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German Pages 376 [375] Year 2015
Wahn – Wissen – Institution Undisziplinierbare Näherungen
Karl-Josef Pazzini, Marianne Schuller, Michael Wimmer (Hg.) unter Mitarbeit von Jeannie Moser
Wahn – Wissen – Institution Undisziplinierbare Näherungen
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2005 transcript Verlag, Bielefeld Lektorat & Satz: Jeannie Moser, Hamburg Korrektorat: Renate Pukies, Hamburg Layout: Jeannie Moser, Torsten Meyer, Hamburg Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion, Wetzlar ISBN 3-89942-284-8
Inhalt
Karl-Josef Pazzini | Marianne Schuller | Michael Wimmer Vorwort
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Grenzdiffusionen – Wahn und wissenschaftlicher Diskurs Peter Widmer Über die Schnittstelle des Wahns in Philosophie, Psychiatrie und Psychoanalyse. Eine Skizze
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Birgit Griesecke | Werner Kogge Forcierte Schließungen. Wittgenstein und der Weg vom mathematischen Formalismus in die moderne Genetik
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Michael Wimmer Wahnhaftes Wissen und gewusster Wahn im pädagogischen Diskurs
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Insa Härtel Verrückte Phantasie, paranoide Autorität, politische Psychose. Ein Lektüreversuch (Homi K. Bhabha)
91
Wahn-Zeichen: Literatur – Theater – Medien Thomas Weitin Melancholie und Medienwahn. Bedingungen authentischen Lesens und Schreibens bei Goethe, Lavater und Haller
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Marianne Schuller Zwischen Sinn und Unsinn. Wort-Ding oder Wahn beim späten Stifter
137
Thomas Gann Im Züchtungswahn? Gottfried Benns »Dorische Welt«
147
Kirsten Scheffler Perfor(m)ierte Bühnen. Christoph Schlingensiefs Szenographien in Atta Atta: Die Kunst ist ausgebrochen
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Gunnar Schmidt Beeinflussungsapparate. Eine paradiskursive Montage
195
Torsten Meyer Wahn(-) und Wissensmanagement. Versuch über das Prinzip Database
221
Institution und Wahn Gottfried Fliedl Do not cross ... Museum, Fiktion, Wahn. Eine Skizze
249
Jann Schlimme »Wahnsinnig psychiatrisch«. Reflexionen über Wahn und Wirklichkeit im »psychiatrischen Blick«
259
Karl-Josef Pazzini Zur Konstellation von Wahn, Wissen und Institution im psychoanalytischen Setting
293
André Michels Wahn, Wissen, Wahrheit. Psychoanalyse und normative Wissenschaften
333
Claus-Dieter Rath 341 Was uns fesselt – In den Fängen des Anderen. Notizen für eine psychoanalytische Untersuchung von vier Modellen kollektiver Vergiftungsvorstellungen: fattura und Tarentismus, Umweltvergiftung und die »Droge im Wohnzimmer« Autorinnen und Autoren
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Karl-Josef Pazzini | Marianne Schuller | Michael Wimmer
Vorwort
Es ist nicht zu übersehen, dass die Rede vom Wahn die Alltags- und Mediendiskurse, Politik, Literatur und Kunst sowie die verschiedenen Wissenschaften durchzieht: Theologie, Religionswissenschaft, Philosophie, Jurisprudenz, Psychologie, Pädagogik, Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften, Wissenschaftsgeschichte und natürlich Psychiatrie und Psychoanalyse. Sie alle haben den Wahn thematisiert, sich mit seiner Abgrenzbarkeit befasst und deren Fraglichkeit betont. Diese Virulenz ist nicht nur ein Faktum, sondern sie kann auch als ein Symptom dafür gefasst werden, dass in der nicht zur Ruhe kommenden, sich immer wieder entfachenden Frage nach dem Wahn zugleich eine andere auszumachen ist. So irreführend, mystifizierend, faszinierend oder abwehrend die Diskurse über den Wahn auch ausfallen mögen, so verweisen sie vielleicht doch darauf, dass im Wahn etwas liegt, was nicht nur ihn ›selbst‹, sondern auch die Wissensdiskurse betrifft. Gerade das, was ihn trennt, fremd macht, seine Mitteilung nicht ankommen und das Verstehen aussetzen lässt, das, was Angst macht und Abwehr erzeugt, scheint paradoxerweise zugleich das zu sein, was uns berührt und unser Begehren zu wissen weitertreibt.1 Erweist sich der Wahn in diesem diffusen und unterschwelligen Sinne als Bestandteil unseres kulturellen Diskursgeflechtes, dann hört er auf, das bloße Außen des Wissensdiskurses in seinen verschiedenen Schattierungen zu sein. Sofern er nicht einfach als ein mehr oder minder opakes Objekt des Wissens gefasst wird, beginnt er sich als das abzuzeichnen, was das Wissen von innen heraus, in seiner Genesis und in seiner Geltung infiziert. Von daher ist die Äußerung, mit der Freud seine Analyse des Schreberschen Wahns beschließt, auch heute noch von höchster wissenstheoretischer und kulturdiagnostischer Relevanz. »Es bleibt«, so 7
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Freud im Jahre 1909, »der Zukunft überlassen, zu entscheiden, ob in der Theorie mehr Wahn enthalten ist, als ich möchte, oder in dem Wahn mehr Wahrheit, als andere heute glaublich finden.«2 Die Konfiguration der Objektbereiche Wahn – Wissen – Institution nimmt die von Freud aufgeworfene Frage nach der Entscheidbarkeit bzw. Unentscheidbarkeit von Wissen und Wahn und damit die Frage der Grenze in ihren epistemologischen, diskursiven, disziplinären und medialen Dimensionen auf. Die Hypothese geht davon aus, dass es zwischen den institutionell und epistemisch abgegrenzten Bereichen des Wahns und des Wissens Interferenzen, Überschneidungen und wechselseitige Kontaminationen gibt, welche die unterschiedlichen Disziplinen, Theoriefelder und Diskurse in ihren habitualisierten Denkeffekten in nachhaltiger Weise durchwirken und bestimmen. Weder geht es also um den Versuch einer Austreibung, noch um eine etwa im Zuge der Antipsychiatriebewegung gelegentlich zu beobachtende theoretische und praktische Idealisierung des Wahns, sondern darum, Überschneidungen und Überblendungen von Wahn und Wissen genauer zu beschreiben und als Herausforderung für Theoriebildungen, Wissenschaften, Kunst und Politik zu begreifen. Die angestrebte Ausarbeitung der Relationen Wahn – Wissen – Institution ist somit vor allem als Beitrag zur Selbstverständigung der Wissenschaften, der Künste und des Bildungswesens konzipiert. Wenn sich zeigt, dass das Wissen strukturell mit Wähnen und Wahnhaftem durchsetzt ist, wenn sich zeigt, dass die »Reinigung« des Wissens von wahnhaften Prozessen ihrerseits zu einer Verfestigung des Wahns führt, dann werden Bildungsreformen wie etwa die Modularisierung von Wissen äußerst fragwürdig. Die Konfiguration der unterschiedlichen Disziplinen und diskursiven Formationen, wie sie sich in diesem Band einfinden, wird von einer institutionstheoretischen Fragestellung zusammengehalten und gerahmt. Nicht nur können von Institutionen paranoische Wirkungen ausgehen, sondern die Institution selbst ist, bezogen auf die Frage nach ›Wahnhaftigkeit‹ ein prekäres Gebilde: Die Institution – wir denken hier besonders an die Institution des Wissens, die Universität – zeichnet sich mit ihren symbolischen Ritualen und Regeln durch einen hohen Grad an Fiktivität aus, die zugleich Realitäten erzeugt und formt. Im Lichte des Realitätseffektes tendiert die Institution dazu, ihre fiktiven Momente zu verleugnen. Tritt damit die Institution selbst in eine Nähe zum ›Wahn‹, so zeichnet sich eine Verschiebung im Denken der Institution ab: Sie ist nicht einfach der Gegensatz zum Wahn, nicht einfach Schutz vor dem 8
Vorwort
Wahn, sondern sie muss auch, um einer Beweglichkeit und Produktivität willen, einen Schutz für den Wahn darstellen können. Die neuere Auseinandersetzung mit dem Wahn und dem Wahnsinn ist wesentlich durch Michel Foucaults Werk Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft inspiriert worden.3 Nach Foucault ist der Wahnsinn nicht zuletzt die Abwesenheit des Werkes, das Schweigen einer erstickten, verdrängten Sprache. Wenn Foucault in der Formierung wissenschaftlicher Diskurse über den Wahnsinn ein entscheidendes Moment sieht, ihn aus dem Geflecht gültiger Redeformen zu reißen und zum Schweigen zu bringen, so erwächst die historische Aufgabe, dem Wahnsinn die Stimme wieder zu verleihen, die Sprache des Wahnsinns wieder herzustellen. Während eine Rede über den Wahnsinn ohne Rätsel und ohne Verdunkelung des Wissensdiskurses auskommen möchte, kommt nun alles darauf an, die unerhörte Stimme des Wahnsinns zu vernehmen. Wie nicht zuletzt Foucault indiziert hat, besteht das kulturelle Dilemma darin, dass wir bei jedem Versuch, »den Wahnsinn selbst auszusprechen« gezwungen sind, etwas über ihn zu sagen. In dem Maße, wie die vorliegende Publikation dieses Dilemma mit bedenkt, zielt sie nicht so sehr auf die epochale Zäsur zwischen Wahn und Wissen ab, sondern geht von einer sich unterschiedlich gestaltenden Kontamination von Wahn und Wissen aus, die sich nicht zuletzt im Reden und Schreiben über den Wahn zur Geltung bringt. Wenn die folgende Publikation von einer die Selbstgewissheit des Wissens tangierenden Verschränktheit von Wahn und Wissen, wenn sie von der Hypothese ausgeht, dass die unterschiedlichen Wissensformen und Disziplinen mit ihren Institutionen – nicht zuletzt die, die sich explizit mit dem Wahnsinn im pathologischen, das heißt Leiden produzierenden Sinne befassen – ihrerseits nicht frei sind von Anmutungen, halluzinatorischen Vorstellungen, von Intuitionen, also von einem wähnenden Geschehen, dann stellt sich eine paradoxe Aufgabe: Es geht darum, ein Vorgehen zu entwickeln, das weder die Notwendigkeit einer Grenze zwischen noen und paranoen verleugnet, noch deren Restituierung etwa durch definitorische Prozeduren betreibt. Das konstellative Verfahren, dem die Publikation folgt, stellt einen Versuch dar, diesem Paradox zu begegnen: den Versuch einer undisziplinierbaren Näherung, welche den ›Wahn‹ als bewegliches Objekt und prekäres Moment von Wissen und Institution umschreibt und in diesen Schlaufen fortfährt, das WissensBegehren zu umranden, zu umrunden und freizusetzen.
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Anmerkungen 1 2
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Vgl. hierzu grundsätzlich Felman, Shoshana: Writings and Madness. Literature/ Philosophy/Psychoanalysis, Stanford 2003. Freud, Sigmund: »Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia«, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. VIII, S.239-320, S.315. Vgl. Foucault, Michel, Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt/M. 1969. Vgl. die an Foucault angelehnte, sich dem Dilemma aber weniger stellende Publikation Hahn, Torsten/Person, Jutta/Pethes, Nicolas (Hg.): Grenzgänge zwischen Wahn und Wissen. Zur Koevolution von Experiment und Paranoia 1850-1910, New York/Frankfurt/M. 2002.
Wir danken der Universität Hamburg und der Behörde für Wissenschaft und Forschung der Freien und Hansestadt Hamburg für die Unterstützung bei der Konzeption und Durchführung des Forschungsprojekts. 10
Grenzdiffusionen Wahn und wissenschaftlicher Diskurs
Peter Widmer
Über die Schnittstelle des Wahns in Philosophie, Psychiatrie und Psychoanalyse Eine Skizze
Was heißt Wahn? Die folgende Skizze basiert auf einem Verständnis des Wahns, das die Beziehung des Subjekts zu den Objekten betrifft. Als Objekt kommt auch das Ich des Subjekts selber in Frage, das über sich reflektieren, sich im andern sehen kann. Es macht keinen Sinn, von einem wahnsinnigen Subjekt, losgelöst von seinen Objektbezügen, zu sprechen. Andererseits wird das Sein des Subjekts durch die Objektbezüge betroffen. Es zeigt sich niemals in reiner Form, sondern stets in seinem Zusammenhang mit Objektbeziehungen. In der Folge werden kurz die Auffassungen dessen, was unter Wahn in der Philosophie seit Descartes, dann in der Psychiatrie und schließlich in der Psychoanalyse verstanden wurde und wird, skizziert; dies in der Absicht, die Grundlagen für eine weitere Ausarbeitung darzustellen.
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Peter Widmer
Philosophie Descartes Mit der Entdeckung des cogito als Ergebnis des radikalen Zweifels hat Descartes die Trennwand zwischen Wahn und Normalität eingerissen.1 Der Zweifel betrifft zunächst die sinnlichen Gegebenheiten, worunter auch die Wahrnehmung des eigenen Körpers fällt. Für die Unterscheidung von Wachen und Träumen fehlt ebenfalls ein sicheres Kriterium. Was sich dem Zweifel zu entziehen scheint, ist allein dieser formale Punkt des Subjekts, das sogar dann bestehen bleibt, wenn die Gegebenheit des Körpers – um ein Beispiel zu nehmen – sich als illusionär erweist. Aber hält diese Gewissheit des cogito einer Überprüfung stand? Descartes sucht einen Garanten, damit sie wirklich unumstößlich wird, denn der Rückgang auf die Subjektivität, auf das cogito, beraubt es der Objektivität, verwischt vor allem die Gültigkeit der Wahrnehmung der andern Menschen; mit dem cogito kommt Descartes nicht aus dem Solipsismus heraus. Darum sucht er einen Garanten, der diese Ungewissheit beseitigt; er sucht ihn in der Figur Gottes. Aber da holt ihn der Zweifel ein, der besagt, dass diese Figur ein Betrüger sein und somit die benötigte Garantie nicht geben könnte. Das Begehren nach Gewissheit bleibt somit unerfüllt, obwohl Descartes einen Gottesbeweis geltend macht, um den Zweifel seiner Nichtigkeit zu überführen. Letztlich läuft es auf ein ethisches Postulat des Philosophen hinaus, dass es nicht sein darf, dass Gott ein Betrüger ist. Auf diese Weise wird der Glaube, nicht das Wissen, Grundlage der gesuchten Gewissheit. Zuinnerst in der cartesianischen Philosophie bleibt jedoch der Zweifel bestehen, der allem gilt außer der Gewissheit des eigenen Existierens. So kommt es, dass es kein objektives Kriterium für die Entscheidung darüber gibt, ob eine sinnliche Wahrnehmung auch tatsächlich den Namen einer Wahr-nehmung verdient oder ob sie nicht vielmehr ein Traum ist – und was ist der Traum anderes als ein Wahn? Mit Descartes hält der Wahn wider seine explizite Absicht Einzug ins philosophische Denken, das sich seiner durch theologische Anleihen zu erwehren sucht, eine Methode, die sich selber dem Verdacht des Wahns aussetzt. Betrachtet man Descartes Anstrengung, zu einem unerschütterlichen Fundament zu kommen, vom Standpunkt der versuchten Ausgrenzung des Wahns her, muss man feststellen, dass der Wahn selber eine Grund-
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Schnittstelle des Wahns
lage ist für die angestrebte Gewissheit, denn um zu wähnen, um wahnhaft zu denken, muss das cogito sein.
Kant Kant hat in einer Arbeit Versuch über die Krankheiten des Kopfes über den Wahn geschrieben.2 Er unterscheidet Verrücktheit, Wahn und Wahnwitz. Als Kriterium der Unterscheidung dient ihm die Unterteilung des Erkenntnisvermögens in die drei Instanzen Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft. Wenn der Wahn als Störung des Verstandes aufgefasst wird, so heißt das, dass das Urteilsvermögen gestört ist, während die Erfahrung, die Rezeption der sinnlichen Daten, intakt ist (ihre Störung wird als Verrücktheit bezeichnet). Der Wahnwitz betrifft dagegen den Bereich der Vernunft, der Ideen. Sofern sie sich von der Erfahrungsbasis ablösen, droht eine Verselbständigung, die Kant zufolge zu Schwärmereien führen kann, wie er sie bei seinem Widersacher Swedenborg diagnostiziert. Kant gibt zwar Beispiele für Verrücktheit, Wahn und Wahnwitz, es fehlen ihm jedoch Kriterien, um anzugeben, unter welchen Bedingungen diese defizienten Formen des Intellekts auftreten können. Der Versuch, den Wahn auszugrenzen, spielt in Kants Argumentation eine nicht unerhebliche Rolle. Er macht dabei vor allem Kriterien der Normalität, bzw. der Abweichung von ihr geltend. Damit gerät er in eine argumentative Not, denn das Kriterium der Mehrheit ist kein philosophisches und daher untauglich, den Wahn von dem zu unterscheiden, was Nicht-Wahn ist.
Hegel Mit Hegel bekommt der Wahn einen anderen epistemologischen Status. Hegel setzt ihn weder dem intakten, gesunden, ungestörten Ich bzw. Subjekt – oder wie auch immer man es nennen mag – entgegen, noch versucht er, ihn aus der Ratio auszugrenzen; sondern er sieht den Wahn als ein geschichtliches Moment, in dem sich das Subjekt auf dem Weg zur Erkenntnis seiner Objektivität eine Zeitlang verstrickt. Hegel macht – in der Phänomenologie des Geistes – den Wahnsinn in der »schönen Seele« fest, also in jener Figur, die sich auf die Innerlichkeit zurückzieht, um dem Elend in der Welt zu entgehen, und die nicht sieht, dass sie genau in dieser Position das stützt, was sie anklagt: eben die schlechte Realität. Aber auch die Selbstüberschätzung im Bemühen, an15
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dere von ihrem Leiden zu erlösen, das »Herzklopfen zum Wohl der Menschheit« fällt unter Hegels Kritik, die nüchtern feststellt, dass die Menschheit nicht auf ein wohlmeinendes Subjekt mit seinen Gefühlen gewartet hat, um einen Fortschritt zu erreichen. Der Wahn wird bei Hegel zu einer Etappe auf dem Weg der Selbsterkenntnis des Subjekts. Hegel ist der erste, der nicht versucht, den Wahn auszuquartieren, sondern ihm einen Platz zu lassen.3 Letztlich ist die Unterscheidung von Wahn und Vernunft theologisch, d.h. durch die Einbettung der Hegelschen Philosophie in die christliche Theologie, garantiert. Descartes’ Zweifel erscheinen daher als ein geschichtliches Moment in der Philosophie, die an ihrem Ende das Göttliche verwirklichen wird. An dieser Stelle setzt denn ein grundsätzlicher Zweifel an Hegels Philosophie an: Entspricht ihre theologische Verankerung nicht selber einem Wahn?
Fazit So kann man das – sicher zu grobe – Fazit ziehen (das sich durch den Einbezug anderer philosophischer Konzepte in Frage stellen lassen muss), dass die fehlende Abgrenzung zum Wahn einen umso bedeutenderen Platz einnimmt, je mehr das Subjekt sich seines sicher gewähnten Platzes in der Welt und damit in der Gewissheit beraubt sieht. Die Verankerung in irgendeiner Absolutheit, würde sie gelingen, würde das Problem der Ungewissheit beseitigen, allein, dieses Unterfangen stößt selber auf Zweifel und auf die Dimension des Glaubens, die von der Logik nicht ganz erfasst werden kann. So hält der Wahn von zwei entgegen gesetzten Seiten Einzug ins philosophische Denken: von der sinnlichen Wahrnehmung her, die mangels eines Garanten nicht sicher sein kann, wie sie sich vom Wahn unterscheiden kann – und vom Denken des Außersinnlichen her, das als außerempirisches selber in den Verdacht der Chimäre gerät. Kurz gesagt: Der Verdacht, dass die sinnliche Wahrnehmung wahnhaft sein könnte, wird durch den Rekurs auf eine übersinnliche Instanz nicht beseitigt, sondern verstärkt. Beides kann man als Folge des cogito interpretieren. Wenn dieses kein Wahn ist, wie gelingt es dann, aus dem Solipsismus hinauszufinden?
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Schnittstelle des Wahns
Psychiatrie und Wahn Die Psychiatrie hat – mit einigen Ausnahmen – bis zum heutigen Tag im Wahn ein medizinisch-pathologisches Phänomen gesehen. Die aus der cartesianischen Philosophie hervorgehende Konsequenz, dass der Wahn zum menschlichen Sein gehört, ist nicht aufgenommen worden, am wenigsten von den biologischen Richtungen, die sich darauf konzentrieren, das materielle Korrelat des Wahns, das sie »Ursache« nennen, zu untersuchen und zu beeinflussen. Am ehesten sind in der antipsychiatrischen Bewegung, in der Palo-Alto-Schule, die allerdings ihres kommunikationstheoretischen Ansatzes wegen nur am Rande zur Psychiatrie gehört,4 in Richtungen, wie sie von Jaspers begründet wurden, Einflüsse aus dem philosophischen Denken feststellbar. Eine Ausnahme für sich bilden die psychiatrischen Schulen, die sich auf die Psychoanalyse berufen. Zwar gibt es innerhalb des psychiatrischen Diskurses bedeutende Unterschiede, was die Ätiologie des Wahns betrifft; so betonen die einen die Heredität, andere toxische Einflüsse, für die meisten ist der Wahn wohl Ausdruck von hirnorganischen Störungen. Alle diese Unterschiede täuschen jedoch nicht darüber hinweg, dass der Wahn nicht als existentielles Phänomen aufgefasst wird, nicht als etwas, was stets als Möglichkeit anwesend ist und was zum Menschsein gehört. Das Interesse, eine Trennung zwischen »gesund« und »krank« aufrechtzuerhalten, ist unverkennbar; es ist wahrscheinlich Ausdruck der täglichen Konfrontation der Psychiater mit den Formen des Wahns, die wohl noch schwerer erträglich wäre, wenn sich die Psychiater nicht in Sicherheit wähnten.
Psychoanalyse Die Psychoanalyse hat einen anderen Zugang zum Wahn gesucht. Bei Freud lassen sich vorerst drei Argumentationszüge ausmachen: Der erste, zugleich früheste, bestand darin, den Wahn als entstellten Wunsch aufzufassen. Schon vor der Wende ins 20. Jahrhundert lieferte der Begründer der Psychoanalyse eindrucksvolle Beispiele für dieses Verständnis, so etwa, wenn eine verlassene Braut im Hochzeitskleid im Garten auf ihren Liebhaber wartet und glaubt, seine Ankunft stehe unmittelbar bevor.5 Es sind massive Versagungen und Enttäuschungen, die solche Wahnbildungen begünstigen. In dieser Perspektive verwischen sich die Grenzen zwischen neurotischen und psychotischen Symptomen. 17
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Ein zweiter Argumentationszug Freuds, der sich mit dem ersten überschneidet, besteht darin, Wahnhaftes in Projektionen zu erkennen, deren Merkmale darin bestehen, Subjekt und Objekt zu vertauschen, Liebe in Hass umzukehren, und Aktivität in Passivität zu verwandeln. Als treibende Kraft dieser Entstellungen kommen Freud zufolge nicht mehr bloß Versagungen und Enttäuschungen in Betracht, sondern Konflikte zwischen Triebansprüchen, dem Ich und dem Über-Ich. Diese Konflikte kulminieren im Ödipuskomplex, in dem sich die Anforderungen der Kultur an das werdende Subjekt auskristallisieren. Diese Auffassung Freuds zeigt sich insbesondere in seiner Arbeit über den Senatspräsidenten Schreber.6 Freud erkannte zudem eine dritte Form von Wahn, die sich der Deutbarkeit entzieht: das Delirium. Auch dafür stellte er Beispiele dar, in denen deutlich wird, dass sich die – in seiner Terminologie so genannten – »Wortvorstellungen« immer mehr von den »Sachvorstellungen« ablösen, sich verselbständigen und dann in ein Delirium geraten, in dem nicht nur jeder verborgene Sinn verloren geht, sondern in dem sich sogar die syntaktischen Strukturen auflösen.7 Freud war bezüglich der Psychiatrie unmissverständlich, wenn er feststellte, dass sie kein adäquates Verständnis des Wahns zustande gebracht hatte.8 Bezüglich der Philosophie und ihrem Denken des Wahns äußerte er sich nicht explizit, jedoch geht aus seiner Argumentation hervor, dass ihn der Wahn nicht zu einer rigiden Abgrenzung veranlasste. Er sah in den Konstruktionen der Analytiker analoge Verfahren, und er stellte auch einen Zusammenhang her zwischen Theorie und Schizophrenie hinsichtlich ihrer Loslösung von empirischen Verankerungen.9 Das stellt die Frage, ob die Psychoanalyse auf dieselben Schwierigkeiten und Probleme aufgelaufen ist wie die Philosophie. Eine ausführlichere Bearbeitung kann also von der Hypothese ausgehen, dass Freud sich nicht nur mit dem Inhalt des Wahnhaften und der Möglichkeit seiner Abgrenzung gegen das Nicht-Wahnhafte beschäftigt hat, sondern auch mit seiner Form. Bevor ich diese Hypothese kurz erläutere, möchte ich die Weise darstellen, in der Lacan sich dem Wahn nähert. Noch mehr als Freud reißt er die Trennwand zwischen Wahn und Normalität ein. Einerseits ist für Lacan der Wahn (»folie«) etwas, was alle Subjekte betrifft, andererseits nannte er sich in seinen späten Jahren selber einen Psychotiker, wobei er dies durchaus nicht als modische Koketterie auffassen wollte – er dachte 18
Schnittstelle des Wahns
vielmehr an eine den Psychotikern eigene Rigorosität, die er auch für sich in Anspruch nahm.10 Mit Lacan tritt das Denken des Wahns noch einmal in ein neues Stadium. Nicht nur, weil sich dieser aus der Psychiatrie kommende Analytiker explizit auf die Philosophie beruft und die Psychiatrie aus einer profunden Kenntnis heraus kritisiert, sondern auch, weil er dem Wahn einen Status gibt, der zur Frage führt, wie es eigentlich möglich ist, nicht dem Wahn zu verfallen. Wegleitend ist dabei Descartes: Lacan fasst das Subjekt als cartesianisches auf, das in psychoanalytischer Perspektive mit dem Unbewussten einen Boden erhält, der nicht bemeisterbar ist. Dieses Unbewusste ist der Ort, wo sich das Sein des Subjekts – im Objekt, in dem, was Lacan »Objekt a« nennt – niederschlägt, sedimentiert. Anders gesagt: Auf der Basis dieses punktuellen Subjekts bildet sich das Sein, das kein substantielles Sein mehr ist, sondern ein Quasi-Sein, dessen Gewicht aus dem Genießen kommt. Wenn Lacan den Satz aufstellt: »es gibt keinen Andern des Andern«, so zieht er direkt die Konsequenzen aus seiner Lektüre des cartesianischen Diskurses, den er atheistisch liest. Wenn man den Andern als Ort der Sprache und zugleich der Wahrheit setzt, so heißt Lacans Satz, dass es keinen Garanten für diese Wahrheit gibt. Die Spitze gegen Descartes und wohl auch gegen Hegel ist deutlich: Diese beiden Philosophen gründeten ihre Argumentation letztlich im Göttlichen – hier in der göttlichen Macht, dort im Absoluten –, das sich über die Nicht-Identität in der Geschichte, in die jedes Subjekt eingebunden ist, selber erfährt. Lacans Aussage bindet zwar den Menschen an die Wahrheit, es ist jedoch seine Wahrheit, die er selber verantwortet und für die niemand außer ihm selber die Garantie übernimmt. Genau dieser Status der fehlenden Garantie macht eine Unterscheidung zwischen Wahn und Nicht-Wahn, wie auch zwischen Lüge und Wahrheit, schwierig. Obwohl Lacan Descartes und Hegel liest, ohne deren theologische Verankerung zu teilen, übernimmt er Aussagen von ihnen über den Wahn, die in der Lacanschen Konzeption nicht nur zu verschwindenden Momenten der Bedrohung werden, sondern – der fehlenden Garantie des Absoluten wegen – als Seinsmöglichkeit stets präsent sind. Lacan spricht ohne weiteres von der schönen Seele, oder vom Wahnsinn der Herzensbildung, unbesehen seiner Kritik an Hegel, die in anderen Kontexten (wenn es etwa um das Absolute geht oder um Versöhnung) sehr heftig sein kann.
