorie von Queers of Color / Schwarzen Queers in Deutschland, Europa und anderen Kontexten? Welche historischen queeren Vorfahr_innen aus der Türkei könnten alternativ aktualisiert werden? Zugleich wird diese Komplexität explizit verhandelt, in dem immer wieder nach dem Verhältnis zwischen Baldwin und den Menschen in der Türkei, sowie nach dem Machtgefälle zwischen ›Ost‹ und ›West‹ und der Übertragbarkeit von James Baldwins für den US-amerikanischen Kontext entwickelten Theorien gefragt wird. In diesem Sinn geht es nicht nur um eine ›eigene Geschichte‹, sondern auch um ein ambivalentes Verhältnis zu historischen Vorbildern, um Fan-Sein und um einen spezifischen Blick auf die Türkei zu einem historischen Zeitpunkt mit einer Gleichzeitigkeit von lebendiger Kunst und Kulturszene und repressiver Politik. Zugleich ist und bleibt James Baldwin über die USA hinaus bedeutsam als Schwarzer Autor, der nicht nur scharfe rassismuskritische Gesellschaftsanalysen verfasst hat, sondern schon früh explizit über homosexuelles Begehren schrieb und seine eigenen Erfahrungen theoretisieren konnte. Sein Werk ist eine wichtige Ressource für Empowerment auch für nichtSchwarze People of Color, was nicht zuletzt durch die Arbeit Kırık Beyaz Laleler deutlich wird. Die Bezugnahmen auf Looking For Langston und, wie im nächsten Abschnitt: The Watermelon Woman, zeigen darüber hinaus, dass künstlerische Strategien und Konzepte aus Schwarzen queeren Perspektiven wichtige Impulse geben für eine Reflexion von rassistischen Repräsentationsregimen und die Entwicklung alternativer Darstellungsformen. Der Arbeit und dem Denken Schwarzer Queers, Schwarzer Feministinnen, von denen viele Schwarze Lesben sind oder waren, haben QTIBIPoCs transnational sehr viel zu verdanken. Schwarze kulturelle und intellektuelle Arbeit, Schwarzer antirassistischer Aktivismus und rassismuskritische Theoriebildung haben Konzepte und Strategien hervorgebracht, die wichtige Bezugspunkte rassismuskritischen Denkens darstellen und von denen auch nicht-Schwarze People of Color in Bezug auf Empowerment stark profitiert haben und weiter profitieren.

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181 Kırık Beyaz Laleler (Off-White Tulips) (D 2013, R: Aykan Safoğlu), Minute 22:06—22:52.

Dies muss besonders gewürdigt werden vor dem Hintergrund, dass Colorism / Shadism und anti-Schwarzer Rassismus inklusive der Aneignung Schwarzen Wissens auch innerhalb von People of Color-Communitys vorkommen. Die Verbindung von James Baldwin zu Aykan Safoğlu ist eine entfernte, und vor allem eine affektive. »Just the possibility, that we could have seen the same city from the same point of view is exciting to me«181, sagt Aykan Safoğlu in Kırık Beyaz Laleler. Die Information, dass Baldwin eine Zeit in İstanbul lebte, macht ›etwas‹. Eine Fotografie zu sehen, die James Baldwin auf der Galata-Brücke zeigt, wie er auf den Bosporus guckt, also an einem Ort, an dem sicherlich jede Person, die sich einmal in İstanbul aufgehalten hat, vorbeigekommen ist, ist bewegend auf eine Weise, die nicht rational ist. Die Beschäftigung mit James Baldwin erlaubt Aykan Safoğlu einen anderen Blick auf sich, seine Kindheit und seine Familie, sagt er in der Narration. Es wird deutlich, dass die Auseinandersetzung mit dem historischen Vorbild eine Auseinandersetzung mit dem ›Selbst‹ darstellt. Dies wird in der Arbeit Kırık Beyaz Laleler nicht verheimlicht, sondern explizit gemacht. Ich verstehe diesen Zugang auch als Versuch, Othering und Sprechen-Über zu vermeiden. Insbesondere durch den Modus des transhistorischen Dialogs wird zumindest performativ ein Begehren nach persönlichem Kontakt und Austausch des Künstlers / Erzählers mit James Baldwin über dessen Erfahrungen in İstanbul zum Ausdruck gebracht. Die Desire Line lässt sich als entfernte Verbindung denken, denn sie überbrückt eine Distanz zwischen zwei räumlich voneinander getrennten Objekten, zwischen zwei Objekten, die sich nicht von selbst oder bereits in der Nähe voneinander befinden. Die Verbindung entsteht nur durch Arbeit, durch das beständige Betreten eines Pfades, der vom vorhergesehenen abweicht. Der transhistorische Dialog kann damit verstanden werden als queerer Modus des Erzählens von marginalisierter Geschichte, der dahingehend arbeitet, entfernte Verbindungslinien zwischen QTIBIPoCs herzustellen. Die Entfernung, die dabei überbrückt wird, ist zeitlich, das Orientation Device ein Begehren nach alternativen Geschichten. Durch das Ignorieren und Überschreiten normativer zeitlicher Grenzen zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft entstehen Potenziale und Ressourcen für QTIBIPoC-Empowerment, in dem Vergessenes, Ent-innertes und auch das Erbe verstorbener Vorfahren und Vorkämpfer_innen in der Gegenwart reaktiviert und reanimiert werden kann. Die eigene Suche, das eigene Begehren Aykan Safoğlus nach dem Kontakt mit James Baldwin ist produktiv im Sinn eines Queer Worldmaking, denn es hat in Form der filmischen Arbeit ein neues Dokument für ein QTIBIPoC-Archiv hervorgebracht, das eine Ressource und einen Zugang für andere QTIBIPoCs zu James Baldwin und anderen historischen

263 182 Julia Bryan-Wilson / Cheryl Dunye: »Imaginary Archives: A Dialogue«, in: Art Journal 72 (2), 2013, S. 82—89, hier S. 83. 183 Ebd. 184 Zitat aus dem Abspann von The Watermelon Woman (USA 1996, R: Cheryl Dunye). 185 Zu dem Film The Watermelon Woman existieren zahlreiche interessante Untersuchungen, siehe u.a.: Laura L. Sullivan: »Chasing Fae: The Watermelon Woman and Black Lesbian Possibility«, in: Callaloo, Johns Hopkins University Press 23 (1), 2000, S. 448—460; Andreas Jahn-Sudmann: Der Widerspenstigen Zähmung? Zur Politik der Repräsentation im gegenwärtigen US-amerikanischen Independent-Film, Bielefeld: transcript 2006; Matt Richardson: »Our Stories Have Never Been Told: Preliminary Thoughts on Black Lesbian Cultural Production as Historiography in The Watermelon Woman«, in: Black Camera 2 (2), S. 100—113; Robert Reid-Pharr: »Makes Me Feel Mighty Real. The Watermelon Woman and the Critique of Black Visuality«, in: Alexandra Juhasz / Jesse Lerner (Hg.), F is for phony. Fake Documentary and Truth’s Undoing, Minneapolis, London: University of Minnesota Press 2012, S. 130—140; Alana Kumbier: »Inventing History: The Watermelon Woman and Archive Activism«, in: Lyz Bly / Kelly Wooten (Hg.), Make Your Own History. Documenting Feminist and Queer Activism in the 21st Century, Sacramento: Litwin Books 2012, S. 89—104, sowie Kara Keeling: Queer Times, Black Futures, New York: New York University Press 2019. Cheryl Dunyes neuerer Film The Owls (USA 2010, R: Cheryl Dunye) wird von Natascha Frankenberg analysiert vgl. Natascha Frankenberg: Queere Zeitlichkeiten in dokumentarischen Filmen. Untersuchungen an der Schnittstelle von Filmwissenschaft und Queer Studies, Bielefeld: transcript 2021.

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Vorbildern oder Vorfahren, aber auch zu den Erfahrungen Aykan Safoğlus ermöglicht, die hier biomythografisch geteilt werden. »Imaginäre Archive«182 in Cheryl Dunyes Film The Watermelon Woman (1996) und in Kırık Beyaz Laleler Zugänge von QTIBIPoC-Künstler_innen im Umgang mit Leerstellen im Archiv und in der Geschichte, werden im folgenden Abschnitt weiter ergänzt. Anhand des Films The Watermelon Woman (1996) der Schwarzen lesbischen Filmemacherin Cheryl Dunye wird die Bedeutung eigener Geschichte besonders anschaulich und das Repertoire an queeren, insbesondere Schwarzen queeren Strategien im Umgang mit Lücken erweitert um das Schaffen von »imaginary archives«183. Der Film stellt zugleich eine theoretische Grundlage zur Vertiefung meiner Analyse von Aykan Safoğlus Arbeit dar. Im Abspann von The Watermelon Woman erscheinen die Worte: »Sometimes you have to create your own history. The Watermelon Woman is fiction.«184 Diese Worte überraschen, denn der Film erweckt den Eindruck, dass es sich hier um eine Dokumentation handele, um eine wahre Geschichte. The Watermelon Woman (1996) ist ein Film über eine junge Schwarze lesbische Amateur-Filmemacherin. Sie begeistert sich für Filme aus den 1930er und 1940er Jahren und will einen eigenen Film über ihre Lieblingsschauspielerin drehen, die eine Nebenrolle in einem Film namens Plantation Memories spielt und im Abspann nicht namentlich genannt, sondern nur als Watermelon Woman bezeichnet wurde. Die Filmemacherin, Cheryl, recherchiert die Geschichte der Schauspielerin, was sich als äußerst schwierig erweist und findet nach und nach mehr über sie heraus, beispielsweise dass sie lesbisch war, dass sie mit einer weißen Regisseurin eine Beziehung hatte und dass sie auch als Sängerin aufgetreten ist. Für ihre Recherche sucht Cheryl verschiedenste Archive auf — institutionalisierte Archive wie die Bibliothek, alternative Archive wie das Lesbian Herstories Archive (LHA) und auch ephemere Archive wie den Keller ihrer Mutter sowie eine Schachtel mit Fotos, aus dem Besitz einer Freund_in der Mutter. Der Film The Watermelon Woman changiert in seiner Inszenierung immer wieder zwischen Spiel- und Dokumentarfilm. Es werden filmische Mittel wie die direkte Ansprache des Publikums, retrospektives Erzählen, das Zeigen von Archivmaterial und biografische Sequenzen eingesetzt. Die Grenze zwischen Fiktion und NichtFiktion wird aufgeweicht und in Frage gestellt.185 In der Storyline hat Cheryl einen Durchbruch bei ihrer Recherche, als sie dank einer Freundin ihrer Mutter, einer

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186 ›Wir‹ meint hier alle Leser_innen.

