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German Pages 212 Year 2016
Therese Garstenauer, Thomas Hübel, Klara Löffler (Hg.) Arbeit im Lebenslauf
Gesellschaft der Unterschiede | Band 32
Therese Garstenauer, Thomas Hübel, Klara Löffler (Hg.)
Arbeit im Lebenslauf Verhandlungen von (erwerbs-)biographischer Normalität
Gedruckt mit Unterstützung des Instituts für Wissenschaft und Kunst (IWK), Wien.
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Inhalt
Einleitung
Therese Garstenauer, Thomas Hübel, Klara Löffler | 7 Von der Arbeit im (fremden) Haushalt. Lebensabschnitte und Lebensverläufe von Dienstbot/innen im Vergleich (Österreich 1918-1938)
Jessica Richter | 15 Künstlerische Arbeit in Selbstzeugnissen von Käthe Kollwitz (1867-1945)
Maria Derenda | 53 »Arbeiten ja, aber nicht sofort und nicht um jeden Preis!« Berufsfindung im Spannungsfeld von gesellschaftlicher Normierung und Individualentwicklung
Ingo Blaich | 75 Formen und Funktionen autobiographischen Berichtens über die Prekarität immaterieller Arbeit
Ove Sutter | 95 Das Haltungs- und das Handlungskonzept in der Biographieforschung am Beispiel älterer und gut ausgebildeter Stellensuchender in der Schweiz
Roland Grieder | 113 Die interessantere Zeit? Berufsbiographische Erzählungen über den Wandel der Arbeitswelt im Hamburger Hafen
Janine Schemmer | 133 Simulierte Normalität in (dauerhaft) geförderter Arbeit
Frank Bauer, Manuel Franzmann, Philipp Fuchs, Matthias Jung | 155 »Ich hätte nicht gedacht, dass es so gut klappt.« Chancen und Grenzen sozialer Mobilität von türkeistämmigen Männern in Deutschland
Carina Großer-Kaya | 169
Die Normsetzer/innen der gebrochenen Lebensläufe. Über Arbeit und Leben nach dem politischen Umbruch
Inga Haese | 189 Autor/innen und Herausgeber/innen | 207
Einleitung T HERESE G ARSTENAUER , T HOMAS H ÜBEL , K LARA L ÖFFLER
Normalität, paradigmatisch geworden zum Beispiel in Begriffen wie »Normalerwerbsbiographie« oder »Normallebenslauf«, ist der Horizont, vor dem Arbeit heute und auch in der Vergangenheit verhandelt wird bzw. wurde. Es gehört zum Grundzug dieser Verhandlungen, dass Normalitäten behauptet werden, während sich gleichzeitig deren Relativität und Fragilität nicht bestreiten lassen. Im deutschen Sprachraum wird seit den 1980er-Jahren in den Sozialwissenschaften die »Erosion« oder »Krise des Normalarbeitsverhältnisses«1 konstatiert. Diese Sichtweise wurde in der Folge unter Schlagworten wie »Prekarität«, »Generation Praktikum«, »generazione mille euro« auch jenseits des wissenschaftlichen Feldes von einer breiteren Öffentlichkeit rezipiert, und soziale Bewegungen wie EuroMayDay – mit den Schutzpatron/innen San Precario bzw. Santa Precaria – haben gegen diese Prekarisierung der Arbeit ihren Protest formiert. Die geschichtliche wie die soziale Dimension des Normalarbeitsverhältnisses wird dabei allerdings oft außer Acht gelassen. Dass dieses eher eine historische und soziale Ausnahmeerscheinung darstellt, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in bestimmten Bereichen der Erwerbsarbeit zu beobachten war,2 gerät zuweilen gerade auch bei Sozialwissenschafter/innen, die auf gegenwartsnahe Perioden spezialisiert sind, aus dem Blick.
1
Vgl. Mückenberger 1985. Diese Diagnose trifft selbstverständlich nicht nur auf Deutschland zu, wie Arbeiten u.a. von Manuel Castells zeigen, der bereits vor zwanzig Jahren schrieb: »[…] the traditional form of work, based on full-time employment, clear-cut occupational assignment, and a career pattern over the lifecycle is being slowly, but surely eroded away.« (Castells 1996: 268)
2
Vgl. Bosch 2013.
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Vom »Ende des Normalarbeitsverhältnisses«3 wird auf vielfältige Weise gesprochen, wobei die Kritik an der Prekarisierung ihr Pendant im Versuch hat, die sich dadurch eröffnenden Chancen auszuloten. Während die einen ihren Protest gegen diese soziale Entwicklung formulieren, betonen die anderen, dass atypische Phasen und Formen von Arbeit nicht ausschließlich den Verlust sozialer und finanzieller Sicherheit bedeuten müssen. Vielmehr können sie auch selbstbestimmtere Arbeitsweisen und neue Solidaritäten ermöglichen oder, mit anderen Worten, »die Produktivität prekärer Lebens- und Arbeitsverhältnisse« kann »zur Veränderung von Regierungsweisen« genutzt werden, »um sich ihnen gemeinsam zu verweigern und ihnen zu entgehen.«4 Dies kann, so Isabell Lorey, gelingen, »wenn Prekarisierung nicht allein als bedrohlich wahrgenommen und abgewehrt wird, sondern das gesamte Gefüge des Prekären betrachtet und die aktuellen herrschaftssichernden Funktionen und subjektiven Erfahrungen von Prekarisierung zum Ausgangspunkt für politische Kämpfe gemacht werden.«5 Wiewohl Bilder von Normalität historisch großen Veränderungen unterworfen waren, selbst wenn man nur relativ kurze Perioden in Augenschein nimmt, und sich je nach sozialen und biographischen Konstellationen diese Bilder wandeln können, wohnt der Vorstellung arbeitsbiographischer Kontinuität und Sicherheit große normative Kraft inne. Eine normale, in richtiger Reihenfolge angeordnete Sequenz unterschiedlicher Formen von Arbeit und Nicht-Arbeit gilt als erstrebenswert und wird bei jeder Bewerbung in das entsprechende Format gebracht.6 Abweichungen davon können als persönliches Versagen oder als Folge misslicher struktureller Bedingungen interpretiert werden. Jedenfalls scheinen sie der Rechtfertigung und/oder Korrektur zu bedürfen. Außerhalb des Berufs, in der Freizeit sowie in den autobiographischen Narrativen und Identitätspolitiken ist demgegenüber die »Normalabweichung«7 für viele zum Maßstab und zur Norm geworden. Diese Ungleichzeitigkeiten, die wir nicht nur im wissenschaftlichen Forschungsfeld, sondern auch in unseren eigenen Lebensweisen täglich bearbeiten, haben den Anstoß dazu gegeben, in einer interdisziplinär angelegten Tagung die unterschiedlichen Facetten von Normalität zu erörtern sowie die als normal oder 3
Vgl. Schäfer 2001.
4
Lorey 2012: 139.
5
Ebd.: 19.
6
In der Tageszeitung Der Standard wird berichtet, dass eine Erhebung unter Österreichs Top-500-Unternehmen sowie führenden Personalberatern ergeben hat, die wichtigste Grundlage für eine erfolgreiche Bewerbung sei »ein lückenloser Lebenslauf ohne Widersprüche« (vgl. Redaktion 2014).
7
Vgl. Kaube 2007.
E INLEITUNG | 9
eben als abweichend erlebten, erzählten, reflektierten Abläufe von Ausbildung, Berufstätigkeit, Reproduktionsarbeit, Ruhestand oder anderen Formen von Nichterwerbsarbeit genauer zu betrachten. Obwohl sich der Call for Papers nicht explizit an Nachwuchswissenschaftler/innen gerichtet hatte, waren es in der Mehrzahl junge Forscher/innen, die auf die Ausschreibung zur Tagung (Wien, 12.-14.5.2011) reagierten. Das mag mit den spezifischen, oft prekären Arbeitsbedingungen jüngerer Wissenschaftler/innen zu tun haben und mit einer besonderen Aufmerksamkeit, die sie vor diesem Erfahrungshintergrund für Fragen nach Norm und Abweichung, nach der Relativität und Geschichtlichkeit sozial und kulturell formierter Maßgaben entwickelt haben. Deutschland, Österreich und die Schweiz sind die Schauplätze der Untersuchungen in diesem Sammelband. Die meisten Beiträge verfolgen eine eher gegenwartsnahe Fragestellung – nur die Aufsätze zu Käthe Kollwitz (M. Derenda) und den Dienstbot/innen in der Zwischenkriegszeit (J. Richter) reichen zeitlich weiter in die Vergangenheit zurück – und sind eher Ansätzen qualitativer Sozialforschung zuzuordnen. Geht es um die Behauptung von, mit Emile Durkheim gesprochen, sozialen Tatsachen – wie Normalität und Durchschnitt –, so ist der genaue Blick auf Einzelfälle und auf Details wesentlich. Modelle und Methoden wie Fallanalysen, Vergleiche und Korrespondenzanalysen eröffnen den Forschungen zum Thema Arbeit im Lebenslauf die Möglichkeit, auch hoch verdichtete Konstruktionen wie die der »Normalität« als Ergebnis historischer und sozialer Wechselwirkungen zu relativieren – und damit Kontingenz als Normalität anzuerkennen. Wechselbeziehungen zwischen den jeweils herrschenden Diskursen und dem Umgang der Individuen und Kollektive mit diesen Diskursen in den konkreten Arbeitswelten und Selbstdeutungen sind also Gegenstand der folgenden Beiträge. Wenn es eine Kontinuität in diesem Verhältnis zu verzeichnen gilt, dann diese, dass es von Ambivalenzen, Diskrepanzen und Kollisionen geprägt ist. Das gilt bereits für jene beiden Beiträge, die sich in historischer Perspektive mit dem Arbeitsleben von Dienstbot/innen zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowie dem Verhältnis von Arbeits- und Privatleben bei der Künstlerin Käthe Kollwitz befassen. Und das trifft auch dann zu, wenn es um Selbsterklärungen in bestimmten Phasen der (Arbeits-)Biographie geht: nach der schulischen Ausbildung (I. Blaich), bei prekär Beschäftigten im Bereich »immaterieller Arbeit« (O. Sutter), in spezifischen Konstellationen der Arbeitslosigkeit nach einer durchaus erfolgreichen Karriere (R. Grieder), in speziellen staatlichen Maßnahmen zur Beschäftigungsförderung (F. Bauer, M. Franzmann, P. Fuchs, M. Jung) und schließlich im Rückblick auf das Arbeitsleben (J. Schemmer). Und dies zeigt sich auch in bestimmten Situationen, in denen die Einzelnen auf Gegebenheiten reagieren
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(müssen), aber auch fähig sind, selbstbestimmt zu agieren: auf veränderte und widerstreitende Familien- und Arbeitsdefinitionen (C. Großer-Kaya) und auf den Umbau lokaler Ökonomien (I. Haese). Ausgangspunkt von Jessica Richters Beitrag sind unterschiedliche Erzählungen von und über österreichische Dienstbot/innen. Die Diversität und Variabilität der verglichenen Lebensbeschreibungen in Interviews, autobiographischen Erzählungen und Briefen ebenso wie in politischen und Medientexten ordnet und interpretiert sie mithilfe der multiplen Korrespondenzanalyse. Zutage tritt dabei eine große Bandbreite an Praktiken und Modi des Erzählens, die angesichts der oft schwierigen und nicht immer eindeutigen Konstellationen eines Dienstverhältnisses entwickelt wurden. An konkreten Fallbeispielen analysiert Richter, inwieweit sich Dienste im Lebensverlauf an zeitgenössisch durchgesetzte, als »richtig« geltende Formen des Arbeitens und Zusammenlebens angenähert haben. Was als normal verhandelt und zugeschrieben wird, dies ist Gegenstand der Studie von Maria Derenda zu Käthe Kollwitz, in der sie Rezeption und Selbstverständnis dieser Künstlerin einander gegenüberstellt. Die Autorin skizziert die Linien der Diskussion um das Werk wie auch die Person Käthe Kollwitz, die zum Symbol der gesellschaftlichen Etablierung von Berufskünstlerinnen avancierte, dabei aber in den immer wieder polarisierenden Diskursen der Kunstkritik nach den Maßstäben des männlichen Künstlergenies beurteilt wurde. Demgegenüber war es ein zentrales Anliegen von Kollwitz, eine geschlechtsneutrale Perspektive auf die Arbeit von Künstler/innen durchzusetzen. Das Bild des Künstlergenies stellte sie damit freilich nicht in Frage, sondern ergänzte es durch die zeitgenössisch auch von männlichen Kollegen formulierte Idee des Künstlerhandwerkers. An diesem Entwurf der Berufsarbeit der Künstler/in zeigen sich mithin durchaus Ambivalenzen in der Position von Käthe Kollwitz. Das junge Erwachsenenalter ist jene Phase des menschlichen Lebenslaufs, die Ingo Blaich in seinem Beitrag untersucht. Er plädiert dafür, diese Phase als eigenständigen Lebensabschnitt zu sehen, nicht als bloße Statuspassage (Schule – Ausbildung – Beruf) mit einem zügigen Übergang von der Jugend ins Erwachsenenalter. Auf der Basis offener biographischer Interviews mit jungen Deutschen, die die Hochschulreife erworben haben, diskutiert Blaich drei Verlaufstypen dieser Lebensphase: die Suche, die Höherqualifizierung und die Neuorientierung. Wenn Blaichs Gesprächspartner/innen der Selbstbestimmtheit in ihrer Lebensgestaltung einen hohen Wert beimessen und dafür auch biographische und materielle Kosten in Kauf nehmen, so verabschieden sie sich dabei nicht vom Paradigma der Arbeitsgesellschaft, sondern suchen weiterhin Selbstverwirklichung im Beruf und in der Erwerbsarbeit.
E INLEITUNG | 11
Prekäre Arbeitsverhältnisse sind nichts Ungewöhnliches für die Gruppe der Wissensarbeiter/innen, mit der sich Ove Sutter in seiner Dissertation auseinandersetzt. In einer Untersuchung, die auch eine Expedition in die Arbeits- und Lebenswelt des Autors selbst darstellt, analysiert er autobiographische Interviews mit Personen, die in wissenschaftlicher Forschung und Lehre, Erwachsenenbildung, Kunst und Kulturarbeit tätig sind. Da er sprachliches Handeln grundsätzlich als gesellschaftliches Handeln versteht, gilt Sutters besonderes Interesse der Frage, welche Formen das Erzählen über prekäre Lebensläufe annimmt und welche Funktionen es erfüllt. Im vorliegenden Beitrag führt der Autor am Beispiel eines Interviewpartners vor, wie dieser mithilfe der Muster männlichen Berichtens die seinen Lebenslauf prägenden Diskontinuitäten in die Selbstrepräsentation erfolgreichen unternehmerischen Handelns verwandelt. Über das in zeitgenössischen Alltagen durchaus hegemoniale Wahrnehmungsund Deutungsmuster des unternehmerischen Selbst normalisiert dieser Gesprächspartner die Problematik seiner Arbeits- und Lebenswelt. Auch Roland Grieder arbeitet mit autobiographischen Erzählungen, bei ihm aber geht es um relativ hoch qualifizierte Arbeitslose im Alter zwischen 50 und 60 Jahren, also jener Lebensphase, die gemeinhin als Endphase des Erwerbslebens gilt. In seiner Analyse unterscheidet Grieder in Anlehnung an Pierre Bourdieu zwischen berufsbiographischen Haltungs- und Handlungskonzepten, die das Vorgehen der untersuchten Personen, deren Aktionen und Reaktionen beeinflussen. Der Autor zeigt, dass die Organisationen des Arbeitsmarktes auf diese Gruppe von Arbeitslosen oft nicht vorbereitet und daher mit deren spezifischen Problemen überfordert sind. Janine Schemmers Forschungen fragen danach, wie ehemalige Hafenarbeiter, die zwischen 1950 und 1970 ihre Arbeit im Hamburger Hafen aufgenommen haben, die Transformationen dieser Arbeitswelt heute einschätzen. In diesen berufsbiographischen Erzählungen resümieren die Einzelnen soziokulturelle, technische und räumliche Veränderungen im Handlungs- und Erfahrungsraum Hafen. Als besonders einschneidend erweisen sich etwa das Aufkommen der Container in den späten 1960er-Jahren und die Computerisierung der Hafenarbeit. Trotz unterschiedlicher Lebensverläufe der Interviewten und trotz des beruflichen Aufstiegs, der mit diesen Prozessen möglich wurde, werden in diesen Rückblicken immer auch Verlustgeschichten erzählt und ist die Haltung gegenüber dem Wandel dieser Arbeitswelt ambivalent. Langzeitarbeitslose mit »besonderen Vermittlungshemmnissen« kommen im Aufsatz von Frank Bauer, Manuel Franzmann, Philipp Fuchs und Matthias Jung zu Wort. Die Autoren argumentieren, dass die Vorstellung des Normalarbeitsverhältnisses in der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft so übermächtig ist,
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dass dieses gegebenenfalls über staatliche Modelle simuliert wird, auch und gerade unter Umständen, die alles andere als »normal« sind. Als Mitarbeiter des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung waren die Autoren mit Studien zu den Effekten des Gesetzes zur Beschäftigungsförderung von besonders arbeitsmarktfernen Langzeitarbeitslosen und zu den Umsetzungsstrategien der entsprechenden Institutionen betraut. In Analysen der Gespräche mit Betroffenen solcher Maßnahmen der Integration in den Arbeitsmarkt analysieren sie die Problematik der staatlich geförderten Herstellung eines Normalarbeitsverhältnisses, die für die Einzelnen zu Stigmatisierungen und biographischen Brüchen führen kann. Mit den heiklen Balancen in den Identitätskonstruktionen von jungen, bereits verheirateten Männern der zweiten Generation türkeistämmiger Männer beschäftigt sich Carina Großer-Kaya in ihrem Beitrag. Sie nähert sich den Fragen nach Aufstieg und Anerkennung durch Erwerbsarbeit aus der Perspektive einer Generation, für die strukturelle Barrieren im Bildungssystem eine ungünstige Ausgangslage für den sozialen Aufstieg schufen. Zwar profitierten die interviewten Personen von den familialen Netzwerken durch den Einstieg in Großbetriebe, in denen bereits die Väter arbeiteten; aber die damit verbundenen Männlichkeitskonstruktionen konnten auch zum Hemmschuh des beruflichen Aufstiegs werden. An drei Fallbeispielen, die aus einem Sample von 29 biographischen Interviews stammen, macht die Autorin sichtbar, wie schwierig es für die Einzelnen ist, Normen und Normalitäten der Herkunftsfamilie mit denen einer postfordistischen Gesellschaft zu koordinieren, die hohe Anforderungen an Aus- und Weiterbildung stellt. Das Projekt »Charisma und Miseria. Die Gründung des Sozialen in Überlebensgesellschaften«, in dessen Rahmen die Dissertation von Inga Haese entstanden ist, lässt sich mit der klassischen Marienthal-Studie von Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel vergleichen. Hier wie dort stehen die Bewohner/innen einer von industriellem Niedergang betroffenen Region im Mittelpunkt, die mit sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen umzugehen haben. Haeses Studie zur Stadt Wittenberge, einer Stadt, die wie so viele andere in den östlichen Bundesländern Deutschlands als »schrumpfende Stadt« diskutiert wird, befasst sich mit Personen, die als »Normsetzer/innen der gebrochenen Lebensläufe« auf unterschiedliche, eigensinnige Arten in einem instabilen sozialen und wirtschaftlichen Umfeld das Verhältnis zwischen Arbeit und Leben neu austarieren. Die Anstrengungen der Normalitätsproduktion bilden ein grundlegendes Merkmal aller in den einzelnen Beiträgen vorgestellten Arbeitsverhältnisse, so unterschiedlich sie sich im Detail auch gestalten mögen. Unter den Vorzeichen
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gesteigerter Dynamisierung von Arbeitswelten lässt sich, der Definition von Jürgen Link folgend, von einem »flexiblen Normalismus«8 sprechen, in dem die Felder der Normalitätsanforderung ständig bis hinein in die Intimsphäre erweitert werden. Gleichzeitig ist die Grenze »zwischen dem Normalen und dem Unnormalen […] nicht nur durchlässig, sondern auch unscharf, nur gültig für bestimmte Lebensbereiche und befristete Zeiträume.«9 Es ist somit die kontinuierliche Arbeit an Normalität, die heute Biographien ebenso wie Lebensläufe bestimmt.
L ITERATUR Bosch, Gerhard (2013), Normalarbeitsverhältnis, in: Hirsch-Kreinsen, Hartmut, Minssen, Heiner (Hrsg.), Lexikon der Arbeits- und Industriesoziologie, Berlin, S. 376-382. Castells, Manuel (1996), The Information Age: Economy, Society and Culture, Bd. 1: The Rise of the Network Society, Oxford u.a. Kaube, Jürgen (2007), Otto Normalabweicher. Der Aufstand der Minderheiten, Springe. Link, Jürgen (1996), Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen. Lorey, Isabell (2012), Die Regierung der Prekären, Wien, Berlin. Mückenberger, Ulrich (1985), Die Krise des Normalarbeitsverhältnisses. Hat das Arbeitsrecht noch Zukunft?, in: Zeitschrift für Sozialreform 31, Hefte 7 und 8, S. 415-434, 457-475. Redaktion (2014), Pflicht und Kür bei Bewerbungen, in: Der Standard, Beilage »KarrierenStandard« vom 8./9. November, K3. Schäfer, Holger (2001), Ende des Normalarbeitsverhältnisses? Zu Theorie und Empirie der atypischen Beschäftigung in Deutschland, Köln. Waldschmidt, Anne (2004), Normalität, in: Bröckling, Ulrich, Krasmann, Susanne, Lemke, Thomas (Hrsg.), Glossar der Gegenwart, Frankfurt/Main, S. 190-196.
8
Link 1996: 75.
9
Waldschmidt 2004: 193.
Von der Arbeit im (fremden) Haushalt Lebensabschnitte und Lebensverläufe von Dienstbot/innen im Vergleich (Österreich 1918-1938)1 J ESSICA R ICHTER
E INLEITUNG Als Leopold Sekora im Juni des Jahres 1938 einen Posten als Pferdeknecht annahm, war er zwanzig Jahre alt. Trotz seiner jungen Jahre war dies bereits »Bauer Nummer fünfzehn«2, bei dem er innerhalb eines Zeitraums von fünf Jahren eine Stelle antrat. Zwischen seinen einzelnen Posten als Knecht oder Viehhaltergehilfe ging er u.a. »auf die Walz«3, wobei er in Herbergen4 oder bei Bauern un1
Dieser Aufsatz basiert auf einigen Ergebnissen meiner Dissertation im Rahmen des Forschungsprojekts »The Production of Work« (Projektleitung: Sigrid Wadauer) an der Universität Wien. Meine Forschungen in diesem Zusammenhang wurden vom European Research Council im Zusammenhang des 7. Rahmenprogrammes der Europäischen Gemeinschaft (FP7/2007-2013), ERC grant agreement No. 200918, und vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF), Projekt Y367-G14, gefördert. Darüber hinaus wurde ich durch das Forschungsstipendium 2012 der Universität Wien und das Johanna-Dohnal-Stipendium 2012 unterstützt. Ich danke den Herausgeber/innen sowie Alexander Mejstrik, Veronika Helfert, Sonja Hinsch, Jana Otto, Franziska Schulteß, Irina Vana und Sigrid Wadauer für ihre Anmerkungen.
2
Sekora 1996: 292.
3
Ebd.: 274.
4
Herbergen waren Einrichtungen, in denen »arbeitswillige« Erwerbslose kurzzeitig Unterkunft, Verpflegung und Arbeitsvermittlung vorfinden sollten (vgl. Wadauer 2008: 116f.).
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terkommen konnte.5 Darüber hinaus benannte er in seinen lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen »Bettelei« oder Straßensingen als Möglichkeiten, um an Brot oder Geld zu kommen.6 Häufige Stellenwechsel und die Kombination unterschiedlichster Lebensunterhalte finden sich in vielen Lebensgeschichten von Dienstbot/innen in der Zwischenkriegszeit. Außer durch Dienste gelangten sie zu einem Auskommen auch in anderen Erwerbstätigkeiten, durch Mithilfen in der Herkunftsfamilie oder durch verbotene Formen der Existenzsicherung wie Wilderei. Vor allem Frauen wechselten zwischen Stellen in der Landwirtschaft und solchen in Haushalten und kleinen Betrieben. Diese Vielgestaltigkeit prägt auch die Dienste selbst, die im Zentrum dieses Beitrages stehen. Sie unterschieden sich einerseits in der Praxis stark voneinander, selbst wenn ähnliche Tätigkeiten verrichtet wurden. Andererseits lassen sich Übergänge beispielsweise zwischen landwirtschaftlichen und hauswirtschaftlichen Diensten konstatieren. Die Bezeichnungen Dienstbote und Dienstbotin implizieren eine Einheitlichkeit der Dienste und werden damit der Vielfältigkeit der Lebensunterhalte von Personen, die sich zeitweise als Knechte bzw. Mägde und/oder Hausgehilf/innen verdingten, eigentlich nicht gerecht. Mit dieser zusammenfassenden Benennungsweise sind in diesem Aufsatz also Personen mit ganz unterschiedlichen Tätigkeiten, Arbeitsarrangements und Lebensverläufen gemeint. Um diese Vielgestaltigkeit besser verstehen zu können, vergleiche ich im Rahmen meiner Dissertation Lebensverläufe von Dienstbot/innen, wie sie in Selbstzeugnissen, zeitgenössischer Literatur und Publikationen von Interessenverbänden und Parteien beschrieben werden. Einige Ergebnisse dieses Vergleichs sollen hier vorgestellt werden. Ziel meines Beitrags ist es einerseits, Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Diensten und anderen Lebensunterhalten zu bestimmen und zu untersuchen, wie sie hierarchisiert wurden. Andererseits stelle ich anhand zweier Beispiele die Frage, ob und in welchem Maße sich Dienste und andere Lebensunterhalte im Lebensverlauf an zeitgenössisch durchgesetzte, als »richtig« geltende Formen des Arbeitens und Zusammenlebens annäherten. Im Folgenden werde ich zunächst den Kontext und die Veränderungen von Diensten im Österreich der Zwischenkriegszeit charakterisieren.
5
Vgl. Sekora 1996: 264f., 274f.
6
Vgl. ebd.: 239f., 265.
V ON DER A RBEIT
D IENSTE
IN DER
Z WISCHENKRIEGSZEIT
IM ( FREMDEN )
IN
H AUSHALT | 17
Ö STERREICH
Dienste waren besonders für Frauen eine wichtige Möglichkeit, ein Auskommen zu finden. Unter den Personen, die als »niederes Hauspersonal im Haushalt« tätig waren, stellten sie laut der Volkszählung von 1934 einen Anteil von 98,5 Prozent.7 Der hauswirtschaftliche Dienst war – nach der Tätigkeit als Landwirtin – die zweithäufigste, der Dienst als landwirtschaftliche Dienstbotin die dritthäufigste Erwerbstätigkeit von Frauen.8 In Letzterem waren allerdings insgesamt etwas mehr Männer als Frauen tätig; der Anteil der Männer lag 1934 bei ungefähr 55 Prozent.9 Verglichen mit Männern standen Frauen in der untersuchten Zeit weitaus weniger Beschäftigungsmöglichkeiten offen. Ihre Erwerbstätigkeiten waren schlechter vergütet und mit weniger gesellschaftlichem Prestige verbunden.10 Ferner hatten sie weitaus geringere Chancen als Männer, Berufe zu erlernen.11 Häufig verrichteten sie neben Tätigkeiten in der Landwirtschaft und im Haushalt Hilfsarbeiten und solche Tätigkeiten, die der Hausarbeit ähnlich und mit Sorge, Fürsorge oder Betreuung verbunden waren. Diese sollten den imaginierten weiblichen Eigenschaften und der ihnen zugedachten Funktion als Hausfrauen und Mütter (die gegebenenfalls zum Familieneinkommen beizutragen gezwungen waren) am besten entsprechen.12 Mit dieser Erwerbsposition war eine Benachteiligung in den Sozialversicherungen verbunden. So waren nur bestimmte Beschäftigte gegen Arbeitslosigkeit versichert; landwirtschaftliche und hauswirtschaftliche Dienstbot/innen blieben von der Arbeitslosenversicherung ausgeschlossen. Auch wurde Frauen generell eher als Männern der Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung aberkannt.13
7
Vgl. Bundesamt für Statistik 1935a: 164. Die meist von mir verwendete Schreibweise »Hausgehilf/innen« soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass der hauswirtschaftliche Dienst überwiegend von Frauen geleistet wurde. Wenn Zeitgenoss/innen explizit weibliche Hausgehilf/innen ansprachen, verwende ich die weibliche Form.
8 9
Vgl. Bundesamt für Statistik 1935a: 164. Vgl. Bundesamt für Statistik 1935b: 28. Eigene Berechnung auf Grundlage der absoluten Zahlen.
10 Vgl. Boschek 1929: 4-7; Leichter 1930: 30-32; Leichter 1927: 28-29, 32, 35, 39-40, 59; Rigler 1976: 123f. 11 Vgl. Boschek 1929: 8f.; Leichter 1927: 53f., 58-61. 12 Vgl. Hausen 1976: 374f., 377; Leichter 1927: 39f.; Rigler 1976: 99. 13 Vgl. Bruckmüller 1978: 32, 94f.; Leichter 1927: 38; Stekl 1978: 213.
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Der Ausschluss von Dienstbot/innen aus der Arbeitslosenversicherung sowie ihr marginaler und verspäteter Einbezug in andere Sozialversicherungen wie vor allem die Krankenversicherung14 verweisen auf die insgesamt relativ geringe Formalisierung und Kodifizierung der Dienste. Dies zeigt sich auch im Hausgehilfengesetz und in den auf Länderebene gültigen Landarbeiterordnungen, die zu Beginn der 1920er-Jahre erlassen wurden. Zwar ersetzten sie die Gesindeordnungen,15 die persönliche Abhängigkeitsverhältnisse festgeschrieben hatten, blieben aber dennoch in vielerlei Hinsicht vage. Das Hausgehilfengesetz von 1920 legte beispielsweise keine Arbeitszeiten, sondern lediglich eine neunstündige Ruhezeit in der Nacht und eine zweistündige (zur Einnahme der Mahlzeiten) tagsüber fest.16 Da die meisten Hausgehilf/innen als die einzigen Arbeitskräfte im Haushalt tendenziell für alle anfallenden Arbeiten zuständig waren17 und da die Einhaltung der Ruhezeiten nicht kontrolliert wurde,18 dehnte sich die Arbeitszeit für viele in die festgesetzten Ruhephasen aus.19 Der niedrige Spezialisierungsgrad, aber auch die Verschiedenheit der Dienstgeber/innenhaushalte bedeuteten, dass Dienste sich in der Praxis außerdem stark voneinander unterschieden. Der Leiter des Arbeitsamtes Graz, Egon Uranitsch, schrieb im Jahr 1928 in Bezug auf die Arbeitsvermittlung für Hausgehilfinnen:
14 Vgl. Bruckmüller 1978: 49-60, 68-89; Stekl 1978: 129-214. 15 In den letzten Jahren der Habsburgermonarchie bestanden für die westliche Reichshälfte 24 Gesindeordnungen, die jeweils für eine bestimmte Region oder Stadt galten. Exemplarisch sei hier auf die Gesindeordnung der Stadt Wien (und Umkreis) vom 1. Mai 1810 verwiesen. Nach Morgenstern, Hof- und Gerichtsadvokat in Wien und Autor eines Überblickswerks über das Gesinderecht in Cisleithanien, bildete sie das »grundlegende Werk für alle späteren Dienstordnungen«, vgl. Morgenstern 1912: 3. Die Wiener Gesindeordnung von 1810 wurde erst 1911 durch eine neue Ordnung ersetzt, vgl. o.V. 1911. 16 Vgl. Staatsgesetzblatt 1920, 178. Gabriella Hauch fasst die parlamentarischen Debatten vor dem Beschluss des Hausgehilfengesetzes zusammen und resümiert: »Trotz der Verbesserung im Gesetz war es den SozialdemokratInnen nicht gelungen, die klare Trennung von Arbeitszeit und Freizeit, ein wesentliches Merkmal moderner Arbeitsverhältnisse, […] durchzusetzen.« (Hauch 1995: 148) 17 Vgl. Leichter 1926: 737. 18 Vgl. Bollauf 2011: 28. 19 Vgl. Leichter 1926: 738.
V ON DER A RBEIT
IM ( FREMDEN )
H AUSHALT | 19
»Hierbei handelt es sich nicht lediglich um die Einstellung in Arbeit in irgendeinem Betrieb, sondern in den meisten Fällen um die Aufnahme in den Haushalt. Jeder Haushalt hat seine besonderen Eigenheiten. Jede offene Stelle ist daher von der anderen verschieden.«20
Zwar differenzierte die öffentliche Verwaltung zwischen landwirtschaftlichen und hauswirtschaftlichen Diensten21 und grenzte diese Tätigkeiten von anderen Lebensunterhalten ab. Aber in der Praxis verwischten sich diese Grenzziehungen in vielen Fällen. So konnten Dienstbot/innen sowohl Haus- und Pflegearbeiten übernehmen als auch Tiere und Garten der Dienstgeber/innen versorgen.22 Manche land- oder hauswirtschaftlichen Dienstbot/innen wurden auch im Gewerbe der Dienstgeber/innen eingesetzt.23 Viele spätere Dienstbot/innen waren ferner als Kinder in ihren ländlichen Herkunftsfamilien oder als Pflege- oder Ziehkinder zur Mithilfe in Haushalt und Wirtschaft angehalten worden. Daher waren ihnen viele Tätigkeiten des Dienstes bereits vor ihrem Eintritt in diesen vertraut.24 Da Dienstbot/innen als Familienfremde und Untergebene in den Haushalten oder auf den Höfen aufgenommen waren, war die Art und Weise ihrer Haushaltsintegration Gegenstand von Aushandlungen und Konflikten. Dem Historiker Norbert Ortmayr zufolge waren die Beziehungen zwischen Dienstgeber/innen und Dienstbot/innen von Paternalismus geprägt: Für ihre persönlichen Dienste und ihren Gehorsam gegenüber den Dienstgeber/innen sollten Dienstbot/innen persönlichen Schutz in Notsituationen (wie Krankheit) erwarten können;25 der Bauer und die Bäuerin ließen Strenge walten und bestraften Fehlverhalten, verzichteten aber auch nicht auf Worte und Gesten der Anerkennung.26 Je nach Haushalt oder Betrieb konnte die Hierarchie zwischen Dienstbot/innen und Dienstgeber/innen jedoch unterschiedlich ausgestaltet sein sowie auf verschiedene Weise praktiziert werden. Historische Studien über Dienste heben die spezifische Stellung von Dienstbot/innen, die durch das Ineinander von Erwerb und Familie/Gemeinschaft hervor, verweisen aber auch auf die Uneinheitlichkeit der Beziehungen zwischen Dienstgeber/innen und Dienstbot/innen. So berichten Forscher/innen einerseits über die Möglichkeit eines vertrauensvollen, gemeinschaftlichen Miteinanders. 20 Uranitsch 1928: 409. Ich danke Irina Vana für den Hinweis auf diese Quelle. 21 Üblicherweise ist dabei von »Hausgehilfen« und »Landarbeitern« bzw. »Gesinde« in der Landwirtschaft die Rede. 22 Vgl. exemplarisch Konrad ca. 1975: 21. 23 Vgl. exemplarisch Wieser 1993: 7-10. 24 Vgl. Klammer 1998: 193f.; Ortmayr 1986: 333; Sieder 1988: 284. 25 Vgl. Ortmayr 1986: 347. 26 Vgl. ebd.: 394.
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Als Familienfremde war diese Situation für Dienstbot/innen aber oft zwiespältig – beispielsweise wenn Hausgehilfinnen Zusatzaufgaben zum Wohl der Familie nicht ablehnten, in Konfliktfällen aber an ihren Status als Nicht-Familienmitglieder erinnert wurden. Andererseits waren die Beziehungen von Streitigkeiten geprägt. Viele Dienstgeber/innen bemühten sich, die soziale Distanz zu ihren Untergebenen in der alltäglichen Praxis beispielsweise durch Kleidungsvorschriften zu betonen oder erst herzustellen. Einige Dienstbot/innen wurden außerdem in allen Lebensbereichen kontrolliert und herablassend behandelt; manche waren Verdächtigungen (v.a. des Diebstahls) seitens der Dienstgeber/innen ausgesetzt, die juristische Konsequenzen oder den Verlust der Stelle mit sich bringen konnten; andere wurden sogar Opfer von (sexualisierter) Gewalt.27 Konflikte mit Dienstgeber/innen und die schlechte Behandlung von Dienstbot/innen werden in der Literatur als ein wesentlicher Grund angegeben, der Dienstbot/innen zum Wechsel von Dienstplätzen veranlasste.28 Forschungen, die sich entweder auf landwirtschaftliche oder auf hauswirtschaftliche Dienste fokussieren, bestätigen die hohe Frequenz der Wechsel. Allerdings unternahmen sie nicht den Versuch, Lebensverläufe von Dienstbot/innen systematisch miteinander zu vergleichen und dabei unterschiedliche Dienste sowie verschiedene Kombinationen von Diensten mit anderen Einkommens- und Unterhaltsmöglichkeiten einzubeziehen.
Q UELLEN
UND
M ETHODE
Die im Folgenden vorgestellte Analyse von Lebensgeschichten hat zum Ziel, möglichst unterschiedliche Dienste und Lebensverläufe von (über kurze oder längere Zeiträume) im Dienst Stehenden zu vergleichen. Bei der Auswahl der Texte war deshalb eine Maximierung von Variationen und Kontrasten geboten.
27 Vgl. u.a. Bochsler/Gisiger 1989: 96-141; Lasnik 2003: 44; Ortmayr 1986: 392; Tichy 1984: 28-34, 38-41. Ein besonders krasses Beispiel von Gewaltexzessen einer Dienstgeberin gegenüber Hausgehilfinnen war jenes der Josephine L., der im Jahr 1936 zum wiederholten Mal der Prozess gemacht wurde. Nach monatelangen Misshandlungen und schließlich der grausamen Tötung der fünfzehnjährigen Hausgehilfin Anna A. erlangte sie im zeitgenössischen Wien traurige Berühmtheit. Vgl. o.V. 1936: 12f. sowie Wiener Stadt- und Landesarchiv, 2.3.4, Landesgericht für Strafsachen, A11, Vr II 921/28 sowie Vr 3236/35, A11, Schachteln 52-54. 28 Vgl. Bochsler/Gisiger 1989: 179-182; Klammer 1998: 197; Lasnik 2003: 44; Ortmayr 1986: 407; Wierling 1987: 71f.
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Jene Lebensphasen, während deren diese Personen auf andere Weise als durch Dienste ihr Auskommen fanden, wurden ebenfalls in die Analyse mit einbezogen. Darüber hinaus sollten Selbstzeugnisse, vor allem lebensgeschichtliche Aufzeichnungen, aber auch Interviews, Briefe und ein Tagebuch als Kernquellen des Samples mit anderen Quellen kontrastiert werden, um die Texte in ihren jeweiligen inhaltlichen, aber auch stilistischen und formalen Besonderheiten in Relation zueinander verstehen zu können. Denn das erzählte Leben wird in Selbstzeugnissen von den Erzähler/innen aktiv hervorgebracht. An seiner Herstellung sind unterschiedlichste Momente beteiligt: soziale Kontexte (wie die Familie), die konkrete Erzählsituation (in einem Interview, im Verhör, im Kreis der Freund/innen etc.) oder antizipierte Leser/innen des Textes; in Medien oder Geschichtsschreibung durchgesetzte Vorstellungen und Bewertungen; spätere Erfahrungen oder die Art und Weise, wie eine Situation erlebt wurde.29 Ebenso beziehen Erzähler/innen ihre jeweilige aktuelle (Lebens-)Situation oder beispielsweise eine vorgestellte Zukunft in ihre Narration ein und sie konstruieren in ihrem Schreiben oder Sprechen aus der Vielfältigkeit der Situationen und Beziehungen, denen je nach Erzählfokus Bedeutungen zugewiesen werden, eine mehr oder weniger kohärente Geschichte.30 Dabei beziehen sich Selbstzeugnisse teils auf veröffentlichte Autobiographien und literarische Vorbilder31 oder bedienen sich unterschiedlicher Genres und Stile – ohne dass diese immer eindeutig erkennbar oder abgrenzbar sind.32 In Anlehnung an Sigrid Wadauers Forschungen33 sollten die Modi des Erzählens Teil der Analyse sein. Denn Erzählpraktiken, über die bestimmte Inhalte auf eine spezifische Weise hergestellt werden, lassen sich erst durch einen systematischen Vergleich mit anderen Erzählungen verstehen; spezielle Begriffe und Bezugnahmen auf soziale Kontexte oder Genres können auf diese Weise eingeordnet werden. Daher habe ich sehr unterschiedliche Texte verwendet: neben Selbstzeugnissen auch Artikel und Geschichten aus Publikationen von Interessenverbänden und Parteien, ein Theaterstück, einen Briefroman, einen biographischen Text sowie eine Serie von Arbeitszeugnissen.34 29 Vgl. Assmann 2008: 7; Bertaux/Bertaux-Wiame 1985: 149-152; Wadauer 2005: 65f. 30 Vgl. Bourdieu 1990: 75f. 31 Vgl. Hämmerle 2000: 149; Wadauer 2005: 69-71. 32 Vgl. Wadauer 2005: 68. 33 Vgl. ebd. 34 Ich danke Li Gerhalter von der »Sammlung Frauennachlässe« am Institut für Geschichte der Universität Wien und Günter Müller von der »Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen« am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien für die Bereitstellung der meisten der hier verwendeten Quellen. Zu
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Die insgesamt 39 Quellen wurden gemäß den Zäsuren, die die Autor/innen selbst setzten, in insgesamt 351 Abschnitte unterteilt. Dies sollte einen Vergleich von einzelnen Arbeits- und Lebenszusammenhängen erlauben. Um diese Abschnitte kontrolliert vergleichen zu können, wurde jeder Textabschnitt nach demselben detaillierten Frageraster erfasst. Die Fragen bezogen sich beispielsweise auf Personendaten, Familie, Lebens- und Arbeitsbedingungen, Tätigkeiten sowie Text-, Erzähl- und sprachliche Merkmale und verwendete Begriffe. Jeder Textabschnitt ist demnach durch eine Fülle von Merkmalen charakterisiert, die Antworten auf ein und dasselbe Set an Fragen darstellen. Die entsprechende Tabelle, also mein Sample, habe ich einer multiplen Korrespondenzanalyse35 unterzogen. Mithilfe dieses Verfahrens werden die Regelmäßigkeiten in der Tabelle, also die (Un-)Ähnlichkeiten zwischen Textabschnitten und zwischen Merkmalen, in Form von geometrischen Punktwolken dargestellt. Die Beschreibung dieser Punktwolken liefert damit die Beschreibung meiner Tabelle. So lassen sich Hierarchisierungen und Differenzierungen zwischen den untersuchten Praktiken systematisch beobachten und bestimmen.36 Die beiden wichtigsten Referenzen Erwerbsarbeitsverhältnis und Familienhaushalt, an denen Praktiken gemessen werden und in Relation zu denen sie variieren, werde ich im Folgenden näher erläutern.
D IE P RAKTIKEN ALS UNTERSCHIEDLICHE ARTEN UND W EISEN DES ARBEITENS Die wichtigsten Unterschiede zwischen den Praktiken ergeben sich dadurch, wie sehr sie als ein formalisiertes, klar geregeltes Erwerbsarbeitsverhältnis funktionierten bzw. ein solches unterstützten oder wie sehr sie dies gerade nicht taten. Die regulierte, in die Sozialversicherungssysteme integrierte, marktvermittelte
den Beständen vgl. Gerhalter 2008b; Müller 2006. Zu Praktiken des Tagebuchschreibens bzw. der popularen Autobiographik und den Beständen der »Sammlung Frauennachlässe« vgl. Gerhalter 2008a. 35 Zu diesem Verfahren vgl. Le Roux/Rouanet 2010; zu diesem und anderen Verfahren der geometrischen Datenanalyse vgl. Le Roux/Rouanet 2004. Die hier vorgestellte Verwendungsweise ist an den Forschungen von Alexander Mejstrik orientiert (vgl. Mejstrik 2012; Mejstrik 2006). 36 Vgl. Le Roux/Rouanet 2010: 1f., Kapitel 2 und 3; Mejstrik 2006: 135. Vgl. dazu ferner Mejstrik 2012: 162-168, der sich damit auseinandersetzt, inwiefern Praktiken mithilfe einer Korrespondenzanalyse verglichen werden können.
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und außerhäusliche Erwerbsarbeit war zur Untersuchungszeit bereits die legitimste aller Möglichkeiten, ein Auskommen zu finden. Und Möglichkeiten, also Formen und Strategien der Lebensunterhaltsorganisation, bestanden viele und vielfältige nebeneinander (wenn sie sich in Bezug auf die Prekarität oder Absicherung des Auskommens auch stark unterschieden): Von jemandem erhalten zu werden, im eigenen oder einem fremden Haushalt mitzuhelfen, im Dienst zu stehen, einem Gewerbe nachzugehen, zu betteln, als Arbeiter/in und/oder Angestellte/r tätig zu sein usw. usf. Aber: Was auch immer man zum (Über-)Leben tat, es musste sich an den durchgesetzten Praktiken37 der Erwerbsarbeit messen lassen. Diese Erwerbsarbeitsverhältnisse waren historisch relativ neu. Vor allem seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war die Erwerbsarbeit nach und nach als die für alle Staatsangehörige legitimste, also als offiziell »richtige« Weise des Lebensunterhalts durchgesetzt worden. Diese Entwicklung war keineswegs eine geradlinige gewesen und sie hatte andere Arten des Lebensunterhalts – und dies betraf insbesondere Lebensunterhalte von Frauen – keineswegs zum Verschwinden gebracht. Doch war die Organisation von Arbeit zunehmend zur Sache eines national- und nun auch sozialstaatlichen Interesses geworden: Zum Beispiel wurden nationale Arbeitsmärkte durch die staatliche Arbeitsmarktorganisation nach und nach hergestellt,38 Arbeitsverhältnisse rechtlich geregelt und Sozialversicherungen eingerichtet. Eine der wichtigsten Konsequenzen war, dass einige bislang unterschiedliche Arten, das Auskommen zu finden, immer mehr zu eben dieser Erwerbsarbeit gemacht und andere Arten als etwas ganz Anderes (als Nicht-Arbeit) noch deutlicher von der Erwerbsarbeit unterschieden wurden.39 Angel- und Referenzpunkt 37 Konkret gemeint ist hier sowohl der Zugang zu der in dieser Weise normalisierten Arbeit als auch das Arbeiten entsprechend den mit der formalisierten Erwerbsarbeit verknüpften Vorstellungen und Erwartungen, den mit ihr verbundenen Pflichten und Zwängen und arbeitsbezogenen Ansprüchen und Rechten. Wenn Erwerbsarbeit in Praktiken umgesetzt wurde, bedeutete dies, die impliziten Regeln nicht nur anzuerkennen, sondern auch zu befolgen und sich positiv auf diese zu beziehen, indem beispielsweise eine Arbeiterin Rechte für sich auf Grundlage ihrer Erwerbstätigkeit einzuklagen versuchte. 38 Vgl. Buchner 2015. 39 Vgl. Buchner 2008; Conrad/Macamo/Zimmermann 2000: 450-453, 456; Hausen 2000: 345f., 350; Kocka 2010: 7-10; Vana 2015: 209-224; Wadauer 2011: 46-49. Während – wie oben angedeutet – einige Elemente des Erwerbsarbeitsverhältnisses in der Zwischenkriegszeit u.a. durch neue Gesetze Eingang in Dienstverhältnisse fanden, Dienstbot/innen aber gleichzeitig zentrale Rechte und Ansprüche von formal Erwerbs-
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der staatlichen Maßnahmen war Irina Vana zufolge vor allem die männlich konnotierte und von Männern dominierte Facharbeit, die nun gefördert, abgesichert, geregelt oder kontrolliert werden sollte – viele Lebensunterhalte von Frauen hingegen wurden sowohl normativ als auch in der verwaltungsbehördlichen, gerichtlichen oder politischen Praxis immer stärker in Kontrast zur legitimen (also im offiziellen Sinne »richtigen«) Erwerbsarbeit gesetzt.40 Erwerbsarbeitsverhältnis meint in diesem Aufsatz also nicht lediglich eine Tätigkeit, mit der eine Person ihren Lebensunterhalt sicherte. Denn was »richtige« Arbeit war und welche Kriterien für diese Einstufung entscheidend sein sollten, war nicht nur eine Sache von fortgesetzten gesellschaftlichen Aushandlungen und Konflikten, in deren Rahmen sich bestimmte Praktiken erst als gemeinhin anerkannte und normalisierte (also z.B. klar kodifizierte, regulierte und mit Rechten und Ansprüchen versehene) Erwerbsarbeit etabliert hatten und etablierten. Gleichzeitig war dies auch ein Attribut, das aus der Perspektive vor allem von Gesetzgebung, Verwaltungsbehörden oder Gerichten nicht allen Lebensunterhalten zugestanden bzw. gleichermaßen zugestanden wurde. Die ambivalente Kodifizierung von Diensten im Rahmen der neuen Gesetze, über die sie zwar der formalisierten Erwerbsarbeit ähnlicher wurden, gleichzeitig aber als besondere (und nicht reguläre) Arbeitsverhältnisse von arbeitsbezogenen Rechten und Ansprüchen ausgeschlossen wurden, ist dafür nur ein Beispiel.41 Wie weit diese Veränderung hin zu einer Durchsetzung von Erwerbsarbeit als Referenz für andere Arbeiten und Lebensunterhalte in der Zwischenkriegszeit schon gediehen war, lässt sich durch den Vergleich der Lebensgeschichten zeigen: Je ähnlicher bzw. unähnlicher die untersuchten Lebensunterhalte (wie sie in den Textabschnitten dargestellt werden) einem Erwerbsarbeitsverhältnis sind, umso legitimer bzw. illegitimer fallen sie aus. Dies ergibt den wichtigsten Kontrast im Sample: Die Praktiken unterstützen ein Erwerbsarbeitsverhältnis bzw. gelten als ein solches; oder aber sie verfehlen und hintertreiben es. Außerdem kann diese positive oder negative Beziehung mehr oder weniger extrem ausfallen: Dies ist die wichtigste Variation im Sample.42 Wenn in den Textabschnitten ein Erwerbsarbeitsverhältnis beschrieben wird (positive Beziehung zum geltenden Maßstab), verweisen die erzählten Praktiken tätigen verweigert wurden, erfuhr Hausarbeit vor allem im 19. Jahrhundert radikale Veränderungen und wurde immer stärker als Ausdruck von Liebe (und nicht als Arbeit) verstanden (vgl. Bock/Duden 1977: 122, 151). 40 Vgl. Vana 2013: 266f. 41 Für den Dienst im Haushalt vgl. Richter 2015b: 488f., 492-500. 42 Zu diesem Verständnis vgl. Mejstrik 2012: 168-176; Mejstrik 2006: 137, 141f.; Wadauer 2005: 103.
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und die Praktiken des Erzählens auf einen festgelegten Rahmen. Innerhalb dessen organisieren Protagonist/innen im Tausch gegen ganz bestimmte Leistungen ihren Lebensunterhalt. Die Aufgaben, die einer Protagonistin/einem Protagonisten abverlangt werden, die Vergütungen, die sie/er dafür erhält, sowie die Art und Struktur des Haushalts oder des Betriebs, in dem sie/er tätig ist, sind bzw. erscheinen hier durch die Form des Arbeitsverhältnisses (»Stelle«, »Dienst«) und die jeweilige Position der/des Protagonist/in (wie z.B. »Köchin«, »Kinderfräulein«) definiert. Diese Festlegung geht mit Abstraktion und Standardisierung einher, da sie konkrete Tätigkeiten sowie Arbeitsbedingungen, -zusammenhänge u.Ä. der betreffenden Personen z.B. in einer Berufsbezeichnung verallgemeinert und normiert. Dabei impliziert diese Logik die Möglichkeit, von Gefühlsregungen genauso zu abstrahieren wie von anderen Menschen, die in diesem Haushalt bzw. Betrieb leben und/oder arbeiten, oder von den Umständen des Zustandekommens des Erwerbsarbeitsverhältnisses und seiner Dauer. Ferner entsteht durch die Abstraktion ein Außen, indem das Arbeitsverhältnis von anderen Lebenskontexten (wie der eigenen Familie) abgegrenzt wird. Erzähler/innen, die das Erwerbsarbeitsverhältnis in diesem Sinne praktizieren und/oder erzählen, müssen Tätigkeiten und den Arbeitszusammenhang der Protagonist/innen nicht im Detail beschreiben. Es reicht aus, dass sie ihre Positionen im Haushalt bzw. Betrieb oder die jeweilige Art des Arbeitsverhältnisses nennen. Alles andere können sie voraussetzen. Dies ist v.a. bei extrem kurzen zeitgenössischen Darstellungen von Autor/innen der Fall, die über eine jeweils andere Person erzählen. Zwar fügten sich die gering formalisierten Dienste der standardisierten und abstrahierenden Logik des Erwerbsarbeitsverhältnisses in vielerlei Hinsicht nicht, dennoch beschreiben diejenigen Textabschnitte, die diese Logik am deutlichsten repräsentieren, ausschließlich Dienste43 – und nicht etwa die Arbeit in der Tischlerei oder der Fabrik, denen Protagonist/innen zum Teil zeitweise auch nachgingen.44 Bei ihnen handelt es sich beispielsweise um Abschnitte einer Fallgeschichte aus einer kommunistischen Frauenzeitung45 oder eines Leser/innenbriefs an die Verbandszeitung der sozialdemokratischen Hausgehilf/innengewerkschaft Einigkeit46. Dies sind offizielle Schriften von Organisationen, die Interessenpolitik für Hausgehilf/innen bzw. Arbeiter/innen betrieben. Die Autor/innen präsentieren Dienste auf diese Weise oder legen das eindeutig definier43 Vgl. v.a. P. 1926: 5; T. 1929: 3. 44 Vgl. Brandner 1987: 8f.; D. 1984-1985: 2. Text, 9. 45 Vgl. P. 1926: 5. 46 Vgl. T. 1929: 3.
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te Erwerbsarbeitsverhältnis als Maßstab an den beschriebenen Dienst an, um auf dieser Grundlage die Arbeits- und Lebensbedingungen der Beschäftigten zu kritisieren. Weiter unten werde ich dies anhand der Lebensgeschichte einer Frau, die ihren Namen mit M. T. abkürzt, im Detail erläutern.47 Aber auch manche Abschnitte von Selbstzeugnissen sind in positiver Weise auf das Erwerbsarbeitsverhältnis bezogen – Erzählweisen und Praktiken, die Autor/innen oder Interviewte in ihren Lebensgeschichten darstellen, entsprechen also seiner Logik.48 Gleichzeitig finden sich in meinem Sample auch Abschnitte politischer Schriften, die entweder keine Erwerbsverhältnisse im Sinne der legitimen, durchgesetzten Erwerbsarbeit beschreiben oder solche, die zwar Dienste als Erwerbsarbeitsverhältnisse darstellen, aber nicht gleichermaßen eindeutig wie die sozialdemokratisch oder kommunistisch geprägten Schriften. Beide Varianten finden sich in den Abschnitten einer Lebensgeschichte, die in zehn Folgen in der Verbandszeitschrift der katholischen Hausgehilfinnenorganisation »Reichsverband der christlichen Hausgehilfinnen« veröffentlicht wurde.49 Denn obwohl sich der Verband für eine Ausweitung der Rechte und Ansprüche von Hausgehilfinnen einsetzte, agitierte er auch gegen ein Verständnis von hauswirtschaftlichen Diensten als Lohnarbeit und setzte sich für einen Interessenausgleich zwischen Dienstgeber/innen und Hausgehilf/innen und für eine dauerhafte Integration von Hausgehilfinnen in die Dienstgeber/innenfamilien ein.50 Entsprechend halten sich positive und negative Bezüge auf das Erwerbsarbeitsverhältnis in diesen Textabschnitten mal mehr, mal weniger die Waage. Den Kontrast, den negativen Bezug zum Erwerbsarbeitsverhältnis, stellen jene Praktiken und Erzählweisen her, die dessen Logik – in stärkerem oder schwächerem Ausmaß – verfehlen oder unterlaufen. Sie verweisen auf eine Vielzahl nicht eindeutig definierter Arbeitskontexte und -arrangements, wie beispielsweise das Mitleben eines Bauernkindes am Hof, die Mithilfen von Ziehkindern oder auch verschiedene Dienste. Da es sich hierbei um ganz unterschiedliche Praktiken und Lebensunterhalte handelt, können sie an dieser Stelle nicht im Detail besprochen werden. Gemein haben sie miteinander, dass sie das Erwerbsarbeitsverhältnis nicht unterstützen und nicht als ein solches Geltung beanspruchen können. Außerdem unterscheiden sich nun auch die Erzählweisen in diesen Abschnitten von jenen, die Dienste als Erwerbsarbeitsverhältnis präsentieren. Das Erzäh47 Diese Lebensgeschichte beschreibe ich in Bezug auf das Erwerbsarbeitsverhältnis auch in Richter 2015b: 502-506. 48 Vgl. exemplarisch Kominek 1985: 10f., 14. 49 Vgl. Reisenberger 1930. 50 Vgl. Richter 2009: 11f.; vgl. auch Herlt 1919: 4f.; Raab 1936: 88; Schwacher 1919: 2.
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len folgt hier nicht der abstrakten, standardisierten Logik des Erwerbsarbeitsverhältnisses, sondern ist konkret und detailreich. Die betreffenden Textabschnitte stammen vor allem (wenn auch nicht ausschließlich) aus lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen. Die in diesen Passagen dargestellten Tätigkeiten und die Zusammensetzung des Lebensunterhalts lassen sich nicht von dem jeweiligen Protagonisten/der Protagonistin, anderen Personen im Haushalt oder Betrieb sowie dem spezifischen Kontext abstrahieren. Sie werden als abhängig von den jeweils vorgefundenen und sich verändernden Bedingungen dargestellt – dazu gehören natürliche Bedingungen wie Jahreszeiten genauso wie die konkreten Haushalte bzw. Betriebe. Eine von anderen Bereichen getrennte Erwerbssphäre kann nicht praktiziert oder durch die Erzählung hergestellt werden. Deshalb haben unterschiedlichste Arbeiten, Nicht-Arbeiten, Beziehungen oder Überzeugungen in der Erzählung Platz. Die beschriebene Lebensphase ist hier ferner in die gesamte Lebensgeschichte sowie die gesellschaftspolitische Situation eingebettet. Damit sind die beiden Pole des Spektrums charakterisiert, zwischen denen sich Praktiken meines Samples anordnen, je nachdem ob (und wie sehr) sie Erwerbsarbeitsverhältnissen entsprachen oder eben nicht entsprachen. Unterschiedliche Repräsentationen von Dienstverhältnissen können entlang dieses Kriteriums im Verhältnis zueinander bestimmt und mit anderen Lebensunterhalten im Sample verglichen werden. Allerdings ist das Erwerbsarbeitsverhältnis nur die wichtigste einer Vielzahl von durchgesetzten Referenzen, zu denen beschriebene Praktiken je unterschiedlich im Verhältnis standen. Die zweitwichtigste Referenz, der Familienhaushalt, soll im Folgenden analog besprochen werden.