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Von vornherein ist damit die Trennung von Wahn und Nicht-Wahn fragwürdig. Wenn von der Psychoanalyse aus philosophisch gedacht wird, d.h. wenn es um den logischen Geltungsbereich geht, ist überhaupt nicht ersichtlich, wie eine Unterscheidung diesbezüglich getroffen werden kann. Das gibt der Frage, was denn die Psychoanalyse zum Verständnis des Wahns beigetragen hat, noch eine zusätzliche Verschärfung. Ist es gar so, dass mit der Psychoanalyse diese Unterscheidung von Wahn und Nicht-Wahn abgeschafft werden muss, weil sie sich auf kein Kriterium berufen kann? Wie bei Freud lässt sich auch bei Lacan ein Argumentationszug eruieren, der dem Wahn in seinen formalen Aspekten nachgeht. Es geht dabei nicht um die Geltung und die Geltungsproblematik von Aussagen, sondern um die Art und Weise, wie Aussagen gemacht werden. Dabei rücken die Abwehrmechanismen ins Zentrum der Aufmerksamkeit: Verdrängung, Verleugnung, Verwerfung. Von seinem Frühwerk an ordnet Freud dem Wahnhaften an einigen signifikanten Stellen eine besondere Abwehrform zu: die Verwerfung.11 Lacan hat sich Freuds Abwehrlehre angeschlossen, ja, er hat sie sogar ausgebaut, vor allem das Konzept der Verwerfung.12 Damit hat er wie Freud zur Verlagerung der Frage nach dem Wahn von der Ebene der logischen Geltung auf die Ebene der Form, gleichbedeutend mit den psychischen Dimensionen, beigetragen. Die bisherigen Ausführungen lassen vermuten, dass die Unterscheidung zwischen Wahn und Nicht-Wahn auf der logischen Ebene prekär, wenn nicht unhaltbar geworden ist. Nun gibt es aber eine genuin psychoanalytische Dimension, die nicht nach der Geltung von Aussagen fragt, sondern nach ihren Bedingungen. Unter dieser Perspektive wird das urteilende Subjekt, seine Strukturen und Abwehrformen thematisch, anders gesagt, nicht die logische, sondern die psychische Ebene. Die Frage, ob eine Aussage wahnhaft ist oder nicht, wird fortan nicht aufgrund des Aussagegehaltes gestellt (wie in der Philosophie), sondern aufgrund des Verhältnisses des Subjekts zum Ich (»moi«) und zum Andern der Sprache, in Lacanscher Terminologie: der »Ordnung der Signifikanten«. Der eine und selbe Satz kann somit wahnhaft sein oder nicht, je nachdem, wie das Subjekt strukturiert ist und ihn verwendet. Hierbei sind Fragen des Körperbildes entscheidend, das in Gestalt des Ichs eine basale – und libidinöse – Matrix abgibt für das Urteilsvermögen jedes
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Subjekts; sein Fehlen raubt dem Subjekt die Orientierung über die (philosophische) Dimension des fehlenden Garanten hinaus. Das Körperbild ist ein Synonym zum Ich, wobei es hier wichtig ist, an die Unterscheidung von Ich/»Moi« und ich/»je« zu denken, die die französische Sprache anbietet. In der Lacanschen Lehre hängt das Ich (»moi«) mit dem Erkennen des eigenen Spiegelbildes zusammen, was dem Subjekt (»je«) in der Regel gelingt, bevor es einjährig ist. Das Erkennen dieser imaginären Instanz, des Ichs, wird von der Ordnung des Symbolischen getragen, die dem Kind vom Andern, vor allem von den Eltern, vermittelt wird. Indem sie auf das Spiegelbild zeigen und es mit dem Namen des Kindes benennen, ermöglichen sie einen Schritt, das Spiegelbild als einheitliches aufzufassen; andererseits leisten sie der Illusion Vorschub, dass das Kind sich im andern, im Spiegel sieht, so dass fortan eine Konfusion zwischen dem Subjekt und dem anderen in die Wege geleitet wird. Das Erkennen des eigenen Spiegelbildes, so durchsetzt es mit Illusionen ist, kommt einem Schritt gleich, der Gefährdung durch die Psychose zu entgehen. Anders gesagt: Psychotisch ist, wer sein eigenes Spiegelbild nicht erkennt, sei es, dass das Subjekt in der Perzeption von zerstückelten Körperteilen verharrt, dass es sich in wahnhafter Gestalt sieht (Schreber sah sich als Weib mit Brüsten und war überzeugt, dass jedermann, der ihn sehe, zur selben Feststellung kommen müsse), oder dass es überhaupt kein Interesse für sein Bild aufbringt. Der Eintritt ins »Spiegelstadium«, das Erkennen des eigenen Spiegelbildes gibt fortan dem Subjekt eine Orientierung, die sich im Rahmen des Narzissmus bewegt. Damit konstituiert sich auch die raumzeitliche Realität, in der sich das Subjekt zu Hause fühlt. Auch der Andere der Sprache wird narzissiert, subjektiviert, so dass das Subjekt das Gefühl bekommt, über die Sprache zu verfügen. An den Rändern des Narzissmus begegnet das Subjekt jedoch dem Anderen und den Grenzen des Sinns; das sind zwar unlustvolle, aber unabdingbare Erfahrungen, denn dadurch spürt das Subjekt, dass Erfahrungen von Neuem möglich sind, dass seine Realität sich nicht in bereits Bekanntem erschöpft. Das Fehlen dieser grundlegenden Faktoren – gleichbedeutend mit der Verwerfung der Symbolischen Ordnung, dem ihr inhärenten Anderen – führt zu einem Zerfall des Subjekts, der wahnhaft kompensiert wird. An dieser Stelle bekommen nun die Ausführungen Freuds und Lacans über die psychische Dimension der Psychose ihren vollen Wert.
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Eine scheinbar winzige Unterscheidung erweist sich als hochbedeutsam, diejenige von »en croire/daran glauben« und »y croire/es glauben«. Die einen glauben und wissen, dass sie glauben, das heißt, in ihrem Glauben ist auch der Zweifel oder der Gedanke, dass es auch anders sein könnte, miteingeschlossen – die andern glauben so unerschütterlich, dass kein Zweifel, keine Frage Platz hat (die französische Unterscheidung ist im Deutschen terminologisch schwer wiederzugeben). Die Psychotiker zeichnen sich durch diese Art des unerschütterlichen Glaubens aus. Die Begründung für diese Unterscheidung von »en croire/daran glauben« und »y croire/es glauben « liegt im Verhältnis des Subjekts zu den drei Registern des Imaginären (des Ichs), des Realen und des Symbolischen. Die vorherigen Ausführungen zum Körperbild eröffnen noch eine andere Frage, die das Verhältnis der Lacanschen Psychoanalyse zum Wahn betrifft. Lacan hat zwar die Bedeutung des Spiegelstadiums entdeckt. Aber da er im Ich (»moi«) eine Instanz sah, die voller Illusionen und Verkennungen steckt, postulierte er das Ideal des Subjekts, das sich dieser neurotischen Instanz des Ichs entschlägt. Der Analytiker sollte dieses Ideal verkörpern. So heißt es in seinem zweiten Seminar, das eben diese prekäre Rolle des Ichs thematisiert: Wenn man Analytiker ausbildet, dann deshalb, damit es Subjekte gibt, die so geartet sind, daß bei ihnen das Ich fehlt. Das ist das Ideal der Analyse, das selbstverständlich virtuell bleibt. Es gibt niemals ein Subjekt ohne Ich, ein voll realisiertes Subjekt, aber das ist gerade das, was immer vom Subjekt in der Analyse zu erlangen man anvisieren muss.13
Da stellt sich wie von selbst die Frage nach der Abgrenzung von der Psychose, denn ist nicht die Ichlosigkeit ein Merkmal der Psychose? Psychotiker und Analytiker nähern sich hier auf eine interessante und sicher auch fragwürdige Weise an: beide sind ohne Ich (»moi«) bzw. sollen möglichst ohne Ich sein, wenn sie dem Ideal entsprechen wollen; beide haben einen speziellen Bezug zum Realen, das nicht oder weniger vom Imaginären und seinen Wucherungen überdeckt wird. Daraus entsteht die Frage nach dem Unterschied: Wie lässt sich die Ichlosigkeit des Analytikers von der Ichlosigkeit des Psychotikers unterscheiden? Bei der Untersuchung dieser Frage muss der Bezug zum Realen miteinbezogen werden, also der Bezug des Subjekts zu dem, was sich weder symbolisieren noch imaginarisieren lässt. Die Frage hat weitreichende Kon22
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sequenzen, für die Ausbildung, für die Institution, für die Epistemologie – vielleicht auch für eine Kritik Lacans. Auch wenn Lacan das Reale nicht von Anfang an im selben Umfang thematisiert wie in seinen späten Arbeiten, ist es doch unverkennbar, welch großes Interesse er ihm schon in seinen frühen Arbeiten entgegenbringt. Aus dieser Perspektive erscheint ihm das Imaginäre, das Ich, mit seinen Verkennungen und Täuschungen als Instanz, die dem Erkennen des Realen hinderlich ist. Das Symbolische und das Imaginäre nehmen somit unterschiedliche Positionen ein, wenn es darum geht, zum Realen vorzustoßen. Das Symbolische ist fähig, die Täuschungen, Irrtümer zu benennen, während das Imaginäre seinem Wesen nach an das Bildhafte, Projektive fixiert ist und von sich aus nichts begrifflich erfassen kann. So denkt sich Lacan immer wieder eine Bezugnahme des Symbolischem auf das Reale, eine weitest mögliche Symbolisierung des Realen, auch wenn er von diesem sagt, es sei im Kern unerreichbar, »ohne Riss«14 – schließlich verdankt sich noch diese Feststellung dem Symbolischen. Obwohl diese Argumentation nachvollziehbar ist, mindert sie das angesprochene Problem der strukturellen Nähe zur Psychose keineswegs; dies umso weniger, als der späte Lacan die Psychose mit einer Rigorosität vergleicht, die sich gewiss nicht auf das Imaginäre stützt, sondern auf das Reale. So gibt es Hinweise, dass Lacan die Psychosen als im Realen situiert auffasst, wobei das Reale wiederum als Genießen aufgefasst wird, als – hegelianisch gesagt – Unmittelbarkeit, die mit der Errichtung der symbolischen Ordnung überwunden wird. Freilich bleibt das Reale in der Psychose unreflektiert; aber weist nicht die Notwendigkeit der Reflexion erneut auf das Spiegelstadium und damit erneut auf das Imaginäre? Auch wenn man Bedenken gegen das postulierte Ideal der Ichlosigkeit der Analytiker geltend machen kann, ist doch andererseits die Kritik an der ich-psychologischen Ausrichtung der Psychoanalyse nur allzu berechtigt, denn diese hängt zwar keinem Ideal der Ichlosigkeit nach, dafür tendiert sie dazu, das Subjekt, also die sprechende Instanz, die im Französischen an das »je« gebunden ist, zu übergehen zugunsten einer Anpassung an das Ich des Analytikers. Es fragt sich allerdings, ob Lacans Kritik an der Ich-Psychologie dazu berechtigt, das Ideal der Ichlosigkeit aufzustellen, hat diese imaginäre Instanz doch auch Funktionen, die nicht nur Verkennung, Illusion heißen, sondern auch Raum- und Zeiterfahrung, mithin Konstitution der Realität, auch wenn gegen diese wie23
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derum das Reale als die Instanz, die nicht phantasmatisch durchsetzt ist, ausgespielt werden kann.
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Vgl. zum Folgenden Descartes, René: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Mit den sämtlichen Einwänden und Erwiderungen [1915], Hamburg 1994. Vgl. Kant, Immanuel: »Versuch über die Krankheiten des Kopfes«, in: ders., Kritik der reinen Vernunft, Bd. 2, Darmstadt 1956, S.887-901. Slavoj Zizek hat noch einen andern Bezug der Hegelschen Philosophie zum Wahn entdeckt: In der Jenaer Realphilosophie vergleiche Hegel das Selbst des Subjekts mit der Nacht, dem leeren Nichts, aus dem hier »ein blutiger Kopf« hervorschieße, dort »eine andere weiße Gestalt« hervortrete. In diesem abgetrennten, nicht auf Natur rückführbaren Selbst des Subjekts habe Hegel das Subjekt des Wahns beschrieben, das sich in der Folge ein symbolisches Universum konstruiere, um das präsymbolische Reale zu überwinden. Die Frage nach dem Bezug zum Wahn in Hegels Philosophie stellt sich demnach laut Zizek nicht in dem Sinne, wie es geschehen könne, dass ein Subjekt psychotisch werde, sondern wie es aus der Psychose herauskomme. (Vgl. Zizek, Slavoj: Die Tücke des Subjekts, Frankfurt/M. 2001, S.44f.) Vgl. Bateson, G./ Jackson, D.D./Laing, R.D./ Lidz, T./Wynne, L.C. u.a. (Hg.): Schizophrenie und Familie. Beiträge zu einer neuen Theorie, Frankfurt/M. 1969. Vgl. Freud, Sigmund: »Die Abwehr-Neuropsychosen. Versuch einer psychologischen Theorie der akquirierten Hysterie, vieler Phobien und Zwangsvorstellungen und gewisser halluzinatorischer Psychosen« [1894] , in: ders., Gesammelte Werke, Bd. I, Frankfurt/M. 1999, S.59-74. Vgl. auch die spätere Arbeit »Weitere Bemerkungen über die Abwehr-Neuropsychosen« [1896], a.a.O., S.379-403. Vgl. Freud, Sigmund: »Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides)«, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. VIII, a.a.O., S.240-320. Vgl. Freud, Sigmund: »Das Unbewusste«, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. X, a.a.O., S.294-303. Über das Delirium hatte Freud schon in der Traumdeutung gesprochen, in der er dieses mit dem Traum verglich. Vgl. dazu: Freud, Sigmund:»Die Traumdeutung«, in: ders., Studienausgabe, Bd. 2, Frankfurt/M. 1994, vor allem S.109-113. Vgl. Freud, Sigmund: »Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia«, a.a.O., S.313. Vgl. Freud, Sigmund: »Das Unbewusste«, a.a.O., S.303: »Wenn wir abstrakt denken, sind wir in Gefahr, die Beziehungen der Worte zu den unbewußten Sachvorstellungen zu vernachlässigen, und es ist nicht zu leugnen, daß unser Philosophieren dann eine unerwünschte Ähnlichkeit in Ausdruck und Inhalt mit der Arbeitsweise der Schizophrenen gewinnt.« Vgl. Lacan, Jacques: »Conférences et entretiens dans les universités nord-américaines«, in: Scilicet, no. 6/7 (1975), p.9: »La psychose est un essai de rigeur. En ce sens, je dirais que je suis psychotique. Je suis psychotique pour la seule raison que j’ ai toujours essayé d’ être rigoureux. [Die Psychose ist ein Versuch der Rigorosität. In diesem Sinne würde ich sagen, dass ich psychotisch bin. Ich bin psychotisch aus dem einzigen Grund, dass ich stets versucht habe, rigoros zu sein.]« Freud sprach bereits 1894 in der bereits zitierten »Bemerkungen über die AbwehrNeuropsychosen« von Verwerfung (S.59). Er griff dieses Konzept später, anlässlich
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seiner Falldarstellung des »Wolfsmanns« wieder auf. (Vgl. Freud, Sigmund: »Aus der Geschichte einer infantilen Neurose«, in; ders., Gesammelte Werke, Bd. XII, a.a.O., S.111.) Vgl. Lacan, Jacques: Die Psychosen. Seminar III, hg. von N. Haas, Weinheim/Berlin 1997. Lacan, Jacques: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse. Seminar II, hg. von N. Haas, Weinheim/Berlin 1980, S.313. Ebd. S.123.
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Birgit Griesecke | Werner Kogge
Forcierte Schließungen Wittgenstein und der Weg vom mathematischen Formalismus in die moderne Genetik
Von Hilbert zu Gilbert Mit dem Projekt der ›Entschlüsselung‹ des menschlichen Genoms im Jahr 2001 war weithin die Vorstellung verknüpft, dass im decodierten Text die Informationen offen lägen, die Entwicklung und Funktion des menschlichen Organismus steuern. Die Analyse der DNA-Sequenzen galt zu diesem Zeitpunkt als eine beispiellose Erfolgsgeschichte der modernen Molekularbiologie. Mit den immer schneller aufeinander folgenden Erfolgsmeldungen wuchs der Enthusiasmus der wissenschaftlichen Öffentlichkeit, das abgeschlossene Humangenomprojekt wurde schließlich als ›Entschlüsselung des Erbes der Menschheit‹, als Blick in ›Gottes genetische Karten‹ gefeiert. Doch da nun – sozusagen – das Fest vorüber ist, die Daten vorliegen und es um die Frage ihrer Bedeutung geht, bringen sich immer mehr solche Stimmen zu Gehör, die sich nach den überschwänglichen Rhetoriken wie ernüchterndes Wachrufen am Morgen danach ausnehmen. Evelyn Fox Keller – eine der profiliertesten Beobachterinnen der Genforschung – blickt zurück: Fast fünfzig Jahre lang wiegten wir uns in dem Glauben, wir hätten mit der Entdeckung der molekularen Basis der genetischen Information das »Geheimnis des Lebens« gefunden. Wir waren zuversichtlich, dass wir, nachdem die Botschaft in der
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Nucleotidsequenz der DNA einmal entschlüsselt war, das »Programm« verstehen würden, das einen Organismus zu dem macht, was er ist. Und wir waren erstaunt, wie einfach die Antwort zu sein schien. Doch heute klingt in der Forderung nach einer funktionellen Genomik zumindest das stillschweigende Eingeständnis durch, dass in Wahrheit die Kluft zwischen genetischer »Information« und biologischer Bedeutung groß ist.1
Statt der Einfachheit zeige sich in dieser Kluft »die Komplexität der Geheimnisse des Lebens«. Ernst Peter Fischer konstatiert: »Am Ende […] ist festzustellen, dass bei aller Qualität der Forschung, bei aller Präzision der Messungen und bei allem Enthusiasmus der Beteiligten dem ganzen Unternehmen doch etwas zu fehlen scheint […]: die Bedeutung des Erkannten.«2 Und Lily Kay resümiert: Biologen geben zu, dass die großangelegten Sequenzierungsbemühungen zwar nützlich sind, doch auf dem Glauben an das Vorhersagevermögen von Genomsequenzen beruhen, was eine geradlinige Entsprechung von Genen, Funktionen und Strukturen voraussetzt, kurzum ein ›genetisches Programm‹. Doch mit Transposons, Exons, und Introns, mit Excisionsreparatur und Postreplikationsreparatur wird aus der geradlinigen Entsprechung eine flexible, kontextabhängige und kontingente Beziehung.3
Dieser um sich greifenden Ernüchterung lassen sich dabei durchaus therapeutische Effekte abgewinnen: »Es ist ein seltener und wunderbarer Augenblick«, schreibt Keller, »wenn Erfolge uns Bescheidenheit lehren«.4 Auch Hans-Jörg Rheinberger bringt die Hoffnung zum Ausdruck, »dass Bescheidenheit und nicht wissenschaftliche Überheblichkeit die Richtschnur für all diejenige sein wird […], die die Genindustrie und die Genmedizin […] ins neue Jahrhundert begleiten.«5 Bescheidenheit ist offenbar der Topos, der nun das diskursive Feld bestimmt. Wie ist diese Wende zu verstehen? Was genau war eigentlich geschehen? Noch Anfang der 90er Jahre schrieb Walter Gilbert, einer der Initiatoren der Genom-Sequenzierung: »Drei Milliarden Basen einer DNA-Sequenz passen auf eine einzige Compact-Disc (CD), und man wird eine CD aus der Tasche ziehen und sagen können: ›hier ist ein Mensch; ich bin es!‹«6 Und er verknüpfte diese Vision mit einer bemerkenswerten Konklusion: »Zu wissen, dass wir von einer endlichen Informationssammlung determiniert sind, die erkennbar ist, wird unsere Sicht von uns selbst verändern. Eine intellektuelle Grenze wurde geschlossen und damit müssen wir fertig werden.«7 Wie Gilbert die Idee zum Ausdruck bringt, der 28
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Mensch wäre als endliche Datenmenge aufzufassen, die technisch kontrolliert und beliebig manipuliert werden könne, ist radikal, aber alles andere als neu. Vierzig Jahre zuvor, 1950, hatte Norbert Wiener, Mathematiker, Begründer der Kybernetik und Protagonist in den Frühzeiten moderner Genetik, die Ansicht geäußert: »Die älteren Auffassungen von der Individualität waren irgendwie mit dem Begriff der Identität verknüpft, sei es nun, daß es sich um die materielle Substanz des Animalischen oder um die geistige der menschlichen Seele handelte. Heutzutage müssen wir zugestehen, daß Individualität mit der Kontinuität des Schemas in Zusammenhang steht und infolgedessen mit ihr das Wesen der Kommunikation teilt.«8 Daraus schloss er konsequent, dass es kein prinzipielles, sondern lediglich ein technisches Problem sei, einen Organismus gleich einem Telegramm von einem Ort zum anderen zu übertragen: »Die Tatsache, daß wir das Schema eines Menschen nicht von einem Ort zum anderen telegraphieren können, liegt wahrscheinlich an technischen Schwierigkeiten und insbesondere an der Schwierigkeit, einen Organismus während einer solchen umfassenden Rekonstruktion am Leben zu erhalten. Sie liegt nicht an der Unmöglichkeit der Idee.«9 Norbert Wiener arbeitete in den 40er Jahren, in engem Austausch mit dem Mathematiker John von Neumann – der sich mit dem Projekt einer selbstduplizierenden Maschine ebenfalls ins Feld der Biologie begab – an mathematischen und technischen Systemen, die organische Prozesse simulieren sollten. Die Auswirkung dieser Unternehmungen für die Verwandlung der Genetik in eine Informationswissenschaft waren – wie Lily Kay nachzeichnet – enorm;10 ihre theoretische Grundlage war die Arbeit On Computabable Numbers von Alan Turing, in der er 1936 sowohl gezeigt hatte, dass das mathematische Entscheidungsproblem unlösbar ist, als auch, dass sich jede eindeutige, formale Anweisung prinzipiell mechanisieren und von einer Maschine bearbeiten lässt. Auch Turing erläuterte seine formale Beweisführung 1951 anthropotechnisch: »Ich verfechte die Behauptung, daß Maschinen konstruiert werden können, die das Verhalten des menschlichen Geistes weitestgehend simulieren.«11 Auch dieser Gedanke ist allerdings nicht neu, sondern in Grundzügen bereits bei David Hilbert, dem wichtigsten Mathematiker der ersten Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts, dem Lehrer John von Neumanns und Vertreter einer formalistischen Mathematik vorgezeichnet. Hilbert formulierte 1928 programmatisch: 29
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Das Formelspiel, über das Brouwer so wegwerfend urteilt, hat außer dem mathematischen Wert noch eine wichtige allgemeine philosophische Bedeutung. Dieses Formelspiel vollzieht sich nämlich nach gewissen bestimmten Regeln, in denen die Technik
unseres Denkens zum Ausdruck kommt. Diese Regeln bilden ein abgeschlossenes System, das sich auffinden und endgültig angeben läßt. Die Grundidee meiner Beweistheorie ist nichts anderes als die Tätigkeit unseres Verstandes zu beschreiben, ein Protokoll über die Regeln aufzunehmen, nach denen unser Denken tatsächlich verfährt.12
Von David Hilbert bis Walter Gilbert, über 60 Jahre, lässt sich so die Wirkungsgeschichte eines Paradigmas nachzeichnen, das das Denken, die Maschinen, die Körper und die biologischen Systeme bis in die molekularen Prozesse der Zelle zu erfassen sucht. Alle diese Versuche fußen auf der Annahme, dass eine endliche Basis formaler Strukturen und Regeln existiert, die das Denken, Sprechen und Leben determiniert. Dabei ist die Perpetuierung dieser Annahme durchaus erstaunlich. Denn die Wirkungsgeschichte des formalistischen Paradigmas ist zugleich als eine eigentümliche Verknüpfung von Erfolg und Scheitern zu beschreiben. Theoretisch nämlich hatte sich Hilberts mathematisches Unternehmen mit den Unvollständigkeits- und Unentscheidbarkeitsbeweisen von Gödel, Church, Kleene und Turing erledigt. Als ›Philosophie‹ des working mathematician setzte sie sich aber durch und in der realisierten TuringMaschine, dem Computer, trat sie einen ungeahnten Siegeszug an. Ebenso die Kybernetik, ein Amalgam aus mathematischem Formalismus und psychologischem Behaviourismus: Als universale Lehre sank sie herab zu einer Fußnote der Geistes- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts; in ihrem Potential, die DNA als genetischen Code, in dem die Informationen zur Steuerung der Zelle verschlüsselt liegen, aufzufassen, wurde sie aber über ein halbes Jahrhundert hindurch zum leitenden Paradigma der Molekularbiologie. Und erst mit der ›Entschlüsselung‹ dieses ›Codes‹ setzt sich die Einsicht durch, dass auch hier diese Denkfigur im Grunde fragwürdig ist. Statt sich in eindeutigen, formalen Strukturen zu offenbaren, hat, mit dem Anwachsen des Wissens über zelluläre Prozesse, der Genbegriff inzwischen jede klare Referenz verloren.13 Begriffe wie Programm, Code und Information werden als unzutreffend und irreführend kritisiert.14 Die Genetik gilt als eine Wissenschaft, »die technisch ungeheuer weit voran gekommen ist, während sie konzeptionell stark hinterher hinkt.«15 Die »neue Subtilität«16 erfordert neue Konzepte, »immer dringlicher«, so heißt es, wird eine »Änderung der Terminolo30
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gie«:17 »Wir werden lernen müssen, auf radikal neue Weise zu denken«,18 schreibt Evelyn Fox Keller. Auf eine radikale Weise überdacht hat Ludwig Wittgenstein das formalistische Programm. In seinem berühmten Tractatus logicophilosophicus von 1918/22 hatte er die formalistische Auffassung sozusagen auf die Spitze getrieben, hatte ein System formaler Logik konzipiert, das konsequent bedeutungsfrei, nur aus Tautologien bestehend, dennoch die Grundlage des sinnvollen Denkens und Sprechens bildet und dessen Bereich völlig durchdringt und begrenzt. Derselbe Ludwig Wittgenstein griff aber Ende der 20er Jahre, nachdem er fast ein Jahrzehnt sich jeglicher philosophischer Betätigung enthalten hatte, ein schon dem Tractatus eingeschriebenes kritisches Motiv wieder auf – dies nämlich, dass, »der Wert dieser Arbeit«, mit der er erstens »die Probleme endgültig gelöst zu haben« meint, »zweitens darin [besteht], daß sie zeigt, wie wenig damit getan ist, daß diese Probleme gelöst sind.«19 Galt der Tractatus logico-philosophicus in der philosophischen Fachwelt, insbesondere bei den meisten Mitgliedern des Wiener Kreises als imponierendes Modell einer vollständigen logischen Ordnung, so brachte gerade die Radikalität des Wittgensteinschen Strebens nach eindeutig bestimmten Grenzziehungen zwischen Sinn und Unsinn das Unternehmen an den Punkt des Scheiterns. Sich dessen immer mehr bewusst werdend verwandelt Wittgenstein selbst in den Jahren seiner Rückkehr zur Philosophie das therapeutische Motiv, die philosophischen Probleme logisch zu behandeln und endgültig aufzulösen, in den Gegenstand einer philosophisch neu ansetzenden ›Therapie‹: Jetzt gilt es, die logisch determinierten, »unantastbaren und definitiven« Räume des Sag- und Denkbaren zu öffnen für in variable Lebensformen eingelassene Sprachspiele.20 Gerade in ihrer Gestalt als systematische Selbstkorrektur liefert die Philosophie Wittgensteins einen hervorragenden Ausgangspunkt, um die grundlegenden Probleme, die im formalistisch-informationstechnischen Paradigma zum Vorschein gekommen sind, in einer neuen, durchdringenden Weise zu untersuchen: Sie ist zugleich Symptom, Analyse und Korrektur des formalistischen Paradigmas, das Mathematik, Kybernetik und Molekularbiologie in einer zusammenhängenden Weise zwischen den 1920er und 1950er Jahren bestimmte, und leistet daher mehr als eine bloße Innen- oder Außensicht.