älteren Butch, Fotos von Fae Richards bzw. der Schauspielerin des Charakters der Watermelon Woman findet. Diese Fotos spielen als Objekte eine zentrale Rolle im Film und wirken wie historische Dokumente. Tatsächlich sind sie jedoch in einer Kollaboration zwischen Cheryl Dunye und der Künstlerin Zoe Leonard entstanden. Die beiden imitieren die Ästhetik von Fotografien aus den 1920er, 30er und 40er Jahren gekonnt. Einige der Bilder erscheinen wie private Schnappschüsse, andere dagegen wie professionelle Starfotografie. Beispielsweise wird Fae Richards in der würdevollen Pose einer Diva mit geschlossenen Augen, leicht geöffnetem Mund aus dem der angeleuchtete Rauch einer Zigarette entweicht vor einem dunklen Hintergrund fotografiert. Frisur, Kleidung und Pose suggerieren, dass sie auf einer Bühne im Nachtclub steht. Die Bilder dieser Serie scheinen für die echte Fae Richards zu stehen, die nicht mehr in der Rolle der Watermelon Woman aus ihrer frühen Karriere ist. (ABB. 57) Das Material orientiert sich dabei an Normen der Visualität und Medialität von Medien im Archiv. So wird die Performativität von Medien im Archiv vorgeführt, in dem deutlich wird, dass es bestimmte ästhetische und mediale Qualitäten sind, die wir in einer Weise mit Historizität verbinden, dass wir ihnen einen besonderen Stellenwert als Träger von Geschichte zuschreiben.186 In einem Gespräch mit Julia Bryan-Wilson erklärt Cheryl Dunye, wie sie zu der Idee kam, gemeinsam mit Zoe Leonard diese Bilder zu inszenieren die »poignant re-creations of a life we have scant evidence of«187 sind:

187 Julia Bryan-Wilson / Cheryl Dunye, 2013, S. 83. 188 Ebd. S. 83. ABBILDUNG 57

»The idea to create an imaginary archive for The Watermelon Woman was part necessity, part invention. After completing the script, I began to search for archival material to use in the film at the Lesbian Herstory Archive in Brooklyn and the Library of Congress in Washington, D.C. While the Lesbian Herstory Archive was filled with juicy material from African American lesbian life, including the Ira Jeffries archive (she appears in the film), it had no material on African American Women in Hollywood. The Library of Congress, on the other hand, had some material from African American women in Hollywood, but none on African American lesbians. And as those resources were beyond my budget at the time, I decided to stage and construct specific photos that I needed for the film, and did that in collaboration with Zoe.«188 Interessanterweise beschreibt auch Cheryl Dunye, dass sie für die Arbeit an ihrem Film zunächst verschiedene Archive aufgesucht hat und darin mit unterschiedlichen Leer-

265 189 Ebd. S. 84. 190 Mit dieser Formulierung beziehe ich mich auf José Esteban Muñoz, der von queerer Utopie schreibt als Kritik an der Gegenwart, die erlaubt zu sehen, was sein könnte und vielleicht sein wird. Vgl. José Esteban Muñoz, 2009, S. 35. 191 Zitiert aus dem Abspann von The Watermelon Woman (USA 1996, R: Cheryl Dunye) (siehe oben). 192 Zur Frage des ›Erfindens‹ von Geschichte in The Watermelon Woman vgl. Alana Kumbier, 2012. 193 Aykan Safoğlu hat mich in einem Telefonat (5.10.2016) darauf aufmerksam gemacht, dass The Watermelon Woman 2016 anlässlich des 20. Jubiläums der Erstveröffentlichung restauriert wurde und in diesem Jahr auch auf der Berlinale gezeigt wurde. Er selbst habe Cheryl Dunye bei einem Publikumsgespräch nach der Zusammenarbeit mit der Künstlerin Zoe Leonard gefragt. In der Antwort auf die Frage sei herausgekommen, dass für eine Begleitausstellung* anlässlich der Restauration von The Watermelon Woman geplant gewesen sei, dass die Bilder von Zoe Leonard gezeigt werden. Diese seien jedoch größtenteils verkauft worden und die Künstlerin selbst habe nicht mehr das Urheberrecht, deswegen könnten die Bilder nicht reproduzieren oder gezeigt werden. Die Lücke, die Schwarze lesbische Positionen im Archiv darstellen, wird dadurch sozusagen verdoppelt: Selbst die fiktiven Bilder des imaginary archive sind nicht (mehr) vorhanden oder verfügbar. *Vermutlich handelt es sich hier um die Ausstellung Memoirs of a Watermelon Woman, An Archive of Production Ephemera at the ONE Archives, die am 3.9.2016 in Los Angeles eröffnet wurde. Dort wurden dann Testdrucke der Fotoserie The Fae Richards Photo Archive (1996) von Zoe Leonard ausgestellt. https://thewatermelonwoman.com/ 2016/08/19/memoirs-of-a-watermelon-woman-an-archive-of-production-ephemera-at-the-one-archives/, vom 8.10.2020.

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stellen und anderen Hindernissen — etwa fehlenden finanziellen Mitteln — konfrontiert war. Mit ähnlichen Problemen war, wie ganz am Anfang des Kapitels erwähnt, auch Isaac Julien bei seiner Arbeit an Looking For Langston konfrontiert. Schwarze queere Filmemacher_innen wie Cheryl Dunye und Isaac Julien haben aus der Not heraus jeweils einen eigenen künstlerischen Umgang mit Leerstellen im Archiv entwickelt, der radikal-queere Zugänge zu Geschichte eröffnet und im Fall von The Watermelon Woman zugleich hegemoniale Archive kritisiert. Das Erfinden der eigenen Geschichte — Cheryl Dunye nennt ihre früheren filmischen Arbeiten auch »dunyementaries«189 — inklusive des Produzierens eigenen Archivmaterials verweigert auf radikale Weise eine Anerkennung der Konventionen und Methoden von Geschichtswissenschaft und dem Genre des Dokumentarfilms. Die konventionellen Methoden stehen jedoch für QTIBIPoCs mitunter nicht zur Verfügung. Die Geschichte der Schwarzen lesbischen Schauspielerin Fae Richards aus den 1930er Jahren ist eine fiktive Geschichte, aber eine, die gewesen sein könnte190. Die Worte im Abspann von The Watermelon Woman — »Sometimes you have to create your own history«191 — sind bewegend, denn sie zeugen von der Schwierigkeit eines Zugangs zur eigenen Geschichte aber auch von einem Begehren danach, eine solche Geschichte zu finden.192 Der Ansatz des Erfindens der eigenen Geschichte bis hin zur Produktion eigenen Archivmaterials kann als utopische, queere Strategie verstanden werden: Der Umstand, dass Schwarze lesbische Perspektiven in der Filmgeschichte eine Lücke im Archiv193 darstellen und mit den herkömmlichen historischen Zugängen nicht auffind- oder rekonstruierbar sind, wird nicht hingenommen. Statt sich damit abzufinden, keine eigene Geschichte zu haben, schreibt Cheryl Dunye selbst eine eigene Geschichte und füllt diese Leerstelle. Die Auslassungen normativer Geschichtsschreibung und hegemonialer Archive bleiben nicht nur wahrnehm- und kritisierbar, sondern werden schockierend deutlich. Es wird außerdem eine alternative Erzählung vorgeschlagen, eine, in der eine Schwarze Schauspielerin in einer Nebenrolle in einem Film aus den 1930er Jahren, in dem das Leben auf einer Plantage in nostalgischer Weise romantisiert und Leben in Versklavung verharmlost wird, einen tatsächlichen Namen, eine eigene Geschichte inklusive einer Butch als liebender Partnerin, hat. Die alternative Erzählung ist eine, die empowernde für Schwarze Lesben und QTIBIPoCs in der Gegenwart ist. Um innerhalb der filmischen Arbeit Kırık Beyaz Laleler von James Baldwins Zeit in İstanbul zu erzählen, musste der Künstler Aykan Safoğlu ebenfalls einen Umgang damit finden, dass abgesehen von den Fotografien von Sedat Pakay das Material, auf das er zurückgreifen kann, sehr begrenzt ist. Diese

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QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

194 Zitiert aus dem Abspann von The Watermelon Woman (USA 1996, R: Cheryl Dunye).

Bilder dokumentieren Baldwins Leben und sein Umfeld dort, wenn auch nicht systematisch, geschweige denn vollständig. Sie ermöglichen im Jetzt einen Zugang zu diesem Teil von Baldwins Biografie, der lange Zeit in der Forschung zu Baldwins Werk kaum beachtet wurde. Sie bilden ein Archiv zu James Baldwins Zeit in İstanbul, entstanden aus der Freundschaft zwischen Pakay und Baldwin. Mit den Fotografien lässt sich ein Teil der Geschichte erzählen, allerdings fehlen weitere Informationen, die nicht transportiert werden. Aykan Safoğlu begegnet diesen Lücken mit Spekulation, indem er beispielsweise als Erzähler fragt, welche Musik Baldwin wohl gehört haben mag, welche Farben Baldwins Freund Beauford Delaney in seinem Gemälde von Gülriz Sururi einsetzte, was passiert wäre, wenn Baldwin dem Vater Aykan Safoğlus begegnet wäre? Imaginieren ist in Kırık Beyaz Laleler — wie auch in The Watermelon Woman — eine legitime Strategie historischer Rekonstruktion im Sinn eines »creat[ing] your own history«194. Im Gegensatz zu Cheryl Dunyes Film kommt es weniger zur Irritation in Bezug auf das, was als ›wahre Geschichte‹ verstanden wird, als dass Geschichte von Anfang in einem Modus erzählt wird, in dem Fakten und Imagination sich abwechseln und miteinander verbinden. Aykan Safoğlu verwendet selbstproduziertes Material, wie beispielsweise die Zeichnungen in der Traumsequenz, die in ihrer Medialität bereits vom erwarteten Realismus eines Archivmediums abweichen. Es entsteht ein imaginäres Archiv, allerdings nicht wie bei Zoe Leonard und Cheryl Dunye durch die Produktion von Fotos, die als historische Belege für Schwarze Lesben in der Filmgeschichte ›passen‹ können, um sich damit eine eigene Geschichte zu schreiben. Das Schaffen von imaginären Archiven ist zugleich ein Queering des Archivs und vor allem von dessen Medialität und Materialität. Archivmaterial wird nicht behandelt als historische Quelle, die ›authentisch‹ und ›originalgetreu‹ zu sein hat, sondern wird hier bewertet aus einer Schwarzen lesbischen Perspektive heraus, vor allem hinsichtlich des Potenzials, etwas zur Geschichte von Schwarzen Lesben — genauer: Schwarzen Lesben in der Filmgeschichte — auszusagen. Das ›Queere‹ an dieser Praxis ist erstens begründet in der Zentrierung von queeren Perspektiven, die hier nicht nur einen untergeordneten Punkt oder eine Nebensache oder ein nachträglich hinzugefügtes Puzzleteil einer Geschichte bilden, sondern den Ausgangspunkt darstellen. Zweitens kann der Umstand, dass dem Original und der ›Authentizität‹ von Archivmaterial wenig Bedeutung beigemessen wird, vor dem Hintergrund einer radikalen Infragestellung des Originals innerhalb queerer Theorie, als queere Strategie verstanden werden. Hier ist vor allem Judith Butlers Theoretisierung von Geschlechtsidentität als »Imitation ohne Original«195 zu nennen, die sie anhand

195 Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991 (1990), S. 203.

267 196 Butler verteidigt diese Performativitäten gegen den Vorwurf, dass damit stereotype Geschlechterrollen imitiert würden, und argumentiert stattdessen, dass in der Imitation der Konstruktionscharakter von Geschlechtsidentität insgesamt offenbart werde. Denn die Konstruktion von Geschlechtsidentität arbeite sich immer an einem idealtypischen Verständnis von ›Mann‹ und ›Frau‹ ab, die es in Wirklichkeit gar nicht gebe, die jedoch beständig imitiert werden müssten, um Geschlechtsidentität oder Gender performativ herzustellen. Vgl. Judith Butler, 1991 (1990), S. 201—208. 197 Ebd., S. 203. 198 José Esteban Muñoz, 2009, S. 65. 199 In ähnlicher Weise argumentiert auch Ann Cvetkovic in An Archive of Feelings, dass aufgrund von Abwesenheit institutioneller Dokumentation oder der Notwendigkeit von Gegendarstellungen zur offiziellen Geschichtsschreibung Erinnerung sowie ephemere und persönliche Sammlungen wertvolle historische Ressourcen für Schwule und Lesben seien, die mitunter Seite an Seite mit Dokumenten aus der Dominanzkultur stünden. Vgl. Ann Cvetkovich: An Archive of Feelings. Trauma, Sexuality, and Lesbian Public Cultures, Durham, London: Duke University Press 2015, S. 8.