D AS L EBEN IM F AMILIENHAUSHALT F ORM DES Z USAMMENLEBENS
ALS DIE LEGITIMSTE
Im Vergleich aller Möglichkeiten des Zusammenlebens, wie sie in meinem Sample vorkommen, ist das Arrangement des Familienhaushalts die »richtigste«, legitimste Art und Weise. Analog zum Erwerbsarbeitsverhältnis als Maßstab für andere Arbeiten und Lebensunterhalte ist der Familienhaushalt hier diejenige Form des Miteinanderlebens, die in der Zwischenkriegszeit als Referenz für alle anderen Formen Geltung erlangt hatte. Sie setzte sich im 19. Jahrhundert normativ und (in Teilen) vor allem seit der Zeit um 1900 auch praktisch bei der Mehrheit der Bevölkerung durch.51
51 Vgl. Ehmer 1993: 9f.
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Ein wesentliches Charakteristikum des privaten Familienhaushalts waren seine relativ weitgehende räumliche und funktionale Loslösung von öffentlichen Erwerbs- sowie Einflussbereichen und die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung. Entsprechend den Vorstellungen angeblich natürlicher geschlechtsspezifischer Eigenschaften und Fähigkeiten, die erst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts nach und nach zum Leitbild wurden, sollten Ehemänner durch Erwerbsarbeit die Familie ernähren, Ehefrauen hingegen als Familienmütter im Haushalt tätig sein.52 Damit waren Vorstellungen von der Familie als intimem Schutzraum und einer widrigen, harten Außenwelt als ihrem Gegenstück verbunden. In diesem Modell des idealen Zusammenlebens wurde von einer Komplementarität (und daher auch: Notwendigkeit) von frauen- und männerspezifischen Eigenschaften und Fähigkeiten ausgegangen. Durch die wachsende Bedeutung, die der Erziehung der Kinder beigemessen wurde, erfuhren Mutterschaft und »Mütterlichkeit« außerdem eine ideelle Aufwertung. Genau diese Unterschiede aber, die entlang einer imaginierten Geschlechternatur zwischen Frauen und Männern gemacht wurden, waren das Moment, über das die Ungleichheiten zwischen ihnen re-etabliert und der Ausschluss von Frauen aus vielen Erwerbsmöglichkeiten, Ausbildungen, Politik etc. gerechtfertigt wurde.53 Ferner war die Ehe ungeachtet der Vorstellung privater Idylle und dem Ideal der Liebesheirat als Herrschaftsverhältnis konzipiert, das den Ehemann zum Familienoberhaupt erklärte und die Unterordnung von Ehefrau und Kindern legitimierte. Dies wurde auch im Familienrecht festgeschrieben.54 Allerdings war das Ideal der nichterwerbstätigen Ehefrau insbesondere für viele Arbeiterinnen, Bäuerinnen und andere Frauen aufgrund ihrer ökonomischen und/oder familiären Situation illusorisch – und es wurde auch nicht von allen Frauen angestrebt.55 Die Kinder der Eheleute sollten als zu Erziehende in den Familienhaushalt integriert sein und die Kindheit eine eigenständige, arbeitsfreie Lebensphase darstellen. Dabei oblag den Eltern, vor allem der Mutter, gesellschaftlich die Aufgabe, für eine gute körperliche Entwicklung und eine moralische Erziehung Sor-
52 Vgl. Hausen 2000: 348f. 53 Vgl. ebd.: 348-350; Bock/Duden 1977: 134f. Zu den Versuchen und Erfolgen von Teilen der deutschen Frauenbewegung am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, mit Verweis auf die angebliche Mütterlichkeit von Frauen soziale Reformen und Wohlfahrtsprogramme für Mütter und ihre Kinder durchzusetzen sowie Fürsorgeberufe zu etablieren und Zugang zu diesen zu erhalten, vgl. u.a. Schröder 2001. 54 Vgl. Bauer/Hauch/Hämmerle 2009: 14f.; Gerhard 2009: 451; Mesner 1997: 187. 55 Vgl. Bock/Duden 1977: 122; Ehmer 2008: 26; Ehmer 1994: 197-202; Hämmerle 2008: 59f.
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ge zu tragen.56 Zur Durchsetzung der Kindheit als eigener Lebensphase trug vor allem die achtjährige Schulpflicht bei; allerdings waren Beiträge von Kindern zum Haushaltseinkommen durch Erwerbstätigkeiten oder Mithilfen auch in der Zwischenkriegszeit verbreitet.57 Der Familienhaushalt in seiner idealsten Form findet sich in den Textabschnitten meines Samples nicht realisiert oder beschrieben – die dargestellten Praktiken und Erzählweisen einiger Abschnitte kommen diesem Ideal aber in mancherlei Hinsicht nahe. Diese Abschnitte beschreiben ein langfristiges Zusammenleben von Kindern (hier die Protagonist/innen) mit den eigenen Eltern und Geschwistern in einem Haushalt ohne familienfremde Haushaltsmitglieder. Der Modus der Haushaltsintegration ist der eines kontinuierlichen Sorgezusammenhangs mit klar definierten Zugehörigkeiten, Zuständigkeiten und Abhängigkeiten. Sorge meint dabei die materielle Versorgung von Haushaltsbewohner/innen genauso wie Umsorge, also die psychosoziale Versorgung im Rahmen persönlicher Beziehungen. Dabei ist die materielle Versorgung grundsätzlich Aufgabe der Eltern, in der Darstellung der Erzähler/innen insbesondere aber des Vaters. Die Protagonist/innen können und/oder müssen sich darauf verlassen, dass ihre Eltern ihren Lebensunterhalt gewährleisten. Sie selbst gehen – sofern alt genug – zur Schule. Obwohl sie durch Mithilfen teilweise auch zum Familienunterhalt beitragen müssen, ist dies nicht ihre vorrangige (und in der Logik des Familienhaushalts auch nicht ihre eigentliche) Aufgabe. Wie die Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern so sind auch die familiären Beziehungen zwischen den Haushaltsmitgliedern von Abhängigkeiten geprägt, die in den Texten beispielsweise durch Beschreibungen von Bestrafungen der Kinder durch die Eltern ihren Ausdruck finden. Diese Protagonist/innen leben vor allem in Haushalten ärmerer Familien in ländlichen Gegenden Österreichs:58 in den Haushalten von Tagelöhner/innen, Kleinhäusler/innen, Arbeiter/innen und kleinen Handwerker/innen. Die Versorgung ist teils äußerst prekär und gefährdet – in der Beschreibung besonders dann, wenn der Vater seine Versorgungszuständigkeit nicht ausreichend wahrnimmt oder wahrnehmen kann (z.B. weil er das Geld ins Wirtshaus trägt oder arbeitslos ist). Seine grundsätzliche Zuständigkeit ist aus Sicht der Erzähler/innen dadurch aber nicht in Frage gestellt. Papathanassiou zufolge trugen in Haushalten dieser Art Mütter genauso wie Väter zum Familienunterhalt bei, wenn auch eine geschlechtshierarchische Arbeitsteilung vorherrschte und Väter stärker außerhäuslich erwerbstätig waren. 56 Vgl. Bock/Duden 1977: 134f.; Papathanassiou 1999: 35f. 57 Vgl. Ehmer 2008: 24; Papathanassiou 1999: 33-37. 58 Zu dem dafür wichtigsten Textabschnitt vgl. Kominek 1985: 1-4.
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Von Kindern wurden häufig Mithilfen verlangt.59 Sie gingen zwar ab etwa sechs Jahren zur Schule, aber gerade in landwirtschaftlich geprägten Gegenden gab es weitreichende Möglichkeiten, sie über viele Monate im Jahr vom Schulbesuch zu entbinden.60 Das Zusammenleben in diesen und ähnlichen Haushalten funktionierte also nur bedingt im Sinne des bürgerlichen Modells eines Familienhaushalts. Außerdem ist es erklärungsbedürftig, dass gerade einige jener Abschnitte, die Phasen der Kindheit der Protagonist/innen erzählten, diesem Arrangement des Zusammenlebens besonders nahe kommen. Textabschnitte, die spätere Lebensphasen behandeln, stehen in Bezug auf die Erzählweisen und dargestellten Praktiken hingegen entweder im Kontrast zu diesem Modell – oder die Praktiken entsprechen ihm zwar, aber vergleichsweise weniger deutlich und in geringerem Ausmaß. Antworten hierfür lassen sich in der Zusammensetzung meines Samples aus Dienstbot/innen-Lebensgeschichten finden. Denn einerseits waren Dienstbot/innen, nachdem sie das Elternhaus verlassen hatten, oft über längere Zeiträume als familienfremde Arbeitskräfte in verschiedene Haushalte integriert. Wenn sie zeitweilig auf andere Weise ihren Lebensunterhalt organisierten, lebten sie in gemieteten kleinen Zimmern, als Bettgeher/innen, bei Freund/innen oder (vielfach gegen Entgelt oder Gegenleistungen) bei Verwandten. Andererseits widmen die Erzähler/innen in vielen der verwendeten lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen und Interviews vor allem der Kindheitsphase ihre Aufmerksamkeit; das Leben mit der Familie im Haushalt beschreiben sie dann ausführlich und im Detail. Der Modus des Zusammenlebens wird daher in diesen Abschnitten eher einer Analyse zugänglich. Entsprechend wird die Nähe zum durchgesetzten, »richtigen« Zusammenleben hier deutlicher als beispielsweise in jenen Abschnitten über Protagonist/innen, die als Erwachsene einen eigenen Haushalt gegründet haben. Allerdings besteht nicht in jedem Fall eine Verbindung von Kindheitsphase und Zusammenleben (mehr oder weniger) im Sinne eines Familienhaushalts. Manche Protagonist/innen wuchsen beispielsweise als Zieh-, Pflege- oder Heimkinder auf.61 Für viele von diesen Kindern sah das Zusammenleben mit anderen Personen ganz anders aus und entsprach weder im Guten noch im Bösen der Form des Familienhaushalts – am Beispiel des Protagonisten Karl Pichler werde ich diesen Unterschied im Folgenden im Detail erläutern. Gleichermaßen unter59 Vgl. Papathanassiou 1999: 50, 60, 72, 80. In diesen Haushalten lebten meist nur Kernfamilien miteinander (vgl. Ehmer 1994: 193f.; Papathanassiou 1999: 46). 60 Vgl. Klammer 1998: 193f. 61 Vgl. exemplarisch Brandner 1987: 1-5; Gosch 1987: 1-10; Sekora 1996: 235f., 247249.
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schied sich auch das Zusammenleben der Dienstbot/innen mit den Dienstgeber/innen, deren Familien und gegebenenfalls weiteren Bediensteten, vielfach fundamental von der Logik des Zusammenlebens im Familienhaushalt. Denn wieder sind es ganz unterschiedliche Praktiken, die zur durchgesetzten, als »richtig« geltenden Form im Kontrast stehen. Zusammengenommen zeichnet es diese Textabschnitte aus, dass sich die Protagonist/innen nicht darauf verlassen können und/oder wollen, versorgt zu werden. Manche von ihnen organisieren ihren Lebensunterhalt selbst, indem sie im Rahmen eines Dienstverhältnisses für (Umsorge-)Tätigkeiten vergütet werden. In einem jeweils größeren oder geringeren Ausmaß ist die Umsorge und Ausgestaltung der Beziehungen besonders zu den Haushaltsvorständ/innen Gegenstand von Aushandlungen und Konflikten. Beziehungen sind auch hier von einem Machtgefälle zuungunsten der untergebenen Protagonist/innen geprägt. Da sich die Art und Weise, wie sie gestaltet werden, von Haushalt zu Haushalt zuweilen stark unterscheidet und zeitgenössisch unterschiedliche Vorstellungen idealer Beziehungen zwischen Dienstgeber/innen und Personal miteinander konkurrierten, lassen sie sich aber kaum als selbstverständlich voraussetzen. Dabei können Protagonist/innen Beziehungen in einem bestimmten Lebenskontext als positiv oder negativ beschreiben, von Konflikthaftigkeit,62 schlechter bzw. ungleicher Behandlung63 oder auch von persönlicher Nähe und Verpflichtungsgefühl für das Wohl der Haushaltsmitglieder64 erzählen – wesentlich ist aber, dass die Beziehungen erst definiert werden müssen. Im Gegensatz zum Familienhaushalt ist die Aufnahme in den Haushalt außerdem nicht auf Dauer angelegt und auch nicht im gleichen Maße absolut: Protagonist/innen wechseln häufig Haushalte bzw. Stellen oder führen enge (Liebes-)Beziehungen mit haushaltsfremden Personen. Allerdings geht es auch hier nicht allein um den Kontrast zwischen dem Zusammenleben mit den eigenen Eltern und jenem mit Dienstgeber/innen oder beispielsweise Zieheltern. So beschreiben manche Textabschnitte ein Zusammenleben von Kindern mit ihren Eltern, das dem Maßstab Familienhaushalt nicht entspricht, ja zu ihm in Kontrast steht.65 Gleichzeitig finden sich Textpassagen über Dienstgeber/innenhaushalte, in denen Sorge-Beziehungen zwischen Haushaltsvorständ/innen und Familienfremden (ähnlich wie jenen zwischen Eltern und Kindern im Familienhaushalt) eindeutig definiert werden und wie die Versorgung des/der Protagonist/in in der Erzählung als ein gegebenes Faktum erschei62 Vgl. K. 1983-1984: 56f. 63 Vgl. Gosch 1987: 21; Pichler 1996: 13-25. 64 Vgl. K. 1983-1984: 90; Konrad ca. 1975: 21f. 65 Vgl. Kandler o.J.: 102, 159-164.
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nen. In diesen Fällen ähnelt das Zusammenleben von Dienstgeber/innen und Dienstbot/innen also jenem mancher Protagonist/innen mit ihren Eltern während ihrer Kindheit.66 Im Rahmen der zeitgenössischen Auseinandersetzungen um das »richtige« Zusammenleben im Haushalt existierten weiterhin unterschiedliche Arten und Weisen, dieses zu praktizieren. Welchen Platz Dienstbot/innen in der Hausgemeinschaft finden sollten, ob sie beispielsweise als Dienende behandelt, als – den Haushaltsvorständ/innen untergeordnete – Familienmitglieder einbezogen werden oder unabhängig bleiben sollten, war in Bezug auf die Dienste ein zentraler gesellschaftlicher Konflikt.
L EBENSGESCHICHTEN IM V ERGLEICH
VON
D IENSTBOT / INNEN
Das Erwerbsverhältnis und der Familienhaushalt sind in meinem Sample die wichtigsten Referenzen, nach denen Praktiken variieren und kontrastieren. Im Folgenden sollen sie als Kriterien für die Analyse einiger Abschnitte der lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen des ehemaligen Ziehkinds, landwirtschaftlichen Knechts und Soldaten Karl Pichler dienen.67 Dabei skizziere ich, wie sich die Praktiken diesbezüglich von Abschnitt zu Abschnitt entwickeln. Pichlers Lebensgeschichte präsentiert einen Verlauf, der beiden Referenzen nie bzw. nur zeitweilig entspricht. Ihr stelle ich anschließend die Erzählung über die Hausgehilfin M. T. gegenüber, die einen anderen Verlauf nimmt. Zwar waren Dienste besonders für Frauen eine wichtige Möglichkeit, sich ein Auskommen zu organisieren, allerdings waren Frauen wie Männer im landwirtschaftlichen Dienst beinahe gleichermaßen tätig. Genauso konnten sowohl Mädchen als auch Jungen in die Situation geraten, als Zieh- oder Pflegekinder aufzuwachsen. Daher wurde an dieser Stelle die Lebensgeschichte Karl Pichlers ausgewählt, die sich, wie auch jene über die Hausgehilfin M. T., mithilfe der Kriterien verhältnismäßig gut beschreiben68 lässt. Anhand dieser Texte können
66 Vgl. Gastegger 1921-1926: 6 (Tagebucheintrag vom 8.9.1923). 67 Hierbei handelt es sich lediglich um diejenigen Abschnitte, die über die Zeit bis 1938 erzählen. 68 Wie bei jeder Textanalyse lassen sich nicht alle Abschnitte durch die beiden wichtigsten Differenzierungs- und Hierarchisierungsprinzipien gleichermaßen gut beschreiben, da es darüber hinaus noch weitere Unterschiede zwischen Textabschnitten gibt. Die Korrespondenzanalyse erlaubt es, genau zu messen, wie gut ein Abschnitt durch ein Prinzip beschrieben wird (cos²). Die Textabschnitte der im Folgenden dargestellten
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exemplarisch einige Unterschiede zwischen Lebensgeschichten dargestellt werden. Karl Pichler In den ersten Abschnitten seiner lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen beschreibt Karl Pichler, geboren 1912, wie er bis zu einem Alter von ungefähr zwölf Jahren bei seinen Eltern aufwächst. Sein Vater verdingt sich vor allem als Flößer und Forstarbeiter; seine Mutter bewirtschaftet u.a. die Kleinlandwirtschaft, wo die Familie zwischenzeitlich lebt. Später pachten seine Eltern einen Bauernhof.69 Die Aktivitäten Pichlers umfassen neben Schule und »Freizeitgestaltung«70 auch Mithilfen, die sich mit seinem Heranwachsen und den wechselnden Anforderungen der Familienökonomie verändern – Tätigkeiten also, die einem Erwerbsarbeitsverhältnis (als Maßstab für andere Lebensunterhalte) nicht entsprechen. Auch lassen sich Freizeit, Schule und (Beiträge zum) Lebensunterhalt nicht eindeutig voneinander trennen. Je älter Pichler wird, umso ausgeprägter und deutlicher wird der Kontrast zum Erwerbsverhältnis (vgl. die Graphik zu Beginn des nächsten Abschnitts). Denn als heranwachsendes Kind wird er immer selbstständiger und sein Tätigkeitsspektrum abseits der Erwerbsarbeit erweitert sich. In seiner Beschreibung spiegelt sich dies durch ein episodenhaftes Erzählen und die verstärkte Auflistung von Tätigkeiten wieder. Gleichzeitig lässt sich die Art und Weise des Zusammenlebens des Kindes Karl Pichler mit seinen Eltern als Familienhaushalt beschreiben: So agieren die Eltern als die Hauptzuständigen für seinen Lebensunterhalt; die familiären Beziehungen erscheinen in Form des idealen Eltern-Kind-Verhältnis als selbstverständlich voraussetzbar und müssen in der Erzählung daher nicht eigens charakterisiert werden.71 Allerdings ist auch in Bezug auf das Zusammenleben im
Lebensgeschichten werden größtenteils relativ gut durch die beiden wichtigsten Prinzipien erklärt; mit ihrer Hilfe lassen sich die Abschnitte also recht weitgehend in ihren Besonderheiten und Ähnlichkeiten im Verhältnis zu den anderen Abschnitten im Sample beschreiben (cos² ist überdurchschnittlich hoch), vgl. Le Roux/Rouanet 2004: 7. 69 Vgl. Pichler 1996: 2-8. 70 Ebd.: 5b. 71 Dass Pichler rückblickend auch immer wieder positive Erlebnisse mit dem Vater oder der Mutter beschreibt, spielt hier eine untergeordnete Rolle – denn unabhängig davon ob Protagonist/innen ein gutes oder schlechtes Verhältnis zu ihren Eltern hatten, wurde diesen gesellschaftlich die Elternrolle zugewiesen und wurden sie von anderen Per-
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Haushalt der Eltern im Verlauf der Abschnitte eine Veränderung zu beobachten. Denn je jünger der Protagonist ist, desto stärker setzen seine Eltern und er den Familienhaushalt in ihrem alltäglichen Miteinander in die Praxis um. Während beispielsweise die Eltern Karl Pichlers Versorgung während seiner ersten Lebensjahre fraglos übernehmen, wird der Heranwachsende später durch seine Beiträge zur Familienökonomie zunehmend mitzuständig für die Versorgung. Außerdem wird im letzten dieser Abschnitte eine Zäsur eingeleitet, die einen Bruch mit der Selbstverständlichkeit des Sorgezusammenhangs bedeutet: Der Vater erkrankt im Jahr 1923, als Karl Pichler elf Jahre alt ist, und wird arbeitsunfähig; seine Mutter stirbt im selben Jahr an den Folgen der zusätzlichen Arbeitsbelastung.72 Mit dem Tod des Vaters Anfang 1924 brechen für Karl Pichler seine Familie und damit auch seine Integration in den Elternhaushalt zusammen. Zwar kommt er in der Folge bis ins Jahr 1938 in anderen Häusern und Einrichtungen unter – allerdings nun unter ganz anderen Vorzeichen. Denn wo der Protagonist nun auch immer lebt, den Familienhaushalt hat er aus seiner Perspektive verloren. In diesen Jahren findet er auf unterschiedliche Weise ein Auskommen – dem Erwerbsverhältnis im beschriebenen Sinne entspricht aber keine seiner Arbeiten und Lebensunterhalte. Pichler verbringt die Jahre bis ca. Ende 1926 oder 192773 als Ziehkind in der Landwirtschaft seines Onkels, Taufpaten und neuen Vormunds sowie bei dessen Tochter unter besonders schlechten Bedingungen.74 Er wird zu einer Fülle von Arbeiten in der Landwirtschaft wie im Haushalt angehalten, seine Versorgungslage ist miserabel und auch der Besuch der Schule wird ihm meist verboten. Trotz gesetzlicher Vorgaben und der Schulpflicht waren Lebensbedingungen und Mithilfen von Ziehkindern in ihrer Ausgestaltung hochgradig vom Vormund und dessen Familie abhängig75 – und nicht wie im Falle des Erwerbsverhältnisses die Arbeitsbedingungen formal und vertraglich geregelt. In dieser Situation ist auch die Selbstverständlichkeit der Zugehörigkeit und des Sorgezusammenhangs nicht mehr gegeben: Für seine Versorgung muss Pichler arbeiten; die Aufnahme als Angehöriger in die Familie des Onkels bzw. die von dessen Tochter wird ihm verwehrt. sonen, Gerichten, Behörden und Ämtern, Kirchen, karitativen oder öffentlichen Einrichtungen usw. usf. als Eltern wahrgenommen, bewertet, sanktioniert oder gefördert. 72 Vgl. Pichler 1996: 9f. 73 Vgl. ebd. Es kann anhand des Texts nicht eindeutig geklärt werden, um welches Jahr es sich handelt. 74 Vgl. ebd.: 13-25. 75 Vgl. Papathanassiou 1999: 219f.
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Seine Lage spitzt sich seiner Erzählung zufolge mit dem Umzug vom Haushalt des Vormunds in jenen seiner Cousine und Tochter des Vormunds zu. Als zur Arbeit angehaltenes Ziehkind ohne Familienanschluss stehen seine Schilderungen und Praktiken in einem starken Kontrast vor allem zum Erwerbsarbeitsverhältnis, aber auch zum Familienhaushalt: So differenziert sich sein Lebensunterhalt aus, da er zur Verbesserung seiner Versorgung mit Lebensmitteln und Kleidung nun weitere Strategien (wie das Stehlen von Äpfeln) finden und Hilfen der Nachbarin annehmen muss.76 In der Erzählung wird ferner die schlechte Behandlung durch die Cousine immer wieder durch ausführliche Beschreibungen der dem Protagonisten aufgebürdeten Aufgaben und der miserablen Bedingungen verdeutlicht, unter denen er sie leisten muss. Für die entgegengesetzten Positionen, die die Tochter des Vormunds und er in dieser Arbeitsbeziehung einnehmen, findet er spezifische Begriffe: Seine Cousine bezeichnet er als »Gebieterin«, seine eigene Position als die eines »Arbeitstier[s]« oder »Sklave[n]«77. Mit dieser Wortwahl bringt er nicht nur seine Abhängigkeit und Ohnmacht auf den Punkt, sondern kennzeichnet zugleich den Kontrast zum formalisierten und klar geregelten Erwerbsverhältnis. Darüber hinaus tritt sein Nicht-Dazugehören zum Familienzusammenhang in seiner Erzählung deutlich hervor. Für seine Cousine sei er nichts als ein »geduldeter Fresser«78 gewesen, so resümiert Karl Pichler. Das tatsächliche Verwandtschaftsverhältnis zwischen dem Protagonisten und der Haushaltsvorständin bewirkt keine Verbesserung. So schreibt Pichler u.a.: »Es nahte Weihnachten und der heilige Abend, für mich ein Tag wie jeder andere. […] Ich und der Hund bekam[en] dasselbe in die Schüssel und mußten uns in der Küche aufhalten und durften nicht in die Stube, wo sich die Hausfrau[,] ihr Freund und die Kinder aufhielten.«79
Am Silvestertag 1926 oder 1927, als Pichler knapp 14 oder 15 Jahre alt ist, wird er von seinem Firmpaten, der Bauer ist, in den landwirtschaftlichen Dienst aufgenommen.80 Seine Lebensbedingungen verbessern sich im Vergleich zur vorherigen Situation fundamental. Aber weder in der Weise seiner Erzählung noch in den spezifischen Anforderungen an ihn als Knecht folgt dieser Abschnitt der standardisierten und abstrakten Logik des Erwerbsarbeitsverhältnisses. So ver76 Vgl. Pichler 1996: 17f., 22. 77 Vgl. ebd.: 14-17. 78 Vgl. ebd.: 18. 79 Vgl. ebd.: 20f. 80 Vgl. ebd.: 25-30.
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ändern sich seine Tätigkeiten nicht zuletzt aufgrund der jahreszeitlichen Rhythmen oder durch Veränderungen am Hof immer wieder, sodass diese nicht als eindeutig definiert gelten können. Außerdem veranschaulicht Pichler diesen Abschnitt seiner Biographie anhand von Beispielen und Schilderungen einzelner Erlebnisse insbesondere aus der Anfangszeit am Hof, die für den Protagonisten vor allem durch den Kontrast zur vorhergehenden Lebensphase gekennzeichnet ist. Beschrieben wird hier eine Lebensphase mit verschiedenen Facetten, die sich nicht immer klar voneinander trennen lassen – nicht aber ein klar eingegrenztes und eingrenzbares Arbeitsverhältnis. Dennoch ist der Kontrast zum Erwerbsarbeitsverhältnis weniger stark ausgeprägt als im vorangegangenen Abschnitt, da die Aufgaben des Protagonisten klarer definiert sind und die Beschreibung konkreter Tätigkeiten weniger Raum erhält. Das Zusammenleben mit der Bauernfamilie und den anderen Knechten und Mägden stellt er als ein familiäres dar. Allerdings ist er nun als Familienfremder in den Haushalt aufgenommen, sodass Beziehungen nicht in einem klar gesetzten Rahmen gelebt werden, sondern erst definiert werden müssen. Im Vergleich zum vorherigen Abschnitt findet er nun eher Worte, um seine Beziehungen zu den Haushaltsmitgliedern zu beschreiben – eine Aufnahme als Teil einer Gemeinschaft wird ihm endlich gewährt, wenn sie auch nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann. Unter anderem aufgrund dieser Gegebenheiten und dieser Erzählweise steht dieser Abschnitt noch deutlicher im Kontrast zu jenen, die den Familienhaushalt repräsentieren. Anfang der 1930er-Jahre wechselt Pichler auf eine andere Dienststelle, da er sein Interesse am Musizieren in der örtlichen Blasmusikkapelle entdeckt hat und der Stellenwechsel seinen Weg zu den Proben verkürzt. Die Anforderungen an den Knecht Pichler verändern sich im Verhältnis zum vorherigen Posten zum Teil, denn sein jetziger Dienstgeber ist ein »etwas modernerer Landwirt«81 und betreibt außerdem auch eine Haflingerzucht. Vor allem steht für den Autor in diesem Abschnitt82 aber nicht die landwirtschaftliche Arbeit im Mittelpunkt, sondern andere Aktivitäten wie eben besonders das Musizieren. Diese sind jedoch von den landwirtschaftlichen Tätigkeiten nicht unabhängig, da sein Dienst bei diesem Bauern sie einerseits befördert (das Musizieren führt der Autor ja als Begründung für den Wechsel auf diese Stelle an) und andererseits begrenzt: »Wir hatten ja nur Sonntag frei und da waren wir ja von der Arbeit müde.«83 Die Praktiken entsprechen also auch aus diesem Grund jenen des Erwerbsarbeitsverhältnisses nicht, da eine Konstruktion der Arbeit als eines eigenständigen, von 81 Vgl. ebd.: 30. 82 Vgl. ebd.: 29-32. 83 Ebd.: 31a, Fußnote.
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anderen klar zu trennenden Lebensbereichs nicht gegeben ist und narrativ nicht eingehalten wird. In der Erzählung werden die konkreten Aufgaben und der Arbeitskontext des Protagonisten aber mit dem Verweis auf dessen Stelle als Knecht zum Teil als selbstverständlich vorausgesetzt, zum Teil lediglich angerissen oder nur knapp mit der vorangegangenen Stelle verglichen. Dies macht im Kontext der Gesamterzählung, in der er die Tätigkeiten eines Knechts bereits charakterisiert hatte, Sinn – bedeutet aber im Vergleich der Abschnitte eine gewisse Verzerrung, denn auch durch diese verkürzte Erzählweise ist der Kontrast zum Erwerbsverhältnis nun weniger stark als im vorangegangenen Abschnitt. Ferner ist der Verlust der Familie und des Elternhauses in diesem, aber auch noch in den folgenden Abschnitten ein wichtiges Thema, wenn er, gemessen an den vorangegangenen Erzählsequenzen, auch nicht mehr so ausführlich thematisiert wird: »Hatte aber keine Eltern und kein Zuhause. Dieser Leidensweg zog sich durch mein ganzes Leben.«84 Da die Erzählung auch diesbezüglich auf den Ausführungen vorangegangener Abschnitte aufbauen kann, ist die negative Beziehung zum Familienhaushalt in diesem und den folgenden Abschnitten weniger deutlich. Ab 1933 zeichnet sich eine Veränderung im beruflichen Werdegang Pichlers ab: Während des Austrofaschismus wird er zunächst Soldat, später – ab 1935 bis zum »Anschluss« an das nationalsozialistische Deutsche Reich im Jahr 1938 – Gardeoffizier. Er erlangt damit eine Position, die in der remilitarisierten österreichischen Gesellschaft mit hohem Prestige und beruflichem Status verbunden war. Die »militärische Männlichkeit«85 entsprach während des Austrofaschismus (wieder) dem herrschenden Männlichkeitsideal.86 Aus der Perspektive meiner Analyse stellt sich diese Veränderung im Werdegang Pichlers allerdings nicht als Wende dar. Als Soldat und als Gardeoffizier ist er nicht in eindeutig definierten Erwerbsarbeitsverhältnissen tätig, was im Inhalt und der Art und Weise seiner Beschreibung deutlich wird. So erwähnt der Autor zwar mit dem Soldatendienst verknüpfte Routinen – wie Paraden und Wachdienste als Gardeoffizier.87 Diese werden aber immer wieder von Sondereinsätzen u.Ä. durchbrochen, denn als Soldat und als Gardist ist Pichler unmittelbar in die dramatischen (und fatalen) politischen Veränderungen dieser Zeit involviert. In seiner Beschreibung erhalten diese Situationen Gewicht – wie auch ganz andere Erlebnisse aus dieser Lebensphase, die aber mit seinem Soldaten-
84 Ebd.: 30, Hervorhebung im Original. 85 Vgl. Hanisch 2005: 17-121. 86 Vgl. Hämmerle 2008: 52, 66; Hanisch 2005: 20f., 56. 87 Vgl. Pichler 1996: 35.
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dienst häufig mehr oder weniger unmittelbar im Zusammenhang standen.88 Dargestellt sind also einige unterschiedliche Aspekte von spezifischen Lebensphasen – der Zeit als Soldat oder Gardist – anstelle von klar definierten, standardisierten und von anderen Lebensbereichen abgrenzbaren Erwerbsarbeitsverhältnissen. Bezogen auf die Veränderungen, die verstärkt in der Zwischenkriegszeit vonseiten der Gesetzgeber, Gerichte, Behörden und Ämter zur Organisation von Arbeit durchgesetzt wurden, macht der Kontrast des Soldatendienstes zum Erwerbsarbeitsverhältnis als Maßstab Sinn. Wie Irina Vana herausgearbeitet hat, waren es v.a. (männliche) Facharbeiter, die sowohl die Kernklientel der staatlichen Arbeitsmarktverwaltung als auch die Referenzgruppe für die neuen Maßnahmen der Arbeitsmarktorganisation, arbeitsrechtlichen Regelungen und sozialstaatlichen Sicherungssysteme abgaben. Ungeachtet seines Prestiges war daher nicht der Soldaten- oder auch der Beamtendienst die Referenz für andere Lebensunterhalte. Der von der Arbeitsmarktverwaltung angelegte Maßstab war die als Beruf organisierte Erwerbsarbeit des/der gelernten, kontinuierlich beschäftigten Arbeiter/in oder Angestellten in formalisierten, stabilen Beschäftigungsverhältnissen, von denen Ansprüche an die Sozialversicherungen abgeleitet wurden.89 Gleichzeitig erlaubt der Soldatendienst Karl Pichler einen Ausstieg aus dem Dienst als Knecht und damit einen Statuszugewinn, der Frauen nicht offen stand. In den von mir untersuchten Lebensgeschichten gelang es Männern leichter als Frauen, eine Lehre zu absolvieren und/oder den Dienst zugunsten einer anderen Erwerbstätigkeit zu verlassen. Frau M. T. Während das Erwerbsverhältnis in keinem der Textabschnitte von Karl Pichlers lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen praktiziert und in seiner abstrakten Logik beschrieben wird, findet sich in der Lebensgeschichte von Frau M. T., geboren 1858, der umgekehrte Fall.90 Sämtliche Abschnitte dieses Textes entsprechen in Bezug auf die Erzählweise und die dargestellten Praktiken dem Erwerbsverhältnis mehr oder weniger klar; zum Maßstab Familienhaushalt aber stehen sie alle im Kontrast.
88 Als Gardist muss er beispielsweise an einem Ball teilnehmen, bei dem er seine zukünftige Partnerin kennenlernt (vgl. Pichler 1996: 36). 89 Vgl. Vana 2013: 242f. 90 Vgl. T. 1929: 3.
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Graphik: Positionierung der Erzählabschnitte von Karl Pichler und Frau M. T. in Bezug auf die wichtigsten zwei Differenzierungs- und Hierarchisierungsprinzipien
Der Text wurde im Jahr 1929 als Leser/innenbrief in der Zeitung der sozialdemokratischen Hausgehilf/innengewerkschaft Einigkeit abgedruckt. Er erzählt den Werdegang der Hausgehilfin M. T., die nach 27-jähriger Tätigkeit weder eine Stelle findet noch eine Altersfürsorgerente erhält und ein Leben in äußerster Armut führt. Diese Erzählung ähnelt anderen Fallgeschichten, die in den Zeitungen präsentiert wurden91 – ob sie aber von einer Redakteurin oder einer Leserin verfasst wurde, kann nicht geklärt werden. Da die Einigkeit sich immer wieder für die Einführung bzw. Erweiterung der Alters(fürsorge)rente für Hausgehilf/in-
91 Vgl. exemplarisch o.V. 1929: 5.
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nen einsetzte,92 erfüllte dieser Text in dem Medium die Funktion, auf deren Notwendigkeit aufmerksam zu machen. Ferner diente die Erzählung als Beispiel für schlechte Lebens- und Arbeitsbedingungen von Hausgehilfinnen, wie sie die Einigkeit anprangerte. Im Verbandsjournal der Gewerkschaft wurden Hausgehilfinnen als Lohnarbeiterinnen beschrieben, die besonders von Ausbeutung betroffen waren.93 Die Einigkeit versuchte, die Arbeits- und Lebensbedingungen durch politische Arbeit, Fortbildungskurse, Stellenvermittlung oder als Trägerin der städtischen Stellenlosenheime in Wien zu verbessern und Hausgehilf/innentätigkeiten zu professionalisieren.94 Die Erzählung beginnt mit dem Tod von T.s Ehemann im Jahr 1898, aufgrund dessen sie als Vierzigjährige in Wien »als Hausgehilfin in Stellung«95 gehen muss. Auf mehreren Stellen arbeitet sie der Erzählung zufolge unter harten Bedingungen und wird von Dienstgeber/innen schlecht behandelt. Die Protagonistin möchte dann »ihr Glück im Ausland versuchen« und »dient« in Berlin, London und Frankreich. Als der Erste Weltkrieg ausbricht, reist sie nach Wien und erhält Arbeit in einem »hochherrschaftlichen Hause«. Im Anschluss daran findet sie lediglich »Aushilfsposten«. In einer Stelle als Mehlspeisköchin in einem Brandenburger Genesungsheim bricht sie nach fünf Monaten erschöpft und krank zusammen. Nach ihrer Gesundung geht sie zurück nach Wien. Ähnlich wie in den Dienststellen Karl Pichlers ist auch in jenen von T. der selbstverständliche Sorgezusammenhang des Familienhaushalts nicht gegeben: Den von ihr erhofften »Familienanschluß« habe sie nirgends gefunden, so resümiert sie. Die Erzählung von T. unterscheidet sich von derjenigen Pichlers vor allem darin, dass die Praktiken in ihrer Lebensgeschichte das Erwerbsverhältnis herstellen, umsetzen und unterstützen. Denn sie kann die Tätigkeiten, die mit ihrer Arbeit verbunden sind, sowie ihre Vergütungen und die Beschaffenheit und Zusammensetzung der Dienstgeber/innenhaushalte weitgehend als bekannt aussparen. Durch die Benennung des Dienstverhältnisses (z.B. »Stellung«), ihrer Position (z.B. »Hausgehilfin«) oder des Haushalts/Betriebs (z.B. »Genesungs92 Altersfürsorgerenten wurden für Hausgehilf/innen 1927 eingeführt. In nachfolgenden Regelungen wurde der Kreis der Anspruchsberechtigten erweitert und der Betrag der Fürsorgerente erhöht. Wie die Einigkeit aber wiederholt kritisierte, blieben die Fürsorgerenten zu niedrig bemessen und viele bedürftige Hausgehilf/innen von ihnen ausgeschlossen (vgl. Eisenzopf 1936: 7f., 16; o.V. 1932a: 1; o.V. 1932c: 1f.; o.V. 1929: 5; Stekl 1978: 213f.). 93 Vgl. Wirthensohn 1987: 71; vgl. auch: Magaziner 1927, 5; M. 1931: 2; o.V. 1932b: 3. 94 Vgl. Bollauf 2011: 26f.; Hauch 2009: 40f.; Richter 2015a: 249-254. 95 T. 1929: 3. Der Text ist auf dieser Seite vollständig abgedruckt – wenn nicht anders angegeben, stammen im Folgenden alle direkten Zitate aus diesem Artikel.
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heim«) verweist sie lediglich auf das Arbeitsverhältnis. Beziehungen oder Erlebnisse außerhalb ihrer Dienststellen werden nicht erwähnt. Diese Erzählweise im Sinne des eindeutig definierten Erwerbsarbeitsverhältnisses ist vor der informierten Öffentlichkeit der Zeitung möglich. Zudem zielt der Leser/innenbrief nicht darauf ab, ein Leben in all seinen Facetten zu beschreiben. Er fokussiert vielmehr auf spezifische Bedingungen und Probleme, mit denen Hausgehilfinnen aus der Perspektive der Einigkeit als Gruppe konfrontiert waren und konstruiert einen – prekären, von Ausbeutung und Benachteiligung geprägten – Erwerbsverlauf. Dabei dient das Erwerbsarbeitsverhältnis als Maßstab für die jeweils vorgefundenen Arbeits- und Lebensbedingungen. Einige der Dienststellen der Frau T. sind als Abweichungen von einer implizierten Norm dargestellt. Diese Norm legt fest, was Hausgehilf/innen tun und dafür erhalten und wie Diensthaushalte zusammengesetzt sein sollten. So beschreibt die Erzählerin eine der ersten Dienststellen wie folgt: »Fortwährend gab es Gäste im Hause, die bis spät in die Nacht blieben und ich mußte alle Arbeit allein machen. Das Schändlichste aber war, daß die ›Gnädige‹ das Trinkgeld, das die Gäste im Vorzimmer für mich hinterlegten, verkürzte und selber einsteckte […]. Als ich das bemerkte, machte ich natürlich Spektakel und verließ das Haus […].«96
Hier ist eine häufig wiederkehrende, übermäßige Belastung angesprochen, die als besonderes negatives Spezifikum dieser Dienststelle der Erwähnung bedarf. Dafür gebührt der Protagonistin, wie dieser Passage zu entnehmen ist, zumindest das hinterlegte Trinkgeld als Kompensation. Als die Dienstgeberin mit diesem Arrangement bricht, erklärt Frau T. das Arbeitsverhältnis als beendet. Ad hoc weniger offensichtlich ist die implizite Normsetzung in solchen Abschnitten, in denen verschiedene Dienststellen zusammengefasst und nicht näher charakterisiert werden. Dies sind aber genau diejenigen Abschnitte, die die Logik des Erwerbsarbeitsverhältnisses in besonderem Maße herstellen und unterstützen (vgl. Graphik: M. T. 2 und M. T. 4). Abweichungen kommen hier nicht zur Sprache; der Logik des Erwerbsarbeitsverhältnisses folgend, wird im Text lediglich auf die Dienstposten verwiesen. Im Vergleich zu anderen Abschnitten im Sample erscheinen sie dadurch als Arbeitsarrangements, die man in allgemein gehaltenen Berufsbezeichnungen und Erwerbskategorien zusammenfassen kann und deren Charakteristika (Vergütung, Aufgaben, Kontext) eindeutig festgelegt sind. Dieser implizite Maßstab eines standardisierten, klar geregelten Erwerbsarbeitsverhältnisses fehlt in den Erzählabschnitten Pichlers, der in seinen lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen vorangegangene Lebensumstände zur Bewertung 96 T. 1929: 3.
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einer bestimmten Phase heranzieht, dessen Arbeit sich nicht von anderen Lebensbereichen trennen lässt und dessen Arbeits- und Lebensbedingungen und Kontexte sich seiner Beschreibung nach immer wieder teils radikal verändern. Im Falle der Einigkeit bildete genau dieser Maßstab aber die Grundlage, auf der politische Forderungen für die Formalisierung von Dienstverhältnissen und verbesserte Arbeitsbedingungen entfaltet werden konnten. Zwar beziehen sich die Abschnitte sozialdemokratischer und kommunistischer Zeitungsartikel, also jene ganz bestimmter offizieller Schriften, am eindeutigsten positiv auf das Erwerbsarbeitsverhältnis; wie erwähnt wird dieses aber auch in manchen Textpassagen aus Selbstzeugnissen unterstützt und umgesetzt. Beispielhaft sei hier auf einige Briefe von Therese Halasz an das Archiv »Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen« (Institut für Wirtschaftsund Sozialgeschichte der Universität Wien) verwiesen, in denen sie ihren Werdegang als Köchin in Privathaushalten beschreibt und als kontinuierliche Berufslaufbahn konstruiert. Dienststellen betrachtet sie dabei als Stationen beruflicher Aus- und Weiterbildung mit einem klar abgesteckten Tätigkeitsspektrum.97 Hauswirtschaftliche und landwirtschaftliche Dienste waren grundsätzlich jedoch gering formalisiert, reguliert und sozialstaatlich abgesichert und bestehende gesetzliche Regelungen wurden vielfach nicht durchgesetzt. Wenn Dienste also in manchen Textabschnitten als Erwerbsverhältnisse beschrieben werden, werden sie im Sinne dieser Logik inszeniert und/oder durch die Protagonist/innen selbst praktisch hergestellt. Im Falle von Diensten, die im Vergleich etwa zu Mithilfen in der (Zieh-)Familie dem Erwerbsarbeitsverhältnis ähnlicher waren, waren diese Praktiken und Erzählweisen aber eher möglich.
F AZIT Erwerbsarbeit als abstrakt beschriebenes, standardisiertes Arbeitsverhältnis – also als klar geregeltes und definiertes Arrangement, das durch Berufsbezeichnungen zusammengefasst werden kann – muss vor allem als Vorstellung und Zielsetzung einer amtlichen Verwaltung betrachtet werden, die in der alltäglichen Praxis immer wieder unterlaufen oder verändert wurde, sich mit anderen Formen überlappte oder sich zuweilen als unpassend herausstellte. Sie macht im Rahmen einer Arbeitsmarktverwaltung Sinn, die versuchte, den Arbeitsmarkt herzustellen und zu organisieren, eine (u.a. geschlechtshierarchische) Rangfolge von unter-
97 Vgl. Halasz 1984-86, Briefe an die »Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen« vom 5.6.1984 sowie vom 22.4.1986.
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scheidbaren Lebensunterhalten zu (re-)produzieren und Möglichkeiten zum Lebensunterhalt zu kontrollieren. Im Rahmen der Auseinandersetzungen darum, was Arbeit und ein legitimer Lebensunterhalt sein und wie sie organisiert werden sollten, setzten sich offizielle Kategorisierungen und Formalisierungen neben neuen arbeitsbezogenen Rechten, Ansprüchen und Pflichten als Maßstab von Tätigkeiten durch, der auch in Bezug auf die Dienste praktisch wirksam wurde. Und diese Wirksamkeit war unabhängig davon gegeben, ob Dienste diesem Maßstab entsprachen oder nicht entsprachen, ob die Protagonist/innen ihn affirmierten oder in Opposition zu ihm standen, ob sie ihn umzusetzen oder zu hintertreiben versuchten. Die sozialdemokratische Gewerkschaft Einigkeit bezog sich in positiver Weise auf die Referenz Erwerbsarbeitsverhältnis, um eine Anerkennung der Dienste von Hausgehilfinnen als Lohnarbeit zu erreichen, eine stärkere Formalisierung und Rechte durchzusetzen und gleichzeitig auf spezifische, zu behebende Probleme von Hausgehilfinnen aufmerksam zu machen. Durch ihre Verbandszeitung sollten Mitglieder und andere Hausgehilfinnen politisiert und für die Ziele und Aktivitäten der Gewerkschaft gewonnen werden. Dies aber bedeutete gleichzeitig, die vielfältigen Unterschiede zwischen Dienststellen und Dienstgeber/innenhaushalten sowie Übergänge zu anderen Lebensunterhalten weitgehend zu ignorieren und stattdessen Hausgehilfinnen als eine mehr oder weniger homogene Gruppe, als Zugehörige zu einer bestimmten Berufskategorie zu konstruieren. Die Lebensgeschichte Karl Pichlers macht hingegen genau auf diese Unterschiede zwischen Dienststellen und auf Ähnlichkeiten oder Differenzen zu anderen Formen des Lebensunterhalts aufmerksam. In seinem Fall hatten alle seine verschiedenen Lebensunterhalte bis zum Jahr 1938 miteinander gemein, dass sie der Referenz Erwerbsverhältnis nicht entsprachen. So leistete er beispielsweise sowohl als Ziehkind als auch als Knecht landwirtschaftliche Arbeit, aber nicht nur veränderten sich seine Aufgaben im Zeitverlauf sowie zwischen den Kontexten, in denen er arbeitete, sondern auch seine konkreten Lebens- und Arbeitsbedingungen waren zum Teil fundamental voneinander verschieden. Darüber hinaus war ihm die Repräsentation von Arbeit als einem eigenen, von anderen unabhängigen Lebensbereich angesichts des Ineinanders von Mitleben und -arbeiten in fremden Haushalten nicht möglich.98 98 Dies dürfte auch auf viele Lebensgeschichten von Menschen zutreffen, die niemals im Dienst waren. Zwar wurden Erwerbsarbeit und andere »Lebensbereiche« immer deutlicher voneinander getrennt, aber sie waren und sind aus gesellschaftlicher Perspektive dennoch aufeinander bezogen und voneinander abhängig und in der alltäglichen Praxis auf vielfältige Weise miteinander verschränkt (vgl. exemplarisch Becker-Schmidt
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Die Auseinandersetzungen um die Dienste drehten sich auch um die Frage, ob Dienstbot/innen als Familienmitglieder im Haushalt Aufnahme finden sollten. Der Familienhaushalt als selbstverständlicher Sorgezusammenhang war Bezugspunkt und Maßstab auch für Haushalte mit familienfremden Mitgliedern. Allerdings stellte sich der Dienst aus der Perspektive von Dienstbot/innen meist ganz anders dar. Während sie durch ihre Arbeit ihre Versorgung im Haushalt sicherstellten, mussten die hierarchischen Beziehungen zu anderen Haushaltsmitgliedern, insbesondere den Dienstgeber/innen, in ihrer Ausgestaltung erst in Konflikten und Aushandlungen definiert werden. Vor allem Hausgehilfinnen waren darüber hinaus als untergeordnete Haushaltsfremde für die Umsorge von anderen Haushaltsmitgliedern zuständig – ohne im Gegenzug dasselbe für sich beanspruchen zu können. Für das Ziehkind Karl Pichler stellte sich diese Situation, obwohl er bei Verwandten lebte, sogar als Ausschluss aus der Familie und als ein (Über-)Leben unter unerträglichen Bedingungen dar. Für ihn war der Verlust der Familie und des Zuhauses nach dem Tod seiner Eltern und die Art und Weise der Integration in andere Haushalte wesentlich für die Bewertung seiner Lebensumstände und das zentrale Thema, an dem sich seine Lebenserzählung orientierte. In Bezug auf den fehlenden Zugang zur selbstverständlichen Sorge im Haushalt ähnelte die Haushaltsintegration Pichlers aber jener vieler Dienstbot/innen. Anhand der gesellschaftlich durchgesetzten Referenzen Erwerbsarbeitsverhältnis und Familienhaushalt lassen sich diese unterschiedlichen Lebensunterhalte und Modi des Zusammenlebens in ihren Ähnlichkeiten und Unterschieden vergleichen.
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Künstlerische Arbeit in Selbstzeugnissen von Käthe Kollwitz (1867-1945) M ARIA D ERENDA
In einem Brief an ihren älteren Sohn schildert Käthe Kollwitz im Mai 1911 ein Gespräch, das sie während eines Besuchs der Berliner Nationalgalerie mithörte: »Während ich so stand […], wurde ich auf ein Gespräch aufmerksam, das neben mir ein Museumsdiener mit einer kopierenden Malerin führte. Auf einmal wurde mir klar, daß sie von mir sprachen und zwar rühmte der Museumsdiener mich über die Maßen. Aber er hatte keinen Charakter, denn als die Malerin ihm opponierte, wurde er immer kleinlauter und zu guter Letzt hat er gesagt: ›Ja, natürlich, das ist auch so, die Frau gehört ins Haus.‹«1
Die Interpretation dieser Zeilen ermöglicht einen Einblick darin, wie die künstlerische Arbeit von Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Allgemeinen, die von Käthe Kollwitz im Besonderen gesellschaftlich bewertet wurde und wie Kollwitz selbst diese Bewertung wahrnahm. Am Beispiel der »kopierenden Malerin« zeigt sich, dass eine künstlerische Tätigkeit für Frauen nicht zwangsläufig im Widerspruch dazu stand, den privaten Bereich als primären Handlungsraum zu sehen. Es existierten für eine Frau vielmehr verschiedene Möglichkeiten, künstlerisches Schaffen in die Lebensgestaltung zu integrieren und auch mit ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter zu kombinieren. Dabei konnte die künstlerische Arbeit dem Einkommenserwerb2 1
Akademie der Künste (AdK), Berlin, Käthe-Kollwitz-Archiv, Nr. 18, 24b-c: Brief von
2
Zur Definition des Begriffs Arbeit vgl. Kocka 2003: Arbeit wird hier bestimmt als Tä-
Käthe Kollwitz an Hans Kollwitz, 20.5.1911. tigkeit, mit der man Einkommen erzielt, von der man lebt, »durch die man verdient, abhängig, selbständig oder in einer Zwischenform, manuell oder nicht manuell, mehr
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dienen oder dilettantisch zum Zeitvertreib ausgeübt werden, wobei zwischen den Polen des professionellen und des dilettantischen Kunstschaffens Variationen möglich waren. Käthe Kollwitz stand nicht nur mit ihren Werken, den Ergebnissen ihrer künstlerischen Arbeit, in der Öffentlichkeit, sondern auch ihr Leben als professionelle Künstlerin3 war Gegenstand öffentlicher Debatten. Und sie war sich dessen auch bewusst, dass die Form ihrer Lebensgestaltung die Gesellschaft polarisierte. Sie hat der geschilderten Episode so viel Bedeutung beigemessen, dass sie sie ihrem Sohn brieflich mitteilte, allerdings ohne dabei ihren eigenen Lebensentwurf oder den der »kopierenden Malerin« explizit zu bewerten. Der Brief zeigt aber, dass Kollwitz Geschlecht hier als zentrale Beurteilungskategorie in der um sie selbst als professionelle Künstlerin geführten Diskussion wahrnahm. Auch andere Quellen zeigen, dass Geschlecht und Geschlechterbilder zentral sind in der Auseinandersetzung mit Person und Werk von Künstlerinnen4 um 1900 ist. Von der Ausbildung bis zur Teilhabe am Ausstellungsbetrieb galt der berufliche Weg eines männlichen Kunstschaffenden als Norm und Beurteilungsmaßstab. Andererseits zeigt der zitierte Brief auch, dass Künstlerinnen wie Käthe Kollwitz trotz dieser Normierung um 1900 öffentliches Interesse und auch Anerkennung genossen. Im Unterschied zu ihren männlichen Kollegen war die Beurteilung der Kunst von Frauen allerdings explizit an das Geschlecht gebunden. Ausgehend von der öffentlichen Wahrnehmung des Künstlertums wird im Folgenden der Frage nachgegangen, wie sich das künstlerische Selbstverständnis der professionellen Künstlerinnen gestaltete. Dazu sollen zunächst die Voraussetzungen der künstlerischen Arbeit von Frauen und deren Handlungsspielräume in Auseinandersetzung mit der Norm des männlichen Künstlers dargelegt werden. Im nächsten Schritt wird am Beispiel von Käthe Kollwitz die Rezeption von Künstlerinnen in der Öffentlichkeit thematisiert. Anhand der Selbstzeugnisse von Käthe Kollwitz wird abschließend dargelegt, welche Bedeutung sie selbst der künstlerischen Arbeit in ihrem Leben beigemessen hat und wie sie ihren Beruf konzipierte. oder weniger qualifiziert« (Kocka 2003: 85). In den Selbstzeugnissen von Kollwitz wird sowohl das künstlerische Werk als auch der Prozess seiner Entstehung mit dem Terminus »Arbeit« bezeichnet. 3
Unter einer Berufskünstlerin verstehe ich eine Frau, die nach einer berufsqualifizierenden Ausbildung ihren Lebensunterhalt ganz oder in Teilen durch die Kunstproduktion bestreitet und demnach in die Strukturen des Kunstmarktes integriert ist (vgl. Schütte 2000).
4
Zur Symbiose von Künstler und Kunstwerk in der textuellen Vermittlung vgl. Soussloff 2011: 37.
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Laut Carola Muysers hat kaum eine andere Profession zwischen der Mitte des 19. und dem Anfang des 20. Jahrhunderts in den öffentlichen Medien – in Zeitungen, Zeitschriften und größeren Abhandlungen – über einen vergleichbar langen Zeitraum derart heftige Reaktionen erfahren wie die der bildenden Künstlerin.5 Weitere Forschungsergebnisse stützen diese Position: Erstens markiert diese Periode einen Zeitraum der gesellschaftlichen Etablierung von Berufskünstlerinnen, die quantitativ gesehen bemerkenswert ist: Statistisch kann ein deutlicher Anstieg der Zahl bildender Künstlerinnen beobachtet werden. Betrug in den 1830er-Jahren in Deutschland der Anteil von Frauen unter den bildenden Künstler/innen Schätzungen zufolge noch sieben Prozent, waren es zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits 13 Prozent.6 Zweitens traten die Künstlerinnen nicht nur in einer bedeutsamen Anzahl an die Öffentlichkeit, sondern auch eingebunden in institutionalisierte Netzwerke.7 Der Gründung des »Vereins der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin« im Jahr 1867, des ersten Berufsverbands bildender Künstlerinnen, folgten – um nur einige zu nennen – der »Künstlerinnenverein München« (1882), der »Bund deutscher und österreichischer Künstlerinnenvereine« (1908) und der »Frauenkunstverband« (1913). Gemeinsam war diesen Institutionen der Einsatz für die Anerkennung des Kunstschaffens von Frauen in der Öffentlichkeit und damit einhergehend die Verbesserung der Ausbildungs- und der Ausstellungssituation der Künstlerinnen. Der »Verein der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin« etablierte beispielsweise eine eigene Malschule und veranstaltete Jahresausstellungen. Drittens wurden Künstlerinnen auch aufgrund ihrer öffentlichen Vernetzung und ihres gemeinsamen Engagements für die Partizipation am Kunstbetrieb immer häufiger zum Thema von Kunstkritik und von Kunstgeschichte.8 Sowohl Produzent/innen als auch Rezipient/innen entsprechender Schriften gehörten zu einem überwiegenden Teil bildungsbürgerlichen Kreisen an; die bürgerliche Vermittlung der Kunst und des Künstlerischen zeichnete sich im höchsten Maße
5
Vgl. Muysers 1999: 17.
6
Vgl. Frevert 1999: 314; vgl. dazu auch Muysers 1999: 32.
7
Vgl. dazu die Dissertation von Matz 2001; vgl. auch die regionale Studie von Neu-
8
Vgl. Lübke 1862; vgl. auch Scheffler 1908; Guhl 1858; Hildebrandt 1928.
mann 1999.
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durch Literarisierung aus. Das bildungsbürgerliche Publikum des fortgeschrittenen 19. Jahrhunderts war »kein Augenpublikum, sondern ein literarisch verbildetes, das seine Unfähigkeit zur Beurteilung sinnlicher Phänomene verbirgt, indem es den vorformulierten Inhalt der Kunstzeitschriften, der Ausstellungsrezensionen und der kunstgeschichtlichen Handbücher sich zu eigen macht.«9
Besprechungen in einflussreichen Kunstzeitschriften entschieden somit häufig über den Erfolg von Ausstellungen und damit über Künstlerexistenzen. Aufgrund der herausragenden Stellung der literarischen Vermittlung von Kunst in den Medien der Kunstkritik und Kunstgeschichte wurden diese Texte zu Machtinstrumenten,10 welche die zeitgenössische Kunstwahrnehmung prägten. Trotz der zunehmenden Zahl von Künstlerinnen standen Frauen, die sich um 1900 das Berufsfeld der bildenden Kunst erschlossen, vor immensen Herausforderungen. Sie hatten kaum weibliche Vorbilder und somit auch keine etablierten beruflichen Orientierungsmuster und Handlungsspielräume. In der Ausbildung waren die Möglichkeiten für Frauen im Vergleich zu ihren männlichen Künstlerkollegen stark eingeschränkt. Den angehenden Künstlerinnen war der Weg zum Studium an den Kunstakademien und somit zu einer anerkannten, qualifizierenden Ausbildung verschlossen. Deshalb mussten sie auf in privater Initiative gegründete Anstalten ausweichen, deren Besuch kostspielig war.11 Diese standen jedoch im Ruf, primär auf den eigenen Profit und weniger auf die Qualität des Unterrichts und das künstlerische Talent der Schülerinnen zu achten,12 was jene bestärkte, die Kunstwerke von Frauen als dilettantisch beurteilten. Kunsthistoriker und Kunstkritiker verbanden diesen Vorwurf mit wortreichen Ausführungen, weshalb Frauen auf dem Gebiet der Kunst entweder gänzlich unvermögend seien oder lediglich minderwertige Leistungen erbringen könnten.
9
Schlink 1992: 67f.
10 Vgl. Stelzl 1983: 259. 11 Obwohl der Besuch der staatlichen Akademien innerhalb der Ausbildung der bildenden Künstler eine anerkannte und vielfach erwartete Etappe der Künstlerausbildung darstellte, etablierten sich ab dem Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr außerakademische Professionalisierungsmöglichkeiten. Frevert erklärt dieses Phänomen mit einem vergleichsweise geringen Grad der Akademisierung der Künstler- und damit einhergehend der Künstlerinnenausbildung (vgl. Frevert 1999: 316). 12 Vgl. dazu Neumann 1999: 42.