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Nun geht es hier aber nicht darum, die philosophische Selbstkorrektur lediglich nachzuvollziehen, diese soll vielmehr als Instrumentarium eingesetzt werden, um in der Verknüpfung mehrerer disziplinärer Krisensituationen eine Problematik sichtbar zu machen, die den modernen Wissenschaften inhärent ist und sich, unter bestimmten Bedingungen, immer wieder vollziehen kann. Daher geben hier die strukturellen Verwandtschaftsbeziehungen die Leitlinien der Untersuchung ab. Darin, dass dieser paradigmatische Zusammenhang, wie wir zeigen werden, auch zeitlicher und räumlicher Nähe, personellen Überschneidungen, gemeinsamen intellektuellen Referenzpunkten und überlappender Kanonisierung geschuldet ist, sehen wir eine zusätzliche Bestätigung unseres Argumentationsgangs.21
Reduktionismus – forcierte Schließungen – ›Wahn‹ Reduktionismus, die Zurückführung von komplexen Erscheinungen auf einfachere Zusammenhänge, deren Regel- und Gesetzmäßigkeiten sich formulieren lassen, bezeichnet ein elementares naturwissenschaftliches Verfahren. Was aber in der Physik beispielsweise als grundlegend und erstrebenswert gilt, ist in den Lebens- und Sozialwissenschaften seit langem umstritten. Reduktionistische und deskriptionistische, ›erklärende‹ und ›verstehende‹ Ansätze stehen hier gegeneinander. Bei der folgenden Analyse des formalistisch-informationstechnischen Paradigmas in den Wissenschaften geht es allerdings nicht um die methodologische Entscheidung zwischen Reduktionismus und Anti-Reduktionismus, sondern um ein spezifischeres Phänomen. Es geht um die Denkfigur, dass sich für einen umfassenden Bereich – wie z.B. den des Denkens, Sprechens, Handelns oder Lebens – formale Strukturen und Regeln finden lassen, die erstens bedeutungsfrei sind, zweitens jeden Prozess bzw. Vollzug in diesem Bereich determinieren bzw. steuern und drittens den betreffenden Bereich vollständig durchdringen und zu einem abgeschlossenen Ganzen machen. Wittgenstein fasst – in kritischer Intention – diese Idee einer determinierenden Ordnung im Bild eines vollkommen reinen Kristalls, der aber »nicht als eine Abstraktion; sondern als etwas Konkretes, ja als das Konkreteste, gleichsam Härteste«22 erschiene. Ist es überhaupt möglich, sich eine solche Figur vorzustellen? 32
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Problemlos ist der Begriff einer formalen Ordnung, eines logischen oder mathematischen Systems, das nach keinen anderen Regeln und Verfahren aufgebaut wird als den logischen bzw. mathematischen. Die ›Entsemantisierung‹ und Formalisierung von Mathematik und Logik waren mit dem Ziel verknüpft, Systeme mit universaler Geltung zu schaffen. Was solche Systeme nicht vermögen, ist – wie wir seit den Beweisen von Gödel und Turing wissen – für ihre Vollständigkeit und Entscheidbarkeit zu bürgen. Dass ein solcher Anspruch nicht im System begründet werden kann, würde aber noch nicht bedeuten, dass die Geltung für die außersystemische Welt ebenfalls in Frage steht. Doch stellt sich hier ein weiteres Problem, wenn begründet werden soll, dass ein von äußeren Einflüssen abgehobenes System die Welt, aus der es abgehoben ist, determiniert, strukturiert, steuert oder kontrolliert. Die Annahme eines solchen Potentials verlangte nämlich die Möglichkeit zur kausalen Einwirkung und was kausal wirken kann, ist auch selbst kausalen Wirkungen ausgesetzt – was aber die Autonomie des formalen Systems unterliefe. Es sei denn, das System wird wie der aristotelische ›unbewegte Beweger‹ als das Wirkende im Sinne von das ›Erstrebte‹ oder ›Gedachte‹ konzipiert: Dies ließe seine Autonomie in der Wirkung unberührt, allerdings um den Preis, dass die Geltung seiner Regeln unvollständig bliebe, insofern jegliches Streben aus sich selbst oder anderen Gründen in seiner entelechialen Bewegung scheitern kann. Soll also eine Welt durch ein formales System durchgängig determiniert sein, dann muss dieses System als Agens kausaler Wirkungen gedacht werden, was aber seine auf Formalität gestützte Autonomie zerstörte. Wie wir es wenden: Ein System, das zugleich bedeutungsfrei, determinierend und vollständig ist, entzieht sich einer kohärenten Konzeptionalisierung. Ist diese Überlegung richtig, so stellt sich aber die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass der Mensch, der Organismus, die Zelle, in der Molekularbiologie als ein System angesehen wurde, das durch eine Struktur bedeutungsfreier Elemente – etwa die auf einer CD gespeicherten DNA-Daten – in allen Möglichkeiten der Lebensprozesse vollständig durch diese Struktur determiniert ist? Wie konnte sich in der Genetik eine Auffassung etablieren, die Gene zugleich als vorliegende, stabile Struktur, die unabhängig von ihrer Bedeutung analysiert werden kann, und als Steuerungsinstanz, die sämtliche organische Prozesse kontrolliert, betrachtet? Die formalistische Denkfigur schließt in letzter Konsequenz aus, dass sich Prozesse ereignen, die nicht aus Regeln ableitbar und (zeichen-) 33
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technisch beherrschbar sind. Im Sinne dieses Ausschlusses wollen wir hier von einer ›forcierten Schließung‹ sprechen, den Begriff so aufgefasst, dass über die normale Stabilisierung wissenschaftlicher Paradigmen (Kuhn) oder Denkstile (Fleck) hinaus gesteigerte Grenzziehungen erfolgen.23 ›Forcierte Schließung‹ meint also, dass die zentralen Strukturen der betreffenden forschungsleitenden Vorannahmen nicht nur mit spezifischen perspektivischen Erkenntnismöglichkeiten und Blindheiten verknüpft sind (was stets der Fall ist), sondern dass das Moment der Schließung selbst als konstitutives Element in ein wissenschaftliches Paradigma eingeht. Wenn es im Kontext dieses Buches auch darum geht, die Verbindung von Wissen und Wahn aufzuklären, so wäre hier zunächst an den etymologischen Sinn von ›Wahn‹ zu erinnern: Wa(h)n (ahd., got.) leer, mangelnd. Die Komposita Wan-sinn bzw. Wan-witz bedeuten also die Abwesenheit von Sinn- und Verstand. Es ist nun bemerkenswert, dass die moderne Metaphysik des Formalismus – im Unterschied zu allen älteren Metaphysiken der abendländischen Geschichte – die Instanz des unbewegten Bewegers nicht mehr mit einer vollkommenen, sinnvollen Ordnung identifiziert, sondern diesen Ort mit einer Struktur oder einem System besetzt, für das es konstitutiv ist, bedeutungs- und sinnfrei zu sein.
Formalismus und die Grundlagenkrise der Mathematik Über eine lange Zeit der Geschichte der Mathematik war es unbefragte Selbstverständlichkeit, dass Mathematik von Zahlen- und figürlichen Verhältnissen handelt, also von Eigenschaften, die Gegenständen und Beziehungen in der erfahrbaren Welt zukommen. In der Moderne jedoch wurde seit der Einführung der Buchstabenalgebra bei Viète und der Ausformulierung der Idee einer universalen Kalkülsprache bei Leibniz24 eine sukzessive Loslösung der mathematischen Entitäten von ontologischen Bestimmungen vollzogen.25 Der Formalismus, dessen Begründer und wichtigster Vertreter David Hilbert war, führt nun aber diese Entwicklung zu ihrem Höhepunkt und Abschluss. Im Formalismus bleibt unbestimmt, wovon die Mathematik handelt, ihre Zeichen sind ontologisch indifferent, es ist gänzlich gleichgültig, ob es sich um Punkte, Zahlen, Ebenen oder – wie Hilbert witzelnd anmerkt – Bierseidel handelt.26 Bereits in seiner frühen Arbeit Grundlagen der Geometrie (1899) hatte 34
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Hilbert gezeigt, dass sich die Geometrie als widerspruchsfreies System darstellen lässt – insofern sie auf die Arithmetik zurückzuführen ist, deren Widerspruchsfreiheit zu beweisen wäre. Damit sind zwei Problemstellungen angerissen, die für den Formalismus zentral sind: Erstens die Bedeutungsfreiheit und freie Transformierbarkeit der Zeichen und zweitens die Frage, wodurch die Zeichenoperationen ihre Legitimität erhalten, was für ihre Wahrheit und Sinnhaftigkeit bürgt. Demgemäß lässt sich das formalistische Programm durch zwei Grundzüge charakterisieren: In einem ersten Schritt wird der mathematische Bereich einer durchgängigen Formalisierung unterzogen, d.h. in ein System von Axiomen und Schlussregeln überführt, die in einer aus einem endlichen Alphabet aufgebauten Zeichensprache ausgedrückt werden. Sodann lassen sich sämtliche symbolische Transaktionen wie auch mathematische Beweise als rein mechanische Umformungen von Zeichenketten gemäß den Schlussregeln durchführen.27 Die Gegenstände der Mathematik sind damit nicht mehr Gedanken oder reale Verhältnisse, sondern die Zeichen selbst. Die Loslösung von jeder ontologischen Bindung erbrachte den weitestmöglichen Spielraum für mathematische Konstruktionen. Hilbert betont immer wieder den Geist freier Schöpfung, der für die Mathematik bestimmend sei. Konkurrierende Auffassungen belegt er mit der Kennzeichnung »Verbotsdiktatur«.28 Doch das freie Spiel der Konstruktion sollte keinesfalls dem Zufall oder – wie Frege gegen den Formalismus polemisch pointiert – der »Erdichtungswillkür«29 überlassen sein. Die Wahrheit der Axiome, auf denen mathematische Systeme beruhen, spielt im Formalismus zwar, so Hilberts Antwort auf Frege, keine Rolle, dennoch sind sie einem Wahrheitskriterium unterworfen: »Wenn sich die willkürlich gesetzten Axiome nicht einander widersprechen mit sämtlichen Folgen, so sind sie wahr, so existieren die durch Axiome definirten Dinge. Das ist für mich das Criterium der Wahrheit und Existenz.«30 Wenn aber durch keine Beziehung zur außermathematischen Welt – seien es die Eigenschaften realer Dinge, unmittelbare Evidenzen oder Bewusstseinsstrukturen – die Wahrheit und Sinnhaftigkeit der Mathematik verbürgt ist, so kommt der Widerspruchsfreiheit die fundamentale und alleinige Aufgabe zu, die wissenschaftliche Dignität der Mathematik zu sichern. Der Beweis, dass die formalistische Mathematik als Ganze widerspruchsfrei ist, wurde deshalb zur zentralen Aufgabe dieses Forschungsprogramms.
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Die Auseinandersetzung zwischen Formalismus, Intuitionismus und Logizismus in den 1920er Jahren, die unter dem Titel Grundlagenkrise der Mathematik bekannt geworden ist, beruht zu einem großen Teil auf dieser Zuspitzung des mathematischen Selbstverständnisses im Formalismus. Zwar weist Bettina Heintz mit Recht darauf hin, dass die Gründe für die Wahrnehmung dieser Probleme als fundamentale Erschütterung nicht allein aus dem innermathematischen Kontext abzuleiten sind.31 Zum einen war die Problematik der Antinomien längst bekannt, bevor sie zu Beginn der 20er Jahre virulent wurde, zum anderen verschwand sie einige Jahre später wieder, ohne gelöst worden zu sein. Im Unterschied zu den Zeiten vor und nach der Krise, in denen Widersprüche als praktische Probleme der normalen wissenschaftlichen Arbeit behandelt wurden, gerieten sie in den 20er Jahren zu tief greifenden Erschütterungen, ohne deren Lösung ein Fortgang der Arbeit nicht möglich schien: Wahrheit, Gewissheit, Sicherheit und Sinn wurden als gefährdet angesehen und es stellte sich die Frage, wo, wenn nicht in der Mathematik, ein stabiles Fundament für sicheres Wissen garantiert sein könnte. Doch ist die Problematik, wie sie der formalistischen Auffassung entspringt, weder allein aus Sachzwängen innerhalb der Wissenschaft noch auf die Stimmung des sozialen Umfelds zurückzuführen. Vielmehr ist für diese Konstellation von Motiven charakteristisch, dass sie die Grenze zwischen Internalismus und Externalismus überschreitet. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist nämlich ein eigentümliches Paradoxon, das der formalistischen Programmatik innewohnt: Bei aller Betonung der Konstruktivität der Mathematik, des Schöpfertums des Mathematikers und der gänzlichen Bedeutungsfreiheit der mathematischen Elemente, war Mathematik für Hilbert doch nicht nur l’art pour l’art, doch nicht nur selbstgenügsames Spiel auf höchstem gedanklichem und ästhetischem Niveau. Vielmehr sollte dieser losgelöste, dieser weltlose Formalismus zugleich von höchster Relevanz für die Wirklichkeitsauffassung sein, ja: mit der Wahrheit der Wirklichkeit zusammenfallen. Sämtliche Wissenschaft, so Hilbert bereits 1917, sollte sich demgemäß in ihrem Kern mathematisch formulieren lassen: »Ich glaube: Alles was Gegenstand des wissenschaftlichen Denkens überhaupt sein kann, verfällt, sobald es zur Bildung einer Theorie reif ist, der axiomatischen Methode und damit unmittelbar der Mathematik. […] In dem Zeichen der axiomatischen Methode erscheint die Mathematik berufen zu einer führenden Rolle in der Wissenschaft überhaupt.«32
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1930 – der Grundlagenstreit ist bereits zugunsten des Formalismus entschieden – ist nun nicht mehr nur die Wissenschaft, sondern das Denken insgesamt auf formalistische Operationen zurückzuführen, da, so Hilbert, »unser Verstand keinerlei geheimnisvolle Künste treibt, vielmehr nur nach ganz bestimmten, aufstellbaren Regeln verfährt – zugleich die Gewähr für absolute Objektivität seines Urteilens.«33 Wie ein Formalismus, der sich auf ein mechanisches Umformen von bedeutungsfreien Zeichenketten ohne jede Bedeutung beschränkt, zugleich die gesamte Sphäre des sachhaltigen Denkens und Wissens umgreifen soll, kann Hilbert nur mit einem vagen Verweis auf die ›prästabilierte Harmonie‹ zwischen Geist und Welt beantworten.34 Der Geist in der freiesten aber vollkommen regelhaften Schöpfung von durchgängiger, widerspruchsfreier Ordnung produzierte demnach die Strukturen, die auch der Wirklichkeit zugrunde liegen. Doch was bedeutete dies für letztere, wenn dem so wäre? Hätte sich Hilberts Programm umsetzen lassen, hätte sich »ein finiter Widerspruchsfreiheitsbeweis«35 der formalistischen Mathematik erbringen lassen, hätte – wie Herbert Mehrtens treffend formuliert – die »reine Mathematik […] die Wahrheit ihrer Wahrheit erweisen«36 können, so wäre die Mathematik, als menschliche Unternehmung, an ihr Ende gelangt. Denn die Überführung sämtlicher mathematischer Probleme in formalisierte Zeichenfolgen, die nach eindeutigen Regeln zu prozessieren sind, hätte die Mathematik als Ganze maschinisierbar gemacht;37 alle offenen Fragen der Mathematik wären letztlich durch eine Maschine berechenbar gewesen. Mit der Mathematik wäre aber zugleich das Begreifen der Wirklichkeit eine Sache maschineller Berechnung geworden. Wenn nämlich ein der Wirklichkeit angemessenes Denken im Grunde ein Vorgehen im Modus formaler Operationen auf der Grundlage bestimmter Setzungen in einem finiten Zeichenrepertoire ist, dann ist dieses Denken insgesamt ebenso an eine Maschine delegierbar wie die Mathematik. Es ist mehr als merkwürdig, dass im Herzen der modernen Mathematik, in der wirkungsmächtigsten Richtung der Wissenschaft, die als Verkörperung von Rationalität selbst gilt, ein solches Programm forschungsleitend werden konnte. Zwar war die Abschaffung der Welt und die Abschaffung des Denkens in verschiedener Weise immer wieder das Projekt unterschiedlicher Strömungen in der abendländischen Geistesgeschichte gewesen; dabei aber zugleich die eigene Disziplin an ihr Ende zu führen und obsolet zu machen, hatte vielleicht nur – erstaunlicherweise – in der Philosophie Hegels einen Vorläufer (wenn auch – wie wir 37
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sogleich sehen werden – durchaus noch weitere Nachfolger). Doch selbst in diesen Abschlussfiguren manifestiert sich kein so elementarer Widerspruch wie der der formalististischen Mathematik, den freien Geist zu feiern und ihn gleichzeitig der Maschine zu überantworten. Hilberts Programm war es, mit seiner Beweistheorie »die Grundlagenfrage in der Mathematik endgültig aus der Welt zu schaffen«.38 Was aber zugleich endgültig aus der Welt geschafft werden sollte, war der Widerspruch, das Offene und das Unentschiedene.39 Die »Probleme im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben«: Davon ist auch Ludwig Wittgenstein in seinem Frühwerk, dem Tractatus logico philosophicus überzeugt. Noch klarer und noch expliziter als Hilbert führt Wittgenstein hier das Programm durch, sachhaltiges Denken, Wissen und Erkennen einem Rahmen formaler Verhältnisse einzugliedern. Nicht die Mathematik, sondern die Logik stellt hier den Hintergrund dieser Operation dar – eine Ausgangslage, die durch die philosophischen Versuche einer logischen Grundlegung der Mathematik durch Russell und Frege allerdings von der der Mathematik schon nicht mehr schlechthin zu trennen war.40 Der Ansatz des Tractatus logico philosophicus ist in vielen Punkten dem Ansatz der formalistischen Mathematik strukturell verwandt. Eine grobe Skizze des Gedankengangs soll einen Eindruck davon vermitteln, wie Wittgensteins Radikalisierung der Logik pointiert, was in der formalistischen Mathematik teilweise nur implizit angelegt ist. Als entscheidender Gedanke wird sich erweisen, dass der Formalismus, der in der Mathematik noch Arbeitsprogramm war, in Wittgensteins Logik zum vollendeten Strukturbild der Welt gerinnt. Eine vollständige logische Notation würde nicht nur die Ableitbarkeit und Berechenbarkeit aller anderen Sätze ermöglichen, sondern diese Verhältnisse auch unmittelbar darstellen, in vollkommene Präsenz heben: »In der Logik sind Prozeß und Resultat äquivalent.« (T, Nr.6.126)41 Versuchen wir uns diese Überlegung in einigen Schritten klarer zu machen: Ausgangspunkt des Tractatus war, dass die Welt aus Verbindungen von Gegenständen zu Sachverhalten besteht. Nicht alle möglichen Verbindungen treten in Wirklichkeit auf, sind – wie Wittgenstein sich ja bekanntlich ausdrückt – »der Fall« (T, Nr.1). Möglich ist alles, wovon sich sinnvoll sagen lässt, dass es sich so verhalten könnte. Und wie es sich verhalten könnte, ist durch die internen Eigenschaften des Gegenstandes vorgegeben (T, Nr.2.012, 2.0121, 2.0123). 38
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Deshalb kann man, wenn man diese inneren Eigenschaften kennt, durch logische Analyse alle möglichen Sachverhalte voraussagen, in denen dieser Gegenstand auftreten kann. Die Logik liefert also eine formale Bestimmung aller Möglichkeiten der Welt (T, Nr.2.012, 2.0123). Sinnvolles Sprechen ist solches, das durch seine logische Form einen möglichen Sachverhalt der Welt bezeichnet (T, Nr.3.323ff.). Das heißt insbesondere, dass das logische Zeichen bedeutungsfrei bestimmt ist (T, Nr.3.33). Nur so kann das logisch Mögliche und sinnvoll Aussagbare unabhängig vom Zutreffen oder Nicht-Zutreffen eines Sachverhalts bestimmt werden. Die Logik ist also unabhängig von der Wirklichkeit, unabhängig von aller Erfahrung. Sie kann nur in sich selbst gründen: »Die Logik muß für sich selber sorgen.« (T, Nr.5.473) Doch als durchgängige bestimmte Ordnung von Zeichen fällt sie – man achte auf die Verwandtschaft zu Hilberts Wendung – mit allem Geregelten der Welt zusammen: »Die Erforschung der Logik bedeutet die Erforschung aller Gesetzmäßigkeit. Und außerhalb der Logik ist alles Zufall.« (T, Nr.6.3) Da »der Satz die logische Form der Wirklichkeit« zeigt (T, Nr.4.121) und in der Welt nichts über die Logik hinausgehen kann, kann man auch sagen: »Die Logik erfüllt die Welt.« (T, Nr.5.61) So stehen wir wiederum vor einer paradoxen Konklusion: Gerade das Merkmal der Sprache, das bedeutungsfreie, bloße Struktur oder Gesetzmäßigkeit ist, nämlich ihre logische Form, soll die Welt als Ganze durchdringen und abbilden. In Nummer 6.124 erläutert Wittgenstein, in welcher Weise die »logischen Sätze das Gerüst der Welt bilden«: »In der Logik drücken nicht wir mit Hilfe der Zeichen aus, was wir wollen, sondern in der Logik sagt die Natur der naturnotwendigen Zeichen selbst aus«. Die logische Struktur ist also keine Instanz, die Menschen festlegen oder geschichtlich ausbilden; die logische Struktur ist vielmehr die Struktur der Welt, der universale, ahistorische, autonome Möglichkeitsraum, in dem sich aus naturnotwendigen Zeichen ablesen lässt, was der Fall sein kann und was nicht. Hatte der mathematische Formalismus auf eine Maschine zu gesteuert, die prinzipiell alle Fragen der Mathematik zu beantworten imstande wäre, so kondensiert diese Maschine bei Wittgenstein in Strukturbildern, die stets nach denselben Regeln erzeugt werden. Mit den Unvollständigkeits- und Unentscheidbarkeitsbeweisen von Gödel (1931), Church (1936) und Turing (1936) musste das formalistische Programm Hilberts als gescheitert angesehen werden. Dennoch trium39
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phierte es aber nicht nur gegenüber dem unmittelbaren Konkurrenten ›Intuitionismus‹, sondern zeitigte auch wirkungsgeschichtlich weit reichende Folgen. Mit Turings Beweis ging der Nachweis einer Entsprechung einher, die über den engeren Bereich der Mathematik hinauswies: Formalisierte Systeme zeigten sich als prinzipiell mechanisierbar, formaler Kalkül und mechanische Technik wurden zu einer Einheit verschmolzen. Turings ›Papiermaschine‹, mit der er den Algorithmusbegriff präzisierte, war zugleich die theoretische Erfindung des Computers und die Grundlage informationstheoretischer Modelle in der Molekularbiologie. Der Formalismus scheiterte zwar an der selbst gestellten Aufgabe, ein stabiles theoretisches Fundament zu entwickeln, brachte aber ein Instrument hervor, das technische Kontrolle und Steuerung in einer neuen Qualität ermöglichte. Wenige Jahre später, im zweiten Weltkrieg, in dem Turing an der Entzifferung deutscher Geheimcodes arbeitete, begann die technische Umsetzung des formalistischen Programms Realität zu werden. Einen ganz anderen Weg nimmt Ludwig Wittgenstein. Im März 1928 hatte Wittgenstein in Wien einen Vortrag von Brouwer, dem intuitionistischen Gegenspieler von Hilbert gehört; ein Ereignis, das, wie Ray Monk berichtet, für seine Rückkehr zur Philosophie ausschlaggebend gewesen sein soll.42 In der Folgezeit sprach Wittgenstein im Rahmen einiger Mitglieder des Wiener Kreises immer wieder über das Thema Widerspruchsfreiheit und Beweis. Verfolgt man diese Ausführungen, so wird offenbar, dass Wittgenstein seine Konzeption im Tractatus niemals als eine formalistische Grundlegung angelegt hatte, dass vielmehr das Motiv der konsequenten Eingrenzung des Bereichs der Logik bestimmend gewesen war. Gleichwohl bleibt der Anspruch des Tractatus, inwiefern das dort Ausgeführte etwas mit der Entdeckung von Sachverhalten zu tun hat, ambivalent. So kritisiert er bei einem Treffen am 9. Dezember 1931 eine Unklarheit in seinem Buch, die mit der »dogmatischen Darstellung« einhergehe, nämlich die Auffassung, dass es in den logischen Elementarsätzen etwas zu entdecken gäbe: »Die falsche Auffassung, gegen die ich mich in diesem Zusammenhang kehren möchte, ist die, daß wir auf etwas kommen könnten, was wir heute noch nicht sehen, daß wir etwas ganz Neues finden können. Das ist ein Irrtum.«43 Hier zeichnet sich ab, wie nahe zwar einerseits Wittgensteins Denken noch den Grundannahmen ist, die auch den mathematischen Formalismus bestimmen, wie sehr es sich andererseits aber schon auf einem völ40
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lig anderen Weg befindet. Denn in Wittgensteins Kritik an Hilberts Forderung, die Widerspruchsfreiheit der Arithmetik zu beweisen, finden sich die Elemente seiner Selbstkritik in bezeichnender Weise wieder: Man hat da die Vorstellung, als ob von Anfang an ein Widerspruch in den Axiomen versteckt sein könnte, den niemand gesehen hat, so wie die Tuberkulose: Man ahnt nichts, und eines Tages ist man tot. So meint man auch: Eines Tages könnte vielleicht der versteckte Widerspruch ausbrechen, und dann ist die Katastrophe da. (WWK, S.120)
Der Gedanke, dass es in der logischen Ordnung etwas Verdecktes oder Verborgenes geben, das zu entdecken wäre oder unheilvolle Wirkungen zeitigen könnte, beruht für Wittgenstein auf einem Grundirrtum über das Wesen von Logik und Mathematik. Denn in formalen Systemen gibt es, wie Wittgenstein an den Exempeln Brettspiel und euklidische Geometrie erläutert, lediglich zwei Möglichkeiten: Entweder bestehen Widersprüche in den expliziten Regeln, so sind sie unmittelbar einsehbar, oder aber sie erweisen sich erst im Fortgang des Spiels, in der Praxis der Regelanwendung: »Was machen wir in einem solchen Fall?«, fragt Wittgenstein, »Wir führen eine neue Regel ein, und damit ist der Konflikt entschieden.« (WWK, S.120) Ein Widerspruch in einem logischen System kann für Wittgenstein nur in den Regeln des Systems liegen. Da Regeln aber keine anderen Ansprüche zu erfüllen haben, als dass nach ihnen gespielt werden kann, tritt ein Widerspruch in den Regeln genau dann zu Tage, wenn ein Spiel nicht fortgesetzt werden kann. D.h. dass es in rein formalen Regelwerken einen verdeckten und a priori entdeckbaren Widerspruch schlechthin nicht geben kann. Der Kalkül funktioniert oder funktioniert nicht – und wenn er nicht funktioniert, gibt es keinen Grund, warum nicht der Konflikt zwischen Regeln durch eine einfache Änderung behoben werden könnte. Wittgensteins Auseinandersetzung mit dem formalistischen Projekt, die Widerspruchsfreiheit der Mathematik zu beweisen, wirft ein Licht darauf, dass die tief sitzende Ambiguität dieses Unternehmens, programmatisch und praktisch auf vollkommene Formalisierung abzuzielen, im Selbstverständnis aber an allumfassenden ontologischen Implikationen festzuhalten, auf einer tief greifenden Selbstverkennung beruht. Denn ein Widerspruch in einem formalen Konstrukt, das tatsächlich jeden Weltbezugs enthoben ist, ist – wie Wittgenstein zeigt – ganz unproblematisch. Nur wenn man Mathematik nicht konsequent als freie Schöp41
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fung auffasst, wenn man sie vielmehr – wie Hilbert – zugleich zum Fundament sachhaltigen Wissens und Denkens bestimmt, dann sind Widersprüche nicht nur Widersprüche in kontingent gesetzten Regeln, sondern erscheinen tatsächlich als »eine versteckte Krankheit« (WWK, S.174), als ein »Abgrund«, in den wir »zwangsläufig« und »rettungslos […] hinabgleiten« (WWK, S.201); der Widerspruch wäre tatsächlich das, wovor sich die Mathematiker am meisten fürchten, was ihnen »eine Art Albdruck« (WWK, S.131) ist. Für Wittgenstein dagegen ist der Widerspruch in der Mathematik ein »Popanz« (WWK, S.196), der zustande kommt, da die Mathematiker ihre eigene Tätigkeit nicht konsequent erfassen: »Die Mathematik ist immer eine Maschine, ein Kalkül. Der Kalkül beschreibt nichts. Er läßt sich auf das anwenden, auf was er sich anwenden läßt.« (WWK, S.106) Mit dieser Klarstellung liefert Wittgenstein die systematische Begründung für den wissenschaftsgeschichtlichen Sachverhalt, dass das Scheitern des formalistischen Programms, die Widerspruchsfreiheit der Mathematik zu beweisen und damit die Mathematik zu einem unangreifbaren und alles tragenden Fundament von Wissenschaft und Denken zu machen, nicht zu einem Scheitern der formalistischen Praxis führte: Als Methode der Erfindung und Konstruktion bedeutungsfreier Formalismen ist die Mathematik durch Widersprüche überhaupt nicht zu gefährden. Doch die Selbsttäuschung des formalistischen Denkens hat im Grundlagenstreit der Mathematik nur einen ersten Höhepunkt erreicht, in der Entwicklung von Kybernetik und moderner Molekularbiologie treibt sie weitere Blüten.