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von Auseinandersetzungen mit performativen Formen von Geschlechter-Parodie wie Dragperformances, Crossdressing sowie Butch / Femme-Performativitäten entfaltet.196 Zugleich schreibt Butler der Geschlechter-Parodie das Potenzial zu, den Begriff des Originals als solchen zu parodieren: »Als Imitationen, die die Bedeutung des Originals verschieben, imitieren sie den Mythos der Ursprünglichkeit selbst. Deshalb kann die geschlechtlich bestimmte Identität, statt als ursprüngliche Identifizierung, die als determinierende Ursache dient, neu als persönliche / kulturelle Geschichte übernommener Bedeutungen begriffen werden.«197 In der Arbeit Kırık Beyaz Laleler findet eine Verschiebung bzw. Verqueerung der Bedeutung des Originals in der Art und Weise statt, wie dort mit dem Material umgangen wird. Bei einem Großteil der Objekte handelt es sich um Kopien bzw. Abdrucke von Archivmaterial, den Fotos von Sedat Pakay, auf Buchseiten. In dieses ›Archivmaterial‹ wird interveniert, um andere Signifikationen zu provozieren, zum Beispiel durch Unterstreichungen oder durch das Kolorieren, anstatt es im Originalzustand zu lassen. Es wird bearbeitet, manipuliert und angefasst. Neben historischem fotografischem Material kommen eigene Zeichnungen, Privatfotos, nostalgisch aufgeladene Filmplakate oder andere ephemere und affektiv aufgeladene Objekte zum Einsatz. Dem Persönlichen und dem Spekulativen wird dabei mindestens eine genauso große Bedeutung für das Erzählen der Geschichte zugesprochen wie dem Original und dem Faktischen. Anknüpfend an die eingangs erwähnte Feststellung von Muñoz, dass queere Erfahrung in der Vergangenheit sich nicht ohne weiteres mit vermeintlich harten Fakten belegen lassen, können die Strategien innerhalb der Arbeit Kırık Beyaz Laleler und in The Watermelon Woman als »Queering Evidence«198 beschrieben werden, also als ein aus queerer Perspektive veränderter Blick darauf, wo(rin) Spuren queerer Erfahrung auffindbar sind und womit sich Queerness nachweisen lässt.199 So macht Muñoz das Konzept des Ephemeren produktiv für Fragen des Archivs und Geschichte aus queerer Perspektive: »Queerness is rarely complemented by evidence, or at least by traditional understandings of the term. The key to queering evidence, and by that I mean the ways in which we prove queerness and read queerness, is by suturing it to the concept of ephemera. Think of ephemera as trace, the remains, the things that are left, hanging in the air like a rumor. [...] Ephemera are

268 200 José Esteban Muñoz, 2009, S. 65. 201 Mathias Danbolt, 2009, S. 37 [eigene Übersetzung]. 202 Dieser Begriff ist ebenfalls ein zentraler Begriff in Cruising Utopia, den Muñoz in Anlehnung an Ernst Bloch entwickelt, siehe José Esteban Muñoz, 2009, S. 27—28. 203 Ebd. S. 35.

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the remains that are often embedded in queer acts, in both stories we tell one another and communicative physical gestures such as the cool look of a street cruise, a lingering handshake between recent acquaintances, or the mannish strut of a particularly confident woman.«200 Viele Momente in der Arbeit Kırık Beyaz Laleler inszenieren eine solche Suche nach Spuren. Ich denke hier beispielsweise an den Closer Look, mit dem Aykan Safoğlu sich den Fotografien von James Baldwin mit einer Lupe nähert. Mathias Danbolt verdeutlicht, dass das Problem der Interpretation historischen Materials im Angesicht von Lücken im Archiv kein alleiniges Problem der Queer Studies oder minorisierter Subjekte ist. Allerdings, so Danbolt, wird die »Reflexivität und Produktivität dieser Position nur selten anerkannt in anderen Forschungsfeldern.«201 Es ist gerade die Reflexivität und Produktivität im Umgang mit fehlenden Perspektiven in der Geschichte und Lücken im Archiv, durch die sich die Arbeit Kırık Beyaz Laleler auszeichnet. Viele der kreativen Entscheidungen können verstanden werden als abgeleitet aus spezifischen kritischen Diskursen aus QTIBIPoC-Communitys, postkolonialer, queerer, und feministischer Theorie. Hier zeigt sich eine sehr enge Verzahnung künstlerischer und theoretischer Reflexion in der Arbeit Aykan Safoğlus. Welten machen aus queerer Erinnerung Innerhalb der Arbeit Kırık Beyaz Laleler passiert mehr als eine Aufarbeitung und Wiedergabe von Fakten über James Baldwin und seine Zeit in İstanbul. Vielmehr ist James Baldwin darin der Ausgangspunkt, von dem aus sich rhizomartig Linien ausbreiten, über die andere Objekte erreichbar werden, bei denen es sich um ›vergessene‹ oder entinnerte Geschichten handelt, wie beispielsweise die etymologische Bedeutung bestimmter Wörter im Türkischen, die im Verlauf der ›Purifizierung‹ der türkischen Sprache und der Homogenisierung des türkischen Staates unter Atatürk aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden und »no-longer-conscious«202 sind. Erinnerung ist, wie Muñoz betont, immer konstruiert und immer politisch.203 Es ist besonders der Konstruktionscharakter von Erinnerung, die in Kırık Beyaz Laleler immer wieder explizit gemacht wird. Medientechnologische und medienkulturelle Anteile an normativen Konstruktionen von Gender, ›Rasse‹, Sexualität und Klasse sowie allgemein der Konstruktionscharakter von Zu-Sehen-Gegebenem werden reflektiert und immer wieder unterbrochen. Die Art und Weise wie innerhalb der

269 204 Dagmar Brunow: Remediating Transcultural Memory. Documentary Filmmaking as Archival Intervention, Berlin, Boston: de Gruyter 2015. 205 Zum Begriff der Remediatisierung siehe auch: Andrea Seier: Remediatisierung. Die performative Konstitution von Gender und Medien, Berlin: Lit 2007. 206 Yener Bayramoğlu, 2017, S. 15. 207 Ebd. 208 »In the absence of institutionalized documentation or in opposition to official histories, memory becomes a valuable historical resource, and ephemeral and personal collections of objects stand alongside the documents of the dominant culture in order to offer alternative modes of knowledge.« Ann Cvetkovich, 2015, S. 8, Herv. R.O.

Künstlerische Strategien der Disidentifikation, des Überlebens und des Un-Archiving

Arbeit Erinnerung verhandelt wird, lässt sich mit Dagmar Brunow als »remediated transcultural memory«204 beschreiben, denn die zahlreichen Momente von Medienreflexivität, in Verbindung mit biografischen und autobiografischen Narrativen und türkischer Geschichte, lassen Erinnerung als mediatisiert erscheinen. Durch die besondere Umsetzung, bei der Fotografien und andere Objekte abgefilmt werden, ist dies zu präzisieren als Remediatisierung205 von Erinnerung. Dieser Zugang ist erweitert um die Dimension Erinnerungen an Medienrezeption, wie beispielsweise Erinnerungen an die türkische Synchronisierung der Serie Dallas, als Erinnerung an Fernseh-Erlebnisse, die andernfalls als trivial erachtet werden mögen, historische Relevanz beizumessen. Yener Bayramoğlu erklärt, dass wir »die queere Stille und Unsichtbarkeit nur anhand der verzerrten und deformierten Stimmen, die uns erreichen, analytisch dokumentieren«206 können. Als Medien- und Kommunikationswissenschaftler hat er queere Repräsentationen in der türkischen und in der deutschen Boulevardpresse diskursanalytisch untersucht. Während Bayramoğlus Aussage auf verschiedene wissenschaftliche methodologische Zugänge zutreffen mag, ist sehr deutlich geworden, dass Künstler_innen und Filmemacher_innen andere und weniger gewaltförmige Wege finden, diese »queere Stille«207 im Archiv zu analysieren oder mit den Leerstellen umzugehen. Das Potenzial von Kunst für die (Re-)Konstruktion von QTIBIPoCGeschichte besteht darin, die eigene Geschichte erfinden zu können, auf kreative Weise Lücken zu füllen und imaginäre Gespräche mit Vorfahr_innen führen zu können, statt allein den deformierenden Erzählungen aus heterosexuellen Perspektiven und heteronormativen Medienberichten zuhören zu müssen. Wie sich anhand der Beispiele von Kırık Beyaz Laleler, Looking For Langston und The Watermelon Woman gezeigt hat, entwickeln Schwarze queere Künstler_innen und queere Künstler_innen of Color eigene Strategien für die (Re-)Konstruktion von Geschichte, aus der Problematik heraus, in der offiziellen Geschichte und in den offiziellen Archiven keine oder kaum Repräsentationen von QTIBIPoCs zu finden. Diese Strategien können mit Cvetkovic als »alternative Modi des Wissens«208 verstanden werden, denn sie stehen häufig im Widerspruch zu den konventionellen Methoden der Geschichtswissenschaft oder der Logik hegemonialer Archive. Deren Allgemeingültigkeit und Hegemonie wird damit zugleich kritisch hinterfragt. Wenn die Arbeit Kırık Beyaz Laleler ein Archiv ist, dann ist sie eines, in dem die Kriterien der Auswahl der Objekte bestimmt sind durch queere Sensibilität. Es handelt sich um ein Archiv, bei dem die Zusammenstellung von Bildern und Objekten in variierenden Konstellationen kuratiert ist durch Aykan Safoğlu, und zwar in einer explizit subjektiven und affizierten Art und Weise.

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QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

209 Julia Bryan-Wilson / Cheryl Dunye, 2013, S. 83.

Alternative Modi des Wissens von QTIBIPoCKünstler_innen in Form von Un-Archiving, transhistorischen Dialogen, imaginären Archiven und auch das Ernstnehmen persönlicher Erfahrungen und Erinnerungen sowie eine Abwendung von ›harten Fakten‹ erlauben QTIBIPoC, sich selbst, die eigenen Erfahrungen und die eigenen Kämpfe innerhalb einer Geschichte zu verorten — und zwar innerhalb einer Geschichte, die näher an einer ›Wahrheit‹ von QTIBIPoCs ist als die Lücke und die gewaltvolle (Fremd-)Repräsentation durch einen weißen heterosexuellen Blick. Die Problematik des Mangels an institutionalisierter Dokumentation, die Notwendigkeit, auf alternative Quellen und alternative Archive zurückzugreifen bzw. diese erst selbst zu (er-)finden und zu schaffen, wird als Gemeinsamkeit queerer Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit erkennbar. Die Arbeit ist produktiv im Sinn eines Queer Worldmaking: Leerstellen werden zumindest punktuell gefüllt mithilfe von Spekulation, ergänzt durch »imaginary archives«209 und Un-Archiving von bisher unzugänglichen Informationen. Diese künstlerischen Praxen schaffen Repräsentationen für queeres (Über-)Leben in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Muñoz argumentiert, dass, queere Erinnerungen an Utopie und das Begehren, das diese strukturiert, »[…] help us carve out a space for actual, living sexual citizenship.«210 Das bedeutet, dass queere Erinnerung und künstlerische Repräsentationen, die dafür geschaffen werden, Effekte haben können, die über die visuelle Darstellung hinausgehen. Queeres Worldmaking, wie es von Muñoz beschrieben wird, kann damit verstanden werden als verbunden mit den wirklichkeitserzeugenden Effekten von Repräsentation. Allerdings wird hier eher ein Fokus auf »reparativen Praxen«211 eingenommen: Queeres Worldmaking fokussiert darauf, andere Zustände als den Status Quo (wieder) zu erinnern, zu imaginieren und vorstellbar oder sogar real werden zu lassen.