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Ernsthafte künstlerische Betätigung von Frauen wurde vielfach mit physischen und psychischen Störungen und sexuellen Eigenheiten in Verbindung gebracht.13 Die männlichen Künstler hingegen blickten auf eine jahrhundertelange berufliche Tradition zurück, in der sich ein Künstlermythos herausgebildet hatte.14 Dieser stellte eine ideologische Verortungsmöglichkeit dar und wies dem Künstler seine Funktion und seinen Stellenwert innerhalb der Gesellschaft zu. Dem Künstler wurden im Künstlermythos die Gabe und Aufgabe zugesprochen, jenseits der defizitär erlebten Wirklichkeit ein Ideal, ein geniales Werk, zu schaffen.15 Das Geniale dieser Schöpfung wurde dabei nicht nur mit dem Werk, sondern zunehmend auch mit der Person des Künstlers verknüpft. Der Künstlermythos war fest im Kunstmilieu des 19. und frühen 20. Jahrhunderts verankert, innerhalb zahlreicher zeitgenössischer Institutionen etabliert und über diese verbreitet. Kunstakademie, Kunstvereine, Kunstkritik und Kunstgeschichte boten den Rahmen für die Vermittlung der Werke und die Anerkennung des Künstlers durch das Publikum.16 Diese Institutionen und Akteure bedienten sich des Künstlermythos, um die elitäre Position des Künstlers innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft zu festigen, und legitimierten damit ihre eigene Existenz. Die Pflege des Künstlermythos war für einzelne Künstler eine Strategie, um dem immensen Konkurrenzdruck unter den Kollegen, dem sie auf dem Kunstmarkt ausgesetzt waren, standzuhalten. Um zu einem Einkommen und vielleicht sogar permanenter finanzieller Sicherheit zu gelangen, waren die Künstler auf die Selbstinszenierung vor dem Publikum angewiesen, bei der sie sich der Elemente des Künstlermythos bedienten. Das Konzept des Künstlermythos war auf das männliche Individuum ausgerichtet, und der Kunstbetrieb wurde von den männlich dominierten Institutionen bestimmt. Die Frauen positionierten sich auf unterschiedliche Weise gegenüber der Norm des männlichen genialen Künstlers. Die russische Malerin Marija Baškirceva (1858-1884) zum Beispiel adaptierte für sich den ausschließlich männlich besetzten Mythos des Genies, wobei sie dessen geschlechtsspezifische Implikationen ignorierte. Unbekümmert, wenn auch nicht blind gegenüber den im zeitgenössischen Kunstbetrieb herrschenden männlich dominierten Strukturen, argumentierte sie mit den dem Genie-Begriff immanenten Kategorien von 13 Vgl. dazu Weininger 1921 und Möbius 1907. Beide Schriften können aufgrund hoher Auflagezahlen somit mit Recht zu den zentralen Narrativen des zeitgenössischen öffentlichen Diskurses gezählt werden. Zur Rezeption der Schriften von Möbius und Weininger vgl. Dollen 2000: 20. 14 Vgl. dazu Loewenfeld 1903; vgl. auch Zilsel 1972; Neumann 1999. 15 Vgl. Kris/Kurz 1995: 89. 16 Vgl. Ruppert 2000.
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Autorschaft, Autorität, Authentizität, Originalität, Innovation, Einflussnahme und Exzentrik, als seien diese geschlechtsneutral handhabbar.17 Andere Künstlerinnen ersetzten den Genie-Begriff durch den Begriff des Talents oder der Begabung. Trotz des zuweilen auch synonymen Gebrauchs beider Begriffe im zeitgenössischen Kontext wurde das Genie über das Talent gestellt: »Die allgemeinen Merkmale des G[enie]s, wodurch es sich besonders vom Talent […] unterscheidet, [sind das] Ursprüngliche, eigenthüml. Schöpferische seines Wirkens und Schaffens.«18 Die Künstlerinnen setzten die scheinbare Bedeutungsgleichheit beider Begriffe gezielt ein, um die strikt geschlechtliche Konnotation des Geniebegriffs und damit die Frage nach der Befähigung zur bildenden Kunst zu umgehen. Die Aussage der österreichischen Künstlerin und Frauenrechtlerin Rosa Mayreder spitzt diesen Ansatz auf die explizit beanspruchte Geschlechtsneutralität der Kunst zu: »Meiner Meinung nach sieht der Begabte anders als der Unbegabte – der Geschlechtsunterschied hat dabei nichts zu bedeuten.«19 Dritte wiederum sinnierten über die Existenz eines speziell weiblichen Genies und dessen Gleichwertigkeit, jedoch nicht Gleichartigkeit mit dem männlichen Geniebegriff. »Ich will kein Künstler sein, ich bin eine Künstlerin, und mein höchster Stolz ist, dass meine Kunst weiblich sei«20, schreibt Vally Wygodzinski, geborene Cohn (1873-1905), und sieht sich außerhalb der Konkurrenz zu ihren männlichen Kollegen.21 Die Vorstellung, dass die Kunst von Männern und die von Frauen ihre spezifischen Eigenheiten haben, stützt das Konzept des Künstlerinnenmythos, das sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Gegenmodell zum Künstlermythos entwickelte. Orientiert an den Ideen von Georg Simmel u.a. fußte der Künstlerinnenmythos auf der Vorstellung des gleichwertigen kulturellen Beitrags der Frauen zur gesellschaftlichen Entwicklung. Kerngedanke dieses Konzeptes war die Mutterschaft als Schöpfungsquelle für künstlerische Leistung.22 Obwohl Käthe Kollwitz in der Rezeption geradezu zu einer Symbolfigur des Künstlerinnenmythos und der mit ihm einhergehenden Betonung der spezifi-
17 Vgl. Raev 2002: 120; zur Selbstinszenierung von Bashkirzeva vgl. Herrmann 2009. 18 Artikel: Genie, in: Meyer’s Conversations-Lexikon 1849: 399. 19 Mayreder 1930: 294. 20 Wygodzinski 1908: 51, zitiert nach: Heitmann/Kaufhold 2002: 8. 21 Die Idee der grundsätzlichen Gleichwertigkeit der Geschlechter bei biologisch determinierten Unterschieden prägte die aufkommende feministische Diskussion (vgl. Biermann 2009; Becker-Schmidt/Knapp 2000). 22 Vgl. dazu Simmel 1902; vgl. auch Köhnke 1985; Muysers 1999.
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schen weiblichen Schöpfungskraft stilisiert wurde,23 vermitteln ihre Selbstzeugnisse ein gänzlich anderes Bild. Ihr berufliches Selbstverständnis ist durchsetzt von vielschichtigen Konnotationen des Künstlermythos. Ihre Identifikation mit der Figur des schöpferischen Künstlers kann als Folge ihrer breiten Anerkennung innerhalb des Kunstbetriebes verstanden werden.
II. D IE
KÜNSTLERISCHE ARBEIT VON K ÄTHE IN DER ZEITGENÖSSISCHEN R EZEPTION
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Käthe Kollwitz gehörte zu den bildenden Künstlerinnen, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Kunstmilieu durchsetzen konnten. Die Kunstkritik schenkte Käthe Kollwitz nicht nur Beachtung, sondern bedachte sie auch mit positiver Kritik. Der Kunsthistoriker Werner Weisbach, der sich im Allgemeinen resolut gegen professionelle Künstlerinnen äußerte, räumte Käthe Kollwitz einen Sonderstatus ein, indem er sie als die »markanteste [...] Erscheinung unter den deutschen Künstlerinnen« seiner Zeit bezeichnete. Sie habe – so Weisbach – »alles Dilettantische abgestreift, und man darf an ihre Werke den Maßstab großer Kunst legen«24. So anerkennend sich die Kunstkritik über das Werk von Kollwitz äußerte, die Beurteilung ihrer Kunst blieb an ihr Geschlecht gebunden. Otto Sebaldt beispielsweise schrieb 1909 in seinem Aufsatz für das Dresdner Kupferstichkabinett: »Da sehen wir nun eine stille, schmächtige Frau mit herben Zügen, milden Augen, Mutter zweier Kinder […]. Und dann sehen wir, wie die schmale, zarte Hand den Griffel ergreift und mit unerbittlichen Strichen, mit großen, gewaltigen Zügen, geleitet von einer heiligen Leidenschaft, die Geschichte eines leidenden Volkes aufzeichnet und in einer großen geistigen Arbeit und in heftigsten Kraftäußerungen all die tausend Schmerzen gestaltet, den lauernden Hunger, den drängenden Haß, die dumpfe Verzweiflung, die geboren sind aus
23 Vgl. Seiderer 2006: Seiderer zeigt, wie eng die Rezeption des Werkes und der Person von Käthe Kollwitz an die zeitgenössische Debatte um den kulturellen Beitrag der Frau, deren Inspirationsquelle in der (geistigen) Mutterschaft liege, gebunden war. Dies gewährleistete die breite Anerkennung von Käthe Kollwitz in der Weimarer Republik auch von staatlicher Seite. 24 Weisbach 1905: 85.
60 | M ARIA D ERENDA dem größten Menschenleid – der Not. Wie das Medium einer unbegreiflichen Macht ist Käthe Kollwitz.«25
Otto Sebaldt kontrastiert hier die zarte Erscheinung der Künstlerin, charakterisiert durch traditionelle Zuschreibungen des Weiblichen, mit ihren bedeutenden künstlerischen Leistungen. Diese seien jedoch das Ergebnis einer »unbegreiflichen Macht«, die sich des Körpers der Künstlerin bediene, um Bedeutsames zu erschaffen. Diese Bewertung stellt den Ausschluss der Frauen von einer gleichwertigen Teilhabe am Kunstbetrieb nicht infrage, behandelt aber Käthe Kollwitz als eine Ausnahmeerscheinung, deren besondere Fähigkeiten durch das Außergewöhnliche ihrer Person erklärt werden. Dieses stilisierte öffentliche Bild von Käthe Kollwitz ließ häufig die Würdigung ihrer Kunst in den Hintergrund treten. Max Lehrs, Direktor des Dresdner Kupferstichkabinetts und langjähriger Förderer von Käthe Kollwitz, ging sogar so weit, das künstlerische Vermögen von Kollwitz als Ausnahmeerscheinung über das der Männer zu stellen. Dabei zeigt sich, dass auch Lehrs die Kategorie Geschlecht zum Maßstab seiner Beurteilung nahm. Die Kunst von Kollwitz erklärte er mit deren Genialität, gleichzeitig marginalisierte er die Kunst von Frauen, indem er sie auf die Grenzen des Erlernbaren verwies: »Käthe Kollwitz war von Anfang an auf dem mit bewußter Selbstbeschränkung von ihr bevorzugten Gebiet ein Genie, und ich muß immer lächeln, wenn man vor ihren Blättern wohltemperierte Worte der Anerkennung hört: Was sei für eine Frau alles möglich! – Mein Gott wieviel Männer haben wir denn, denen eine Komposition wie ›Losbruch‹ aus dem Bauernkriegzyklus mit dieser elementaren Wucht, dieser unerhörten Kraft und diesem zeichnerischen Können gelänge? Unter unseren privilegierten sogenannten Monumentalmalern wüßte ich kaum einen zu nennen.«26
Diese Zeilen betonen mit großer Emphase die Zugehörigkeit von Kollwitz zum Kreis der genialen Künstler und damit zum Künstlermythos. Bezeichnend ist jedoch, dass Lehrs dieses höchste Lob relativiert, indem Kollwitz Genie nur auf dem mit »bewußter Selbstbeschränkung von ihr bevorzugten Gebiet« zugesprochen wird. Die Beschränkung ist in ihrem – dem weiblichen – Fall die Voraussetzung ihres Genies. Die Relativierung erfolgt nicht nur durch die Unterordnung der künstlerischen Fähigkeiten von Kollwitz unter die Genies, die nach Lehrs’ Auffassung auf einem breiteren künstlerischen Gebiet arbeiten. Betrachtet man die Selbstbeschränkung in dem dualistischen Wertesystem als eine weibliche Ei25 Sebaldt 1909: 2. 26 Lehrs 1922: 2.
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genschaft, so koppelt Lehrs die Kunst von Kollwitz auch an ihr Geschlecht. Die Künstlerin unterliegt bei Lehrs zum einen unvermeidbar einer biologisch determinierten Beschränkung, zum anderen folgt sie den in einem gesellschaftlichen Wertekanon verankerten weiblichen Tugenden, was ihr ihr geniales Schaffen erst ermöglicht.
III. K ÜNSTLERISCHES ARBEITEN VON K ÄTHE K OLLWITZ
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In den Selbstzeugnissen von Käthe Kollwitz wird das künstlerische Genie in seiner geschlechtlichen Konnotation anders verortet. Die Analyse der beruflichen Selbstwahrnehmung der Künstlerin erfordert zunächst eine Auseinandersetzung mit ihrer künstlerischen Sozialisation. Kollwitz wurde 1867 in einer Familie des Königsberger Bildungsbürgertums geboren. Ihre Ausbildung unterschied sich kaum von der anderer Frauen, die eine künstlerische Karriere einschlagen wollten. Hilfreich erwies sich ohne Zweifel – wie Kollwitz mehrfach in ihren Selbstzeugnissen betont – die frühe Unterstützung ihres beruflichen Werdegangs durch die Familie. Ab ihrem vierzehnten Lebensjahr erhielt sie privaten Zeichenunterricht. Nach etwa einjährigem Besuch der Damenakademie des »Vereins von Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin« kehrte sie nach Königsberg zurück und erhielt weiter Malstunden. Die nächste Ausbildungsstation war die Kulturmetropole München, wo sie an einer privaten Künstlerinnenschule zwei Jahre überwiegend Malerei studierte. Breite künstlerische Anerkennung errang sie mit ihrem graphischen Zyklus Ein Weberaufstand auf der Großen Berliner Kunstausstellung 189827, der zahlreiche weitere Würdigungen folgten, wie zum Beispiel der Villa-Romana-Preis, Mitgliedschaften in anerkannten Künstlervereinigungen, Ausstellungen in renommierten Kreisen und Einladungen ins Ausland. Bereits in den Gründungsjahren wurde sie ein Mitglied der Berliner Secession und später auch als erste Frau deren Vorstandsmitglied. 1919 wurde Kollwitz zum ersten weiblichen Mitglied der Preußischen Akademie der Künste ernannt und es wurde ihr der Professorentitel verliehen. 1928 übernahm sie in der Akademie die Leitung des Meisterateliers für Graphik (1928-1933). Die familiäre Einbindung von Käthe Kollwitz konfrontierte die Künstlerin mit Verpflichtungen als Hausfrau und Mutter, die Familie war aber zugleich wichtige Grundlage ihrer künstlerischen Entfaltung. Auch wenn sie in ihren
27 Vgl. Knesebeck 1998.
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Selbstzeugnissen häufig Zweifel an ihrer emotionalen Bindung zu ihrem Ehemann Karl äußerte28 und sie mit Interesse über unverheiratete Malerinnen berichtete, war für Käthe Kollwitz die Ehe eine Voraussetzung für ihre künstlerische Arbeit: »Hätte ich nicht Karl geheiratet und wäre damit eine mich oft beengende aber im ganzen glückliche und gesunde Einkapselung des Geschlechtstriebs vorgenommen – so hätte ich meine Ledigkeit wohl schlecht benutzt. Wenn jemand fortgesetzt voll Sinnlichkeit um mich warb, wär meine eigene gleich erregt [worden], der Geschlechtstrieb hätte mich, schlimmer als in der Ehe, untergehabt.«29
Des Zuspruchs und der finanziellen Unterstützung ihrer beruflichen Ziele durch ihren Ehemann konnte sie gewiss sein. Er schätzte ihre Arbeit, nahm Anteil daran und betrachtete sie als die zentrale Aufgabe seiner Ehefrau wie auch als Verdienstmöglichkeit.30 Die Mutterschaft bildete für Käthe Kollwitz einen natürlichen Bestandteil des weiblichen Lebensentwurfes, der für sie selbst in der Ausübung ihrer Profession zwar eine Einschränkung, jedoch kein Hindernis darstellte. Ihre Arbeit hatte für sie mindestens die gleiche, wenn nicht eine höhere Wertigkeit als die Erfüllung ihrer mütterlichen Pflichten.31 Ihre Söhne dienten ihr als Motive und waren ebenso wie der Ehemann als Diskussionspartner am künstlerischen Prozess beteiligt. Und beinahe jeder Brief an ihren älteren Sohn Hans Kollwitz enthält Passagen, die ihr künstlerisches Schaffen thematisieren. Die Konzentration auf die berufliche Tätigkeit der Künstlerin wurde entscheidend durch die Tatsache begünstigt, dass ihr Ehemann durch seinen Beruf als Arzt der Familie eine gesicherte Einkommensquelle bot.32 Finanziell hatten 28 Die Reflexionen von Käthe Kollwitz über die Beziehung zu ihrem Ehemann in ihren Tagebüchern sollten nicht überbewertet werden. Kollwitz schreibt im Dezember 1925 nach der Lektüre ihrer Tagebücher aus der Zeit vor dem Krieg: »So nichts aufgeschrieben, wenn Karl und ich uns zusammengehörig fühlten und beglückten. Aber lange Seiten, wenn wir nicht zusammenstimmten.« (Bohnke-Kollwitz 1989: 605) 29 Bohnke-Kollwitz 1989: 534. 30 Vgl. AdK, Berlin, Käthe-Kollwitz-Archiv, Nr. 83, 298: Brief von Karl Kollwitz an Hans Kollwitz, 15.4.1917. 31 Vgl. AdK, Berlin, Käthe-Kollwitz-Archiv, Nr. 58, 155: Brief von Käthe Kollwitz an Hans Kollwitz, 21.2.1915. 32 Dadurch was es möglich, dass im Hause Kollwitz seit der Geburt der Söhne eine Haushaltshilfe arbeitete und Käthe Kollwitz somit zu einem beträchtlichen Teil von den zeitraubenden alltäglichen Pflichten im Haushalt entlastet wurde.
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die Einnahmen aus Käthe Kollwitz’ künstlerischer Tätigkeit – auch durch ihre Unregelmäßigkeit – den Stellenwert eines Zuverdienstes. Darüber hinaus erforderte das künstlerische Arbeiten besonders im Bereich der Plastik hohe Auslagen für Modelle, Material und Atelier. Die finanzielle Absicherung erlaubte es Kollwitz, sich der freien künstlerischen Arbeit zu widmen, und ließ die Funktion ihres Berufes als Mittel zur Finanzierung des Lebensunterhaltes in den Hintergrund treten. So initiierte sie zum Beispiel die Ausstellung anlässlich ihres fünfzigsten Geburtstages »nicht um zu verkaufen, sondern um meine Arbeit zu zeigen«33. Dennoch äußert sie in ihren Tagebüchern wiederholt das Anliegen, ihren Ehemann in seiner Stellung als Hauptverdiener wenigstens zu entlasten. Als ihr 1928 die Leitung des Graphikateliers der Preußischen Akademie der Künste übertragen wurde, schreibt sie in ihr Tagebuch, dass nun endlich dank ihres festen Gehalts ihr Ehemann seine Arbeitsintensität vermindern könne.34 Durch die Verknüpfung der familiären und der beruflichen Ebene wurde ein Raum für künstlerische Inspiration und Reflexion geschaffen und die künstlerische Arbeit von Käthe Kollwitz zweifelsohne erheblich erleichtert. Der Verdienst des Ehemannes ermöglichte dabei die freie berufliche Entfaltung der Künstlerin. Auch wenn für Käthe Kollwitz bei ihrem Beruf die finanzielle Seite nicht im Vordergrund stand, bezeichnete sie ihr künstlerisches Schaffen doch als »Arbeit«,35 die zeitlich fest in ihren Alltag integriert war. Der Arbeitsrhythmus der Künstlerin gestaltete sich nicht einheitlich, sondern hing von dem jeweils aktuellen Projekt ab. Auch wenn es gelegentlich der Fall war, verbrachte sie wohl nur selten einen vollen Arbeitstag von zehn Stunden im Atelier.36
IV. K ÄTHE K OLLWITZ UND DIE T ÄTIGKEIT VON F RAUEN
KÜNSTLERISCHE
Ihre Arbeitszeit widmete Kollwitz nicht nur dem eigenen künstlerischen Werk, sondern beispielsweise auch ihren Aufgaben als Vorstand der Berliner und später der Freien Secession, der Leitung des Meisterateliers der Preußischen Akademie der Bildenden Künste, der Beteiligung an diversen Ausstellungsgemein-
33 AdK, Berlin, Käthe-Kollwitz-Archiv, Nr. 84, 301: Brief von Käthe Kollwitz an Hans Kollwitz, 1.5.1917. 34 Vgl. Bohnke-Kollwitz 1989: 641. 35 Vgl. Kocka 2003. 36 Vgl. AdK, Berlin, Käthe-Kollwitz-Archiv, Nr. 37, 101: Brief von Käthe Kollwitz an Hans Kollwitz, 5.3.1913.
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schaften und ihrem Engagement für den »Frauenkunstverband«. So produzierte, präsentierte und repräsentierte sie sowohl ihre eigene Kunst als auch die Werke anderer Künstler und Künstlerinnen in der Öffentlichkeit und übte somit eine herausgehobene Funktion aus, die üblicherweise männlichen Künstlern vorbehalten war. Gerade Künstlerinnen versprachen sich von Kollwitz Unterstützung im Kunstbetrieb. Doch Kollwitz positionierte sich der sogenannten Frauenkunst gegenüber kritisch. Sie sah sich mit der ihr von den männlichen Jurymitgliedern zugewiesenen Aufgabe konfrontiert, insbesondere für die Arbeiten von Frauen einzutreten. Bei der Auseinandersetzung mit der Frage, ob sie die Wahl zum Vorstandsmitglied annehmen solle, schrieb sie an ihren Sohn Hans: »Wenn ich als erste Frau im Vorstand säße, [würde] ich überlaufen werden [...] von ausstellen-wollenden Damen. Und das möchte ich absolut nicht.«37 Im letzten Jahr ihrer Vorstandsmitgliedschaft ist eine Notiz im Tagebuch zu finden: »Meine unangenehme Stellung in der Jury. Immer habe ich die Sache einer Frau zu vertreten. Weil ich das aber eigentlich nie mit Überzeugung tun kann, da es sich stets um mittelmäßige Leistungen handelt (darüber herausgehende fänden die Zustimmung auch der anderen Jury), kommt etwas Doppelzüngiges heraus.«38
Der Auftrag, innerhalb eines von Männern dominierten Ausschusses alle Geschlechtsgenossinnen ungeachtet der jeweiligen künstlerischen Leistung zu vertreten, widerstrebte ihrem hohen Qualitätsmaßstab, den sie an die Kunst von Männern und Frauen anlegte. In diesem Zusammenhang ist auch ihr Engagement im »Frauenkunstverband« von 1913 bis 1923 zu sehen, das in erster Linie die Steigerung des Niveaus der Kunst von Frauen zum Ziel hatte. In ihren Tagebüchern finden sich nur wenige, beinahe stichwortartige Notizen zu ihrer Tätigkeit als Vorsitzender.39 Aus der folgenden Quelle geht jedoch hervor, dass sie sich in diesem 37 AdK, Berlin, Käthe-Kollwitz-Archiv, Nr. 24, 54: Brief von Käthe Kollwitz an Hans Kollwitz, 26.1.1912. 38 Bohnke-Kollwitz 1989: 218. 39 Vgl. Matz 2001: 176: Matz vermutet, dass Käthe Kollwitz sich zur Kandidatur als Vorsitzende nur bereit erklärt hatte, weil eine Arbeitsteilung vorgenommen wurde und die eigentliche Verbandsarbeit von den beiden Geschäftsführerinnen Eugenie Kaufmann in Mannheim und Martha Dehrmann in Berlin übernommen wurde. Der Verband gebrauchte demnach ihren Ruf als hochbegabte Künstlerin, um sich Beachtung und Anerkennung in der Öffentlichkeit zu verschaffen. Ihre aktive Beteiligung beschränkte sich auf ihr Engagement in Jury- und Petitionsangelegenheiten.
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Rahmen für die Zulassung von Frauen zu Akademien und den gemeinsamen Unterricht beider Geschlechter einsetzte. In einem Brief an einen unbekannten Empfänger vom 30. April 1918 plädierte sie für eine »scharfe Auslese bei der Aufnahme [von Frauen zu den Kunstakademien], damit die breite unterdurchschnittliche Frauenkunst nicht noch mehr gefördert werde«40. Die »trostlos mittelmäßigen«41 Frauenausstellungen, »dieser im Ganzen tiefe Stand der Frauenkunst«42 hätten ihren Ursprung in der fehlenden Möglichkeit der Ausbildung, so Kollwitz. Immer wieder betonte sie in diesem Schreiben, dass der Zugang zum akademischen Studium nur den Frauen offen stehen sollte, »deren Beanlagung außer Frage«43 sei. So setzte sie sich auf diesem Wege einerseits für die Belange der Künstlerinnen ein, distanzierte sich jedoch zugleich von dem negativen Image der Frauenkunst.44 In Abgrenzung zum Künstlermythos vertrat Käthe Kollwitz die Auffassung, dass Kunst keine Genies brauche, da das Geniale für das allgemeine Publikum nicht verständlich sein könne. Im Zusammenhang mit dem zunehmenden Einfluss des Expressionismus kritisierte sie dessen Unverständlichkeit, die Fremdheit für das Volk. Diese »Atelierkunst«45 gefalle dem Volk nicht. »Was es braucht sei Wirklichkeitskunst. […] Es ist ganz meine Meinung, daß zwischen Künstler und Volk Verständnis sein muß, zu den besten Zeiten ist es auch immer so gewesen. Das Genie kann wohl vorauslaufen und neue Wege suchen, die guten Künstler aber, die nach dem Genie kommen – und zu diesen rechne ich mich –, haben den verlorengegangenen Konnex wieder zu schaffen.«46
Kollwitz stellt sich hier gegen ein Kunst- und Künstlerverständnis, das an der Schwelle zum 20. Jahrhundert die Kreativität zum allein gültigen Maßstab erhob. Dabei radikalisierte sich das Bild des Künstlers als das eines Erfinders »des 40 Bohnke-Kollwitz 1989: 799. 41 Ebd. 42 Ebd. 43 Ebd. 44 Vgl. Schirmer 1998: 88: In diesem Kontext ist auch das Verhältnis von Käthe Kollwitz zur Frauenbewegung zu sehen. Sie war zwar mit den Themen der Frauenbewegung vertraut, über einen direkten Kontakt ist jedoch wenig bekannt. Die meisten Künstlerinnen verhielten sich – so Schirmer – gegenüber der Frauenbewegung distanziert bis ablehnend, da sie darauf angewiesen waren, sich Anerkennung und Aufträge in einem von Männern dominierten Milieu zu verschaffen. 45 Bohnke-Kollwitz 1989: 226. 46 Ebd.
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noch nicht Dagewesenen«47. Das Neue, das Sensationelle, das Provokative prägten als Werte den Künstlermythos und fanden sich in einer absoluten, um ihrer selbst willen geschaffenen Kunst wieder.48 Die Kunst als Selbstzweck erhob nicht den Anspruch auf allgemeine Verständlichkeit und zielte auf den Konsum in kleinen, elitären Kreisen ab. Im Kontrast zu dieser Auffassung formulierte Käthe Kollwitz’ ihr eigenes Kunstverständnis. Indem sie an das Handwerkliche und somit an das Erlernbare appellierte, grenzte sie sich vom Genie-Begriff und damit der Vorstellung von der Auserwähltheit des Schöpfertums ab. Sowohl das Handwerkliche als auch die Popularität der Kunst waren für sie die entscheidenden Merkmale ihres Werkes. Die allgemeine Verständlichkeit der Kunst, von einem Künstler-Handwerker ausgeführt, hatte für sie mehr Bedeutung als die abstrakten Werke des Genie-Künstlers. Das einzig legitime Kriterium für die Beurteilung der Kunst war für sie das öffentliche Urteil, also die Anerkennung ihrer Arbeit, die sie als ihre Lebensaufgabe verstand. Der Fokus ihres beruflichen Bestrebens war nicht die schöpferische Kreativität, die sich am Ideal des Künstler-Genies orientiert, sondern die Vermittlung der Wirklichkeit. Die Position von Kollwitz ist im Zusammenhang mit der zeitgenössischen Debatte um die sozialistische Kunst zu sehen, in der die Kunst als politisches Instrument und der Künstler als politischer Vorkämpfer für die Belange des Proletariats interpretiert wurde.49 Diese Idee der Politisierung von Kunst ist in den programmatischen Schriften von George Grosz enthalten.50 Dabei übt er Kritik am bürgerlichen Personenkult des Künstlers als eines weltfremden Bohemiens – eine Vorstellung, die im Rahmen des Künstlermythos entwickelt wurde: »Die Künstler selbst, aufgeblasen oder zerwühlt, ihre begnadete Stellung herleitend vom Nichtfertigwerden mit der Welt, mit dem Leben, sind meistens verdummt und […] glauben ›Schöpfer‹ zu sein und zum mindesten turmhoch über dem Durchschnittsbanausen zu stehen.«51
Andrea Gottdang verweist auf die Besonderheit der Selbstinszenierung von George Grosz. Um zu demonstrieren, dass »Malerei Arbeit, Handwerk« ist, zeigt sich Grosz auf den Pressephotos in Schürze und ausrangierten Anzügen, als 47 Pelizäus-Hoffmeister 2005: 99. 48 Vgl. Kusenberg/Kusenberg 1981: 133. 49 Vgl. dazu Guttsman 1997. 50 Vgl. Gottdang 2011. Andrea Gottdang zeigt, wie Grosz sich in verschiedenen Medien auf vielschichtige Weise selbst inszenierte. 51 Grosz 1979: 61f.
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Künstler-Handwerker.52 In ähnlicher Weise wie Käthe Kollwitz gibt Grosz an, »jedem Menschen verständlich«53 sein zu wollen. Im Gegensatz zu Kollwitz inszeniert sich Grosz aber bewusst als Tendenzkünstler54 und seine Kunst als politisches Kampfmittel. Kollwitz war zwar mit sozialistischen Ideen aufgewachsen, setzte sich interessiert mit sozialdemokratischen und kommunistischen Vorstellungen auseinander und äußerte sich künstlerisch zum politischen Geschehen, blieb aber innerhalb der bürgerlichen Kultur verwurzelt.55 Ihre Haltung gegenüber dem Künstler-Handwerker entspricht derjenigen von Max Liebermann, mit dem sie in der Berliner Secession eng zusammenarbeitete: »Wir können den Künstler nur fördern, indem wir ihn materiell frei machen im Gebrauch der Ausdrucksmittel seiner Kunst. Heutzutage verbraucht der Künstler seine besten Kräfte, um die Lücken seiner Ausbildung zu ergänzen, er ist mehr oder weniger Autodidakt. Kunst kann nicht gelehrt werden, sondern nur das Handwerk. [...] Man erziehe tüchtige Handwerker statt untüchtiger Künstler, die nur das Künstlerproletariat vermehren.«56
Mit diesen Zeilen setzt Liebermann das Handwerk mit einer gründlichen Kunstausbildung gleich, an der es seiner Meinung nach fehle, was wiederum der Grund für die mangelhafte künstlerische Entfaltung sei. Ein ausgebildeter Künstler, ein Künstler-Handwerker, beherrsche sowohl das erlernbare Handwerk als auch die nicht erlernbare Kunst und stehe damit hierarchisch über einem Handwerker. Ebenso wie Liebermann sieht Kollwitz in der Ausbildung die Voraussetzung für die künstlerische Entfaltung und zugleich die institutionelle Hürde für das künstlerische Arbeiten von Frauen:
52 Vgl. Gottdang 2011: 52. 53 Grosz 1979: 64. 54 Vgl. Grosz/Herzfelde 1979: 133. 55 Auf die Aufforderung, dem Bund für proletarische Kultur beizutreten, erwidert sie: »Dann widerstrebt mir ein gewisses Kokettieren mit dem Proletariat, das ich häufig in unserer Jugend finde, in unserer bürgerlichen Jugend. [...] Bei vielen ist es eine gedankenlose Mitläuferei. Gedankenlos schon insofern als die bürgerliche Kultur von Ihnen unbesehen verworfen wird.« (Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Autogr. I/2367: Brief an Max Barthel, 17.9.1919) 56 AdK, Berlin, Autographen-Sammlung, Nr. 68: Rede Liebermanns zum 10-jährigen Bestehen der Berliner Secession, um 1908. Diese Rede steht im Kontext von Liebermanns Vorbehalten gegenüber dem Expressionismus, die 1910 Liebermanns vorübergehenden Rücktritt aus dem Vorstand der Secession nach sich zogen (vgl. Daemgen 2011).
68 | M ARIA D ERENDA »Immerhin ist die bisherige Ausbildungsmöglichkeit auch mit ein Grund für den an Frauen so oft beobachteten künstlerischen Stillstand und man dürfte eigentlich vor Schaffung gemeinsamer gleicher Studiumsmöglichkeit ein Urteil über Wert der Frauenkunst nicht fällen.«57
Das Konzept des Künstler-Handwerkers ist für Käthe Kollwitz geschlechtsneutral konnotiert und somit für Frauen offen. Mitte Mai 1922 schreibt sie dazu in ihr Tagebuch: »Daß aus Mädchen bis zur heutigen Erfahrung kein Genie hervorgegangen ist, ist mir jetzt auch gleichgültig. Nicht nur Genies haben das Recht sich so eingängerisch zu benehmen. Wo gibt es denn unter den Malern ein Genie? Auch die männlichen Künstler können froh sein, achtungswerte Leistungen hervorzubringen, gute Künstler-Handwerker zu sein. Das können Frauen auch.«58
Das Genie nimmt für sie eine elitäre Position ein, der der Künstler-Handwerker nachgestellt ist. Kollwitz bindet das Genie an das männliche Geschlecht. Wenn sie über die künstlerischen Fähigkeiten von Frauen spricht, verwendet sie Termini wie »Talent«59, »Begabung«60, »Beanlagung«61, die dem Begriff der Genialität jedoch untergeordnet sind. Aufgrund seiner künstlerischen Fähigkeiten stellt ein Genie-Künstler eine Ausnahmeerscheinung dar. Die übliche Form des Künstlertums sieht Käthe Kollwitz in dem für beide Geschlechter offenen Modell des Künstler-Handwerkers. Die Anerkennung der Öffentlichkeit gilt für den Künstler-Handwerker als das oberste Ziel und das zentrale Qualitätskriterium. Die Sorge um die öffentliche Würdigung durchzieht denn auch die Selbstzeugnisse von Kollwitz. Fast panisch klingen ihre Worte anlässlich der Ausstellung zu ihrem 50. Geburtstag: »Die Ausstellung muß etwas bedeuten, denn alle diese Blätter sind Extrakt meines Lebens. Nie hab ich eine Arbeit kalt gemacht (es seien denn einige bedeutungslose Nebensa-
57 Bohnke-Kollwitz 1989: 799. 58 Bohnke-Kollwitz 1989: 534. 59 Kollwitz 1966: 22. 60 AdK, Berlin, Gerda-Rotermund-Archiv, Nr. 24: Empfehlungsschreiben für Gerda Rosenthal, Februar 1919. 61 Bohnke-Kollwitz 1989: 800.
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chen, die ich hier auch nicht zeige) sondern immer gewissermaßen mit meinem Blut. Das müssen die, die sie sehn, spüren.«62
V. F AZIT Als der Museumsdiener in dem einleitend geschilderten Zwischenfall Kollwitz rühmte, bezog er sich genau auf dieses in der Öffentlichkeit präsente Bild, auf ihren »guten Namen«63. Mit der kontrastierenden Bezugnahme auf die »kopierende Malerin« verweist Kollwitz auf den zentralen Stellenwert von Arbeit in ihrem Leben und auf ihr berufliches Selbstverständnis, das von der Vorstellung, die Frau gehöre ins Haus, und der damit implizierten gänzlichen Konzentration auf die Familie abweicht. Der familiäre Kreis bot Käthe Kollwitz nicht nur in finanzieller Hinsicht einen Raum für ihre künstlerische Entfaltung. Sie tauschte sich mit ihrem Ehemann und ihren Kindern auch über ihre künstlerische Arbeit aus, der diese mit Verständnis und Zuspruch begegneten. Auch Käthe Kollwitz selbst wurde in ihrer Ausbildung und in ihrer späteren Berufstätigkeit mit der Marginalisierung der Frau als Künstlerin konfrontiert, obwohl ihre Werke sowohl in der breiten Öffentlichkeit als auch beim Fachpublikum auf positive Resonanz stießen. Es stand für sie außer Frage, dass grundsätzlich beide Geschlechter künstlerisch Beachtliches vollbringen könnten. Der Mythos eines genialen Künstlers war dennoch ein Bestandteil ihrer eigenen Vorstellungswelt. Nach ihrer Auffassung nimmt das männlich konnotierte Genie eine Vorreiterrolle innerhalb der Gesellschaft ein, wodurch es aber zu einer Entfernung und damit Entfremdung zwischen dem Genie und der Öffentlichkeit komme. Ein weibliches Künstler-Genie findet in ihren Aufzeichnungen keine Erwähnung. Die Kunst bedürfe jedoch nicht nur des Künstler-Genies, sondern auch des Künstler-Handwerkers, der sich aufgrund seiner Ausbildung der künstlerischen Ausdrucksmittel so bedienen kann, dass er vom Publikum verstanden und anerkannt wird. Anerkennung und Respekt, nicht nur für ihr Werk, sondern auch für sie als Person, waren für sie das Ziel des künstlerischen Arbeitens und ein Zeichen für ihren Erfolg. Zu den KünstlerHandwerkern zählte sie sich selbst und sprach sowohl Künstlern als auch Künstlerinnen in dieser Rolle gleichermaßen Fähigkeiten und Möglichkeiten zu. Ge-
62 AdK, Berlin, Käthe-Kollwitz-Archiv, Nr. 83, 299: Brief von Käthe Kollwitz an Hans Kollwitz, 16.4.1917. 63 AdK, Berlin, Käthe-Kollwitz-Archiv, Nr. 23, 50: Brief von Käthe Kollwitz an Hans Kollwitz, 15.12.1911.
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schlechtliche Barrieren existierten für Kollwitz nur innerhalb institutioneller Zwänge wie der Ausstellungspraxis oder der qualifizierenden Ausbildung, und für die Aufhebung dieser Barrieren setzte sich Kollwitz ein.
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»Arbeiten ja, aber nicht sofort und nicht um jeden Preis!« Berufsfindung im Spannungsfeld von gesellschaftlicher Normierung und Individualentwicklung I NGO B LAICH
I. Moderne, kapitalistisch verfasste Gesellschaften sind Arbeitsgesellschaften, wobei nur die Erwerbsarbeit gesellschaftliche Inklusion, finanzielle Versorgung und soziale Anerkennung verspricht. Und vornehmlich dieser Form von Arbeit gilt die wissenschaftliche Aufmerksamkeit und Sorge, denn über Erwerbsarbeit wird gern – konjunkturunabhängig – unter Einsatz von Krisenrhetorik gesprochen. Nachdem sich in den 1980er-Jahren Soziologen um das Ende der Arbeitsgesellschaft als Vollbeschäftigungsgesellschaft gesorgt haben,1 stehen gegenwärtig die Veränderungen in den Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen einerseits sowie in den biographischen Arrangements von Arbeit und Nicht-Arbeit (Work-LifeBalance) andererseits im Mittelpunkt intensiver Debatten. Besonders hervorgehoben werden die zunehmende Heterogenität, die sich bei Erwerbsverläufen, bei Beschäftigungsverhältnissen und bei der Betroffenheit von Arbeitslosigkeit feststellen lässt, sowie die wachsende Kluft zwischen der Zone sicherer Beschäftigung und der Zone dauerhafter Exklusion aus dem Arbeitsmarkt. In diesem Zwischenraum hat sich ein Spektrum prekärer Erwerbsbeteiligung ausgebildet.2 Ar1
Die »Krise der Arbeitsgesellschaft« stand im Mittelpunkt des 21. Deutschen Soziologentages 1982 (vgl. Matthes 1983 und darin besonders den Aufsatz von Ralf Dahrendorf).
2
Vgl. Vogel 2008.
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beit als Erwerbsarbeit ist der Gesellschaft nicht ausgegangen, im Gegenteil, ihre Zentralität für die Vergesellschaftung von Individuen – über sozialrechtliche Inklusion – sowie für individuelle Identitätskonstruktionen, Alltagsstrukturierung und soziale Anerkennung ist unverändert – und wird selbst als Simulation aufrechterhalten.3 Den beschriebenen Wandlungsprozessen in den konstitutiven Bedingungen von Erwerbsverläufen korrespondieren Veränderungen in den Übergangsverläufen vom Ausbildungs- ins Erwerbssystem. Was ursprünglich als zweischwellige Statuspassage (Schule – Ausbildung – Beruf) konzipiert wurde4 und mit Vorstellungen von einem relativ zügigen, den institutionellen Vorgaben zur Länge von Ausbildungsgängen entsprechenden Durchlauf verbunden war, lässt sich inzwischen sowohl aus lebenslauftheoretischer (junges Erwachsenenalter) wie aus sozialisationstheoretischer Perspektive (Postadoleszenz) als eigenständige Lebensphase beschreiben.5 Obwohl der hohe normative Wert der Erwerbsarbeit und deren Zentralität im Lebenslauf unbestritten sind, bedeutet dies nicht, dass ein rascher Übergang von der Schule in die Berufsausbildung und Erwerbsarbeit für die Mehrheit der Jugendlichen ähnlich hohe Priorität genießt. Auf allen Ebenen der Bildungshierarchie sind Übergangsverläufe zu beobachten, welche letztlich zu einer zeitlichen Verlängerung der Ausbildungsphase und Hinauszögerung des Erwerbseinstiegs führen. Allerdings erleben Jugendliche, die nach dem Schulabschluss nicht ins Ausbildungs-, sondern nur in ein berufsvorbereitendes Übergangssystem hinüberwechseln, dies kaum als selbstbestimmte Biographiegestaltung6 – anders als jene Studienberechtigten oder Absolvent/innen Mittlerer Reife, welche im Ausbildungsverlauf die Hochschulzugangsberechtigung erwerben. Vor allem Abiturient/innen fügen mittels Auslandsaufenthalten, Praktika oder Freiwilligendiensten eine Übergangszeit zwischen Schulabschluss und Ausbildungs- bzw. Studienbeginn ein;7 bei Absolvent/innen von betrieblichen wie
3
Vgl. den Aufsatz von Frank Bauer, Manuel Franzmann, Philipp Fuchs und Matthias Jung über die Simulierte Normalität in (dauerhaft) geförderter Arbeit in diesem Band.
4
Vgl. Mertens/Parmentier 1988.
5
Vgl. Baethge 1989 sowie Walther/Stauber 2007.
6
Vgl. Hurrelmann 1989.
7
So beginnen nur knapp 50 Prozent der weiblichen und 30 Prozent der männlichen Studienberechtigten ihr Studium direkt im Anschluss an den Erwerb der Hochschulreife. Zwei Jahre nach der erlangten Hochschulreife haben bereits 72 Prozent und 80 Prozent zu studieren angefangen, nach vier Jahren sind es noch einmal jeweils fast zehn Prozentpunkte mehr. Zu den Daten vgl. Statistisches Bundesamt 2010: 9.
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schulischen Berufsausbildungen zeigt sich ein Trend zur Mehrfachqualifikation, bei dem sich ein Hochschulstudium an die Erstausbildung anschließt.8 Für die Lebensverlaufsforschung stellt es eine große Herausforderung dar, diese Heterogenität theoretisch zu fassen. Nach wie vor dient Martin Kohlis These zur Institutionalisierung des Lebenslaufs als Ausgangspunkt, von welchem aus Destandardisierungstendenzen gemessen werden.9 Die Gegenposition bildet die Individualisierungsthese Ulrich Becks mit der Behauptung, dass die klassen- und schichtspezifische Prägung von Lebensverläufen durch höhere Autonomiespielräume in der Lebensgestaltung abgelöst worden ist.10 Mit etwas zeitlichem Abstand zu diesen Debatten aus den 1980er- und 1990er-Jahren lässt sich erkennen, dass beide Sichtweisen ihren Beitrag zur Beschreibung sozialer Wirklichkeit leisten, in ihrer Geltungskraft gleichwohl beschränkt sind. Nicht nur die PISA-Studien zeigen für Deutschland regelmäßig einen stabilen kausalen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft auf der einen sowie Bildungs- und Erwerbschancen auf der anderen Seite. Lebensläufe bleiben an ihre materielle und soziokulturelle Basis gebunden. Allerdings zeigt sich, dass der Dreischritt von Ausbildung – Erwerbsarbeit – Ruhestand zwar nach wie vor die Grundstruktur des gegenwärtigen Lebenslaufregimes kennzeichnet, dass sich dieses Raster jedoch als zu grobmaschig erweist, um die oben schon angesprochene Vielfältigkeit von Erwerbsbiographien einzufangen. Diese Phasen sind nicht mehr trennscharf gegeneinander abzugrenzen, denn es schieben sich Formen von Erwerbsarbeit sowohl in die Bildungs- wie in die Rentenphase hinein; wobei oftmals unter der Maxime lebenslangen Lernens die Erwerbstätigkeit – wie Politik und Wirtschaft es wünschen – von Bildungsepisoden unterbrochen oder begleitet ist. Bezeichnenderweise korrespondiert die Grenze zwischen Ausbildung und Erwerbsarbeit jener zwischen Jugend und Erwachsenalter (im industriegesellschaftlichen Lebenslaufregime endete die Jugend mit der ökonomischen Selbstständigkeit und dem Auszug aus dem Elternhaus),11 sodass ein Verschwimmen der Grenze zwischen Ausbildung und Arbeit auch die strikte Unterscheidung zwischen Jugendlichen und Erwachsenen unterminiert. »Die Entgrenzung des Jugendalters äußert sich somit darin, dass die Übergänge in den Erwachsenenstatus für viele nicht mehr übersehbar und kontrollierbar sind. Aus der Statuspassage, in der eine soziale Integrations- und eine Berufsperspektive zumindest er8
Vgl. Jacob 2004.
9
Vgl. aktuell Hillmert 2010.
10 Ausführlicher zu dieser Diskussion: Blaich 2011: Kap. 3.1, 108ff. 11 Vgl. Harney 2006.
78 | I NGO BLAICH reichbarer erschien, ist für viele – zugespitzt formuliert – ein kontingenter Bewältigungsraum geworden, in dem Entwicklungs- und Identitätsprobleme erneut freigesetzt werden, sodass die Jugendzeit mitunter auch mit dem 25sten Lebensjahr noch nicht beendet scheint.«12
Offensichtlich ist gegenwärtig die Passung zwischen sozialer Terminierung der Statuspassage Schule – Erwerbsarbeit und den subjektiven Entwicklungsverläufen in vielen Fällen nicht gegeben, sodass Berufswahl keine im Jugendalter zu treffende singuläre Entscheidung ist, sondern ein die späte Adoleszenz und das junge Erwachsenenalter bestimmender Berufsfindungsprozess. Jugendverläufe und Erwachsenenbiographien geben zusammen den Blick frei auf Entstandardisierungstendenzen des Normallebenslaufmodells; »junge Erwachsene« bilden, so Andreas Walther, nur die »Spitze des Eisbergs freigesetzter Lebensformen«13; deren Grundproblematik darin besteht, dass sich soziale Integrationsleistungen von institutionellen Arrangements auf individuelles, biographisches Handeln verlagern. In Anbetracht der oben beschriebenen hohen Relevanz von Erwerbsarbeit und Berufspositionen für soziale Integration, Anerkennung und Identitätsbildung ist die Berufsfindung ein wesentlicher Bestandteil dieser biographischen Integrationsbemühungen. Und zum »Yo-Yo-Muster« der Übergänge ins Erwachsenenalter gehört demnach auch die verblassende Normalität linearer Ausbildungsbiographien zugunsten einer sequentiellen Mischung oder eines Ineinandergreifens von Ausbildung und Arbeit.14 Doch was erzeugt diese Diskontinuitäten? Gesicherte Erkenntnisse existieren lediglich hinsichtlich der Faktoren, die zum Abbruch eines Studiums oder einer Berufsausbildung führen.15 Individuelle Motivlagen – wie Prozesse der Identitätsbildung oder Bildungsstrategien –, die natürlich auch den Hintergrund linearer oder kontinuierlicher Ausbildungsverläufe bilden, müssten in ihrem spezifischer Anteil an diskontinuierlichen Verläufen separat untersucht werden. Diesem Anteil widmete sich eine explorative Studie mit qualitativen, problemzentrierten, biographischen Interviews,16 die nicht allein Ausbildungsbiographien in ihrer subjektiven Dimension biographieanalytisch und typologisch erfassen, sondern ganz explizit analysieren wollte, wie die Ebene subjektiven Handelns und subjektiver Reflexion mit der Ebene institutioneller und anderer externer Einflüsse verschränkt ist. Bevor deren Ergebnisse hier vorgestellt werden, ist eine kurze 12 Schröer 2006: 196. 13 Walther 1996: 27. 14 Vgl. ebd.: 14f. 15 Vgl. Heublein u.a. 2003. 16 Vgl. Blaich 2011.
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Betrachtung des deutschen Bildungssystems notwendig, um die institutionellen Rahmenbedingungen zu erhellen.
II. Trotz aller institutionellen Differenzierung und Abschottung der einzelnen Bildungswege ist das deutsche Bildungssystem grundsätzlich auf Höherqualifikation hin ausgelegt. Das heißt, dass es vielfältige, institutionell vorgezeichnete Übergangswege gibt, die letztlich den Erwerb der Hochschulreife und die Aufnahme eines Hochschulstudiums ermöglichen. Auch wer zunächst nur den Hauptschulabschluss erreicht, kann über Zwischenschritte nachgeholter Schulabschlüsse letztlich bis zur Fachhochschul- oder allgemeinen Hochschulreife gelangen; ebenso berechtigen mehrere Jahre Berufserfahrung oder ein Meisterabschluss inzwischen zum Studium, wobei allerdings diese Möglichkeit vielfach nur fachgebunden besteht.17 Doch auch für Abiturient/innen, die zunächst eine Berufsausbildung absolvieren, ist im Anschluss daran ein Studium möglich. Bis zu diesem Zeitpunkt existieren sozialstaatliche Finanzierungsmöglichkeiten und sind Bildungsgänge größtenteils kostenlos. Der Studienabschluss bildet hier eine deutliche Grenze der institutionellen und sozialstaatlichen Förderung. Im neuen Bachelor-Master-System war dies ursprünglich ähnlich konzipiert worden. Mit dem Bachelorabschluss sollte die Mehrheit der Absolvent/innen auf den Arbeitsmarkt treten. Herrschte anfänglich eine grundsätzliche Skepsis gegenüber dem Wert des Bachelorabschlusses, haben sich inzwischen fachspezifische Übergangsmuster nach dem Bachelorstudium herausgebildet. Neben unterschiedlichen Übergangsquoten zwischen Fachhochschule und Universität, fallen die Differenzen zwischen einzelnen Fächer deutlicher aus. Haben in den Naturwissenschaften ein Jahr nach Beendigung des Bachelorstudiums 80-100 Prozent der Absolvent/innen ein Masterstudium begonnen, sind es in den Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften nur 55 Prozent, in der Informatik 62 Prozent und bei den Ingenieurwissenschaften 65 Prozent.18 Neben individuellen Bildungsaspirationen, vor deren Hintergrund das Bachelorstudium oftmals eben nur als »halbes Studium« erscheint, bestimmen vor allem fachspezifische Qualifizierungswege die Wahrscheinlichkeit eines Masterstudiums. Anders als vor allem in den Wirtschaftswissenschaften und der Informatik ist der Bachelorabschluss
17 Eine graphische Übersicht findet sich in: Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008: 156. 18 Vgl. Heine 2012: 15.
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in den Naturwissenschaften auf dem Arbeitsmarkt nicht konkurrenzfähig. Auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften mit traditionell angespannter Beziehung zum Arbeitsmarkt wird der Master vielfach mit der Hoffnung auf einer Verbesserung der Arbeitsmarktchancen angestrebt. »Festzuhalten ist deshalb, dass – gemessen an den Absichten – ein relevantes Absinken der Masterübergangsquote, genauer: der relativen Höhe der Nachfrage nach einem Masterstudienplatz, auch in Zukunft kaum zu erwarten ist.«19 Und das nicht nur, weil Masterabsolvent/innen erwarten, eine bessere Position auf dem Arbeitsmarkt zu haben; im Vordergrund der Entscheidung für den Master stehen, arbeitsmarktunabhängig, Interessen nach weiterer, den persönlichen Interessen folgender Aneignung von Fachwissen und Spezialisierung.20 Das deutsche Bildungssystem zeichnet sich also durch eine hohe Differenziertheit und Plastizität aus. Es vermag daher Bildungswege nicht mehr in vollem Ausmaß zu strukturieren, zumal es kaum unüberwindliche Exklusionskriterien gibt. Die hohe Selektionswirkung – Auslese nach sozialer Herkunft – ergibt sich daher zum Großteil aus Faktoren, die dem Bildungswesen vorgelagert sind, wie z.B. das kulturelle Kapital der Herkunftsmilieus,21 sowie aus der spezifischen Organisationsform und curricularen Gestaltung des Unterrichts, wodurch ebenfalls bildungsnahe und leistungsstarke Schüler begünstigt werden. Für das erfolgreiche Abschneiden im Schulsystem ist auch ein gewisses Maß an familiären Unterstützungsleistungen notwendig, über die eine signifikante Gruppe an Schülern nicht oder nur unzureichend verfügt.22 Zwar sind die vielfältigen Bildungsgänge über Zulassungskriterien reglementiert bzw. auch miteinander gekoppelt, wodurch ein schneller Durchgang vom Hauptschulabschluss zur Hochschulreife verhindert wird, aber dabei handelt es sich um keine prinzipiellen Exklusionsschranken. Können die gestellten Leistungsanforderungen erfüllt werden und sind ökonomische und biographische Ressourcen für weitere Bildungsepisoden vorhanden, ist der Verbleib im Bildungssystem möglich. Zum Teil werden somit Warteschleifen für jene institutionalisiert, die nach dem Ende der Pflichtschulzeit bzw. dem Hauptschulabschluss auf dem Ausbildungsmarkt nicht vermittlungsfähig sind; gleichzeitig 19 Ebd.: 14. 20 Ebd.: 27. 21 Zum begrifflichen Konzept des kulturellen Kapitals vgl. Bourdieu 1983; zu den Auswirkungen im Bildungssystem vgl. Vester 2004, 2006. 22 Bezüglich der Familien mit Migrationshintergrund gibt es hier auch institutionelle Effekte, insofern seit Jahrzehnten auf die Sprachfähigkeit der ausländischen Jugendlichen wenig geachtet wurde und diese sich als Haupthindernis für einen erfolgreichen Start in die Schule erwiesen.
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sind damit aber auch Ausbildungswege institutionell vorgezeichnet, die primär nicht der Logik eines schnellen Abschlusses und Ausscheidens aus dem Bildungssystem folgen, sondern Verbleibmöglichkeiten zur Optimierung individueller Bildungsstrategien umfangreich bereitstellen oder das Verweilen im Moratoriumstatus ermöglichen. Diskontinuierliche Ausbildungsverläufe sind demnach sozialstrukturell unspezifisch, zeigen sich sowohl bei bildungsbenachteiligten Jugendlichen im berufsvorbereitenden Übergangssystem wie bei Abiturient/innen und Studierenden. Generalisierende Aussagen können aufgrund der stark voneinander abweichenden biographischen Konstellationen dieser Gruppen daher nicht gemacht werden; diese sind separat zu untersuchen. Daher beschränken sich die hier vorgestellten empirischen Ergebnisse auch auf Abiturient/innen.
III. Einige begriffliche Vorbemerkungen seien noch gestattet: Mehrphasige Ausbildungsverläufe sind kategorial nur schwer von diskontinuierlichen Erwerbsbiographien abzugrenzen, da zwischen zwei Bildungsepisoden durchaus der Erwerbseinstieg nach einer ersten berufsqualifizierenden Ausbildung vollzogen worden sein kann. Würde da ein späteres Studium nicht eher als Weiterbildung zu interpretieren sein, die nicht mehr der Berufsausbildungsphase zuzuschreiben ist? Eine trennscharfe Unterscheidung zwischen beidem ist anhand von zwei Kriterien möglich. Wenn eine Erwerbsphase in einem erlernten Beruf nur kurz dauert und danach die Rückkehr ins Bildungssystem erfolgt, so ist es gerechtfertigt, diese Erwerbsphase eher in den Zusammenhang des Übergangsgeschehens von der Schule in den Beruf zu stellen. Aussagekräftiger als die Dauer ist jedoch das zweite Kriterium der individuellen Selbstzuschreibung. Die Berufsfindung kann als (vorläufig) beendet angesehen werden, wenn sich gegenwärtige Erwerbstätigkeit und berufliches Selbstkonzept decken, eine Selbstbindung an Arbeitsinhalt und Berufsrolle artikuliert wird und diese Berufstätigkeit einen aktuellen biographischen Fixpunkt darstellt. Die generelle, biographische Unabgeschlossenheit von Berufsfindungsprozessen wird damit nicht negiert; sie ist vielmehr eng verwoben mit der ebenfalls lebenslang unabgeschlossenen Identitätsentwicklung. Allerdings gibt es auch Fälle, wo nach langjähriger Erwerbsarbeit ursprünglich gehegte Ausbildungswünsche wieder aktuell und nun unter geänderten biographischen Bedingungen auch umgesetzt werden. Insofern bleibt eine gewisse Unschärfe, dennoch lohnt es sich, berufsbiographische Zäsuren im Blick zu behalten, um die innere Entwicklungsdynamik von Lebensverläufen besser verste-
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hen zu können. Berufsfindung vorbehaltlos als lebenslangen Prozess anzusehen, läuft Gefahr, die Ideologisierung des »lebenslangen Lernens« als Grundmuster zeitgenössischer Erwerbsbiographien oder des »Individualberufs« (G.G. Voß) als womöglich neuer dominanter Form von Beruflichkeit in Dienstleistungsökonomien zu befördern.23 Als Trendbeschreibungen sind solche Konzepte wichtig, doch ist vor deren Reifizierung zu warnen, müssen Lebensverläufe doch immer unter der Prämisse betrachtet werden, dass hier, zum Teil bewusst, Gegenmodelle präferiert und biographisch umgesetzt werden. So können die Lebenslaufmodelle, an denen sich individuelle Lebensbewältigung und -gestaltung orientieren, selbst Gegenstand der Analyse sein.24 Die Interviews, auf denen die folgende Typologie beruht, wurden im 2009/2010 in Dresden mit jungen Erwachsenen (zwischen 22 und 31 Jahren) durchgeführt, die über die allgemeine Hochschulreife verfügten und alle einen Ausbildungs- oder Studienabbruch bzw. mehr als eine berufsqualifizierende Ausbildung aufwiesen. Bis auf einen Fall sind die 18 Befragten ostdeutscher, jeweils zur Hälfte großstädtischer oder ländlicher Herkunft. Die Befragung konzentrierte sich auf den biographischen Abschnitt der Ausbildungsphasen – also der Konkretisierung von Berufswünschen in den letzten Schuljahren bis zum Befragungszeitpunkt. Alle waren zum Zeitpunkt der Befragung noch in Ausbildungsverhältnissen, sodass die berichteten Ergebnisse eher eine Momentaufnahme darstellen und in ihrer Interpretation einer gewissen Vorläufigkeit unterliegen, was auch eingedenk des explorativen Charakters der Studie zu berücksichtigen ist. Auf Basis des Datenmaterials lassen sich drei Verlaufstypen voneinander unterscheiden, die im Folgenden näher erläutert werden sollen. Typ 1: Suche Die Kategorie des Suchens hat zwei, sich diametral gegenüberstehende, Ausprägungen. Im Allgemeinen kann von Suchaktivitäten im Berufsfindungsprozess gesprochen werden, wenn das berufliche Selbstkonzept insofern unterentwickelt ist, als überhaupt erst Neigungen entwickelt und daraus Berufsvorstellungen gebildet werden müssen, bevor eine Berufsausbildung begonnen werden kann. Spezifischer ist jenes Suchen, bei dem zwischen mehreren möglichen beruflichen Entwicklungswegen ausgewählt und die Entscheidung für einen davon getroffen werden muss. Zu diskontinuierlichen Ausbildungsverläufen führen beide Ausgangskonstellationen dann, wenn diese nicht durch einmaliges Entscheiden aufgelöst werden können, sondern seriell durch Entscheidung, Revision bzw. 23 Vgl. hierzu Pongratz/Voß 2004. 24 Vgl. hierzu die ähnliche Argumentation in Dausien 2011.