Papiermaschinen, wirkliche Maschinen und die Steuerung des Lebendigen Turings Papiermaschine, die die Unentscheidbarkeit der formalistischen Mathematik nachwies, erschloss dieser zugleich eine neue Dimension ihrer Anwendbarkeit: Die Maschine, die als Modell der Handlungen eines vollkommen regelhaft arbeitenden Mathematikers konzipiert war, lässt sich tatsächlich konstruieren und das bedeutet zugleich, dass jeglicher Prozess, sofern er nur in eindeutigen Regeln fassbar ist, einer automatischen Berechnung zugänglich wird. Als mathematischer Kalkül ist die Turing-Maschine aber nicht nur eine Vorlage zur Konstruktion au42
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tomatischer Rechenmaschinen, sondern bietet sich zugleich als Modell an für alles, was in irgendeiner Weise informationsförmig und regelhaft prozessiert. So lag es nahe, den automatisierten Kalkül der formalistischen Mathematik auf solche Prozesse zu applizieren, in denen ebenfalls eine regelmäßige Selbsttransformation stattfindet, nämlich die biologischen Vorgänge der neuronalen Netze und Zellreplikation. Die wissenschaftliche Formation, in der schließlich die Übertragung des mathematischen Modells auf die Gegenstände der Genetik stattfindet, weist einige charakteristische Züge auf, die im Folgenden knapp skizziert werden, um deutlich zu machen, wie das Selbstverständnis des Formalismus als Erblast in die moderne Molekularbiologie einging. Mitte der 1940er Jahre bildete sich in den USA ein Forschungszusammenhang heraus, der ebenso von der Logik des Krieges44 wie von der Idee automatischer Berechnung und Steuerung geleitet war. Das Label, unter dem sich hier verschiedene Strömungen und Ansätze versammelten, war Kybernetik, der Titelbegriff des 1948 publizierten Buches von Norbert Wiener Cybernetics: or Control and Communication in the Animal and the Machine, in dem sich die in den Jahren zuvor vielfach personell und inhaltlich verwobenen diskursiven Fäden von Ansätzen zur automatischen Steuerung von Geschützen (Wiener), zur Kontrolle neuronaler Prozesse (McCulloch/Pitts), zur mathematischen Kommunikationstheorie (Shannon/Weaver) und zur Selbstreplikation von Maschinen (von Neumann) bündelten. Die enge Verknüpfung zwischen der Propagierung der neuen Disziplin Kybernetik durch Norbert Wiener und dem mathematischen Formalismus dokumentiert sich in der Figur John von Neumanns, dem Schüler Hilberts, der dessen Forderung, die Wissenschaften müssten auf die mathematisch-axiomatische Methode gegründet werden, in die Tat umsetzte und sowohl zur Ökonomie als auch zur Automatentheorie grundlegende Arbeiten verfasste. In intensiver Zusammenarbeit mit von Neumann konturierte Wiener die Kybernetik als eine Wissenschaft, die gleichermaßen von Maschinen, von Organismen und bestimmten Bereichen menschlichen Verhaltens handelte, da sie alle diese Systeme als informationsförmige, d.h. bedeutungsfreie, formale Logiken, deren Verkörperung letztlich beliebig ist, betrachtete. Mensch und Maschine wurden zu einem einheitlichen System im Paradigma der Maschine verschmolzen, die selbst wiederum mathematischer Steuerung unterworfen war. 45 Kybernetik, die Lehre von der Steuerung, kann also als Amalgam des 43
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mathematischen Formalismus und des psychologischen Behaviourismus betrachtet werden. Ebenso wie die Grundlagenkrise der Mathematik steht die Entstehung der Kybernetik unter dem Vorzeichen einer Notlage. Für Wiener ging es nicht nur um den Kampf gegen den militärischen Feind, sondern dahinter stand eine weit umfassendere Bedrohung – der »Erzfeind […] Desorganisation«.46 Nach wie vor geht es um das elementare Gefühl einer Bedrohung von Ordnung überhaupt. Nach wie vor ist es die mathematische Wissenschaft, die als Bollwerk gegen diese Bedrohung in Stellung gebracht wird. Dennoch ist eine wichtige Akzentverschiebung zu bemerken: Während der Orientierungsverlust der Zwischenkriegszeit mit einer Suche nach theoretischen Fundamenten und Beweisen verknüpft war, geht es in den 40er Jahren um technische Überwindung und Kontrolle. Die formalistische Mathematik, die sich theoretisch von der Welt abgetrennt hat, die wissenschaftlich in ihrem Begründungsanspruch gescheitert ist, kehrt technisch zur außermathematischen Welt zurück. Wiener entwickelte Rechenmaschinen, die die Raketenabwehr gegen feindliche Flugzeuge steuern sollten. Dazu integrierte er nicht nur die Bewegung von Flugzeug und Projektil, sondern auch das Verhalten von Piloten und Artelleristen in Schaltkreissysteme, die mit Rückkopplungsmechanismen arbeiteten. Im Anschluss an behaviouristische Grundannahmen wurden Psyche und Intentionalität aus diesem System ausgeschlossen, Menschen wurden als ›black boxes‹ betrachtet, deren Verhalten von früherem Verhalten extrapoliert wurde. So konnten geschlossene Mensch-Maschinen-Systeme konstruiert werden, deren Verbindung zur außersystemischen Welt lediglich in den raum-zeitlichen Koordinaten des System-Inputs bestand. Eine zentrale Rolle spielten für die Kybernetik die Vorgänge der Kommunikation, die Input und Output steuerten. Zur Entwicklung der kybernetischen Theoriebildung gehörte deshalb auch die mathematische Theorie der Kommunikation, die Shannon und Weaver zeitgleich mit Wieners ›Kybernetik‹ veröffentlichten (eine Zeit lang war von der WienerShannon-Kommunikationstheorie die Rede).47 Zwei inhaltliche Parallelen sind hier bemerkenswert: In beiden Ansätzen gibt es keine außersystemische Referenz (Shannons Informationsbegriff ist dezidiert bedeutungsfrei) und beide verwenden an zentraler Stelle den Begriff der ›Entropie‹, setzen sich also mit dem Verhältnis von Ordnung und Unordnung auseinander. 44
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Strukturell haben wir es bei Wieners Versuch, einen »AA-Prädikator« – ein Anti-Aircraft-Vorhersagegerät – zu konstruieren, mit der gleichen Problemstellung zu tun, die auch Hilbert umgetrieben hat: Wie kann von der Basis finiter Daten aus auf den ganzen Möglichkeitsraum der weiteren Entwicklung extrapoliert werden? Letztlich scheiterten Wieners Bemühungen daran, dass Mensch und Maschine sich nicht als geschlossenes System erwiesen, dessen zukünftige Zustände in ihrer Anfangssituation bereits determiniert wären: Von dieser Situation ließ sich keine vollständige axiomatische Formulierung angeben und ebenso wenig fand sich eine endliche Zahl eindeutiger Regeln, die die weitere Entwicklung bedingt. Wissenschaftsgeschichtlich ist gleichwohl zu notieren, dass, obwohl Wieners technische Bemühungen während des zweiten Weltkriegs ebenso scheiterten wie die Begründungsversuche des Formalismus,48 und obwohl Kybernetik als eigenständiges wissenschaftliches Programm eher eine Stilblüte der Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts blieb, der Erfolg des Steuerungsmodells in einem Feld durchschlagend war: in der Molekularbiologie, in der die Genetik zu einer Informationswissenschaft transformiert wurde.
Die DNA als Programm des zellulären Prozesses John von Neumann und Norbert Wiener sind zugleich Protagonisten der Verwandlung der Genwissenschaft in eine Informationswissenschaft. Auf der einen Seite war durch Kybernetik und Mathematik die Übernahme informationstheoretischer Termini in die Genetik befördert worden. Auf der anderen Seite zogen Molekularbiologen (u.a. Francis Crick, der Mitentdecker der Doppelhelix) das informationstechnische Paradigma heran, um die Ordnung zellulärer Mechanismen zu formalisieren und so »die Kontrolle des schmutzigen Durcheinanders« der Biologie einer »unverdorbenen Metaebene«, dem kontrollierbaren Informationsfluss zu unterwerfen.49 Ausgehend von interdisziplinären Arbeitszusammenhängen zwischen von Neumann, Wiener, Shannon, Gamow, Quastler, Monod, McCulloch, Delbrück, Ycas, Brenner u.v.a. wurde das informationstheoretische Paradigma in den 50er Jahren in der Genforschung leitend. Begriffe wie Code, Information, Text, Entzifferung bestimmten immer mehr die Struktur des Forschungsgegenstandes und der Metho45
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den. Wie Lily Kay und Evelyn Fox Keller in ihren Studien gezeigt haben, wurde der genetische ›Code‹ zum Ort der Steuerung des Lebens, zu einer Kontrollinstanz, die den zellulären Prozess determiniert.50 Die Übernahme der Logik geschlossener kybernetischer Systeme für die Zelle leitete die intensiven Bemühungen um die ›Entzifferung‹ des genetischen Codes ein, die bis zur jüngst abgeschlossenen ›Entschlüsselung‹ des menschlichen Genoms reichten. Die Idee, die DNA als entschlüsselbaren Code zu denken, steht in der Nachfolge des informationstechnischen Paradigmas in der Molekularbiologie, dessen Vorherrschaft die »formalistische Phase« leitete. 51 Die Logik seines Vorgehens bezog dieser Formalismus, der die Kombinatorik zwischen codierender Nukleinsäure und Proteinen zu erfassen suchte (und dabei häufig nur knapp an zahlenmystischen Konstruktionen vorbeistreifte), aus den Methoden der Entzifferung feindlicher Codes im Zweiten Weltkrieg, die selbst wiederum in der formalistischen Mathematik verankert waren. George Gamow, Physiker und Kryptologe, der wie Turing an der Entschlüsselung militärischer Codes gearbeitet hatte und sich gleichfalls in biologische Problemstellungen involvierte (er hatte 1946 eine Tagung zur Physik lebender Materie organisiert, die auch für John von Neumanns Beschäftigung mit biologischen Automaten bedeutsam war), 52 schrieb, nachdem er den Artikel von Crick und Watson über die Entdeckung der Doppelhelix gelesen hatte, an die Autoren: […] damit gelangt die Biologie in die Gruppe der »exakten« Wissenschaften […] Wenn Ihre Ansicht stimmt, wird jeder Organismus durch eine lange Zahl charakterisiert, die in einem Quadrupel-System geschrieben ist […] Dies würde eine sehr aufregende Aussicht für die theoretische Forschung bedeuten, ausgehend von Kombinatorik und Zahlentheorie.53
Die rein formalistischen Versuche, den Code des Lebens zu knacken, beherrschten, unter der Leitung von Gamow, fast ein Jahrzehnt lang den Diskurs der Genforschung, bis, 1961, der Übertragungsvorgang von der DNA zu den Proteinen biochemisch beschrieben wurde. Auf die Einzelheiten dieses Scheiterns des formalistischen Ansatzes kann hier nicht weiter eingegangen werden54 und auch nicht darauf, wie in den 60er Jahren, als der genetische Code nicht mehr nur als zu entziffernder Text, sondern als Programm einer sich selbst schreibenden Maschine gedacht wurde, Mathematik, Kybernetik und Biochemie zusammenflossen, wo-
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bei der formalistische Grundgedanke eines determinierenden Kalküls weiterhin bestimmte, was denkmöglich war. So formulierten Jacob und Monod, die Entwickler des in den 60er Jahren führenden Operon-Modells der Molekularbiologie: »Wie die Entdeckung der Regulator- und Operatorgene […] zeigt, enthält das Genom nicht nur eine Reihe von Bauplänen, sondern ein koordiniertes Programm der Proteinsynthese sowie die Mittel zur Kontrolle ihrer Ausführung.«55 Die formale Struktur des Genoms wird zur universalen Maschine, aus dem sich jeder Zustand des Organismus errechnet. Dass die Einführung von Operator- und Regulatorgenen das Problem, wie eine statische Struktur einen Prozess aktiv steuern und kontrollieren kann, nur verschob auf die Frage, welche Instanzen denn wiederum den Einsatz der regulierenden Gene steuern, dieser regressus ad infinitum entzog sich dem Blick; zu schlüssig war die formalistische Denkfigur. So blieben auch in der Folgezeit drei Merkmale bestimmend, die den Niederschlag des formalistischen Denkens in der Genforschung bezeichnen: • Die Vernachlässigung des Referenzaspekts biologischer ›Information‹ (Bedeutungsfreiheit).56 • Die Auffassung des zellulären Prozesses als geschlossene und einsinnige Übertragung vom Code zu den Proteinen (Determination). • Verortung der Steuerungsinstanz in der unveränderlichen Struktur der DNA (unabhängige finite axiomatische Struktur und Kombinationsregel).
Nach der Schließung 1934/35, zu einem Zeitpunkt, als sich der mathematische Formalismus gegenüber Intuitionismus und Logizismus längst durchgesetzt hatte, Gödels Unvollständigkeitsbeweis aber noch auf sich warten ließ, gab Wittgenstein in Cambridge eine Vorlesung, die nach Mitschriften seiner Studenten unter dem Titel The Blue Book veröffentlicht wurde. Darin griff er einen Aspekt des Grundlagenstreits der Mathematik auf, um die Wende in seiner Sprachphilosophie herauszuarbeiten: »Frege spottete über die formalistische Konzeption der Mathematik, indem er sagte, dass die Formalisten das Unwichtige, nämlich das Zeichen, mit dem Wichtigen, der Bedeutung, verwechseln. Gewiß möchte 47
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man sagen«, so Wittgenstein, »handelt Mathematik nicht von Strichen auf einem Stück Papier. Freges Idee kann folgendermaßen ausgedrückt werden: wenn die Sätze der Mathematik nur Kombinationen von Strichen wären, wären sie tot und äußerst uninteressant, während sie doch offensichtlich ein Art Leben haben.« Diese Überlegung überträgt Wittgenstein nun auf das Feld der Sprache: »Ohne Sinn und ohne den Gedanken wäre ein Satz ein ganz und gar lebloses und triviales Ding. Und weiter scheint es klar zu sein, dass das Hinzufügen von inorganischen Zeichen den Satz keineswegs lebendig machen kann.« So kommt Wittgenstein zurück auf Freges bedeutungsplatonistische Lösung: »Und der Schluß, den man daraus zieht, ist folgender: was zu den toten Zeichen hinzugefügt werden muß, um einen lebendigen Satz aus ihnen zu machen, ist etwas Unkörperliches, das sich in seinen Eigenschaften von allen bloßen Zeichen unterscheidet.« – Eine Lösung, der Wittgenstein aber eine Alternative entgegenstellt, ohne in die formalistische Konzeption zurückzufallen: »Wenn wir jedoch irgendetwas, das das Leben des Zeichens ausmacht, benennen sollten, dann würden wir sagen, daß es sein Gebrauch ist.«57 Diese Passage steht Pate für die viel zitierte Formulierung der Philosophischen Untersuchungen: »Jedes Zeichen scheint allein tot. Was gibt ihm Leben? – Im Gebrauch lebt es.« (PU, aus §432) Die Alternative jenseits von Formalismus und Platonismus erschließt sich in dem Gedanken, dass die Bedeutung des Zeichens in seinem lebendigen Gebrauch liegt; in einem Gebrauch, der weder im Belieben des Einzelnen steht noch durch irgendetwas determiniert ist; der vielmehr in situativen Sprachspielen sich manifestiert und in Lebensformen eingeübt und praktiziert wird. Ebenfalls mit der Grundfigur des Gebrauchs verbunden ist das Bild der Zelle, wie es sich mit der Erfüllung des ›formalistischen‹ Programms in der Molekularbiologie abzuzeichnen beginnt. Der Genetiker Richard Lewontin formulierte 1992 in seinem Artikel The Dream of the Human Genom: Die DNA ist ein totes Molekül und zählt zu den reaktionslosesten, chemisch trägsten Molekülen der Welt […] Die DNA ist nicht nur unfähig, Kopien ihrer selbst herzustellen […] sie ist auch nicht in der Lage, irgendetwas anderes zu »machen«. Die lineare Nukleotidsequenz in der DNA wird von der Zellmaschinerie benutzt, um zu bestimmen, welche Aminosäuresequenz in ein Protein eingebaut werden soll, und um festzulegen, wann und wo das Protein erzeugt werden soll.58
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Mit dem Ausdruck » Die DNA wird von der Zellmaschinerie benutzt« ist innerhalb des Diskurses der Genetik die Einsicht formuliert, dass die DNA nicht als Text aufgefasst werden kann, der in irgendeiner Weise das Geschehen in der Zelle determiniert und steuert. Die formalistische Idee, dass – um es noch einmal in der Formulierung des Tractatus auszudrücken – sich »die Natur der naturnotwendigen Zeichen selbst« aussagt – wird hier durchbrochen, denn, auch wenn man die DNA als Zeichenfolge begreift, so ist diese Zeichenfolge doch nicht zugleich die Instanz, die für ihre Verwendung bürgte. Der Gebrauch, der von ihr gemacht wird, liegt vielmehr in einer ›Logik‹, die der lebendigen Zelle als Ganzes zuzuschreiben ist. Wie stark auch hier das Bedürfnis ist, zu einem Prozess einen Verursacher zu denken, offenbart sich darin, dass Lewontins Formulierung die maßgebliche Akteurialität lediglich von der DNA auf die Zellmaschinerie verschiebt. Doch wer oder was ist die Zellmaschinerie? In einem Artikel im Journal of Cell Biology von 1991 heißt es, der »Expressionszustand eines jeden Gens« sei »von der Wechselwirkung zwischen in der Zelle zu jedem Zeitpunkt vorhandenen Steuerungsproteinen bestimmt«.59 Da das Gen in diesem Diskurs nicht mehr als materiales Substrat, sondern als Funktionseinheit begriffen wird, die die biologische Bedeutung konstituiert, zeichnet sich in dieser Formulierung ein Übergang ab, der dem der Wittgensteinschen Philosophie analog ist: Der Gebrauch, der in einem situativen, regelhaften, aber nicht determinierten Zusammenhang von einer regelmäßigen Konfiguration (der Sprache, der Schrift, der DNA) gemacht wird, entscheidet darüber, welche Bedeutung die Konfiguration hat. Diese Auffassung ist derjenigen diametral entgegengesetzt, die sich in dem ›zentralen molekularbiologischen Dogma‹ zum Ausdruck bringt, das Francis Crick folgendermaßen referiert: »Die DNA macht die RNA, die RNA macht Protein, und die Proteine machen uns.«60 Berücksichtigt man, dass die DNA hier als geordnete Zeichenfolge aufgefasst wird, so zeigt sich die unmittelbare Verwandtschaft dieses Gedankens dazu, wie Hilbert, Turing, Wiener und Gilbert das Verhältnis von Zeichen und der durch sie bezeichneten Wirklichkeit bestimmen: Jeweils wird eine finite Zeichenfolge unterstellt, die in der Lage ist, jede Ausprägung des Kontextes, in dem sie steht, zu determinieren. Das ›zentrale Dogma‹ zeigte zwar schon kurz nach seiner Formulierung erste Risse, es bröckelte bereits in den 80ern und, mehr noch – wie die obigen Zitate andeuten – in den 90er Jahren, gleichwohl blieb es in wichtigen Bereichen for-
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schungsleitend bis zur ›Entschlüsselung‹ des menschlichen Genoms im Jahre 2001. Das Eigentümliche der Wirkungsgeschichte des formalistischen Paradigmas bringt Keller zum Ausdruck, wenn sie – im Anschluss an Lewontins Ausführungen zu Organisation und Wirkungspotential des Eis schon vor der Befruchtung – schreibt: »Aber haben wir, mag der Leser jetzt denken, dies alles nicht längst gewusst?« Und diese Frage so beantwortet: »Ja und nein. Ja in dem Sinne, dass dies, abgesehen von der Bezugnahme auf die DNA, genau die Art von Beobachtungen war, die die Embryologen ständig machten. Nein jedoch insofern, als Genetiker sie […] eben nicht machten […] Der Gen-Diskurs hatte eine räumliche Karte, die das Zytoplasma vom wissenschaftlichen Standpunkt aus unsichtbar machte ». Und sie ergänzt: »Als sich in den fünfziger und sechziger Jahren die Molekularbiologie mit ihren kraftvollen Metaphern ›Information‹ und ›Programm‹ herausbildete, verlor das Zytoplasma noch mehr an Bedeutung.«61 Die Ausblendung des Wirkungskon›textes‹, in dem die molekulare Struktur der DNA erst ihre Bedeutung erlangt, die Ausblendung des gesamten Zellgeschehens war für den Gendiskurs konstitutiv. Wie Hilberts Mathematik den Mathematiker, Turing und Wiener überhaupt den lebendigen Menschen obsolet erscheinen ließen, so steht der moderne Gendiskurs im Banne eines Bildes des Lebewesens als formale Datenstruktur, die aus ihrer eigenen Logik und mit absolutem Potential steuert, was immer aus ihr hervorgeht: die Proteine, die Zelle, den gesamten Organismus. »Ein Bild hielt uns gefangen« (PU, aus §115) schreibt Wittgenstein im Zusammenhang seiner Selbstkritik an der Sprachphilosophie des Tractatus. Das gleiche lässt sich für den Gendiskurs sagen: Das Bild, das diesen gefangen hielt, ist das formalistische Bild einer Logik, die schon in der Kombinatorik einer endlichen Anzahl von Zeichenelementen die gesamte ›Logik‹ des Lebendigen zu erfassen glaubt. Doch so wenig die Montage von Buchstaben nach formalen Regeln eine lebendige Sprache ergibt, so wenig bildet sich der Organismus aus der formalen Kombination von Basentripletts. Wittgensteins unerbittlicher Blick entkleidet die formalistische Denkfigur von allem, womit sie sich kaschiert und einen ihre eigenen Operationen übergreifenden Geltungsanspruch rechtfertigt: »Das Denken ist mit einem Nimbus umgeben. –«, schreibt er in den Philosophischen Untersuchungen und erläutert dieses verklärende Mo50
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ment folgendermaßen (in eckigen Klammern machen wir auf die Parallelen im Feld der Molekularbiologie aufmerksam): Sein Wesen, die Logik stellt eine Ordnung dar [die Logik der DNA], und zwar die Ordnung a priori der Welt [des gesamten Organismus], d.i. die Ordnung der Möglichkei-
ten, die Welt und Denken gemeinsam sein muß. Diese Ordnung aber, scheint es, muß höchst einfach sein [die elementare Kombinatorik der Basentripletts]. Sie ist vor aller Erfahrung [vor jedem biochemischen Prozess]; muß sich durch die ganze Erfahrung hindurchziehen; ihr selbst darf keine erfahrungsmäßige Trübe und Unsicherheit anhaften. – Sie muß vielmehr von reinstem Kristall sein. Dieser Kristall aber erscheint nicht als eine Abstraktion; sondern als etwas Konkretes, ja als das Konkreteste, gleichsam
Härteste [die DNA als genetische Strukur]. (PU, §97)
Wittgensteins kritisches Selbstreferat führt uns noch einmal zurück auf die Grundfigur der formalistischen Traditionslinie, die wir skizziert haben: Eine bedeutungsfreie, von jedem Weltbezug unabhängige Logik, in sich eine vollkommene Ordnung, bildet die Grundlage von Denken und Welt; noch allgemeiner gesprochen: der Anordnung von jeglichem Geordneten überhaupt. Und zwar nicht in dem Sinne, dass sich diese Ordnung bloß als gedankliche Operation aus dem unübersichtlichen Konvolut der Wirklichkeit herausdestillieren lässt, sondern in dem viel weitreichenderen, dass diese logische Ordnung, als das kontrollierende Element, in der gesteuerten Wirklichkeit selbst wirkend, also die wirklichste Wirklichkeit sein muss. Sich von dieser paradoxen, metaphysischen Denkfigur lösend, richtet Wittgenstein den Blick auf die vielfältigen Weisen, in der wir tatsächlich Sprache verwenden: Es gibt […] unzählige verschiedene Arten der Verwendung alles dessen, was wir ›Zeichen‹, ›Worte‹, ›Sätze‹, nennen. […] Es ist interessant, die Mannigfaltigkeit der Werkzeuge der Sprache und ihrer Verwendungsweisen, die Mannigfaltigkeit der Wort- und Satzarten, mit dem zu vergleichen, was Logiker über den Bau der Sprache gesagt haben. (Und auch der Verfasser der Logisch-Philosophischen Abhandlung.) (PU, aus §23)
Wenn es in der Molekularbiologie nun darum geht, das tatsächliche Entwicklungs›programm‹ zu erforschen, das »in dem wechselwirkenden Komplex [besteht], der sich aus genomischen Strukturen und dem ausgedehnten Netzwerk der Zellmaschinierie aufbaut, in welches diese Strukturen eingebettet sind«,62 dann wird es vielleicht sinnvoll sein, sich nicht nur von Begriffen wie Programm und Gen, sondern auch von dem Bild der Zellmaschinerie mit ihren Steuerungselementen und Signalpfa51
Birgit Griesecke | Werner Kogge
den zu lösen und stattdessen, wie Wittgenstein, im Paradigma des Spiels und der vielfältige Formen des Regelfolgens zu denken; denn vielleicht ist, was sich im unverstellten Blick auf die lebendige Sprache gezeigt hat, ein fruchtbarer Ansatzpunkt, wenn es nun darum geht, nicht mehr das Lebendige in die Logik einzuschreiben, sondern tatsächlich die Logik des Lebendigen zu erkunden. Die Philosophie Wittgensteins kann hier aber – darauf wollen wir abschließend einen Ausblick geben – noch in einer anderen Hinsicht von Bedeutung sein, wenn es nun nämlich darum geht, zu fragen, wie das Verfahren aussehen kann, in dem die begriffliche Arbeit zu leisten wäre – eine begriffliche Arbeit, die, wie Hans-Jörg Rheinberger auch jüngst nochmals betonte, ein Desiderat ist. Zwar fehle es, so Rheinberger, mittlerweile nicht mehr an Aufrufen, dass das Ganze des Organismus in der Breite seiner Funktionsweise über Zellen, Gewebe und Organe sowie in der Tiefe seiner Entwicklung […] wieder in den Blick genommen werden [müsse]. Es ist in diesen Appellen jedoch zumeist wenig von einer neuen begrifflichen Anstrengung in Hinblick auf das […] neue Ganze zu vernehmen. Solcher Anstrengung wird es aber bedürfen, wenn man sich auf der Basis der mittlerweile angehäuften genetischen Information erneut nicht nur den Regulationen des Genoms, sondern auch denen des Proteoms und vielleicht sogar einmal denen eines »Organoms« zuwendet, das Genom und Proteom aus der Sicht des Zusammenwirkens aller bekannten Gen- und Proteinstrukturen betrachtet. 63
Geht man mit Blick auf erste tentative Schritte einer Begriffssuche davon aus, dass im Forschungsprozess der Molekularbiologie einerseits Realitäten entstehen, die nur unzureichend sprachlich gefasst und andererseits Begriffe geschöpft werden, die unzureichend situiert sind – die sozusagen ihre Sprachspiele noch suchen – dann liegt in dieser Konstellation der Einsatzpunkt einer Denkmethode, die Wittgenstein mit dem Konzept der ›grammatischen Betrachtung‹ gefasst hat. Diese mit den Begriffen ›übersichtliche Darstellung‹ und ›Finden von Zwischengliedern‹ verknüpfte Technik erlaubt es, den Sprachgebrauch über den Rahmen des Faktischen auf die Möglichkeiten hin zu erforschen, die sich in ihm erschließen lassen.64 Einerseits besteht das Verfahren darin, Widersprüche und Ungereimtheiten im Sprachgebrauch aufzudecken (man vergleiche die Verwirrung, die Wittgenstein in der Angst vor dem mathematischen Widerspruch herausstellt, mit der, die im Konzept eines bedeutungsfreien Textes liegt, der seine Verwendung steuert). Andererseits wird durch die Erprobung 52
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des Sprachgebrauchs in Bezug auf gefundene und erfundene Fälle eine Ordnung geschaffen, in der wir uns – so Wittgensteins Formulierung der philosophischen Aufgabe – ›auskennen‹ (PU, §123); eine Ordnung allerdings, die weder unveränderlich noch determinierend ist, uns vielmehr das Netzwerk unserer lebendigen Bedeutungen aufspannt und vor Augen stellt. Wittgensteins Denkverfahren auf die Diskurse der Molekularbiologie anzuwenden, könnte diesen zentralen Bereich, in dem die Wissenschaft die Begriffe des Menschen und des Lebendigen informationstechnisch konzeptualisiert hat (Gilbert sprach von der Grenze, die geschlossen wurde), einem umfassenderen Selbstverständnis zugänglich machen.