210 José Esteban Muñoz, 2009, S. 35. 211 Eve Kosofsky Sedgwick, 2014, S. 395.

LOOKING FOR ANOTHER COUNTRY IN İSTANBUL Taking a break from work and writing my dissertation took me to İstanbul where I stayed about a week. Writing about a piece of artwork by my friend Aykan who made a short film about James Baldwin and the time he spent in İstanbul made me want to read Another Country, the book Baldwin finished while he lived in İstanbul. Aykan says in Kırık Beyaz Laleler addressing Baldwin: »Just the possibility, that we could have seen the same city from the same point of view is exciting to me.« I took the book with me on my trip, read it on the airplane, on busses, the ferry, drinking tea in several çay bahçesiler and it stayed with me the whole time. I looked for clues in the novel about how Baldwin perceived İstanbul. I was impressed by the way Baldwin discusses racism, especially within relationships between whites and blacks but also the problems racism causes for interracial relationships, the pressure, the hate coming from other people, the mistrust, all of this not limited to heterosexual relationships, but on the contrary, including queer desire without fixing something like a queer identity. e more I read the more excited I got about Another Country and came up with the idea of giving it to my host and friend as a thank you present, as I knew, that it had been translated into Turkish. I went to a lot of bookstores, asking for the book. ey found it in the computer, but it wasn’t on the shelf. Instead, I bought DVDs of films showing Kurdish perspectives. Babamın Sesi and a film I only bought because one of the actresses was an ex-girlfriend of a friend. – Have you seen the film Çapulçu? Is it any good? – Well,

it is a documentary, talks about the resistance in gezi parkı... I finally found Baldwins book in a branch of the Yapı Kredi Yayınları bookstore. Yapı Kredi is a bank, but they seem to have a big publishing house as well which I didn’t know. I was happy to find Bir Başka Ülke for 20% off, chatted with the salesman in Turkish, something like, – did you know Baldwin finished this book here in İstanbul? – Yeah, and did you know he was friends with the actor Engin Cezzar? – Yes. I kept looking around for a little while. I came across the book Cinsel Yönelimler ve Queer Kuram. I hadn’t heard of the book but then I saw my friend Yener from Berlin has published an article in it about Stonewall and about Pride Marches in İstanbul. e other articles are a mix of translations of foundational texts of Queer Studies and local perspectives. Was James Baldwin connected to queer formations that have produced Queer Kuram in Turkey?

IV

RE/ORIENTIERUNGEN UND VORLÄUFIGE ANKUNFTSORTE

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QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

1

Sara Ahmed, 2007, S. 151.

2

Wie zuvor verwende ich auch hier die Begriffe Starting Point und Orientation Device im Anschluss an Sara Ahmed.

Zu Beginn habe ich geschrieben, dass Queer of Color-Kritik mein Starting Point sein soll, der »point from which the world unfolds«1 und dass die Arbeiten von QT(I)B(I)PoC-Künstler_innen die Objekte sind, denen ich folge, meine »Orientation Devices«.2 Wohin haben diese Orientation Devices geführt? Welche Orientierungen und Linien haben sich dabei aufgetan? Einige der wichtigsten Punkte, meine Ankunftsorte, möchte ich zum Abschluss rekapitulieren. Diese Ankunftsorte sind jedoch keine Endpunkte auf einer Linie, vielmehr können sie zukünftige Starting Points sein.

Vgl. Sara Ahmed, 2007 und 2006. 3

Ann Cvetkovich, 2015, S. 8.

4

Ebd. S. 107.

»ALTERNATIVE MODI DES WISSENS«?3 Darüber nachzudenken, was »within reach«4 ist, in Reichweite ausgehend von bestimmten Subjektpositionen, aber auch Räumen, ermöglicht eine Aktualisierung von Einsprüchen in wissenschaftlichen Universalismus. Es schafft zudem ein Verständnis in Bezug auf das Wissen minorisierter Subjekte, das sich von dem hegemonialen Verständnis innerhalb der Dominanzkultur und der Wissenschaftsdiskurse im deutschen Kontext unterscheidet. Die Anerkennung des Wissens von QTIBIPoCs ist damit nicht allein eine Frage der ›Inklusion‹, besser: der Herstellung epistemischer und sozialer Gerechtigkeit, sondern ermöglicht eine Erweiterung des Horizonts der Wissenschaft als solcher. Für Studien zur visuellen Kultur, Kunst- und Medienwissenschaften sind solche Objekte des Wissens, wie sie durch Künstler_innen wie Hasan Aksaygın, Sunanda Mesquita, Aykan Safoğlu und andere QTIBIPoCs hervorgebracht werden, nur dann erreichbar, wenn eine Orientierung eingenommen wird, die diese Perspektiven zentriert und künstlerisches Wissen, verkörpertes Wissen, Erfahrungswissen als Wissen ernst nimmt. Es folgt daraus auch, dass es nicht allein einer Sensibilisierung derjenigen, die in akademischen Diskursen bereits angekommen sind, für ›neue‹ oder minorisierte Themen bedarf, sondern dass es plurale Perspektiven braucht, unterschiedliche körperliche Ausrichtungen und Standpunkte, damit andere Objekte des Wissens erreichbar werden. Dies ist abhängig von der eigenen Positionierung, den eigenen Starting Points, der Wahl der Orientation Devices und den Linien, denen wir folgen. In den künstlerischen Arbeiten von Hasan Aksaygın, Sunanda Mesquita, Aykan Safoğlu und weiteren QTIBIPoCKünstler_innen bestehen Schnittstellen zwischen künstlerischer und akademischer Wissensproduktion. Kunst, Bilder, visuelle Kultur und Objekte werden in allen Arbeiten behandelt als Zeichen, die Bedeutung transportieren und mit denen sich Geschichten

277 5

Sunanda Mesquita verwendet als Künstlerin häufig den Namen Decolonial Killjoy, im Anschluss an die von Sara Ahmed beschriebene und oft zitierte Figur der Feminist Killjoy.

6

José Esteban Muñoz, 2009.

7

Sara Ahmed, 2006, S. 39.

8

Ebd.

Vgl. u.a. Sara Ahmed, 2017.

Re/Orientierungen und vorläufige Ankunftsorte

erzählen lassen, die sogar die Funktion von alternativen Archiven erfüllen. Auch Kunst- und Mediengeschichte sowie visuelle Kultur werden immer wieder reflektiert und zum Gegenstand der Arbeiten gemacht. Es werden Themen und Fragestellungen — ausgehend von QTIBIPoC-Perspektiven — verhandelt, die anknüpfungsfähig für bestehende Theoriebildung im Forschungsfeld visuelle Kultur sowie in Kunst- und Medienwissenschaft sind. Innerhalb dieser (Trans-)Disziplinen kann künstlerische Wissensproduktion von QTIBIPoCs produktiv sein als Queer of Color-Kritik. Reorientierungen in Kunstund Mediengeschichte Die künstlerischen Bezugnahmen auf Kunst- und Mediengeschichte und die künstlerische Verarbeitung von Theorie als Material werden besonders anschaulich am Beispiel der Arbeit JHAD und der Disidentifikation mit der Konstruktion des idealtypischen ›Künstlers‹. Hasan Aksaygın erweitert kritische feministische kunstwissenschaftliche Fragestellungen nach der Art und Weise, wie künstlerische Autor_innenschaft vergeschlechtlicht ist und wie Frauenkörper in der Kunstgeschichte objektifiziert werden, um die Frage nach orientalistischer homoerotischer Fetischisierung und Repräsentationen queerer männlicher Körper of Color. Seine Arbeit zeigt die Notwendigkeit von Relektüren kunsthistorischer Phänomene. Auch in der Arbeit Silenced by Academia spielen Referenzen auf Kunstgeschichte eine Rolle: Sunanda Mesquitas (aka Decolonial Killjoy)5 visuelles Zitat einer Geste von Adrian Piper verweist auf Schwarze und feministische Kämpfe vorangegangener Generationen, die bereits im Feld der Kunst geführt wurden. Mit ihrer Geste — dem Tuch im Mund — liefert sie Betrachter_innen ein wichtiges Orientation Device. Es führt zu einer Performance von Adrian Piper aus den 1970er Jahren, durch die wir etwas über Überlebensstrategien, Empowerment und Widerstand für ein Hier-und-Jetzt, für »Queer Futurity«6 lernen können. Folgen wir Mesquitas Blick — dem einer zeitgenössischen Künstlerin und queeren Femme of Color — auf die Kunstgeschichte, finden sich kunsthistorische Referenzen, die andere Subjekte als das weiße männliche Künstlersubjekt zentrieren. Aykan Safoğlus Film Kırık Beyaz Laleler lässt sich regelrecht als künstlerische Umsetzung von Sara Ahmeds Aufforderung »we may need to follow such things around«,7 bzw. als »Ethnographie der Dinge«8 lesen. Das historische Vorbild, mit dem Aykan Safoğlu einen translokalen und transhistorischen Dialog führt, ist James Baldwin. Den Spuren von Baldwins Leben in İstanbul zu folgen, bringt u.a. Linien zu Engin Cezzar und Gülriz Sururi, zu Sedat Pakay, zu Samuel Delaney sowie zu

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QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

Yaşar Kemal hervor. Afroamerikanische Literatur- und Kunstgeschichte, sowie kurdische, türkische und afrotürkische Kunst, Literatur, Film- und Fernsehgeschichte und Theaterproduktion werden erreichbar. Am Horizont erscheinen künstlerische Bezüge, die im Verhältnis zu James Baldwin oder zu Aykan Safoğlu relativ ›nah‹ sind, aus einer dominanzkulturellen Perspektive bzw. im Hinblick auf den Kunstkanon dagegen ›weit weg‹ liegen. In meiner Analyse habe ich wiederum kunst- und filmgeschichtliche Bezüge zu weiteren BIPoC-Künstler_innen wie Isaac Julien und Cheryl Dunye hergestellt. Umgang mit Zeichen In Hasan Aksaygıns Arbeit sind es unter anderem Typografie und Grafikdesign, die als Archive funktionieren, indem sie historische Momente im kunstgeschichtlichen Diskurs transportieren, die wiederum mit historischen und zeitgenössischen (post-)kolonialen Diskursen und Diskursen zu Sexualität verbunden werden. Der Künstler spielt damit, dass bestimmte Repräsentationen in der Kunstgeschichte und im visuellen Mainstream auf spezifische Art und Weise codiert und mit Bedeutung verknüpft sind. Er kombiniert sie derart, dass Bedeutungen gegeneinander ausgespielt werden und scheinbar Gegensätzliches zusammengebracht wird. Die Herangehensweise lässt sich als repräsentationskritischer Zugang bezeichnen, bei dem ein theoretisches Problem, nämlich die Frage der Möglichkeit nach Verschiebung von Bedeutungen und das Aufbrechens tradierter Codierungen, künstlerisch ausprobiert wird und in der Praxis bis zu einem gewissen Grad sogar gelingt. Dies ist beispielsweise der Fall bei der erfolgreichen Veruneindeutigung des christlichen Segensgestus. Das Paisley-Muster des Saris in Sunanda Mesquitas Arbeit ist lesbar als Speicher von Kolonialgeschichte. Diese wiederum ist ›abgedruckt‹ auf der Kleidung, sie entfaltet Relevanz in der Gegenwart, statt in der Vergangenheit verortet zu werden und ›vorbei‹ zu sein. Die künstlerisch bearbeiteten Objekte des Wissens sind relevant und anknüpfungsfähig für kunst- und medienwissenschaftliche Diskurse zu Erinnerung, Speichermedien und Kolonialgeschichte und für Theorien materieller Kultur. Ähnliche Verbindung finden sich unter anderem in der Art und Weise, wie in der Arbeit von Aykan Safoğlu die Mediatisierung von Erinnerung verhandelt wird: beispielsweise indem eigene Kindheitserinnerungen in enger Verbindung mit Erinnerung an Film und Fernsehen repräsentiert werden. Im Medium des Films wird Medialität selbst zum Gegenstand gemacht und medienspezifische Effekte — zum Beispiel in Bezug auf die Repräsentation von ›Rasse‹ und Weißsein — exemplarisch vorgeführt.