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Neuorientierung und erneute Entscheidung, d.h. biographisch unter dem Einsatz von Lebenszeit bewältigt werden müssen. Im Sample dominiert eindeutig die erste Ausprägung dieses Typus. Hier sind sich die Befragten nach ihrem Schulabschluss hochgradig im Unklaren, welchen beruflichen Weg sie überhaupt einschlagen wollen. Sie hatten wenig detaillierte Vorstellungen darüber, wie, wo und was sie einmal arbeiten möchten, teilweise fehlten berufsspezifische Präferenzen völlig, dafür existieren apodiktische, d.h. jeder eigentlichen Berufswahl vorgelagerte, Entscheidungen für oder gegen ein Studium. Die Berufswahlentscheidung kommt für diese jungen Menschen biographisch zu früh, bzw. sie haben diese während der Schulzeit noch nicht hinreichend als Entwicklungsaufgabe antizipiert. Die Interviewpartnerin Dorothee drückte dies folgendermaßen aus: »Studieren war irgendwie klar. […] Also ich muss sagen, mit Interessen, das war immer ein bisschen schwierig. Ich habe halt eher danach entschieden, wo bin ich gut. […] Und mit Interessen, das fiel mir dann eben so nach dem Abi auf, wo ich dann überlegt habe: Ja was willst du denn jetzt studieren? Das war ganz wenig ausgeprägt.«25
Trotz dieser Unsicherheiten und der mangelhaften Entscheidungsfähigkeit verbleibt keiner der Befragten in Ausbildungs- und Erwerbslosigkeit, um diese Zeit für weitere Berufsorientierung zu nutzen. Der soziale Druck, nach der Schule einen Schritt weiter zu kommen, ist so groß, dass sich die Befragten – und sei es nur zur Überbrückung – an der Hochschule immatrikulieren, denn nur hier ist ein kurzfristiger Eintritt überhaupt möglich. Alternativen wie Freiwilligendienste oder Berufsausbildungen bedürfen aufgrund von Bewerbungsfristen längerer Vorbereitung und biographischer Antizipation, woran es in diesen Fällen ja gerade fehlte. Die erste Berufswahlsituation führt hier zu Verlegenheits- oder Übergangslösungen bzw. geschieht »ins Blaue hinein« – was jedoch einen erfolgreichen Abschluss des begonnenen Studiums ohne weiteren Abbruch nicht ausschließt. Da neigungsbezogene Auswahlkriterien nur in geringem Maße entscheidungsrelevant sein können, dienen oftmals Freunde als Orientierungshilfe. Gewählt wird dann dasselbe Studienfach oder dieselbe Universitätsstadt, auch wird das Studienangebot wohnortnaher Hochschulen genutzt. Am Beispiel der eben schon zitierten Dorothee wird gut deutlich, wie nicht-fachliche Faktoren einen wichtigen Einfluss auf die Studienwahl haben, wenn eine primär interessengeleitete Wahl nicht möglich ist.
25 Zitiert nach Blaich 2011: 213.
84 | I NGO BLAICH »Schon im letzten Schuljahr habe ich mich mit einer Freundin zusammen mal so ein bisschen umgeguckt, wo wir vielleicht dann hin wollen. Also wir haben zusammen meine beiden Brüder besucht. Der eine hatte in G. studiert, der andere in L. Und erst waren wir ganz doll begeistert von G. Und dann waren wir danach in L. und dann stand fest, wir wollen zusammen nach L. ziehen.«26
Nachdem die Entscheidung zu studieren getroffen war, richtete sich die Wahl des Studienfachs jedoch nach dem lokalen Angebot der gewählten Universitätsstadt, und deren Auswahl war von vornherein auf die beiden Wohnorte der Brüder eingegrenzt. Diese Verläufe, so wie hier geschildert, sind im Wesentlichen von den Besonderheiten individueller Entwicklungsverläufe abhängig; allerdings können sie auch durch Zugangskriterien des Bildungssystems extern erzeugt werden. Das heißt, scheitert der gewünschte Ausbildungsweg entweder an den Zulassungsbestimmungen in Numerus-clausus-Fächern oder in der ersten Bewerbungsphase für einen betrieblichen Ausbildungsplatz, dann sind die Betroffenen vor das Problem der Entwicklung von Alternativen gestellt, denn bei den hier Befragten existierte jeweils kein Alternativplan. Interessanterweise haben sich alle, die eine Berufsausbildung aufnehmen wollen, ein zweites Mal – und dann erfolgreich – beworben, wogegen die an der Numerus-clausus-Regelung gescheiterten Studieninteressierten nicht an ihrem Erstwunsch festgehalten haben. Auch Numerusclausus-Beschränkungen sind keine definitiven Exklusionskriterien; über die Wartesemesterregelung ließe sich der gewünschte Studiengang mit etwas Zeitverzug realisieren – wovon keiner der Befragten Gebrauch gemacht hat. Nach dem Scheitern ihres Erstwunsches bestand hier nun die Aufgabe, tragfähige Alternativen zu entwickeln – meist über die Immatrikulation in einem dem Erstwunsch verwandten Studienfach. Auch hier würde erst eine spätere Wiederholungsbefragung zeigen, wie relevant der ursprüngliche Berufswunsch biographisch geblieben ist oder ob tatsächlich eine Umorientierung stattgefunden hat. Der weitere Verlauf lässt sich kurz so beschreiben: In den meisten Fällen stellen diese erste, unter hohem Entscheidungsdruck gemeisterte Berufswahlsituation und der sich daran anschließende Studienbeginn eine Initialzündung für den Berufsfindungsprozess insgesamt dar. Das heißt, der gewählte Studiengang wird kritisch evaluiert; es wird abgeschätzt, ob man hinreichend geeignet ist und welche Beschäftigungsperspektiven bestehen – und es wird nun stringent nach Alternativen gesucht, wenn die zunächst gewählte Ausbildungsrichtung nicht zusagt. Somit lässt sich beobachten, dass dieser Typus vielfach mittels eines einmaligen Studienfachwechsels, gelegentlich auch mit einem Studienabbruch und 26 Ebd.: 214, Fußnote 3.
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der Aufnahme einer Berufsausbildung zu einer – zumindest bis zum Befragungszeitpunkt – subjektiv als gelungen eingeschätzten Berufswahl findet. Der Verbleib im Bildungssystem wird für die Evaluation individueller Neigungen und Fähigkeiten genutzt; lediglich bei einer kleinen Gruppe gelingt diese Anpassung zwischen Interessen und Ausbildungsmöglichkeiten nicht.27 Eine andere Befragte, Elisa, macht deutlich, wie das Einschreiben an der Universität – nach dem Scheitern der Bewerbung um ein duales Studium im kaufmännischen Bereich an einer Berufsakademie – lediglich der Überbrückung diente, jedoch der Berufsfindung eine neue, erfolgversprechende Richtung gab. »Also, um die Zeitschiene einzuhalten, was macht man, man schreibt sich an der Uni ein, wie viele andere auch. Und ich habe belegt: Magisterstudiengang, Hauptfach: Erziehungswissenschaften, Nebenfach: Jura und Anglistik. Und studiert habe ich gar nicht lange, habe ich gerade mal zwei Semester. […] Ich hatte ja auch ganz andere Vorstellungen muss ich sagen. Also mit dem Unisystem, das habe ich schon relativ schnell gemerkt, dass ich mit dem, mit dem TU-System überhaupt nicht klar komme, dass das überhaupt nicht meiner Methode entspricht. Das habe ich ganz schnell gemerkt […]. Hm und dann, wie gesagt, habe ich dann nach zwei Semestern aufgehört. Und dann habe ich mich wieder an der BA beworben, aber nicht im Wirtschaftsbereich, sondern im sozialen Bereich. Darauf gekommen bin ich durch das Hauptfach, durch das Erziehungswissenschaftenfach, genau.«28
Auch Dorothee stellte sehr schnell fest, wie wenig geeignet sie für die gewählten Fächer Klassische Archäologie sowie Ur- und Frühgeschichte war, konnte aber diese Negativerfahrung für die bessere Formulierung eigener beruflicher Ziele nutzen, die sie dann auch erfolgreich umsetzte. Typ 2: Höherqualifizierung Ausgangspunkt für den Typus Höherqualifizierung kann ebenfalls eine gewisse Ratlosigkeit bezüglich der eigenen Berufswünsche wie auch das Scheitern dieser an Zulassungsbeschränkungen sein; diese Ratlosigkeit stellt jedoch keine Bedingung dar. Auch wenn direkt nach dem Abitur für ein bis zwei Semester Universitätsluft geschnuppert wurde, zeichnet sich dieser Typus durch die Einmündung 27 Brandtstädter hat diesen Prozess der Anpassung beruflicher Aspirationen an das individuelle Leistungsvermögen und die vorhandenen Möglichkeitsstrukturen als »akkommodative Prozesse« beschrieben (vgl. Brandtstädter 2007: 20ff.), dabei jedoch die institutionellen Aspekte des »cooling out« vernachlässigt (vgl. dazu Clark 1974). 28 Zitiert nach Blaich 2011: 237.
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des Ausbildungsverlaufs in eine betriebliche Berufsausbildung im dualen System und durch den Berufseinstieg nach erfolgreichem Abschluss dieser Ausbildung aus, wobei die dann in diesem Beruf verbrachte Zeit kurz sein mag. Erst die Erfahrungen im Berufsalltag motivieren die Rückkehr ins Bildungssystem, konkret: wecken oder begründen einen Studienwunsch, der mehrheitlich in fachlicher Kontinuität zum erlernten Beruf steht und damit eine Weiter- und Höherqualifizierung darstellt. Während also die »Suchenden«, die dem Typ 1 zuzurechnen sind, die Erfahrungen mehrerer Ausbildungswege brauchen, um individuelle Berufsziele entwickeln und dann auch realisieren zu können, kann beim Typ 2 davon ausgegangen werden, dass die Berufsfindung zumindest unter objektiven Kriterien mit dem Berufseinstieg abgeschlossen war, bevor sie erneut aktuell wurde. »Ich glaube, wenn man lange als Logopäde arbeitet, ist die einzige […] Herausforderung, dass man sich so auf den Patienten einstellt, weil die Therapie an und für sich ist immer sehr ähnlich, also so von den einzelnen Störungsbildern her gesehen. Und das… Ich weiß nicht, mir hat da irgendwie so die Herausforderung gefehlt. Also das Nachdenken fehlt dabei irgendwie. Und ich wollte gerne noch mehr lernen. Also mir hat es irgendwie… Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich jetzt irgendwie irgendwas ausgeschöpft habe, was ich kann.«29
Zentrales Motiv dafür, den Berufsfindungsprozess wiederaufzunehmen, ist die subjektive Unzufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen nach der abgeschlossenen Berufsausbildung bzw. mit fehlenden Qualifizierungsmöglichkeiten. Inhaltlich begründet wird dies mit einem stark von Routinen geprägten und wenig anspruchsvollem Arbeitsalltag (im Gegensatz zu einer als sehr herausfordernd und interessant erlebten Ausbildungszeit) sowie unattraktiven Beschäftigungsaussichten und Qualifizierungsmöglichkeiten. Rosalie hatte eine Ausbildung als Verwaltungsfachangestellte abgeschlossen und war zunächst vom Arbeitgeber übernommen worden: »Dummerweise wurde ich aber ins Schulverwaltungsamt eingesetzt, in einer Grundschule als Sekretärin. Und damit war ich eigentlich überhaupt nicht einverstanden. Hatte mit denen auch geredet und hab dann gesagt: ›Entweder ihr gebt mir da eine andere Möglichkeit oder ich versuche da meinen eigenen Weg zu gehen.‹ Und die Möglichkeit hatten sie mir nicht geboten, und da hab ich mich dann halt entschieden auszusteigen und eben separat. […] Man hätte auch über die Stadtverwaltung auch einen Verwaltungswirt machen können, neben der Arbeit. Aber da die Stadtverwaltung gesagt hat, wir können nur erst einmal 29 Zitiert nach Blaich 2011: 224, Fußnote 32.
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ein Jahr und dann mal gucken wies weiter, wie es ausgeht. Und dafür musste ich einen unbefristeten Vertrag haben und schon drei Jahre gearbeitet haben und eventuell dann hätte ich das machen können. Das war mir alles so unsicher.«30
In beiden Fällen handelt sich um ein drohendes underachievement: Die individuellen Fähigkeiten kommen in der aktuellen Arbeitsstelle nicht ausreichend zur Entfaltung. Während des bisherigen Ausbildungsverlaufs nahm die Persönlichkeitsentwicklung jeweils einen Weg, der die ursprünglichen Koordinaten oder Präferenzen für die Berufswahl veränderte, sodass weiterführende, auf den akademischen Bereich zielende Bildungsintentionen nun subjektiv wichtiger erscheinen als der Verbleib im Erwerbsleben und die damit verbundenen (finanziellen) Vorteile. Typ 3: Neuorientierung Dieser Typus bildete im Sample eine Residualkategorie, ist insofern aber von Bedeutung, weil er Verlaufsformen beschreibt, bei denen sich die Grenze zwischen verlängerten Berufsfindungsprozessen und diskontinuierlichen Erwerbsverläufen verflüssigt. Er ist daher kategorial den anderen beiden nicht ganz gleichgestellt und weist deutlich über die hier behandelte Thematik hinaus. Allerdings wird so deutlich, dass Berufsfindung oder Erwerbsbiographien nicht rein endogene oder vom Bildungs- und Erwerbssystem bestimmte Prozesse, sondern in einem biographischen Gesamtzusammenhang eingebunden sind und daher von Lebenslaufeffekten oder veränderten Konstellationen beeinflusst werden. Zielstrebig erfolgte bei diesem Verlaufstypus nach dem Schulabschluss der Übergang in eine Berufsausbildung und nach deren erfolgreichem Abschluss der Erwerbseinstieg. Der Bruch in den Berufsbiographien erfolgte, zumindest in den hier untersuchten Fällen, stets anlässlich familiärer Veränderungen, die wiederum zu einer weitreichenden Anpassung oder Neujustierung auch beruflicher Pläne führten. Erhält die Familiengründung einen der Arbeit gleichrangigen Stellenwert, dann werden bisherige Tätigkeiten aufgegeben, sofern sie sich nicht mit einem geregelten Familienleben verbinden lassen – so wie die unstete Lebensweise eines wandernden Handwerkers oder eines Berufssoldaten. Alfons ist als Bootsbauer über mehrere Jahre der Arbeit quer durch Europa hinterher gereist, wollte mit dem eigenen Boot über die Weltmeere segeln, bevor er seine Frau kennenlernte und in der Folge sein Leben radikal neu ausrichtete:
30 Zitiert nach unveröffentlichter Transkription.
88 | I NGO BLAICH »Ich habe sie schon auf Tippelei kennengelernt. Und das ging auch anderthalb Jahre, waren wir halt… also eine Fernbeziehung. Also ich musste mich auch entscheiden. Ich habe ein bisschen Geld gespart und wollte letztendlich lossegeln mit dem Boot. Aber dann kam die Liebe und die war stärker. Dann habe ich gesagt, jetzt ist es auch mal Zeit, etwas Neues zu machen. […] Dann bin ich nach Hause gekommen und dann habe ich noch ein Jahr selbstständig gearbeitet. Dann habe ich angefangen zu studieren, will Berufsschullehrer werden.«31
Hier wird ganz deutlich, wie mit der Familiengründung eine neue biographische Phase beginnt, die auch zu beruflicher Neuorientierung führen konnte, weil entsprechende Rückkehroptionen ins Bildungssystem existieren. Einkommenseinbußen, Unsicherheit bezüglich der weiteren beruflichen Laufbahn werden hier bewusst zugunsten einer balancierten Lebensführung in Kauf genommen. Umgekehrt eröffnen auch Veränderungen familiärer Konstellationen (Scheidung oder das Ende der Pflege von Familienangehörigen) beruflich neue Möglichkeiten. Denn nun können Berufswünsche verfolgt werden, die bisher zurückgestellt wurden. Hannes ist ein Beispiel dafür, wie eigene Interessen in der Berufswahl zugunsten einer sicheren Beschäftigung und eines guten Einkommens für die Absicherung der Familie zurückgestellt wurden und erst das Zerbrechen der Partnerschaft überhaupt den Raum für eine primär subjektorientierte Berufswahl öffnet: Nachdem »das Ganze dann in eine Scheidung gemündet ist, war ich dann recht frei und konnte sozusagen für mich entscheiden, wie ich [überlegt] selber fortfahren will, was ich von meiner Zukunft erwarte. Und da erst habe ich dann wirklich für mich selber denken können: Was will ich?«32
IV. Wie lassen sich diese Ergebnisse hinsichtlich der Frage nach dem Stellenwert der Arbeit im Lebenslauf und ihrer gesellschaftlichen Normativität resümieren? Unbestritten ist die hohe biographische Bedeutung, welche Beruf und Arbeit in individuellen Lebensplänen einnehmen; beides ist selbstverständlicher Bestandteil einer Erwachsenenbiographie. Das erzeugt aber mehrheitlich gerade keine stringenten Übergangswege von der Schule in den Beruf, sondern gerade weil
31 Zitiert nach unveröffentlichter Transkription. 32 Zitiert nach Blaich 2011: 230.
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Beruf und Erwerbsarbeit zentrale biographische Projekte darstellen – bzw. weil sie, anders formuliert, zentrale Identitätsaspekte berühren –, sind die Heranwachsenden bestrebt, eine neigungsbezogene Berufswahl im Rahmen vorhandener Realisierungsmöglichkeiten durchzuhalten, anstatt primär nach einem schnellen Eintritt in den Beruf zu suchen. Strukturell verweist dies auf entsprechende Möglichkeitsstrukturen innerhalb des Bildungssystems; ökonomisch auf die finanzielle Absicherung längerer Ausbildungswege, sei es über sozialstaatliche Unterstützungsleistungen im Rahmen der Berufsausbildungsförderung oder über die finanziellen Ressourcen der Herkunftsfamilie bzw. studienbegleitender Erwerbsarbeit; biographisch artikuliert sich hierin das Bewusstsein hoher Konkurrenzfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt. Überhaupt eine Arbeit zu finden, ist nicht das Hauptproblem der Abiturient/innen und jungen Erwachsenen, sondern Beruf und Erwerbsarbeit mit anderen biographischen Zielen und in die Zukunft projizierten Persönlichkeitsentwürfen möglichst passgenau zu verbinden. Weiterhin wird deutlich, dass berufsbezogene Neigungen und Fähigkeiten bzw. Interessen in vielen Fällen erst während der Ausbildungs- oder Studienphase Gestalt annehmen und sich konkretisieren. Mitunter verändern sie sich, sodass Berufsfindung oder Berufswahl nicht als Prozesse anzusehen sind, im Zuge derer vorab gefasste Pläne umgesetzt werden, sondern als subjektive Entwicklungsprozesse innerhalb des Ausbildungssystems. Für diejenigen, denen die Berufswahl direkt nach dem Schulabschluss schwer fällt und die in unzureichendem Maße über Perspektiven und konkrete Neigungsprofile verfügen, bietet das Ausbildungssystem strukturell wie normativ die Möglichkeit, beides im Ausbildungsverlauf zu entwickeln. Hier ist letztlich auch der Scheidepunkt zu lokalisieren, an welchem diese durchaus »normalen« Verläufe zunehmender Konkretisierung und »Reifung« sich von jenen trennen, in denen vorberufliche Sozialisationsprozesse nicht zur Berufswahlreife, nicht zum Abschluss einer Ausbildung, eines Studiums oder auch nicht dauerhaft zum Erwerbseintritt führen. Eine problematische Persönlichkeitsentwicklung oder erhebliche Konflikte mit den Eltern bilden hier meist den Hintergrund. Wird wie in den hier geschilderten Fällen die Zielorientierung auf den Studien- oder Berufsabschluss und den Erwerbseintritt durch eine permanente, an Authentizitätsidealen und Selbstverwirklichungsmaximen ausgerichtete Subjektorientierung relativiert, ist dies weniger als Abkehr vom Paradigma einer Arbeitsgesellschaft zu interpretieren als vielmehr der Versuch, deren normative Ideale umzusetzen – nämlich die semantische Fundierung von Beruf in einer Form individueller Berufung ernst zu nehmen33 und als biographischen Anspruch zu ver33 Wie Max Weber in seiner Protestantismusstudie ausführt, ist es für den deutschen Sprachraum ganz wesentlich Martin Luther gewesen, der die Verknüpfung von inner-
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folgen. Aber dies geschieht wiederum nicht im Sinne einer eingleisigen Fixierung auf berufliche Ziele, sondern als Versuch, umfassende Kontrolle über die Lebens- und Arbeitsbedingungen zu bewahren und auch unter Inkaufnahme höherer biographischer ebenso wie materieller Kosten am Projekt der Identitätsfindung im Beruf und durch Erwerbsarbeit festzuhalten, anstatt diese Identitätsfindung auf den Bereich der Hobbys oder privaten Beziehungen zu verlagern und eine primär instrumentelle Einstellung zur Erwerbsarbeit anzunehmen. So kommt es zum Aufschub des Erwerbseinstiegs, wenn a) dessen aktuelle Bedingungen subjektiv negativ eingeschätzt werden, b) institutionell Optionen verfügbar sind, welche den Eintritt in eine weitere Bildungsepisode ermöglichen, und c) die sich daraus ergebenden Kosten gegenüber den damit anvisierten biographischen Zielen als gering eingeschätzt werden. Unter diesen Gesichtspunkten stellen die hier dargelegten Ausbildungsverläufe den Versuch dar, Erwerbsarbeit, Familie und Selbstentfaltung in eine subjektiv zufriedenstellende Balance zu bringen und vor allem die rein äußerliche Anpassung an Bedingungen und Zwänge des Arbeitsmarktes oder einer bestimmten Tätigkeit zu verhindern oder zumindest hinauszuschieben – ohne dabei wie die inzwischen vielfach beschriebenen »free lancer« oder »flexible worker«34 dem Modell sozialversichungspflichtiger, langfristiger Beschäftigungsverhältnisse komplett zu entsagen. Neben ökonomischen und organisatorischen Einflüssen steht die gegenwärtige Organisationsform von Erwerbsarbeit unter zusätzlichem Veränderungsdruck, insofern es bereits als »Normalität« zu bezeichnen ist, dass vor allem formal hochgebildete Studierende, Auszubildende
weltlicher Tätigkeit (Beruf je nach Stand und Klasse) und dem »inneren Ruf« Gottes (vocatio), d.h. die Bestimmung des individuellen Lebensweges durch den Ratschluss Gottes, herstellt und popularisiert (vgl. Weber 1988: 63ff.), wenngleich dies bereits im Mittelalter vorbereitet worden war (vgl. Conze 1972: 490). Der Unterschied zur deterministischen Prädestinationslehre des Calvinismus liegt darin, dass der Mensch Gottes Ruf auch nicht vernehmen kann bzw. die Möglichkeit hat, ihm nicht zu folgen. Auch deshalb legt Luther so viel Gewicht auf individuellen Gehorsam und Unterordnung. 34 Vgl. die Beschreibung der »digitalen Bohème« als Speerspitze neuer Arbeits- und Lebensformen, die »nicht nur so leben wollen, wie sie arbeiten, sondern auch so arbeiten, wie sie leben wollen« (Friebe/Lobo 2006: 28), und damit alternative Arbeitsbiographiemodelle hervorbringen, die sich allerdings ökonomisch und alltagsweltlich erst dauerhaft bewähren müssen, um nicht als Übergangs- oder Aussteigermodell zu enden.
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und Arbeitnehmer/innen Selbstverwirklichungsansprüche35 an ihre Erwerbsarbeit herantragen und jederzeit Möglichkeiten zu deren Realisierung nutzen. Der für den Aufsatz titelgebende Ausspruch – »Arbeiten ja, aber nicht sofort und nicht um jeden Preis!« – gibt eine Grundorientierung der befragten jungen Erwachsenen wieder, die sich in der empirischen Arbeit herauskristallisierte: Bei hoher Leistungsmotivation und teilweise explizitem Bemühen um einen schnellen Berufseintritt werden Verzögerungen, Umwege und die Zurücknahme der ursprünglichen Berufsentscheidung in Kauf genommen, um (neue) berufliche Zielvorstellungen zu entwickeln und individuelle Entwicklungsmöglichkeiten auszureizen.
L ITERATUR Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2008), Bildung in Deutschland 2008, Gütersloh. Baethge, Martin (1989), Jugend – Postadoleszenz in der nachindustriellen Gesellschaft, in: Markefka, Manfred, Nave-Herz, Rosemarie (Hrsg.), Handbuch der Familien- und Jugendforschung, Bd. 2, Jugendforschung, Neuwied, S. 155-166. Baethge, Martin (1991), Arbeit, Vergesellschaftung, Identität – Zur zunehmenden normativen Subjektivierung der Arbeit, in: Soziale Welt 42, Heft 1, S. 619. Blaich, Ingo (2011), Ratlos oder schlecht beraten? Diskontinuierliche Ausbildungsbiografien von Abiturienten. Zugl. Diss. Technische Universität Dresden, online unter http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:14-qucosa-66064. Bourdieu, Pierre (1983), Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Kreckel, Reinhard (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten (= Soziale Welt, Sonderband 2), Göttingen, S. 183-196.
35 Deren Relevanz ist durch Wertewandelforschung und Jugendstudien inzwischen vielfach belegt. Martin Baethge hat dazu 1991 die wegweisende Veröffentlichung vorgelegt, deren zentralen These lautet: »Der markanteste Zug des subjektiven Verhältnisses von vor allem jüngeren Erwachsenen zur Erwerbsarbeit besteht in dem starken Rückbezug auf die eigene Emotionalität und Persönlichkeitsentfaltung, in der Offenheit, mit der sie ihr Bedürfnis nach Selbstdarstellung und -entwicklung auch in der Arbeit reklamieren.« (Baethge 1991: 8)
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Formen und Funktionen autobiographischen Berichtens über die Prekarität immaterieller Arbeit O VE S UTTER
Die gegenwärtig zu beobachtenden Prozesse der Subjektivierung und Prekarisierung der Arbeit sowie der Deinstitutionalisierung und Destandardisierung von Lebenslaufmustern in westlichen Industriegesellschaften führen auf Seiten der Beschäftigten in verstärktem Maße zu »biographischer Unsicherheit«1. Diese sind zunehmend aufgefordert, die gegenwärtige Arbeitssituation mit den Erwartungen an den eigenen Erwerbsverlauf abzugleichen.2 Mit der zunehmenden Anforderung, die zukünftige Entwicklung des eigenen Lebens- und Erwerbsverlaufs selbst zu gestalten und biographische Sicherheit herzustellen, steigt auch die Notwendigkeit, sich die eigene biographische Entwicklung reflexiv zu vergegenwärtigen, bewusste Überlegungen über bisherige Verläufe und zukünftige Entwicklungen anzustellen und eigenständige biographische Orientierungen zu entwickeln.3 Hanns-Georg Broses und Bruno Hildenbrands vor über 25 Jahren publizierte Diagnose, dass die Bedeutung autobiographischer »Formen der Selbstthematisierung«4 für die eigene Lebensführung gestiegen sei und es zu einer »Biographisierung von Erleben und Handeln«5 komme, erscheint auch angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Dynamiken zutreffend.
1
Wohlrab-Sahr 1993: 63.
2
Kleemann/Matuschek/Voß 2002: 73; vgl. Kleemann/Voß 2010: 428f.
3
Vgl. Kleemann/Matuschek/Voß 2002: 71.
4
Brose/Hildenbrand 1988: 12.
5
Ebd.: 21. Ruth Siebers spricht hierbei auch von einer »Biographisierung der Lebensführung« (Siebers 1996: 25).
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Damit verbunden ist auch die Anforderung, den Verkauf der eigenen Arbeitskraft selbstverantwortlich und eigeninitiativ zu sichern. Insbesondere in Feldern der »immateriellen Arbeit«6, in denen die Beschäftigten vor allem sprachliche und intellektuelle Tätigkeiten verrichten und Subjektivität zu einer zentralen Ressource im Produktionsprozess wird, werden auch autobiographische Sprechhandlungsformen als Subjektivierungspraktiken unmittelbar produktiv. Im Folgenden zeige ich am Beispiel des von mir interviewten prekär beschäftigten Felix Merck,7 wie er seinen diskontinuierlichen Lebens- und Erwerbsverlauf sprachlich in eine Form bringt, durch welche dieser weitgehend kontinuierlich und unproblematisch erscheint. Anschließend untersuche ich, welcher Zweck diesem sprachlichen Handeln unterliegt.8
F ELIX M ERCKS G ESCHICHTE AKTUELLER UND VERGANGENER P REKARITÄT Felix Merck lebt zum Zeitpunkt des Interviews zusammen mit seiner Lebensgefährtin und dem gemeinsamen Sohn in einer größeren österreichischen Stadt. Er ist seit einiger Zeit erwerbslos und hat davor über zehn Jahre als Berufsorientierungstrainer auf Basis von Werkverträgen und freien Dienstverträgen9 gearbeitet.
6
Hardt/Negri 2002; 2004; Lazzarato 1998.
7
Der Name des Interviewten wurde zum Zweck der Anonymisierung geändert.
8
Der Artikel präsentiert Ergebnisse des 2012 abgeschlossenen Forschungsprojekts »Erzählte Prekarität. Autobiographische Verhandlungen immaterieller Arbeit«, das ich im Rahmen meines Promotionsstudiums an der Universität Wien durchführte. Auf Basis leitfadenorientierter Interviews mit und Beobachtungen von prekär Beschäftigten aus den Bereichen des Berufsorientierungs- und Sprachtrainings, der wissenschaftlichen Forschung und Lehre sowie des Journalismus wurden hier soziokulturelle Orientierungsmuster, Inhalte, Formen und soziale Funktionen des autobiographischen Sprechens und Erzählens untersucht. Der vorliegende Artikel basiert zu weiten Teilen auf dem Forschungsbericht (vgl. Sutter 2013).
9
Personen, die in Österreich einen freien Dienstvertrag abschließen, verpflichten sich auf bestimmte oder unbestimmte Zeit zur Erbringung von Dienstleistungen. Sie sind nicht in die Organisation des jeweiligen Betriebs integriert, unterliegen keiner Weisungsgebundenheit und in der Regel auch keiner Bindung an eine vorgegebene Arbeitszeit – eine Ausnahme bilden hier unter anderem Personen, die in der Lehre tätig sind. Freie Dienstnehmer/innen werden in der Regel auf Basis eines Stundenhonorars
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Zuletzt erzielte er ein Einkommen von circa 1.500 Euro netto. Daneben arbeitet Felix Merck noch freiberuflich im Sozialbereich und lässt sich seit mehreren Jahren als Naturheilkundler ausbilden, was er ebenfalls als eine mögliche künftige Erwerbsperspektive sieht. Seine Wochenarbeitszeit beziffert er auf 45 bis 50 Stunden. Felix Merck wurde in den 1960er-Jahren geboren. Nach seiner Matura beginnt er zunächst ein Studium, das er aber nach einigen Semestern abbricht. Auch das danach begonnene zweite Studium schließt er nicht ab. Stattdessen beginnt er in den 1980er-Jahren, für ein Dienstleistungsunternehmen zu arbeiten. Hier ist er zunächst in niedriger Position, später dann leitend tätig. Nach einigen Jahren macht er sich zusammen mit einem Geschäftspartner im Dienstleistungsbereich selbstständig und ist nach eigenen Angaben sehr erfolgreich. In den 1990er-Jahren beginnt er seine Ausbildungen im Sozialbereich, zum Naturheilkundler sowie zum Trainer für Berufsorientierung. Er verkauft seine Anteile am Unternehmen an seinen Partner und beginnt, als Berufsorientierungstrainer vor allem in Kursmaßnahmen des österreichischen Arbeitsmarktservice (AMS) für Erwerbslose zu arbeiten. Seine Aufträge erhält Felix Merck zu dieser Zeit über private Weiterbildungsinstitute. Die Institute erhalten die Aufträge zur Durchführung von AMS-Kursmaßnahmen, indem sie sich auf zumeist öffentliche Ausschreibungen der Maßnahmen bewerben. Der Wettbewerbsdruck und das wirtschaftliche Risiko der Institute werden zu dieser Zeit weitgehend an die Trainer/innen weitergegeben, da die meisten von ihnen zum Zeitpunkt des Interbezahlt. Da sie nicht unter die arbeitsrechtlichen und sonstigen Regularien eines für die betreffende Branche abgeschlossenen Kollektivvertrags fallen, gilt für sie dabei kein kollektivvertraglicher Mindestlohntarif. Auch Höchstgrenzen für die zu leistende Arbeitszeit oder Zuschläge bei Überstunden gelten für freie Dienstnehmer/Innen nicht. Ebenso wenig gelten für sie sonstige Schutzbestimmungen, wie zum Beispiel fünf Wochen bezahlter Mindesturlaub oder Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Die ersten drei Tage haben sie somit Verdienstausfall, bevor ihnen von der Krankenkasse im Rahmen ihrer Krankenversicherung Krankengeld gezahlt wird. Neben dem Krankengeld haben sie auch Anspruch auf Wochengeld. Freie Dienstnehmer/innen verfügen neben der Krankenversicherung auch über eine Pensionsversicherung, eine Unfallversicherung, eine Insolvenzentgeltversicherung sowie eine Arbeitslosenversicherung. Die Auftraggeber/innen sind darüber hinaus dazu verpflichtet, zusätzlich zum Entgelt 1,53 Prozent des Entgelts in eine betriebliche Vorsorgekasse zu zahlen. Freie Dienstnehmer/innen gelten steuerrechtlich als Selbstständige und müssen Einkommenssteuer, gegebenenfalls auch Umsatzsteuer (bei einem Jahresumsatz von mehr als 30.000 Euro) abführen. Sie sind verpflichtend Mitglieder der Arbeiterkammer und können ihre Interessen in der Regel von der Gewerkschaft vertreten lassen.
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views ohne Festanstellung und je nach Auftragslage beschäftigt werden. Die nächsten Jahre ist Felix Merck in dieser Branche freiberuflich tätig und arbeitet seinen Angaben zufolge für mehrere Institute. Das letzte Jahr vor seiner Arbeitslosigkeit ist er auf Basis eines freien Dienstvertrages beschäftigt. Erst zwei Jahre nach unserem Interview findet Felix Merck eine auf wenige Monate befristete Anstellung als Berufsorientierungstrainer. Allerdings wird sein Vertrag anschließend nicht verlängert. Im Anschluss an dieses Arbeitsverhältnis bekommt er bei einem anderen Weiterbildungsinstitut einen freien Dienstvertrag.
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BIOGRAPHISCHE
S ELBSTPRÄSENTATION
Auf meine Interviewer-Frage nach den durchlaufenen Stationen in seinem Leben antwortet Felix Merck: »Ja, also ich habe nach der Matura versucht, zu studieren, das war kein langfristiger Erfolg, […] und dann war ich so in einer Phase des Post-Akademischen, Nicht-Ausbildung, in diversen Jobs tätig, wo ich einfach noch die Kinderbeihilfe bezogen habe, und als verkrachter Student ein paar Jahre genossen habe. Dann habe ich, bin ich in den Dienstleistungsbereich eingestiegen, […] bin dort zum Unternehmer geworden, […] teilweise in leitender Position tätig, und die letzten Jahre habe ich meine eigene kleine Firma betrieben. […] Das war, da habe ich sicher das beste Geschäft meines Lebens gemacht, das war eine boomende Branche, und wie es vorbei war, habe ich aufgehört. In der Zeit habe ich schon angefangen, […] die ersten Trainings-Seminare zu besuchen und mich auch schon für Naturheilkunde zu interessieren und einmal zu sondieren, was gibt es da so, was könnte man da so sich anschauen, und die endgültige Entscheidung war dann, wo ich die Ausbildung im Sozialbereich begonnen habe, und die sich schon überschnitten hat mit der TrainerAusbildung […] und parallel dazu die Naturheilkunde-Ausbildung, die seit vielen Jahren konstant läuft. Und seither gibt es halt eine gute Mischung von Seminaren, einzelnen auch, die ich besucht habe, um was dazuzulernen in meinem beruflichen Feld, und um mir verschiedenste Leute anzuschauen, die da so herumschwirren. Und das ist ziemlich konsequent eine Schiene, die ich verfolge, wo ich mir andere naturheilkundliche Richtungen anschaue, was die so tun, wo ich mir Therapeuten angeschaut habe, was die an Ausbildung anbieten, ein bisschen hinein–, teilweise so Kurzausbildungen absolviert, [Pause] und das ist auch die Absicht, das beizubehalten, da immer wieder zu schauen, was gibt es am Markt, was könnte man, was gibt es an zukunftsträchtigen Strömungen, […] so ungefähr zu wissen, was ist gerade en vogue, […] um da immerzu so ungefähr mitreden zu können
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und da Ahnung zu haben, was machen die und mit welchen Werkzeugen arbeiten die, das wird mich noch begleiten.«10
Im Anschluss an diese Passage folgen einige vertiefende Fragen von mir nach Felix Mercks Arbeitsverhältnis im Dienstleistungsbereich, wie lange er in diesem Sektor tätig war, ob er selbst Angestellte hatte und wie hoch sein Einkommen war. Nach dieser kurzen Phase leite ich das Interview wieder zu seiner jetzigen Erwerbsarbeit als Trainer über. In seiner darauffolgenden Antwort setzt Felix Merck die Präsentation seines Lebens- und Erwerbsverlaufs fort: »I: Verstehe. [Pause] Während der Zeit, die Sie dann als Trainer jetzt gearbeitet haben, bis zum heutigen Tag, haben Sie da hauptsächlich für ein Institut //Nein// gearbeitet? A: Ich habe für viele verschiedene Institute gearbeitet. Also ich habe so viel gewechselt wie sonst kaum jemand, ich habe einfach Aufträge angenommen, (.?) acht Wochen, zwölf Wochen, und wenn es vorbei war, war es vorbei und dann kam der nächste. Und erst die letzten Jahre habe ich dann ein bisschen stabiler gearbeitet. Ich habe heuer auch zwei Firmen und voriges Jahr drei Firmen gehabt, also, ich war nirgends extrem lang. [Pause] Das war ganz, war wirklich sehr okay. Dadurch kenne ich unglaublich viele Trainerinnen, unglaublich viele, die Institute. Man begegnet den Leuten wieder, und ja, es ist, also so wirklich über viele Jahre dieselbe Arbeit zu machen mit, ist auch sehr schwierig. Man stumpft ab, es ist, also ich brauche was Neues. […] Also ich sehe es auch bei Kolleginnen, die das über Jahre sozusagen im selben Feld ackern, dass sie, dass sie müde werden, ja? Also das ist schwierige Arbeit. Wenn man da nicht die Möglichkeit hat, auf sich selbst zu schauen, dann brennt man aus. Deswegen, meine Variante, da zu wechseln und was Neues zu machen, hat sich bewährt. Also, das hat mir gut getan. Und der Arbeit auch. Und hat viel Erfahrung gebracht. I: Jetzt sind Sie seit, seit wann sind Sie jetzt arbeitslos? A: [Pause] Einem Monat. I: Seit einem Monat? Mhm, und Sie sind arbeitslos geworden, weil ein Vertrag, den Sie hatten, //ausgelaufen// ausgelaufen ist. A: Ja, ich meine, ich hätte, hätte ihn natürlich verlängern können, aber es war halt so, aus und fertig. Ja, und jetzt gibt es halt eine Pause. 10 Das Transkript habe ich aus Gründen des besseren Leseflusses sowie der Anonymisierung gekürzt und verändert. Folgende Transkriptionszeichen habe ich verwendet: (.?): unverständliches Wort; (…?): mehrere unverständliche Wörter; […]: vom Verfasser vorgenommene Kürzung des Transkripts; [Pause]: Pausen mit einer Länge von mehr als zwei Sekunden; [lacht]: Aktionen des Interviewten oder des Interviewers; //Ach so, verstehe//: kurzer unterbrechender Sprechbeitrag der zuhörenden Person während der Rede der sprechenden Person; »Ich woll–«: Redeabbruch.
100 | O VE S UTTER I: Und Sie hatten kein Interesse, den von sich aus den zu verlängern? A: Ich habe die Pause gebraucht auch, ja? Also das ist durchaus auch ein, ein Stück der Burnout-Prävention. //Mhm, verstehe// Also, das ist durchaus notwendig, also in dem Sinne, wahrscheinlich notwendig gewesen um, ja, die Steuererklärung aufzuarbeiten, Archiv zu machen. […] Ich mache ja nicht Urlaub, aber es ist schon sehr angenehm, einmal drei Monate weniger zu tun, sozusagen. Das war ganz, ganz bewusst, und ist, ja, gesetzlich gedeckt [lacht].«
Auffällig ist an Felix Mercks Selbstpräsentation zunächst, dass er trotz seiner häufig wechselnden Arbeitsverhältnisse und Tätigkeitsfelder und seiner aktuellen Erwerbslosigkeit seinen Lebens- und Erwerbsverlauf als unternehmerische »Erfolgsgeschichte« präsentiert. Schon die Einstiegsphase, in der es um Studienabbrüche geht, mündet zunächst in ein mehrjähriges entspanntes Dasein »als verkrachter Student«. Hierauf »steigt« Felix Merck ins Dienstleistungsunternehmen »ein« und wird »Unternehmer«. Diese unternehmerische Phase stellt er als sehr erfolgreich dar und hat hier seinen eigenen Worten nach »das beste Geschäft meines Lebens« gemacht. Auch der Ausstieg erscheint nicht problematisch, sondern Felix Merck hört »einfach« auf, »wie es vorbei war«. Auch den Umgang mit der darauffolgenden Übergangsphase stellt Felix Merck so dar, dass diese von einem vorausschauenden, souveränen und eigenmächtigen Handeln geprägt ist. So beginnt er schon vor dem Ende dieser Erwerbstätigkeit, sich im folgenden Arbeitsverhältnis weiterzubilden. Die Formulierung, schon einmal »sondiert« zu haben, vermittelt eine Überblicksperspektive in der Planung des eigenen Lebens- und Erwerbsverlaufs. Hierauf folgt Felix Mercks »endgültige Entscheidung«, in dem Bereich zu bleiben. Auch hier ist seiner Darstellung zufolge er selbst es, der seinen Lebens- und Erwerbsverlauf lenkt. Neben diesen Elementen seiner Selbstpräsentation, die sein erfolgreiches unternehmerisches Handeln betonen, stellt Felix Merck seinen Lebens- und Erwerbsverlauf trotz dessen ausgeprägten Diskontinuitäten in Form häufig wechselnder, zeitlich begrenzter Erwerbstätigkeiten vor allem als weitgehend unproblematisch dar und betont die Kontinuitäten seines bisherigen Erwerbslebens. Sein Übergang vom Dienstleistungsunternehmen zur Trainerarbeit erfolgt ohne Unterbrechung und quasi fließend. Auch im Folgenden spricht er davon, dass seine Ausbildung in diesem Bereich »seit vielen Jahren« läuft und er bei seinen Weiterbildungen »ziemlich konsequent eine Schiene« verfolgt. Auch in der zweiten Passage deutet Felix Merck die zu Beginn genannten, häufigen Wechsel seiner Erwerbsarbeitsverhältnisse in der Zeit seiner Erwerbstätigkeit als Trainer ausschließlich positiv, insofern er dadurch sein Netzwerk vergrößert, mehr Erfahrung gesammelt und zudem einem möglichen Burnout
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entgegengewirkt hat. Seine aktuelle Erwerbslosigkeit präsentiert Felix Merck schließlich als selbstgewählte, notwendige und außerdem legitime BurnoutPrävention. Damit präsentiert er sie als selbst gewähltes, unproblematisches und normales Ereignis in seinem Lebens- und Erwerbsverlauf. Auch Felix Mercks Antwort auf meine Frage nach der zukünftigen Entwicklung seines Lebens- und Erwerbsverlaufs ist von einer derart entdramatisierten und entproblematisierenden Präsentation geprägt. Auch hier stellt sich Felix Merck als relativ souverän im Umgang mit seinem Lebens- und Erwerbsverlauf dar: Er formuliert einen Ausblick, demzufolge auch seine zukünftige berufliche Entwicklung voraussagbar und erwartbar erscheint. »Es wird mir nicht erspart bleiben, wieder als Erwachsenenbildner in das System einzusteigen. Ich denke, durch meine Erfahrung und mein Wissen wird es möglich sein, im oberen, erträglicheren Bereich angesiedelt zu sein. Das wird schon irgendwie gehen. Aber es wird mich noch Jahre begleiten, da, ich schätze, dass die Anstellungen kommen, und das wird sozusagen, die Basis wird ein mittelmäßig bezahlter Angestelltenjob sein, den, wo man halt an den Bedingungen ein bisschen schrauben kann, wenn man weiß, wie man es tut, und das glaube ich, das weiß ich. Daneben wird es die andere Tätigkeit im Sozialbereich geben, die doch ganz nett, ganz gut was abwirft. Vielleicht wird das ein bisschen mehr, wenn also, die letzten zwei Jahre war einfach viel angespanntes Arbeiten, und auch viel Organisationsjob. Könnte gut sein, wenn das ein bisschen weniger wird, dass das ein bisschen mehr Platz einnimmt, und die Langfrist-Perspektive ist sicher auch aus dem naturheilkundlichen Bereich, [Pause] das auch in Erwerbsarbeit zu verwandeln […] [Pause; trinkt] Wobei ich ja meinen Job beim AMS einfach gerne mache, den will ich nicht aufgeben. Er soll nur, ein bisschen weniger darf er werden. Also wenn das, auch wenn das nur 15 Stunden in der Woche sind, ist total okay.«
Im Anschluss an Klara Löffler lässt sich hier das Zwischenresümee ziehen, dass Felix Merck die Kulturtechnik des Biographierens anwendet, um seinen eigenen Lebens- und Erwerbsverlauf entsprechend den Anforderungen postindustrieller Arbeitswelten zu präsentieren.11 Hierzu gehört ebenso die Orientierung an der mythisierten Figur des erfolgreichen und souveränen Unternehmers wie die Linearisierung von Diskontinuitäten – eine Technik, die er als Berufsorientierungstrainer in Bewerbungstrainings auch seiner erwerbslosen Klientel vermittelt. Diese inhaltliche Entproblematisierung des eigenen Lebens- und Erwerbsverlaufs unterstützt und verstärkt Felix Merck zusätzlich durch die Art, wie er darü11 Vgl. Löffler 2005.
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ber spricht. So bildet er durch die sprachliche Präsentation seines Lebens- und Erwerbsverlaufs diesen nicht nur ab, sondern er nutzt die Mittel der Sprechhandlungsform des Berichtens, um seine inhaltliche Entproblematisierung formal zu unterstützen. Die Sprechhandlungsform des Berichtens ist vor allem in der funktional-pragmatischen Kommunikationsanalyse systematisch analysiert und dabei von anderen Sprechhandlungsformen wie dem Erzählen oder auch dem Beschreiben unterschieden worden.12 Im Anschluss unter anderem an die soziolinguistischen Analysen alltäglichen Erzählens von William Labov und Joshua Waletzky13 wurde hier ein theoretisches Instrumentarium zur Analyse von sprachlichen Handlungen als gesellschaftlicher Handlungen entwickelt, mit denen spezifische soziale Zwecke verfolgt werden.14 Felix Mercks berichtendes Sprechen über seinen Lebens- und Erwerbsverlauf ist demnach nicht auf einen Höhepunkt oder ein Skandalon, sondern auf das Ende des Berichts hin organisiert und mit Blick auf den Hier-und-Jetzt-Punkt des Interviews in eine logische Reihenfolge gebracht.15 Es problematisiert oder vertieft keine Ereignisse oder Stationen des Lebens- und Erwerbsverlaufs in herausgehobener Weise. Felix Merck wirkt so, als wäre er in das Präsentierte nicht involviert und nicht davon betroffen. Stattdessen zeichnet sich die Präsentation vor allem durch eine Sprechweise aus, die Distanz zum Präsentierten signalisiert. Eine solche distanzierte Sprechweise betont gegenüber der zuhörenden Person, dass der Sprecher einen Überblick über das Geschehene hat und ihm aktuell, hier zum Zeitpunkt des Interviews, souverän gegenüber steht. Rehbein zufolge ist der Bericht ein institutionennahes Sprechen.16 Damit orientiert sich der Bericht an normativen »Gesamtäußerungsplänen«17, die als Muster für das Sprechen wirken. »Die Wiedergabe erfolgt nicht allein mit dem vollen Wissen des Gesamtablaufs und des Resultats, sondern […] vor dem Hintergrund bzw. der Folie des Wissens um den allgemein typischen Lauf, dessen Instanz der zu berichtende Vorgang darstellt.«18 An diesem Muster orientiert wird eine standardmäßige Version von Handlungen präsentiert, die an einer typischen Ver12 Vgl. Rehbein 1984. 13 Vgl. Labov/Waletzky 1973: 80; vgl. Labov 1966. Labov und Waletzky entwickelten ihre Theorie des alltäglichen Erzählens anhand ihrer Untersuchungen zum Sprachwandel in den USA, in denen sie mit ethnographischen Methoden unter anderem Erzählen als klassenspezifische Alltagspraxis untersuchten. 14 Vgl. Ehlich/Rehbein 1979: 247. 15 Vgl. Rehbein 1984: 92. 16 Vgl. ebd.: 93. 17 Ebd.: 98. 18 Ebd.: 94, Hervorhebungen im Original.
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laufsform ausgerichtet ist.19 Der autobiographische Bericht zielt auf eine normalisierende, sich an einem idealtypischen Verlauf ausrichtende Selbstpräsentation ab. Felix Mercks berichtendes Sprechen eignet sich demnach dazu, den eigenen prekären Lebens- und Erwerbsverlauf sprachlich zu normalisieren und zu entproblematisieren. Es findet eine sprachliche »Entdramatisierung« der eigenen prekären Arbeits- und Lebenssituation statt.
D ISKONTINUIERLICHE E RWERBSVERLÄUFE
BERICHTEN
Zum einen ist Felix Mercks Selbstpräsentation inhaltlich eine unternehmerische Erfolgsgeschichte. Angesichts seiner langjährigen Erfahrung als Selbstständiger ist davon auszugehen, dass er einen arbeitskraftunternehmerischen Erwerbshabitus ausgebildet hat und mit erwerbsbiographischen Diskontinuitäten umzugehen versteht.20 Zum anderen deuten seine Kontinuität und Normalität vermittelnden Aussagen sowie die damit in Verbindung gebrachte Erwartbarkeit des zukünftigen Lebens- und Erwerbsverlaufs aber auch darauf hin, dass er sich an der sozialen Institution des fordistischen Normallebenslaufs und dessen auf Kontinuität, Beschäftigungssicherheit und Erwartbarkeit ausgerichteten Strukturen orientiert. Die soziale Institution des Normallebenslaufs bildete sich im Zuge der Industrialisierung heraus. Sie erreichte den Höhepunkt ihrer Verbreitung sowie Dominanz als normatives soziokulturelles Orientierungsmuster21 in den Wohlfahrtsstaaten der 1950er- bis 1970er-Jahre, die sich im Zuge des fordistischen Klassenkompromisses herausbildeten. Waren Lebensformen bis zur Industrialisierung von einem »Muster der Zufälligkeit der Lebensereignisse«22 gekennzeichnet, so entwickelte sich mit dem modernen Lebenslaufregime ein Muster, das stärker von Vorhersagbarkeit und Planbarkeit des Lebens geprägt ist. Durch die Standardisierung der Abfolge von Lebensereignissen werden normative Erwartungen und damit Erwartungssicherheiten erzeugt, die sozial integrierend auf die Subjekte wirken.23 Mit dem Normallebenslauf als sozialer Institution setzte sich ein kulturelles Wahrnehmungs- und Deutungsmuster und damit verbunden
19 Vgl. ebd.: 97. 20 Vgl. Pelizzari 2008: 207. 21 Vgl. Hardering 2011: 80. Martin Kohli hat gezeigt, wie sich im Konstitutionsprozess der bürgerlichen Gesellschaften ab dem späten 18. Jahrhundert die soziale »Institutionalisierung des Lebenslaufs« vollzieht (vgl. z.B. Kohli 1985; Kohli 1988). 22 Brose 2003: 4. 23 Vgl. ebd.: 4.
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ein Ideal lebenszeitlicher Kontinuität durch, demzufolge das Leben sicher und vorhersehbar erschien. Der Normallebenslauf versprach für die Zukunft »1. Kontinuität im Sinn einer verläßlichen, auch materiell gesicherten Lebensspanne; 2. Sequenzialität im Sinn eines geordneten (und chronologisch festgelegten) Ablaufs der wesentlichen Lebensereignisse.«24 Der Normallebenslauf ist in den westlichen Industriegesellschaften um das Erwerbssystem herum strukturiert25 und mit dem fordistischen Normalarbeitsverhältnis verbunden. Das Normalarbeitsverhältnis als lohnabhängige, ein existenzsicherndes Einkommen gewährleistende, kollektivvertraglich geregelte und unbefristete Festanstellung in Vollzeit, mit der umfassende Formen sozialer Absicherung von Erwerbslosigkeit, Krankheit und Alter einhergehen, ist auf Dauer und Kontinuität angelegt.26 Historisch basierte es darüber hinaus auf der geschlechtsspezifischen Teilung von Erwerbsarbeit und Haus- und Care-Arbeit. Im Rahmen der damit zusammenhängenden männlichen Versorgerehe konnten Frauen nicht oder nicht vollbeschäftigt und kontinuierlich erwerbstätig sein. Auch Arbeitsmigrant/innen arbeiteten mehrheitlich nie unter diesen »normalen« Bedingungen.27 Das Normalarbeitsverhältnis und damit auch der Normallebenslauf waren keine empirisch dominante Realität, sondern eine hegemoniale »normative Fiktion«28. Als soziale Realität westlicher Industriegesellschaften prägten sie vor allem von den 1950er-Jahren bis in die 1970er-Jahre das Leben männlicher und der Mehrheitsgesellschaft angehörender Industriearbeiter.29 Als normativ wirkende Fiktion waren das Normalarbeitsverhältnis und der Normallebenslauf allerdings ebenso ein Bezugspunkt für juristische Normsetzungen und Interpretationen wie auch für subjektive Erwartungen und Strategien Erwerbstätiger.30 Der Idealtypus des um das Erwerbssystem herum organisierten Normallebenslaufs »war auch über institutionelle und rechtliche Wandlungsprozesse hinweg ein Bezugspunkt bei der Wahrnehmung der eigenen gesellschaftlichen Lage wie bei der Gestaltung von Alltagsstrategien in Leben und Arbeit.«31 Erwartung von
24 Kohli 1994: 126. 25 Vgl. Kohli 1985: 3. 26 Vgl. Mückenberger 1985; Osterland 1990; Tálos 1999. 27 Vgl. Pelizzari 2008: 204; Dörre 2005: 182. 28 Mückenberger 1985: 432. 29 Vgl. Pelizzari 2008: 204. 30 Vgl. Dombois 1999. 31 Rosenbaum/Timm 2008: 51; vgl. Diewald 2010.
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Kontinuität und Zukunftsgewissheit bildeten die Grundlage, auf der berufliche Strategien und Lebensführungskonzepte entworfen wurden.32 Berichtendes Sprechen scheint sich aufgrund seiner distanzierenden und standardisierten, logisch ordnenden Form zu eignen, um unter prekären Arbeitsbedingungen ein am fordistischen Normallebenslauf orientiertes Selbstbild zu präsentieren und aufrechtzuerhalten, das sich durch einen souveränen und unproblematischen Umgang mit Erwerbsarbeit auszeichnet. Die Auswertung der von mir geführten Interviews zeigte, dass die männlichen Befragten stärker als die weiblichen Befragten ihre prekären Arbeits- und Lebensverhältnisse mit den Mitteln des berichtenden Sprechens präsentierten. Dies legt die Interpretation nahe, dass sich die männlichen Interviewten mehr noch als die weiblichen am fordistischen Normallebenslauf orientierten und durch das sprachliche Handeln des Berichtens darum bemüht waren, ein derart ausgerichtetes Selbstbild zu erzeugen und aufrechtzuerhalten, obwohl dieses kaum noch ihren tatsächlichen Arbeits- und Lebensbedingungen entsprach. Dass die männlichen Interviewten sich stärker am Normalarbeitsverhältnis und Normallebenslauf orientierten, zeigte sich auch daran, dass sie im Unterschied zu den weiblichen Befragten nur in wenigen Ausnahmefällen unbezahlte Care-Arbeit in Form von Kinderbetreuung, Haushalts- oder Pflegearbeit als lebens- und erwerbsverlaufsstrukturierendes Moment thematisierten.33
32 Vgl. Osterland 1990: 352. 33 Die stärkere Orientierung der männlichen Interviewten am Normalarbeitsverhältnis und am Normallebenslauf zeigte sich auch daran, dass wesentlich mehr Männer als Frauen es vorzogen, das Interview nicht wie von mir vorgeschlagen in ihrer eigenen Wohnung, sondern am außerhalb der eigenen Wohnung gelegenen Arbeitsplatz oder, wenn ein derartiger Arbeitsplatz nicht vorhanden war, an einem öffentlichen Ort wie dem Kaffeehaus durchzuführen. Vonseiten der weiblichen Interviewten wurde meinem im Vorfeld aller Interviews geäußerten Vorschlag, das Interview in der eigenen Wohnung durchzuführen, nur in zwei Fällen ausdrücklich widersprochen, ansonsten dieser Vorschlag in den meisten Fällen sogar ausdrücklich begrüßt. Auch hier materialisierte sich eine geschlechtsspezifisch unterschiedlich ausgeprägte Grenzziehung zwischen der Sphäre der Arbeit und des Öffentlichen zum einen und der Sphäre des Häuslichen und der Care-Arbeit zum anderen – eine Grenzziehung, die an den Normen des Normalarbeitsverhältnisses ausgerichtet ist.
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B ERICHTEN ALS S UBJEKTIVIERUNGSHANDELN DER P REKARITÄT IMMATERIELLER ARBEIT Felix Mercks berichtende Erzeugung eines Selbstbildes, das formal der männlichen Norm eines kontinuierlichen, unproblematischen und erwartbaren Normallebenslaufs entspricht, unterstützt als sprachliches Handeln die subjektive Verarbeitung seiner aktuell prekären Arbeits- und Lebenssituation. Klaus Dörre und andere plädieren dafür, auch Formen subjektiver Verarbeitung von Prekarität mit in den Blick zu nehmen, da erst hierüber »tradierte oder neu erzeugte sekundäre Integrationspotenziale«34 sichtbar würden, die anstelle der fehlenden primären reproduktiven und qualitativen Integrationspotenziale greifen und dem gesellschaftlichen Zerfall entgegenwirken.35 Als sekundäre Integrationspotenziale können dabei fordistisch geprägte Sicherheitsorientierungen als kulturell verankerte Muster wirken, welche die Deutungen von prekären Arbeitsverhältnissen prägen.36 Diese Orientierungen richten sich zum Beispiel an »fiktionale[n] Zukunftsvorstellungen«, die auf die Erwerbsarbeit bezogen sind, oder an »Schutzdispositiven«37 wie zum Beispiel Familie und Ehe aus. Auch bei Felix Merck zeigt sich eine derartige fiktionale Zukunftsvorstellung. Darüber hinaus hat aber auch der retrospektive, Kontinuität vermittelnde und entproblematisierende Entwurf seines bisherigen diskontinuierlichen Lebens- und Erwerbsverlaufs das Potenzial zur Sicherheitsorientierung, die in seiner aktuellen prekären Arbeits- und Lebenssituation stabilisierend und sozial integrativ wirkt. Frank Kleemann, Ingo Matuschek und G. Günter Voß gehen davon aus, dass unter den Bedingungen des Rückgangs und der Flexibilisierung gesellschaftlicher Strukturvorgaben die Subjektivität selbst eingesetzt wird, um strukturierend auf die Arbeitsorganisation, die alltägliche Lebensführung wie auch den Lebensverlauf einzuwirken.38 In Anlehnung hieran lassen sich Felix Mercks berichtende Präsentation wie auch sein Zukunftsentwurf als Handeln begreifen, mit dem er seinen aktuellen Arbeits- und Lebensverhältnisse und seiner eigenen Subjektivität Struktur gibt. Felix Merck nutzt hier seine sprachlichen Fähigkeiten, um sein Selbstbild mit soziokulturellen Normvorgaben abzustimmen. Sein sprachliches Handeln kann sozial integrativ wirken, indem Felix Merck ein Selbstbild etabliert, das seine prekäre soziale Lage auf der symbolischen Ebene entschärft.
34 Brinkmann/Dörre/Röbenack 2006: 55f.; Dörre/Fuchs 2006. 35 Vgl. auch Kraemer 2009. 36 Vgl. Pongratz/Voß 2003: 155; zitiert nach Pelizzari 2009: 172. 37 Pelizzari 2009: 172. 38 Vgl. Kleeman/Matuschek/Voß 2002: 84f.