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Keller, Evelyn Fox: Das Jahrhundert des Gens, Frankfurt/M. 2001, S.19. Fischer, Ernst Peter: Das Genom, Frankfurt/M. 2002, S.85f. Kay, Lily E.: Das Buch des Lebens. Wer schrieb den genetischen Code? München 2001, S.420. Keller, Evelyn Fox: Das Jahrhundert des Gens, a.a.O., S.19. Rheinberger, Hans-Jörg: »Von Mendel zu Postgenomics«, in: Honnefelder, L./Propping, P. (Hg.), Was wissen wir, wenn wir das menschliche Genom kennen?, Köln 2001, S.119-127, S.126. Gilbert, Walter, »A Vision of the Grail«, in: Kevles, D. J./Hood L. (Hg.), The Code of Codes. Scientific and Social Issues in the Human Genom Project, Cambridge 1992, S.83-97, S.96. (Übersetzung nach Keller, Evelyn Fox: Das Jahrhundert des Gens, a.a.O., S.17.) Ebd., S.96. (Übersetzung nach Kay, Lily E.: Das Buch des Lebens, a.a.O., S.12.) Wiener, Norbert: Mensch und Menschmaschine. Kybernetik und Gesellschaft, Frankfurt/ M. 1952, S.94. Ebd., S.101. Vgl. Kay, Lily E.: Das Buch des Lebens, a.a.O., Kap. 3-6. Turing, Alan M.: »Intelligente Maschinen. Eine häretische Theorie« [1951], in: ders., Intelligence Service. Schriften, hg. von B. Dotzler und F. Kittler, S.9-15, S.10. Hilbert, David: »Die Grundlagen der Mathematik«, in: Abhandlungen aus dem mathematischen Seminar der Hamburgischen Universität, Leipzig 1928, S.65-85, S.79. Vgl. Beurton, Peter/Falk, Raphael/Rheinberger, Hans-Jörg (Hg.): The Concept of the Gene in Development and Evolution. Historical and Epistemological Perspectives, Cambridge 2000. Vgl. Kay, Lily E.: Das Buch des Lebens, a.a.O.; Keller, Evelyn Fox: Das Jahrhundert des Gens, a.a.O.; Keller, Evelyn Fox: Das Leben neu Denken. Metaphern der Biologie im 20. Jahrhundert, München 1998. Fischer, Ernst Peter: »Visionen auf dem Weg zu einer genetischen Wissenschaft – von der souveränen Unwissenheit im Anblick vieler Informationen«, in: Honnefelder, L./Propping, P. (Hg.), Was wissen wir, wenn wir das menschliche Genom kennen?, a.a.O., S.103-112, S.110.
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Keller, Evelyn Fox: Das Jahrhundert des Gens, a.a.O., S.9. Keller, Evelyn Fox: Das Leben neu Denken, a.a.O., S.44. Ebd., S.49. Wittgenstein, Ludwig: »Tractatus logico-philosophicus«, in: ders., Werkausgabe in 8 Bänden, Bd. 1, Frankfurt/M. 1984, S.10. Zitiert wird aus diesem Werk im Folgenden mit dem Sigel »T« im Text. Vgl. dazu: Griesecke, Birgit: »Cambridge 1930: Die neuen Denk- und Schreibversuche des mittleren Wittgenstein«, in: Braungart, W./Kauffmann, K. (Hg.), Essayismus 18701930, Beiheft zur Zeitschrift Euphorion, (im Erscheinen); Griesecke, Birgit: »Autokorrektur. Möglichkeitsdenken im Wiener Umkreis«, in: dies., (Hg.), Werkstätten des Möglichen 1930-1936. L. Fleck, R. Musil, E. Husserl, L. Wittgenstein, (in Vorbereitung). Im Sinne dieser Überlegungen handelt es sich bei dem vorliegenden Aufsatz nicht um die Zusammenfassung einer abgeschlossenen Forschungsarbeit, sondern um den Entwurf eines Forschungsfeldes und Forschungsansatzes. Wittgenstein, Ludwig: »Philosophische Untersuchungen«, in: ders., Werkausgabe in 8 Bänden, a.a.O., aus § 97. Zitiert wird aus diesem Werk im Folgenden mit dem Sigel »PU« im Text. Vgl. zur Forcierung von Grenzziehungen: Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, S.153f. Kogge, Werner: Die Grenzen des Verstehens. Kultur - Differenz - Diskretion, Weilerswist 2002, S.289-325. Vgl. Krämer, Sybille: Symbolische Maschinen. Die Geschichte der Formalisierung in historischem Abriß, Darmstadt 1988. Vgl. Mehrtens, Herbert: »Anschauungswelt versus Papierwelt. Zur historischen Interpretation der Grundlagenkrise der Mathematik«, in: Poser, H./Schütt, H.-W. (Hg.), Ontologie und Wissenschaft. Philosophische und wissenschaftshistorische Untersuchungen zur Frage der Objektkonstitution, Berlin 1982/83, S.240. Vgl. Heintz, Bettina: Die Herrschaft der Regel. Zur Grundlagengeschichte des Computers, Frankfurt/M. 1993, S.26. Vgl. ebd., S.48f. Hilbert, David: »Neubegründung der Mathematik« [1922], in: ders., Hilbertiana. Fünf Aufsätze von David Hilbert, Darmstadt 1964, S.12-32, S.14. Mehrtens, Herbert: Moderne - Sprache - Mathematik. Eine Geschichte des Streits um die Grundlagen der Disziplin und des Subjekts formaler Systeme, Frankfurt/M. 1990, S.117. Ebd., S.122. Vgl. Heintz, Bettina: Die Herrschaft der Regel, a.a.O. Hilbert, David: »Axiomatisches Denken« [1918], in: ders., Hilbertiana, a.a.O., S.1-11, S.11. Hilbert, David: »Probleme der Grundlegung der Mathematik« [1928], in: Reidemeister, K. (Hg.), Hilbert Gedenkband, Berlin/New York 1971, S.9-19, S.19. Vgl. Mehrtens, Herbert: Moderne - Sprache - Mathematik, a.a.O., S.125ff. Gödel, Kurt, »Diskussion zur Grundlegung der Mathematik«, zit. n.: Heintz, Bettina: Die Herrschaft der Regel, a.a.O., S.66. Mehrtens, Herbert: Moderne - Sprache - Mathematik, a.a.O., S.130. Vgl. Heintz, Bettina: Die Herrschaft der Regel, a.a.O., S.61. Mehrtens, Herbert: Moderne - Sprache - Mathematik, a.a.O., S.129. Vgl. ebd., S.125. Hilbert dazu: »Da aber die Überprüfung der Widerspruchslosigkeit eine unabweisbare Aufgabe ist, so scheint es nötig, die Logik selbst zu axiomatisieren und nachzuweisen, daß Zahlentheorie und Mengenlehre nur Teile der Logik sind. Dieser Weg, seit langem vorbereitet – nicht zum mindesten durch die tiefgehenden Untersuchungen von Frege – ist schließlich am erfolgreichsten durch den scharfsinnigen Mathematiker und Logiker Russell eingeschlagen worden.« (Hilbert, David: »Axiomatisches Denken«, a.a.O., S.8.) Vgl. auch: »Der Beweis in der Logik ist nur ein mechanisches Hilfsmittel zum leichteren Erkennen der Tautologie, wo sie kompliziert ist.« (T, 6.1262)
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Monk, Ray: Wittgenstein. Das Handwerk eines Genies, Stuttgart 1990, S.269f. Wittgenstein, Ludwig: »Wittgenstein und der Wiener Kreis«, in: Werkausgabe in 8 Bänden, Bd. 3, a.a.O., S.183. Zitiert wird aus diesem Werk im Folgenden mit dem Sigel »WWK« im Text. Wie die ›forcierte Schließung‹ des Formalismus sich in dieser Phase mit der Logik des Krieges verband, kommt in folgender Ausführung von Heinz von Foerster zum Ausdruck: »Wie aber nun so brilliante Denker, die diese neue Theorie geschaffen haben, die so verräterisch simpel ›Informationstheorie‹ heißt, zwei Begriffe verwechseln und vermischen konnten, die sich semantisch so tiefgreifend unterscheiden wie die Begriffe ›Signal‹ und ›Information‹, ist schwer zu fassen, wenn wir uns nicht an die historischen Umstände der Entwicklung dieser Theorie erinnern: Diese Begriffe sind zugleich mit der Entwicklung der Universalrechner im zweiten Weltkrieg entstanden. In Kriegszeiten dominiert im allgemeinen eine bestimmte Art des Sprachgebrauchs – der Imperativ bzw. der Befehl – alle anderen (die Aussage, die Frage, der Ausruf) … Befehle [kann es] nur in einem trivialen System geben, für das gilt, dass jeder Output in eindeutiger Weise durch den Input determiniert ist [der behaviouristische Traum], in diesem Fall also durch den Befehl.« (Zit. n.: Kay, Lily E.: Das Buch des Lebens, a.a.O., S.48; Einfügungen von Kay.) Vgl. Galison, Peter: »Die Ontologie des Feindes. Norbert Wiener und die Vision der Kybernetik«, in: Hagner, M. (Hg.), Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt/ M. 2001, S.433-485. Wiener, Norbert: zit. n.: ebd., S.477. Vgl. Kay, Lily E.: Das Buch des Lebens, a.a.O., S.238. Vgl. Galison, Peter: »Die Ontologie des Feindes«, a.a.O., S.450f. Vgl. Kay, Lily E.: Das Buch des Lebens, a.a.O., S.57. Vgl. Kay, Lily E.: »Wer schrieb das Buch des Lebens? Information und die Transformation der Molekularbiologie«, in: Hagner, M./Rheinberger, H.-J./Wahrig-Schmidt, B. (Hg.), Objekte, Differenzen und Konjunkturen. Experimentalsysteme im historischen Kontext, Berlin 1994. Kay, Lily E.: Das Buch des Lebens, a.a.O. Keller, Evelyn Fox: Das Leben neu Denken, a.a.O. Keller, Evelyn Fox: Das Jahrhundert des Gens, a.a.O. Vgl. Kay, Lily E.: Das Buch des Lebens, a.a.O., S.424. Vgl. ebd., S.152. Gamow, George: zit. n.: Kay, Lily E.: Das Buch des Lebens, a.a.O., S.182. Vgl. dazu Kay, Lily E.: Das Buch des Lebens, a.a.O., Kap.4. Jacob, François/Monod, Jacques: »Genetic Regulatory Mechanisms in the Synthesis of Proteins«, zit. n.: Keller, Evelyn Fox: Das Jahrhundert des Gens, a.a.O., S.107. Und dies, obwohl die Frage nach der biologische Bedeutung letztlich stets das Motiv der Forschung war: »Whatever escape we may try, genetic information cannot be dissociated from biological meaning.« (Rheinberger, Hans-Jörg, in: Beurton, P./Falk, R./ ders. (Hg.): The Concept of the Gene, a.a.O., S.234.) Wittgenstein, Ludwig: »Das Blaue Buch«, in: Werkausgabe in 8 Bänden, Bd. 5, a.a.O., S.20. Lewontin, Richard: »The Dream of the Human Genom«, zit. n. Keller, Evelyn Fox: Das Leben neu Denken, a.a.O., S.41f. Hervorhebungen von uns, BG und WK. Blau, Helen M./Baltimore, David: »Differentiation Requires Continuous Regulation«, zit. n.: ebd., S.46. Keller, Evelyn Fox: Das Jahrhundert des Gens, a.a.O., S.76. Keller, Evelyn Fox: Das Leben neu Denken, a.a.O., S.43. Keller, Evelyn Fox: Das Jahrhundert des Gens, a.a.O., S.132. Rheinberger, Hans-Jörg: »Nachwort«, in: Jacob, François, Die Logik des Lebendigen. Eine Geschichte der Vererbung, Frankfurt/M. 2002, S.354-354, S.353. Vgl. zu Wittgensteins Verfahren: Griesecke, Birgit »Zwischenglieder (er-)finden. Wittgenstein mit Geertz und Goethe«, in: Lütterfelds, W./Salehi, D. (Hg.), »Wir können uns nicht in sie finden«. Probleme interkultureller Verständigung und Kooperation, Frankfurt/M. 2001, S.123-146. Zum Begriff des Erschließens und zur Möglichkeit von Kreativität im Regelfolgen vgl. Kogge, Werner: »Das Gesicht der Regel. Subtilität und Kreativität im Regelfolgen nach Wittgenstein«, in: Wittgenstein-Jahrbuch 2001/2002, Frankfurt/M. 2003, S.59-85.
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Michael Wimmer
Wahnhaftes Wissen und gewusster Wahn im pädagogischen Diskurs
Wissen statt Wahn »Manche Lehre der Pädagogiker ist gute, manche ist schlechte Dichtung oder Philosophie. [...] Die Leistungen der großen Pädagogiker sind Kunstleistungen, Intuitionsschöpfungen.«1 So urteilte 1925 Siegfried Bernfeld über die Pädagogik seiner Zeit. Pädagogische Lehren, vor allem die Schriften der Klassiker, wären kein Vernunftergebnis, sondern Imaginationen von Genies, (S.34) Pädagogik insgesamt ein idealistisches Luftgebäude, (S.45) ein Hirngespinst, Aberglaube, nichts als Wunsch- und Wahnphantasien. »Unbewusste, erkenntnisfremde, unkontrollierbare Einmischung der Affekte findet im Zentrum des pädagogischen Systems statt. Kein sichereres Kriterium gegen die Wissenschaftlichkeit eines Gebildes wäre aufzeigbar.« (S.34) Gemeint ist die Verkennung der eigenen Kindheit als eines Apriori jeder Pädagogik und die daraus resultierende Ambivalenz gegenüber Kindern, gemeint ist aber auch die Verwechslung subjektiver Vorstellungen mit dem Kind selbst und damit zusammenhängend die fehlende Skepsis gegenüber pädagogischen Urteilen, (S.39) und ebenfalls die illusorischen Versprechungen und sisyphischen Überhebungen, die Menschheit erlösen zu wollen. (S.11) Wahnhaft erscheinen die großen Ambitionen angesichts der bescheidenen Mittel, völlig utopisch die Ziele, realitätsblind die Versprechungen.2 Kein Wunder also, dass die nichtpädagogische Welt zwar gegenüber ihren Idealen nachsichtig wäre, ungläubig aber gegenüber 57
Michael Wimmer
ihren Programmen und Mitteln. (S.8) Was der Pädagogik gänzlich fehle, wäre eine empirische Basis und ein Tatsachenbezug. So glichen die großen Pädagogen von Rousseau über Herbart bis Jean Paul, die alle keine Kinder kennen würden, »wunderlichen Astronomen, die nachts fest schlafen und sich morgens von Sternen erzählen lassen, um nach Tische über sie zu denken und zu schreiben.« (S.31) Kurz: »die gesamte Pädagogik [ist] in keinem Sinn und in keinem Maß wissenschaftlich« (S.30), so dass sie ihre Funktion, die Rationalisierung der Erziehung, nicht nur nicht erfüllen könne, sondern sie sogar gefährde. (S.15) Als Therapeutikum gegen ihre Wunsch- und Wahngebilde empfiehlt Bernfeld die Verwissenschaftlichung der Pädagogik, insbesondere aber die Reflexion ihrer Möglichkeiten und Grenzen und der gesellschaftlichen Funktion von Erziehung wie auch von Pädagogik selbst. Heute, nach der realistischen, der gesellschaftstheoretischen und der wissenschaftstheoretischen Wende »Von der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft«3 sind viele der Forderungen Bernfelds erfüllt: Erziehung wird als gesellschaftliche Funktion anerkannt, die Sozialisationstheorie hat die individualpädagogischen Konzepte über ihre Blindheiten aufgeklärt, das Unbewusste des Pädagogen ist kein Geheimnis mehr, den idealistisch-utopischen Träumen sind mittels empirischer Forschung die metaphysischen Geister ausgetrieben und durch zweckrational kalkulierbare Programme und pragmatisch erreichbare Ziele ersetzt worden. Fast könnte man zu dem Schluss kommen, die Pädagogik wäre vom Wahn geheilt, die Verwissenschaftlichung hätte alle Geister – gute wie böse – erfolgreich exorziert und ein aufgeklärtes Tatsachenbewusstsein wäre an die Stelle der anfänglichen Träumereien und visionären Vorstellungen getreten. Nicht mehr »Die Erziehung des Menschengeschlechts«4, sondern die Qualifizierung des Humankapitals für die Wissensgesellschaft ist Ziel und Aufgabe, nicht humanistische Bildung, sondern das Lernen lernen und Empowerment. Doch bei genauer Betrachtung findet man nur wenig handfeste Tatsachen, eindeutige Fakten oder wissenschaftlich gesichertes Wissen, dafür aber um so mehr theoretische Konstruktionen, praktische Vermutungen, übernommene Wert- und Moralvorstellungen, implizite Menschenbilder und mehr oder weniger illusorische Programme auf der einen und fiktive politische Prognosen auf der anderen Seite. Zudem haben sich seit Bernfelds Kritik das Wissenschaftsverständnis und der Tatsachenbegriff, der Begriff der Gegenständlichkeit des Gegenstandes selbst gewandelt und 58
Wahnhaftes Wissen
damit das, was Empirie oder Erziehungswirklichkeit heißen kann. Das bedeutet, dass es sich bei allen pädagogisch relevanten Sachverhalten eben nicht um natürliche, der Beobachtung direkt gegebene Fakten handelt, sondern um historisch-gesellschaftlich bedingte Konstellationen und vor allem um ihre Interpretationen, so dass ein unmittelbarer Bezug auf eine unabhängig von ihrer Interpretation gegebene Erziehungswirklichkeit nicht möglich ist. Die »Sache« der Pädagogik, der »Gegenstand« der Erziehungswissenschaft, das »Faktum« der Erziehung: Wie immer man den Wirklichkeitsbezug des pädagogischen Diskurses auch fasst, es sind Metaphern, die das Vorgegebensein eines von seiner Beschreibung und Interpretation unabhängigen Objekts suggerieren, das sich jedoch nur identifizieren lässt, wenn man schon vorher einen Begriff von ihm hat oder, weniger apriorisch formuliert, wenn man an seinem kulturell-historisch jeweils spezifischen Verständnis partizipiert. Schon Schleiermacher eröffnete seine Vorlesung »Grundzüge der Erziehungskunst« von 1826 mit dem Satz: »Was man im allgemeinen unter Erziehung versteht, ist als bekannt vorauszusetzten.«5 Nun ist heute das allgemeine und alltägliche Erziehungsverständnis zwar gewiss ein anderes als vor 200 Jahren, aber ebenso gewiss ist es nicht frei von Illusionen und Fiktionen, trotz der Verwissenschaftlichung der Pädagogik und der Rationalisierung des Bildungswesens. Und was die Erziehungswissenschaft angeht, so fällt eine allgemeine Diagnose aufgrund ihrer inneren Ausdifferenzierung und der Pluralität wissenschaftstheoretischer Positionen zwar schwer, doch dass sie sich von allen wahnhaften Elementen befreit hätte, kann keineswegs behauptet werden, auch wenn deren genaue Bestimmung je nach der eingenommenen Perspektive erheblich variiert. Da jeder aus seiner Position dem Vertreter einer anderen Position in gewissen Auffassungen Wahnhaftigkeit vorwerfen kann, scheint sie ähnlich wie Unbewusstheit die verbreitetste Sache der Welt zu sein. Man geht vielleicht zu weit mit der Formel »je wissenschaftlicher, desto wahnhafter«, doch zumindest für die Pädagogik lässt sich behaupten, dass die Hoffnung sich nicht erfüllt hat, Wahngebilde, wahnhafte Vorstellungen und Ziele durch wissenschaftliches Wissen ganz und gar auflösen und ersetzen zu können. Vielmehr scheint sich im Zuge der Verwissenschaftlichung der Pädagogik, ihrer expandierenden Institutionalisierung und im Kontext der historisch-kulturellen Wandlungsprozesse seit der Nachkriegszeit nicht nur im pädagogischen Diskurs das Verhältnis zwischen Wissen und Wahn selbst gewandelt zu haben. 59
Michael Wimmer
Wahn und Wissen Um das Verhältnis zwischen Wissen und Wahn in der Pädagogik bestimmen zu können, bedarf es also einiger Vorsicht, denn es gibt weder einen einheitlichen pädagogischen Diskurs noch ein unumstrittenes pädagogisches Wissen noch eine klare Definition des Wahnbegriffs. Das pädagogische Wissen bezieht sich zwar auf ein Grundverständnis von Erziehung, das auf Erfahrungen basiert, die jeder Mensch – wenn auch biographisch in sehr unterschiedlichen Ausprägungen – gemacht hat, so dass jeder am Alltagsdiskurs über pädagogische Fragen teilnehmen kann und meistens auch die Antworten zu wissen glaubt, da dieser Diskurs von Metaphern lebt, die mit handlungsanleitenden praktischen Imperativen direkt verbunden sind. Doch erst durch Selbstthematisierung im Zuge der Verwissenschaftlichung von Erziehung verliert dieser Alltagsdiskurs seine unreflektierte normative Selbstverständlichkeit, ohne allerdings den Alltagsdiskurs zu ersetzen. Vielmehr differenziert sich der pädagogische Diskurs im Laufe der Moderne immer weiter aus, so dass heute neben dem Alltagsdiskurs und den Diskursen in den verschiedenen Praxisfeldern außerdem der öffentliche bildungspolitische und der disziplinintern inzwischen ebenfalls weit ausdifferenzierte erziehungswissenschaftliche Diskurs voneinander unterschieden werden müssen. Alle existieren gleichzeitig nebeneinander, sind jedoch in heterogenen Kontexten eingebunden, unterschiedlich organisiert und gehorchen verschiedenen Interessen, weshalb das Verhältnis von Wissen und Wahn jeweils unterschiedlich akzentuiert sein wird und je nach Perspektive ganz verschieden beurteilt werden kann. So mögen erziehungswissenschaftliche Konzepte aus der Perspektive des Alltagsbewusstseins als abstrakte Hirngespinste erscheinen, bildungspolitische Vorstellungen aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive als realitätsblind und praktische Projekte als Wunschträume, pädagogisch-disziplinäre Grundlagenreflexionen aus professioneller Handlungsperspektive dagegen als praxisfern und aus bildungspolitischem Blickwinkel als nutzloser Selbstzweck. So können aus jeder Perspektive die jeweils anderen Diskurse des Wahnhaften verdächtigt werden, beansprucht doch jeder Diskurs die Definitionsmacht und operiert mit Realitätsinterpretationen nach jeweils eigenen Kriterien. Was kann aber jenseits dieser perspektivisch gebundenen Behauptungen an die Adresse der jeweils anderen, sie hätten ein wahnhaftes, unrealistisches, wirklichkeitsfernes, weltfremdes Verständnis pädagogischer An60
Wahnhaftes Wissen
gelegenheiten und Aufgaben, über das Verhältnis von Wahn und Wissen im pädagogischen Diskurs gesagt werden? Gibt es neben dieser umgangssprachlich-metaphorischen Verwendung des Wahnbegriffs und dem intuitiven Urteilsvermögen, bestimmte pädagogische Vorstellungen und Praktiken als »verrückt« oder »wahnsinnig« qualifizieren zu können, eine systematisch und kategorial präzisierbare Bestimmung dessen, was im pädagogischen Diskurs als »Wahn« und was als »wahnhaft« zu bezeichnen wäre? Diese Frage ließe sich leicht beantworten, wären die Grenzen zwischen Wahnsinn und Vernunft, Wahn und Wissen klar und eindeutig. Doch was dem intuitiven Urteilsvermögen unmittelbar und ohne Nachdenken gelingt, daran scheitern alle bisherigen wissenschaftlichen Definitionsversuche. Weder die Rechtswissenschaften noch die Psychiatrie oder die Psychologie noch die Philosophie oder die Ethnologie können einen allgemein gültigen Begriff des Wahns definieren, der unabhängig wäre von jeweils geltenden Normalitätsvorstellungen, die selbst keineswegs konstant sind.6 Zwar operieren alle mit Grenzziehungen, die jedoch historisch, kulturell und kontextuell relativ sind. Und auch der Begriff des Wissens entzieht sich dem definitorischen Wissen, was gerade am gegenwärtigen Diskurs über die Wissensgesellschaft deutlich wird. Zwar wird in diesem Diskurs behauptet, dass in den westlichen Industrienationen das Wissen zur zentralen Produktivkraft und Bildung zur primären Ressource geworden sei, doch was Wissen eigentlich ist, das wissen selbst die avanciertesten Vertreter der Wissensgesellschaft nicht. So schreibt z.B. Heimfrid Wolff, einer der maßgeblichen Autoren der Delphi-Studien im Auftrag des BMWF, dass es immer schwerer fällt, »Wissen auf einen Begriff zu bringen, so dass uns nur das Wort noch bleibt, um etwas zu bezeichnen, das gleichzeitig wichtig und unfassbar ist«.7 Wir wissen also nicht, was Wissen ist, und glaubt man Lyotard, so werden wir »niemals wissen, was sich Wissen nennt«.8 Dieses Nicht-Wissen ist radikaler als das Sokratische Nichtwissen, betrifft es doch nicht nur die metaphysischen Voraussetzungen oder Fundamente, sondern den Status jedes Wissens und damit die Grenze selbst zwischen Wissen und Nicht-Wissen wie auch die zwischen Wissen und Fiktion, Einbildung, Illusion, Mythos und Wahn. Die Geschichte dieser Unterscheidungen ist komplex und historisch verschlungen, wie wir spätestens seit Foucault wissen, und auch ihrerseits nicht frei von Mythisierungen wie derjenigen des friedlichen Übergangs vom Mythos zum Logos.9 Dennoch gehört diese Grenzziehung zwischen 61
Michael Wimmer
Wahnsinn und Vernunft zu den Voraussetzungen der Moderne, ihrem Vernunftanspruch sowie dem Selbstverständnis autonomer Subjektivität, wie es von Kant einschneidend artikuliert worden ist. Doch die Geltung dieser Basisunterscheidung scheint brüchig geworden zu sein. Kants kritische Grenzziehung zwischen dem, was begründet und mit Recht Wissen und Erkenntnis genannt werden kann, und den Visionen, Phantasmagorien und Geistersehereien sowie den Träumen der Metaphysik, an die man nur glauben könne, ist zwar prinzipiell immer noch in Kraft, aber keineswegs mehr unproblematisch. So behauptet heute z.B. Derrida, und zwar auch begründet, dass wir lernen müssten, mit den Gespenstern zu leben und dass »ein gewisser ›Wahnsinn‹ über dem Denken wachen müsse«.10 Glaubte Kant, seiner Geliebten, der Metaphysik, dadurch die Treue halten zu können, dass er ihr als »Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft« die wichtigste Funktion zubilligte, so könnte man heute sagen, dass dieser Rettungsversuch seiner Geliebten problematisch geworden ist, weil die kategorialen Unterscheidungen und klaren Grenzlinien unsicher geworden sind, auf deren Triftigkeit Kant noch vertrauen konnte. So war er sich eines gewiss, wie er in seiner frühen Schrift zu Swedenborg schrieb: Wenn sich dem Leser zwar »keine neue Einsicht darbot, so vertilgte ich doch den Wahn und das eitle Wissen, welches den Verstand aufbläht und in seinem eigenen Raume den Platz ausfüllt, den die Lehren der Weisheit und der nützlichen Unterweisung einnehmen könnten«. 11 Dieses Programm, den durch Austreibung des Aberglaubens leer gewordenen Denkraum mit nützlichem Wissen auszufüllen, hat sich nicht zuletzt mit Hilfe des staatlichen Schulsystems in gewisser Weise realisiert. Es läuft noch immer und wird zurzeit forciert, wenngleich man zweifeln darf, dass die Lehren der Weisheit gleichermaßen Platz in den aufgeklärten Köpfen gefunden haben. Aber seit einiger Zeit ist das Vertrauen in die Grenzziehungen zwischen Wissen und Wahn geschwunden, das Vertrauen, das der kritisch-theoretischen Instanz als entscheidender Instanz entgegengebracht wurde, der letzten Möglichkeit des Entscheidbaren. Seither steht der Verdacht im Raum, dass der Traum vom reinen Wissen nur ein Traum war, dass die kritische Vernunft weniger den Wächter über die Grenze verkörperte und ihr allein der Wahn als Wahn erscheinen konnte, sondern dass auch sie einem Wahn unterstellt sein könnte, in dem der reine Blick auf den Wahn nur als Wahn zu bezeichnen wäre. So kann sich keine Rede und kein Wissen sicher sein, sich strikt jenseits des Wahnsinns im reinen Reich der Vernunft zu befinden. 62