279 9

Ann Cvetkovich, 2015, S. 8.

Re/Orientierungen und vorläufige Ankunftsorte

Künstlerisches Wissen, Erfahrungswissen und theoretisches Wissen in Verbindung denken Das positionierte, verkörperte Erfahrungswissen in Verbindung mit dem künstlerischen Wissen liefert wichtige Erkenntnisse hinsichtlich der Wirkungen von Gender, Sexualität und ›Rasse‹ in Kunst, Medien und visueller Kultur. Wichtiger noch, es entstehen reparative Praxen und utopische Momente, in denen (Über-)Leben, Geschichte(n), Crushes, Empowerment, Humor und Imagination von QTIBIPoCs im Fokus stehen. Die künstlerische Arbeit von (QTI)BIPoC wie Raju Rage, Collective Creativity, Laura Aguilar, Hasan Aksaygın, Sunanda Mesquita, Adrian Piper, Aykan Safoğlu, Isaac Julien und Cheryl Dunye bringt »alternative Modi des Wissens«9 hervor. Zugleich muss festgehalten werden, dass das ›Alternative‹ vor allem in der Form der künstlerischen Wissensproduktion sowie in der Repräsentation minorisierter Perspektiven besteht. Inhaltlich existieren zahlreiche und wirklich interessante Querverbindungen zu wissenschaftlichen Theorien. Künstlerisches Wissen ist kein reines Material-, Körper- oder intuitives Wissen. Theorieproduktion ist nichts, das erst von außen an die Kunst herangetragen werden müsste, sie wird vielmehr schon immer und immer wieder als künstlerisches Material verarbeitet. Die Verflechtung von künstlerischem Wissen, positioniertem Erfahrungswissen und wissenschaftlichem Wissen ›passiert‹ in den Arbeiten selbst. Künstlerisches Wissen sollte daher nicht als das ›Andere‹ von theoretisch-wissenschaftlicher Wissensproduktion oder als binärer Gegensatz zu dieser verstanden werden. Vielmehr erscheinen sie aus einer queerphänomenologischen Perspektive als ›nah beieinander‹ statt als ›weit entfernt‹. Eine stärkere Berücksichtigung von künstlerischem Wissen von QTIBIPoCs innerhalb von Wissenschaft kann ein Schritt sein, bestehende Leerstellen zu schließen, ohne dabei epistemische Gewalt zu reproduzieren oder einem ›Sprechenüber‹ verhaftet zu bleiben, also Schritte in Richtung epistemischer Community Accountability zu gehen. Dies könnte zudem eine Aktualisierung einer standpunkttheoretischen Vision für Wissensproduktion bedeuten, die sich für Pluralität von Partikularperspektiven in der Wissenschaft stark macht — und dafür, zwischen diesen Perspektiven solidarische Verbindungen zu schaffen. Allerdings gilt es dabei, bestehende Hierarchien immer von Neuem zu reflektieren um zu verhindern, dass QTIBIPoC-Künstler_innen lediglich als ›Token‹ sprechen dürfen.

280 10

Raju Rage, in: Sandrine MicosséAikins / Raju Rage / Rena Onat, 2017, S. 66.

11

José Esteban Muñoz, 1999.

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

DISIDENTIFIKATORISCHE SELBSTREPRÄSENTATIONEN Eine Gemeinsamkeit der von mir untersuchten künstlerischen Positionen ist, dass in allen die Körper der Künstler_innen vorkommen, sie also, auf unterschiedliche Weise, mit Selbstbildern arbeiten. »If we leave it to the people to represent us, it is usually very problematic. I have to represent myself, I feel like I have to make this work, it is about survival and it is about empowerment. For me, it is really important to have a voice, and this is the way I am able to do it.«10 Wie Raju Rage betont, ist es eine Frage des Überlebens und des Empowerments, sich gegen problematische Fremdzuschreibungen zu wehren und sich selbst zu repräsentieren. Die Strategie der Selbstrepräsentation erwies sich jedoch als wesentlich komplexer, als ich ursprünglich angenommen hatte. Eine der Ausgangsthesen meiner Arbeit war, dass BIPoCs in Kunst, Visueller Kultur und Medienkultur zum ›Anderen‹ gemacht werden und dass (QTI)BIPoC-Künstler_innen mittels Selbstrepräsentation in diese Prozesse des Othering im Feld des Visuellen und in beständige Fremdrepräsentationen intervenieren. Selbstrepräsentation wäre damit eine künstlerische Strategie, um Fremdbilder zu ›korrigieren‹, ihnen eigene Bilder entgegenzusetzen und um Kontrolle und Agency über das ›eigene‹ Bild zu gewinnen. Mit dieser Annahme — so hat sich gezeigt — bin ich dem reduktiven Wunsch aufgesessen, schlechte Repräsentationen durch gute zu ersetzen. Ich ging davon aus, dass Selbstrepräsentationen von QTIBIPoCs zugleich einen Einspruch in ein dominanzkulturelles Bildrepertoire und Blickregime darstellen und damit hegemoniale Repräsentationsregime herausfordern. Selbstrepräsentationen würden es ermöglichen, diese kritisch zu hinterfragen und ›anders‹ zu sehen. Ein solches Verständnis von Selbstrepräsentationen marginalisierter Subjekte, bei dem diese als Gegensatz zu einem dominanzkulturellen Othering funktioniert, greift jedoch zu kurz. Schließlich können Subjektivierungsprozesse und damit verbundene Selbstbilder nicht losgelöst, als unabhängig von Dominanzkultur entwickelt werden, sondern müssen immer in Aushandlung mit ihr geschehen. Genau in diesem Punkt ist der Begriff der Disidentifikation nach José Esteban Muñoz relevant.11 Er ermöglicht es, sowohl die Effekte von Repräsentationsregimen auf marginalisierte Subjekte als auch deren Verhandlungen durch QTIBIPoCs zu analysieren. In keiner der von mir analysierten Arbeiten ist das (vermeintliche) ›Selbst‹

281 12

Vgl. bell hooks, 2009.

Re/Orientierungen und vorläufige Ankunftsorte

der Künstler_innen eins, das dergestalt als Korrektiv für ein Bild des ›Anderen‹ oder als Widerstand gegen ein ›Zum-AnderenGemacht-Werden‹ funktioniert, das eine ›richtigere‹, ›authentischere‹ oder ›bessere‹ Version von QTIBIPoC-Körpern repräsentieren würde. Stattdessen sind in allen Arbeiten essentialistische Vorstellungen eines ›authentischen‹ Selbst bereits dekonstruiert. Die Künstler_innen zeigen sich und ihre Körper auf unterschiedliche Weise, jedoch ist das, was zu sehen gegeben wird, keine ›wahre Identität‹, keine Version ihrer selbst, die es Betrachter_innen tatsächlich erlauben würde, sie auf intime Weise zu kennen. Obwohl beispielsweise Aykan Safoğlu sehr persönliche Dinge über sich preisgibt, ist seine Identität weniger der zentrale Gegenstand der Arbeit als die Themen, die im phänomenologischen Sinn erreichbar werden über seine Biografie und seine persönlichen Erzählungen. Zugleich bewirkt der narrative Modus der Biomythografie, dass die Biografie selbst nicht als ›authentische‹ oder auf Fakten basierende Erzählung verstanden werden kann bzw. muss. Als Publikum können wir uns niemals sicher sein, ob einzelne Aspekte fiktiv oder real sind — und dennoch könnten sie ›wahr‹ sein. Hasan Aksaygın zeigt zwar seinen eigenen Körper, hier im Medium der Malerei und nicht wie bei Aykan Safoğlu über Fotografie und Film, aber das Bild seines Körpers erfährt zugleich eine Rahmung als nicht ihn selbst repräsentierend, sondern jemand anderen: die von ihm geschaffene Kunstfigur Jhad. Das Verhältnis von Körper und Identität / Selbst wird also verstanden als eines, in dem beide nicht in eins fallen. Es wird keineswegs versucht, authentische(re) Darstellungen oder positive(re) Bilder zu schaffen, um heterosexistischen und rassistischen Repräsentationsregimen etwas entgegenzusetzen. Die Darstellung ist keine, die darauf abzielt, positive Identifikationsangebote für BIPoC zu schaffen. Jhad ist kein positives Bild, sondern eine Verkörperung widersprüchlicher stereotyper Zuschreibungen. Identifikation und Empowerment sind nur möglich durch ein Verstehen und Teilen der Kritik und des bissigen Humors des Künstlers. Allerdings kann auch Kritik und Dekonstruktion diskriminierender und gewaltvoller Repräsentationen mit einem gewissen Vergnügen verbunden sein, wie es von bell hooks in Bezug auf Schwarze Frauen als Zuschauerinnen im Kino eingeräumt wird.12 Sunanda Mesquita hat ebenfalls mit dem Medium der Malerei und dem Genre des Selbstporträts gearbeitet, jedoch steht auch in ihrer Arbeit letztendlich weniger die Künstlerin im Mittelpunkt als die Geste von Adrian Piper, und zwar als Symbol für Silencing. Die Stärke von Silenced by Academia besteht darin, eine künstlerische Sprache zu finden für eine geteilte Erfahrung. Sunanda Mesquita und ihr Körper werden

282

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

13

Michele Wallace, 1992, S. 343.

14

adrienne maree brown, 2017, S. 19.

15

Wie zuvor beziehe ich mich hier auf einen Begriff von Muñoz.

zu Stellvertreter_innen für viele andere, die Silencing erleben mussten. Othering und Fremdrepräsentationen minorisierter Perspektiven beinhalten Überschreibung und Auslöschung. Selbstrepräsentation ist damit eine Überlebens- und Widerstandsstrategie gegen diese Gewalt. Sie arbeitet an einer »Revolution in Vision«13. In den von mir untersuchten Arbeiten wird ein disidentifikatorisches Selbst produziert, das nicht affirmativ, sondern destabilisierend auf normative Identitätskategorien wirkt. Disidentifikatorische Selbstrepräsentationen bewirken eine tiefere Umarbeitung von Repräsentationen. Sie schaffen nicht einfach bessere Bilder, sondern sie teilen als hermeneutische Performances minorisiertes Wissen und reflektieren zugleich in intersektionaler Perspektive Praxen innerhalb von Kunst und visueller Kultur, die rassistische und heterosexistische Ordnungen (re-)produzieren und die sich negativ auf QTIBIPoCs auswirken. Nichtsdestotrotz ermöglichen disidentifikatorische Selbstrepräsentationen von QTIBIPoCs Formen des Erkennens. Ein solches Erkennen basiert auf entfernten Verbindungen zwischen minorisierten Subjekten mit ähnlichen Erfahrungen im deutsch(sprachig)en Kontext. Geteilte Erfahrungen im Zusammenhang mit Heteronormativität, struktureller Mehrfachdiskriminierung sowie Verhandlungen der eigenen Identität in der Dominanzkultur und in minorisierten Communitys wirken als Verbindungslinien. Sie ermöglichen Empowerment, Formen des Kontakts und Veränderungen.