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F AZIT Am Beispiel des von mir interviewten Felix Merck habe ich zu zeigen versucht, wie ein prekär Beschäftigter sprachliches Handeln einsetzte, um seine prekäre Arbeits- und Lebenssituation zu verarbeiten und zu bewältigen. In der Analyse des Interviews wurde deutlich, dass Felix Merck seinen diskontinuierlichen Lebens- und Erwerbsverlauf als weitgehend undramatische, unproblematische und kontinuierlich laufende Erfolgsgeschichte präsentierte. Ich arbeitete heraus, wie er dabei die Sprechhandlungsform des Berichtens einsetzte und auf diese Weise die inhaltliche Entproblematisierung und Normalisierung seines Lebens- und Erwerbsverlaufs formal-sprachlich zu unterstützte. Berichtendes Sprechen eignet sich dafür insbesondere, da die hierbei verwendeten sprachlichen Mittel eine distanzierende und Souveränität vermittelnde Überblicksperspektive gegenüber den berichteten Ereignissen erzeugen. Die Interviewanalyse zeigte darüber hinaus, dass sich Felix Merck im Verlaufe der Präsentation seines prekären Lebens- und Erwerbsverlaufs an der sozialen Institution des fordistischen Normallebenslaufs orientierte. Die Sprechhandlungsform des Berichtens ist dabei offenbar besonders geeignet, auch unter prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen ein derart normalisiertes Selbstbild zu präsentieren und aufrechtzuerhalten. Abschließend interpretierte ich Felix Mercks berichtendes Sprechen über seinen prekären Lebens- und Erwerbsverlauf als Subjektivierungshandeln, als eine Praxis, mit der er seiner eigenen Subjektivität unter den Bedingungen der Prekarität immaterieller Arbeit Struktur gibt und seine prekäre soziale Lage symbolisch entschärft. In meiner Untersuchung deutete sich zudem an, dass die Orientierung am fordistischen Normallebenslauf und auch die Verwendung der Sprechhandlungsformen zur Präsentation der eigenen prekären Arbeits- und Lebensverhältnisse je nach Geschlecht unterschiedlich ausgeprägt sind. Die begrenzte Anzahl an Interviews, die ich selbst führen konnte, ließ hier jedoch keine weitergehenden Schlussfolgerungen zu. Insbesondere an diesem Punkt wäre aus meiner Sicht eine anschließende und vertiefende Untersuchung notwendig und sinnvoll.
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Das Haltungs- und das Handlungskonzept in der Biographieforschung am Beispiel älterer und gut ausgebildeter Stellensuchender in der Schweiz R OLAND G RIEDER
E INLEITUNG Im Rahmen meiner Dissertation1 führte ich 47 Interviews mit älteren, gut ausgebildeten und zum Teil ausgesteuerten2 Stellensuchenden. Im Zentrum standen Fragen danach, wie die betroffenen Personen mit ihrer Situation fertig wurden, welche Hindernisse sich der Re-Integration in den Arbeitsmarkt in den Weg stellten und wie die verbleibende Berufs- und Lebenszeit finanziert werden konnte. Durch die Analyse dieser Interviews wurden die von den interviewten Personen getroffenen Entscheidungen verständlich. Dazu bedurfte es eines an diese Gruppe von Stellensuchenden angepassten Analyseverfahrens, für das ich die Begriffe Handlungs- und Haltungskonzept entwickelt habe. Die Herausforderung bestand u.a. darin, die Interdependenzen aufzudecken, in welche die Gesprächspartner/innen beruflich und privat eingebunden waren. Im vorliegenden
1
Vgl. Grieder 2011.
2
Mit »ausgesteuert« ist gemeint, dass kein Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung besteht und dass die Betroffenen in der offiziellen Arbeitslosenstatistik nicht mehr aufscheinen. Für die Schweiz gilt, dass in den Regionalen Arbeitsvermittlungsstellen (RAV) angemeldete Stellensuchende nach Ablauf der Versicherungsdauer keine finanzielle Unterstützung mehr erhalten.
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Text soll der Stellenverlust3 als Fixpunkt verstanden werden, auf den sich Haltungs- und Handlungskonzepte beziehen lassen; die Komplexität der einzelnen Fälle ist auf Grund dieser Fokussierung auf den Stellenverlust nur begrenzt darstellbar. Mit älteren und erfahrenen Personen über ihre Arbeitsbiographie zu sprechen heißt nicht zuletzt auch, Machtkonstellationen und Ausschlussmechanismen4 kennenzulernen sowie über Willkür, gesundheitliche und familiäre Probleme, Strukturwandel wie auch über das Selbstbild der Arbeitsgesellschaft und ihre Taktgeber zu reflektieren. Auch diese Faktoren sind hier nur soweit darstellbar, als sie im Zusammenhang mit dem Haltungs- und dem Handlungskonzept der Interviewten stehen. Arbeitslosigkeit ist insofern ein unscharfer Begriff, als sich zahlreiche, sehr unterschiedliche Akteur/innen seiner bedienen: die Stellensuchenden, die Politik, sozialstaatliche Institutionen wie Ämter oder Versicherungen, private Dienstleister mit ihren Integrationsangeboten, (private und öffentliche) Unternehmen, Personalverantwortliche, (Weiter-)Bildungsinstitute, Diplomierungsinstanzen, Anwält/innen für Arbeitsrecht usw. Sie alle sind Akteur/innen, die im Laufe der Zeit und in unterschiedlicher Intensität Interdependenzen mit den interviewten Personen eingingen und damit auch deren Haltungskonzepte beeinflussten. Die Situation der von mir untersuchten Altersgruppe ist gerade in der Schweiz kaum erforscht,5 was zur Folge hat, dass deren Anliegen von Politik und Verwaltung nicht adäquat berücksichtigt werden. Die Re-Integrationsmaßnahmen (Weiterbildungen auf höherem oder akademischem Niveau, Ausbildungen nach Bedürfnissen des Arbeitsmarkts oder Spezialisierung innerhalb der angestammten Branche) sind qualitativ nicht in der Lage, dieser Gruppe zu nützen. Dazu kommt, dass die Reaktionen auf einen Stellenverlust nach vielen Jahren Unternehmenszugehörigkeit sich von denen jüngerer Stellensuchender oder Geringqualifizierter gleichen Alters erheblich unterscheiden.6 Die Behörden sind auf die wachsende Gruppe der gut ausgebildeten Älteren am Arbeitsmarkt schlecht vorbereitet, obwohl die demographischen Entwicklungen, verbunden 3
Der Begriff Stellenverlust wird hier in sehr weitem Sinn angewendet. In den untersuchten Biographien spielten Sofortkündigungen, unvorhergesehener Stellenverlust oder auch sich längerfristig abzeichnende Schließungen im Zuge von Firmenübernahmen und -auflösungen eine Rolle.
4
Vgl. Crozier/Friedberg 1979: 39ff, 160ff.
5
Riphahn/Sheldon 2006 weisen auf diese Problematik hin. Sheldon 1998, 2005 und 2009 befasst sich mit der älteren Arbeitnehmerschaft und dem Strukturwandel.
6
Zur Erwerbsarbeit allgemein vgl. u.a. Barwinski Fäh 1990; Barwinski Fäh 1995; Aeppli u.a. 1996; Bertram 2000; Bühler 2005; Baethge 2007; Buchmann/Kriesi/Sacchi 2007.
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mit den globalen wirtschaftlichen Dynamiken sowie den Veränderungen in der Bildungspolitik und am Arbeitsmarkt, schon seit Langem diesen Wandel angekündigt haben.7 Die Ursachen für die Mängel im Umgang mit älteren gut ausgebildeten Arbeitssuchen sind Unkenntnis bzw. falsche Einschätzung des Handlungskonzepts sowie fehlendes Wissen über das individuelle Haltungskonzept. Für die Forschungsarbeit bedeutet dies, dass es notwendig ist, sich Kenntnisse über ältere Ausbildungssysteme, gewandelte Berufsbilder und Karrieremöglichkeiten sowie die Veränderung von Zutrittsbedingungen zu verschaffen. Herkunft, Berufsbildung und Start ins Erwerbsleben waren für die hier untersuchte Gruppe durch die 1960er- und 70er-Jahre geprägt: Wirtschaftliche Nachkriegsprosperität und der Glaube an ein Wachstum ohne Ende waren verknüpft mit der Aussicht auf soziale und berufliche Sicherheit sowie ein abgesichertes und finanziertes Rentenleben. In diesem Umfeld formte sich ein Haltungskonzept, das sich in der Phase der Stellenlosigkeit im höheren Alter entweder als besonders erfolgreich oder als dringend reformbedürftig erweisen sollte. Die Handlungskonzepte der Stellensuchenden alleine erklären den Umgang mit der Krise oder die Versuche, sie abzuwenden, jedoch nicht in ausreichendem Maße; vielmehr müssen Fragen beantwortet werden, warum genau diese Handlungsentscheidungen – seien sie aus der Sicht der behördlichen oder politischen Akteur/innen richtig oder falsch – favorisiert werden. Dazu bedarf es auch der Analyse der zugrunde liegenden Haltungskonzepte. Dies soll mit Beispielen aus meiner Forschungsarbeit verständlich gemacht werden.
D IE
GEWANDELTE
ARBEITSWELT
Im Zusammenhang mit dem Phänomen Arbeitslosigkeit in der gegenwärtigen Arbeitsgesellschaft8 sind wir mit drei auffälligen Merkmalen konfrontiert. Erstens: Es war vor einigen Jahren noch kaum vorstellbar, dass trotz langjähriger Berufserfahrungen in leitenden Positionen und trotz permanenter Weiterbildungen ältere Arbeitnehmer/innen – ich konzentriere mich auf die Gruppe ab dem 50. bis zum 60. Altersjahr – mit der Situation konfrontiert sein könnten, dass bisher geleistete Arbeit und erworbene Qualifikationen auf dem Stellenmarkt ohne Wert sind und mit der Dauer der Stellenlosigkeit auch nicht mehr angepasst werden können. Es ist dies die Altersspanne, in der traditionellerweise Karriere-
7
Schief 2004 vergleicht die Länder der Europäischen Union sowie Norwegen und die
8
Vgl. Baethge 1991.
Schweiz.
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höhepunkt und soziale Etablierung die Abschlussphase des offiziellen Berufslebens einleiten. Die betroffenen Männer und Frauen müssen heute aber die Erfahrung machen, dass ihre bisherigen Berufsbilder und Berufsbezeichnungen nicht mehr existieren. Zweitens: Die von mir Interviewten verrichteten Arbeiten, für die immer häufiger Hochschulabschlüsse oder ganz bestimmte Diplome vorgelegt werden müssen, in deren Besitz früher Ausgebildete nicht sind. Jüngere Fach- oder Hochschulabgänger übernehmen diese Positionen, wobei im Zuge dessen Aufgaben- und Berufsbezeichnungen, um internationalen Standards zu genügen, mit englischen Begriffen versehen werden. Drittens: Beruflicher Aufstieg und das Erreichen von Karrierestufen erfolgten lange entweder nach dem Senioritätsprinzip oder nach der Dauer der Unternehmenszugehörigkeit. Oft waren damit Loyalitätszusagen verbunden, wenn die Finanzierung zusätzlicher Ausbildungen durch die Firma an bestimmte Bedingungen geknüpft war (etwa die Verpflichtung zum Verbleib in der Firma für eine bestimmte Anzahl von Jahren). Nicht messbare Fähigkeiten – besondere Kompetenzen im Umgang mit neuen Medien wie dem Computer, ein Gespür für Zahlen, Technikaffinität oder eine hohe berufliche Mobilität – waren entscheidende Vorteile für die Mitarbeiter/innen. Oft wurden Stellen auf die Angestellten zugeschnitten; eine standardisierte Berufsbeschreibung existierte dafür nicht. Diese drei skizzierten Momente wirken sich heute nachteilig auf die ReIntegration älterer gut ausgebildeter Arbeitnehmer/innen in den Arbeitsmarkt aus. Zusammengefasst kann gesagt werden, dass wir es hier mit einer Schwellengeneration zu tun haben, die mit überholten Konzepten aus der Arbeitswelt von gestern auf die neuen Bedingungen der Arbeitswelt von morgen trifft (die Tertiarisierung respektive der Umbau zur Dienstleistungsgesellschaft ist noch nicht abgeschlossen). Zur Schwellengeneration zählen wir die Arbeitnehmer/innen, die aufgrund ihrer zeitlichen Disposition sowohl ein altes als auch ein neues System (dazu gehören Ausbildungen, Berufserfahrungen, technische Möglichkeiten, Arbeitswelt usw.) erleben, sich den ändernden oder geänderten Voraussetzungen anpassen müssen und damit eine direkt erfahrbare Vergleichsmöglichkeit zwischen dem alten und dem neuen System haben, die der vorigen und der nachfolgenden Generation in dieser spezifischen Form nicht zugänglich ist. Die untersuchte Gruppe war mit folgenden ökonomischen, sozialen und arbeitsmarktlichen Veränderungen konfrontiert:9 Die 1990er-Jahre waren geprägt von wirtschaftlichen Turbulenzen und neuen Unternehmensstrategien. Traditionelle, Regionen prägende Unternehmen wurden in transnational agierende Kon9
Diese Darstellung ist allgemein gehalten, die Prozesse stimmen in den westlichen, postindustriellen Gesellschaften in vielen Teilen überein und differieren lediglich durch branchenspezifische Entwicklungen (vgl. dazu Bornschier 1996 und 1998).
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zerne integriert, Unternehmensteile wurden ausgegliedert oder ganze Mitarbeiterstäbe entlassen, neue »Unternehmenskulturen« (bevorzugt angelsächsische) wurden unhinterfragt und enthusiastisch übernommen. Die Vorstellungen von sozialer Sicherheit, die in der Nachkriegsprosperität aufgebaut wurden, brachen in sich zusammen: Die älteren Arbeitnehmer/innen wurden mit der Destabilisierung der Altersvorsorge bis hin zu Verlusten des erarbeiteten Vermögens konfrontiert. Heute sind Arbeitsplätze in immer stärkerem Ausmaß Beschäftigungsverhältnisse auf Zeit.10 Neue Lebensformen stellen die Stellensuchenden zusätzlich vor finanzielle Herausforderungen: Denn die Kinder bleiben länger im Haushalt, absolvieren kostenintensive Ausbildungen und ihr Berufseinstieg verzögert sich. Die Beträge, die für die Stellensuchenden ausbezahlt werden – bei vordem Gutverdienenden mit Einbußen verbunden und mit einem Höchstbetrag limitiert11 –, müssen weiterhin für den Lebensaufwand reichen.12 Virtuelle Unternehmen, Dot-Com-Firmen, Auslagerungen in außereuropäische Staaten, die Abwendung der Unternehmensführungen von Nachhaltigkeit und Verantwortung gegenüber der Mitarbeiterschaft sowie die steigende Frequenz von Umstrukturierungen stehen im Kontrast zu der Berufswelt, wie sie die älteren Arbeitnehmer/innen noch in der Anfangsphase ihres Berufslebens kannten.13 Karrieren, die darauf basieren, dass man seinen Beruf von der Pike auf – womöglich im gleichen Unternehmen – lernt, und langfristige Arbeitsplätze werden zur Rarität. Die Prognosen, wonach in Zukunft in den rohstoffarmen Ländern auf postindustrielle Hochtechnologie gesetzt werden wird,14 legen einen großen Bedarf an Hochqualifizierten in Forschung und Technik nahe. Die zukünftigen Mitarbeiter/innen absolvieren daher die neu entstandenen Hochschulen, die oft auch von Unternehmen finanziell unterstützt werden. Das Bildungssystem in den westlichen Zentrumsstaaten wurde diesen neuen Vorgaben angepasst. Vor allem anderen ist bei den zukünftigen Arbeitnehmer/innen Mobilität gefordert. Doch durch die Dynamisierung in Branchen mit hohem Forschungsanteil waren dringend Hochqualifizierte gefragt, es blieb keine Zeit, bis der »eigene« Nachwuchs bereit war: Der Einzug ganzer ausländischer Teams in Unternehmen und Universitäten, sowie die Virtualisierung von Logistik, Produktion und Forschung wurden damit begründet, dass der schweizerische Markt entweder zu klein, zu veraltet oder international nicht mehr wettbewerbsfähig sei. 10 Vgl. Sennett 2000 und 2005. 11 Diese Regelungen betreffen die Schweiz. 12 Vgl. SECO 2002a und 2005. 13 Vgl. Honegger/Rychner 1998. 14 Vgl. Deutschmann 2002.
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Zudem wird ein weiteres Paradoxon offensichtlich: Zwar werden die Menschen immer älter, doch entledigen sich Unternehmen ihrer älteren Arbeiternehmer/innen, sobald es zu Übernahmen, Schließungen, Auslagerungen von Abteilungen oder strukturbedingten Neuausrichtungen kommt. In den sozialen und wirtschaftspolitischen Programmen herrschte bis vor wenigen Jahren die Vorstellung, dass sich die hoch entwickelte Arbeitsgesellschaft in eine Freizeitgesellschaft15 mit niedrigem Rentenalter verwandeln werde. Dass damit bereits unter 50-Jährige ohne Chance auf eine Anstellung sind, wurde in diesen Modellen vergessen. Die von Stellenverlust Betroffenen, die noch zwanzig bis dreißig Jahre leben, müssen sich allerdings irgendwie finanzieren. Das andere Extrem steht jedoch bereits auf der politischen Agenda: Arbeiten bis 67 (oder bis zum Lebensende) ist ein Szenario, das die politischen und ökonomischen Debatten nährt. Der dynamische Wandel in der Arbeitswelt macht es erforderlich, dass das langfristig etablierte individuelle Haltungskonzept idealerweise an die Determinanten des aktuellen Arbeitsmarktes angepasst wird. Einige Fragen, mit denen sich die älteren Stellensuchenden auseinanderzusetzen haben, lauten etwa: Lohnt sich eine längerfristige Weiter- oder sogar eine neue Ausbildung? Hat das eigene Arbeitsethos überhaupt noch einen Wert oder wirkt es eher hinderlich in der neuen Firmenkultur? Was steht im Vordergrund: Karriereplanung oder Statussicherung? Wie wirkt sich – trotz finanzieller Absicherung – die plötzliche Beschäftigungslosigkeit auf die Familie aus? Die Stellensuchenden sind gezwungen, oft völlig neue Vertragsverhältnisse zu akzeptieren, was international erfahrenen Arbeitnehmer/innen leichter gelingt, die zwischen verschiedenen Kulturen der Arbeitswelt pendeln und permanente Veränderungen gewohnt sind. Ehemalige Kaderangestellte kennen allerdings ihre Wiedereinstiegschancen, die in einem monopolisierten und zudem engen Markt geringer werden.16
D AS H ALTUNGSKONZEPT UND DIE B IOGRAPHIEFORSCHUNG Mit Pierre Bourdieus Habituskonzept steht in der Sozialforschung ein prominenter und viel zitierter Erklärungsansatz zur Verfügung, der in der Biographieforschung Vergangenheit (soziale Herkunft), Gegenwart (aktueller Status und Zeitpunkt der Exploration) und Zukunft (Einschätzung möglicher individueller sozi-
15 Vgl. Rifkin 2004. 16 Vgl. dazu u.a. SECO 2000b.
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ordnet werden konnten. Im Weiteren war es von Bedeutung, die Gründe zu untersuchen, warum Haltungs- und Handlungskonzepte im individuellen Fall konsequent aufrechterhalten oder entscheidend revidiert werden.
D AS H ALTUNGSKONZEPT Der Begriff Konzept kann mit Programm, Plan oder auch Vorgehensweise synonym verwendet werden. Dieses Wortfeld ist durch Prozessualität gekennzeichnet und hebt, bezogen auf Handlungen, die Momente von Anpassung und Erweiterung hervor. Der Begriff Muster hingegen wäre zu starr, unterstreicht er doch die Wiederholung und betont die strikte Übernahme einmal festgelegter Grundstrategien; damit wird – nach Heinz Steinert18 – individuelle Konsistenz thematisiert: Die Berechenbarkeit als Musterhaftigkeit ist im Kern für die das Handeln untersuchende Soziologie die erwünschte Möglichkeit zur Interpretation. Der von mir bevorzugte Begriff des Konzepts hingegen beruht auf einer individuell vorgenommenen Entscheidung, auf einer überlegten, planerischen und strukturierenden Vorgehensweise aufgrund von Erfahrungen, die vor allem in der Bildungsphase und im Zuge der beruflichen Etablierung gemacht wurden. Das Konzept bleibt anpassungsfähig, aber doch mit dem Ziel, im Kern die Voraussetzungen der Qualifikationsphase beizubehalten und die grundlegenden Präferenzen zu stützen. Die Etablierung im Berufsleben (wir könnten auch von einer Vervollkommnung sprechen) ist nie vollständig abgeschlossen, tendiert aber zu einer individuellen Haltung, die sich als lesbar und einschätzbar erweist, was in der Arbeitswelt von großer Bedeutung ist. Je weiter sich jemand beispielweise vom berufsbiographischen Konzept entfernt, desto schwieriger wird es, das, was nicht in dieses Konzept hineinpasst, nachvollziehbar und begreifbar zu machen und einer sozialwissenschaftlichen Beschreibung und Analyse zuzuführen.19 Man ortet dann eventuell eine Konzeptlosigkeit, wobei diese auf den ersten Blick vorgenommene Einschätzung fehlerhaft sein kann, insofern hier ein Konzept zum Tragen kommt, das nicht zum eigenen – oder auch zum institutionellen – Haltungskonzept passt. Zentral für das Haltungskonzept sind Nachvollziehbarkeit und Berechenbarkeit, die besonders für die Beurteilung in der Berufswelt wesentlich sind. Unternehmen weisen verständlicherweise Bewerber/innen ab, die nicht zum eigenen
18 Vgl. Steinert 1972: 34. 19 Rekonstruktive Fallanalyse u.a. nach Rosenthal 1995 und 2005, narratives Interview u.a. nach Schütze 1983, 1984, 1995 und 2001.
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Haltungskonzept (Leitbild, Unternehmenskultur, Richtlinien, Tradition) passen. Denn auch Gruppen, Institutionen und Staaten verfügen, wie bereits festgehalten, über ein Haltungskonzept. Eine Institution, die Langfristigkeit im Angestelltenverhältnis bevorzugt, wird mit Quereinsteiger/innen zurückhaltender sein als ein Unternehmen, das explizit kurze Anstellungsverhältnisse anstrebt. Bewerber/innen, die ausgesprochen karriereorientiert sind, werden kaum Zutritt zu Institutionen finden, die traditionsgemäß Kaderangehörigkeit als Exklusivität verstehen, wobei Herkunft und Geschlecht vor beruflicher Exzellenz stehen. Die Kenntnis unternehmerischer Haltungskonzepte schafft Klarheit für die soziale Umwelt wie auch für die Stakeholder und verhindert Enttäuschung. Man kann hier auch auf den von Bourdieu gebrauchten Begriff der »Gesamtkonzeption«20 zurückgreifen und ihn auf Institutionen der Politik oder der Kunst anwenden; mit »Gesamtkonzeption« ist ein System expliziter und spezifischer Prinzipien gemeint, die logischer Kontrolle und reflexivem Denken unterliegen. Steinert spricht von einem »Konzept der Persönlichkeit«21, das dann entsteht, wenn die Konsistenz des individuellen Verhaltens in ähnlichen Situationen zur Unterscheidbarkeit zwischen Individuen beiträgt. Auch dieses Konzept kann auf Institutionen übertragen werden. Das Haltungskonzept ist als ein erkennbares und dem Individuum zugeschriebenes, längerfristiges Merkmal (etwa in der Dauer der Erwerbsarbeit) zu definieren. Es kann vom Individuum frei übernommen oder durch Einflussnahme aufgezwungen oder antrainiert werden. Das Haltungskonzept ist der sozialen Umwelt mitteil- und erklärbar; es äußert sich in Meinungen, Urteilen, Einstellungen oder Prinzipien. Es ist idealerweise dem Individuum zuschreibbar und daher auch in einem hohen Grade les- und einschätzbar. Das Haltungskonzept ermöglicht es, in der Zukunft liegende Entscheidungen dem Individuum zuzuordnen und damit eine Vorhersage über eine allfällige Haltung zu treffen. Es kann durch Krisensituationen aufgehoben, abgeändert oder erweitert werden. Das Haltungskonzept muss nicht auf einen einzigen Bereich reduziert sein, sondern kann sich auf mehrere Lebens- oder Themenbereiche (Berufs- und Privatleben) beziehen.
20 Bourdieu 1987: 656. 21 Steinert 1972: 32.
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I NDIVIDUELLE VERSUS H ALTUNGSKONZEPTE
INSTITUTIONELLE
Das individuelle Haltungskonzept wird in den verschiedenen Stationen der jeweiligen Biographie gebildet: Familie, Ausbildung, Peer Group und Beruf sind der Kontext permanenter Anpassung und Optimierung des Haltungskonzepts als Summe dieser Einflüsse. Die Aufnahme neuer Teile in das Konzept wird durch fortlaufende Abwägung individuell bestimmt. Nachvollziehbarkeit und Berechenbarkeit – das ist der Anspruch an das Haltungskonzept – müssen gewährleistet sein und können mit den Analyseverfahren der interpretativen Sozialforschung herausgearbeitet werden. Große Abweichungen innerhalb des individuellen Haltungskonzepts, hervorgerufen durch eine Initialsituation, sind dann schwer einzuordnen, wenn der entscheidende Moment für die Wende in den Handlungskonzepten nicht ausfindig gemacht werden kann. In der vorliegenden Untersuchung ist der entscheidende Punkt der Stellenverlust. Ein Beispiel soll das an den beiden Merkmalen »Stringenz in der beruflichen Laufbahn« und »Private und berufliche Organisation« verdeutlichen (diese zwei Kategorien entwickeln sich aus der vertikalen Analyse22): Fred, Australier, nutzte seine Kapitalausstattungen in allen beruflichen Bereichen gewinnbringend: Er entstammte einem wohlhabenden Elternhaus, sein hervorragender Universitätsabschluss und die international angesehenen Zusatzausbildungen sowie das gute Netzwerk in seiner australischen Heimat erleichterten den Berufseinstieg. Seit seinem Studienabschluss war er ununterbrochen in seinen Fachgebieten tätig und ergänzte seine Berufserfahrung mit darauf abgestimmten Ausbildungen, die seinen Erstberuf branchenspezifisch und nachvollziehbar ergänzten. Dadurch war Freds Handlungskonzept identifizierbar. Er unterstrich mit den entsprechenden Berufs- und Ausbildungsentscheidungen die Stringenz seiner beruflichen Entwicklung: Für ihn war die Wahl der Ausbildungswege logisch und deshalb widerspruchsfrei. Die Lesbarkeit seiner beruflichen Laufbahn war für Fred die Grundvoraussetzung, da die Branche eine folgerichtige Aneinanderreihung der beruflichen Stationen verlangte, die wiederum nur durch informelle Netzwerke gestützt werden konnte. Freds abgestimmte und
22 Als vertikale Analyse bezeichne ich die erste Annäherung an den spezifischen Fall, erarbeitet aus dem verschriftlichten Interview. Dazu gehören hypothetische Annahmen, die aufgrund von eindeutigen Merkmalen festgelegt werden, also in der Beschreibung belegbar sind. (Diese Vorgehensweise orientiert sich an Rosenthal 1995, 2005 und Kruse 2006, wenn auch die Begriffe in den Analyseteilen von beiden unterschiedlich verwendet werden.)
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deshalb nachvollziehbare Qualifikationen waren in Führungsetagen gefragt, ihm wurden Stellen angeboten. Diese lückenlose Darstellung der bisherigen Tätigkeiten war entscheidend für sein berufliches Weiterkommen, was ihn schließlich in ein weltweit agierendes Top-Unternehmen in die Schweiz führte, wo er seine Frau kennenlernte und später mit ihr eine Tochter hatte. Er war darum bemüht, Privat- und Berufsleben stets eng aufeinander abzustimmen. Das ständige Umziehen in andere Städte wurde jedoch zur Belastung, die zur Trennung von seiner Frau und dem Kind führte. Zudem kam es im Unternehmen zu internen Machtkämpfen, Fred verlor nach nervenaufreibenden Auseinandersetzungen im Alter von 52 Jahren seine Stelle. Die internationale Krise im Maschinenbau verhinderte einen sofortigen Wiedereintritt in adäquater Position. Dank hoher finanzieller Absicherung konnte er nach der Aussteuerung weiterhin komfortabel leben. Dennoch suchte er mehrere Jahre vergebens nach einer neuen Stelle. Freds Pläne, wieder nach Australien zurückzukehren, um dort – so war er überzeugt – ganz sicher wieder einen seiner Qualifikation entsprechenden Arbeitsplatz zu finden, scheiterten, weil ihm die Erziehungsberechtigung seiner Tochter abgesprochen worden wäre. Ohne sein Kind wollte er die Schweiz nicht mehr verlassen. Ein Bruch in der Laufbahn, mehrere Jahre ohne Führungsaufgaben, erfolglose Bewerbungen auf leitende Positionen außerhalb seines Kernbereichs (jedoch mit den geforderten Qualifikationen) und die familiäre Belastung griffen seine Gesundheit an. Fred war damit konfrontiert, sein Haltungskonzept der permanenten sozialen und beruflichen Etablierung, verbunden mit der unbedingten Abstimmung des Privatlebens auf Arbeitsort und Karriere, aufzugeben und Anpassungen vorzunehmen. Dies gelang ihm jedoch nicht mehr: Fred, der international erfahrene und systemisch agierende Manager scheiterte zunehmend an der prekären beruflichen Situation, die durch branchenfremde und kurzfristige Einsätze bestimmt wurde. Hatten Kreativität, Ausnahmeregelungen und Spontaneität bei Fred bisher keine große Rolle gespielt, so musste er nun lernen, Ideen außerhalb einer normierten Berufsqualifikationen zu entwickeln, um eingefahrene Bahnen verlassen zu können. Damit verstieß er gegen die Regeln in seinem ehemaligen Berufsfeld; mögliche Arbeitgeber sahen darin Unlesbarkeit, Inkonsistenz und Unplanbarkeit des möglichen Kandidaten. Human-Resources-Verantwortliche aus anderen Branchen hingegen konnten sich nicht vorstellen, dass ein ehemals erfolgreicher Manager plötzlich auch eine andere berufliche Ausrichtung suchte und berufliche Erfüllung anstatt einer Schlüsselposition als neues Haltungskonzept formulierte.
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Ein Arbeitgeber kann aufgrund des soeben dargestellten Haltungskonzepts strategische Entscheidungen fällen; die Risiken bleiben für ihn kalkulierbar, denn er weiß, wie die qualifizierte Person Führungsverantwortung versteht. Und er weiß, dass für den interessierten Stellenbewerber Aufgaben nur in führenden Positionen in Frage kommen, andernfalls ein baldiger Stellenwechsel wahrscheinlich ist, wenn die beruflichen Aufgaben unbefriedigend sind; hier ist, wie oben skizziert, die mögliche, in der Zukunft liegende Entscheidung deutlich erkennbar. Fred ist sich bewusst, dass die Erkennbarkeit des eigenen Haltungskonzepts im beruflichen Umfeld für Beförderungen oder Aufgabenzuteilungen von großer Bedeutung ist. Die langjährigen Erfahrungen haben das Haltungskonzept verfeinert. Er hatte es lange vermieden, in der beruflichen Planung außerkonzeptionelle Entscheidungen zu fällen – branchenspezifisch hatte er permanent darauf zu achten, eine »normale« Berufskarriere vorweisen zu können, ohne Unterbrechungen oder Abschweifungen. Mit zunehmendem Alter berufstätiger Personen zeichnet sich in der Arbeitsbiographie deshalb ein Haltungskonzept ab, das ausdifferenzierter ist als bei jungen Stellensuchenden. Wird jedoch, wie im Falle von Fred, ein branchenerfahrener Manager gegen sein Haltungskonzept in eine allgemeine Weiterbildung für Führungspersonen ohne Nutzen für die spezifische Karriereplanung geschickt, entstehen individuelle Konflikt- und Krisensituationen, die für Außenstehende und Betreuende in Arbeitsvermittlungsstellen nicht mehr nachvollziehbar sind. Mit anderen Worten: Fred wird in den Augen der betreuenden Institutionen der arbeitssuchende hochqualifizierte Unternehmensführer bleiben, dessen Handlungskonzept nicht mehr verstanden wird. Betrachten wir ein institutionelles Haltungskonzept, das ich dem Bereich ReIntegration in den Arbeitsmarkt entnehme. Die sozialstaatlichen Programme, Menschen bei Arbeitslosigkeit finanziell über eine bestimmte Zeit zu unterstützen, sind permanent ausdifferenziert worden. Weiterbildungen sind nach wie vor die bevorzugte Wahl, Geringqualifizierte (jeden Alters) arbeitsmarkfähig zu halten. Das gelingt dann, wenn genügend Arbeit, auch für Geringqualifizierte, vorhanden ist. Eine abgeschlossene Lehre, eine Hochschulausbildung und die kontinuierliche Spezialisierung waren für die allermeisten Berufstätigen lange Zeit Garanten für die berufliche Integration. Dieses Idealbild aus den prosperierenden Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg ist tief in den Fördermaßnahmen verankert. Das System der ununterbrochenen Karriere, die Loyalitätsbekundungen zwischen Arbeitnehmer/innen und Unternehmen (sozialer Frieden) waren entscheidend für die individuelle Kontinuität und Prosperität. Die Dynamiken am Arbeitsmarkt haben dieses Prinzip aufgehoben. Doch der Gedanke des Helfens und Unterstützens im System der sozialen Sicherheit blieb weiterhin erkennbares
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staatliches Haltungskonzept mit den bekannten Ansätzen: Für jugendliche Arbeitslose und die schlechtqualifizierten oder ungelernten Stellensuchenden stehen öffentliche und private Integrationsmaßnahmen zur Verfügung.23 Bei der Re-Integration der älteren hochqualifizierten Arbeitssuchenden besteht ein Defizit – die sozialstaatlichen Maßnahmen sind schlicht noch nicht auf sie eingestellt. Aus den politischen Debatten wissen wir, dass dazu unterschiedliche Lösungsvorschläge vorliegen; aber eine Einigung kann Jahre dauern, wobei sich sogar auch eine gewisse Reformresistenz einstellen kann. Während wir es bei den institutionellen Haltungskonzepten mit sozialpolitischen Fragen und Rahmenbedingungen von großer Stabilität zu tun haben, bleibt das individuelle Haltungskonzept diesen Determinanten unterstellt, es arrangiert sich damit oder muss sich gegen Widerstände durchsetzen.
D AS H ANDLUNGSKONZEPT Ich komme zum zweiten Teil des Begriffspaares, dem Handlungskonzept: Das permanente Abstimmen der eigenen Handlung mit der Umwelt basiert auf Erfahrungen, die im Rahmen des Haltungskonzepts gemacht werden. Die Erfahrung, dass eingeübte Verhaltensmuster in sich ändernden Situationen nicht zum Ziel führen, verlangt nach einer Konzeptualisierung, die offener ist. Dennoch gibt es Einschränkungen in der Wahl des Konzepts, sonst droht eine Konzeptlosigkeit, die es der sozialen Umwelt (zu dieser gehören auch die Biographieforscher/innen) erschwert, den Einzelnen einzuordnen. Menschen entwickeln ein Modell ihres Handelns, damit die »Funktion von Persönlichkeitskonzepten verständlich wird«24. Das Handlungskonzept lässt sich als ein in erster Linie dem Individuum zugeschriebenes Merkmal definieren, das seine Handlungen im gewählten Lebensbereich auszeichnet. Es wird durch das Haltungskonzept bestimmt – beide Konzepte beziehen sich aufeinander. Es ist der sozialen Umwelt mitteil- und erklärbar und wird persönlichen Bedürfnissen angepasst. Auch Institutionen, Gruppen oder Unternehmen weisen ein Handlungskonzept auf, das immer wieder überprüft und angepasst werden muss, jedoch immer in nachvollziehbarer Weise für die Umwelt. Eingehalten wird dieses im Unterschied zum individuellen Handlungskonzept durch repräsentierende Personen (Abgeordnete, Parteiführung),
23 Vgl. Drilling 2004. Zur Kritik an den staatlichen Integrationsprogrammen vgl. Blattmann/Merz 2010. 24 Steinert 1972: 43.
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Richtlinien (Corporate Governance, Gesetze) oder Überlieferungen (Traditionen, Bräuche). In der Forschungsliteratur werden oftmals die Begriffe Handlungsstrategie oder Handlungsmuster verwendet, jedoch ohne eine Instanz zu nennen oder eine Verknüpfung herzustellen, um die beschreibbaren Handlungen und ihren Ursprung einander zuzuordnen. Der Begriff Strategie weist darauf hin, dass Menschen in ganz bestimmten Momenten berechnend oder planend vorgehen, um neue Wege oder Lösungen zu finden. Der Begriff Handlungsstrategie wäre mit Vorbehalt anwendbar, wird aber, um die Wechselbeziehung zum Begriff Haltungskonzept zu unterstreichen, hier durch Handlungskonzept ersetzt. Entscheidend für das Handlungskonzept ist die Wiedererkennbarkeit der Handlungen in unterschiedlichen Situationen und in der Darstellung biographischer Stationen. Der Begriff Handlungskonzept betont eine Vorgehensweise, die auf bereits erprobte, bewährte Handlungen zurückgreift. Während des Analyseprozesses wissen wir noch nicht, ob es sich bei den Handlungen einer Person um Gewohnheiten (unhinterfragte Übernahme von Traditionen), um Anzeichen von kognitiver Dissonanz25 oder um eine konzeptlose Form übereilten Entscheidens handelt. Die Kenntnis eines außergewöhnlichen Ereignisses wie etwa des unerwarteten Stellenverlusts und die daraus folgenden Handlungen im Zusammenspiel mit dem Haltungskonzept geben uns nach und nach weitere Antworten, die das Handeln in außergewöhnlichen Situationen erklären. Ein weiteres Beispiel aus meiner Untersuchung zur wechselseitigen Abhängigkeit von Haltungs- und Handlungskonzept soll dies veranschaulichen: Eine 56-jährige Kaderangestellte, die seit Beginn ihrer Ausbildung und bis zu ihrer Entlassung immer darauf geachtet hatte, Karriereschritt für Karriereschritt zu planen, wird diesem Handlungskonzept treu bleiben, sofern die Erfolgschancen überwiegen. Ein Erwerbsausfall wird dieses bis dahin erfolgreiche Konzept ablösen: Entscheidungen werden nun dahingehend gefällt, dass statt der Karriere der Wiedereintritt in die Erwerbsarbeit prioritär in der Berufsplanung wird. Das Handlungskonzept in Bezug auf die Berufskarriere hat sich geändert und richtet sich nun nach dem Haltungskonzept Statuserhalt. Damit liegen uns Ereignisse vor, die die Änderung in den beiden Konzepten provozierten; nicht immer sind jedoch Ort, Zeit oder externe Einflüsse so klar erkennbar. Nun gilt es zu analy25 Die Interviews haben gezeigt, dass die befragten Personen oft gegen Widerstände ankämpfen mussten, beispielsweise in der Aufrechterhaltung ihres Verdienstes. Es wurden Situationen in den Interviews erwähnt, die aufgrund institutioneller Vorgaben (durch eine Firma, ein Amt usw.) widersprüchliches Handeln oder eine widerstrebende Haltung evozierten. Teilweise wurden diese Widerstände oder Widersprüche zwar selbst von den Betroffenen ganz klar erkannt, dennoch aber aufrechterhalten.
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sieren, ob die feststellbaren Handlungsentscheidungen wahl- oder ziellos sind oder ob sie dem bewährten Konzept folgen. Die scheinbar außerplanmäßige Bemühung um die Fortführung von Erwerbsarbeit zeigt sich für Außenstehende (dazu gehören Familienmitglieder wie auch Personalverantwortliche) in einer Form, die nur als Unkoordiniertheit erkennbar ist. Mögliche Gründe können sein, dass aufgrund des Alters der Arbeitssuchenden eine Karriere im gewählten Beruf nicht mehr möglich ist oder die Finanzierung des Lebensunterhaltes (Kinder in Ausbildung, Hypothekenbelastung, Elternunterstützung usw.) allem übergeordnet werden muss – im schlechtesten Fall folgen auf eine koordinierte Karriereplanung prekäre Berufsverhältnisse, wie sie zunehmend zu beobachten sind.26 Erfahrene Berufstätige wissen, dass erkennbare Handlungskonzepte für die eigenen Machtchancen entscheidend sind und mit den Vorgaben arbeitsmarktlicher Strukturen in Übereinstimmung gebracht werden müssen. Jedoch sind oft auch ältere stellensuchende Kaderangestellte in extremen Fällen auf externe Hilfe angewiesen, um ihre Handlungskonzepte (Wahl der Weiterbildungen, Umschulungen oder Beschäftigungsmöglichkeiten) weiterhin lesbar zu halten. Das Gleiche gilt für überindividuelle Handlungskonzepte von Organisationen: Ein staatliches Handlungskonzept schafft Übersicht und dient der Stabilität. Werden Ansätze von Uneinheitlichkeit evident (Willkür, Korruption, aber auch drastische Sparmaßnahmen und Abbau von Privilegien), regt sich Widerstand bei den Betroffenen. Kritik kann aber auch an unzeitgemäßen (anachronistischen) Handlungskonzepten laut werden, wenn sie nicht mehr in die veränderte soziale, kulturelle oder ökonomische Umwelt passen. Reformen auf rechtsstaatlicher Basis dienen in solchen Situationen dazu, die Kompatibilität mit den institutionellen Haltungskonzepten wiederherzustellen.
D IE ANALYSE DES H ALTUNGSKONZEPTS : F ALLKONTRASTIERUNG Die Analyse des Haltungskonzepts unter den sozialstaatlichen »Normalbedingungen« war der entscheidende Gedanke, der mich bei meiner Untersuchung von älteren und gut ausgebildeten Stellensuchenden geleitet hat. Gerade die auf den ersten Blick sehr ähnlichen Ausgangslagen der Interviewten in der amtlichen Abarbeitung der Arbeitslosigkeit ließen, sofern man alleine die Handlungskonzepte beschrieb, kaum eine Kontrastierung der Fälle zu. Extremfälle, wie sie in
26 Vgl. Damitz 2007.
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der analytischen Arbeit der Biographieforschung eingesetzt werden, waren allenfalls in Detailfragen anzutreffen (beispielsweise zu Gesundheit oder im Bereich Finanzen). Der Grund lag darin, dass der »idealtypische Stellensuchende« durch die gesetzlichen und stellenmarktlichen Vorgaben quasi definiert ist: Ungeachtet der Herkunft, der beruflichen Qualifikation und Dauer der Arbeitsverhältnisse werden neu angemeldete Stellensuchende in einen einheitlichen Prozess überführt, sie erfahren größtenteils die gleiche Beratung, müssen Einführungskurse absolvieren, Standortbestimmungen von Drittanbietern (Beratungsunternehmen für Stellensuchende, Coachingfirmen, Kursanbieter usw.) durchlaufen und Bewerbungsnachweise vorlegen. Umso aussagekräftiger waren Fallkontrastierungen im Haltungskonzept der Interviewten, ausgehend von der vertikalen Analyse. Sie lieferten eindeutig mehr Informationen zu den gemeinsamen Merkmalen Alter 50plus und Stellensuche trotz Erfahrung und Qualifikation. Die Handlungskonzepte für einen Wiedereintritt gewannen an Kontur, wurden verständlich, ihre Verknüpfung mit den Daten aus der vertikalen Analyse machte die Einzelfälle kontrastierbar. So fanden Personen, die zeit ihres Berufslebens Neues versucht hatten, eher Wege, um die Zeit nach der Aussteuerung zu finanzieren und allenfalls ergänzende Einnahmequellen zu generieren. Hingegen waren diejenigen im Nachteil, die an ihrem Beruf festhielten und für die ein Wechsel unvorstellbar war;27 die Folge war oft eine prekäre Arbeitssituation ohne wirkliche Lesbarkeit und Koordination zwischen den Erwerbsstellen. Personen, die von Anfang an auf die Karten Karriere und Führungsposition gesetzt hatten, gerieten in eine private und berufliche Krise, weil sich ihre Vorstellungen mit den Angeboten nicht deckten (oder weil sie wegen dieser Ansprüche aus machtstrategischen Gründen in den Unternehmen nicht berücksichtigt wurden). Stellensuchende, die seit Beginn ihres Berufslebens materiellen Wohlstand anstrebten und berufliche Entscheidungen nach den Verdienstmöglichkeiten ausrichteten, waren nicht mehr zwingend auf die berufliche Re-Integration angewiesen. Hingegen waren Personen, die in erster Linie einen beglückenden Beruf suchten (und öfters wechselten, ohne die finanzielle Seite stark zu gewichten), von Armut bedroht und konnten keine finanziellen Eigenleistungen (Werbung, Homepage, Mobilität) zum Wiedereinstieg beitragen, was ihre Chancen minimierte. Personen, die mehrere Berufe (mit Abschluss) ausgeübt hatten, griffen auf früher erlernte Berufe zurück und blieben vorerst flexibel und für weitere Ausbildungen offen. Personen mit hochspe27 Oft auch bedingt durch Konzentrationen in den Branchen. Gerade die Zusammenlegungen von Unternehmen (zum Beispiel Banken oder Detailhandel) lassen die Auswahlmöglichkeiten von Stellen sinken, was in einem kleinen Land wie der Schweiz eine wichtige Rolle spielt.
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zialisierten Berufen (Forschung, Wissenschaft) waren jedoch – abhängig von der jeweiligen Branche – ohne wirkliche Alternativen und benötigten individuelles Coaching in der Re-Positionierung ihrer Qualifikationen. Für die Arbeitslosenverwaltung sind diese Fälle jedoch »Normalfälle« – ohne tiefer gehende Unterschiede –, die mit den bestehenden Maßnahmen (welche sich traditionell an ein anderes Zielpublikum richten) auf den Arbeitsmarkt vorbereitet werden müssen. Anhand der aufgezählten Beispiele wäre es jedoch naheliegend, die Einzelfälle gerade nicht einheitlich zu behandeln, sondern sich an den jeweiligen Haltungskonzepten zu orientieren und gezielt Maßnahmen, Betreuung oder weitergehende Beratung anzubieten. Es ist allerdings in der derzeitigen angespannten Arbeitsmarktlage, mit der Zunahme der Betreuungsfälle schwer vorstellbar, Einzelbetreuungen einer immer mehr aus dem Arbeitsmarkt ausgegrenzten älteren Arbeitnehmerschaft anzubieten, die eine individuelle Laufbahn zurückgelegt hat und nicht einfach einer Pauschalbeurteilung unterworfen werden dürfte. Mit diesem Umstand sind auch die Arbeitgeber konfrontiert: Die hohe Zahl der eintreffenden Bewerbungen werden nach Geburtsjahr, Zahl der standardisierten Diplome, Einheitlichkeit der Karriereabwicklung oder den international immer stärker normierten Ausbildungen sortiert. Das vorgestellte Verfahren der Biographieforschung blickt »hinter« die erfahrbaren Handlungskonzepte, um sie im Zusammenspiel mit den Haltungskonzepten zu verstehen. Bei eingehender Analyse entdecken wir – und das ist das Ziel meines Vorschlags – adäquate oder widersprüchliche, auf bloßer und unhinterfragter Routine ausgeführte oder konzeptionelle Handlungen in Form von Entscheidungen, Initiativen oder Reformanstrengungen. Ihre angemessene Beurteilung führt uns näher an eine mögliche Krisenbewältigung heran.
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Die interessantere Zeit? Berufsbiographische Erzählungen über den Wandel der Arbeitswelt im Hamburger Hafen J ANINE S CHEMMER
»Der Umschlag der Container ist das, was Hafenarbeiter heute überwiegend machen. Die ursprünglich so interessante Arbeit, die man noch riechen konnte, die noch Krach und mitunter auch noch Spaß machte, die aber auch harte Arbeit war, gerät völlig in den Hintergrund.«1 So beschreibt Bernt Kamin-Seggewies, selbst ehemaliger Hafenarbeiter und heute in der Personalabteilung des Hamburger Gesamthafenbetriebes tätig, in einer Publikation über den Arbeitsplatz Hafen die Unterschiede der Hafenarbeit vor und nach dem Aufkommen der Container. Abgesänge auf die verlorengegangene Arbeitswelt in Zeitungsartikeln, Fernsehbeiträgen sowie Publikationen gibt es unzählige. Mit der Transformation der Arbeit wurde auch der Ton der Geschichten über den Hafen ein anderer. Nicht selten tragen sie romantisierende Züge, wie beispielsweise im Vorwort eines Bildbandes über Hafenarbeiter: »Der Hafen verändert sich, liebgewordene Bilder aus Kindheitstagen verblassen, das Tor zur Welt wird von Automaten beherrscht und der Mensch zum Zuschauer gestempelt.«2 Neben der veränderten Atmosphäre des Arbeitsraumes durch die Automatisierung wird dabei auf die Dominanz der Maschinen und das Verschwinden der Arbeiter Bezug genommen. Dabei folgen die Berichte häufig einem Schema: Maschinen ersetzen Menschen, Computer ersetzen Muskelkraft, Automation und Rationalisierung verdrängen Exotik, Freiheit und Abenteuer – der alte, dynamische, atmosphärische Hafen wird dem neuen, leblosen, technischen Hafen gegenübergestellt. In einem Bericht der taz setz-
1
Kamin-Seggewies 2008: 113.
2
Von der Grün 1981: ohne Seitenangabe.
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te die Autorin ein Containerterminal sogar mit einem Hochsicherheitstrakt im Gefängnis gleich.3 Wie aber schildern und verhandeln ehemalige Hafenarbeiter selbst den Prozess, der in den letzten Jahrzehnten im Hamburger Hafen vonstatten ging? Die Perspektive der Akteure auf den Arbeitsplatz, ihre Erzählungen über die Wandlungsprozesse stehen im Mittelpunkt meines Dissertationsprojektes. 25 berufsbiographische Interviews bilden das Material der Analyse.4 Meine Interviewpartner haben zwischen 1950 und 1970 mit der Hafenarbeit begonnen, waren dort fast das gesamte Arbeitsleben hindurch in verschiedenen Berufen beschäftigt und haben die sektoralen Umbrüche miterlebt. Nachdem 1968 das erste Vollcontainerschiff den Hamburger Hafen erreicht hatte, wandelten sich in den Folgejahrzehnten technische Einrichtungen, berufliche Qualifikationen, organisatorische sowie räumliche Strukturen und auch das soziale Umfeld, das die Arbeiter umgab und umgibt. Mit der technischen Transformation ging außerdem die Musealisierung der traditionellen Hafenarbeit einher und wurde sowohl von städtischer Seite als auch von ehemaligen Hafenarbeitern vorangetrieben. In diesem Kontext gründete sich als Außenstelle des Museums der Arbeit das Hafenmuseum Hamburg, in dem sich bis heute ehemalige Hafenarbeiter engagieren, von denen einige Teil meines Interviewsamples sind. Diese Musealisierung der Hafenarbeit bildet ein weiteres Thema meiner Studie. Der Schwerpunkt der Analyse liegt auf dem Sprechen über die Transformation der Arbeitskultur und des Berufsbildes. Nicht nur Letzteres wandelte sich mit den technischen Neuerungen. Diese wirkten sich vor allem auch auf das Selbstverständnis der Arbeiter aus, wie sie in ihren Positionierungen zum Ausdruck bringen. Die »Frage nach den Bedingungen, unter denen soziale Akteure sich technische Artefakte aneignen und in ihren alltäglichen Lebensstil eigensinnig einbauen können bzw. unter welchen Bedingungen sie den Technisierungsprozessen alternativlos ausgeliefert sind […]«5, ist in diesem Kontext von Relevanz. Stefan Beck verweist zudem auf »die zentrale Rolle, die Diskurse für den Umgang mit Technik spielen.«6 Der Container, der, so Konrad Köstlin, als »Sündenbock der Moderne«7 fungiert, ist mittlerweile zu einem der zentralen Symbole für die Automatisierung von Arbeit geworden, und diverse Disziplinen 3 4
Vgl. Kunze 2005. Da im Bereich des Hafenumschlags über Jahrzehnte fast ausschließlich Männer tätig waren, sind Frauen nicht Teil meines Samples, jedoch untersuche ich das Sprechen über Frauen im Hafen.
5
Beck 1997: 209.
6
Ebd.: 354.
7
Köstlin 2003: 42.
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setzen sich mit den Auswirkungen der Containerisierung auseinander. Diese Kontexte und deren Verflechtungen werden in der Untersuchung zusammengeführt und herausgearbeitet. Nachfolgend präsentiere ich erste Ergebnisse und Herangehensweisen meiner Analyse und zeige die Auswirkungen und Wahrnehmungen technischer, sozialer sowie räumlicher Entwicklungen und den Umgang mit diesen exemplarisch anhand dreier Berufsbiographien auf.
ARBEITER
IM
H AFEN
Für den Wandel des Berufsbildes sowie das Selbstverständnis ist neben der Qualifizierung, die an späterer Stelle aufgegriffen wird, vor allem die Entwicklung der Arbeitsorganisation von Bedeutung. Vom Kaiserreich bis zum Ende der NSZeit setzte sich die Hafenarbeiterschaft neben fest angestellten Arbeitern vor allem aus ungelernten Gelegenheitsarbeitern zusammen, welche die Be- und Entladearbeiten der Schiffe durchführten.8 Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Hamburger Politik sowie der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) daran gelegen, den Arbeitsplatz sozialer zu gestalten und Hafenarbeit ausschließlich nach dem Hafentarif zu entlohnen. Dieser war 1951 mit der Einrichtung des Gesamthafenbetriebs (GHB), eines Arbeitskräftepools, eingeführt worden. Dem GHB kam die Aufgabe zu, »stetige Arbeitsverhältnisse für Hafenarbeiter im Hafen Hamburg zu schaffen.«9 Sicherheit gab dieser Betrieb vor allem den unständig Beschäftigten im Hafen, die nicht bei einem Einzelbetrieb angestellt waren und nur angefordert wurden, wenn viele Arbeitskräfte benötigt wurden. Durch den GHB war diesen ein festes Einkommen sicher, das ihnen auch bei Nichtbeschäftigung zustand.10 Eine positive Folge dieser strukturellen Entwicklungen für die Seite der Arbeitgeber war dabei, dass die Streikbereitschaft der Beschäftigten stark zurückging. Seither gibt es im Hafen drei Arten von Arbeitnehmern: diejenigen, die bei einem Hafeneinzelbetrieb (HEB) angestellt sind, die Gesamthafenarbeiter, die beim GHB beschäftigt sind, sowie die Aushilfsarbeiter, sogenannte Unständige, deren Einsatz bis heute Anlass zur Diskussion gibt. Letztere prägten lange Zeit das Bild des freiheitsliebenden, un-
8
Vgl. Grüttner 1984a: 80; Weinhauer 1994: 19.
9
Jahresbericht der Gesamthafenbetriebs-Gesellschaft m.b.H. 1979: 7.
10 Getragen wird der sogenannte Garantielohn für die GHB-Arbeiter durch den Hafenfonds, der zur Finanzierung der Leerläufe in beschäftigungsschwachen Zeiten dient. Dieser kommt durch Umschlagsentgelte zustande, die alle im Hafen ansässigen Hafeneinzelbetriebe in ihren Rechnungen erheben und an den GHB abführen.
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abhängigen Arbeiters,11 das medial über Jahrzehnte konstruiert und aufrechterhalten wurde und mit dem bis heute zahlreiche stereotype Assoziationen verflochten sind, die es in der Untersuchung aufzubrechen gilt. In vielen Publikationen über den Hamburger Hafen (sowie andere Häfen) erscheint die Arbeiterschaft allein durch die Berufsbezeichnung »Hafenarbeiter« als homogene Berufsgruppe, der häufig kollektive Werte wie Solidarität und Eigensinn zugeschrieben werden. Bei der Interviewanalyse relativieren sich diese Annahmen. Die im Hafen Beschäftigten waren in unterschiedlichsten Berufen und hierarchischen Positionen tätig. Die Technisierung zog für viele Arbeiter die Qualifizierung vom angelernten bzw. unständig beschäftigten Arbeiter zum Facharbeiter nach sich. Die individuellen Berufsbiographien meiner Interviewpartner sind vielfältig, und ihre Selbstwahrnehmungen setzen sich aus unterschiedlichen Aspekten zusammen. Die Vielfalt der Hafenberufe brachte verschiedenartige Erfahrungsräume hervor. Neben dem Beruf und der erworbenen Qualifikation spielt vor allem die Betriebszugehörigkeit eine wichtige Rolle für ihr Selbstverständnis.12 Je nach Herkunft, Berufseinstieg, ausgeübter Tätigkeit und gesammelten Erfahrungen unterscheiden sich folglich die Inhalte sowie die Darstellungsformen in den Erzählungen.13 Ausschlaggebend für die unterschiedlichen Leitlinien des Erzählens sind der zeitliche Einstieg in den Beruf, die berufliche Position, die Qualifizierung während des Berufslebens sowie die Organisationsstruktur der Arbeit.
T RADITIONEN – H ANDARBEIT
UND
E RFAHRUNG
Die hier vorgestellten Interviewpartner stammen aus dem Arbeitermilieu. Bei allen dreien erfolgte der berufliche Einstieg über familiäre Beziehungen und Kontakte. Ulrich Schwoch (Jg. 1938) war mehrere Jahre als selbstständiger Konditor tätig. Schon sein Vater fuhr zur See, und auch ihn reizten der Hafen und die Seefahrt, wie er direkt zu Beginn des Gesprächs unterstreicht. Nachdem ein Konditor-Kollege aus gesundheitlichen Gründen in den Hafen wechselt, beginnt auch er 1970 schließlich mit der Umschulung zum Quartiersmannsgehilfen, qualifiziert sich bald zum Vormann und ist fortan bei einem Hafeneinzelbetrieb in der Speicherstadt tätig. Paul Wonner (Jg. 1951) absolviert 1966 eine Lehre als Quar-
11 Vgl. Grüttner 1984b: 273. 12 Arbeiter des Gesamthafenbetriebes wurden beispielsweise erst 1967 den Arbeitern von Hafeneinzelbetrieben tariflich gleichgestellt (vgl. Helle 1960: 7f.). 13 Vgl. Schemmer 2015.
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tiersmann.14 Seine Entscheidung dafür begründet er im Gespräch als quasi natürliche Entwicklung: »Ja, das ging eigentlich darum, dass meine Familie eigentlich Hafenarbeiter waren. Mein Vater war im Fischereihafen damals noch als Unständiger, also das ist so Tagelöhner, am Fischereihafen beschäftigt. Mein Bruder ist auf’n Fischdampfer gefahren, und mein anderer Bruder hatte vor mir [...] die Lehre angefangen als Quartiersmannsgehilfe, im Hamburger Hafen.«15
Wonner beschreibt seinen Berufseinstieg als Teil einer familiären Tradition, in die er sich bewusst einreihte, und auch bei Schwoch drückt sich die familiäre Bindung an die See und den Hafen aus, er unterstreicht aber zudem den guten Verdienst im Hafen im Vergleich zur Konditorei. Erwin Meier (Jg. 1948) trat 1963 seine Lehre zum Binnenschiffer an. Auch er entschied sich aus ökonomischen Gründen schließlich gegen die Binnenschifffahrt und für die Arbeit im Hafen, wovon ihn sein Bruder überzeugte, der bereits beim GHB beschäftigt war: »Und denn hat er gesagt, ›Du, weißt Du was, komm mit, bei uns kannst Du Geld verdienen.‹«16 Meier betont zudem, dass er im Hafen schnell einen besseren Verdienst hatte als sein Vater, der als LKW-Fahrer beschäftigt war. Die ökonomische Perspektive wird in vielen Gesprächen als ein attraktiver Aspekt der Hafenarbeit hervorgehoben. Durch das Hamburger Drei-Schichten-System war der Arbeitseinsatz rund um die Uhr möglich, was vielen Arbeitern – durch anstrengende Schichtarbeit – finanzielle Sicherheit bot. Des Weiteren beschreiben die Interviewpartner die traditionellen Tätigkeiten selbst als reizvoll. Durch zum Teil täglich variierende Einsatzorte kamen gerade die GHB-Arbeiter im ganzen Hafengebiet zum Arbeitseinsatz. Zudem standen die Männer durch den Umschlag verschiedenster Waren regelmäßig neuen Aufgaben und Herausforderungen gegenüber, was die Beschäftigung abwechslungsreich machte. Den besonderen Charakter der ursprünglichen Hafenarbeit schreiben viele Interviewte der Teamarbeit zu, die für schnelle und kraftsparende Arbeitsabläufe wichtig war. Gerade die Handarbeit wird stets als Charakteristikum für die Zeit vor dem Container genannt. Zum einen wird dabei der Einsatz der 14 Aufgabe des Quartiersmanns war u.a. die Kontrolle der Warenqualität. Der Beruf war einer der vier traditionellen Lehrberufe im Hamburger Hafen. Weitere Lehrberufe waren der Tallymann, der Ewerführer sowie der Kornumstecher. 1975 wurden sie im Seegüterkontrolleur zusammengefasst. Die Lehrberufe waren in unterschiedlichen Bereichen der Warenlagerung, Ladungskontrolle und des Transports angesiedelt. 15 Interview mit Paul Wonner, geführt am 20.5.2010. 16 Interview mit Erwin Meier, geführt am 9.7.2010.