Wahnhaftes Wissen
Wahn und Wissen, so scheint es, unterhalten andere Beziehungen als diejenigen eines Grenzverkehrs zwischen verschiedenen Territorien, deren Wächter vielleicht schon immer korrupt waren. Und doch kann man nicht sagen, die Grenzen seien heute einfach offen oder nicht mehr in Kraft. Man weiß in der Regel, wann man mit einem wahnsinnigen Diskurs konfrontiert ist, auch wenn man nicht weiß, was das Element des Wahnsinns eigentlich ausmacht und wie man ihn fassen kann. Denn so wenig es ein reines Wissen gibt, so wenig auch einen reinen Wahn. Vielleicht ist der einzige reine Wahn derjenige von einem Wissen, das von allem Wahn rein ist. Das vermutete bereits Freud, dessen Aussage am Ende seiner Analyse vom Schreberschen Wahn, dass es der Zukunft überlassen bleibe »zu entscheiden, ob in der Theorie mehr Wahn enthalten ist, als ich möchte, oder in dem Wahn mehr Wahrheit, als andere heute glaublich finden«,12 genau diese Unsicherheit zum Ausdruck bringt. Neuere wissenschaftshistorische Forschungen haben diese Problematik auch für die Frühzeit der Naturwissenschaften betont,13 und was die Philosophie betrifft, so ist auch hier die Unschärfe der Grenze bei den Autoren auffällig, die dem Diskurs des Anderen in seiner Bedeutung für den philosophischen Diskurs gerecht zu werden versuchen und damit die Differenz zwischen einem Diskurs über den Anderen und dem Diskurs des Anderen zugleich anerkennen und unterlaufen. Und doch sind dies nicht Diskurse von Wahnsinnigen, sondern solche, die sich in unterschiedlichem Maße klar darüber sind, dass sie sich nicht nur sich selbst verdanken, dass das Denken nicht mit sich selbst anfängt, dass es aus der »Nacht der Welt« (Hegel) sich emporarbeiten und Momente radikalen Wahnsinns durchlaufen muss.14 Wie lässt sich aber dann der Unterschied zwischen Wissen und Wahn bestimmen, wenn nicht im Sinne eindeutiger Kriterien wie Realitätsbezug, Wahrheitsgehalt, Verständlichkeit und allgemeiner Zustimmung oder nach Maßgabe einer Qualifizierung des jeweiligen Sprechers als krank? Denn wenn ein Wahn denjenigen täuscht, der ihn hat oder erzählt, indem er ihm Glauben schenkt, dann ist der Wahn eine Rede, an die der, der sie hört, nicht glaubt. Nur der, der nicht daran glaubt, kann urteilen, dass der Erzähler daran glaubt, indem dieser ihn für wahr nimmt, so dass nur für den Hörer der Wahn als Wahn existiert. Für den Erzähler ist der angebliche Wahn keiner. Wer würde behaupten, dass er einem Wahn zustimmt? So gibt es Wahn nur für denjenigen, der ihn denunziert, und nicht für den, der ihn ausspricht oder hat. 63
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Aber ist diese pragmatisch-performative Unterscheidung nach Sprecherund Hörerposition wirklich eindeutig und klar? Gibt es nicht auch einen gewussten Wahn, so wie das Wissen von der Welt um seine eigene Konstruktivität wissen, also ein Wissen um seine Weltlosigkeit enthalten kann, um seine – vielleicht unvermeidliche – Wahnhaftigkeit? Diese Fragen lassen sich nicht vorab beantworten. Sie müssen überhaupt erst noch in eine Form gebracht werden, die eine produktive Problembearbeitung erlaubt. Bis dahin kann es nur um Versuche gehen, sich dem Problem zu nähern und z.B. zu verstehen, wodurch es entstanden ist und wie es sich für den pädagogischen Diskurs auswirkt. So kann man für die Grenzerosion zwischen Wissen und Wahn einige Prozesse verantwortlich machen, die auch eine Neueinschätzung der Statusqualität der Grenze selbst ermöglichen. Dazu gehören sicher die epistemologischen Konsequenzen des linguistic turn, die Krise der Repräsentationslogik, die Entsicherung des ontologischen Wahrheitsbegriffs und die Entdeckung des Anderen als eines der Zentralthemen der Philosophie des 20. Jahrhunderts sowie die von der Ethnologie ausgehende Relativierung des Wirklichkeitsbegriffs und die zunehmende Virtualisierung und Kontingenzsteigerung im Zuge der medien- und informationstechnischen Transformationsprozesse. Dass damit eine Zersetzung des Wissens einhergeht, die seine Grundlagen in Form von Substanz-, Relations- und Modalkategorien betrifft, hat sich in der Grundlagendiskussion der Wissenschaften seit Anfang des 20. Jahrhunderts immer deutlicher zur Geltung gebracht, gerade auch in den immer tiefer ansetzenden Fundierungsbemühungen, bis schließlich die Versuche aufgegeben wurden, doch noch einen Ort anzugeben, an dem die Ordnung der Zeichen mit der Ordnung der Dinge koinzidiert. Seither gilt das Dispositiv »unbestimmter Bestimmtheit« als Signatur der Moderne.15 Welche Konsequenzen diese externen und internen Erschütterungen für den pädagogischen Diskurs haben, ist noch keineswegs erforscht.16 Die noch in den Anfängen steckenden Untersuchungen über das pädagogische Wissen17 und die Ungewissheitsproblematik18 oder die Bedeutung der gesellschaftlichen Transformationsprozesse für Identitätsfindungsund Bildungsprozesse sowie für die Bildungstheorie19 und die Pädagogik20 oder die Generationsverhältnisse21 sowie interkulturelle Forschungen und bildungsethnologische Studien22 zeugen jedoch von gravierenden Irritationen des pädagogischen wie erziehungswissenschaftlichen
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Selbstverständnisses und zugleich von den Bemühungen um eine theoretische Neuorientierung.23 Was jedoch zunehmend anerkannt wird, ist die Einschätzung, dass die erodierenden Gewissheiten und Grenzen keineswegs real fundiert sondern selbst fiktiv waren, auch wenn diese Fiktionen als gelebte Verhältnisse wie diejenigen eines Eifersüchtigen reale Wirkungen hatten und noch haben. Was dabei ist zu verschwinden, ist daher nicht ein ontologisches Fundament, sondern der Glaube, es gebe einen festen Grund und letzte Sicherheiten, der Glaube an eine prädiskursive Wirklichkeit, die selbst bei einem Verlust aller Gewissheiten einen Fall ins Bodenlose absoluter Welt- und Selbstlosigkeit verhindern könnte, so als ob wir von ihr auch nur das Geringste wissen könnten. Vielmehr erscheint heute umgekehrt die Voraussetzung, man könne den Referenten »als solchen« erfahren, also die »res extensa« getrennt von ihrer Integration in die symbolische Welt, als ein spezifischer Wahn des cartesischen Rationalismus, der als Bemächtigungswahn das neuzeitliche Subjekt bestimmt, gestattet er diesem doch den Durchgriff auf die Sachen nach eigenen rationalen Maßstäben, ohne sich noch um die Eigenlogik der Welt kümmern zu müssen. Die Frage allerdings nach dem Verhältnis zwischen Wahn und Wissen, die mit diesem Glaubensverlust neu aufgerufen ist, bleibt im pädagogischen Diskurs bisher ungehört. Einige Dimensionen dieser Frage sollen im Folgenden grob skizziert werden bei dem Versuch, dem Unterschied zwischen einer bloß deskriptiv-umgangssprachlichen und einer analytisch-systematischen Rede vom Wahn nachzuspüren.24 Dass dieser Unterschied weniger in der Differenz zwischen einer metaphorischen und einer kategorialen Verwendungsweise des Wahnbegriffs liegt, die die Sache auf den Begriff bringt, mag aus dem bisher Gesagten vielleicht schon deutlich geworden sein, denn der Wahn entzieht sich der plumpen Zudringlichkeit eines ihn identifizierenden Begriffs und markiert vielmehr seinerseits den Wahncharakter solch zupackender Feststellungsversuche, die ihn in Sicherheitsverwahrung nehmen wollen. Ein nichtmetaphorischer Gebrauch des Wahnbegriffs wird also kaum möglich sein, so dass sich der Wahncharakter eines Diskurses möglicherweise gerade daran erkennen ließe, welches Verhältnis er zur Metapher und damit zur Sprache einnimmt;25 ob der Diskurs die Metapher wörtlich und also für die Wirklichkeit nimmt oder ob er sie als Metapher weiß, ob er sie kontrollieren und ihre Bedeutungsvielfalt begrenzen will oder sich von ihrem Spiel treiben lässt, ob er sie auf der Suche nach dem Ei65
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gentlichen überwinden will oder sich in und mit ihr bewegt, wissend, dass sie nicht die Sache selbst ist, aber auch wissend, dass wir ohne die Sprache in ihrer grundlegend metaphorischen Funktion noch nicht einmal um die Sache wissen könnten, so dass die Sache ohne die Sprache für unser Bewusstsein gar nicht existierte und folglich »als solche« für uns unmöglich ist.
Wissen als Wahn Die Frage nach dem Wahn in der Pädagogik hat neben einer inhaltlichen auch eine erkenntnistheoretische Dimension, die den Status ihrer Aussagen betrifft. Diesem Unterschied soll zunächst dadurch Rechnung getragen werden, dass in Bezug auf den Inhalt von Aussagen von »Wahn« (im Sinne eines für wirklich gehaltenen Gebildes, einer Phantasie oder einer Einbildung) und hinsichtlich des erkenntnislogischen Status von »wahnhaft« gesprochen wird. So kann man rückblickend ohne große Gefahr vielleicht die Hypothese wagen, dass in der Geschichte der Pädagogik sicher einige Wahngebilde hervorgebracht wurden, die sich ziemlich klar identifizieren lassen, und zwar auch dann, wenn der Begriff des Wahns selbst keineswegs eindeutig definiert werden könnte. Für die jüngere Vergangenheit wäre z.B. an die vom Rassenwahn bestimmte Erziehungsideologie der Nationalsozialisten zu erinnern, wie sie sich z.B. in Heinrich Himmlers Projekt »Lebensborn« manifestiert und in mehreren Geburtshäusern und Kinderheimen realisiert hat. Für das 18. und das 19. Jahrhundert könnten zum einen die Erziehungstheorien genannt werden, die, wie im Pietismus, in der bösen Natur des Kindes ein Einfallstor für den Teufel sahen, was durch entsprechende Erziehungsmaßnahmen verhindert werden musste,26 oder diejenigen pädagogischen Konzepte, die, wie in der Romantik, um die vermeintliche Unschuld des Puer Sanctus bemüht waren und eine von den gefährlichen Einflüssen der Umwelt reine pädagogische Provinz propagierten wie z.B. den Kindergarten, der für seinen Erfinder Friedrich Fröbel die Bedeutung eines »zurückgegebenen Paradieses« hatte.27 Hier jedoch eine klare Grenze zwischen Wahn, religiösem Glaube, Utopie und Weltanschauung zu ziehen, ist – wie auch in vielen anderen Fällen – sicher nicht ganz einfach, zumal Kindergärten zu festen Bestandteilen unseres Erziehungswesen geworden sind und der Name sogar in die englische Sprache aufgenommen wurde. Doch trotz der Sä66
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kularisierung der auf das Paradies verweisenden Gartenmetapher hat sich die Vorstellung erhalten, dass es sich um einen Schutzraum für an sich unschuldige Geschöpfe handelt. Ähnliches ließe sich auch für die Waldorf-Schulen sagen, deren Konzept sich ohne die Anthroposophie als Steiners Glaubenslehre kaum verstehen lässt, oder für die die Natur vergöttlichende Montessori-Pädagogik, deren Idee einer »naturgemäßen Erziehung« von der normativen Fiktion eines inneren Bauplans abhängt und in deren Erziehungskonzept Experimentalwissenschaft und Mystizismus genauso kurzgeschlossen werden wie Rassenhygiene und ein am Modell des Ameisenstaates orientiertes Bild einer »natürlichen« Gesellschaft.28 Trotz der Problematik einer eindeutigen Grenzbestimmung zwischen pädagogischen Konzepten und Phantasien auf der einen Seite und den diese fundierenden religösweltanschaulichen Ideologien oder Glaubensvorstellungen auf der anderen, lassen sich m.E. aber dennoch bestimmte pädagogische Ansätze und Programmatiken als Wahngebilde beurteilen. Ungleich schwieriger ist es aber, den wahnhaften Charakter des pädagogischen Diskurses oder auch bloß einiger seiner Teile zu erfassen, d.h. den Status seiner Aussagen im Verhältnis zu seinen Aufgaben, Möglichkeiten, den Adressaten und im Selbstverständnis seiner Protagonisten. Diese Schwierigkeit hängt zum einen mit der Spezifik dessen zusammen, was man den Gegenstand und die Aufgabe der Pädagogik nennt, die wiederum im Kontext einer historisch spezifischen Gesellschaft und Kultur und ihrem Selbstverständnis gesehen werden müssen. Zum anderen ist eine Bestimmung des Wahnhaften problematisch, weil sie abhängig ist vom Wirklichkeitsbegriff einer Kultur oder Epoche und damit von den in diesen herrschenden ontologischen und epistemologischen Prämissen ihres Welt- und Selbstverständnisses.29 Was die Spezifik und Problematik der Gegenstandsbestimmung der Pädagogik angeht, so besteht diese darin, dass es sich um kulturelle Praktiken und intersubjektive Verhältnisse handelt, in denen neben Gewohnheiten und tradierten Überzeugungen und Werten vor allem Ideen, Phantasien, Fiktionen und Projektionen eine zentrale Rolle spielen, ohne die auch die in Frage stehenden Praktiken und Verhältnisse weder beobachtet noch als pädagogische qualifiziert werden können. Ob eine Interaktion oder Maßnahme z.B. als Erziehung bezeichnet werden kann, entscheidet sich aufgrund eines Vorverständnisses und entsprechender Kriterien, nicht am beobachtbaren Verhalten als solchem. Schon der Sprachgebrauch von »erziehen« macht deutlich, dass dieses Verb, z.B. 67
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im Unterschied zu »bügeln«, keine von sich aus oder phänomenal bestimmbare Tätigkeit bezeichnet, sondern zusätzlicher Erläuterungen und Kriterien bedarf. Das Verb »erziehen« bezeichnet also keine durch Beobachtung identifizierbare Handlung, sondern ihren Handlungssinn, so dass alle möglichen Tätigkeiten oder Äußerungen Erziehungshandlungen werden können, auch die Unterlassung von Handlungen und Eingriffen. »Erziehen« ist daher ein unsichtbares Geschehen, das sich für den Akteur meistens nur in Form von oft unausgesprochenen Intentionen bestimmen lässt und für den Adressaten Aufforderungs- und Anspruchscharakter hat.30 Als Handlungssinn und intentionale Handlungsrichtung kann sich »erziehen« jeder Aktion, Kommunikation und Interaktion aufpfropfen und sie so zu einer pädagogisch belangvollen erst machen. Als eine solche ist sie zudem auf eine nicht vorhersehbare, sondern nur als Vorstellung antizipierbare Zukunft bezogen. Sowohl die auf die Zukunft gerichteten zielorientierten Utopien, Programme, Bildungsvorstellungen und Lehrpläne als auch die sich in Alteritätsverhältnissen vollziehende pädagogische Praxis können sich daher nicht in einem definitiv absicherbaren Wissen fundieren. Aufgrund der irreduziblen Ungewissheit der Zukunft und der unaufhebbaren Alterität der Adressaten bleibt der pädagogische Diskurs trotz seines Rationalitätsanspruchs in der Moderne notwendig mit Vermutungen, Antizipationen, Einbildungen und Wähnungen verbunden. So gesehen kann der pädagogische Diskurs eine gewisse Wahnhaftigkeit vielleicht gar nicht vermeiden, vor der auch ihre Verwissenschaftlichung keinen vollkommenen Schutz gewähren kann. So geht man vielleicht nicht zu weit mit der Vermutung, dass die wissenschaftlichen Fundierungsversuche selbst in dem Maße wahnhaft werden, wie sie vorgeben, diesen »Makel« beseitigt und überwunden zu haben. Obwohl es für Fragen der Erziehung und Bildung auch in vormodernen Zeiten keineswegs ein gesichertes praktisches Wissen für alle Fälle gab, galten im vorneuzeitlichen Welt- und Selbstverständnis der tradierte sittliche Zusammenhang als unhinterfragbare Realität und die gesellschaftliche Ordnung als natürlich und gottgegeben, so dass die Bestimmung der Menschen durch gesellschaftlichen Stand, soziale und genealogische Ordnungen sowie religiöse Glaubensvorstellungen weitgehend fest stand. Wie und wozu die nachwachsende Generation erzogen werden sollte, war gemäß dieser geburtsständischen Rahmenbedingungen für jeden einzelnen vorgegeben. Nicht seine Individualität, sondern seine 68
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qua Geburt mitgegebene Standeszugehörigkeit sowie die ihr entsprechenden sittlich-moralischen Normen und Werte waren für die Erziehung und eventuelle Bildungsanstrengungen maßgeblich. Kurz, Erziehung hatte den Nachwuchs in die Vorgegebenheiten einzuführen, und ihre Qualität wurde danach beurteilt, wie gut ihr dies gelang.31 An dieser Aufgabe der Erziehung, als Bestandteil einer politisch-gesellschaftlichen Gesamtpraxis für deren Fortbestand zu sorgen und die Menschen zu einer standesgemäßen und gottgefälligen Lebensführung anzuhalten, durfte es keine Zweifel geben. Gegen diese gleichermaßen substantialistische und teleologische Auffassung Einspruch anzumelden und der Erziehung eine die bestehenden Verhältnisse verändernde Aufgabe zuzuschreiben, konnte aus dieser Perspektive nur als unverständliche Verrücktheit oder als Ketzerei beurteilt werden.32 Der Anteil der Ungewissheiten und Kontingenzen wuchs allerdings erheblich, als zu Beginn der Neuzeit im Kontext von Renaissance, Reformation und der Entdeckung der Neuen Welt die mittelalterlichen Ordnungen in Frage gestellt wurden und die Rahmenbedingungen sich entsprechend veränderten. Das in einem hier nicht einmal in Grundlinien skizzierbaren komplexen Geflecht von sozial-, kultur- und geistesgeschichtlichen Transformationsprozessen sich herausbildende Selbstverständnis moderner individualisierter Gesellschaften wird nun seit der Aufklärung getragen von Autonomie- und Freiheitsvorstellungen, die allen kosmo-teleo-theologisch-substantialistischen Bestimmungen des Menschseins widerstreiten. Diese Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit ist für die Erziehungstheorie spätestens seit Rousseaus »Emile«33 und für die Bildungstheorie seit Humboldt34 konstitutiv. Nun ging es nicht mehr darum, die Kinder, deren Eigenwesen bisher kaum interessierte, an eine den Erwachsenenvorstellungen entsprechende äußere Welt anzupassen, sondern Erziehung zielte nun auf das unbekannte Innere des Kindes. Wie dennoch Erziehung und Bildung wissenschaftlich begründet werden können, ist die spezifisch moderne Grundproblematik und Ausgangsfrage der sich als Wissenschaft etablierenden Pädagogik. So wenig wie diese sich dabei noch auf ein gesichertes Wissen um die Natur und Bestimmung des Menschen stützen konnte, so wenig konnte sich die pädagogische Praxis auf die Geltung der gelebten Sitte mit ihren traditionellen Werten, Gewohnheiten und Erfahrungen stützen, ging es doch nicht mehr darum, eine gottgegebene Ordnung bloß zu reproduzieren, indem die einzelnen ihr eingepasst wurden, sondern die Individuen dazu zu befähigen, an ih69
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rer Bestimmung selbst zu arbeiten und sich derart gebildet an der politischen Auseinandersetzung über die Zukunft der Gesellschaft öffentlich zu beteiligen. Gerade die Nichtübereinstimmung mit den Vorgegebenheiten und die Ausbildung der noch unbekannten individuellen Fähigkeiten und Kräfte galten als entscheidende Motoren für die Realisierung von Vernunft und Freiheit in der Gesellschaft. Um dies zu ermöglichen, musste zum einen die Autonomisierung der Individuen als oberstes Ziel anerkannt werden, das zum anderen nur erreicht werden konnte, wenn die pädagogische Praxis sich von den gesellschaftlichen und traditionellen Vorgaben emanzipierte, was man sich seit Kant von ihrer Verwissenschaftlichung erhoffte. Der damit entstandene Bruch zwischen lebensweltlich präformierter Erziehungspraxis und kritisch gegen sie gerichteten pädagogischen Aspirationen ist seither konstitutiv für die Pädagogik, aber auch eines der Grundprobleme für ihren Wirkungs- wie auch ihren Legitimationsanspruch. Pädagogik als praktische Wissenschaft, als Wissenschaft von der Praxis für die Praxis, wie das Motto ihres geisteswissenschaftlichen Selbstverständnisses bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts lautete, zielte auf eine theoretisch-wissenschaftlich angeleitete Erziehungs- und Bildungspraxis, in der pädagogisches Handeln, erziehungswissenschaftliche Theorie und die Institutionen des Erziehungs- und Bildungswesens rational begründet und zugleich an der individuellen Bildsamkeit des einzelnen ausgerichtet wären. Ein solches Rationalitätskontinuum zwischen Theorie und Praxis, Wissen und Handeln muss jedoch sowohl die Unbestimmtheit und Alterität als auch die Differenz zwischen Wissen und Handeln negieren und die Kluft zwischen wissenschaftlichem Wissen mit Allgemeinheitscharakter und Notwendigkeitsanspruch auf der einen und praktischem Handeln in singulären Situationen unter Kontingenzbedingungen auf der anderen Seite überbrücken. In der schon erwähnten geisteswissenschaftlichen Pädagogik übernahm diese Funktion z.B. die von Dilthey übernommene Behauptung von der Teleologie des Seelenlebens, die bei jedem Zögling hermeneutisch erschließbar wäre, so dass die Zukunft des einzelnen als seine Potentialität sich dem verständigen Pädagogen offenbaren könne, auf dass dieser durch »Einfühlung«35 dann wisse, wie ihr zur Aktualität zu verhelfen wäre. Ohne es hier detailliert ausführen zu können,36 wäre als weiteres Überbrückungselement die Behauptung zu nennen, qua Hermeneutik einen Zugang zur Erziehungswirklichkeit in ihrem überhistorischen und überkulturellen Sinngehalt zu haben und als ihr Sprecher den allgemei70
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nen Sinn von Bildung formulieren zu können, der für deren institutionelle Ausgestaltung wie auch für die Zielbestimmung der Kultur selbst maßgeblich zu sein hätte. Sicher, solche Behauptungen sind schon seit geraumer Zeit der Kritik verfallen, indem ihre verdeckten Prämissen und unausgewiesenen metaphysischen Setzungen aufgedeckt wurden. Doch interessiert hier weniger ihre Richtigkeit oder Falschheit, sondern ihre Funktion als Überbrückungselemente zwischen möglichem Wissen und irreduziblen NichtWissen-Können, ihre Funktion als Metaphern im ursprünglichen Wortsinn oder als Manifestationen der Einbildungskraft. Den Rationalitätsund Wissenschaftlichkeitskriterien und den Allgemeinheits- und Notwendigkeitsansprüchen des Wissens kann der pädagogische Diskurs nämlich nicht vollständig genügen, ohne seinen Gegenstand zu verkennen oder gar zu verlieren und ohne seine Aufgabe aufzugeben.37 Anders gesagt: für pädagogisches Denken und Handeln ist die Einbildungskraft konstitutiv, denn nur mit ihrer Hilfe kann die Kluft zwischen Wissen und irreduziblem Nicht-Wissen-Können überbrückt werden. Ob pädagogische Theorien und Akte angemessen sind oder nicht, hängt von ihr ab und vor allem davon, ob die Bedeutung der Einbildungskraft erkannt und anerkannt wird und wie ihr Rechnung getragen wird. Eine Vorstellung z.B., ein Bild, das sich der Pädagoge von einem Kind gemacht hat, als ein dieses identifizierendes Wissen zu nehmen, das zudem bestimmte Konsequenzen zwangsläufig nach sich zieht, kann als wahnhaftes Wissen bezeichnet werden, insofern der Adressat sich bloß zufällig an dem Ort befindet, an dem der Pädagoge seine theorie- bzw. wissensbasierte Halluzination wahrnimmt. Das Bild mit dem Kind, das Imaginäre mit dem Realen zu identifizieren und über letzteres gemäß der Kraftlinien des ersteren zu verfügen – dies ist einerseits alltäglich, fast schon normal zu nennen, andererseits aber eine Realitätsverkennung bzw. ein wahnhafter Wirklichkeitsbezug, der zu einem manifesten paranoischen Wahn werden kann, wenn der Andere den Vorstellungen sich nicht fügt. Dass dieser Mechanismus ebenso in umgekehrter Richtung, z.B. von der Schülerseite aus, wirksam sein kann, belegen Aggressionen und Angriffe auf Lehrer, wie sie in jüngster Zeit Aufsehen erregt haben.