Vgl. José Esteban Muñoz, 1999, José Esteban Muñoz, 2009.

BINARITÄTEN ÜBERWINDEN UND ANDERE VISIONEN, ODER: MAYBE QUEERNESS IS ALREADY HERE Was sind die Ideen, die ›uns‹ befreien? 14 Die Suche nach Praxen des Queer Worldmaking15 und nach künstlerischen Strategien für Transformation hat mich seit Beginn meiner Forschung bewegt. Dasselbe gilt für die Suche nach Visionen und Utopien von QTIBIPoCs, die Alternativen zum Status Quo vorstellbar machen oder bereits verwirklichen. Allerdings sind es gerade diese Visionen und Utopien, die immer wieder drohen zu entgleiten. Gewaltvolle Zustände und dominanzkulturelle Machtverhältnisse, die zu struktureller Benachteiligung und Diskriminierung von QTIBIPoCs (und vielen anderen) führen, erfordern immer wieder Aufmerksamkeit und Energie in Form von Kritik und Intervention. Das bedeutet, dass Momente, in denen Visionen erdacht und umgesetzt werden können, flüchtig bleiben. Eine Orientierung zu reparativen Praxen von und für QTIBIPoCs ist damit keine, die leicht beizubehalten sein kann,

283 16

Vgl. Sara Ahmed, 2006, S. 171.

17

Ebd.

18

Ebd. S. 172.

19

Vgl. Gloria Anzaldúa, 1987.

20

Ich danke Maque Pereyra für Hinweise und Erklärungen, die maßgeblich zur Präzisierung meiner Ausführungen beigetragen haben.

21

Vgl. Kadji Amin, 2020, S. 25.

22

In Annemarie Jagoses Einführung in Queer Theory, die vielen als Standardwerk gilt, kommt sie beispielsweise gar nicht vor. Vgl. Annamarie Jagose: Queer Theory. Eine Einführung, Berlin: Querverlag 2005.

23

Ich verweise hier auf den Titel ihres Buches. Der Begriff des Borderlands ist wichtig, um die Grenze nicht als einen Strich zu denken, sondern als eine Zone, durch die wiederum binäre Grenzziehungen herausgefordert werden. Das Borderland zwischen den heutigen Staaten USA und Mexiko ist u.a. dadurch geprägt, dass die Grenze sich kriegsbedingt verschoben hat. So sind die in den USA lebenden Chicanx, wie Anzaldúa klarstellt, nicht migriert, sondern die Grenze hat sich verändert.

24

Vgl. ebd.

Vgl. Gloria Anzaldúa, 1987, S. 23—35.

Re/Orientierungen und vorläufige Ankunftsorte

für die es Reorientation Devices braucht. Damit meine ich solche ›Navigationsgeräte‹, die helfen, sich nach Momenten des Desorientiert-Werdens, z.B. durch Rassismus oder Heterosexismus, wieder zu orientieren. Das Entgleiten von Visionen und Utopien macht sie zu queeren Objekten: Sara Ahmed erklärt mit Merleau-Ponty, dass Objekte in dem Moment zu queeren Objekten werden, in dem sie wegrutschen.16 Sie schreibt: »Queer gatherings are lines that gather — on the face, or as bodies around the table — to form new patterns and new ways of making sense. The question then becomes not so much what is a queer orientation, but how we are orientated toward queer moments when objects slip.«17 Ahmed kommt zu dem Schluss, dass eine queere Phänomenologie eine Orientierung hin zu diesen Momenten involviert. Dabei müsse es allerdings dem entgleitenden Objekt erlaubt werden zu passieren.18 Trotz dieser Argumentation unternehme ich einen Versuch, (m)ein entgleitendes Objekt festzuhalten. Dafür beziehe ich mich am Ende auf einen Text, der eigentlich am Anfang stehen sollte: Gloria Anzaldúas Buch Borderlands von 198719 — sowie auf die Berliner Tänzerin Maque Pereyra.20 Pereyras künstlerische Arbeit und die Theorie Anzaldúas erinnern an die Intelligenz des Körpers und daran, dass es koloniale und patriarchale Strukturen waren und sind, die auch zu einer Verwerfung bestimmter Formen des Wissens geführt haben. Obwohl Gloria Anzaldúa eine der ersten Theoretiker_innen war, die das Wort Queer verwendet21 und darüber hinaus ein bedeutendes Werk hinterlassen hat, wird sie nicht als eine der Begründer_innen queerer Theorie gehandelt.22 (Was sagt es über meine Orientierung und die Orientierung der Queer Theory aus, dass ich jetzt erst an so einem wichtigen Anfang ankomme?) Was mich bewegt, ist Anzaldúas Kritik an Binaritäten, Grenzziehungen, Dichotomien und Objektifizierungen als Teil kolonialer Gewalt. Ausgehend von ihren Erfahrungen des Aufwachsens als Chicana im »Borderland«23, der Grenze der USA zu Mexiko, theoretisiert sie die Grenze als Wunde. Die Grenze verläuft nicht nur zwischen Staaten, sie verläuft auch durch den Chicana-Körper. Anzaldúa diskutiert zudem die Rolle der römisch-katholischen Kirche bei der Konstruktion dieser Gegensätze. Sie beschreibt, dass in der Mythologie verschiedener indigener Gesellschaften in präkolumbianischer Zeit diverse Gött_innen sowohl gute als auch schlechte Anteile in sich vereinten. Im Verlauf der Christianisierung wurden sie aufgespalten in Heilige und in Dämonen.24 Bereits mit der Form ihres Textes leistet Gloria Anzaldúa Widerstand gegen das, was sie kritisiert, indem sie vermeintliche Gegensätze zusammenbringt: Sie mischt historiografische und theoretische Abhandlungen mit Gedichten, kombiniert ihr Erfahrungswissen mit Wissen zu Geschichte, Ethnologie,

284

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

25

Ebd. S. 63—73. Der Begriff ist schwer zu übersetzen und zu komplex, um ihn mit nur wenigen Worten zusammenzufassen. Coatlicue ist eine aztekische Göttin, die laut Anzaldúa verschiedene Widersprüche in sich vereint und die sie als Namensgeberin verwendet, um einen spezifischen Zustand zu beschreiben.

26

Ebd. S. 99—113. Auch hier ist die deutsche Übersetzung aus meiner Position schwierig — Gloria Anzaldúa verwendet Mestiza als Selbstbezeichnung und macht damit einen politischen Akt der Aneignung einer kolonialrassistisch aufgeladenen Fremdbezeichnung. In der Übersetzung ins Deutsche droht somit eine Normalisierung und Reproduktion des kolonialrassistischen Gehaltes. Das Wort Conciencia bedeutet Bewusstsein. Es geht Anzaldúa also um die Herausbildung eines spezifischen Bewusstseins, eine Form des Empowerments.

27

Maque Pereyra, Yoggaton-Workshop im Bulbul in Berlin, 15.7.2020.

28

Maque Pereyra studierte Psychologie in La Paz, Bolivien und absolvierte den MA Solo Dance Authorship am Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz (HZT) in Berlin. Sie ist Tänzerin, Performerin und DJ. In ihren Performances arbeitet sie mit indigen-futuristischen Perspektiven und hatte u.a. Auftritte in den Sophiensälen oder im Haus der Kulturen der Welt in Berlin. Außerdem hat sie die Praxis Yoggaton entwickelt, die sie in Workshops und über YouTube-Videos vermittelt.

29

Vgl. https://yoggaton.com/, vom 18.9.2020.

30

Maque Pereyra, persönliche Email vom 17.3.2021.

31

Maque Pereyra in einem YoggatonEmpowerment Workshop im Onlineformat, Berlin, 9.2.2021.

32

Pereyra verbindet das Wort culo (dt: Arsch) mit dem Wort (de-)kolonial.

präkolumbianischer Mythologie und Politik. Sie schreibt einzelne Wörter oder ganze Passagen auf Spanisch — wohlwissend, dass ein Teil der englischsprachigen Leser_innen diese Textteile nicht verstehen wird. Anzaldúa beschreibt, wie sie durch ihre Schreibpraxis Zugänge zu Wissen bekommt, das in tieferen Bewusstseinsschichten enthalten ist. Das, was sie theoretisiert, »The Coatlicue State«25 und »La conciencia de la mestiza«26, ist Teil ihrer gelebten Erfahrung, ihrer Praxis und Überschreitung der binären kolonialen Ordnung. Die Kritik an solchen (Identitäts-)Konstruktionen und das Problem ihrer Überwindung sind zentrale Themen queerer Theoriebildung. »Our bodies don’t understand these binaries«27 erklärt die in Berlin lebende Tänzerin und Performerin Maque Pereyra28 während eines Yoggaton-Workshops.29 She blows my mind… Yoggaton ist eine von ihr entwickelte Tanz- und Körperpraxis, die Asanas aus dem Yoga verbindet mit Perreo, einer Art zu Reggaeton zu tanzen, und gleichzeitig eine soziale Bewegung mit afrodiasporischen Wurzeln30. Ich verstehe Maque Pereyra so, dass die Überwindung von Dichotomien und Binaritäten, die durch koloniale und patriarchale Grenzziehungen konstruiert wurden — etwa Geist / Körper, Rationalität / Intuition, Männlichkeit / Weiblichkeit, Heilige / Hure —, bereits in unseren Körpern gegeben ist. Wir müssen es nur schaffen, unsere Körper auch als ›ganz‹ wahrzunehmen. Ähnlich wie Anzaldúa denkt Maque Pereyra über ein verkörpertes Wissen nach, vernetzt mit anderen Wissensformen (ABB. 62) über Spuren kolonialer und anderer Traumata, die sich einprägen, bereits eingeprägt haben. Bei Maque Pereyra ist es eine Tanzpraxis, verbunden mit Bewegungsanalyse, durch die sie sich Zugang zu ihrem verkörperten Wissen verschafft.31 Sie arbeitet mit Bewegungen und Gesten, die — mithilfe von Musik — Vibrationen bewirken (ABB. 61), die Körperlichkeit und Spiritualität verbinden. Ihre Praxis ist queer, feministisch und deculonial32 aus einer ch’ixi-Perspektive.33 Sie kritisiert beispielsweise die Konstruktionen von Heiliger und Hure und kombiniert eine als sexy konnotierte Art, in Clubs zu lauter Musik zu tanzen, mit der spirituellen Praxis des Yoga. In künstlerischen, theoretischen und spirituellen Praxen der zeitgenössischen Tänzerin Maque Pereyra werden Ansätze entwickelt, um Aufspaltungen, Grenzziehungen und Wunden zu überwinden, indem vermeintlich Gegensätzliches (wieder) zusammengebracht wird und Prozesse von Heilung angestoßen werden. Dies ist eine Frage der Orientierung: Das, was weit voneinander entfernt erscheint, an gegensätzlichen Polen, ist in Wirklichkeit nah beieinander. Der Kopf, das Gehirn — sprich: das Denken und die Rationalität — sind gar nicht getrennt von den restlichen Körperteilen, von Organen, vom Bauch — sprich: vom Bauchgefühl —, Körperwissen, Intuition von der Vielzahl

Vgl. https://yoggaton.com/, vom 18.9.2020. Der Begriff desculonización, so Maque Pereyra, wurde von der Musikerin KEBRA geschaffen. De-coloniale künstlerische Perspektiven von Pedrâ Costa sind ebenfalls wichtig für Maque Pereyras Arbeit. Vgl. Pedrâ C. Costa: »The Southern Butthole Manifesto«, in: Imayna Caceres / Sophie Utikal / Sunanda Mesquita (Hg.), Anti*colonial Fantasies. Decolonial Strategies, Wien: Zaglossus 2017, S. 98. Pedrâ Costa lebt und arbeitet in Berlin und war in zahlreichen Ausstellungen vertreten, u.a. bei Manifests for Queer Futures 2019 in Berlin am HAU. Vgl. https://pedracosta.com/ de-colon-isation, vom 18.3.2021, die Seite existiert nicht mehr, 2.5.2023.