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Körperkraft im direkten Güterumschlag akzentuiert: »Wir haben ja praktisch, wenn wir auf dem Schiff waren, wir haben ja die Kisten ja von Hand, egal wie groß, unter Deck (gestaut)«17, so Meier. Schwoch, der im Bereich der Warenkontrolle und Beschädigung tätig war, schildert zwar auch die teils harte körperliche Arbeit auf dem Speicher, betont aber vor allem die Fertigkeiten im richtigen Umgang mit Waren wie Kaffee und Kakaobohnen und verweist dadurch auch auf die Besonderheit seiner Tätigkeit. Es waren also zum anderen auch Fingerspitzengefühl und ein Gespür für die Besonderheiten der Waren vonnöten: »[Da] merkt man sofort, wo Feuchtigkeit ist. Nicht, da hat man richtig so ein Gefühl dafür. [...] Das knistert nicht mehr. Da kann man tatsächlich bis zu drei, vier Feuchtigkeitsgrade feststellen. Mit den Fingern.«18 Das Arbeiten mit den eigenen Händen sowie der Einsatz des selbst erlernten praktischen Arbeitswissens werden in den Interviews stets als wertvolle Fähigkeiten benannt. An diesen Schilderungen lässt sich außerdem das atmosphärische Sprechen über eine vergangene Arbeitswelt erkennen. Dabei greifen die Erzähler auf bekannte Bilder und tradierte Erzählmuster zurück, die in der weiteren Analyse einen zentralen Punkt darstellen. Die eigene Leistung, das Expertenwissen, das man sich während der Ausbildung und in den Jahren danach angeeignet hatte, und die daraus resultierende Erfindungsgabe werden von den Männern oft als weitaus bedeutender dargestellt als der Umgang mit Maschinen und technischem Gerät.19 Der körperliche Arbeitseinsatz, die Handarbeit und die dazu benötigte Kraft, aber auch Kopfarbeit und Wissen werden als Grundvoraussetzung für die Arbeit genannt und machen einen Großteil des Arbeitsstolzes aus.20 Diese Fähigkeiten relativierten sich jedoch mit der zunehmenden Technisierung bzw. erfuhren eine Verlagerung.
B ERUFSSTRUKTUREN – T ECHNIK
UND
H IERARCHIE
Das erste Containerschiff in Deutschland erreichte 1966 die Stadt Bremen. Im darauffolgenden Jahr erschien in der Hamburger Hafenzeitung Das Sprachrohr, die vom Gesamthafenbetrieb herausgegeben wurde, unter dem Titel Keine Angst vor dem Container! ein einführender und programmatischer Artikel. Dieser sollte, wie der folgende Textauszug verdeutlicht, den Arbeitern die Bedeutung des
17 Interview mit Erwin Meier, geführt am 9.7.2010. 18 Interview mit Ulrich Schwoch, geführt am 15.11.2010. 19 Vgl. Hörning 2004. 20 Vgl. Vries 2000: 690.
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Containers näherbringen, die zukünftige Arbeit mit ihm erklären und die Angst vor ihm nehmen: »Die Arbeit ist im Grunde angenehmer als beim Beladen eines Seeschiffes nach dem jetzigen Schema. Wir können bereits vor dem Eintreffen des Schiffes die Stauarbeiten erledigen und brauchen nicht mit griesgrämigem Gesicht zur Arbeit zu fahren, wenn es einmal Bindfäden regnet, schneit oder ein eisiger Wind durch den Hafen pfeift. [...] Ein Bild, von dem wir alle schon einmal geträumt haben. [...] So gesehen, sollten wir uns davor hüten, das Kind mit dem Bade auszuschütten und den Container als unseren Feind zu verdammen. Es spricht vielmehr dafür, daß wir eines Tages den Container nicht mehr missen möchten.«21
Die in diesem Zitat angesprochene Sorge der Arbeiter um die Auswirkungen des Containerverkehrs auf ihren Arbeitsplatz ist nachvollziehbar, wenn man einen Blick auf die Zahlen wirft, die die rasche Zunahme des Containerverkehrs verdeutlichen. Während dieser im ersten Jahr am gesamten Stück- und Sackgutumschlag einen Anteil von 2,1 Prozent erreichte, lag er im Jahr 1973 bei 18,2 Prozent und 1982 bereits bei 42,4 Prozent. Im Jahr 1992 wurden schließlich 92 Prozent des Güterumschlags durch Container abgefertigt.22 Politische Parteien und Gewerkschaften erkannten bald, dass für die Bedienung der technischen Gerätschaften Spezialisten nötig waren. Unter Aspekten der Effizienz und Flexibilität wurden die vier traditionellen Lehrberufe im Jahr 1975 im Beruf des Seegüterkontrolleurs zusammengefasst – das bedeutete weniger Waren- und Spezialwissen, dafür aber flexiblere Einsatzmöglichkeiten für viele Arbeiter. In Anbetracht der technischen Entwicklungen bemühten sich Gewerkschaft und Politik außerdem um Fortbildungen für die zahlreichen angelernten Arbeiter.23 So wurde ebenfalls im Jahr 1975 die Fortbildung zum Hafenfacharbeiter eingeführt. Der Arbeitsalltag erfuhr durch die Container jedoch keine abrupte Veränderung, denn über mehrere Jahrzehnte wurde weiterhin Stückgut umgeschlagen. Diesem langen Wandel ist es wohl geschuldet, wenn die Verbreitung der Container aus individueller Perspektive nicht als biographischer Einschnitt beschrieben wird. So berichten die Interviewpartner, dass sie die Behälter anfangs als relativ unbedeutend wahrnahmen, wie Wonner beschreibt:
21 O.V. 1967: 3ff. 22 Vgl. Jahresbericht der Gesamthafenbetriebs-Gesellschaft m.b.H. 1982: 4; vgl. auch Jahresbericht der Gesamthafenbetriebs-Gesellschaft m.b.H. 1979: 3. 23 Diese wurden stark frequentiert, was sich den Jahresberichten des Gesamthafenbetriebs entnehmen lässt.
140 | J ANINE SCHEMMER »Also wir haben immer gelächelt über den Container, wir haben gesagt: ›Das kann nicht angehen.‹ Und zwischendurch kamen ja auch mal wieder Schiffe, die waren hoch beladen mit einzelnen Hölzern, und dann kamen noch Fischmehlschiffe. [...] Dann sind wir auch’n bisschen von dem Gedanken abgekommen, dass der uns da überhaut der Container.«24
Mit der Formulierung »überhauen« bringt er zum Ausdruck, dass der Container zwar langsam Teil des Arbeitsalltags wurde, die Intensität und Auswirkungen der Containerisierung aber dennoch für viele überraschend waren. Ähnlich argumentiert Schwoch: »Da hat man sich [darüber] unterhalten. Aber wir haben nicht gedacht, dass das so schnell geht.«25 Der Topos, nicht an den sogenannten Siegeszug des Containers geglaubt zu haben, ist ein typisches Muster im Erzählen über die auftauchenden Container. Gleichzeitig lässt sich aus den erzählten Berufsbiographien jedoch deutlich herauslesen, dass strukturelle Veränderungen wahrgenommen wurden und die Arbeiter damit umzugehen versuchten, denn die berufliche Weiterbildung und Neuorientierung wird in allen Interviews angesprochen. Die zahlreichen Fortbildungen, an denen Paul Wonner teilnahm, bringt er lapidar auf den Punkt: »Und dann hab ich die ganze Scheinarie gehabt.«26 Beinahe wie eine Nebensächlichkeit beschreibt er seine Qualifizierungen, die verdeutlichen, dass er sich aktiv mit den technischen Geräten auseinandergesetzt und damit auch die Veränderungen mitgetragen hat. Dadurch war er als Gesamthafenarbeiter flexibel in unterschiedlichen Betrieben einzusetzen und bald als Van-Carrier- und Containerbrückenfahrer tätig.27 Auch Erwin Meier legte 1980 die Prüfung zur Bedienung der Containerbrücken ab, sammelte diverse weitere Patente und war in unterschiedlichen Bereichen einsatzfähig: »Ich darf praktisch alles fahren, was sich bewegt.«28 Ulrich Schwoch hingegen kam, nachdem seine Firma in ein weiträumigeres Gelände außerhalb der Speicherstadt umgezogen war, mit Kranen und Großgeräten zwar in Berührung, arbeitete aber selbst kaum damit. Er deutet an, dass der rapide Anstieg des Containerverkehrs ihn und seine Kollegen zwar zunächst verunsicherte, sich aber schnell herausstellte, dass auch positive Entwicklungen damit verbunden waren:
24 Interview mit Paul Wonner, geführt am 20.5.2010. 25 Interview mit Ulrich Schwoch, geführt am 15.11.2010. 26 Interview mit Paul Wonner, geführt am 20.5.2010. 27 Van-Carrier sind Transportfahrzeuge, die Container auf den Terminals bewegen. 28 Interview mit Erwin Meier, geführt am 9.7.2010.
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»Wir haben auch dran gedacht, dass die Arbeit, also nicht auf der Strecke bleiben wird denn, einige-. Aber durch das Aufkommen der Ware, dass immer mehr kam, hat sich das am Ende wieder ausgeglichen. […] Wir haben weitaus mehr Umsatz gemacht.«29
Die persönliche Flexibilität und die neuen beruflichen Möglichkeiten, die sich aufgrund des Technikinteresses boten, bilden in vielen Selbstrepräsentationen ein Erzählmuster und tragen unter anderem dazu bei, eine gewisse Sorglosigkeit und Selbstsicherheit in den Mittelpunkt zu stellen und damit eine Kontinuität im Berufsleben zu akzentuieren. Wonner arbeitete bei verschiedenen Einzelbetrieben, bis er 1981 beim GHB anfing, wo er bis zur Rente in verschiedenen Positionen tätig war, zuletzt im Sozialdienst. Meier wechselte diverse Male den Arbeitsplatz, arbeitete auf Schuppen, Schiffen und am Kai, bis er schließlich 1978 beim größten Hafenbetrieb, der Hamburger Hafen und Logistik AG, beschäftigt wurde. Insgesamt zeichnen sich viele Berufsbiographien durch eine hohe berufliche Flexibilität aus. Allerdings wird aus vielen Erzählungen die Tendenz ersichtlich, dass ab den 1980er-Jahren ein langfristiges Arbeitsverhältnis angestrebt wurde, was sowohl auf eine unsichere Wirtschaftslage als auch auf das höhere Alter der Interviewpartner zurückzuführen ist, die zu diesem Zeitpunkt häufig bereits Familien gegründet hatten.30 Die Bewertungen der Transformation durch Container und Computer unterscheiden sich in den rückblickenden Darstellungen deutlich. Die Auseinandersetzung mit und die Aneignung von Technik schildern die beiden jüngeren Interviewpartner als reizvolle Aufgabe und willkommene Abwechslung zur körperlichen Anstrengung, so Paul Wonner: »Dadurch, dass viel Handarbeit war, hat man auch immer in die Technik reingeguckt. Also das war immer so’n Interesse, dass man sagte: ›Ich möchte auch mal auf’m Kran sitzen.‹«31 Auch Erwin Meier betont diese Motivation: »[...] und denn, ja, wollte ich auch unbedingt Brücke fahren.«32 In diesen Aussagen relativieren sie die zuvor als besonders hervorgehobene Handarbeit. Sie legitimieren sich dadurch als kompetente Techniker und machen die Faszination deutlich, welche die Arbeit mit technischen Geräten auf sie ausübte. Da viele Hafenarbeiter an unterschiedlichen Orten beschäftigt waren, kamen sie mit diversen Geräten in Kontakt, die ihre Neugier weckten. Durch die relativ flexiblen Arbeitseinsätze wurden maschinelle Technik und Handarbeit zum Teil parallel eingesetzt. Während ein großer Teil der Arbeiter weiter im manuellen Umschlag beschäftigt war, stieg die Zahl der technisch qualifizierten 29 Interview mit Ulrich Schwoch, geführt am 15.11.2010. 30 Zur Entwicklung der Hafenwirtschaft vgl. Bartsch 1999: 55f. 31 Interview mit Paul Wonner, geführt am 20.5.2010. 32 Interview mit Erwin Meier, geführt am 9.7.2010.
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Facharbeiter an. Dadurch differierten die Arbeitsweisen der Kollegen mitunter enorm. Das Konfliktpotenzial zwischen technikaffinen jüngeren und eher an der Handarbeit orientierten älteren Arbeitern kommt in den Interviews nur implizit zum Ausdruck, etwa wenn Wonner feststellt: »Wenn man mit älteren Kollegen zu tun hat, gab’s auch welche, die haben gesagt: ›Nee, das ist nicht mein Ding.‹ Die sind dann ewig Stauer geblieben.«33 In diesem Zitat drückt sich auch die Verschiebung des Status aus. Das hierarchische Gefüge unter den Kollegen hat sich mitunter durch die technischen Qualifikationen gefestigt, die sich entsprechend auf das Selbstverständnis auswirkten. Ältere Arbeiter wie Schwoch, die weiter in traditionellen Lehrberufen tätig waren, äußern sich deutlich distanzierter zum Umgang mit Technik als Wonner und Meier, die in den Anfängen des Containerzeitalters die Arbeit im Hafen aufnahmen und zum Zeitpunkt des Interviews gerade erst aus dem Arbeitsleben ausgeschieden waren. Schwoch beispielsweise spricht nicht nur für sich, wenn er erklärt, dass er sich die Arbeit mit dem Computer nicht mehr zumuten wollte: »Wir haben es einfach nicht mehr lernen wollen.«34 Er konnte bis zum Ende seiner beruflichen Karriere in den gewohnten Strukturen weiterarbeiten. Zudem erläutert er, dass er und seine Kollegen beispielsweise Funkgeräte abgelehnt hatten, um nicht ständig erreichbar zu sein und damit unter Kontrolle zu stehen und sich so gewisse Freiräume zu bewahren. Meiner Nachfrage, was sich konkret an seinen alten Tätigkeiten verändert habe, weicht er im Gespräch aus, und erläutert quasi wie nebenbei, dass diese mehr und mehr maschinell abliefen, bewertet jedoch diese Entwicklung nicht. Seinem Beruf konnte er bis zum Ende seiner beruflichen Laufbahn 1999 nachgehen. Weshalb er tatsächlich aus dem Berufsleben ausschied, bleibt unklar; auf meine Nachfrage schweift er bewusst vom Thema ab. Er erwähnt zwar, dass er beim Öffnen eines Containers durch die herausfallende Ladung verletzt wurde, erklärt aber nicht die Folgen, die vermutlich zur Rente führten. Zwar summierten sich unter dem Begriff der Hafenarbeit schon immer äußerst unterschiedliche Berufsprofile. Mit dem Strukturbruch ging jedoch eine langsame hierarchische Verschiebung vonstatten, die im veränderten, »technisierten« Selbstbild vieler Männer ihren Ausdruck findet. Insgesamt brachte der Wandel für viele jüngere sowie ältere Arbeiter den sozialen, beruflichen und finanziellen Aufstieg mit sich. Während man für die jüngere Kohorte von einer Ermächtigung durch Technik sprechen kann, ist zu beobachten, dass diese zu einem Stabilitäts- und Bedeutungsverlust und zur symbolischen Entmächtigung vieler älterer Arbeiter führte. 33 Interview mit Paul Wonner, geführt am 20.5.2010. Stauer waren für das manuelle Entladen der Schiffe zuständig. 34 Interview mit Ulrich Schwoch, geführt am 15.11.2010.
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ARBEITSHANDELN – I NTERAKTIONSMUSTER ATMOSPHÄRE
UND
Während das Sprechen über den technischen Umbruch stark subjektiv geprägt ist, lassen sich im Erzählen über den Wandel von Handlungs- und Stimmungsräumen durchaus kollektive Muster erkennen. Die individuelle sowie kollektive Sinngebung durch die »Aushandlung und Ausgestaltung von Sozialbezügen«35 wird in den Gesprächen in unterschiedlichen Kontexten ersichtlich. Tradierte Arbeitsabläufe und Handgriffe, direkte Kommunikation sowie das gemeinsame Erleben von Arbeitsprozessen prägten den früheren Arbeitsplatz und haben in die Erzählungen Einzug gehalten. »From Shanghai to New York to Marseille to Bombay, self-organisation is a major theme in dock work.«36 Gemeinsames Arbeiten in Gängen, also einer Kleingruppe von bis zu acht Männern, charakterisierte zum großen Teil die Einsätze der Schauermänner und Kaiarbeiter.37 Letztere waren klassische Einstiegsberufe im Hafen, auch für viele meiner Interviewpartner. Zwar gab es Vorarbeiter, jedoch beschreiben viele die relative Autonomie bei der täglichen Arbeit, wo direkte Vorgesetzte häufig abwesend waren. Die Automatisierung der Abläufe verdrängte mehr und mehr Menschen aus dem Hafen, womit auch die sozialen Praktiken eine Veränderung erfuhren. Das individuelle Bedienen der Technik beendete gemeinschaftlich getätigte Arbeitsabläufe, somit ging der »particular character«38 der Arbeit verloren. Die Interviewpartner beschreiben, dass dies zu isolierteren Arbeitsweisen führte. Sie schildern das damit einhergehende Gefühl, das Kollegialitätsgefüge gehe verloren, sowie die veränderten Kommunikationsstrukturen etwa beim Austragen von Konflikten. Mit dem Wegfall der körperlichen Zusammenarbeit verknüpfen viele Erzähler den Rückgang des kollegialen Zusammengehörigkeitsgefühls: »Heute backt jeder sein eigenes Süppchen«, kommentiert etwa Erwin Meier die zunehmend individuell abgewickelten Tätigkeiten.39 Während bei der Arbeit am Kai das Zusammenspiel der Kollegen unerlässlich war, auch um sich gegenseitig die Knochenarbeit zu erleichtern, wird etwa auf Containerbrücken die meiste Zeit allein verbracht. Daher sprechen die Interviewten vom Gefühl räumlicher Isolierung infolge der Bedienung und Aneignung technischer Geräte, die neue Ar-
35 Hengartner 2002: 35. 36 Cooper 2000: 527. 37 Schauermänner waren direkt auf den Schiffen für das Be- und Entladen eingeteilt, Kaiarbeiter waren am Kai und im Schuppen tätig. 38 Cooper 2000: 532. 39 Interview mit Erwin Meier, geführt am 9.7.2010.
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beitsformen mit sich brachten. Paul Wonner bringt die Folgen der absenten Kommunikation mit Kollegen anschaulich auf den Punkt: »Ich bin angefangen auf der Brücke und hab irgendwas nicht so richtig im Griff gehabt und hab mit einmal gesagt: ›Dich krieg ich, dich krieg ich!‹ [...] Also ich hab mit der Brücke gesprochen, tatsächlich.«40 Damit drückt er die Nähe zum technischen Gerät aus, das anstelle eines Kollegen zum »sozial agierenden Gegenüber gemacht wird«, eine Entwicklung, die beispielsweise auch im Umgang mit dem Computer festzustellen ist.41 Soziale Freiräume, die Zwischenmenschliches ermöglichen, verschwanden in den Augen der Interviewpartner ebenfalls weitestgehend. Die gewandelte Form des kollegialen Umgangs wird auch im Austragen von Konflikten spürbar: »Man hatte mal Streit mit’m Kollegen, Mensch da hat man gesagt, ›Du ich hau dir gleich ’n Kantholz auf’n Kopp!‹ ne. [...] Und hinterher hat man sich vertragen. [...] So, heute geht das zu einem Gespräch zu der Inspektion und dann Abmahnung oder was weiß ich, denn wird mit sonst was gedroht, ne. Und dann ist man dran.«42
Konflikte werden laut Wonner nicht mehr während der gemeinsamen körperlichen Arbeit untereinander geklärt, es wird hier beinahe eine Sprachlosigkeit zwischen der älteren und jüngeren Generation dargestellt. Allerdings stellt sich bei diesen Äußerungen die Frage nach der retrospektiven »kulturellen Produziertheit«43 der postulierten Arbeitsgemeinschaft. In den Interviews kommt sehr deutlich zum Ausdruck, dass jeder Arbeiter ambitioniert und zielstrebig vor allem eigene Ziele verfolgte und die persönliche Karriere im Vordergrund stand. Deswegen ist in der weiteren Untersuchung verstärkt der Rolle und dem Stellenwert individueller und kollektiver Konzeptualisierungen sowie deren Funktion für die Positionierungen nachzugehen. Im Übrigen wird in den Erzählungen dennoch stets betont, dass die Arbeit im Großen und Ganzen menschlicher geworden ist. Gerade in den Bereichen der Arbeitssicherheit und Verpflegung fanden wichtige Veränderungen statt. Der Anstieg und die Intensivierung standardisierter Arbeitsabläufe nahm auch auf den Rhythmus sowie die Geschwindigkeit der Tätigkeiten und damit die gesamte Atmosphäre am Arbeitsplatz Einfluss, was in zahlreichen Gesprä-
40 Interview mit Paul Wonner, geführt am 20.5.2010. 41 Vgl. Herlyn 2008: 229. 42 Interview mit Paul Wonner, geführt am 20.5.2010. 43 Hitzler/Honer/Pfadenhauer 2008: 11.
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chen zutage tritt.44 Da viele Tätigkeiten früher stark wetterabhängig waren, konnten einige Waren beispielsweise bei Regen nicht verladen werden, um keinen Qualitätsverlust zu riskieren, und lagerten in der Zwischenzeit auf Schuppen oder Schiffen. Mit dem erhöhten Aufkommen der Container konnte jede Art von Ware zu jeder Zeit und an jedem Ort befördert werden. Das Arbeitstempo und der Leistungsdruck erhöhten sich im Laufe der Zeit stetig, persönliche Freiräume verschwanden mehr und mehr. Auch die Liegezeiten der Schiffe verkürzten sich über die Jahre. Während es je nach Ladungsaufkommen bis zu zwei Wochen dauern konnte, einen Stückgutfrachter zu löschen und neu zu beladen, liegen Containerschiffe heute oft weniger als 24 Stunden im Hafen. Gerade für seine letzten Berufsjahre betont etwa Erwin Meier, dass durch die erforderliche Präzision im Umgang mit technischem Gerät auch der Stressfaktor am Arbeitsplatz enorm gestiegen sei. Er erläutert das erhöhte Arbeitstempo auf der Containerbrücke und betont dabei den Druck, dem er sich durch die Technik ausgesetzt fühlt: »Und wenn du denn mal gerade gesessen hast, und hast mal kurz Luft geholt, und hast eine geraucht, denn guckten die von unten hoch: ›Was ist? Ist die Brücke kaputt oder was?‹«45 Zudem weist Meier auf den erhöhten Stress und die körperliche Belastung hin, die die Bedienung der Geräte mit sich bringt, da stets ein hohes Maß an Konzentration und Präzision erforderlich ist: »Heute, mit der Technik, ich sitz da oben, muss überlegen, muss machen, ich darf keinen Unfall haben, ich muss aufpassen, wie ein Schießhund.«46 Die Qualität und Intensität der Beschleunigung wandelte sich über die Jahrzehnte. Als Meier auf dem Containerterminal einen Unfall verursachte, entschied er sich gegen die Arbeit auf der Containerbrücke und meldete sich beim Sicherheitsdienst des Terminals, auf dem er tätig war. So verbrachte er seine letzten aktiven Jahre als Aufseher und fiel damit der Technisierung zum Opfer. Zum Zeitpunkt des Interviews war er in Altersteilzeit. Insgesamt beschreiben viele Gesprächspartner die Atmosphäre des Arbeitsplatzes Hafen vor der Ankunft der Container alles in allem als bunter und lebendiger. Durch den Einsatz von Container und Computer gehen, wie bereits im Eingangszitat angesprochen, vor allem sinnliche und haptische Eindrücke am Arbeitsplatz verloren – das Anfassen der vielfältigen Güter, der Duft oder auch Gestank der Waren, sowie die Techniken, die dazu nötig waren, unterschiedliche 44 Diese genannten Veränderungen werden in den Gesprächen nicht zeitlich festgemacht, es handelt sich bei den Kategorisierungen immer um das Gegensatzpaar früher – heute. Dieser Vergleich lässt sich in diversen Studien über veränderte Arbeitswelten wiederfinden (vgl. Schultheis/Vogel/Gemperle 2010; Johler/Sparacio 2010). 45 Interview mit Erwin Meier, geführt am 9.7.2010. 46 Interview mit Erwin Meier, geführt am 9.7.2010.
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Materialien und Verpackungen von einem Ort an den anderen zu transportieren. Das »Zusammenspiel der Sinne«47 ist durch die containerisierte, nicht mehr sicht- und fühlbare Ware verschwunden. Insgesamt lassen sich die Verluste, die infolge des technischen Wandels wahrgenommen und beschrieben werden, weniger auf einer ökonomischen als vielmehr auf persönlicher, emotionaler und atmosphärischer Ebene ausmachen.48
D AS H AFENMUSEUM – E RFAHRUNGS - UND E RLEBNISRAUM Die Geschichte der Hafenarbeiter ist eng mit der jeweiligen Entwicklung ihrer Städte verwoben und ist in diesem Kontext zu betrachten.49 Denn auch architektonisch wandelte sich der Hafen: So wurden etwa alte Schuppen abgerissen, moderne Lagerhallen und Terminals erbaut, Speicher zu modernen Büroflächen umfunktioniert sowie zahlreiche Hafenbecken zugeschüttet – dort lagern heute Container. Das Hafengelände hat sich mittlerweile in den Südwesten außerhalb des Stadtzentrums verlagert, während das alte Hafengelände nahe der Innenstadt liegt. Die Gestalt der Stadt sowie des Hafengeländes als »strukturierende[r] und strukturierte[r] Raum«50 erscheint auch in den Interviews über die Hafenarbeit wesentlich. Daher kommt dem »erfahrungsgeschichtlichen Zustandekommen räumlicher Bindungen, aber auch ihrem Fortbestand und ihrer Fortschreibungen«51 in diesem Zusammenhang zentrale Bedeutung zu. Dies wurde deutlich, als ich während meiner Feldforschung mit einem ehemaligen Prokuristen, der über 30 Jahre im Hamburger Hafen tätig gewesen war, zu einer Hafentour verabredet war. Er wollte mich mit seinem Wagen zu einem Firmengelände fahren, verlor durch die neue Straßenführung aber die Orientierung und bog in eine falsche Straße ab. Schließlich verfuhren wir uns auf dem Gelände. Es war ihm sichtlich unangenehm, dass er den richtigen Weg durch »seinen« Hafen nicht mehr finden konnte. Die räumliche Dimension wird nur in wenigen Erzählungen explizit thematisiert, formt jedoch die subjektive Erfahrung. Die Umwandlung und Revitalisierung von deindustrialisierten urbanen Räumen wie brachliegender innerstädtischer Hafenflächen in touristische Destina-
47 Schmidt-Lauber 2003: 213. 48 Vgl. Jeggle 2004. 49 Vgl. Cooper 2000: 539. 50 Hengartner 1999: 16f. 51 Ebd.: 27.
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tionen52 setzte in den 1980er-Jahren ein und ist ein europaweit zu beobachtender Prozess.53 So hat sich ein Teil des alten Hamburger Hafengeländes als Hafencity mittlerweile zusehends vom Arbeits- zum Wohn- und Erlebnisraum Hafen gewandelt. Nachdem im Jahr 2003 die Speicherstadt den Freihafenstatus verlor, siedelten sich vor allem Unternehmen der Kreativwirtschaft sowie Entertainmentbetriebe wie das »Hamburg Dungeon« dort an, wo vor wenigen Jahrzehnten noch täglich Hafenarbeit verrichtet worden war. Der ehemalige Hafenbereich wird als kultureller Ort inszeniert, wobei die Strukturen des alten Hafens als Kulisse und »Milieugeber«54 dienen und dieser historische Blick zur Aufwertung des ehemaligen Hafengeländes beiträgt. Die Anzahl derer, die über den Hafen berichten und Tourist/innen sowie Interessierte durch das Gelände führen, ist in den vergangenen Jahren rapide angestiegen. Die Aneignung des Hafenraumes geschieht durch diverse Protagonist/innen: Stadtmarketing, Wissenschaftler/innen, Künstler/innen bis hin zu selbst ernannten Stadtführer/innen. Die konkrete Geschichte des Hafens, vor allem die seiner Arbeiter, bleibt in Hamburg allerdings unterrepräsentiert.55 Das erstaunt insofern, da der Hafen für die Hamburger Wirtschaftspolitik als auch für das Selbstverständnis und das Marketing der Stadt stets eine zentrale Rolle gespielt hat.56 Als letzte Zeugen des alten Hafens sowie als am Wandel beteiligte Akteure blieben einige ehemalige Hafenarbeiter und Gewerkschafter im Kontext des Umbruchs nicht untätig. Sie waren Ende der 1980er-Jahre an der Entwicklung der Idee für ein Hafenmuseum beteiligt, in dem die alte Arbeitswelt erhalten und erfahrbar werden sollte. Als Außenstelle des Museums der Arbeit wurde dieses schließlich im April 2005 in einem der letzten historischen Kaischuppen eröffnet. Ehemalige Hafenarbeiter sind dort ehrenamtlich tätig, vermitteln den Besuchern als Experten ihre früheren Tätigkeiten und engagieren sich für den Erhalt dieser Infrastruktur. Für Lutz Niethammer bilden im Museum aufbewahrte Erinnerungen die Grundlage für die Formierung eines in der Zukunft anzusiedelnden 52 Vgl. Kirshenblatt-Gimblett 1998. 53 Saniert und umgebaut wird u.a. in Tjuvholmen in Oslo, Holmen in Kopenhagen, den Docklands in London und Dublin, EuroMéditerranée in Marseille, den Havenwelten in Bremerhaven sowie dem Porto Vecchio in Triest (vgl. zu den Wandlungsprozessen auch Kokot 2008). 54 HafenCity Hamburg GmbH 2012. 55 So widmet sich etwa das Internationale Maritime Museum vor allem der Schifffahrt. In der Hafencity ist mit dem Speicherstadtmuseum eine weitere Institution vorhanden, die sich einem Ausschnitt der ehemaligen Arbeitswelt widmet und vor allem Arbeitsgeräte in der Ausstellung präsentiert. 56 Vgl. Rodenberg 2008; Amenda/Grünen 2008: 56ff.
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kollektiven Gedächtnisses.57 Da das »ursprüngliche« Arbeitsfeld Hafen heute nicht mehr vorzufinden ist, bietet sich das Museum als ein Feld für die Forschung an, da es gewissermaßen einen Kristallisationspunkt darstellt, an dem aktuelle Tendenzen im Hafen zusammenlaufen: Das Museum befindet sich mitten im aktuellen Hafengeschehen, gleichzeitig werden dort vor allem ehemalige Arbeitsgeräte ausgestellt. Dort lernte ich auch Erwin Meier sowie Ulrich Schwoch kennen. Nicht nur für die dort tätigen Ehrenamtlichen stellt das Museum einen zentralen Erinnerungsraum dar. In den Interviews auf das Museum angesprochen, bezeichnen es viele Gesprächspartner als bedeutende Institution, da es als einer der letzten Orte an die alte Arbeitswelt erinnert, die sonst nur noch in den Erzählungen existiert. Viele Interviewte erachten das Engagement im Museum für bedeutend und erwägen, sich daran zu beteiligen, wie Paul Wonner: »Vielleicht werde ich mich im Museum melden, also, hier im Hafenmuseum da mit den andern, [...] noch älteren Kollegen da mich mit zusammentun und ’n bisschen den Leuten zeigen, was wir gemacht haben so. Ist ja leider zeigenswert.«58 Auch Erwin Meier merkt sein Interesse am Museum sowie an der Weitergabe seines Arbeitswissens an: »Ich kann auch noch [etwas zu Geräten] sagen, wie damit gearbeitet wurde, und was das für eine Bewandtnis hat.«59 Auffällig an diesen Zitaten ist zudem, dass die Interviewpartner wiederum auf ihr Wissen verweisen, das nun als Legitimation für die ehrenamtliche Tätigkeit angeführt wird. Im Museum (wie auch in den Interviews) präsentieren die ehemaligen Hafenarbeiter in erster Linie ihre eigene Arbeitsgeschichte sowie ihren biographischen Aufstieg vom einfachen Arbeiter zum Fachmann. Für viele Interviewpartner aus dem Hafenmuseum ist dieses ein wichtiger Teil ihrer Selbstverortung und ein Bezugspunkt, an dem sie auch heute noch Anerkennung erfahren in einem Bereich, aus dem sie ausgeschieden sind.60 Durch diese Selbstvergewisserung und die Weitergabe ihrer Kenntnisse finden die Männer im Ruhestand weiterhin als Experten für die Arbeit im Hafen Bestätigung und können ihr Wissen an die Besucher weitergeben. Das ehrenamtliche Engagement mag eine Möglichkeit sein, um mit den vorher genannten ideellen Verlusten umzugehen. Das Museum bildet demnach einen Ort, an dem der Wandel gegenwärtig verhandelt wird. Zudem ist es längst selbst Teil des Erlebnisraumes Hafen geworden. Die-
57 Vgl. Niethammer 2004. 58 Interview mit Paul Wonner, geführt am 20.5.2010. 59 Interview mit Erwin Meier, geführt am 9.7.2010. 60 Zu den Interaktionen im Hafenmuseum vgl. Schemmer 2013b.
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sem Spannungsverhältnis zwischen Authentizität und Erlebnis gehe ich in meiner Analyse ausführlich nach.61
F AZIT : V ERHANDLUNGEN
VON
ARBEIT
Trotz globaler Entwicklungen wie der Containerisierung veränderten sich die Strukturen der Häfen weltweit nicht auf homogene Weise. Die Wandlungen wurden vielmehr durch lokale Organisationsformen und -strukturen beeinflusst.62 Das wird im Vergleich zu anderen Hafenstädten wie Liverpool oder Marseille deutlich, wo andersartige ökonomische und politische Entwicklungsprozesse auch unterschiedliche Formen der Erinnerung hervorbrachten.63 Diese vielfältigen lokalen Auswirkungen und Effekte drücken sich nicht nur in der Gestalt der jeweiligen Hafenstadt aus.64 Sie sind auch in den Handlungen und Erzählungen der Hafenarbeiter zu finden, die individuell auf die Herausforderungen reagierten. »Aus Sicht der Biografieforschung wurde und wird Erzählen vielfach als eine Praxis und ein Vermittlungsformat von Identitätskonstruktionen verstanden, das an spezifische gesellschaftliche Kontexte und Situationen gebunden ist und für ein jeweiliges Feld aussagekräftige rhetorische Figuren und Erzählstrategien zur Biografisierung einer Person nutzt.«65
In die Analyse fließen daher Betrachtungen ökonomischer, stadtpolitischer sowie räumlicher Entwicklungen ein. Zudem müssen die Selbstpositionierungen der Gesprächspartner stets in Verbindung mit der Fremdpositionierung gelesen werden.66 Indem sie mir als interessierter, junger Frau, die selbst jedoch über keinerlei Fachkenntnisse über den Hafen verfügt, ihren früheren Alltag erklären, der ihr Leben und ihren Habitus geprägt hat, stellen sie sich bewusst in die Traditionslinie der Hafenarbeiter und präsentieren sich als solche.
61 Vgl. dazu auch Schemmer 2014. 62 Vgl. Dubbeld 2003: 118. 63 Vgl. Mah 2011: 158ff. 64 Vgl. Berking/Schwenk 2011. 65 Schmidt-Lauber 2010: 7. 66 Vgl. Lucius-Hoene/Deppermann 2004: 168f.
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Angela Jannelli untersuchte in ihrer Dissertation Ausstellungen in sogenannten wilden Museen, die von Ehrenamtlichen initiiert und geführt werden. Diesen Akteuren bescheinigt sie eine spezifische »Fähigkeit, mit Objekten umzugehen, ihnen Bedeutung zu verleihen und zum Zwecke der (Selbst-)Repräsentation einzusetzen. Die Museumsmacher erscheinen hier nicht nur mehr als Opfer des Fortschritts, die auf den Wandel der Zeit nur mit einer unstillbaren Sehnsucht nach der Vergangenheit reagieren können, sondern als aktive Gestalter oder ›Performer‹ ihrer Belange.«67
Diese Feststellung lässt sich auf viele meiner Interviewpartner übertragen. Denn auch ihre Verbundenheit ist nicht nur nostalgisch zu deuten. Ihr Engagement im musealen oder gewerkschaftlichen Kontext verweist auf ihr Selbstverständnis als Personen, die eine »eigene[n] Bedeutung als Quelle«68 haben, sowie auf ihr Bedürfnis, ihre Kenntnisse auch zukünftig weiterzugeben und sich untereinander weiterhin auszutauschen. Bereits während des Arbeitslebens konnten die Interviewten fortlaufende Veränderungen verfolgen. Zudem sind vielen Gesprächspartnern die Entwicklungen des aktuellen Hafengeschehens und vor allem die Zukunft der Arbeit im Hafen bis heute ein Anliegen. Reden über Technik und die damit einhergehenden Wandlungen und Neuerungen ist dabei mehr als nur das Erzählen über das eigene Berufsleben, es ist oftmals auch ein Verhandeln der Geschichte sowie der Zukunft des Hafens und der dort verrichteten Arbeit. In meiner derzeit noch nicht publizierten Studie zeige ich die Deutungen und Verortungen der Hafenarbeiter innerhalb dieses Prozesses auf.
L ITERATUR Amenda, Lars, Grünen, Sonja (2008), Tor zur Welt. Hamburg-Bilder und Hamburg-Werbung im 20. Jahrhundert, Hamburg. Bartsch, Peter (1999), Die Entstehung und der Auftrag des Gesamthafenbetriebs und der Gesamthafenbetriebs-Gesellschaft m.b.H. und ihre Entwicklung seit 1945, in: Rumpel, Erich (Hrsg.), Menschen im Hafen 1945-1998, Hamburg, S. 46-75.
67 Jannelli 2012: 278. 68 Götz 2001: 121.
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Simulierte Normalität in (dauerhaft) geförderter Arbeit F RANK B AUER , M ANUEL F RANZMANN , P HILIPP F UCHS , M ATTHIAS J UNG
D AUERHAFT GEFÖRDERTE ARBEIT AUF DER G RUNDLAGE VON § 16 E SGB II: H INTERGRÜNDE UND I MPLIKATIONEN Der vorliegende Aufsatz beschäftigt sich mit einer speziellen Form des Verhältnisses von Arbeit und Normalität, nämlich den Facetten einer simulierten Normalität von Beschäftigungsverhältnissen. Grundlage dieser simulierten Normalität ist ein Gesetz, das eine dauerhafte Beschäftigungsförderung vormals Langzeitarbeitsloser einrichtet. Die Umsetzung dieses Gesetzes, § 16e des Zweiten Sozialgesetzbuches (SGB II), wurde von den Autoren als Mitarbeitern der Regionaleinheit Nordrhein-Westfalen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) untersucht. Die Implementationsstudie hat zwei Schwerpunkte: einerseits die Interpretationen des Gesetzes durch die Instanzen, denen die Umsetzung obliegt, und deren jeweilige Umsetzungsstrategien,1 andererseits die bei den Geförderten erzielten Effekte.2 Einzelne Aspekte aus dem letztgenannten Schwerpunkt sollen in der Folge auf der Basis der Auswertung von Interviews mit Geförderten und ihren Arbeitgebern näher beleuchtet werden. Mit § 16e SGB II trat zum 1. Oktober 2008 ein Gesetz in Kraft, das erstmals in Deutschland eine unbefristete Beschäftigungsförderung vorsieht und zwar für die Zielgruppe der Langzeitarbeitslosen mit »besonderen Vermittlungshemmnissen«. Das auch unter den nicht eben prägnanten Namen »JobPerspektive« und »Beschäftigungszuschuss« bekannte Gesetz schafft für diese Gruppe der beson1
Vgl. Bauer/Franzmann/Fuchs/Jung 2011a.
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Vgl. Bauer/Franzmann/Fuchs/Jung 2011b.
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ders arbeitsmarktfernen, aber gleichwohl erwerbsfähigen Personen die Möglichkeit einer dauerhaften sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung zu Tariflöhnen. Grundlage hierfür ist eine von den Grundsicherungsträgern an die Betriebe zu zahlende Subvention, die bis zu 75 Prozent des Bruttolohns ausmachen kann. Grundsicherungsträger, in deren Zuständigkeit die Betreuung und Vermittlung von Leistungsempfängerinnen und -empfängern nach dem SGB II fallen, sind zum einen die »ARGEn« (Arbeitsgemeinschaften der Bundesagentur für Arbeit und kommunalen Trägern), zum anderen die »Optionskommunen« (alleinige kommunale Trägerschaft). Das mittels dieses Instruments geförderte Beschäftigungsverhältnis ist zunächst auf 24 Monate befristet, nach Ablauf dieser Zeit wird darüber entschieden, ob es auf Dauer gestellt wird. Gemäß dem Gesetzestext hat die Entfristung den Charakter einer Soll-Vorschrift, sodass die Beweislast bei demjenigen liegt, der gegen eine Entfristung votiert. Initiiert wurde das Gesetz von der bis 2009 regierenden Großen Koalition aus CDU und SPD, federführend waren dabei Karl-Josef Laumann (CDU), seinerzeit Arbeitsminister in Nordrhein-Westfalen, und Klaus Brandner, seinerzeit arbeitsmarkt- und sozialpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Gemeinsam verfassten sie ein Programmpapier zu den, so der Titel, »Perspektiven für Langzeitarbeitslose mit besonderen Vermittlungshemmnissen«3. Das Gesetz ist auch ein Ausdruck des Eingeständnisses, dass der erste größere Wirtschaftsaufschwung nach dem Paradigmenwechsel vom »versorgenden« zum »aktivierenden« Sozialstaat4 durch die sogenannte »Agenda 2010« des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder bei vielen Langzeitarbeitslosen nicht die erwarteten Effekte gezeitigt hatte. In den Augen der Verantwortlichen bedurfte daher der Aktivierungsansatz zumindest einer partiellen Korrektur, um dessen grundsätzliche Legitimität nicht zu gefährden. Der Problemdiagnose des Programmpapiers zufolge weist ein erheblicher Teil der Langzeitarbeitslosen Vermittlungshemmnisse auf, aufgrund derer mittelfristig eine Vermittlung in Arbeit auch bei noch so ausgeprägten Aktivierungsbemühungen aussichtslos erscheint. Daher müsse die Gemeinschaft diesen Arbeitslosen ersatzweise eine geförderte Beschäftigung zur Verfügung stellen, damit auch ihnen die Möglichkeit einer Integration in und durch Arbeit gewährt wird. Dahinter steht nicht allein die traditionelle, Erwerbsarbeit als allgemeingültiges Normalmodell setzende Arbeitsethik. Dieses Modell hat darin auch schon eine Transformation erfahren, und zwar im Sinne des in verschiedenen Kontex-
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Brandner/Laumann 2007.
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Vgl. Dingeldey 2007.
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IN ( DAUERHAFT ) GEFÖRDERTER
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ten angeführten Grundsatzes »Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren«5. Darüber hinaus hat es eine gewerkschaftsnahe Form angenommen, die sich an der prekär gewordenen Normalität sozialversicherungspflichtiger, tariflich entlohnter Vollzeitbeschäftigung orientiert.6 Dem liegt der Gedanke zugrunde, diese Normalität für besonders arbeitsmarktferne Langzeitarbeitslose nicht mehr herstellen, sondern nur noch simulieren zu können, indem man für die Geförderten auf einer phänomenologischen Ebene die subventionierte Beschäftigung einer ungeförderten weitestgehend angleicht. Hierbei ist hervorzuheben, dass diese Förderlogik sich gegenläufig zu den empirischen Entwicklungen der Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland verhält. Nicht zuletzt begünstigt durch die DeRegulierungsprozesse im Rahmen der Aktivierung ist der Anteil der einem Normalarbeitsverhältnis entsprechenden Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland seit vielen Jahren und im internationalen Vergleich besonders stark rückläufig,7 sodass gegenwärtig noch ca. zwei Drittel aller Beschäftigungsverhältnisse diesem Modell entsprechen.8 In der Folge sollen Interviews mit Geförderten zum einen auf die Frage hin betrachtet werden, wie sich die durch das Gesetz ermöglichte »simulierte Normalität« jeweils konkret in Beschäftigungsverhältnissen konfiguriert. Zum anderen sind die Effekte dieser simulierten Normalität bei denjenigen zu beleuchten, für die sie als sozialintegrative Maßnahme entworfen wurde. Die Interviews werden daraufhin befragt, ob der Simulationscharakter in der faktisch ausgeübten Tätigkeit überhaupt eine Rolle spielt und ob und wie er wahrgenommen wird. Welche praktische Bedeutung gewinnt er für sie, besonders auch vor dem Hintergrund ihrer Erwerbsbiographie, ihres eigenen Normalitätsentwurfs und ihrer Beschäftigungsaussichten? Mit Blick auf die betrieblichen Kontexte werden darüber hinaus auch Ergebnisse aus Interviews herangezogen, die mit den Arbeitgebern der Geförderten geführt wurden.
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Dieser Slogan findet sich sowohl im Zusammenhang mit dem Modell der Bürgerarbeit, das stark durch die Ideen der Aktivierung geprägt ist, als auch im Rahmen der Forderung nach der Einrichtung eines sozialen Arbeitsmarkts als einer Alternative zum Prinzip der Aktivierung.
6
Sowohl Laumann als auch Brandner als maßgebliche Initiatoren der Förderung können auf eine langjährige Tätigkeit als Gewerkschaftsfunktionäre zurückblicken, Laumann ist zudem Vorsitzender der CDA, der sozialkatholisch geprägten Arbeitnehmervereinigung der CDU.
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Vgl. Eichhorst u.a. 2010.
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Vgl. Statistisches Bundesamt 2009.
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S IMULIERTE N ORMALITÄT B ESCHÄFTIGUNG
DER GEFÖRDERTEN
Die Frage, was genau eigentlich simuliert werden soll, ist leicht zu beantworten: Es ist das Normalarbeitsverhältnis, an dessen Modell sich die geförderten Beschäftigungen orientieren.9 So sollen sie, in bewusster Unterscheidung von kurzfristigen Eingliederungsmaßnahmen, unter anderem vollzeitig, sozialversicherungspflichtig und unbefristet sein – verglichen mit der »normalen«, nichtgeförderten Variante der jeweiligen Arbeitsplätze fehlt ihnen jedoch als entscheidendes Normalitätsattribut die betriebswirtschaftliche Rentabilität. Eben weil sie ohne die erhebliche Förderung von bis zu 75 Prozent des Lohnes nicht zustande gekommen wären, können sie von vornherein keine »normalen« Arbeitsverhältnisse sein, sondern eben nur »simulierte normale«. Der Beschäftigungszuschuss nach § 16e SGB II als Bedingung der Möglichkeit des Zustandekommens eines solchen Arbeitsverhältnisses wird, ganz im Sinne der Simulation, für die Beschäftigten weitgehend unkenntlich gemacht, denn die Förderung erhalten die Betriebe, und auf der Lohnabrechnung ist sie nicht ausgewiesen. Allein die Tatsache, dass keine Beiträge für die Arbeitslosenversicherung abgeführt werden, vermag den Geförderten einen Hinweis auf Diskrepanzen zwischen ihrem Beschäftigungsverhältnis und einem Normalarbeitsverhältnis zu geben. Im Übrigen ist bereits die Bezeichnung »Zuschuss« eigentlich ein Euphemismus, denn unter einem solchen würde man im Normalfall den kleineren Teil einer Gesamtsumme verstehen, während er hier den überwiegenden Teil des Lohnes ausmacht. Strenggenommen müsste man daher sagen, wenn überhaupt jemand einen Zuschuss entrichtet, dann sind es die Betriebe – nämlich in Form des von ihnen übernommenen Anteils an dem Lohn. Auch diese Rhetorik dient dem Zweck, das Ausmaß der Förderung »kleinzureden« und damit die Fiktion der Normalität der Förderung insgesamt zu verstärken. Der Simulationscharakter wird in den Dokumenten, in denen sich der Gesetzbildungsprozess spiegelt, an keiner Stelle offen thematisiert, er ist aber eine objektive Implikation des Gesetzestextes. Wie sehr den Initiatoren des Gesetzes daran gelegen ist, diesen Simulationscharakter zu kaschieren oder doch zumindest seine Bedeutung herunterzuspielen, zeigt sich in der Rede Laumanns während der zweiten Lesung des Gesetzes im Deutschen Bundestag im Juli 2007. In seiner Begründung des Gesetzentwurfes hebt er auf die Bedeutung der Herstellung bzw. Wiederherstellung von Normalität ab und wählt als Kontrast das Beispiel von Behindertenwerkstätten. Diese seien für
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Zum Normalarbeitsverhältnis vgl. Deutschmann/Schmiede/Schudlich 1987; Mückenberger 1985.
S IMULIERTE N ORMALITÄT
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behinderte Menschen richtige und notwendige »Sondereinrichtungen«, können aber nicht als Modell für die Förderung nichtbehinderter Menschen dienen, welche »Handicaps haben und in dieser modernen Welt nun einmal nicht so gut klarkommen«10, weshalb sie keine Chance auf eine Vermittlung in den Ersten Arbeitsmarkt hätten. Für sie werde durch den Beschäftigungszuschuss § 16e SGB II Beschäftigung in einem »ganz normalen Arbeitsverhältnis«11 gewährleistet. Ganz analog hierzu bezeichnet Brandner (als der andere »Vater« des Gesetzes) während derselben Parlamentsdebatte ein durch § 16e SGB II geschaffenes Beschäftigungsverhältnis als einen »regulären Job«12. Es fragt sich aber, ob ein solches Arbeitsverhältnis tatsächlich als »ganz normales« und »reguläres« zu kategorisieren ist oder ob es sich nicht vielmehr ebenfalls um eine »Sondereinrichtung« handelt. Ermöglicht der Beschäftigungszuschuss § 16e SGB II qua Simulation tatsächlich eine Teilhabe an der Normalität oder ist es letztlich nur eine Normalitätssimulation, die durch einen Blick hinter die Kulissen rasch entzaubert werden kann? Wie tragfähig für die vom Gesetzgeber intendierten individuellen Wohlfahrtseffekte kann eine solche Simulation handlungspraktisch sein, insbesondere im Umgang mit nichtgeförderten, in Normalarbeitsverhältnissen stehenden Kolleginnen und Kollegen? Als Kontextinformation ist zu ergänzen, dass seitens des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales mittlerweile die Berechnungsgrundlage für die Zuweisung der zusätzlichen Mittel für § 16e SGB II geändert wurde. Ohne Ansehung der bislang von den ARGEn und Optionskommunen jeweils erreichten Förderzahlen werden die Mittel nun nach einem einheitlichen Schlüssel bereitgestellt, was paradox erscheinende Folgen zeitigt. Diejenigen SGB-II-Träger, die das Gesetz befürworteten, engagiert umsetzten und deshalb hohe Fallzahlen erreicht haben – wozu sie vonseiten der Politik ausdrücklich und nachdrücklich aufgefordert wurden –, stehen vor einem finanziellen Engpass und haben kaum Spielraum für die laut Gesetz als Normalfall zu veranschlagenden Entfristungen sowie für zusätzliche Fälle. Umgekehrt ist nun gerade denjenigen, die dem Gesetz von Anfang an skeptisch gegenüberstanden, es zögernd oder widerwillig umsetzten und deshalb nur wenige Fallzahlen aufzuweisen haben, ein erheblicher Spielraum für Neufälle und Entfristungen gegeben. Insgesamt könnte man sagen, das Gesetz wurde, noch während es galt, von den Steuerungsinstanzen auf dem Wege der Budgetierung kaltgestellt.13 10 Laumann 2007: 11278. 11 Ebd. 12 Brandner 2007: 11274. 13 Zu den Steuerungskapriolen in Zusammenhang mit § 16e SGB II (vgl. Bauer/Franzmann/Fuchs/Jung 2012). Vor diesem Hintergrund erscheint es aus politischer Sicht
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VON
P RODUKTIVITÄT
Ihren Ausgang nehmen die exemplarischen Falldarstellungen bei zwei Geförderten, die in einem Betrieb eines regionalen, konfessionellen Wohlfahrtsträgers beschäftigt sind, der Industriebetrieben zuarbeitet. Der Simulationscharakter beschränkt sich hier nicht nur auf die Konstitution der Beschäftigungsverhältnisse qua Zuschuss, wie dies für alle über § 16e SGB II geförderten Beschäftigungsverhältnisse gilt, sondern auch die Produktivität dieses Betriebes ist letztlich eine simulierte. Es handelt sich im Prinzip um »Einfachstarbeitsplätze«, wie sie auch in einer Werkstatt für behinderte Menschen denkbar wären. In einfachster manueller Montagearbeit, die von Maschinen weit effizienter erledigt werden könnte, wird einem Bauteil jeweils ein weiteres Element hinzugefügt, die Arbeit erfordert keine Kooperation und Improvisation, sie ist durchroutinisiert, monoton und entfremdet. Die Simulation zeigt sich bereits darin, dass der eigentliche Sinn einer dergestalt zerlegten und technisch detailgesteuerten Arbeit, nämlich eine durch Beschleunigung gesteigerte Produktivität, schon dadurch konterkariert wird, dass die dort Arbeitenden ihr Arbeitstempo frei wählen können. Somit sind sie von dem für solche Arbeitsplätze typischen Leistungs- und Aufmerksamkeitsdruck weitgehend entlastet. Als Konsequenz daraus gibt der jeweils Langsamste den Arbeitstakt vor, außerdem bleiben etwaige Fehler, die den Beschäftigten unterlaufen, folgenlos, es besteht also nicht die Gefahr der Produktion von kostspieligem Ausschuss. Dem Gelingen der Simulation ist förderlich, dass alle unmittelbar in der Produktion Beschäftigten Geförderte sind, die Differenz zu tatsächlich in einem Normalarbeitsverhältnis Stehenden kann daher nicht augenfällig werden, bestenfalls mit Blick auf das anleitende und betreuende Personal des Trägers. Die beiden Interviewten offenbaren unterschiedliche Sichtweisen und Deutungen ihrer Arbeit. Zunächst zu der 1951 geborenen Frau Keller.14 Sie übte nach Abschluss der Volksschule diverse ungelernte Tätigkeiten aus, zum Beispiel als Haushaltshilfe, Maschinenbedienerin, Reinigungskraft, Küchenhilfe und in einer Wäscherei. Frau Keller war verheiratet und hat eine Tochter. Nach schweren gesundheitlichen Krisen und Schicksalsschlägen, infolge derer sie auch ihre fast zehn Jahre ausgeübte Beschäftigung als Maschinenbedienerin verlor, gelang ihr Anfang der
nur konsequent, dass im Rahmen der 2012 in Kraft tretenden Instrumentenreform die Förderung nach § 16e SGB II wesentlich reduziert und die Option der Entfristung vollständig getilgt wird. Zu den Details der Neuregelung vgl. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 2011: 47ff. 14 Die Namen der Interviewten wurden maskiert.
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2000er-Jahre der Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt nicht mehr; vergeblich durchlief sie befristete Maßnahmen zu Arbeitsmarktintegration und fand schließlich vermittelt über § 16e SGB II Beschäftigung in dem genannten Betrieb. Frau Keller gibt augenzwinkernd zu verstehen, die Simulation durchaus zu durchschauen – sie bezeichnet ihre Tätigkeit als »schöne Arbeit«, weil man sich bei ihr weder kaputt noch dreckig macht, und als Kontrast stehen ihr vergleichbare, aber, bezogen auf den Simulationscharakter, »richtige« Arbeitsplätze vor Augen, an denen sie im Laufe ihrer Erwerbskarriere tätig war. Bemerkenswerterweise ist es ihr nicht möglich, in allgemeinen Begriffen zu benennen, was für ein Bauteil eigentlich in dem Betrieb hergestellt wird: »Ja das… ja da werden… ja einige Teile entweder ge äh dreht so mit Gewinde, aber die ham wir im Moment nicht… ja oder sonst so äh steil äh stecken so äh.«15 Als der Interviewer in einem erneuten Anlauf noch einmal auf das Bauteil zu sprechen kommt, ist ihre Darstellung kaum aufschlussreicher: »Ja heute zum Beispiel müssen wir so Gewinde… also so Muttern in so Dinger rein tun. Die werden dann hinterher noch weiter verarbeitet, bei die Männer… die machen da noch extra was drauf und so.« Ihr kommt es vor allem darauf an, durch die Berufstätigkeit ihren »Ablauf« wiederherzustellen, eine korsettartige und weitgehend inhaltsfreie Routinisierung und mechanische Strukturierung des Tages, die aber für das Wohlbefinden von Frau Keller entscheidend ist. Diese Strukturierungsfunktion ist auch für Herrn Schneider, den anderen befragten Geförderten in diesem Betrieb, wichtig. Er ist 1958 geboren, ledig und kinderlos. Nach dem Hauptschulabschluss absolvierte er keine Berufsausbildung, sondern verdingte sich in verschiedenen Hilfstätigkeiten. In einer Phase längerer Arbeitslosigkeit glitt er in Alkoholismus und Obdachlosigkeit ab, und auch gegenwärtig ist er rückfallgefährdet, etwa wenn er Urlaub hat und die Strukturierungsfunktion der Arbeit wegfällt. Anders als Frau Keller durchschaut er, wie es zunächst scheint, den Simulationscharakter der Arbeit nicht. Höchst aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang eine Formulierung im Interview, mit der er sich über die Arbeitslosen mokiert, »die uns auf der Tasche liegen«, was für jemanden, dessen Arbeit mit 75 Prozent öffentlich gefördert wird, eine recht erstaunliche Aussage ist. Herr Schneider ist der Ansicht, »normal« zu arbeiten und dafür auch eine angemessene Entlohnung zu erhalten. Und mehr als das: Mit seiner höchst monotonen und anspruchslosen Arbeit ist er regelrecht identifiziert und von einer Art Produzentenstolz erfüllt, kann wie Frau Keller aber auch nicht sagen, was er eigentlich produziert bzw. welche Funktion der Gegenstand erfüllt: »Das sind so schwarze Verbinder, da kommen äh äh hinter15 In den transkribierten Interviews bedeuten drei, unmittelbar auf ein Wort folgende Punkte eine Pause von mittlerer Länge.
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her noch so gelbe Klipse dran und dann kommt noch ne Mutter inne Mitte rein.« Zu differenzieren ist sein Aufgehen in der Simulation aber dahingehend, dass ihm aufgrund eines eingeschränkten Planungshorizontes der Unterschied der mit § 16e SGB II geförderten Arbeit zu anderen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, die er durchlaufen hat (wie zum Beispiel »Ein-Euro-Jobs«), nicht bewusst ist. Somit würde er jede Beschäftigung, die mit Arbeit einerseits und Entlohnung andererseits verbunden ist, als »normale« Arbeit ansehen. Für ihn hätte es also des simulatorischen Aufwandes, der mit § 16e SGB II verbunden ist, gar nicht bedurft. Während des 24-monatigen Förderzeitraums vor der Entfristungsentscheidung ging die Firma, in der Frau Keller und Herr Schneider beschäftigt waren, in Konkurs, beiden wurde gekündigt. Frau Keller ist nun wieder arbeitslos und verbittert ob der nicht eingehaltenen Versprechungen, sie sieht sich weitgehend aussichtslosen Aktivierungsbemühungen seitens der Arbeitsverwaltung ausgesetzt, über die sie sich angesichts ihrer Situation geradezu empört. Herr Schneider dagegen arbeitet nun in einer »richtigen« Werkstatt für behinderte Menschen, und auch die Arbeit dort assimiliert er für sich weitgehend an »normale« Arbeit. Entgegen kommt ihm dabei das in dieser Werkstatt waltende Bemühen um simulierte Normalität, wie es sich etwa im Vorhandensein eines Arbeitszeiterfassungssystems ausdrückt, das alle Beschäftigten nutzen, wenngleich damit erfasste Anwesenheits- und Fehlzeiten folgenlos bleiben. Herr Schneider gibt im Interview zu verstehen, dass er seine jetzige Arbeit als angenehmer und »besinnlicher« einschätzt als die vorherige, weil er nun weniger »Druck« habe (den es zuvor allerdings objektiv auch nicht gab), er tut dies aber, anders als Frau Keller, durchaus nicht augenzwinkernd. Während ihr die kategoriale Differenz zwischen regulärer und über § 16e SGB II geförderter »Einfachstarbeit« sehr wohl präsent ist, ist sich Herr Schneider über die analoge Differenz zwischen dieser geförderten Arbeit und der Arbeit in einer Behindertenwerkstatt nicht im Klaren. Anders stellt sich die Konstellation im Fall von Herrn Brunetti dar, einem 1979 geborenen Mann mit einer gravierenden Körperbehinderung in Gestalt einer spastischen Lähmung der Beine. Nach seinem Hauptschulabschluss und einem Moratorium, das er für die Wahl einer Berufsausbildung benötigte, absolvierte er eine außerbetriebliche Ausbildung zum Bürokaufmann16 in einer Einrichtung zur Förderung von Benachteiligten. Der Übergang in den Ersten Ar16 Dies verweist bereits auf die Schwierigkeiten, die Schwelle von der Schule zur Ausbildung zu überwinden. Die außerberufliche Ausbildung wird von Auszubildenden absolviert, die keinen betrieblichen Ausbildungsplatz bekommen konnten. In der Regel ziehen die Probleme an der ersten Schwelle auch Übergangsprobleme an der zweiten Schwelle, der von der Ausbildung in den Arbeitsmarkt, nach sich.