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Wahnhaftes Wissen Als ein Diskurs also, der das intergenerationelle Verhältnis zum Gegenstand hat, kann sich die Pädagogik nicht mehr in einer Erkenntnis der Wahrheit des Menschen und in einem definitorischen Wissen um seine Bestimmung fundieren und absichern, auch wenn dies immer wieder versucht wurde und wird. Und insofern dieser Diskurs mit einer gesellschaftlichen Praxis verbunden ist, die sich weder als Produktion von Gütern38 noch als sozialisatorische Reproduktion von Gesellschaftsstrukturen allein verstehen lässt, weil sie über die bloß wiederholende Kontinuierung hinaus die Möglichkeit renovierender Neuanfänge gewähren muss, ist ihm ein irreduzibler Zukunftsbezug eigen.39 Weder um die wahre Natur des Menschen wissend, noch um seine Ziele und Bestimmung, besteht die Aufgabe zum einen darin, den historisch erreichten Stand der gesellschaftlichen Entwicklung zu wahren, die Welt gegenüber den Neuankömmlingen zu schützen und das System zu sichern, aber zum anderen auch darin, die Veränderung der Gesellschaft zu ermöglichen und der nachwachsenden Generation einen neuen Anfang offen zu halten, ohne dass das kulturelle Erbe die Zukunft beherrschte, die Übernahme des Gegebenen bloß zu dessen Fortbestand verpflichtete, das Eintreten in die vorgegebene Welt deren einfache Erhaltung und Fortschreibung bedeutete. Diese widersprüchliche Aufgabe der Erziehung genannten gesellschaftlichen Praxis, Sein und Werden, Erhaltung und Veränderung, Bewahrung und Erneuerung miteinander zu vermitteln, kann sich weder in einem objektiven Wissen absichern noch in einer daraus ableitbaren Handlungstechnologie realisieren, weil für pädagogische Praxis wie auch für deren Theorie ein Nicht-Wissen konstitutiv ist. Handlungs-, gegenstands- und erkenntnistheoretisch verunmöglicht dieses NichtWissen eine klare Grenzziehung zwischen gesichertem objektiven Wissen mit wissenschaftlichem Geltungsanspruch und subjektiver Meinung bzw. kulturellen, historisch und gesellschaftlich bedingten Deutungen, Wertungen und Vorurteilen.40 Die wissenschaftlich-begriffliche Explikation aller pädagogischer Grundbegriffe – Erziehung, Bildung, Lernen, Entwicklung, Sozialisation etc. –, deren Bestimmung auch von der empirischen Erforschung der so genannten Erziehungswirklichkeit vorausgesetzt werden müssen, hat nicht nur mit allem modernen wissenschaftlichen Wissen die Ungewissheit im Sinne ständiger Kritisierbarkeit und Revidierbarkeit gemeinsam. Über diesen Status hinaus, stets nur als 72
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hypothetisches Wissen gelten zu können, ist dem pädagogischen Wissen eine irreduzible Fiktionalität eigen. Zwar kann man nicht wissen, was die Natur oder die Bestimmung des Menschen ist, welchen zukünftigen Aufgaben die nachwachsende Generation sich wird stellen müssen, und ebenso wenig, welche Ziele, Wünsche und Werte für sie bedeutsam sein werden. Doch um die Aufgaben von Erziehung und Bildung erfüllen und die Verantwortung gegenüber der nachwachsenden Generation übernehmen zu können, d.h. die Pflicht, ihrem Anspruch auf einen Platz in der Welt zu antworten und ihrem Anspruch auf ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit gerecht zu werden, muss man wissen, was zu tun und wie zu handeln ist, und muss man wenigstens ahnen, wer derjenige, den es zu erziehen gilt, ist und was aus ihm werden könnte. Diese Kluft zwischen Nicht-Wissen-Können und Wissen-Müssen ist das Einfallstor für das Imaginäre, für Fiktionen und Bilder, Hoffnungen und Befürchtungen, für das Meinen und das Wähnen, das Vermuten und die Skepsis. Doch ist es deshalb schon legitim, diesen Bildern, Vorstellungen und Vermutungen, die die Kluft zwischen Nicht-Wissen-Können und Wissen-Müssen überbrücken, den Status des Wahnhaften zuzusprechen? Und wenn es Wahnideen sein sollten, wären sie dann nicht unvermeidlich, um handeln zu können? Wären sie nicht vom Vernunftanspruch selbst evoziert, dass auch die Erziehung wie jede andere gesellschaftliche Praxis rational begründet sein soll, also vom Willen zum Wissen um die »richtige« Erziehung selbst produziert, der ein solches Wissen dem Nicht-Wissen abzutrotzen versucht? So gesehen folgt der Wahn im Sinne eines Supplements, das sich an die Stelle eines unmöglichen Wissens setzt, dem Willen zum Wissen wie ein Schatten, wie richtig erzogen wird oder werden soll. Wäre ein solcher Wahn nicht ein ununterscheidbares Double des Wissens? Das würde bedeuten, dass jedes Handeln und jedes Wissen, das einen Bezug zu Anderen und auf die Zukunft hat – und welches Handeln wäre davon schon ausgenommen –, notwendig vom Wahn begleitet und durchdrungen ist. Gibt es dann aber in diesen Bereichen überhaupt klare und eindeutige Grenzen zwischen Wissen und dem, was Einbildung, Fiktion und Wahn genannt wird? Wenn dies nicht der Fall sein sollte, wäre die Annahme, eine solche Grenze existiere, selbst ein Wahn, vor dessen pathologischen, Lehrer wie Schüler Leid zufügenden Wirkungen nur das Wissen um deren Nichtexistenz und das Aushalten der Ungewissheit schützen könnte.
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Dass jedoch gerade die Pädagogik im Unterschied zu andern Geistesund Kulturwissenschaften vom Wahn durchdrungen erscheint, hängt mit den Erwartungen und den spezifischen Aufgaben zusammen, die seit der Aufklärung der Pädagogik zugeschrieben werden und denen sie durch ihre Verwissenschaftlichung gerecht werden wollte. Dabei hat der pädagogische Diskurs in seinen Begründungsanstrengungen allerdings zugleich auch ein Wissen um seine eigene Wahnhaftigkeit erlangt, um die unvermeidliche Fiktionalität und Konstruktivität seines Wissens und um die Irreduzibilität seines Nicht-Wissens. Zu erinnern wäre nicht nur an das sokratische wissende Nicht-Wissen, an das in der Geschichte der Pädagogik immer wieder in selbstkritischer Absicht erinnert wird,41 oder an die Tradition der Skepsis, die bekanntlich gerade für die Konstitution der neuzeitlichen Wissenschaft bedeutsam war,42 auch wenn dieser – wie auch der Pädagogik – zugleich ein Mangel an Skepsis immer wieder attestiert werden kann,43 weil sie doch an das von ihr produzierte Wissen glaubt (nicht im Sinne ewiger Wahrheiten, aber an dessen Referenz). Doch auch, wenn das theorieinduziert Geglaubte (der Lebensplan bei Montessori, das göttliche Kind, der Trieb als Wesen, das Selbst als Substanz, das Subjekt als empirische Gestalt, die Gene als Ursache von Verhalten etc.) als wirkliches Faktum ausgegeben wird, von dem die Theorie nur das Abbild darstellt, wenn der Glauben also Realitätseffekte hat, indem er das Selbstverständnis der Menschen und ihr Handeln formiert, so werden und wurden diese dogmatischen Rückfälle doch immer wieder durch die selbstkritische Funktion des wissenschaftlichen Diskurses als solche erkannt. Das Wissen, zumal wenn es sich als Lehre darstellt und als kanonisches Wissen vermittelt wird, hat einen Hang zum Dogmatischen, zur Doxa als rechtem Wissen und richtiger Lehre. Es gibt nur einem skeptischkritischen Befragen seine bloß geglaubten metaphysischen Prämissen preis, seine immer mit konkreten Vorstellungen assoziierten abstrakten Allgemeinheiten, denen als Ideen empirisch nichts entspricht. Wo verläuft also die Grenze zwischen Wissen und Wahn und mit welchen Kriterien kann man den Unterschied feststellen? Und wessen Kriterien könnten das sein? Nur die des Wissens? Denn welche Seite hätte schon ein Interesse daran, den Unterschied zu machen, wenn nicht die des Wissens, da der Wahn – aus der Perspektive des Wissens – doch u.a. darin besteht, sich als Wissen auszugeben und sich selbst nicht als Wahn zu wissen. Im Unterschied zum Wissen negiert der Wahn nämlich den Unterschied und behauptet sich als Wissen. Diese Gewissheit als eine 74
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falsche zu denunzieren, ist Angelegenheit des Wissens, denn eine dritte Position – z.B. der Glaube –, von der aus Wahn und Wissen kritisch vergleichend beurteilt werden könnten, ist kaum vorstellbar, da beides, Wissen und Wahn, auf einem Glauben basiert. Nicht nur in der Unterscheidung zwischen richtigem und falschem Glauben wiederholte sich dasselbe Problem, sondern auch darin, dass das Wissen um seine Grenzen und sein Glaubensfundament durchaus wissen kann, wohingegen der sich als Wissen gebende Wahn diese Grenzen sowie die Notwendigkeit des Glaubens negiert. Will das Wissen den Wahn definieren, operiert es in seiner eigene Sphäre. Es definiert, und egal, was es definiert, definiert es sich dadurch selbst als definierend, identifizierend, be- und abgrenzend, unterscheidend – zuerst und vor allem sich selbst von dem, was es nicht ist, und das ist nicht das Nicht-Wissen, sondern der Wahn, das verrückte Pseudowissen und die Para-Doxa und Para-Logien. Das Nicht-Wissen in seinen Formen des impliziten Wissens oder des Noch-nicht-Wissens gehört dagegen zum Wissen selbst als sein Element, das sowohl seine Fortschrittsmöglichkeit als auch sein Unschärfe bedingt. Wenn es schon kaum möglich ist – obwohl es immer gemacht wird, und zwar mit z.T. erheblichen Konsequenzen für die Betroffenen – den Wahn eindeutig zu identifizieren, wie kann man dann von »wahnhaftem Wissen« sprechen, einem Wissen, das weder Wahn noch Wissen ist, sondern ein Wissen nach Art des Wahns, ein Wissen, das wie ein Wahn funktioniert oder die Funktion des Wahns, unerschütterliche Gewissheiten zu produzieren, übernimmt, oder ein Wissen, das der Form nach ein Wahn ist, oder ein Wahn, der die Form eines Wissens angenommen hat? Gibt es also doch ein »Dazwischen«, das weder dem Wahn noch dem Wissen eindeutig zugehört, das beides in einem und keins von beidem zugleich ist? Die Grenze selbst als Paradox? Und was wäre dann ein gewusster Wahn, ein Wahn also, der sich als Wahn weiß, der weiß, keine Geltung als Wissen beanspruchen zu können, der also zugleich und eben deshalb auch nicht um sich als Wahn wissen könnte? Und wenn es so etwas absurdes geben sollte, wie unterscheidet sich dann ein gewusster Wahn von einer Phantasie, einer Fiktion, einer Einbildung, die ja vom Bewusstsein begleitet werden, nichts Reales vorzustellen, und die auch nicht den Anspruch erheben, als Wissen zu gelten?
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Gewusster Wahn Solange man sich einig ist, wie man sich in einer bestimmten Situation zu verhalten hat, was zu tun und zu unterlassen ist, welche Handlungen richtig und welche falsch sind, gibt es kein Problem. Allgemein anerkannte Regeln, Normen und Werte formieren das Urteilen und Handeln, ohne dass darüber nachgedacht werden muss. Die Regeln und Normen sind derart selbstverständlich, dass sie bereits in der Situationswahrnehmung mit enthalten sind und sich von der Situation gar nicht unterscheiden. Sie erscheinen als natürlich und mit der Realität selbst verschmolzen, so dass das Verhalten der Realität unmittelbar korrespondiert. Man gehorcht deshalb genau genommen auch nicht einer Regel und orientiert sich auch nicht an Werten, sondern folgt einem Urteil, vor allem individuellen Urteilen und entspricht solchermaßen mit den kollektiven Selbstverständlichkeiten verschmolzen den herrschenden Realitätsanforderungen selbst. Kurz, man verhält sich wie ein normaler Mensch, der mit den anderen darin übereinstimmt, dass die Realität an sich so ist, wie sie allen erscheint, und dass je nach Situation bestimmte Verhaltens- und Handlungsweisen angemessen sind und andere nicht. In den meisten Fällen bedarf es daher im Alltag auch keines Nachdenkens, weil Wahrnehmung, Urteil und Verhalten a priori aneinander gekoppelt sind, wie z.B. beim Grüßen eines Bekannten, dem man unterwegs begegnet. Dieses alltäglich Realitäts- und Normalitätsbewusstsein ist keineswegs starr und eng begrenzt, sondern durchaus flexibel und gegenüber Störungen und unerwarteten Begebenheiten mit einer gewissen Toleranz ausgestattet. Erst wenn die Grundkoordinaten des Selbstverständlichen erschüttert werden durch Erfahrungen oder Ereignisse, die sich nicht mehr in dieses Realitätsbild integrieren lassen, besteht – erstens – die Möglichkeit, das eigene Realitätsverständnis und seine bislang unreflektierten Prämissen in Frage zu stellen,44 Erst dann kann – zweitens – das Bewusstsein in der natürlichen Einstellung45 Abstand gewinnen von der naiven Annahme einer natürlichen und objektiv einfach gegebenen Realität, die zudem die Kategorien ihrer Wahrnehmung mitsamt den praktischen Wertungen und Handlungsorientierungen immer schon mitbringt. Erkennbar wird dann – drittens – nicht nur die Differenz zwischen der Welt und dem Weltverstehen oder Weltbild, sondern auch die Abhängigkeit der Art und Weise des Gegebenseins der Welt von der Sicht auf sie. Und – viertens – zerfällt die vormalige Identität von Gegenstands-
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wahrnehmung und Werturteil ebenso wie die Einheit von Situationsoder Realitätsdefinition und Verhaltensregel bzw. Handlungsnorm.46 Dieser hier bis auf das Gröbste vereinfachte Prozess ist eine konstitutive Voraussetzung dafür, dass etwas scheinbar natürlich Gegebenes zum Problem und Normalität als kulturell und historisch spezifisches Interpretationskonstrukt erkannt werden kann. Das Aushaken des präreflexiven Wahrnehmungsglaubens und das Zerbrechen des praktischen Zirkels zwischen Realitätsverständnis und Handlungsorientierung ermöglicht erst Regelbewusstsein und Handlungsfreiheit, Selbst- und Verantwortungsbewusstsein und öffnet den Blick dafür, dass soziale Praktiken nicht natürlich determiniert sind, sondern intersubjektiv konstituiert. Dieser Prozess einer reflexiven Distanzierung der natürlichen Einstellung, des Heraustretens aus dem Sozialisationsgehäuse mit seinem quasi-natürlichen Glauben an eine gegebene Welt, die natürlicherweise und an sich so ist, wie man sie bisher wahrgenommen hatte, dieser Wandlungsprozess, den in seiner Grundstruktur schon Platon im Höhlengleichnis dargestellt hatte, ist gleichermaßen konstitutiv für individuelle Bildungs- wie auch für gesellschaftlich-kulturelle Transformationsprozesse, in denen sich die Grundkoordinaten in den Welt- und Selbstverhältnissen verschieben. Bewusst, fraglich und problematisch wird dann, was bisher Anathema war, sei es, weil es in seinem bisherigen störungsfreien Funktionieren gar nicht auffiel, sei es, weil es als etwas Gewohntes gar nicht erst ins Bewusstsein trat. Was die neuzeitliche Aufmerksamkeit für Erziehungsfragen angeht, so legen fast alle historische Rekonstruktionen nahe, dass Erziehung erst spät als ein solcher Problembereich menschlicher Existenz und Praxis angesehen wurde, der nicht allein und automatisch durch die Natur des Menschen, göttlichen Willen, die herrschende Sitte oder kulturelle und tradierte Gewohnheiten bestimmt ist, sondern der in Abhängigkeit vom Stand der gesellschaftlichen Verhältnisse immer wieder neu bestimmt und geregelt werden muss. Was Erziehung und Bildung ihrem Wesen nach sind und sein sollen, steht also nicht fest, sondern diese Frage muss immer wieder neu beantwortet werden, was Aufgabe sowohl der Erziehungswissenschaft – insbesondere der Allgemeinen Erziehungswissenschaft47 – als auch des öffentlichen Diskurses sein sollte. Im öffentlichen Diskurs werden jedoch oft die überkommenen Auffassungen gar nicht mehr als Antworten auf eine prinzipiell offene Frage verstanden, sondern als Gewissheiten behandelt. Man weiß schon, was Erziehung, Unterricht, Bildung sind, und will es nur noch besser wissen, 77
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um es besser machen zu können. Wird nun das in den verschiedenen Disziplinen hervorgebrachte Wissen vom Menschen, seiner Entwicklung und seinem Lernen, den verschiedenen Bedingungen des Aufwachsens mit ihren jeweiligen Wirkungen, den institutionellen Interaktions- und Handlungsstrukturen und ihren Effekten etc. – natürlich konkretisiert und spezifiziert entsprechend der besonderen Klientel – als wissenschaftlich begründetes Wissen über die Adressaten und deren Lern- und Entwicklungsbedingungen angesehen, dem gemäß der Pädagoge weitgehend abgesichert und – da wissenschaftlich fundiert – richtig handeln kann, dann wird die Fraglichkeit des eigenen Tuns verdrängt und von einem Wissen verstellt, das an die Stelle der Ungewissheit tritt. Hält es nicht, was es oder was man sich von ihm verspricht, nämlich es so kommen zu lassen, wie man will, dann wird der Grund zumeist den äußeren Umständen, den Adressaten oder dem mangelhaften Wissen angelastet, selten jedoch darin gesehen, dass das Wissen die Fraglichkeit nicht prinzipiell sondern nur tentativ beantworten und die Ungewissheit nur vorübergehend beschwichtigen kann. Das Bewusstsein daran wach zu halten, die herrschenden Ideologien und Mythen in Frage zu stellen oder den dogmatischen Schlummer immer wieder zu unterbrechen, der wahrhaftige und real wirksame Wahnvorstellungen in Form eines wahnhaften Wissens hervorbringt, das sich seiner Sache gewiss zu sein wähnt, dies ist eine Aufgabe des kritischen Wissenschaftsdiskurses. Doch auch in den Wissenschaften findet man in unterschiedlichen Ausprägungen eine ambivalente bis gespaltene Haltung. Einerseits weiß man auf erkenntnis- und wissenschaftstheoretischer Ebene um die Geltungsbedingungen des wissenschaftlichen Wissens und um seinen stets nur falliblen und hypothetischen Charakter. Auf gegenstandstheoretischer Ebene und hinsichtlich der Ergebnisse empirischer Forschungen ist man jedoch in der Regel von der Richtigkeit und objektiven Gültigkeit des generierten und präsentierten Wissens überzeugt. Diese Einklammerung der Ungewissheitsproblematik in dem Moment, wo es um positive Aussagen – um bei der Erziehungswissenschaft zu bleiben – z. B. über fördernde oder behindernde Lernbedingungen, Entwicklungsstörungen, Wirkungen von spezifischen Erziehungsmaßnahmen etc. geht, lässt darauf schließen, dass auch in weiten Teilen des wissenschaftlichen Diskurses der Wunsch nach Gewissheit von großer Bedeutung ist und das jeweilig aktuell gültige Wissen als Faktum behandelt wird. So lange es nicht falsifiziert wird, wird die Sache so genommen, 78
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wie sie gewusst wird. Und wird das Wissen falsifiziert, hat man gerade dadurch bereits einen Ersatz, der die Lücke ausfüllt, die das ungültig gewordene Wissen hinterließ, so dass im Wissenschaftsprozess die Fraglichkeit und der Gewissheitsmangel nur selten als solche, und dann nur als Unfall erfahrbar werden, weil immer schon ein neues, besseres Wissen zur Verfügung steht, das den Mangel kompensiert und seine Erfahrung abwehrt. Der wissenschaftliche Prozess der Wissensgenerierung im Sinne eines Organons der Kritik und einer permanenten Renovierung und Überholung des Wissens fungiert trotz seines Verzichts auf endgültige Wahrheitsansprüche und dogmatische Gewissheiten als Abwehrmechanismus der Erfahrung radikaler Ungewissheit und dessen, was nicht Wissen sondern anders als Wissen ist, indem er diese Erfahrung unendlich aufschiebt. Zuständig für diese Problematik sind dann spezielle, vor allem geisteswissenschaftliche Disziplinen, wie z.B. die Philosophie, oder Teilbereiche der Disziplinen, wie z.B. die Allgemeine Pädagogik oder die Bildungsphilosophie in den Erziehungswissenschaften. An diese Experten für ungelöste und unlösbare Fragen, unter denen der Hang zum Dogmatismus keineswegs überwunden ist, wird das alle Wissenschaften betreffende Grundproblem der Legitimation des Wissens delegiert, was ihnen außerdem noch den Ruf der Nutzlosigkeit und Ineffizienz einbringt. Und doch sind es gerade diese Wissenschaften, in denen der Wahn im nichtpathologischen Sinn – als Wissen um die Ungewissheit und die Grenzen allen Wissens und um die Unvermeidlichkeit von Vermutungen, Spekulationen, Wähnungen und zugleich um die Notwendigkeit des Wissens – noch einen Ort im Wissenschaftsgeschehen hat. Ihre Funktion wäre es also, vor dem pathologischen Wahn zu schützen, vor sich einschleichenden Gewissheiten und ihren Konsequenzen in technologischen Großprojekten wie in sozialen Praxisbereichen. So hat sich in der Erziehungswissenschaft, angestoßen von Forschungsergebnissen und Diskussionen in der Ethnologie, der Philosophie, der Geschichtswissenschaft, der Psychoanalyse und Sprachwissenschaft, ein Bewusstsein von der historischen und kulturellen Relativität von Erziehungs- und Subjektvorstellungen gebildet,48 von der Kulturspezifik unserer Kindheitsbilder,49 von Kindheit und Jugend selbst als eigenständigen Lebensphasen, aber auch vom Ethnozentrismus der humanistischen Bildungsideale50 sowie der Machtförmigkeit der Repräsentationslogik gegenüber dem Fremden und der Gewalt des identifizierenden Denkens gegenüber dem Anderen.51 Damit verbunden ist ein Wissen um die un79
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aufhebbare Alterität der Adressaten pädagogischer Initiativen und um die irreduzible Fremdheit des Kindes, ohne dass die Notwendigkeit des Wissens und die Unausweichlichkeit verleugnet würde, sich doch ein Bild zu machen und sein Handeln rational zu begründen. Die durch den Poststrukturalismus, die Systemtheorie und die Postmoderne-Diskussion ausgelösten Irritationen und Erschütterungen im Diskursfeld der Erziehungswissenschaft hinsichtlich ihrer Grundbegriffe, Konzepte und des Theorie- und Praxisverständnisses selbst haben in einigen Teilbereichen zu einer Revision ihres Problemverständnisses und zu Neuorientierungen geführt.52 Fragen, die man für geklärt hielt, werden erneut und anders bearbeitet. Vor allem wird verstärkt die Konstruktivität, Fiktionalität, Medialität und Sprachlichkeit der eigenen Entwürfe mit reflektiert und die Folgen und Möglichkeiten für das Problem pädagogischer Professionalität erörtert.53 Da die Praxisrelevanz erziehungswissenschaftlichen Wissens nach der Akzeptanz des Technologiedefizits54 und der Wiederentdeckung der Undurchschaubarkeit der Interaktionsteilnehmer55 nicht mehr in einer technologischen Anwendung56 liegen kann, zumal die Unterstellungen kausaler Wirkungsintentionen als unhaltbar57 und die Selbsttransparenz und Autonomie des (Erzieher-)Subjekts als illusionär58erkannt wurden, gilt es nun, ein Verständnis pädagogischen Handelns zu entwickeln, das dieser dilemmatischen Situation, zugleich notwendig und unmöglich zu sein, gerecht wird.59 Es dürfte weder in einer Fortschreibung des Einwirkungsmodells das Kontingenz- und Ungewissheitsbewusstsein60 in pseudofaktischen Kausalitätsplänen unsichtbar machen noch sich dem Fatalismus hingeben, dass alles ohnehin wird, wie es wird.61 Zwar ist es unter den gegenwärtigen Bedingungen der Reform des Bildungswesens nach Maßgabe neoliberaler Steuerungsmodelle und ökonomischer Imperative für einen Diskurs schwierig geworden, der nicht die Effizienz- und Produktorientierung pädagogischer Aktivitäten und Institutionen in den Vordergrund stellt, sondern an Fragen der Möglichkeit von Bildung im Sinne eines »problematischen Vernunftgebrauchs«62 und von Erziehung, die dem Anderen gerecht werden kann,63 festhält. Doch gegen den im öffentlichen Diskurs vorherrschenden Wahn, man könne die subjektiven Ressourcen und Potenzen wie einen Rohstoff ausbeuten und Bildung in Lernfabriken herstellen, um sie dann auf dem Markt gewinnbringend einzusetzen, hilft nur ein kritisches Wissen um diesen Wahn, ein Wissen um die Unmöglichkeit eines unmittelbar handlungsleitenden Wissens und um die Bedeutung des Nicht80
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Wissens, des Nicht-Wissbaren sowie die unaufhebbare Ungewissheit, aber auch und zugleich um die Notwendigkeit des Wissens, ohne das dem alltäglichen »praktischen Sinn«64 und dem öffentlichen Wahn, dem bloß subjektiven Meinen und Glauben, der individuellen Beliebigkeit und der institutionalisierten Macht wieder Tür und Tor geöffnet würde, also einem wahnhaften Wissen. »Gewusster Wahn« bedeutet deshalb, den notwendig ungesicherten konstruktiv-fiktionalen Status des theoretischen Wissens und von Interpretationen als (keineswegs beliebigen) »Erfindungen« anzuerkennen, ohne sie mit dem Referenten zu identifizieren. Im Unterschied zum wahnhaften Wissen, in welchem seine sprachlich-metaphorische Differenzialität vergessen wird, bewahrt der gewusste Wahn das Wissen darum, dass das in ihm Dargestellte das Resultat eigener symbolischer Artikulationen ist, die durch einen unaufhebbaren und im Prinzip unendlichen Abstand vom dem getrennt bleiben, was nicht Wissen, sondern anders-als-Wissen ist, was aber das wahnhafte Wissen meint, in seiner unmittelbaren Präsenz als solches dingfest machen zu können.
Wahn im Wissen Die Grenzen zwischen Wissen und Wahn haben für uns ihre Eindeutigkeit verloren. Weder die Wirklichkeit noch der Common Sense können als Unterscheidungskriterien fungieren, und auch die Teilung zwischen einem Diskurs über den Wahnsinn und dem Diskurs des Wahnsinns hat ihre Klarheit eingebüßt. Die so genannte Wirklichkeit besteht selbst aus einem Sprachspiel und die Welt ist unabhängig ihrer Interpretiertheit nicht gegeben, so dass sowohl der Wahn als auch das Wissen gleich weit vom An-sich der Dinge entfernt sind. So hat schon Freud, statt den Wahn als Symptom des Weltverlustes zu qualifizieren, in ihm gerade umgekehrt einen Selbstheilungsversuch gesehen, eine Reorganisation und Rückgewinnung des Weltbezugs.65 Was den Common Sense im Sinne einer intersubjektiv geteilten Bedeutungswelt und der in sie eingelagerten Normalitätsvorstellungen angeht, so kann er in sich wahnhafte Züge tragen, wie z.B. im Rassenwahn oder anderen fundamentalistischen Glaubensüberzeugungen, aber auch in weniger auffälligen kollektiven Welt- und Selbstvorstellungen wie beispielsweise denjenigen der »lernenden Gesellschaft«66 oder des Ich als eines Unternehmers seiner selbst,67 woran uns glauben zu machen gegenwärtig alle Anstren81
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gungen unternommen werden. Und hinsichtlich der letzten Teilung kann gesagt werden, dass das Ich im Diskurs über den Wahnsinn vom Ich des wahnsinnigen Diskurses keineswegs radikal verschieden ist,68 ist doch für letzteres der Wahnsinn nur ein besonderer Fall des Denkens, keineswegs aber das Denken selbst, und gilt für ersteres, dass auch sein Diskurs über den Wahnsinn wahnhaften Charakter annehmen kann, wenn er sich auf ein vermeintlich sicheres Wissen stützen zu können meint. Das Verhältnis zwischen Wahn und Wissen lässt sich deshalb nicht mehr als dualistische Opposition fassen, deren beide Seiten klar identifizierbar wären, sondern nur noch als ein Differänzverhältnis (im Sinne Derridas) wechselseitiger Durchdringungen und Kontaminationen, wobei über die jeweilige Dominanz des Wahnhaften oder des wissenden Nichtwissens69 weniger die Wirklichkeitsreferenz oder die Übereinstimmung mit Normalitätsstandards entscheidet, als vielmehr das Verhältnis zur Ungewissheit70 dieser Grenze selbst: ob die Ungewissheit also abgewehrt und negiert wird oder ob sich das Wissen seiner eigenen Ungewissheit und – aufgrund seiner semiotisch-ikonischen Medialität – notwendigen Virtualität und Wahnhaftigkeit bewusst und gegenüber seiner Sprachlichkeit als unabschließbares Differenz- und Disseminationsgeschehen offen bleiben kann. Die Unterscheidung zwischen »wahnhaftem Wissen« und »gewusstem Wahn« sollte dieser Diffusion Rechnung tragen. Sie ist jedoch auch selbst nicht als Gegensatz, sondern als Differenz zweier Differenzverhältnisse zu verstehen, deren Wirkungen allerdings sehr unterschiedlich sind. So tendiert das wahnhafte Wissen mit seinen gewaltförmigen Identifizierungen, zwanghaften Lösungen und Entscheidungen nach Maßgabe eines für definitiv wahr gehaltenen Wissens zu Abschließungen, zu theoretisch-diskursiver Geschlossenheit und performativpraktischer Ab- und Ausgrenzung, wodurch es weder der Singularität von Situationen noch dem Anderen in seiner unzugänglichen Andersheit gerecht werden kann. Die Möglichkeit, die Fremdheit des Kindes und die Singularität des Anderen nicht zu reduzieren und sie umwillen der Stabilität des Handlungskalküls oder des Phantasmas der Machbarkeit zu opfern, besteht dagegen nur, wenn das Handlungssubjekt sich der Grenzen seines Wissens und der Ungewissheit seiner Entscheidungen bewusst bleibt. Auch dies aber ist keine Garantie für gerechtes Handeln, sondern nur dessen negative Bedingung;71 Gerechtigkeit gibt es nicht ohne sie.