285 33

Das Aymara-Wort ch’ixi wurde von der bolivianischen Soziologin Silvia Rivera Cusicanqui als Begriff geprägt um damit liminale Identitäten zu beschreiben. Riveras Theorie fließt in Maque Pereyras künstlerische Praxis ein. Vgl. Silvia Rivera Cusicanqui: Un mundo ch’ixi es posible. Ensayos desde un presente en crisis, Buenos Aires: Tinta Limón 2018; Silvia Rivera Cusicanqui: Ch’ixinakax utxiwa. Eine Reflexion über Praktiken und Diskurse der Dekolonisierung, Münster: Unrast 2018 (2010).

34

José Esteban Muñoz, 2009, S. 1.

35

Ebd. S. 56.

36

Ich referiere hier auf Muñoz’ eindrückliche Aussage, dass die Gegenwart, das Hier-und-Jetzt, insbesondere für von Mehrfachdiskriminierung betroffene Subjekte, nicht genug sei. Er schreibt weiter: »The way to deal with the asymmetries and violent frenzies that mark the present is not to forget the future. The here and now is simply not enough. Queerness should and could be about a desire for another way of being in both the world and time, a desire that resists mandates to accept that which is not enough.« José Esteban Muñoz, 2009, S. 96.

37

Vgl. Paola Bacchetta / Fatima El-Tayeb / Jin Haritaworn, 2015, S. 776.

Re/Orientierungen und vorläufige Ankunftsorte

ABBILDUNG 61 ABBILDUNG 62

an Entscheidungen, die der Körper trifft, ohne dass sie im Bewusstsein zur Kenntnis genommen werden. Affektives und bewusstes Handeln sind damit beides Formen verkörperten Wissens. Eine ähnliche Verbundenheit, die im Körper gegeben ist, gilt für binär gedachte Männlichkeit und Weiblichkeit. Sie stellen biologisch in Körpern bereits ein Kontinuum dar, beispielsweise weil wir sowohl über Testosteron als auch Östrogen im Körper verfügen. Queerness ist in unseren queeren Körpern, wir erfahren und erproben Queerness immer wieder aufs Neue. Queerness ist eine Körperpraxis. Vor diesem Hintergrund könnten wir Muñoz widersprechen und sagen: Maybe queerness is already here. Schließlich ist für ihn Queerness eine Utopie, die »not yet here«34 ist. Zugleich ist Queerness auch für Muñoz zeitlich nicht nur in einer Zukunft verortet, die irgendwann kommt, sondern lässt sich erahnen am Horizont, in queeren performativen künstlerischen Praxen. Es ist also vielleicht doch kein Widerspruch zu Muñoz festzustellen, dass Queerness bereits hier ist. Ich meine, es ist genau das, was er meint, wenn er von einer »queeren Zukunft in der Gegenwart«35 schreibt. Was noch nicht hier ist, ist eine Welt, in der queere Körper nicht fortlaufend infrage gestellt, angegriffen, diszipliniert, assimiliert oder sogar zerstört werden. Wir leben innerhalb von Heteronormativität, nicht innerhalb von Queerness. Aber eine Vorstellung dessen, wie eine Welt jenseits von Binaritäten aussehen könnte, die anderen Logiken folgt, ist im Kleinen bereits in unseren Körpern vorhanden. Wir können einüben, sie wahrzunehmen. Auch dies ist eine Form der Reorientierung zu reparativen Praxen. Welche Orientierungen braucht es, um einen Weg zu einer Zukunft zu finden, die »genug«36 ist? Eine Zukunft, die im Gegensatz zum Hier-und-Jetzt nicht »murderous«37 für QTIBIPoCs ist?

REORIENTIERUNG ZU REPARATIVEN PRAXEN Eine Orientierung, die diese Fragen weiterverfolgt, erfordert meines Erachtens eine Hinwendung zu reparativen Praxen von QTIBIPoCs, zu widerständigen künstlerischen Praxen, Überlebensstrategien und Praxen des Empowerments. Es sind Wissen und Utopien, die auf Basis von Erfahrungswissen, verkörpertem Wissen, künstlerischem Wissen und theoretischem Wissen innerhalb und außerhalb der Akademia hervorgebracht werden. Diese können als Linien gedacht werden, die vernetzt sind, statt parallel zu verlaufen, ohne sich zu tangieren (ABB. 62). Hinwendung beinhaltet eine Bewegung, eine Drehung des Körpers — hin zu etwas, dem Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. Diese Aufmerksamkeit bewirkt etwas.

286

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

38

Vgl. Eve Kosofsky Sedgwick, 2003.

39

In Anlehnung an Sara Ahmeds Aussage, dass es viel Arbeit kostet, mit dem eigenen Körper in einem Raum zu sein, der nicht dafür vorgesehen ist, der die Form des Körpers nicht erweitert, beispielsweise als Person of Color in einem weißen Raum zu studieren.

Sich zu etwas hinzuwenden, bedeutet zugleich, die Richtung zu verändern, sich also auch von etwas abzuwenden. Eine Orientierung zu reparativen Praxen und die Abwendung von einer paranoiden Hermeneutik38 ist eine, die zuerst fragt: Wie würden Repräsentationen, Räume, Wissensproduktion und -vermittlung sowie künstlerische Praxen aussehen, die die Reichweite der Körper von QTIBIPoCs erweitern?39 Die »bewohnbar«40 sind, ohne dass es dafür anstrengende, schmerzvolle Arbeit braucht? Dies sind keine Fragen, die nur relevant sind für eine vermeintlich kleine Gruppe. Eine Welt, die ein bewohnbares Zuhause für QTIBIPoCs bietet, wäre zugleich eine, in der die Faktoren außer Kraft wären, die dazu führen, dass die Dominanzkultur feindlich und ausschließend für QTIBIPoCs ist. Analog zum Combahee River Collective, das in seinem Statement von 1977 erklärte, dass alle frei wären, wenn Schwarze Frauen frei wären, weil die Freiheit Schwarzer Frauen die Zerstörung aller Unterdrückungssysteme erfordert, 41 können ausgehend von minorisierten Perspektiven gesamtgesellschaftliche Lösungsansätze gesucht wurden. Eine Orientierung hin zu reparativen Praxen im Forschungsprozess hat bis zum Schluss immer wieder eine Reorientierung erfordert. Nicht umsonst sind reparative Praxen (m)ein »object that slips«42. Eine Konzentration auf reparative Praxen von QTIBIPoCs in künstlerischen Arbeiten ist eine Herausforderung innerhalb von normativem Weißsein und Heterosexismus, die es — auch mit paranoiden Hermeneutiken — zu kritisieren gilt. Auch mir war es wichtig, Institutionenkritik zu formulieren, um die ungleichen Rahmenbedingungen für künstlerische Artikulation von QTIBIPoC-Perspektiven zu markieren. Mit der Intention der Zentrierung von QTIBIPoC-Perspektiven und Queer of Color-Kritik habe ich die Notwendigkeit gesehen, einen theoretisch-methodologischen Rahmen zu entwickeln, der ein Analyse von künstlerischen Arbeiten von QTIBIPoCs auf eine Weise ermöglicht, die nicht nur die relevanten Themenstränge herausarbeitet, sondern zudem den Anspruch auf epistemische Community-Accountability erfüllen kann. Durch die Verbindung des queer-phänomenologischen Zugangs mit einem repräsentationskritischen Ansatz wurde eine Auseinandersetzung mit künstlerischen Arbeiten von QTIBIPoCKünstler_innen möglich, ohne dabei den weißen, eurozentristischen Blick der Kunstgeschichte zu reproduzieren oder ein weißes männliches Künstlersubjekt zu zentrieren. Kunst- und mediengeschichtliche Referenzen in den Arbeiten nachzuzeichnen, hat Reorientierungen bewirkt, die die geraden Linien tradierter Genealogien und Kanons temporär verlassen und stattdessen über Desire Lines andere Perspektiven in Reichweite bringen. Meine teilnehmende Lektüre hat in besonderem Maße ermöglicht, dass ich Erkenntnisse aus

Vgl. Sara Ahmed, 2006, S. 51—63. 40

In Anlehnung an Sara Ahmeds Formulierung »inhabiting spaces«: Sara Ahmed, 2006, S. 51—63.

41

Vgl. Combahee River Collective, 1981 (1977), S. 215.

42

Sara Ahmed, 2006, S. 171.

287 43

Recipes for Resistance (2020) ist ein interaktives Multimedia-Kunstprojekt von Raju Rage, bei dem Essen in politischer Perspektive in Verbindung mit Migration, Kolonialgeschichte, Körper, Erinnerung und Geschlecht reflektiert wird. Vgl. http://www.rajurage.com/ 2020/02/recipes-for-resistance-2/, vom 18.3.2021.

44

›Wir‹ adressiert hier wieder alle Leser_innen.