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beitsmarkt gelang ihm nicht, vermittelt über § 16e SGB II fand er Beschäftigung in einem gemeinnützigen, auf Förderung angewiesenen Betrieb. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Für das Thema der simulierten Normalität ist das Interview mit ihm instruktiv, weil Herr Brunetti sehr deutlich die Differenz seiner Tätigkeit zu der außerbetrieblichen Ausbildung sieht, in deren Rahmen in Ermangelung realer geschäftlicher Abläufe die Auszubildenden diese in Form von Rollenspielen simulieren mussten: »Der tut so, ob er aus ner andern Firma, ich tu von meiner Stelle, ich komm aus der andern Firma, und dann spielt man das Ganze. So gut man, so gut es geht, es klingt manchmal witzig, aber es ist, es läuft so. So, und das Gute an diesem Projekt [die jetzige geförderte Beschäftigung], ich hatte Kontakt, für mich, erster Kunde, Telefon, man, also wie soll ich sagen, man wird hier mit realen Sachen konfrontiert, was ich, was sehr gut ist.« Der erste Kontakt mit einem »wirklichen« Kunden nach den bloßen Trockenübungen in der Ausbildung war für ihn eine Art Schlüsselerlebnis. Anschaulich schildert er, wie er es sogar goutiert, wenn ein verärgerter Kunde ihn am Telefon anschreit, weil dies Ausweis der Realitätshaltigkeit der Interaktion ist, wie sie im Zuge der Ausbildung eben nicht vorkam. Er ist stolz darauf, sich in echten betrieblichen Situationen und an den Unwägbarkeiten, die der Kundenkontakt mit sich bringt, bewähren zu können. Wie stellt sich ihm nun die Differenz zu der durch § 16e SGB II geschaffenen Simulation des Normalarbeitsverhältnisses dar, die den Geförderten in der alltäglichen Arbeit ja eigentlich gar nicht transparent werden soll? Im Falle der Ausbildung in dem Berufsbildungswerk lässt sich die Simulation nicht vermeiden, hier ist sie offensichtlich und jederzeit spürbar, weil hier auch die Interaktionen simulierte sind bzw. notwendigerweise sein müssen. Dagegen würde es Herr Brunetti als Provokation empfinden, wenn man seine jetzige Tätigkeit als simulierte bezeichnete. So stellt der Interviewer die Frage: »Ich hör da raus, Sie haben, man hat das immer so n bisschen im Hinterkopf, dass das letztlich ne Simulation ist.« Aus dem Kontext heraus ist nicht eindeutig zu entscheiden, ob er damit die Ausbildung oder die geförderte Arbeit meint, und schon diese Unklarheit veranlasst Herrn Brunetti zu einer scharf artikulierten Nachfrage: »Was?« Als der ob dieser Schärfe etwas irritierte Interviewer antwortet: »Äh, im Berufsbildungswerk«, zeigt sich Herr Brunetti geradezu erleichtert: »Ja natürlich, das ist eine Simulation, ja.« Auf der einen Seite verwahrt er sich dagegen, wenn seine Arbeit in die Nähe von simulierter Normalität gerückt wird, auf der anderen Seite weiß er aber auch, dass er ohne eine Förderung keine realistische Chance auf dem Arbeitsmarkt hätte. Er kann die Förderung und damit den Simulationsanteil für sich normalisieren, indem er sie als angemessene Kompensation der Nachteile deutet, die ihm durch seine Behinderung und den durch sie bedingten,
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mehr oder weniger unverhohlenen Diskriminierungen bei der Arbeitssuche erwachsen. Erst auf diese Weise ist es ihm möglich, seiner traditionellen Orientierung an einer Normalbiographie folgen zu können. Sein Selbstbild ist das eines Vaters und Ehemanns, der das Gros des Familieneinkommens erwirtschaftet, seinen Kinder ein Vorbild ist und dessen Leben damit von Erwerbsarbeit geprägt wird. Aus diesem Grund muss er, wie die harsche Reaktion auf die Interviewerfrage zeigt, die ökonomische Simulation seiner geförderten Arbeit in einem gemeinnützigen Betrieb gewissermaßen abspalten – was Simulation angeht, sieht er eine prinzipielle Differenz zu seiner zugegeben simulatorischen Ausbildung, obwohl eigentlich nur eine graduelle vorliegt. Was allerdings die Suggestivität der Simulation bei seiner Arbeit erhöht, ist die Tatsache, dass, anders als bei Frau Keller und Herrn Schneider, seine Arbeit als gemeinnützige eine sinnvolle ist, weil sie unmittelbar anschaulich anderen Menschen zugute kommt. Dennoch übersteigt der in seiner jetzigen gemeinnützigen Arbeit erwirtschaftete Betrag in Form von generierten Spenden für wohltätige Zwecke nicht die für diese Arbeit erforderlichen Subventionen, mithin wird also auch bei dieser gemeinnützigen Tätigkeit Produktivität simuliert. Das Beschäftigungsverhältnis von Herrn Brunetti wurde entfristet.
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BETRIEBLICHER I NTERAKTIONEN
Die Bedeutung der Simulation auf der Ebene der Interaktion im Betrieb, hier zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, zeigt sich bei dem 1980 geborenen und seit seiner Geburt halbseitig gelähmten Herrn Ernst, der sich länger in rechtsradikalen Kreisen bewegte. Nach einer Lehre als Handelsfachpacker arbeitete er als Lagerist, bis ihm dies aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr möglich war. Gefördert beschäftigt ist er in einer Holzwerkstatt, in welcher er Möbel für eine Restaurierung vorbereitet, die später in einem angegliederten Antiquitätengeschäft verkauft werden. Diese Arbeit verklärt er geradezu, er empfindet sie als Wendepunkt seiner Biographie, weil er zum ersten Mal in seinem Berufsleben Anerkennung erfährt. Obwohl es sich im konkreten Fall um einen gewinnorientierten privatwirtschaftlichen Betrieb handelt, zeigt der Inhaber und Vorgesetzte einen geradezu sozialpädagogischen Eifer bei der Unterstützung des Geförderten. Die Simulation besteht hier darin, dass der Arbeitgeber Herrn Ernst das Gefühl gibt, eine vollwertige Arbeitskraft zu sein, zugleich aber weiß, dass er es nicht ist. Aufgrund dieser Simulation klaffen Außenwahrnehmung des Vorgesetzten und Selbstwahrnehmung des Geförderten auseinander: Dieser hält sich für einen Mitarbeiter, der außerordentlich leistungsbereit und ein guter Hand-
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werker ist, jener betont durchaus auch die Leistungsbereitschaft und Loyalität des Geförderten, bescheinigt ihm aber zugleich das geistige Niveau eines Zehnjährigen – was der Einschätzung des Interviewers nach eine drastische Überzeichnung darstellt. Während sich der Geförderte auf dem Weg in eine qualifizierte Tätigkeit am Ersten Arbeitsmarkt sieht, geht sein Arbeitgeber von der Notwendigkeit einer dauerhaften Förderung aus, weil seine Arbeit auf absehbare Zeit nicht die Produktivität erreichen wird, die einen ungeförderten Lohn auf gegebenem Niveau rechtfertigen kann. Für das Gelingen der betrieblichen Integration ist es jedoch von zentraler Bedeutung, dass der Arbeitgeber die Spannung zwischen der Anerkennung des Geförderten als vollwertige Arbeitskraft einerseits und der – dem widersprechenden – faktischen Arbeitsleistung andererseits aushält. Wie fragil diese Simulation ist, lässt sich daran ablesen, dass bereits geringfügige Konflikte innerhalb des Betriebs die Gefahr einer Eskalation bergen, da sich der Geförderte nicht hinreichend respektiert wähnt. Der 1970 geborenen Frau Schmidt dagegen wurde genau die Anerkennung, die für Herrn Ernst so entscheidend ist und die er durchaus erhält, durch Kolleginnen und Vorgesetzte versagt. Nach der Schule musste sie zwei begonnene Ausbildungen, eine Metzgerlehre und eine Friseurlehre, aus gesundheitlichen Gründen abbrechen, sie arbeitete dann als Verkäuferin und als Krankenpflegehelferin. Eine längere Zeit der Arbeitslosigkeit ist durch Depressionen geprägt, die auch mit dem Scheitern ihrer Ehe und dem Auszug ihres einzigen Kindes, einer Tochter, in Zusammenhang stehen. Schließlich wird sie vermittelt über § 16e SGB II in einer Kindertagesstätte als Küchenhilfe eingestellt. Obgleich sie gerne auch mit den Kindern zu tun hat und bei diesen beliebt ist, wird sie von ihren Vorgesetzten in ihre Schranken gewiesen und strikt an die Aufgabenerledigung in der Küche gebunden. Genau diese Abkoppelung von den Dienstleistungs- und Betreuungstätigkeiten gegenüber den Kindern, dem Kerngeschäft der Einrichtung, empfindet sie als »Mobbing«, als Kränkung und Zurücksetzung. Ihrer Darstellung nach wird sie als »Küchenkraft vom Arbeitsamt« stigmatisiert und von den Erzieherinnen geschnitten, auch werden Praktikantinnen, welche die Pausen mit ihr verbringen, aufgefordert, das zu unterlassen. Die Tatsache der Förderung begründet in den Augen der Mitarbeiterinnen der Kita die »Nichtvollwertigkeit« von Frau Schmidt als Arbeitskraft, und indem sie sie das spüren lassen, wird die Normalitätssuggestion, die mit dieser speziellen Förderung verbunden sein soll, von vornherein ad absurdum geführt. Die Simulation der Realität bricht sich hier an der Realität nichtsimulierter, ungeförderter Beschäftigungsverhältnisse. Das berührt auch die Frage, ob zur Vermeidung derartiger Mobbingvorfälle die anderen Beschäftigten denn überhaupt von der Förderung wissen sollten. Wissen sie es nicht, so ließe sich argumentieren, dann könnten sie
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den Geförderten auch nicht ihre »Nichtvollwertigkeit« vorhalten. Das aber ist insofern naiv, als man unterstellen muss, dass sich im Normalfall die »Nichtvollwertigkeit« der Geförderten im betrieblichen Alltag auch in irgendeiner Form objektiviert – sie ist ja die Legitimationsbasis dafür, dass die Betriebe unter Umständen nur 25 Prozent des Lohnes aufbringen müssen. So ist uns aus Interviews nicht nur die Konstellation bekannt, dass Kollegen, die um die Förderung wussten, den Geförderten die »Nichtvollwertigkeit« ihres Arbeitsplatzes oder ihrer Arbeitsleistung vorhielten und sie ausgrenzten, sondern auch die umgekehrte Konstellation: Den Kollegen war die Förderung nicht bekannt, und sie gingen die Geförderten an, weil diese nicht die Arbeitsleistung »normaler« Beschäftigter erbrachten, welche sie glaubten, mit Recht einfordern zu können. In beiden Fällen brach die Simulation der Normalität des Arbeitsverhältnisses zusammen. Die Folgen waren für das Selbstbild der Betroffenen höchst problematisch, denn damit waren sie in den Betrieben objektiv stigmatisiert, und die von ihnen verrichtete Arbeit konnte gerade nicht als eine Quelle von Würde und Selbstachtung fungieren, wie es die hinter § 16e SGB II stehende Programmatik postuliert. Frau Schmidt ist gegenwärtig aufgrund einer depressiven Erkrankung nicht arbeitsfähig. Freilich finden sich auch Fälle, in denen das Wissen um die Förderung einen verständnisvollen Umgang begründet und wesentlich zum Gelingen der betrieblichen Integration beiträgt. Hier ist das zentrale Argument der Betriebsleitungen gegenüber den Beschäftigten, dass die Übernahme einfacher Tätigkeiten durch die Geförderten eine große Entlastung bedeutet, die ohne die Förderung schlichtweg nicht möglich bzw. finanzierbar wäre.
Z USAMMENFASSUNG Es wurde der Versuch unternommen, einige Facetten der durch § 16e SGB II ermöglichten Simulation des Normalarbeitsverhältnisses nachzuzeichnen. Die dabei herausgearbeiteten potenziellen Brüche verweisen auf das grundlegende Spannungsverhältnis einer geförderten Beschäftigung, die sich um die Errichtung eines Scheins der Normalität bemüht, aus einer ökonomischen Perspektive faktisch aber durch eine mangelnde Wertschöpfung gekennzeichnet ist und daher eben keine »normale« Beschäftigung sein kann. Basal ist in diesem Zusammenhang zunächst die fundierende ökonomische Simulation von Normalität durch den Lohnkostenzuschuss, der überhaupt erst die Grundlage für die Einrichtung solcher Beschäftigungsverhältnisse schafft. Hinzu kommen kann dann eine Simulation der Produktivität wie im Falle des Betriebes, in welchem Frau Keller und Herr Schneider beschäftigt waren, die
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aber unproblematisch ist, weil hier ausschließlich Geförderte arbeiten bzw. der defizitäre Charakter der Produktivität nicht von allen Geförderten erkannt wird. Selbst wenn dies der Fall ist, kann die Aussichtslosigkeit der individuellen Arbeitsmarktsituation, wie etwa bei Frau Keller, dazu führen, dass dieses vergleichsweise generös ausgestaltete Surrogat für ungeförderte Arbeit mangels erreichbarer Alternativen dankbar angenommen wird. Auch die Tätigkeit von Herrn Brunetti ist betriebswirtschaftlich unrentabel, was aber für ihn durch die offensichtliche Gemeinnützigkeit kompensiert werden kann. Der Kontrast zwischen den Tätigkeiten von Herrn Brunetti einerseits und Frau Keller und Herrn Schneider andererseits verweist zudem mit aller Deutlichkeit auf die oft problematische Bestimmung zusätzlicher und gemeinnütziger Tätigkeiten, wie sie insbesondere für »Arbeitsgelegenheiten« (AGH nach § 16d SGB II) oder auch das Modellprojekt der »Bürgerarbeit« als Beschränkung konstitutiv sind. Die Kritik an den konkreten Inhalten derartiger Maßnahmen ist hinlänglich bekannt.17 Schließlich ist die Simulation betrieblicher Interaktionen anzuführen, bei denen Geförderten wie Herrn Ernst sozusagen entgegen besserem Wissen der Eindruck vermittelt wird, sie seien »vollwertige Arbeitskräfte«, was sie aber nicht sind und auch nicht sein können. Wie das Beispiel von Frau Schmidt gezeigt hat, kann das Scheitern der Simulation auf dieser Ebene dramatische Folgen haben. Dies verdeutlicht, dass die rein ökonomische Simulation in Gestalt der monetären Subvention meist nicht für die gelungene Etablierung eines geförderten Beschäftigungsverhältnisses ausreicht. Hier ist es vielmehr entscheidend, dass die geförderte Beschäftigung sorgsam in betriebliche Abläufe integriert wird, damit Stigmatisierungen und Konflikte vermieden werden.
L ITERATUR Bauer, Frank, Franzmann, Manuel, Fuchs, Philipp, Jung, Matthias (2011a), Implementationsanalyse zu § 16e SGB II in Nordrhein-Westfalen I. Aneignungsweisen und Umsetzungsformen der »JobPerspektive«. IAB-Regional 01/2011, Nürnberg. Bauer, Frank, Jung, Matthias, Franzmann, Manuel, Fuchs, Philipp (2011b), Implementationsanalyse zu § 16e SGB II in Nordrhein-Westfalen II. Die Erfahrungen der Geförderten, IAB-Regional 07/2011, Nürnberg. Bauer, Frank, Jung, Matthias, Franzmann, Manuel, Fuchs, Philipp (2012), Zwischen Aktivierungsanspruch und Beschäftigungsförderung. Die Zerrissenheit
17 Exemplarisch hierzu Wenzel 2008.
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gegenwärtiger Sozialpolitik im Spiegel variierender Strategien der Umsetzung von § 16e SGB II (JobPerspektive), in: Soeffner, Hans-Georg (Hrsg.), Transnationale Vergesellschaftungen. Verhandlungen des 35. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Wiesbaden. Brandner, Klaus (2007), Rede vor dem Deutschen Bundestag, in: Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht 109. Sitzung 6. Juli 2007, S. 1127211274. Brandner, Klaus, Laumann Karl-Josef (2007), Perspektiven für Langzeitarbeitslose mit besonderen Vermittlungshemmnissen, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Bericht der »Arbeitsgruppe Arbeitsmarkt«, Berlin, S. 18-22. Deutschmann, Christoph, Schmiede, Rudi, Schudlich, Edwin (1987), Die längerfristige Entwicklung der Arbeitszeit. Versuch einer sozialwissenschaftlichen Interpretation, in: Schudlich, Edwin (Hrsg.), Die Abkehr vom Normalarbeitstag, Frankfurt/Main, New York, S. 113-144. Dingeldey, Irene (2007), Wohlfahrtsstaatlicher Wandel zwischen »Arbeitszwang« und »Befähigung«: Eine vergleichende Analyse aktivierender Arbeitsmarktpolitik in Deutschland, Dänemark und Großbritannien, in: Berliner Journal für Soziologie 17, Heft 2, S. 189-209. Eichhorst, Werner u.a. (2010), Traditionelle Beschäftigungsverhältnisse im Wandel. Benchmarking Deutschland: Normalarbeitsverhältnis auf dem Rückzug (= IZA Research Report 23), Bonn. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (2011), Neugestaltung der Förderinstrumente für Arbeitslose. Zum Gesetzentwurf zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt. Öffentliche Anhörung von Sachverständigen vor dem Ausschuss für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestags am 5. September 2011, IAB-Stellungnahme 09/2011, Nürnberg. Laumann, Karl-Josef (2007), Rede vor dem Deutschen Bundestag, in: Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht 109. Sitzung 6. Juli 2007, S. 1127611280. Mückenberger, Ulrich (1985), Die Krise des Normalarbeitsverhältnisses. Hat das Arbeitsrecht noch Zukunft?, in: Zeitschrift für Sozialreform 31, Hefte 7 und 8, S. 415-434, 457-475. Statistisches Bundesamt (2009), Niedrigeinkommen und Erwerbstätigkeit, Wiesbaden. Wenzel, Ulrich (2008), Fördern und Fordern aus Sicht der Betroffenen: Verstehen und Aneignung sozial- und arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen des SGB II, in: Zeitschrift für Sozialreform 54, Heft 1, S. 57-78.
»Ich hätte nicht gedacht, dass es so gut klappt.« Chancen und Grenzen sozialer Mobilität von türkeistämmigen Männern in Deutschland C ARINA G ROSSER -K AYA
E INLEITUNG Robert Castel hat darauf aufmerksam gemacht, dass »Lohnarbeit […] lange Zeit eine der unsichersten, ja unwürdigsten und elendsten Lebensstellungen bedeutete.« Seit sich jedoch die Erwerbsarbeit in der Nachkriegszeit in Westeuropa aus dem »Status der Benachteiligung« herausgelöst hat und zur »Basismatrix der modernen ›Lohnarbeitsgesellschaft‹«1 geworden ist, bildet sie die ausschließliche Quelle, aus der soziale Anerkennung und Statuspositionen abgeleitet werden. Im Zuge der seit den 1980er-Jahren zu beobachtenden umfassenden ökonomischen Transformation nimmt die Konkurrenz um Erwerbsarbeit und damit um die zentrale Ressource für soziale Anerkennung dramatisch zu. In der Bundesrepublik Deutschland der Nachkriegszeit wird die erste Generation der Migrant/innen in der Industrieproduktion als vorübergehender »Konjunkturpuffer« ohne langfristige Aufenthaltsperspektiven eingesetzt. Sie leisten Beiträge in die Sozialversicherungen, von denen sie aufgrund von Rotation und Altersstruktur zunächst keine Leistungen erhalten.2 Vielmehr bereiten sie infolge der »Unterschichtung« den Weg für den sozialen Aufstieg von deutschen Arbeitskräften mit geringen Qualifikationen in stabilere und besser bezahlte berufliche Positionen. Nach dem Anwerbestopp von 1973 kehrt ein Großteil der an1
Castel 2000: 11.
2
Vgl. Luft 2009: 46.
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geworbenen Migrant/innen in die Herkunftsländer zurück. Dies ist bei der Gruppe der türkeistämmigen Einwanderer/innen jedoch nicht der Fall. Ihr Anteil an der Wohnbevölkerung in Westdeutschland nimmt bis Ende der 1970er-Jahre deutlich zu. Familiennachzug, Familiengründungen, Flucht, Arbeitsmigration und weitere Formen regulierter und nicht regulierter Migration führen dazu, dass die Türkeistämmigen zur größten Einwanderer/innengruppe in Westdeutschland werden. Trotz der negativen Folgen der Industriearbeit für Gesundheit und persönliches Wohlbefinden erfährt die erste Generation der türkeistämmigen Migrant/innen für ihre Arbeitsleistungen eine Anerkennung im Herkunftskontext Türkei. Der soziale Bezugsrahmen ist für die zweite Generation dagegen ein grundsätzlich anderer. In dem Maße, wie Rückkehrpläne aufgeschoben werden und Familiennachzüge und Familiengründungen im Migrationsland erfolgen, wird die Gesellschaft des Einwanderungslandes der Eltern zum dauerhaften Lebensmittelpunkt. Spätestens seit den 1980er-Jahren geraten sie in Zeiten von Massenentlassungen und hoher Jugendarbeitslosigkeit »in den Strukturwandel, der viele Jobs für Geringqualifizierte eliminiert.«3 Dabei ist für die zweite Generation festzuhalten, dass ihre Schulabschlüsse und Sprachkenntnisse sich zwar jedes Jahr verbessern, sie es aber schwer haben, »in der Wirtschaft Fuß zu fassen«4. Die Ursachen dafür sind zum Einen strukturell bedingt. Die ökonomischen Krisen und die damit einher gehende Massenarbeitslosigkeit, die durch umfangreichen Arbeitsplatzabbau und Produktionsverlagerungen in andere Länder hervorgerufen wird, führen dazu, dass der Bedarf an ungelernten Arbeitskräften zurückgeht. Die Nachfrage nach hoch qualifizierten Fachkräften steigt dagegen an. Einwanderer/innen mit geringen Qualifikationen werden aufgrund der Strukturveränderungen auf dem Arbeitsmarkt marginalisiert.5 Insgesamt behindert die »ethnischsoziale Unterschichtung der Aufnahmegesellschaften«6 den sozialen Aufstieg der zweiten Generation. Denn gerade in dieser Zeit durchlaufen die Kinder der Arbeitsmigrant/innen aus der Türkei die Bildungsinstitutionen. Sie geraten damit in eine »Modernisierungsfalle«7, die in zwei Richtungen wirksam wird. Einerseits stellt eine Rückkehr ins Herkunftsland der Eltern keine Perspektive dar, denn dort finden ebenfalls Transformationsprozesse statt, die ihre Teilhabechan3
So Hans-Dietrich von Löffelholz vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in: Werle 2011.
4
Thränhardt 2010: 20.
5
Vgl. Seibert 2007: 113f.
6
Luft 2009: 104.
7
Apitzsch 2009: 53.
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cen reduzieren. Auf der anderen Seite erfolgt im Migrationsland der Eltern keine strukturierte Integration in die zentralen gesellschaftlichen Institutionen, die Zugang zu qualifizierender Bildung und qualifizierter Erwerbsarbeit ermöglichen. »Bereits Anfang der 1970er-Jahre wird die Tendenz zum Bleiben deutlich, die Schulen jedoch fahren mit dem Programm fort, die Kinder auf die Rückkehr vorzubereiten.«8 Darüber hinaus verhindert die restriktive Ausländergesetzgebung eine rechtliche Gleichstellung der Migrant/innen und wird spätestens seit den 1980er-Jahren von der öffentlich geführten Kontroverse eingerahmt, ob die Bundesrepublik Deutschland ein Einwanderungsland ist oder nicht.9 Betrachtet man aus der Perspektive der Statistik Türkeistämmige im intergenerativen Vergleich, so ist deutlich sichtbar, dass die zweite Generation hinsichtlich ihrer Bildungs- und Ausbildungssituation eine sozioökonomisch wesentlich bessere Positionierung erreicht als die Elterngeneration.10 Gleichzeitig wird in Untersuchungen immer wieder festgestellt, dass es deutliche Unterschiede im Vergleich zur deutschen Mehrheit in Hinblick auf Bildungserfolg, Berufsausbildung und Einkommen gibt. Vor dem Hintergrund der dargestellten strukturellen und politisch-rechtlichen Rahmenbedingungen zeigt sich, dass die erfolgreiche Fortsetzung des von der Elterngeneration initiierten Familienprojekts Migration11 in erster Linie vom Erreichen eines qualifizierenden Abschlusses abhängt, der die Grundlage für beruflichen Aufstieg und soziale Anerkennung darstellt. Davon ausgehend stehen die sozialen Positionierungen türkeistämmiger Männer der zweiten und dritten Generation, wie sie in autobiographischen Narrationen präsentiert werden, im Zentrum der folgenden Analysen. Anhand des empirischen Materials diskutiert mein Beitrag, in welcher Weise Identität über Erwerbsarbeit konstituiert und wie sozialer Aufstieg im Lebenslauf aus der Subjektperspektive interpretiert und diskursiv verhandelt wird.
8
Geiselberger 1972: 139.
9
Vgl. Yildiz 2007: 35f.
10 Vgl. Hummrich 2003, Pott 2002. »So ist der Anteil unqualifizierter türkischer Migranten von 68 Prozent in der 1. Generation auf 27 Prozent in der 2. Generation gesunken.« (Institut der Deutschen Wirtschaft Köln 2011) 11 Vgl. dazu Schenk/Ellert/Neuhauser 2007: 590: »Die Auswanderung ist selten ein individuell gefasster Entschluss. Vielmehr ist sie ein Familienprojekt, d.h. ein kollektiver Lebensentwurf, der die Gesamtfamilie und auch zukünftige Generationen einschließt.«
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M ETHODE UND BIOGRAPHISCHE D ATEN F ALLBEISPIELE
DER
Interpretative Verfahren der empirischen Sozialforschung sind vor allem dadurch gekennzeichnet, »dass die vorhandenen Erwartungen und theoretischen Überzeugungen nach Möglichkeit offenen Charakter haben sollen.«12 Für das Verständnis von Biographien ist es deshalb wichtig, Deutungsmuster und Interpretationen der Alltagshandelnden mit der rekonstruierten Lebensgeschichte in Bezug zu setzen.13 Gabriele Rosenthal sieht in der Biographie ein »soziales Gebilde, das sowohl soziale Wirklichkeit als auch Erfahrungs- und Erlebniswelten der Subjekte konstituiert und das in dem dialektischen Verhältnis von lebensgeschichtlichen Erlebnissen und Erfahrungen und gesellschaftlich angebotenen Mustern sich ständig neu affirmiert und transformiert.«14 Mit Hinblick auf Identitätskonstruktionen und diskursive Strategien im Kontext sozialer Mobilität wird betont, »wie lebensgeschichtliche Diskontinuitäten und Brüche lebenspraktisch verarbeitet werden«.15 Die im Rahmen dieses Beitrags analysierten Interviews gehören zu einem Gesamtsample von insgesamt 29 biographisch-narrativen Interviews, die im Jahr 2010 mit türkeistämmigen Männern und Frauen in Deutschland geführt wurden.16 Aus dem Gesamtsample wurden drei Fallbeispiele ausgewählt, die über strukturelle Gemeinsamkeiten verfügen. Es handelt sich um Männer, die der Gruppe der Postmigrant/innen17 angehören. Sie sind in Deutschland geboren und aufgewachsen und verfügen über keine eigene Migrationserfahrung. Ihre Väter arbeiten mehrere Jahrzehnte in den Großunternehmen BMW, AEG, Opel als ungelernte Beschäftigte in der Produktion im Schichtbetrieb. Alle drei Interviewten erreichen in Deutschland einen ersten Bildungsabschluss (Hauptschule/Realschule) und absolvieren im Anschluss daran erfolgreich eine duale Berufsausbildung. Ihre Ausbildung bzw. ihre Erwerbstätigkeit führt sie über familiale Netzwerke in die Unternehmen, in denen bereits ihre Väter arbeiten.
12 Hopf 1993: 15. 13 Vgl. Schütze 1983: 284. 14 Rosenthal 1995: 12. 15 Schäfer/Völter 2005: 165. 16 Dieser Beitrag basiert auf Material, das im Rahmen meiner mittlerweile veröffentlichten Dissertation erhoben wurde (vgl. Großer-Kaya 2015). 17 Vgl. Foroutan 2010: 9f.
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Sinan Koç18 Die Eltern von Sinan Koç stammen aus der östlichen Schwarzmeerregion der Türkei. Seine Großväter wandern Anfang der 1970er in die Region Nürnberg ein, die Kinder und Ehefrauen leben weiterhin in der Türkei. Der Vater kommt 1974 im Alter von 16 Jahren nach Deutschland. Er hat mehrere ältere Brüder, die vor ihm nach Deutschland einreisen und heiraten. Durch die Vermittlung des Großvaters bekommt er eine Stelle in einem türkischen Lebensmittelgeschäfte in Nürnberg. Die Mutter kommt ebenfalls zu ihrem Vater nach Deutschland und arbeitet unter anderem als Reinigungskraft. 1978 heiraten die Eltern und im selben Jahr wird Sinan Koç als erstes von insgesamt drei Kindern geboren. Die Familie lebt im Nürnberger Stadtteil Gostenhof, der bereits in dieser Zeit einen hohen Migrant/innenanteil hat.19 Bis zu seiner Heirat im Alter von 21 Jahren lebt Sinan Koç mit seinen Eltern in Nürnberg-Gostenhof. Die Mutter ist überwiegend zu Hause und versorgt die Kinder, arbeitet stundenweise als Reinigungskraft. Später wird sie durch Vermittlung ihrer Geschwister, die bereits seit Ende der 1970er-Jahre bei AEG arbeiten, bei diesem Unternehmen angestellt. Der Vater arbeitet bis 1988 in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen. Ab 1989 hat auch er eine feste Anstellung in der Produktion bei AEG. Herr Koç ist verheiratet und hat zwei Kinder. Seine Frau hat den Beruf der Rechtsanwaltsgehilfin gelernt, ist aber nicht erwerbstätig. Mehmet Oktay Mehmet Oktays Familie stammt aus einem Dorf in Zentralanatolien. Die drei älteren Brüder werden in der Türkei geboren. Nach einem schweren Erdbeben in der Region geht der Vater um 1970 zunächst allein nach Deutschland und arbeitet auf verschiedenen Baustellen in München und Umgebung. Ab 1972/73 steht er im Rahmen eines festen Arbeitsverhältnisses bei BMW in München in der Produktion. 1978 kommt die Mutter mit zwei Brüdern (der älteste ist noch in der Türkei in die Schule gegangen) nach München. Sie ziehen in ein Dorf nach Oberbayern, in dem der Migrant/innenanteil in dieser Zeit gering ist. Der Vater pendelt täglich nach München zur Arbeit, die Mutter ist Hausfrau und nicht erwerbstätig. Mehmet Oktay kommt 1980 als jüngstes Kind zur Welt. Er geht nicht in den Kindergarten. Im Jahr 2000 lernt er seine heutige Ehefrau kennen,
18 Die Personennamen wurden anonymisiert. 19 Wie in vielen anderen westdeutschen Städten in dieser Zeit ein eher zentraler Stadtteil mit hohem Anteil an sanierungsbedürftigen Altbauten.
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die Tochter russischstämmiger Eltern ist. Sie kaufen ungefähr 2005 eine gemeinsame Wohnung und heiraten im Jahr 2007. Seine Frau ist Erzieherin in einer Kindertagesstätte. Veysel Bilen Veysel Bilens Großvater (väterlicherseits) kommt Ende der 1960er-Jahre nach Deutschland. 1972 zieht der Vater nach Deutschland, seine Ehefrau bleibt in der Türkei. Der Vater lebt zunächst mehrere Jahre mit dem Großvater im OpelWohnheim. Er arbeitet zuerst in Mainz, bekommt dann eine Stelle bei Opel in Rüsselsheim. Nach vier Jahren, Ende 1976, entscheidet sich der Vater, in Deutschland zu bleiben, und im Jahr 1977 kommt auch die Mutter mit dem älteren Bruder (geboren 1976 in der Türkei) nach Deutschland. Veysel Bilen wird 1977 in Rüsselsheim geboren. Die Familie wohnt in einer Genossenschaftswohnung zur Miete. 1999 kauft Veysel Bilen gemeinsam mit seinem Bruder, der ebenfalls bei Opel in Rüsselsheim arbeitet, ein Mehrfamilienhaus, in das sie gemeinsam mit den Eltern einziehen. Er ist seit dem Jahr 2000 verheiratet und hat zwei Kinder. Seine Frau ist nicht erwerbstätig.
V ERGLEICHENDE AUSWERTUNG
DER DREI
F ALLBEISPIELE
Einschulung und Schulzeit Sinan Koç wird mit sechs Jahren eingeschult und war vorher nicht im Kindergarten. Er erklärt, dass seinen Eltern die Bedeutung des Kindergartens bei ihrem ältesten Sohn noch nicht klar war. Seine jüngeren Geschwister besuchen später einen Kindergarten. Sinan Koç wächst in einem Nürnberger Stadtteil mit hohem Migrant/innenanteil auf und lernt erst in der Grundschule Deutsch. Nach der vierten Klasse kommt er auf Empfehlung der Lehrer/innen auf die Hauptschule, die ebenfalls im gleichen Stadtteil liegt. Dies bewertet er bis in die Gegenwart als nachteilig. In seiner Wohnumgebung und in der Familie spricht er überwiegend Türkisch. »Ich bin dort in die Schule gegangen, ist auch deswegen mein Deutsch so ein bisschen Bruchdeutsch, sage ich mal, weil ich nur unter Ausländern aufgewachsen bin. Wenn ich vielleicht in einem anderen Stadtteil aufgewachsen wäre, wäre anders, weil gehst du in die
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Schule, hast du nur türkische Freunde, kommst du von der Schule nach Hause, wird Türkisch geredet.«20
Auch Mehmet Oktay besucht vor dem Schuleintritt keinen Kindergarten. Als jüngster Sohn der Familie bleibt er mit der Mutter zu Hause. Aufgrund fehlender Deutschkenntnisse wird er bei der ersten Schuluntersuchung um ein Jahr zurückgestellt und erst mit sieben Jahren eingeschult. Eine Sprachförderung wird seitens der Bildungsinstitutionen nicht angeboten. »Ja, so habe ich dann einen Aufnahmetest gemacht für die Schule, ob wir mit sechs Jahren anfangen können. Bilder zuordnen und ja, Tiere zuordnen das war für mich nicht so schwierig, nur ich habe halt die Lehrerin nicht ganz verstanden damals. Ich habe es auch nicht geschafft, somit durften wir erst mit sieben Jahren in die Schule, also nicht mit sechs, sondern sind dann erst mit sieben eingeschult worden.«
Seine Mutter ist aufgrund fehlender Schulbildung und nicht vorhandener Sprachkenntnisse keine Unterstützung, sondern ist vielmehr selbst auf Sprachvermittlung angewiesen. Während Sinan Koç im segregierten Stadtgebiet in einer türkischsprachigen Umgebung später und schlechter Deutsch lernt, hat Mehmet Oktay in seinem Wohnumfeld deutschsprachige Freunde. Sein Vater meldet ihn zudem im Fußballverein an. Dadurch erfolgt auf der informellen Ebene in einer ländlichen Umgebung eine sprachliche und soziale Integration, die durch die Eltern initiiert wird. Veysel Bilen hingegen wird bereits früher, mit fünf Jahren eingeschult, da er von seinem nur wenig älteren Bruder zu Hause den Schulstoff der ersten Klasse gelernt hat. Er ist neugierig und interessiert an den Möglichkeiten der Schule und ein guter Schüler. Ältere Geschwister können für jüngere zwar eine Unterstützung sein, doch am Beispiel von Mehmet Oktay zeigt sich, dass alle Familienmitglieder damit überfordert sind. »Natürlich habe ich mich sehr schwer getan in der Schule, weil mein Vater, meine Mutter, die haben mir gar nicht helfen können, überhaupt nicht, die haben nur geschaut. Mein Vater machte Schichtarbeit und meine Brüder waren in der Pubertät. Sie haben versucht sich zu kümmern, aber haben, glaube ich, sehr viel selber um die Ohren gehabt damals, mit Hausaufgaben. Wir haben uns durchgemogelt, irgendwie aber nie sitzen geblieben, das war schon mal sehr, sehr positiv.« 20 Im Interesse der Lesbarkeit wird in diesem Beitrag auf Transkriptionszeichen für sprachliche Besonderheiten, Sprechpausen und Unterbrechungen verzichtet und eine leichte sprachliche Glättung der Interviewausschnitte vorgenommen.
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In allen drei Fällen erfolgt keine institutionelle Förderung oder Vorbereitung auf das deutschsprachige Bildungssystem. Den Eltern sind die Strukturen und Bildungsinstitutionen unbekannt. Sie verlassen sich auf die Empfehlungen und Einschätzungen der Lehrer/innen und werden kaum als wichtige Akteur/innen genannt, die in den Bildungslaufbahnen ihrer Kinder präsent sind. Gerade Sinan Koç, der sein Deutsch auch heute noch selbstkritisch als »Bruchdeutsch« bezeichnet, reflektiert kritisch die Haltung der Eltern und der Lehrer/innen. Dies erfolgt auch aufgrund seiner gegenwärtigen Rolle als Vater, der den Anspruch hat, sich aktiv für die Bildungslaufbahnen seiner Kinder einzusetzen. »Sie [die Eltern] haben immer den Lehrern vertraut und das ist denen ihr Fehler gewesen, denn sie [die Lehrer/innen] waren der Meinung, die ausländischen Schüler, vor allem die türkischen Schüler, wenn die in der Grenze sind vom Durchschnitt, von den Noten her sagen sie: Nein es wird schwierig, du bist Ausländer.«
Mehmet Oktay kommt ebenfalls in die Hauptschule. Er leidet unter den vorhandenen sprachlichen Defiziten und hat keine Unterstützung, weder durch Lehrer/ innen, Mitschüler/innen noch im familiären Umfeld. Er geht nicht gern in die Schule und erinnert sich bis in die Gegenwart an seine schulischen Misserfolge. Schulabschluss Für Sinan Koç stehen in der Adoleszenz außerschulische Interessen im Vordergrund. Er ist Mitglied diverser ethnisch homogener Gruppen von männlichen Jugendlichen im Stadtteil Gostenhof. Von illegalen Aktivitäten hält er sich überwiegend fern, interessiert sich in dieser Phase besonders für Mädchen und hat Freundinnen, die aber nicht wie er türkeistämmige Eltern haben. Im Rückblick bewertet er die fehlende Kontrolle und das mangelnde Interesse des Vaters als negativ. Er erhält einen einfachen Hauptschulabschluss, da er an mehreren Prüfungen nicht teilnimmt. Auch Mehmet Oktay werden am Ende der Schulzeit vor allem seine sprachlichen Defizite schmerzlich bewusst. »Man muss sich jetzt zusammenreißen und versuchen, einigermaßen was auf die Beine zu stellen. Man hat dann im Gespräch auch gemerkt, dass wir uns nicht richtig ausdrücken können, dass wir dann oft die Artikel falsch gesagt haben. Wir waren diejenigen, die leicht gehänselt werden oder verarscht werden. Ich habe die Prüfung für den Quali21 in der
21 Umgangssprachliche Kurzform für den Qualifizierten Hauptschulabschluss, den das Bayerische Schulgesetz vorsieht.
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Hauptschule gemacht, leider nicht geschafft. Damals habe ich dann auch nicht noch mal wiederholt.«
Auch er verlässt die Schule mit einem einfachen Hauptschulabgangszeugnis. Veysel Bilen hingegen kommt nach der zweijährigen Förderstufe in der siebten Klasse in ein Gymnasium. Seine Motivation ist allerding gering, sodass er zunächst eine Klassenstufe wiederholt und in der achten Klasse während einer Klassenfahrt vom Vater auf Empfehlung der Lehrer/innen an der Realschule angemeldet wird. »In der siebten Klasse, war ich dann schon ein bisschen faul, sag ich mal, weil das was anderes war, auf der neuen Schule. Ich war halt kein Kind, das sich noch zu Hause hingesetzt hat und gelernt hat. Ich bin dann auch in der siebten Klasse sitzen geblieben.«
Auf der Realschule hat er dann »eineinhalb ruhige Jahre«. Er lernt Französisch, da ihn Sprachen interessieren, ist aber nicht besonders engagiert. Er fühlt sich nicht besonders gefordert und macht schließlich einen durchschnittlichen Realschulabschluss. Zwar sind der Schulbesuch und ein Schulabschluss seitens der Eltern erwünscht, allerdings erfolgt in der Praxis keine Förderung und Unterstützung der Kinder in ihrer Schullaufbahn. Die Eltern sind mit Erwerbstätigkeit und/oder Haushaltstätigkeiten sowie der Betreuung jüngerer Geschwister beschäftigt, die Väter in der Regel ganztägig und im Schichtbetrieb außer Haus. Im Fall von Sinan Koç ist auch die Mutter erwerbstätig. Aber auch wenn die Mütter nicht erwerbstätig sind, verfügen sie nicht über die vom Bildungssystem erwarteten kulturellen und sozialen Ressourcen. Sowohl die Kinderbetreuung wie auch die Bildungsförderung der Kinder liegt im korporatistisch-konservativen Wohlfahrtsstaat der Bundesrepublik Deutschland22 in der Verantwortung der Institution Familie. Im Zuge der »unstrukturierten Niederlassungsprozesse«23, durch die die Migrant/innen Familien nachholen oder neu gründen und die von keinen strukturierten sozialpolitischen Maßnahmen begleitet werden, sind die Familien der Arbeitsmigrant/innen aus der Türkei kaum in der Lage, die Erwartungen der Bildungsinstitutionen zu erkennen und mit adäquaten Mitteln umzusetzen.
22 Vgl. dazu Pinl 2003. 23 Luft 2009: 57
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Berufsausbildung Die Berufswahl erfolgt am Ende der Schulzeit und wird maßgeblich beeinflusst durch finanzielle Erwägungen, familiäre Netzwerke und Vorbilder in der Familie. Sinan Koç möchte weiter zur Schule gehen, verpasst aber die Anmeldefristen.24 Er wählt den Maurerberuf aufgrund der hohen Ausbildungsvergütung, »um ein Jahr gutes Geld zu verdienen…«. Bereits seine erste Bewerbung ist erfolgreich und am Ende des ersten Ausbildungsjahres spielt der Wunsch nach weiterem Schulbesuch keine Rolle mehr, sodass er die Ausbildung erfolgreich abschließt. Mehmet Oktay hat am Ende der Schulzeit »keine Ahnung, was ich arbeiten soll…«. Der Computer im Arbeitsamt sucht ihm die Berufe heraus, die er mit seinem Schulabschluss ausüben kann. Er selbst beschränkt diese Auswahl noch weiter auf Berufe im handwerklich-technischen Bereich; er schreibt »viele Bewerbungen, sinnlose…«. Schließlich findet er über einen Bekannten der Familie einen Ausbildungsplatz als Schlosser in einem Kfz-Betrieb. Der Chef schikaniert die türkischen Auszubildenden, trotzdem schließt er die Ausbildung erfolgreich ab. »Dann waren Gott sei Dank die Eltern dahinter, dass man das richtig gemacht hat. Man ist aufgestanden, hingegangen, ja und wirklich nach dieser Ausbildung, das war auch körperlich schwer, ist mir keine Arbeit schwer gefallen. Das hat mein Vater mir auch gesagt: ›Du hast sehr viel Glück gehabt, dass deine Arbeit seelisch, psychisch, körperlich, schwer war. Gut, dass du es überstanden hast, denn, wer einmal am Anfang ganz schwer gearbeitet hat, dem fallen die anderen Arbeiten dann mal leicht.‹«
Veysel Bilen hingegen entwickelt im letzten Schuljahr einen konkreten Berufswunsch außerhalb des technischen Bereichs und reflektiert die Unterschiede, die zwischen Berufsgruppen und sozialen Klassen bestehen. »Die Sparkasse bei uns um die Ecke, das war immer so etwas Besonderes für mich. Das hat mich immer so beeindruckt, die Arbeiter dort, weil ich das ja eigentlich so von der Arbeiterklasse von meinem Vater her kenne. Er geht arbeiten, hart arbeiten, muss sich umziehen, hat dreckige Finger, und ich hab immer gesagt: ›Ich will einen Job machen, wo ich keine dreckigen Finger habe, schön mit dem Anzug sitzen und so.‹ Diese Sparkasse hat mich eigentlich immer so beeindruckt.« 24 Er präsentiert sich als verhinderter Bildungsaufsteiger, der zwar die Option gehabt hätte, aber sie aus Gründen, die er außerhalb seiner Person verortet, dann doch nicht nutzt.
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Er bewirbt sich, bekommt aber nur einen weit vom Wohnort der Eltern entfernten Ausbildungsplatz in einer Bankfiliale. Er müsste täglich pendeln und entscheidet sich deshalb für die Ausbildung zum Industriemechaniker bei Opel, wo bereits sein älterer Bruder eine Ausbildung begonnen hat. In der ersten Zeit sind seine Noten in der Berufsschule nicht besonders gut, durch einen zusätzlich angebotenen Stützkurs aber wird er zu einem guten Schüler und schließt die Ausbildung erfolgreich ab. Die Berufswahl erfolgt bei allen drei Männern innerhalb eines strukturell vorgegebenen Rahmens, der in erster Linie durch den erreichten Schulabschluss bestimmt wird. Zudem sind traditionelle Männerberufe im handwerklichtechnischen Bereich und das zu erwartende Einkommen von Interesse. Darüber hinaus sind es durch Vorbilder in der Familie und den sozialen Netzwerken bekannte Tätigkeiten und die Arbeitsorte der Elterngeneration, mit denen eine soziale Anerkennung als Mann verbunden wird. Während die ersten Schritte der Berufswahl im institutionalisierten Umfeld der Schule erfolgen, unterstützt das soziale Netzwerk den Eintritt in die Arbeitswelt maßgeblich durch Vermittlung von Ausbildungsstellen, jenseits der formalen Wege. Außerdem wirkt das familiale Netzwerk unterstützend und fördernd, wenn es während der Ausbildung schwierig wird. Das Erreichen eines Berufsabschlusses ist für die interviewten Männer der zweiten und dritten Generation von großer Bedeutung, da damit die entscheidende Schwelle des Übergangs in die Arbeitswelt mit ihren sozialen Anerkennungsmechanismen markiert wird. Dies ist in den Familien bekannt und wird anerkannt, auch wenn die Kinder auf dem Weg dorthin nur unzureichend angeleitet werden können. Die Möglichkeit eines beruflichen Übergangs in einen nicht-technischen Angestelltenberuf wird in Erwägung gezogen, ebenso eine Fortsetzung der Bildungslaufbahn. Allerdings scheint die Umsetzung aufgrund der strukturellen Rahmenbedingungen und fehlender Vorbilder in Familie und sozialem Umfeld schwerer vorstellbar zu sein.
I DENTITÄTSKONSTRUKTIONEN
ÜBER
E RWERBSARBEIT
Veysel Bilen – Großunternehmen als sichere Basis Veysel Bilen kommt über sein familiales Netzwerk in das Großunternehmen Opel/General Motors (GM). Die räumliche Nähe spielt ebenso eine Rolle wie die handwerklich-technische Ausrichtung des Berufes. Sein davon abweichender Berufswunsch ist nicht zu realisieren. Die Frage, ob mit seinem Realschulab-
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schluss eine solche Ausbildung auch im Großunternehmen Opel zu machen wäre, stellt er sich nicht. Er arrangiert sich innerhalb der Möglichkeiten, die sich ihm bieten, und vermeidet eine räumliche Trennung von der Familie. »Es macht mir eigentlich heute noch so viel Spaß wie am ersten Tag. Eh- auch in der Ausbildung hat es schon angefangen, obwohl ich von der Materie eigentlich gar keine Ahnung hatte. Ich hab den Beruf genommen, weil mein Bruder ihn auch genommen hatte.«
Veysel Bilen arbeitet im Gegensatz zu den beiden anderen Interviewten durchgehend bei Opel/GM. Er wechselt innerhalb des Unternehmens mehrmals die beruflichen Positionen und Tätigkeiten. Nach dem Ausbildungsabschluss arbeitet er einige Monate in der Lackiererei und wird schließlich für ein Jahr ins OpelWerk Bochum in die Produktion geschickt. Er lebt in dieser Zeit in einer Wohngemeinschaft mit einem Kollegen. Die Trennung von der Familie belastet ihn sehr. Er kann sich nicht vorstellen, endgültig aus Rüsselsheim wegzuziehen. Nach seiner Rückkehr bietet ihm Opel eine Stelle im Trainingscenter an. Da zu dem Zeitpunkt keine Alternativen bestehen, lässt er sich darauf ein. Er arbeitet einige Jahre als Testfahrer im Schichtbetrieb und wird im Alter von nur 24 Jahren Kolonnenführer von 20 Mitarbeitern. Umstrukturierungsmaßnahmen im Testcenter, der Ausbau seiner Englischkenntnisse wie auch die Förderung durch seine Vorgesetzten führen dazu, dass sich ihm attraktive Aufstiegschancen bieten. Durch die Weiterbildung wird er zum Ausbilder von Testfahrern und koordiniert darüber hinaus Trainings- und Testfahrten außerhalb Deutschlands. Er fühlt sich in der Gegenwart dem Großbetrieb Opel/GM in hohem Maße verpflichtet, identifiziert sich mit der Tradition des Unternehmens und lobt die innerbetrieblichen Aufstiegsmöglichkeiten, von denen er kontinuierlich profitiert. Wie bereits seinem Vater bietet ihm das Großunternehmen einen stabilen Arbeitsplatz und eine gesicherte Existenz für sich und seine Familie. Während der Vater in der Produktion körperlich anstrengende manuelle Tätigkeiten ausführt, ist ihm der soziale Aufstieg in einen Bereich gelungen, in dem er praktisch-technische und administrative Tätigkeiten miteinander verbinden kann. »Es macht mir Spaß zu arbeiten, auch für Opel zu arbeiten, auch Opel zu repräsentieren. Ich bin auch keiner der sagt, ich habe jetzt Feierabend, ich schließ mit Opel ab, bis zum nächsten Morgen, wenn die Schicht wieder beginnt. Ich bin auch mit Opel groß geworden, durch meinen Vater. Es ist nicht nur mein Arbeitgeber, sondern, es liegt mir schon auch am Herzen, die Firma.«
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Sinan Koç – Unsichere Zukunft? Sinan Koç arbeitet nach der Ausbildung als Maurer etwa drei Jahre auf verschiedenen Baustellen, die unter anderem außerhalb Nürnbergs liegen, sodass er häufig über mehrere Monate hinweg während der Arbeitswoche in Containern und Pensionen in Baustellennähe untergebracht ist. Vor allem die Unterbringung in Containern mit anderen Männern nimmt er als belastend wahr. »Jeder Mensch ist ja nicht gleich, der eine trinkt, der andere macht das und auf dem Bau trinkst du ja nur, die meisten waren Alkoholiker. Das hat mir nicht gepasst. Das war auch einer von den Gründen, dass ich da weg war, dass Bau doch nicht das Richtige für mich war.«
Seine Heirat ist schließlich der Anlass für die berufliche Veränderung. Da seine Eltern wie auch die Geschwister der Mutter langjährig bei AEG arbeiten, bekommt er dort ebenfalls eine Stelle und wechselt als angelernter Arbeiter in die Produktion. Die Identifikation mit dem Unternehmen »deutscher Wertprodukte« ist hoch, und er nimmt die eher anspruchslose Schichtarbeit am Montageband nicht als degradierend war. Noch heute ist es ihm wichtig, auf das familiäre Betriebsklima hinzuweisen, das für eine hohe Arbeitszufriedenheit gesorgt hat. Durch die Werksschließung werden das Miteinander und damit die Zufriedenheit mit der beruflichen Situation innerhalb eines kurzen Zeitraums zunichte gemacht. Während die älteren Verwandten mit einer »guten Abfindung« in den Ruhestand gehen, wird er aufgrund seiner kurzen Betriebszugehörigkeit als einer der Ersten entlassen. Die Neuorientierung erfolgt im Rahmen einer Trainingsmaßnahme auf der Basis von Kurzarbeitergeld. Auch wenn er innerhalb weniger Monate über seine sozialen Netzwerke einen neuen Arbeitsplatz findet, bewertet er seine gegenwärtige Erwerbsarbeit stets bezogen auf die Zeit, in der er bei AEG gearbeitet hat. Vor allem die Konkurrenz mit rechtlich besser gestellten Spätaussiedler/innen führt dazu, dass er an seinem aktuellen Arbeitsplatz unzufrieden ist. Zunehmend wird ihm die Bedeutung formaler Qualifikationen bewusst, die er nicht vorweisen kann. Die Anforderungen und Erwartungen an ihn als männlichen Alleinverdiener überfordern und verunsichern ihn in Hinblick auf seine längerfristigen beruflichen Perspektiven. Über eine Weiterqualifizierung denkt er nach, kann sich die praktische Umsetzung angesichts seines anstrengenden Berufsalltags im Schichtbetrieb nur schwer vorstellen. »Ich bin der Meinung, man braucht nicht immer Qualifikationen, man muss den Menschen manchmal auch die Chance geben können. Zum Beispiel, wenn ich jetzt in der Fir-
182 | C ARINA G ROSSER-K AYA ma Einsteller werden möchte, braucht man den Meisterbrief jetzt, das ist zu viel. Wenn man mir jetzt sagt: ›Du Sinan, machst jetzt diese Arbeit, die ein Meister macht‹, bin ich der Meinung, ich schaffe das auch. Man muss dem Mitarbeiter eine Chance geben, nicht immer nur nach den Qualifikationen schauen.«
Mehmet Oktay – Ganz neue Wege gehen Mehmet Oktay arbeitet nach abgeschlossener Schlosserausbildung nicht in seinem erlernten Beruf. Nach Vermittlung durch das familiale Netzwerk ist er fast drei Jahre am Montageband bei einem Zuliefererbetrieb der Automobilindustrie tätig. Die Arbeit bezeichnet er als »richtige Affenarbeit« und ist sich sicher: »Ich will das nicht machen bis 65.« Er steigt in eine extrem prekäre Selbstständigkeit als freiberuflicher Finanzberater um. Nach zwei Jahren gibt er auf und meldet sich das erste Mal arbeitslos. »Beim Arbeitsamt haben sie gesagt: ›Ja wir finden Ihnen Schlosserstellen, ganz sicher.‹ Aber keine einzige haben sie mir vermitteln können. Ich habe, ungelogen, 40 Bewerbungen in drei Monaten geschrieben, nicht eine Stelle wurde mir vom Arbeitsamt vermittelt.«
Da eine Umschulung vom Arbeitsamt abgelehnt wird und er keine Stelle im erlernten Beruf findet, wird er schließlich Leiharbeiter bei BMW. Er erhält befristete Verträge und ein geringeres Einkommen als die Stammbelegschaft. Allerdings wird ihm in informellen Gesprächen in Aussicht gestellt, den Arbeitsplatz seines Vaters zu übernehmen, wenn dieser in Rente geht. Dies erfolgt in der Praxis jedoch nicht und es gelingt ihm in den fünf Jahren Leiharbeit nicht, eine Direktanstellung bei BMW zu bekommen. Trotz seiner prinzipiellen Ablehnung von monotoner Montagearbeit am Fließband ist er zu diesem Schritt grundsätzlich bereit, da er sich davon angesichts der beruflichen Enttäuschungen durch Selbstständigkeit und Zeitarbeit eine wesentliche Verbesserung seiner beruflichen und ökonomischen Situation verspricht. Zudem arbeiten alle weiteren männlichen Familienmitglieder im technischen Bereich verschiedener Großunternehmen. Die aufgrund der Enttäuschung seiner Hoffnungen resultierende berufliche Neuorientierung wird im Fall von Mehmet Oktay vor allem durch die Frauen (seine Ehefrau und eine seiner Nichten) in der Familie gefördert. Sie sind im sozialen Bereich tätig und motivieren ihn, sich für eine Ausbildung als Krankenpfleger zu entscheiden. Den Ausbildungsplatz findet er selbstständig, das Arbeitsamt lehnt die Finanzierung einer Umschulung ab. Der Vorgesetzte im Krankenhaus, in dem er die Ausbildung beginnt, motiviert ihn durch die Aussicht, dass Männer mit Migrationsgeschichte in der Krankenpflege stark nachgefragt
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werden. Im Verlauf der Ausbildung macht er zum ersten Mal in seinem Leben die Erfahrung, dass er in Lernprozessen erfolgreich sein kann: »Ich hätte nicht gedacht, dass es so gut klappt. Es ist schon eine Umstellung, wenn man vom Metallberuf in einen Medizinbereich kommt. Ich hatte es am Anfang sehr schwer, aber lernen, lernen, lernen anders ging es nicht, und sich dann selber in den Arsch treten, dann hat es halt funktioniert. Im ersten Jahr hatte ich einen Notendurchschnitt von 1,8. Das hätte ich früher nie gedacht, weil ich war ja immer der Dreier-, Vierer-, Fünferschüler.«
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UND
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SOZIALER
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Das Erreichen eines qualifizierten Bildungsabschlusses ist durch strukturelle wie soziale Barrieren gekennzeichnet. Im Bildungssystem werden die Lebenswirklichkeiten von Kindern aus Migrant/innenfamilien nicht wahrgenommen. Durch die ökonomische und soziale Situation der Familien, aber auch durch die Diskriminierung aufgrund ethnischer Zugehörigkeiten wird die marginalisierte Position der Angehörigen der zweiten und dritten Generation noch verschärft. Hinzukommt, dass die Elterngeneration überwiegend mit Erwerbsarbeit beschäftigt ist, sodass die Kinder gerade während ihrer schulischen Laufbahn keine kompetenten Ansprechpartner/innen haben. Beim Übergang in die Erwerbstätigkeit aber zeigen die Fallbeispiele deutlich, dass die Unterstützung durch das familiale Netzwerk erheblich mehr ins Gewicht fällt. In Bezug auf Erwerbstätigkeit sind praktische Vorerfahrungen vorhanden, Väter und ältere Brüder wie auch die familialen Netzwerke treten als Vorbilder und Ratgeber in Erscheinung, wenn der formal durch Berufsberatung und Bewerbungsverfahren strukturierte Übergang schwierig zu werden scheint. Während im Bildungssystem durch strukturelle Barrieren das Erreichen einer günstigen Ausgangslage für den sozialen Aufstieg erschwert wird, weist das Ausbildungssystem Zugangserleichterungen auf, die informell und über soziale Netzwerke erreichbar sind. Auch wenn nach einem Schulabschluss grundsätzlich andere Optionen vorhanden sind, so steht eine berufliche Ausbildung im Vordergrund. Vorstellbar sind in erster Linie Berufe im handwerklich-technischen Bereich. Die körperlich schwere Arbeit des Vaters wird dabei zum ambivalenten Vorbild. Einerseits erscheint die Männlichkeitskonstruktion über die ausgewählten Berufe als unhinterfragt möglich und erwünscht, andererseits ist ein Übergang in einen Angestelltenberuf durchaus vorstellbar und wegen seines implizierten Statuszuwachses sozial erwünscht. Das Gleiche gilt für einen weiteren Schulbesuch mit der
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Aussicht auf einen Bildungsaufstieg. In der Praxis jedoch erscheint die duale Berufsausbildung als die erste Schwelle auf dem Weg ins Berufsleben und die Grundlage für die Anerkennung als Erwachsener. Der offizielle Eintritt in die Arbeitswelt wird symbolisiert durch eine entlohnte Erwerbstätigkeit in Vollzeit. Die erste erfolgreiche berufliche Ausbildung bildet jedoch nicht die direkte Ausgangsbasis für eine berufliche Weiterqualifizierung, was dadurch zum Ausdruck kommt, dass keiner der Interviewten mehr im erlernten Beruf arbeitet. Ein linearer beruflicher Aufstieg wird nicht erreicht, in dem formalisierte Weiterqualifizierungswege durch ergänzende Schulabschlüsse, Meisterprüfungen und Weiterbildungen auf der Grundlage des erlernten Berufes angestrebt werden. Vielmehr zeigt sich die Tendenz der zeitweisen Adaption des Arbeitsmodells der Elterngeneration in Form von Schicht- und Fließbandarbeit in industriellen Großbetrieben. Durch die Konstruktion männlicher Erwerbsarbeit als körperlich schwerer Fabrikarbeit erfolgt die intergenerative Tradierung von erwünschten, zumindest aber akzeptablen und damit sozial anerkannten Erwerbsarbeitsmustern. Ausgehend von einer beruflichen Basisqualifikation wird über einen Übergang in den Angestelltenberuf bzw. über weiterführende Bildungsabschlüsse nachgedacht, die konkrete Umsetzung wird allerdings durch die intergenerativ vermittelte Vorstellung einer männlichen Normalbiographie und einer Verortung männlicher Erwerbsarbeit im handwerklich-technischen Bereich maßgeblich beeinflusst. Ein Ausstieg aus dem sozialen Anerkennungsmodell, das die Erwerbsarbeit anbietet, wird auch deshalb nicht in Erwägung gezogen, da sich an die erste Phase der Erwerbsarbeit die Familiengründungsphase anschließt. Gerade vor dem Hintergrund familialer Verantwortung, die über die ökonomische Versorgung hinausgeht, erweist sich die Schichtarbeit als problematisch für das familiäre Zeitmanagement, die sozialen Beziehungen und die Gesundheit. Trotzdem wird Schichtarbeit als Ausdruck besonderer, männlich konnotierter Leistungsfähigkeit und Flexibilität bewertet. Umorientierungen erfolgen in Lebensphasen, in denen berufsbiographische Brüche wie Entlassungen, aber auch Gelegenheitsstrukturen wie die Option auf den innerbetrieblichen Wechsel des Tätigkeitsfeldes eine Möglichkeit bieten, sich informell weiterzuqualifizieren. Die sozialen Positionierungen über Erwerbsarbeit folgen damit einer Dreiteilung des Lebenslaufs. Ein Bildungsabschluss, sich daran anschließende Erwerbstätigkeit einschließlich Ausbildung sowie die Familiengründung konstituieren die als selbstverständlich angenommenen Rahmungen. Erwerbsarbeit steht seit dem Ende der Schulzeit im Zentrum der männlichen Identitätskonstruktionen mit dem Ziel, als Ehemann und Vater für Ehefrau und Kinder ökonomisch und sozial sorgen zu können. Der Übergang zur Anerkennung als erwachsener Mann wird durch die Heirat erreicht, was Mehmet Oktay zum Ausdruck bringt, wenn er
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sagt: »Erst nach dem Heiraten ist man erst eigentlich erwachsen.« Die Unabhängigkeit von staatlichen Transferzahlungen ist darüber hinaus ein wesentliches Element einer positiven sozialen Selbstverortung als erwachsener Mann. Phasen von Nicht-Arbeit im Zuge von Entlassungen und Werksschließungen werden als elementare Verunsicherungen wahrgenommen. Damit wird nicht nur die ökonomische Grundlage, sondern das elementare Bedürfnis nach sozialer Anerkennung über eine angemessen bezahlte Erwerbsarbeit außer Kraft gesetzt. Auch die Konstruktion als männlicher Alleinverdiener sorgt für großen Erwartungsdruck, möglichst schnell einen neuen Arbeitsplatz zu finden und ihn auf Dauer zu halten. Arbeitsbedingungen und Betriebsklima werden dabei den ökonomischen Erwartungen untergeordnet, wie sich am Beispiel von Sinan Koç zeigt. Bei Mehmet Oktay führen zwei mehrmonatige Phasen von Arbeitslosigkeit dazu, dass er sich für eine vollständige berufliche Neuorientierung entscheidet, die vorübergehend zu erheblichen finanziellen Einbußen führt. Da er noch keine Kinder hat, für deren Versorgung er sich in der Verantwortung sieht, und er darüber hinaus stets gemeinsam mit seiner Ehefrau für das Familieneinkommen gesorgt hat, kann er sich auf diese Phase einlassen. Veysel Bilen hingegen kann auf eine langjährige Betriebszugehörigkeit zurückblicken und seine berufliche Position stetig ausbauen. Vor allem innerbetriebliche Umstrukturierungen und seine Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Technologien und beruflicher Weiterbildung ermöglichen ihm einen kontinuierlichen sozialen Aufstieg. Die familiäre Reproduktionsarbeit übernimmt dabei jedoch überwiegend seine Ehefrau, sodass er über die zeitlichen Ressourcen verfügt, die für Weiterbildungen und Dienstreisen erforderlich sind. Gleichzeitig präsentiert er sich als engagierter und aktiver Vater, der die Übernahme von Erziehungsverantwortung gerade vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen in den Bildungsinstitutionen besonders hervorhebt. Auch Sinan Koç präsentiert sich als interessierter und engagierter Vater. Die Auseinandersetzung mit Marginalisierungserfahrungen in der Kindheit, berufstätigen Eltern und Diskriminierung führt dazu, dass nicht mehr ausschließlich die Erwerbsarbeit als Grundlage der Identitätskonstruktion wirksam wird, sondern vielmehr alternative Konzepte wie aktive Vaterschaft, soziales Engagement und intergenerative Fürsorgeverantwortung verhandelt werden.
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Die Normsetzer/innen der gebrochenen Lebensläufe Über Arbeit und Leben nach dem politischen Umbruch I NGA H AESE
Die Einwohner/innenzahl von Wittenberge ist in den letzten Jahren um ein Drittel gesunken. 1977 lebten in dieser Stadt im Osten Deutschlands 33.000 Menschen, 1990 noch 29.000 und 2013 knapp unter 18.000. Der massiv von demographischer und wirtschaftlicher Schrumpfung betroffenen Stadt ist im wahrsten Sinne des Wortes die Arbeit ausgegangen: Drei Fabriken schlossen hier ihre Tore, nachdem der politische Umbruch von 1990 den wirtschaftlichen eingeläutet hatte.1 Was bleibt normal, wenn die althergebrachten Lebens- und Arbeitsmodelle von einem auf den anderen Tag wegbrechen? Der Stellenwert von Arbeit im Leben und im Lebenslauf muss, wenn es keine Arbeit mehr gibt, neu verhandelt werden; neue Normalitätskonstruktionen sind nötig. Dieser Beitrag widmet sich jenen Akteur/innen, die mit eigenwilligen Entwürfen eine Normalität konstruieren, zu der der Mangel an Arbeit, wie er den Alltag Wittenberges prägt, wesentlich dazugehört. Vor allem wird es darum gehen aufzuzeigen, welche Normenkonstruktionen in Bezug auf Arbeit von diesen unkonventionellen Akteur/innen vorgenommen werden. Die untersuchten Fälle stammen aus Forschungsmaterial, das im nordbrandenburgischen Wittenberge im Rahmen eines Feldforschungsprojekts erhoben wurde.2
1 2
Vgl. Bude 2011. Der Forschungsverbund »›Social Capital‹ im Umbruch europäischer Gesellschaften – Familie, Generationen, Communities« befasste sich drei Jahre lang mit den Auswirkungen des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Umbruchs in Europa. Der Schwerpunkt sämtlicher Teilprojekte lag auf der ethnographischen Feldforschung
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Wittenberge steht dabei nicht nur beispielhaft für viele Städte Ostdeutschlands, sondern auch für solche in weiten Teilen Europas, die sich vom Industriezeitalter mit seinen normalisierten Erwerbsverläufen verabschieden mussten.3 Die rapide Deindustrialisierung wirkt in der ostdeutschen Stadt wie ein Katalysator für die ökonomischen und sozialen Veränderungen, mit denen auch andere Regionen konfrontiert sind. Dieser Beitrag erläutert nach einer kurzen Begriffsklärung über Akte des Normsetzens die historische Dimension dessen, was konstitutiv für die Konstruktion von Normalität und schließlich für deren Erschütterung und Neuverhandlung ist. Anschließend werden drei Fallbeispiele erörtert, die im Feld als charismatische Akteur/innen identifiziert wurden.
I. AKTE
DER
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Mit Max Weber kann der Akt des Normsetzens als ein klassisches Krisenphänomen verstanden werden: In Krisenzeiten, so Weber, sind es die charismatischen Akteure, die neue Normen etablieren können. »Die Schöpfung einer charismatischen Herrschaft […] ist stets das Kind ungewöhnlicher äußerer, speziell politischer oder ökonomischer, oder innerer seelischer, namentlich religiöser Situationen, oder beider zusammen.«4 Dass man an charismatische Hoffnungsträger/innen und ihre unmittelbare Anhängerschaft glaubt und sich ihnen anschließt, scheint eine plausible Antwort auf die Erfahrung von Unsicherheit und Destabilisierung zu sein. Der Erfolg von charismatischen Außenseiter/innen im politischen Feld, wie etwa Barack Obamas Wahlsieg im Krisenjahr 2008, scheint die These einmal mehr zu bestätigen.5 Allerdings beruhen die persönlichen Eigenschaften, die einer charismatischen Person zugeschrieben werden, immer darauf, dass die Gefolgsleute bestimmte Eigenschaften, bestimmte Werte und bestimmte Ankündigungen als charismatisch konstruieren. Obamas »Change!«-
in der deindustrialisierten und massiv von Schrumpfung und Arbeitslosigkeit betroffenen Stadt Wittenberge. Während der Feldforschung »beackerten« acht Doktorand/innen das Feld, d.h. wir verlegten unseren Wohnort für acht Monate in die Stadt. Mithilfe von qualitativen, biographischen Interviews und teilnehmenden Beobachtungen haben wir das Leben von Akteur/innen und sozialen Gruppen in der Stadt aufund nachgezeichnet, jeweils fokussiert auf die Themensetzung der Teilprojekte (vgl. Bude/Medicus/Willisch 2011). 3
Zu Ergebnissen der europäischen Forschung vgl. Eckert 2012; Haese 2012.
4
Weber 1972: 669.
5
Vgl. Reiber/Bliesemann 2011; Knorr-Cetina 2009.
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Schlachtruf etwa korrespondierte mit seiner außergewöhnlichen Biographie und wurde durch die Social-Media-basierte und damit besonders web- und technologieaffine Kampagne in Szene gesetzt.6 Die krisengebeutelten amerikanischen Demokrat/innen, später auch die Wähler/innen, erlagen ihrer eigenen Sehnsucht nach einem strahlenden, neuen Amerika. Eine Person taugt also immer erst dann zum/r Charismaträger/in, wenn sie eine Botschaft verkörpert, die jenseits der althergebrachten Normen und Riten für etwas Neues steht – für einen Regelbruch, eine revolutionäre Vision. Darüber versprechen Charismatiker/innen eine neue Ordnung und neue Werte7 – im Versuch, »neue Regeln zu etablieren«8. Lepsius geht in seiner Weber-Interpretation gar dazu über, von einer charismatischen Herrschaft nur dann zu sprechen, wenn der Ankündigung und dem Versprechen von Neuem auch eine tatsächliche Neugestaltung bisher geltender Verfahren einsetzt. Für ihn gehört dazu auch, dass der/die Charismatiker/in unabhängige Institutionen und die öffentliche Meinung ihrer Kontrollfunktion enthebt, um als charismatische Führer/in gelten zu können, sonst müsse von dem Führenden als Idol gesprochen werden.9 Die Grenzen zwischen einer Idolisierung und der Charismatisierung einer Person sind daher fließend, und nicht selten können wir die Idee des Neuen von dem schlichten Versprechen einer Neuverkleidung des Alten im Gewand des Populismus kaum unterscheiden.10 Popularität, Idolisierung und Charismatisierung sind somit, wenn sie auch ein und derselben Wurzel der Faszination entspringen, gerade hinsichtlich der revolutionären Botschaft zu unterscheiden. Stephen P. Turner überlegte, dass charismatische Anführer/innen diejenigen sein müssen, die bereit sind, ein Risiko einzugehen, das bisher niemand einzugehen wagte. Charismatiker/innen verschieben demnach bei denjenigen, die ihnen folgen, die Grenze einer Risikowahrnehmung.11 Sie stellen Normen infrage, indem sie ihre eigenen setzen. Charismatiker/innen sind daher nicht nur als richtungsweisende Dramatisierer/innen zu sehen, die von den Zuschreibungen ihrer Außeralltäglichkeit leben,12 sondern treten als »Normsetzer«13 des Alltags auf. Charismatische Lösungen sind damit auch Akte der Normsetzung, hervorgerufen durch charismatisierte Personen, die adäquate Situationsdeutungen anbieten 6
Vgl. Knorr-Cetina 2009: 136.
7
Vgl. Turner 2007: 102.
8
Bude 1989: 411.
9
Vgl. Lepsius 1993: 99.
10 Vgl. Soeffner 1993: 199. 11 Vgl. Turner 1995. 12 Davon spricht etwa Wolfgang Lipp 1993: 16. 13 Popitz 1980: 45.
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können. Als Normsetzer/innen wirken Charismatiker/innen innovierend auf eine Gruppe ein und vermitteln ihr Würde.14 Situationen des Umbruchs – zumal eines radikalen Umbruchs – bringen demnach einen gesteigerten Bedarf an charismatischen Versprechen mit sich und damit an Normsetzer/innen, die diese verkörpern. Die Abwesenheit eines durch Arbeit gekennzeichneten Alltags macht das prekäre Leben in prekären Regionen oder schrumpfenden Städten zu einer Situation, in der Normalität neu verhandelt wird und neue Normen gesetzt werden müssen. Diese Tatsache nahm Wolfgang Engler schon Ende der 1990er-Jahre zum Anlass, »die Ostdeutschen« als »Avantgarde« auszurufen, die prädestiniert sei, in einer postindustriellen Gesellschaft adäquate Überlebensstrategien zu entwickeln.15 Die Krise der (europäischen) Arbeitsgesellschaft sollte demnach einen Ort wie Wittenberge zu einem Mekka der alternativen Chancen machen. Hier sind charismatische Akteur/innen aufgerufen, Normen zu verschieben und neue Normalitäten zu erzeugen. Aus dem Material der Feldforschung lassen sich nach diesen Prämissen verschiedene Akteur/innen als charismatische Normsetzer/innen herausarbeiten. So sind Porträts von Akteur/innen entstanden, die hier in prägnanten Ausschnitten vorgestellt werden und die sich anhand ihrer jeweiligen charismatischen Mobilisierungsbotschaften voneinander unterscheiden lassen.16
II. H ISTORISCHES Um Akte neuer Normsetzungen identifizieren zu können, bedarf es einer kurzen historischen Kontextualisierung des Forschungsfeldes.17 Wittenberge galt als Vorzeigeindustriestadt in der DDR, gründete sich doch der Stolz der Wittenberger/innen auf dem Mythos der früh industrialisierten Stadt, in der Nähmaschinen für den Weltmarkt produziert und verschifft wurden. Die Gründerzeitarchitektur orientierte sich am Vorbild Berlin. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erbaute der
14 Vgl. Popitz 1980: 45; Lipp 1985. 15 Vgl. Engler 2002. 16 Dass die Mobilisierung einer Gefolgschaft bedarf bzw. dass mit charismatischen Botschaften Gefolgschaften mobilisiert werden, ist eine frühe Erkenntnis in der Charismaforschung (vgl. Weber 1972; Lipp 1993). 17 Eine ausführliche Kontextualisierung ist bei Eckert/Haese/Willisch 2012 zu finden. Eine Erörterung des Forschungsfeldes in seiner historischen und vor allem soziologischen Bedeutsamkeit unternimmt Bude 2011.
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Singer-Konzern hier eine Fabrik, deren einstiger Wasserturm bis heute als Wahrzeichen der Stadt gilt. Die Arbeiter/innen zogen in Scharen nach Wittenberge: Neben dem Nähmaschinenwerk und einer Ölmühle sowie einem Werk für Eisenbahnreparaturen konnten sie in Tuchfabriken und zahlreichen Zulieferbetrieben arbeiten. Ende der 1930er-Jahre wurde unter den Nationalsozialisten eine Fabrik für Zellstoff errichtet. Auch in dieser Zeit fungierte die Stadt als Vorzeigeindustriestadt, historische Bilder zeigen aufwendig beflaggte Straßen.18 Vorzeigbar sollte Wittenberge auch für den sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat werden. Im Zellstoffwerk wurde nun das Papier für das Neue Deutschland hergestellt, auf dem die SED ihre täglichen Nachrichten verkündete;19 der Singer-Turm wurde zum Veritas-Turm. Das Leben in Wittenberge wurde in den 40 Jahren Sozialismus weiter vom Rhythmus der Industriearbeit bestimmt: Acht-Stunden-Schichtdienste wurden – so erzählen es die, die es erlebt haben – vom Klingeln hunderter Fahrräder begleitet; und zur sozialistischen Norm gehörte die soziale Integration durch die Arbeit im »Volkseigenen Betrieb« (VEB). Der VEB nahm als staatliche Institution Dienstleistungsaufgaben wahr, die weit über die Arbeit hinaus der Vergesellschaftung dienten – sie umfassten die soziale Absicherung, die Kinderbetreuung, die Wohnungsvergabe, den abendlichen Tanztee bis hin zu gemeinsamen Betriebsurlaubsfahrten zum Zelten an die Ostsee. Die gesellschaftlich konstruierte Normalität, die den Alltag bestimmte, war die einer absoluten Sicherung und Versorgung durch den Betrieb.20 Bis heute prägt der werkseigene Wohnungsbau der einzelnen Fabriken das Stadtbild, die zahlreichen Siedlungen sind immer noch nach ihren jeweiligen Stiftern benannt. Ähnlich verhält es sich mit den Vereinsnamen, die bis heute an die Betriebe wie zum Beispiel Boxsportverein Veritas und Angelverein Zellwolle erinnern. Die Schließung von gleich drei Betrieben im Jahr 1991 stellt damit eine Zäsur ohnegleichen dar. Sie brachte eine völlige Auflösung der zwar wenig flexiblen, aber beschützenden Normalitätskonstruktion des Versorgungsraums Betrieb/Staat mit sich. Der Zugewinn an Rechten und Freiheit zerstörte in Wittenberge und andernorts notwendigerweise den Betrieb als staatlich organisierten 18 Das wirtschaftliche Wachstum ging mit der Beschäftigung von Hunderten von Zwangsarbeitern in der Zellstofffabrik einher. Dort wurde 1942 ein Außenlager des KZ Neuengamme für 500 Häftlinge errichtet. Sämtliche Jüdinnen und Juden, die in der Stadt gelebt hatten, wurden deportiert, vgl. Rodegast 2000. 19 Vgl. Läpple 2009. 20 Die Untersuchungen zu diesem Sachverhalt sind vielschichtig und zahlreich. An dieser Stelle sei beispielhaft auf Schmidt/Schönberger 1999 verwiesen.
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Versorgungsraum. Dass Betriebe aber gleichzeitig als ökonomische Versorgungszentren wegbrachen, ist dem sogenannten »doppelten Umbruch«21 geschuldet, den Ostdeutschland und Osteuropa zu bewältigen hatten: nämlich erstens den Umbruch des Gesellschaftssystems vom Sozialismus zur sozialen Marktwirtschaft und zweitens den Umbruch innerhalb der westlichen Industriegesellschaft selbst zur postindustriellen Ära, der im westlichen Mitteleuropa in den 1970er-Jahren einsetzte. Die Einwohnerzahl der Stadt sank in der Folge im gleichen schwindelerregenden Tempo und Ausmaß, wie Arbeitsplätze wegfielen. Das Bewusstsein einer Degradierung der einstmals mittelgroßen Industriestadt zu einer beschaulichen Kleinstadt zieht sich wie ein roter Faden durch viele Interviews: »Es ist runter gegangen, richtig Abwärtsstrudel.« (Herr K., Unternehmer)22 »Und ansonsten, wem ich hier vertrauen kann, keine Ahnung. Denn hier passiert nicht viel. Eigentlich zu wenig für Wittenberge, da früher – Wittenberge war mal ’ne Industriestadt. Mit Zellwolle, Nähmaschinenwerke, Ölmühlwerke.« (Frau S., MAE-Kraft)23 »Ja, das war an und für sich, man kann sagen, eine brodelnde Stadt.« (Herr S., Vereinsvorsitzender)
Die Erwartungen des baldigen Aufschwungs und Wachstumsschubs für die Stadt nach dem Deindustrialisierungsschock wurden durch Investitionsversprechen genährt: »Und wir hoffen mal darauf, dass sich hier irgendwann mal doch ein größerer Industriebetrieb ansiedelt, wir hoffen ja auch vielleicht mit dem Bau des Großcontainers, äh Großcontainerhafens, in Hamburg, dass sich hier für Wittenberge eine Situation ergibt, denn wir 21 Land 2003: 86. 22 Dieses und alle folgenden Interviewzitate stammen aus den im Teilprojekt »Charisma und Miseria. Die Gründung des Sozialen in Umbruchsgesellschaften« erhobenen Interviewdaten. Die hier verwendeten qualitativen Daten stammen aus Protokollen biographischer und ethnographischer Interviews. Namen sowie erkennbare Strukturmerkmale wurden verändert, um Anonymität sicherzustellen. 23 MAE bedeutet Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung. MAE-Stellen wurden im Rahmen der Arbeitsmarktreform zwischen 2003 und 2005 als arbeitsmarktpolitische Maßnahme eingeführt. Zum Arbeitslosengeld II erhalten MAE-Kräfte eine Aufwandsentschädigung von 1 Euro bis 2,50 Euro pro Stunde (Bundesagentur für Arbeit 2013, vgl. http://www.arbeitsagentur.de).
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haben hier ja eine schöne Hafenanlage, es wär durchaus denkbar hier sowas Ähnliches zu bauen beziehungsweise einen Umschlagsplatz für das Baugeschehen der neuen Autobahn.« (Herr S., Einzelhändler)
Das Bewusstsein einer Degradierung korrespondiert bis heute mit dem Verlangen nach Aufwertung: Die Deutungsangebote des Industriezeitalters stimmen mit der städtischen Lebenswelt der Bewohner/innen zwar nicht mehr überein, jedoch sind die räumlichen Strukturen dieser Epoche im Stadtraum so präsent, dass sie für die industriellen Visionen der Moderne bis heute beharrlich weiter als Projektionsfläche dienen können. Die Sehnsucht, die sich in der Interviewsequenz darstellt, bezieht sich auf die alten Versprechen der wirtschaftlichen Bedeutung und der verkehrstechnischen Anbindung: der größere Industriebetrieb, der Großcontainerhafen, die Autobahn. Der Verweis auf die industrielle Vergangenheit als eine Geschichte des Wohlstands und des guten Lebens zieht sich denn auch wie ein roter Faden durch die Erzählungen von Bewohner/innen und städtischen Akteur/innen: »Es gibt Fotos aus dieser Zeit. Von der Bahnstraße hier in Wittenberge. Als die ganzen Fabriken hier noch am Arbeiten waren, das ist der Hammer. Das sieht aus wie der Ku’damm jetzt. Die Leute sehen schick und schön aus, die Frauen sind fein gemacht, das ist wirklich total schön.« (Frau F., Verwaltungsangestellte)
Der Vergleich mit dem Berliner »Ku’damm« spricht die Urbanität an, derer man die Stadt als würdig erachtet. Der in den Interviews häufige Hinweis auf einen »Theaterzug«, der früher eingesetzt wurde, damit Abendveranstaltungen in Berlin besucht werden konnten, erweckt den Eindruck der Zugehörigkeit zur Berliner Vorstadt. Die gefühlte Urbanität hat sich so über das physische Stadtbild hinaus tief in das Bewusstsein der Bewohner/innen eingeschrieben. In all diesen Bruchstücken werden die Normalitätskonstruktionen des Industriezeitalters lebendig gehalten. Und das, obwohl Wittenberge heute ein unbestimmter Ort ist, weder Stadt noch Land – charakterisiert durch Brachland, Zwischenräume, das Nebeneinander von beschädigten und sanierten Fassaden, von Industriebrachen und neuen Einfamilienhäusern. Neben mit Brettern vernagelten, verlassenen und verfallenen Häusern kommt in den Neubausiedlungen moderne kleinstädtische Normalität zum Ausdruck; doch bisweilen irritiert die Urbanität, die jene alte Architektur der Gründerzeit repräsentiert. Heute geht noch ein Viertel der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter in Wittenberge einer sozialversicherungspflichtigen Arbeit nach. Ein Viertel pendelt in andere Städte; ein Viertel ist prekär, d.h. nicht sozialversichert beschäf-
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tigt, davon fallen etliche unter die sogenannten Hartz-IV-Aufstocker/innen,24 und mindestens ein weiteres Viertel ist arbeitslos oder in Maßnahmen der sekundären Integration wie der Frührente oder der Mehraufwandsentschädigungs-Jobs.25 In den biographischen Interviews der Fabrikarbeiter/innen wird das Leben vor der Wende dem nach der Wende gegenübergestellt als das eigentliche, das »normale« Leben, während das heutige als eine nicht normale Übergangsphase erlebt wird, die schon zwanzig Jahre andauert und in der man sich einrichtet. Die Normalität, so scheint es, wird nach wie vor an den Lebens- und Arbeitsbedingungen der Industriestadt gemessen. An einem Fallbeispiel kann dies demonstriert werden. Frau Bernd, prekäre Existenzgründerin, ist 54 Jahre alt. Nach ihrer Entlassung aus einer Fabrik machte sie einen Kurs zur »Vorbereitung auf die Arbeitslosigkeit«. Dann begann sie eine Umschulung zur »Ver- und Entsorgerin im Bereich Abwasser«. Sie hangelte sich danach von Job zu Job, verteilte Zeitschriften, putzte in einem Autohaus. Immer wieder lagen längere Phasen der Arbeitslosigkeit dazwischen. Einmal arbeitete sie im Schichtdienst an einem Müllsortierband: »Die Arbeit war auch ’ne furchtbare Arbeit, aber das Geld hat gestimmt, und ich habe meinen vollen Arbeitstag gehabt. Das zählt ja später für die Rente alles, das ist wichtig. Für mich jedenfalls. Ich denke mal, das wird für jeden wichtig sein. Dass man denn seine Stunden und seine Tage und Jahre voll hat dann zur Rente nachher. Aber wie gesagt, das waren nur dreieinhalb Monate, das war sozusagen ein Aushilfsjob für kurze Zeit, und dann war man wieder auf der Straße. Bloß das wusste man vorher, man war aber ein Stückchen weiter.«
Frau Bernd versteht die Aushilfsarbeit vor allem als strukturelle Verbesserung ihrer Situation: Sie hat ihren Arbeitstag und zahlt in die Rentenkasse ein. Das reguläre Einzahlen in die Rentenkasse scheint für sie der einzige Kontinuitätsbezug in ihrem Erwerbsleben nach der Wiedervereinigung zu sein. Damit hält sie zwar an den Voraussetzungen der Normalitätskonstruktion eines Vollzeiterwerbslebens fest, doch Frau Bernd antizipiert bereits, dass Arbeitslosigkeit für sie zur Normalität werden wird. Einzig sicher weiß man, dass man danach wieder »auf der Straße« landet, bei ihr ist es bis heute so.
24 Als »Aufstocker/innen« werden in Deutschland Personen bezeichnet, deren Einkommen durch Arbeitslosengeld II (»Hartz IV«) auf das Niveau der Grundsicherung für Arbeitssuchende aufgestockt wird, weil ihr Einkommen darunter liegt. 25 Vgl. Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2010; Statistik der Bundesagentur für Arbeit 2010; Landesamt für Bauen und Verkehr 2010: 13.
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Robert Castel hat für diesen Effekt des paradoxen »Sich-Einrichtens in der Prekarität« den Begriff des »provisorischen Durchwurstelns«26 geprägt. Handeln kann sich darin nur auf die unmittelbare Gegenwart erstrecken. Wenn aber Normalität jenseits dieses Durchwurstelns nicht mehr erlebt wird, wenn sich die Normalitätskonstruktion eines Lebens, orientiert an der Normalerwerbsarbeit, überlebt hat, müssen sich dann nicht jenseits der immer noch das Idealbild darstellenden Arbeitsgesellschaft neue Normalitätskonstruktionen und neue Praktiken etablieren? Müsste nicht ein Modus gefunden werden, das Prekäre als neues Ordnungsmuster von Arbeit und Leben anzuerkennen? Inwiefern agieren die charismatischen Akteur/innen dann als Normsetzer/innen für Menschen wie Frau Bernd?
III. D IE N ORMSETZER / INNEN L EBENSLÄUFE
DER GEBROCHENEN
Nach den Überlegungen, die bisher angestellt wurden, sind als Normsetzer/innen vor allem die Akteur/innen interessant, die sich als Anführer/innen des »Durchwurstelns« bezeichnen. Sie zeigen quasi über ihre eigenen Lebenswege, wie das »Sich-Einrichten« in der Prekarität als autonomes Handeln zu deuten ist. Indem sie Prekarität nicht als Abweichung von einem als »normal« konzipierten Lebenswegs konstruieren, sondern als selbstgewählte Form biographischer Autonomie präsentieren, können sie die Normvorstellungen jener verschieben, die ihre eigene prekäre Situation als Degradierung wahrnehmen und am Maßstab »normaler« Erwerbsarbeit messen. Im Folgenden werden drei normsetzende Akteur/innen vorgestellt und einander gegenübergestellt. Als Erstes wird ein Charismatiker vorgestellt, der im politischen Feld agiert und dessen Normsetzung große Teile der Wittenberger/innen erreicht. Als Zweites wird eine Akteurin im wirtschaftlichen Feld porträtiert, die durch ihre Aktivitäten eine eigene Gefolgschaft um sich schart, und als Drittes ein Akteur, der an der Schnittstelle zwischen Politik und Wirtschaft als Normsetzer fungiert.
26 Castel 2000: 358.
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1. Politischer Erfolg über die Inszenierung von Arbeitslosigkeit: Herr Eiche Herr Eiche, 46 Jahre, war Kulturschaffender in Magdeburg, bevor er im Jahr 2002 nach Wittenberge zieht. Nur einige Jahre später wird er Wahlsieger der Kommunalwahlen in Wittenberge, im Wahlkampf konnte er als Spitzenkandidat zwei Parteien unter seiner Führung vereinen. Dabei ging Herr Eiche als politischer Neuling in den Wahlkampf. Eine wichtige Komponente seines Erfolgs ist, dass Herr Eiche seine eigene brüchige Erwerbsbiographie für die Bewohner/innen gezielt in Szene setzt. Die von ihm erlebte Arbeitslosigkeit schreibt er in seinen öffentlichen Lebenslauf auf seine Wahlkampfhomepage und bringt sie in Wahlkampfveranstaltungen ein. Herr Eiche war vor seinem Umzug nach Wittenberge in den Agenturen der kreativen Branche tätig und betont die erlebte Prekarität auch in einem Interview, das er uns in der Hochphase des Wahlkampfes gewährt: »Da wurde noch mal wieder verlängert oder es gab mal kleine Verträge. Und dann lief das wieder aus. Und dann war man wieder arbeitslos. Und dann wurde gesagt: ›Na ja, vielleicht‹.«
Eiche formuliert die Prekarität, der er im kreativen Sektor ausgesetzt war, mit den gleichen Worten, die ehemalige Fabrikarbeiter/innen für ihr Erwerbsleben nach der Wiedervereinigung finden. Er transportiert mit der Inszenierung von Prekarität die Botschaft, dass er die Nöte der Wittenberger/innen kenne – seine Rolle als unwissender Zugezogener kompensiert er durch die geteilten Erfahrungen von erzwungenen Brüchen im Lebenslauf. Eiche erwähnt im Interview, dass er über ein Jahr arbeitslos war und einen Arbeitslosenkurs im Bereich EDV gemacht hatte, der ihm später weiterhalf: »Und dann gab’s eben hier in Wittenberge eine Ausschreibung. Leitung eines Betriebs. Nebenbei hatte ich quasi, also sehr schön, nebenbei hatte ich gerade einen Arbeitslosenkurs gemacht. Und zwar ging’s da in Richtung EDV. Also Internetseiten selber machen.«
Die Weiterbildungsmaßnahme wird als etwas »Schönes« bezeichnet, als Hilfe. Herr Eiche bringt auf diese Weise seine Erfahrung, als Arbeitsloser Teil des Umschulungssystems gewesen zu sein, positiv zum Ausdruck. Für Herrn Eiche geht es nach seiner Arbeitslosigkeit in Wittenberge auch steil bergauf: Erst leitet er einen Betrieb, dann eine Partei, und schließlich wird er als Wahlsieger zum Verwaltungsleiter. Tatsächlich kann Herr Eiche über die Inszenierung seiner Ar-
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beitslosigkeit im Lebenslauf und seiner Erfahrung prekärer Lebenszusammenhänge eine große Gefolgschaft mobilisieren. Auf seiner Website im Wahlkampf vermerkt er in seinem Lebenslauf sogar eine längere Arbeitslosigkeit: »Zwei Jahre Arbeitslosigkeit und Arbeitssuche« steht auf der Internetseite, auf der er sich den Wähler/innen präsentiert; im Interview sind es nur knapp eineinhalb Jahre. Die Stilisierung von Arbeitslosigkeit und Prekarität zielt also einerseits auf eine Solidarisierung mit den Grenzgänger/innen ab, die zwischen prekärer Beschäftigung und Arbeitslosigkeit ein unruhiges Erwerbsleben führen, was auf viele Wittenberger/innen zutrifft. Herr Eiche präsentiert sich als einer von ihnen und legitimiert die Erfahrung von Arbeitslosigkeit und prekärer Arbeitsverhältnisse als eine soziale Normalität, die dem politischen und letztendlich dem beruflichen Erfolg nicht im Wege steht. Er verkörpert die Hoffnung, dass trotz Arbeitslosigkeit alle Wege offen stehen können; dass Arbeitslosigkeit ein normaler Teil des Lebenslaufs sein kann, dessen Vorteile man nur zu nutzen wissen müsse. Gedankt wird ihm dies mit einer immer größer werdenden politischen Gefolgschaft, die selbst entweder aus dem öffentlichen Dienst kommt und Herrn Eiches Lebenserfahrung preist oder die als Wähler/innenschaft auf den Grenzüberschreiter als politischen Hoffungsträger blickt, weil sie sich enttäuscht vom althergebrachten politischen Karrierepersonal abgewendet hat. Herr Eiche kommt sozusagen die Rolle des Retters zu, der von außen kommt und die Wahrheit verkündet; er stellt die Würde für diejenigen wieder her, deren Prekarität als Abweichung imaginiert wird. Die Normalisierung seines prekären Lebenslaufs wirkt hier mobilisierend, nicht der berufliche Aufstieg. Noch deutlicher als bei Herrn Eiche ist die grenzüberschreitende Biographie von Frau Koch als normsetzend zu verstehen. Denn nicht nur im öffentlichen politischen Feld, sondern auch in den sozialen Mikrokosmen des kulturellen, ökologischen oder auch wirtschaftlichen Engagements finden wir charismatische Akteur/innen, die als Normsetzer/innen fungieren. 2. Eigensinniger Pragmatismus: Frau Koch Die zweite grenzüberschreitende Normsetzerin ist Frau Koch. Frau Koch betreibt heute einen Second-Hand-Laden für Kleider und Gebrauchsgegenstände. Ihr Geschäft ist aber nur einmal in der Woche geöffnet, denn sie praktiziert außerdem noch fernöstliche Heilkunst und führt Haushaltsauflösungen durch. Sie betreibt eine kleine Praxis als Heilerin, die sich vieler Klienten quer durch alle Schichten erfreut.
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Als Heilerin und Lebenskünstlerin hat sie eine Gefolgschaft aus zahlreichen Arbeitssuchenden, die zu vielen Lebensfragen Rat bei ihr suchen und sie oft in ihrem Laden aufsuchen. Der spirituelle Bedarf unter ihren Gefolgsleuten ist groß: Als Frau Koch einen sogenannten »Aura-Leser« einlädt – jemanden, der anhand eines Computerprogramms die Farbe der persönlichen Aura abliest und diese interpretiert –, ist die Sitzung trotz hoher Kosten sogleich ausgebucht. Eigentlich ist Frau Koch gelernte Schlosserin und arbeitete während der DDR-Zeit in einem kleinen VEB. 1990 heuerte sie in einem großen Unternehmen an. Sechs Jahre später machte die Firma Pleite und Frau Koch sagt: »Ja, und dann musste ich ’96 mein Leben noch mal umstrukturieren und habe mich selbstständig gemacht. […] Ich habe überlegt: Was gibt es in Wittenberge nicht? Wo ist ein Bedarf? Das ist eine logische Frage, die man sich stellen muss. Und dann habe ich so was wie Seniorenbetreuung angefangen.«
Aus der prekären Situation macht Frau Koch eine Gründungssituation, Arbeit fasst sie als das Ergebnis eines selbstständigen Suchens nach Lücken auf. Nicht die Arbeit selbst, sondern die Frage nach dem Gebrauchswert stellt sie ins Zentrum. Als Berufsanfängerin in diesem Bereich konnte sich Frau Koch in der Folgezeit nicht auf dem Markt behaupten: »Zwei Jahre habe ich das ungefähr gemacht und dann habe ich es nachher aufgegeben, weil meine Kunden, die sind einfach abgesprungen, weil denen was anderes angeboten wurde. […] Dann musste irgendwas anderes her, und das war der Zeitpunkt, dass es losging, dass in Wittenberge Abrissarbeiten gefördert wurden.«
Frau Koch findet sich schnell mit der Situation ab und versteht es wiederum, die Stadtschrumpfung pragmatisch für ihre Zwecke zu nutzen: »Von dem Abbruchgut von so einem Haus, wenn es nicht zehn Jahre reingeregnet hat, kann man, ich sage mal, 80 bis 90 Prozent recyceln. Also wirklich wiedergewinnen. Und wieder dem Kreislauf zuführen. […] Ich bin dann eigentlich an Sachen rangegangen, wo man mit, mit Baggertechnik nicht ran konnte. Das waren dann so schwierige Sachen, weil ich hatte zwei Angestellte zu dem Zeitpunkt, und wir haben alles per Hand abgerissen.«
Das zugrundeliegende Verständnis der Wiederverwertung von Baustoffen entspricht einem geradezu postmodernen Wirtschaftsverständnis, das mit der konsumistisch orientierten Gesellschaft bricht. Es führt Frau Kochs Arbeitsver-
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ständnis als eines fort, das der Gebrauchslogik folgt: Nicht die tatsächliche Bauarbeit steht im Vordergrund, sondern der Nutzen des gewonnenen Materials. So geht es weiter: Frau Koch, mittlerweile geschieden, erwirbt günstig ein Haus, das sie selbst renoviert; drei Jahre später gründet sie die Wohnungsauflösungs-GmbH und verkauft im Erdgeschoss des Gebäudes Kleider und Waren, die sie bei den Wohnungsauflösungen als überflüssig gewordenes Gut erhält. Nebenbei wird sie Meisterin der Reiki-Heilkunst – d.h. sie erlernt die Heilkunst des Handauflegens. Über die Heilpraxis und ihren Laden kann sie sich knapp finanzieren, sie predigt Bescheidenheit. Zwar vermietet sie nun auch Wohnungsund Gewerbeflächen in ihrem Haus, aber dies sind geringe Einnahmequellen – denn wenn Frau Koch eine Geschäftsidee gefällt, etwa als ein junger Mann in ihrem Haus einen Esoterikladen aufmacht, gewährt sie diesem großzügig Mietkredit. Frau Koch verkörpert in der Umbruchsgesellschaft der Stadt die Beschwörerin der Selbstheilungskräfte. Mit ihrem brüchigen, aber eigensinnigen Lebensund Erwerbsverlauf ist sie als Normsetzerin anzusehen: Sie heißt materielle Bescheidenheit gut und verkörpert das selbstbestimmte Meistern der prekären Existenz. Arbeit konzipiert sie als eine Methode, der Umbruchssituation entsprechende Antworten abzuringen. Diese Methode ist ein Versuch, Normalität jenseits der althergebrachten Begriffe von Arbeit zu etablieren. Damit steht Frau Koch diametral einer dritten charismatischen Botschaft gegenüber, die sich ebenfalls als normsetzend erweist: Herr Furth ist auch Unternehmer, allerdings ist er Verfechter einer wirtschaftlichen Wachstumspolitik, die auf den Ausbau von Hafen und Autobahn setzt und für Maßnahmen wie den »Regionalen Wachstumskern« steht. 3. Wachstum als Transferbezug: Herr Furth Herr Furth ist Mitgesellschafter eines überregionalen Dienstleistungsunternehmens. Er unterstützt verschiedene regionale Initiativen für wirtschaftliches Wachstum, er ist im regionalen Unternehmerverband aktiv und arbeitet außerdem am Runden Tisch zum Stadtentwicklungskonzept mit. Erstaunlich ist seine Erzählung einer Berufskarriere, in deren Verlauf er aus einer unscheinbaren Selbstständigkeit heraus innerhalb von zehn Jahren ein erfolgreiches Unternehmen aufgebaut hat: »Ich bin gelernter Baufacharbeiter mit Abitur. Und hab dann Pädagogik studiert. Ich bin also Lehrer für Technik. Bin aber nach der Wende fertig geworden. Und bin dann in einen Betrieb gegangen. Und der Betrieb ging pleite. 1995. Und hab mich dann ’96 selbstständig
202 | I NGA H AESE gemacht. Hab also noch fünf Jahre als freier Techniker gearbeitet. In einem Büro. Und hab in [X-Dorf] einen Kiosk […] übernommen. Den hab ich mit einem Freund zusammen gemacht. Mit einem Geschäftspartner. […] So ist mein Einstieg.«
Herr Furths geschilderter »Einstieg« ist ähnlich wie die Schilderungen der beiden anderen Fälle als brüchiger, von prekären Phasen durchzogener Lebenslauf anzusehen, der ebenfalls von abrupten Branchenwechseln gekennzeichnet ist. Zunächst betont er, indem es sich als »gelernter Baufacharbeiter mit Abitur« bezeichnet, die Nähe zum Wittenberger Arbeiter. Erst an zweiter Stelle erwähnt er seine Lehrerausbildung, die aber offenbar nicht zu einer Berufsausübung geführt hat. Stattdessen arbeitete Herr Furth in einem »Betrieb«. Herr Furth präsentiert sich als Mann der Tat. Nach der Pleite seines Arbeitgebers macht er sich kurzerhand selbstständig. Herr Furths Schilderung macht den prekären Einstieg zum Ausgangspunkt für eine erfolgreiche Unternehmensgeschichte. Sein brüchiger Lebenslauf wird zur Erzählung des Einstiegs in seinen echten Beruf bzw. zur Basis seines Erfolges: »Und hab dann wirklich durch, ich sag mal, Glück, gute Marktbewertung, ne? Uns entwickelt zum Betrieb oder zu Betrieben in drei Bundesländern. Wir sind also in drei Bundesländern. Machen einen Jahresumsatz von ungefähr acht Millionen Euro. Und haben 170 fest angestellte Mitarbeiter.«
Herr Furth sieht sich als Voranbringer, der die Geschäftspartner erfolgreich gemacht hat. Dass er vor allem von den kommunalen Fördergeldern profitiert hat, die seinem Unternehmen zur Expansion verholfen haben, verhehlt er nicht. Da Herrn Furths Unternehmen u.a. Pate für die Wachstumshoffnungen der schrumpfenden Stadt steht, wird sein Unternehmen jährlich mit kommunalen Geldern subventioniert. Vor einiger Zeit kaufte Herr Furth ein großes innerstädtisches, brachliegendes Gelände auf, das nun mithilfe von kommunalen Fördergeldern zu einer »Schlüsselmaßnahme« der Stadtentwicklungspolitik gereift ist. Herr Furth profitiert also von den Fördermitteln, die der strukturschwachen Kommune zur Verfügung stehen. Die Kooperation mit der Kommune wird von Herrn Furth wie folgt beschrieben: »Bei der Renovierung hier zum Beispiel haben wir es so gemacht, da hab ich dem Amtsleiter 100.000 Euro innerhalb von zwei Minuten aus dem Kreuz geleiert. Ich sagte, Stadt, du musst 100 geben, die andern 100 besorg ich. Ich bin hin, hab gesagt: ›Pass auf: Ich
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brauch 100.000. Weil wir dann die Attraktivität des Standorts erhöhen.‹ Ja, dann haben wir 100.000 Euro gekriegt.«
Von der Attraktivität des Standorts wiederum profitiert besonders das Unternehmen selbst, das sich nun auch im Tourismusgewerbe engagiert und zwei Hotels betreibt. Der Stadt bleibt immerhin ein symbolischer Gewinn, der sich aus der Attraktivitätszuschreibung ergeben kann. Hier zeigt sich nun die Funktion der charismatischen Normsetzung durch Herrn Furth: Er fungiert nicht nur als Normsetzer eines neuen Wachstumsdenkens in der schrumpfenden Region, sondern auch als Normsetzer eines formellen Mittelbezugs. Herr Furth legitimiert das Abschöpfen von Förder- und Transfergeldern durch die Verwendung von kommunalen Förderleistungen bei der Realisierung seiner wirtschaftlichen Visionen. Durch die Legitimation des Fördergeldbezugs normalisiert der Unternehmer den staatlichen Mittelbezug als einen alltäglichen Zustand. Prekarität wird auch hier normalisiert: Erstens durch Herrn Furths eigene, von Brüchen durchzogene Biographie. Zweitens normalisiert Herr Furth die Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen, indem er sie als gängige, erfolgversprechende unternehmerische Praxis offenbart.
IV. F AZIT Normalität bedeutet in Wittenberge, dass der Alltag jeden Tag anders aussehen kann. Langzeiterwerbslose arbeiten sechs Monate lang auf einer Maßnahmestelle im Museum, dann in einem Verein der Lebensmittelhilfe, dann vielleicht im Sportverein. Arbeitslos zu sein bedeutet immer auch, in Grenzbereichen dessen, was gesellschaftlich als Normalität verhandelt wird, zu leben.27 Damit steht Herrn Furths Normsetzung des Transferbezugs der eigensinnigen Normsetzung von Frau Koch und ihrem Wagnis einer brüchigen Selbstständigkeit gegenüber. Die einen versuchen, Normalität in der Prekarität zu erzeugen. Sie suchen einen Weg, den Paradigmen der Arbeitsgesellschaft auszuweichen und Normalität jenseits geradliniger und aufstiegsorientierter Erwerbsbiographien zu schaffen; über sie zeigen sich Möglichkeiten zum Auf- und Ausbruch aus der am Erwerbsleben orientierten Normalitätskonstruktion, die in diesem Fall mit ihrer sozialistischarbeiterschaftlichen Prägung besonders umfassend wirkt. Dass diese Botschaft als Akt einer charismatischen Normsetzung anzusehen ist, erkennen wir im Kontrast zu den wirtschaftlichen Wachstumsversprechen von Herrn Furth, dessen In-
27 Vgl. Grimm/Vogel 2008.
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szenierung seines Erfolgs an den Verheißungen der Arbeitsgesellschaft festhält. Nicht nur er, sondern die gesamte Stadtpolitik ist an dieses Wachstumsversprechen gebunden, das sich permanent auf die Ansiedlung von Industrie und die Schaffung von Arbeitsplätzen ausrichtet. Insofern wird diskursiv – und mithilfe von Akteur/innen wie Herrn Furth als Speerspitze einer wirtschaftlichen Wachstumspolitik – stets auf die Kontinuität gebaut, die das Versprechen der Arbeitsgesellschaft mit sich bringt. Ihre Instrumente im Umgang mit Arbeitslosigkeit sind Wachstumsversprechen und Subventionspolitik. Dabei sind es die eigensinnigen und brüchigen Biographien, die das Bedürfnis nach einer ganz neuen Normsetzung bedienen. Die erfolgreiche Instrumentalisierung von Arbeitslosigkeit für eine politische Laufbahn, die der Fall von Herrn Eiche darstellt, zeigt zumindest, dass die Bewohner/innen der prekären Regionen auf die Repräsentation ihrer Lebensläufe Wert legen. Der Kampf um eine hegemoniale Normalitätskonstruktion jedoch, der darauf abzielt, das Verhältnis von Arbeit und Leben nach einem radikalen Umbruch neu auszutarieren, ist in Wittenberge und anderswo noch lange nicht ausgekämpft.
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Autor/innen und Herausgeber/innen
Bauer, Frank, Studium der Soziologie, Psychologie und Pädagogik in Köln (Diplom 1992) und Promotion 1998 zum Dr. rer. soc. in Bielefeld. Von 1992 bis 2004 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am ISO Institut zur Erforschung sozialer Chancen Köln und arbeitete dort in Projekten zur nationalen und internationalen Arbeits- und Betriebszeitforschung sowie im Rahmen von Evaluationsund Implementationsstudien. Seit 2004 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter im IAB Nordrhein-Westfalen, wo er schwerpunktmäßig regionale Arbeitsmarktforschung und Evaluations- und Implementationsforschung betreibt. Sein Arbeitsschwerpunkt sind Evaluationen von regionalen Arbeitsmarktprogrammen im Methodenmix. Blaich, Ingo, Studium der Soziologie, Psychologie und Geschichte an der TU Dresden, Promotion 2010 mit einer qualitativen Studie zu diskontinuierlichen Bildungsbiographien. Seit 2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der TU Dresden mit dem Schwerpunkt Bildungssoziologie und Soziologische Theorie, seit 2013 Studienberater am Institut, 2012 bis 2014 Mitarbeiter im Projekt »Nutzung internetbasierter Informationsangebote in der Berufsund Studienwahlorientierung« der Hochschule der Bundesagentur für Arbeit (Mannheim/Schwerin). Aktuelle Ergebnisse präsentiert der Aufsatz von Monika Müller und Ingo Blaich in bwp@ Ausgabe 27 (www.bwpat.de). Derenda, Maria, studierte Pädagogik, Geschichtswissenschaft, Sozialwissenschaften und Philosophie an der Universität Hamburg. Nach dem Zweiten Staatsexamen 2009 trat sie in den Schuldienst ein. 2010 bis 2013 arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar der Universität Hamburg. Sie promoviert zum Thema »Professionelle Selbstkonzepte von Künstlerinnen um 1900«.
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Franzmann, Manuel, Studium der Soziologie, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Pädagogik der Universität Kiel. Arbeitsschwerpunkte: Religionssoziologie, Jugendsoziologie, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitikforschung, Professionsforschung, politische Soziologie, Europaforschung. Aktuelle Veröffentlichung: Materiale Analyse des säkularisierten Glaubens als Beitrag zu einem empirisch gesättigten Säkularisierungsbegriff, in: Hainz, Michael u.a. (Hrsg.), Zwischen Säkularisierung und religiöser Vitalisierung. Religiosität in Deutschland und in Polen im Vergleich, Wiesbaden 2014, S. 127-133. Fuchs, Philipp, studierte Soziologie, Germanistik und Anglistik an der Universität zu Köln und am Trinity College Dublin (MA 2005). Von August 2005 bis März 2012 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter im IAB Nordrhein-Westfalen und der Forschungskoordination des IAB. Seit April 2012 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik in Köln. Im Februar 2013 wurde er an der Universität Duisburg-Essen zum Dr. phil. promoviert. Garstenauer, Therese, Assistentin am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien (2005-2009), Fellowship am Kolleg »Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive« der Humboldt-Universität zu Berlin (2009-2010), Forschungsprojekt an der Wirtschaftsuniversität Wien: »Russische Unternehmenskommunikation. Eine Diskursanalyse« (2011-2015), Lehrbeauftragte an der Universität Wien, derzeit Elternkarenz. Publikationen: Geschlechterforschung in Moskau. Expertise, Aktivismus und Akademie, Wien 2010; Der Staat als Arbeitgeber: Österreich und Sowjetrussland/die Sowjetunion in der Zwischenkriegszeit, in: Rückert, Joachim (Hrsg.), Arbeit und Recht in historischen Vergleichen, Köln 2014, S. 329-342. Grieder, Roland, Ausbildung als Graphiker, berufliche Tätigkeiten in Werbeagenturen als Art Director. Ab 1997 Studium der Soziologie und Neueren deutschen Literatur (in Basel und Zürich) sowie Mensch/Gesellschaft/Umwelt in Basel. Dazwischen Selbstständigkeit mit einem eigenen Büro für Werbung, Design, Text und Konzepte für Dienstleistungsunternehmen. 2005-2008 Assistent am Soziologischen Institut der Universität Zürich mit einem Dissertationsprojekt (qualitative Untersuchung) über ältere und gut qualifizierte Stellensuchende. Abschluss in Basel am Soziologischen Institut bei Prof. Ueli Mäder. Nach beruflicher Selbstständigkeit Dozent an der Hochschule Luzern HSLU, Departement Design & Kunst mit den Schwerpunktthemen Werbesoziologie, Semiotik, Illustration und Design und ihre Integration in der Werbewirtschaft der Zukunft.
A UTOR / INNEN UND H ERAUSGEBER / INNEN | 209
Großer-Kaya, Carina, Promotion an der Universität Leipzig am Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeographie des Mittleren und Nahen Ostens zu Identitätskonstruktionen türkeistämmiger Männer in Deutschland. Sie ist als Dozentin und Trainerin u.a. für Interkulturelle Kompetenz und Diversity an Hochschulen und in der Erwachsenenbildung tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Migration, Bildung und soziale Ungleichheit. Zurzeit ist sie Mitarbeiterin im Modellprojekt »Vaterzeit im Ramadan?!« beim Verband binationaler Familien und Partnerschaften in Leipzig. Haese, Inga, derzeit Referentin für Teilhabe und Nachhaltigkeit beim AWO Bundesverband; sie forschte am Hamburger Institut für Sozialforschung über Akteur/innen in gesellschaftlichen Umbruchssituationen. Forschungsschwerpunkte: Städte und gesellschaftlicher Wandel. Aktuelle Veröffentlichungen: Von Therapeuten, Chirurgen und Wutsorgern der Stadt. Der Stoff, aus dem Charisma ist, in: Willisch, Andreas (Hrsg.), Wittenberge ist überall. Überleben in schrumpfenden Regionen, Berlin 2012, S. 61-94; Protokoll einer Rebellion, in: Bude, Heinz, Willisch, Andreas, Medicus, Thomas (Hrsg.), ÜberLeben im Umbruch. Ansichten einer fragmentierten Gesellschaft, Hamburg 2011, S. 296-304; Recht auf Teilhabe an Nachhaltigkeit – der doppelte Auftrag der AWO, in: TUP – Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit 3, 2015, S. 228-232. Hübel, Thomas, Studium der Germanistik, Philosophie, Pädagogik und Psychologie in Wien und Freiburg/Breisgau. Von 1992 bis 1995 Lektor am Institut für Germanistik der Universität Venedig, Promotion 2005, Ausstellungsprojekte, Übersetzungen, seit 2006 Generalsekretär des Instituts für Wissenschaft und Kunst (IWK) in Wien. Jüngste Publikationen: (hrsg. gemeinsam mit Thomas Brandstetter und Anton Tantner) Vor Google. Eine Mediengeschichte der Suchmaschine im analogen Zeitalter, Bielefeld 2012; (hrsg. gemeinsam mit Regina Wonisch) Museum und Migration. Konzepte – Kontexte – Kontroversen, Bielefeld 2012. Jung, Matthias, Studium der Soziologie, Philosophie und Germanistik an der Universität Frankfurt/Main (MA 1999). Von 1999 bis 2003 arbeitete er als wissenschaftliche Hilfskraft im Forschungsprojekt »Struktur und Genese professionalisierter Praxis als Ort der stellvertretenden Krisenbewältigung« (Ulrich Oevermann, Frankfurt/Main) und promovierte 2004 zum Dr. phil. in Frankfurt/Main. Von 2005 bis 2008 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter in dem Forschungsprojekt »Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel« (Ulrich Oevermann, Frankfurt/Main). 2008 Habilitation, Erteilung der venia legendi für All-
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gemeine Soziologie. Seit 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Löffler, Klara, ao. Univ.-Prof. am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien. Studium der Volkskunde und Soziologie in Regensburg und Tübingen; 2001 Habilitation in Wien; Forschungsschwerpunkte: Freizeit- und Tourismusforschung, Biographie- und Erzählforschung, Forschung zu materieller und visueller Kultur. Richter, Jessica, studierte Sozialwissenschaften und European Regional Development in Hannover und Cardiff (UK). Bis 2012 war sie Mitarbeiterin im Forschungsprojekt »The Production of Work« (ERC-2007-Starting Grant 200918, 2008-2013; FWF-START-Projekt Y367-G14, 2008-2015) an der Universität Wien. In diesem Rahmen hat sie für ihre Dissertation, die sie derzeit fertigstellt, zu Praktiken des häuslichen Dienstes im Österreich der Zwischenkriegszeit geforscht. Sie ist Mitbegründerin und Vorstandsmitglied von »fernetzt. Junges Forschungsnetzwerk Frauen- und Geschlechtergeschichte« (http://fernetzt.univie. ac.at). Schemmer, Janine, studierte von 2000 bis 2007 Volkskunde/Kulturanthropologie, Anglistik und Museumsmanagement an den Universitäten München, Murcia und Hamburg. Von 2009 bis 2012 arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Werkstatt der Erinnerung, dem Oral History Archiv der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg. Sie ist als freie Kulturwissenschaftlerin tätig. In ihrer Dissertation untersucht sie den Wandel von Raum und Arbeitskultur in berufsbiographischen Interviews mit ehemaligen Hamburger Hafenarbeitern. Aktuelle Publikation: Hafenarbeit im Museum. Verflechtungen von Kultur und Ökonomie am Beispiel Hafenmuseum Hamburg, in: Klein, Inga, Windmüller, Sonja (Hrsg.), Kultur der Ökonomie. Zur Materialität und Performanz des Wirtschaftlichen, Bielefeld 2014, S. 155-173. Sutter, Ove, Studium der Volkskunde und Germanistik in Hamburg 2000-2007; Oktober 2007 Promotionsstipendium der Graduiertenförderung der Freien und Hansestadt Hamburg; 2012 Promotion an der Universität Wien; von 2007 bis 2013 Universitätsassistent am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien. Seit 2014 Juniorprofessor und Leiter der Abteilung für Kulturanthropologie/Volkskunde am Institut für Archäologie und Kulturanthropologie der Universität Bonn.
Gesellschaft der Unterschiede Projektgruppe »Neue Mitleidsökonomie« (Hg.) Die neue Mitleidsökonomie Armutsbekämpfung jenseits des Wohlfahrtsstaats? September 2016, ca. 250 Seiten, kart., ca. 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3158-6
Bettina-Johanna Krings Strategien der Individualisierung Neue Konzepte und Befunde zur soziologischen Individualisierungsthese Mai 2016, ca. 320 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3347-4
Daniela Neumann Das Ehrenamt nutzen Zur Entstehung einer staatlichen Engagementpolitik in Deutschland Februar 2016, 508 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3278-1
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Gesellschaft der Unterschiede Ilka Sommer Die Gewalt des kollektiven Besserwissens Kämpfe um die Anerkennung ausländischer Berufsqualifikationen in Deutschland 2015, 412 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3292-7
Verena Rothe, Gabriele Kreutzner, Reimer Gronemeyer Im Leben bleiben Unterwegs zu Demenzfreundlichen Kommunen 2015, 288 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2996-5
Tina Denninger, Silke van Dyk, Stephan Lessenich, Anna Richter Leben im Ruhestand Zur Neuverhandlung des Alters in der Aktivgesellschaft 2014, 464 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2277-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de