Re/Orientierungen und vorläufige Ankunftsorte

kollektiver Wissensproduktion von BIPoC-Communitys im deutsch(sprachig)en Kontext mit akademischen kunst- und medienwissenschaftlichen Diskursen verzahnen konnte. Die Orientierung zu reparativen Praxen beinhaltet meines Erachtens, dass QTIBIPoC, wir, uns, mit unseren Themen beschäftigen, dass wir uns auseinandersetzen, forschen, austauschen, lachen oder streiten, unsere Recipes for Resistance austauschen,43 ohne uns dabei immer wieder an der Kritik an normativem Weißsein und Heteronormativität zu orientieren, eine Hinwendung zum ›Eigenen‹. Wie kann eine solche Orientierung eingenommen werden, ohne zu homogenisieren, essentialistisch zu sein oder Ausschlüsse zu reproduzieren? Und: Ist es überhaupt möglich, sich nicht an Weißsein abzuarbeiten? Die Richtung für eine Orientierung zu reparativen Praxen ist keine, die nur nach vorn weist — sie kann es notwendig machen, zu bestimmten Orten oder Objekten des Wissens zurückzukehren. Rückkehr hat eine räumliche und eine zeitliche Dimension, sie macht eine Linie wie ein U. Es bedeutet, einen Weg nicht nur in eine Richtung zu verfolgen, immer wieder zu neuen Zielen zu gelangen, sondern sich zu Orten, Subjekten und Objekten zu bewegen, an / bei denen man schon einmal war. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Orte, von denen wir44 aufgebrochen sind, sich in der Zwischenzeit nicht verändern. Es kann dort anders aussehen als vorher. Wenn wir zurückkehren, dann ist dies eine andere Bewegung und eine andere Orientierung, durch die wiederum eine neue Perspektive entsteht. Das, was vorher hinter uns, in unserem Rücken war, ist jetzt vor uns. Reorientierung und Rückkehr können es möglich machen, ›Dinge‹ wiederzufinden, die verloren gegangen sind. Im Wissenschaftsdiskurs gehen Objekte des Wissens verloren, weil es neue Trends gibt. Eine Orientierung zu bereits Dagewesenem kann eine Abwendung von linearen Fortschrittslogiken sein. Sie kann eine neue Perspektive, eine Relektüre ermöglichen. Allerdings ist auch Wiedergefundenes meist nicht mehr so wie vor dem Verlust. Manche Objekte des Wissens gehen auf der Gewalt von Archiven verloren, weil bestimmtes Wissen nicht anerkannt wird oder nicht in den üblichen Archivmedien vorliegt. Das (Er-)Finden der Geschichte(n) von QTIBIPoCs beinhaltet Rückkehr, Irritation und Reorientierung. Eines meiner simpelsten und zugleich wichtigsten Ergebnisse ist, dass bereits sehr viel Wissen, Kritik und künstlerische Praxen aus (QTI)BIPoCPerspektiven hervorgebracht worden sind. Diese Erkenntnis ist deswegen so bedeutsam, weil sie verdeutlicht, wie wirkmächtig heterosexistische und rassistische Strukturen sind: Sie führen dazu, dass diese Objekte des Wissens weniger zu Objekten der Wahrnehmung werden, sie bringen sie außerhalb unserer Reichweite. Es bedarf eines Un-Archiving und der Relektüre von

288

QUEERE KÜNSTLER _ INNEN OF COLOR

45

Objekten des Wissens, die Orientation Devices im Hier-und-Jetzt sein können. Sie wirken sowohl als paranoide Hermeneutiken als auch als reparative Praxen, indem sie intersektionale Lebensrealitäten beschreiben, Funktionsweisen und Effekte struktureller Machtverhältnisse darstellen und Überlebenswissen, widerständiges Wissen, empowerndes Wissen und Visionen teilen. Zu manchen Orten ist eine Rückkehr nicht möglich oder nicht wünschenswert. Nicht zurückzukehren, kann ein Akt des Überlebens sein. Das bedeutet, dass die Richtung für die Reorientierung zu reparativen Praxen nicht fixiert ist, sondern (Re-)Orientation Devices nötig sind. Ein gutes Reorientation Device ist meines Erachtens die Frage: Welche Praxen, Strategien und Denkansätze wirken reparativ und wo sind sie zu finden? Wie adrienne maree brown, José Esteban Muñoz, Michele Wallace, Gloria Anzaldúa und viele andere gezeigt haben, ist die Bedeutung von Imagination und kreativem (Er-)Finden anderer Welten und Zustände, solcher, die lebbar sind für QTIBIPoCs und andere minorisierte Menschen, kaum zu unterschätzen. Ich denke, dass es lohnenswert sein kann, die wirklichkeitserzeugenden Effekte von Repräsentation dafür zu nutzen, lebbare Welten zu visualisieren,45 sie vorstellbar zu machen und sie in Reichweite zu bringen. Um Stereotype zu brechen, müssen Repräsentations- und Blickregime radikal umgearbeitet und durch Bilder ersetzt werden, die bewohnbar sind. QTIBIPoCKünstler_innen und ihre Visionen haben in der Vergangenheit, der Gegenwart und in der Zukunft bereits daran gearbeitet. Sie helfen uns, die Desire Lines zu finden, die als Wege abseits von der Straight Line verlaufen und dabei Entfernungen zu überbrücken auf der Suche nach Verbindung. Mit der Zeit werden aus ephemeren Utopien materielle Räume für Belonging.

Krishan Rajapashkes Illustration meiner Geschichte über die BPoC Art Avengers ist für mich eine Art Visualisierung von Vision und Utopie und berührt mich sehr. Für weitere Beispiele seiner künstlerischen und gestalterischen Arbeit. Vgl. https://krishanrajapakshe.home. blog/, vom 19.3.2021.

She has drunk several of the signature drinks offered there for free and is not satisfied with the small appetizers that are carried around performatively.

An Artist of Color attends the vernissage of a group exhibition of different young Berlin artists in a small pop-up gallery.

She looks at the different works, some of them are quite cool, but most of them somehow the same and boring.

Suddenly she stands in front of a large canvas.

Painted in oil in the picture, it is clearly recognizable: it's she herself! OK, her nose is even bigger than usual and the fine dark hairs in her face above her lip are clearly exaggerated. But she recognizes herself, because it is a photorealistic representation of a picture from her instagram story.

d shocked, lor is angry an , but Co of t en ud The Art St the gallery the artist and tistic d argue for ar nst she confronts an g in nd ta rs de ag un ead of ai they are not censorship inst al rights. t ns ai ag d an freedom of person and violation discrimination

Two months ago she was at the lake with her friends and they all took cell phone pictures with mud and flowers. Now a picture of her—painted by a white artist she doesn't even know - is hanging here in this gallery. On top of stealing her picture, the artist had the audacity to just paint her naked! Obviously she acted out her "oriental beauty" fetish; in the background she added made-up Arabic characters, mixed with Chinese characters.

The Artist of Color calls her collective, the BPoC Art Avengers.

The BPoC Art Avengers break into the gallery, cut the depicted Person of Color out of the picture and leave a letter claiming responsibility. The letter claiming responsibility is the manifesto of the BPoC Art Avengers and describes their mission to abolish the exploitation and objectification of BPoCs and their bodies in art. In the future, there shall never again be images that turn BPoCs into 'others', exoticize, gape, exhibit, criminalize, demonize or dehumanize BPoCs. There is only self-representation of BPoCs. Images that show diverse bodies in their uniqueness and complexity, with which BPoCs can identify. This is the mission of the BPoC Art Avengers.

The BPoC Art Avengers know exactly what type of knowledge and what resources are needed for their activism. They have strong BPoC lawyers in their network. They can heal themselves and others. They have authors. They have hackers and they have skills to get into locked buildings. The BPoC Avengers are shapeshifters. They have escape vehicles. And super powers. They also have a cool theme song. The collective of the BPoC Art Avengers works as a fractal, it works so well on a small scale that it can be expanded into many smaller fractals that can be combined into larger fractals, which in turn can be combined to even larger fractals

The BPoCs Art Avengers are emergent strategists. They have established reliable relationships within their group - all know each other and their respective strengths, limits and abilities very well and can take responsibility for themselves. They all have powers that are not threatening to others in the group. The BPoC Art Avengers have a precise analysis of power relations and want radical change. They communicate with each other directly using all available languages and are able to listen to each other. They take decisions by consensus.

The BPoC Art Avengers bring the image back to their sister and heal her. All her power bursts out of her forehead as a bright, radiant light as she flies two meters high.

After that, she has an emblem on her forehead, the emblem of the BPoC Art Avengers.

All members wear the emblem on their foreheads, but it is sometimes invisible.

With every discriminatory image that circulates, the BPoC Art Avengers collective grows.

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Abbildung 1: Raju Rage, »Where is your Studio?«, 2016, ↳ digitale Skizze. Bildnachweis: http://www.rajurage.com/ 2016/05/where-is-your-studio/, vom 21.1.2021, die Seite existiert nicht mehr, 2.5.2023, © Raju Rage.



Abbildung 2: Bruce Nauman, »Seven Figures«, 1985, Neoninstallation. Bildnachweis: Bruce Nauman, »Seven ↳ Figures«, 1985, Neoninstallation. Installationsfoto, Ausstellung Bruce Nauman 2021, Fotograf Peter Tijhuis. Bildnachweis: Stedelijk Museum Amsterdam. © VG Bild-Kunst, Bonn 2023. Abbildung 3: Ausstellungsansicht »Linder. Frau /Objekt«, kestnergesellschaft hannover e.V., 7.6.–4.8.2013, unbekannte_r Fotograf_in.





Bildnachweis: https:// contemporaryartdaily.com/2013/08/ linder-at-kestner-gesellschaft/, vom 11.12.2020. Abbildung 4: Laura Aguilar, »Will Work For #4«, 1993, Silbergelatine-Druck.



Bildnachweis: https://whitney.org/ collection/works/61270, vom 21.1.2021.



Abbildung 5: Hasan Aksaygın, »Empowering Costume«, 2015, Polyester (in Zusammenarbeit mit SADAK), © Hasan Aksaygın. ↳

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Abbildung 6: Hagia Sophia, Deesis-Fragment, Mittelteil einer Mosaik-Ikone, İstanbul (TR), 13. Jh. ↳ Bildnachweis: Konrad Onasch / Annemarie Schnieper / Ivan Bentchev (Hg.): Ikonen. Faszination und Wirklichkeit, Freiburg im Breisgau: Herder 2004, S. 38. Abbildung 7: Hasan Aksaygın, »JHAD«, 2015, 140×220 cm, Öl und Acryl auf Leinwand, © Hasan Aksaygın. Abbildung 8: Hasan Aksaygın, »Idiom IV«, 2012, 280 cm × 180 cm, Öl und Acryl auf Leinwand, © Hasan Aksaygın. Abbildung 9: Otto Eckmann, Umschlag Jugend, 1. Jahrgang / 1896, Heft 14. Bildnachweis: Maria Rennhofer: Kunstzeitschriften der Jahrhundertwende in Deutschland und Österreich, 1895—1914, Augsburg: Bechtermünz 1997, S. 56. Abbildung 10: Hasan Aksaygın, »Empowering Book«, 2015, Buchobjekt, © Hasan Aksaygın.

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Abbildung 11: Sunanda Mesquita, »Silenced by Academia«, 2015, 160 × 180 cm, Acryl auf Leinwand. © Sunanda Mesquita Abbildung 12: Adrian Piper, »Catalysis IV«, 1971, Dokumentation der Performance, Schwarz-Weiß-Fotografie (Foto: Rosemary Meyer), Silbergelatine auf Barytpapier, 40,6 × 40,6 cm. Bildnachweis: Generali Foundation Collection. Permanente Leihgabe an das Museum der Moderne Salzburg, Generali Foundation Abbildung 13—56: Filmstills aus »Kırık Beyaz Laleler (Off-White Tulips)« (Regie: Aykan Safoğlu, D 2013), © Aykan Safoğlu. Abbildung 57: Zoe Leonard, Fae Richards Archive, 1993—1996, Silbergelatine-Druck. Bildnachweis: Leonard, Zoe / Dunye, Cheryl (Hg.): The Fae Richards Photo Archive, San Francisco: Artspace Books 1996, S. 50. Abbildung 58—60: Filmstills aus »The Watermelon Woman« (Regie: Cheryl Dunye, USA 1996). Bildnachweis: »The Watermelon Woman« (Regie: Cheryl Dunye, USA 1996), DVD Edition Salzgeber & Co. Medien GmbH, Berlin 2010, © Cheryl Dunye. Abbildung 61: Maque Pereyra, »Culo Drawing«, 2020, Solar Threshold Solo Performance, digitale Fotografie, Fotografie: Froilán Urzagasti. Bildnachweis: Yoggaton-Presskit. https://yoggaton.com/press/, vom 15.3.2021, © Maque Pereyra. Abbildung 62: Maque Pereyra, »Yoggaton Mapa«, 2020, digitale Grafik. Bildnachweis: https://yoggaton.com/, vom 15.3.2021, © Maque Pereyra. Abbildung 63—66: Krishan Rajapashke, »BPoC Art Avengers«, Illustration / digitale Grafik, 2020, © Krishan Rajapashke.