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Für den pädagogischen Diskurs ist dies insofern von erheblicher Bedeutung, als er von Beginn an in einem Widerstreit sich wechselseitig negierender Aufgaben befangen ist,72 der sich in der Moderne aufgrund der Freiheits- und Autonomieansprüche des Subjekts zum Grundparadox oder zur Antinomie zwischen Freiheit und Zwang, Selbst- und Fremdbestimmung, Eigenaktivität und äußerer Steuerung, Autonomie- und Kontrollpädagogik73 oder zwischen (Selbst-)Bildung und (Fremd-)Erziehung74 verschärft hat. Erziehung soll – formelhaft ausgedrückt – Freiheit bewirken und Autonomie hervorbringen, sie will also, was sie nicht wollen kann, ohne es allein schon durch das Wollen zu negieren.75 Sie kann das Wollen aber auch nicht einfach sein lassen, da das, was sie will, auch nicht natürlich-entelechial oder automatisch entsteht. Entweder muss sie das autonome Subjekt im Kind bereits unterstellen oder sie muss es zum Ziel deklarieren. Kann im ersten Fall nicht erklärt werden, wie Fremd- in Selbststeuerung übersetzbar ist, so im zweiten Fall, wie – in Kants Terminologie – aus Naturkausalität eine Kausalität aus Freiheit entstehen kann.76 Zwar bezweifelt niemand, wie Treml resümierend über die beiden Grundverständnisse von Erziehung schreibt, dass »Erziehung möglich ist, aber die Pädagogik vermag das theoretisch dort, wo sie das Problem nicht nur durch normative Überlegungen ins Ideale semantisch zukleistert, nur noch paradox zu rekonstruieren – und das seit über 200 Jahren.«77 So ließe sich der pädagogische Diskurs der Moderne als eine Folge höchst unterschiedlicher Versuche verstehen, dieses Paradox zu überwinden und damit zugleich das Norm-, das Handlungs- und das Legitimationsproblem in einer konsistenten Theorie zu lösen. Ohne dies in der erforderlichen Differenzialität hier darlegen zu können, würde eine Rekonstruktion dieses Diskurses zeigen, dass sich im Zuge dieser Versuche nicht nur die pädagogischen Theorien und Ansätze vervielfacht und auf die beiden Pole verteilt haben,78 sondern dass die paradoxale Ausgangskonstellation einerseits alle Begriffe und Konzepte affiziert hat, dass aber genau dieser Effekt und damit die Aporetik des Pädagogischen immer wieder invisibilisiert und als überwunden ausgegeben wurde.79 Erst in jüngster Zeit wird wenigstens in Teilen der Erziehungswissenschaft die Unlösbarkeit eingestanden und das Problem der pädagogischen Gewalt und der Blindheit gegenüber der Singularitäts- und Alteritätsproblematik sowohl in Zusammenhang mit dem theoretischen Lösungszwang der Paradoxie als auch im Kontext des Machbarkeitswahns und des neuzeitlichen Phantasmas der Selbstschöpfung gesehen.80 83
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Gerade die Negation des irreduzibel Wahnhaften in Gestalt des pädagogischen double bind hat historisch zu pädagogischen Träumen, Utopien, idealistischen und auch gewalttätigen Wahngebilden geführt, so dass man ganz unmetaphorisch von einigen Staaten als von Erziehungsdiktaturen und geschlossenen pädagogischen Anstalten sprechen kann. Und betrachtet man die gegenwärtig grassierende Rede von der »lernenden Gesellschaft« (und lernenden Krankenhäusern, Organisationen, Institutionen, Fabriken) und die Interpellationen des öffentlichen und politischen Diskurses, dass sich jeder Einzelne der optimalen Ausschöpfung seiner eigenen Humanressourcen in Form von Lern- und Bildungspotenzen widmen möge, da jeder für sein (Über-)Leben (am Markt) selbst verantwortlich wäre,81 dann werden die wahnhaften Züge dieses Diskurses nicht erst offensichtlich, wenn man nach den impliziten Prämissen, Faktizitätsunterstellungen, verborgenen Interessen und möglichen Wirkungen fragt oder das Bild des flexiblen Menschen82 als Ideologie kritisiert. Allein der Anspruch, definitive Aussagen über die nächsten zehn (Agenda 2010) oder gar zwanzig (Wissens- und Bildungs-Delphi) Jahre machen zu können, erscheint als reine Phantastik, wenn man bedenkt, dass man doch noch nicht einmal wissen kann, was sich in den nächsten zehn Minuten ereignen wird.83 Kurz: Die Folgen einer Verleugnung der Ungewissheit des Wissens und einer Negation der Unbestimmtheit der Grenzen zwischen Wahn und Wissen bestehen darin, dass das Wissen einen wahnhaften Charakter annehmen kann. Die Kritik ist davon nicht ausgenommen, vertraut diese doch auf klare Grenzziehungen und auf die Möglichkeit reiner Unterscheidungen. Gegen solch wahnhaftes Wissen und Wahnvorstellungen, die sich dabei im Dienste der durch Angst bedingten Abwehr von Ungewissheits- und Fremdheitszumutungen bilden können, hilft nur eine Affirmation des Wahns im Wissen, die Anerkennung der Ungewissheit und Fremdheit des Anderen. Für die Pädagogik bedeutet dies, die Aporie der Erziehung aushalten zu müssen und ihre Unauflösbarkeit zu akzeptieren, ohne sich ihr allerdings zu ergeben, sondern sowohl die Notwendigkeit der Erziehung als auch die Unmöglichkeit ihrer intentionalen Beherrschung auf der Basis gesicherten Wissens festzuhalten. Wie es jedoch gelingen kann, den double bind nicht zu lösen, sondern in der Theorie der Alterität der Adressaten und in der praktischen Interaktion der Unentscheidbarkeit gerecht zu werden, dem Wahn also im Wissen einen Ort zuzubilligen, auf dass er »über dem Denken wachen« kann, diese Fragen erfordern nicht nur 84
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weitreichende Analysen und eine Dekonstruktion des pädagogischen Diskurses in seinen vielfältigen Schattierungen, sondern sie erfordern selbst vielleicht ein anderes Denken, eine andere Art des Wissens und der Erfahrung, von denen man noch nicht sagen kann, ob sie ihren Begriffen noch entsprechen würden. Es wäre wahrscheinlich eine andere Möglichkeit, das Mögliche zu denken, dem eine andere Zeitmodalität entspräche als die einer vorgreifenden statistischen Wahrscheinlichkeit, der man sich bedient, um die Ungewissheit der Zukunft klein zu rechnen, einer Zukunft, die immer nur im Kommen bleibt,84 auch wenn sie – pädagogisch gesehen – zugleich in Gestalt der nachwachsenden Generation immer schon da ist.
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Bernfeld, Siegfried: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung, Frankfurt/M. 1971, S.35. Die folgenden Seitenzahlen im Text beziehen sich auf dieses Werk. Bernfeld weiß es aus eigener Erfahrung. Denn bevor er zu den Ungläubigen konvertierte, gehörte er selbst zu den utopischen Träumern. So schrieb er z.B. 1909 als 17Jähriger in jugendlichem Überschwang in der Schülerzeitung »Eos. Stimme der Jugend«: »Ja sie werden kommen, sie müssen kommen. Und dann wird’s wunderschön auf Erden sein. Menschlich werden die Menschen sein und göttlich das Leben.« Bernfeld, Siegfried: »Jugendbewegung und Jugendforschung«, in: Sämtliche Werke, Bd. 2, Schriften 1909-1930, Weinheim/Basel 1994, S.11. Brezinka, Wolfgang: Von der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft. Eine Einführung in die Metatheorie der Erziehung, Weinheim/Basel/Berlin 1971; Roth, H., »Die realistische Wendung in der pädagogischen Forschung«, in: Neue Sammlung, Nr. 2 (1962) S.481-493. Lessing, Gottfried Ephraim: Die Erziehung des Menschengeschlechts und andere Schriften, Stuttgart 1976. Schleiermacher, Friedrich: »Grundzüge der Erziehungskunst (Vorlesung von 1826)«, in: ders., Texte zur Pädagogik, hg. von M. Winkler u. J. Brachmann, Bd. 2, Frankfurt/M. 2000, S.7. Vgl. dazu z.B. Gamm, Gerhard: Der Wahnsinn in der Vernunft, Bonn 1981; Foucault, Michel: Die Anormalen, Frankfurt/M. 2003; Kaufmann, Matthias (Hg.): Wahn und Wirklichkeit – Multiple Realitäten, Frankfurt/M. 2003; Schneider, Peter K.: Wahnsinn und Kultur oder »Die heilige Krankheit«, Würzburg 2001. Wolff, Heimfrid: »Potentiale und Dimensionen der Wissensgesellschaft – Ergebnisse aus dem Wissens-Delphi«, in: Rosenbladt, B.v. (Hg.), Bildung in der Wissensgesellschaft. Ein Werkstattbericht zum Reformbedarf im Bildungssystem, Münster 1999, S.11-18, hier S.17. Lyotard, Jean-François: Postmoderne Moralitäten, Wien 1998, S.34. Vgl. Nestle, W.: Vom Mythos zum Logos, Aaalen 1966; Snell, Bruno: Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Hamburg 1955; Châtelet, François: »Vom Mythos zum rationalen Denken«, in: ders. (Hg.), Geschichte der Philosophie, Bd. I, Frankfurt/M./Berlin/Wien 1973, S.15-20.
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Derrida, Jacques/Ewald, François: »›A certain ›madness‹ must watch over thinking‹: refusing to build a philosophical system, Derrida privileges experience and writes out of ›compulsion‹. A dialog about traces and deconstruction«, in: Biesta, G.J.J./EgéaKuehne, D. (Hg.), Derrida & Education, London/New York 2001, S.55-76. Kant, Immanuel: »Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik«, in: ders., Werkausgabe, Bd. II, hg. von W. Weischedel, Frankfurt/M. 1978, S.919-989, S.982f. Freud, Siegmund: »Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia« [1911], in: ders., Studienausgabe, Bd. VII, Frankfurt/M. 1973, S.133-204, S.200. Hahn, Torsten/Person, Jutta/Pethes, Nicolas (Hg.): Grenzgänge zwischen Wahn und Wissen, Frankfurt am Main 2002. Zizek, Slavoj: Die Tücke des Subjekts, Frankfurt/M. 2001, S.50ff. Gamm, Gerhard: Flucht aus der Kategorie. Die Positivierung des Unbestimmten als Ausgang aus der Moderne, Frankfurt/M. 1994; Ders., »Das Wissen der Gesellschaft«, in: Jahrbuch für Bildungs- und Erziehungsphilosophie, Nr. 2, Hohengehren 1999, S.51-64. Vgl. vom Verf. »Pädagogik als Kulturwissenschaft. Programmatische Überlegungen zum Status der Allgemeinen Erziehungswissenschaft«, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Jg. 5 (2002), Beiheft 1, S.109-122; »Erziehung ohne Aufgabe: Pädagogik in Zeiten der Ungewissheit«, in: Beillerot, J./Wulf, C. (Hg.), Erziehungswissenschaftliche Zeitdiagnosen: Deutschland und Frankreich, Münster/New York/München/Berlin 2003, S.224-238. Vgl. Oelkers, Jürgen/Tenorth, Heinz-Elmar (Hg.): Pädagogisches Wissen, Weinheim/Basel 1991. Vgl. Liesner, Andrea, Zwischen Weltflucht und Herstellungswahn. Bildungstheoretische Studien zur Ambivalenz des Sicherheitsdenkens von der Antike bis zur Gegenwart, Würzburg 2002. Vgl. Friedrichs, Werner/Sanders, Olaf (Hg.): Bildung/Transformation, Bielefeld 2002. Vgl. Höhne, Thomas: Pädagogik der Wissensgesellschaft, Bielefeld 2003. Vgl. Ecarius, Jutta (Hg.): Was will die jüngere mit der älteren Generation? Opladen 1998. Vgl. Schäfer, Alfred: Unbestimmte Transzendenz. Bildungsethnologische Betrachtungen zum Anderen des Selbst, Opladen 1999. Vgl. z.B. Masschelein, Jan/Ruhloff, Jörg/Schäfer, Alfred (Hg.): Erziehungsphilosophie im Umbruch, Weinheim 2000. Für die aufmerksame Lektüre der ersten Textfassung sowie für die hilfreichen Kommentare, Anregungen und Hinweise, die in die folgenden Überlegungen eingegangen sind, möchte ich Karl-Josef Pazzini herzlich danken. Eine solche materiale und sorgfältige Analyse kann hier nicht geleistet werden. Was die grundsätzliche Frage des Verhältnisses zur Sprache angeht, möchte ich verweisen auf Der Andere und die Sprache. Vernunftkritik und Verantwortung, Berlin 1988. Ebenso wenig ist hier der Ort, die Diskussion um die Sprache und insbesondere die Metapher explizit aufzugreifen, weder die poetologisch-literaturtheoretische, die linguistisch-rhetorische oder die semantisch-interaktionstheoretische noch die wissenschaftstheoretische (vgl. dazu Ae-Ryung, Kim: Metapher und Mimesis. Über das hermeneutische Lesen des geschriebenen Textes, Berlin 2002), auch nicht das Konzept einer Metaphorologie (Blumenberg, Hans: Paradigmen zu einer Metapherologie, Frankfurt/M. 1998). Zur historischen und gegenwärtigen Diskussion vgl. Haverkamp, Anselm (Hg.), Theorie der Metapher, Darmstadt 1996; Ders. (Hg.): Die paradoxe Metapher, Frankfurt/M. 1998. Vgl. Rutschky, Katharina (Hg.): Schwarze Pädagogik, Frankfurt/M./Berlin/Wien 1977; Richter, Dieter: Das fremde Kind. Zur Entstehung der Kindheitsbilder des bürgerlichen Zeitalters, Frankfurt/M. 1987; Ders.: »Der Beitrag der Literatur für eine Anthropologie der Kindheit«, in: Darcklé, D. (Hg.): jung und wild. Zur kulturellen Konstruktion von Kindheit und Jugend, Berlin 1996, S.76-89. Vgl. Baader, Meike Sophia: Die romantische Idee des Kindes und der Kindheit, Neuwied/Kriftel/ Berlin 1996, S.221 ff.
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Vgl. Fuchs, Brigitta: Maria Montessori. Ein pädagogisches Portrait, Weinheim/Basel 2003. Vgl. z.B. Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.): Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, Reinbek 1976; Mehan, Hugh/Wood, Houston: »Fünf Merkmale der Realität«, in: Weingarten, E./Sack, E./Schenkein, F., Ethnomethodologie. Beiträge zu einer Soziologie des Alltagshandelns, Frankfurt/M. 1976; Kippenberg, Hans G./Luchesi, Brigitte (Hg.): Magie. Die sozialwissenschaftliche Kontroverse über das Verstehen fremden Denkens, Frankfurt/M. 1987. Wenn das Ziel der Aufforderung – im Unterschied zu expliziten Befehlen und Zwangsvorschriften – unbestimmt bleibt, wie dies im Prinzip der »Aufforderung zur freien Selbsttätigkeit« der Fall ist, das als Lösungsformel für die pädagogische Paradoxie von Freiheit und Zwang gilt, dann ist Erziehung immer mit Angst auf Seiten des Adressaten verbunden, da dieser sich immer fragen muss, was der Andere eigentlich von ihm will, was er nicht wissen kann, obwohl er es laut Aufforderung selbst wissen und aus sich heraus wollen und können sollte. Wäre das so, bedürfte es jedoch der Aufforderung nicht. Dass eine solche Situation für den Adressaten strukturell paranoiden Charakter hat, in der sich die als sein Eigenwille ausgebende Intention des Erziehers als Doppelgänger seines Selbst implementiert (von dem der Erzieher unterstellt, dass es ein von sich aus tätig werden wollendes ist), wäre vor dem Hintergrund der Lacanschen Theorie der Intersubjektivität und der Aggressivität des Pädagogen (vgl. Lacan, Jacques: Schriften I, Olten 1973, S.70) zusammen mit der seit Bernfeld bekannten Problematik, dass für den Pädagogen auch seinerseits das Kind als Doppelgänger fungiert (Bernfeld, Siegfried: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung, a.a.O., S.32ff.) erneut hinsichtlich seiner Konsequenzen für das Verständnis von Erziehungsprozessen und ihrer Wirkungen für die Subjektkonstitution zu analysieren. Dass diese Vorstellungen bis heute den Diskurs über Erziehung begleiten, manifestiert sich nicht nur an der seit der Antike immer wiederkehrenden Klage über den Sittenverfall der Jugend, sondern im Gegenwartsdiskurs z.B. auch in der Forderung nach einer verstärkten Werteerziehung und der Rehabilitierung sozialer Tugenden. Die Forderung nach Anpassung an die Gesellschaft, die in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zugunsten einer emanzipatorischen Autonomiepädagogik als repressiv und undemokratisch kritisiert worden war, wird heute im Zuge der Desillusionierung emanzipatorischer Konzepte und vor dem Hintergrund desintegrativer Tendenzen in westlichen Gesellschaften erneut erhoben, um eine – vor allem von kommunitaristischen Positionen kritisierten – fortschreitende Individualisierung zu begrenzen. Es sei in diesem Zusammenhang z.B. an den erheblichen Widerstand erinnert, auf den noch Rousseaus Ideen stießen. Seine Bücher wurden öffentlich verbrannt und er selbst musste fliehen. Vgl. Schäfer, Alfred: Rousseau: Pädagogik und Kritik, Weinheim 1992. Vgl. Benner, Dietrich: Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie, Weinheim/München 1995. Zum Problem der Einfühlung vgl. die erhellenden Ausführungen von Schmidgen, Henning: »Einbildung und Ausführung«, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, Bd. 6/1 (1997), S.25-42. Vgl. Ruhloff, Jörg, Das ungelöste Normproblem der Pädagogik, Heidelberg 1980. Auf die vor allem im Anschluss an die Systemtheorie von der ihr verpflichteten Erziehungswissenschaft erfolgte Standortbestimmung und Selbstverständigung, die auf die Differenz zwischen Erziehungssystem und eine dieses bloß beobachtende Erziehungswissenschaft rekurriert, kann hier nicht angemessen eingegangen werden. Zwar wird hier die Differenz zwischen Theorie und Praxis im Sinne der Luhmannschen Beobachtertheorie nicht verkannt, doch tendiert diese Verhältnisbestimmung zu einer radikalen Trennung zwischen Wissenstypen oder Beobachterperspektiven, anstatt die Differenz als Differenz sowohl im Wissenschafts- wie auch im Professionsbereich festzuhalten. Diese Trennung zwischen Disziplin und Profession prädestiniert die systemtheoretische Erziehungswissenschaft für Steuerungsfunktionen des Erziehungssystems (oder Politikberatung im Bildungswesen), aber nicht für die Reflexion und Lösung von Erziehungs- und Bildungsaufgaben am Ort des Geschehens. Um es überspitzt zu sagen: Dem Pädagogen hat sie nur etwas zu sagen, wenn dieser sich auf die Höhe
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seiner Beobachter begibt, wo er dann aber nicht mehr sehen kann, was er vorher sehen konnte und weshalb er sich ja erhoben hatte, dafür aber das, was er vorher nicht sehen konnte, nämlich das, was er jetzt sehen kann, was ihm aber nichts nützt, wenn er an seinem Arbeitsplatz wieder nur sehen darf, was er vorher sehen konnte, weil er sonst handlungsunfähig würde. Grundsätzlich tendiert der systemtheoretische Konstruktivismus zum Weltverlust und dadurch, wenigstens aus psychoanalytischer Perspektive, zur Wahnhaftigkeit. Vgl. auch Meyer-Drawe, Käte: »Kritik der grassierenden Weltnichtung«, in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik, Nr. 75/3 (1999), S.428-439. Der Gegenwartsdiskurs insbesondere der Bildungspolitik leistet im Kontext der managerialen Ökonomisierung des Bildungswesens einer solchen Auffassung allerdings Vorschub, da er durchaus Schule und Universität als Fabriken und Qualifikationen, Wissen, Bildung oder Sekundärtugenden wie Fleiß, Pünktlichkeit, Verlässlichkeit als deren Produkte definiert. Dass dieser Zukunftsbezug selbst durch seine Gefangenschaft in der Gegenwart mitbestimmt wird, wobei die »Gegenwart« selbst durch Momente der »Vergangenheit« geprägt ist, soll erwähnt, kann aber hier ebenso wenig ausgeführt werden wie die Zeitproblematik selbst, dass die Zeitmodalitäten selbst keineswegs trennscharf in Räume aufgeteilt werden können. Vgl. dazu vom Verf.: »Zwischen Utopie und Pragmatismus. Zu Status und Wandel pädagogischer Zukunftsvorstellungen«, in: Friedrichs W./ Sanders, O. (Hg.), Bildung/Transformation, a.a.O., S.29-44. Die damit zusammenhängende Ungewissheit kann Pädagogen zwar in große Nöte und an den Rand der Handlungsunfähigkeit bringen. Aber der verständliche Wunsch, von dieser Not befreit zu werden, z.B. durch praktische Handreichungen seitens der Erziehungswissenschaft, kann nicht erfüllt werden, es sei denn durch normative Glaubenssysteme und wahnhafte Gewissheiten. Die anhaltende Attraktivität der MontessoriPädagogik, der Waldorf-Pädagogik oder anderer Pädagogiken mag u.a. darin begründet liegen, dass sie versprechen, diese Wünsche erfüllen zu können. Vgl. z.B. Fischer, Wolfgang: Kleine Texte zur Pädagogik der Antike, Hohengehren 1997, S.29-125. Vgl. Wild, Christoph: Philosophische Skepsis, Königstein/Ts. 1980; Bollmann, Ulrike: Wandlungen neuzeitlichen Wissens. Historisch-systematische Analysen aus pädagogischer Sicht, Würzburg 2001. Fischer, Wolfgang: »Über den Mangel an Skepsis in der Pädagogik«, in: Fischer, W./Ruhloff, J. (Hg.): Skepsis und Widerstreit. Neue Beiträge zur skeptischtranszendentalkritischen Pädagogik, Sankt Augustin 1993, S.11-28. Beispielhaft für diesen Zusammenhang wären die Krisenexperimente zu nennen von Garfinkel, H.: Studies in Ethnomethodology, Englewood Cliffs 1967. Vgl. Husserl, Edmund, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Tübingen 1980, S.48-86. Dieser hier aus Darstellungsgründen auf das abstrakte Schema einer quasi-logische Kettenreaktion reduzierte Prozess, der sehr verschieden von Fichte und Hegel in der Anerkennungsdialektik und von Husserl, Merleau-Ponty, Sartre, Buber und Levinas entlang der Begegnung mit dem Anderen in seiner Komplexität dargestellt worden ist, verläuft empirisch keineswegs so geradlinig und vor allem nicht automatisch. Als abgestufte Folge von Möglichkeitsbedingungen formuliert, kann ein solches Schema außerdem nichts über den Übergang von der Potentialität zur Aktualität aussagen. (Vgl. zur Begrenztheit jeder Analyse von Möglichkeitsbedingungen Derrida, Jacques: Politik der Freundschaft, Frankfurt/M. 2000, S.41ff.) So kann dieser Prozess an jeder Stelle auch eine andere Wendung nehmen, so dass der hier skizzierte Verlauf vielleicht noch nicht einmal der wahrscheinlichste ist. Die Möglichkeiten der Abwehr der Störung durch tatsächliche, projektive oder halluzinatorische Verleugnung oder Vernichtung des/der störenden Anderen sind eventuell sogar als die wahrscheinlichsten Antworten auf die Herausforderungen durch das Fremde anzusehen. (Vgl. dazu vom Verf. »Fremde«, in: Wulf, Christoph [Hg.], Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim/Basel 1997, S.1066-1078.) Dass diese genau darin, im »geschichtlichen Faktum der Frage nach der Eigenart pädagogischen Denkens und Handelns« ihre Möglichkeit wie auch ihre Berechtigung hat,
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ist der Ausgangspunkt von Benner, Dietrich: Allgemeine Pädagogik. Eine systematisch-problemgeschichtliche Einführung in die Grundstrukturen pädagogischen Denkens und Handelns, Weinheim/München 1987, S.10. Vgl. Roth, Hans-Joachim: Kultur und Kommunikation. Systematische und theoriegeschichtliche Umrisse Interkultureller Pädagogik, Opladen 2002. Vgl. Baader, Meike Sophia: Die romantische Idee des Kindes und der Kindheit, Neuwied/Kriftel/Berlin 1996. Schäfer, Alfred: Das Bildungsproblem nach der humanistischen Illusion, Weinheim 1996. Schäfer, Alfred/Verf.: »Fremde Kinder«, in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik 74/3 (1998), S.307-319. Dies. (Hg.): Identifikation und Repräsentation, Opladen 1999. Vgl. z.B. die Diskussionen auf dem 13. Kongress der DGfE zum Thema »Erziehungswissenschaft zwischen Modernisierung und Modernitätskrise«, der im 29. Beiheft der Zeitschrift für Pädagogik, Weinheim/Basel 1992, dokumentiert ist; sowie Koch, Lutz/Marotzki, Winfried/Peukert, Helmut (Hg.): Revision der Moderne? Weinheim 1993. Vgl. Helsper, Werner/Combe, Arno (Hg.): Pädagogische Professionalität, Frankfurt/M. 1996. Vgl. Luhmann, Niklas/Schorr, Karl E. (Hg.): Zwischen Technologie und Selbstreferenz, Frankfurt/M. 1982. Vgl. dies. (Hg.): Zwischen Intransparenz und Verstehen, Frankfurt/M. 1986. Vgl. Masschelein, Jan: »›Den Schmerz wach halten, das Verlangen Erwecken‹ Einige Bemerkungen über Wissen und Gewissen«, in: Masschelein, J./Verf., Alterität Pluralität Gerechtigkeit. Randgänge der Pädagogik, Sankt Augustin/Leuven 1996, S.163186. Vgl. Luhmann, Niklas/Schorr, Karl E. (Hg.), Zwischen Absicht und Person, Frankfurt/M. 1992. Vgl. Meyer-Drawe, Käte: Illusionen von Autonomie. Diesseits von Ohnmacht und Allmacht des Ich, München 1990. Vgl. Masschelein, Jan: Kommunikatives Handeln und pädagogisches Handeln, Weinheim/Leuven 1991. Vgl. Ricken, Norbert: Subjektivität und Kontingenz. Markierungen im pädagogischen Diskurs, Würzburg 1999; Liesner, Andrea: Zwischen Weltflucht und Herstellungswahn, a.a.O. Helsper, Werner/Hörster, Reinhanrd/Kade, Jochen (Hg.): Ungewissheit. Pädagogische Felder im Modernisierungsprozess, Weilerswist 2003. So Lenzen, Dieter: »Bildung im Kontext«, in: Dietrich, C. / Müller, H.-R. (Hg.), Bildung und Emanzipation. Klaus Mollenhauer weiterdenken, Weinheim/München 2000. Gegen diese These von der »selbstorganisierten Humanontogenese« und ihre »fatalistischen Konsequenzen« vgl. Ruhloff, Jörg: »Fatalismus und pädagogische Praxeologie«, in: Hellekamps, S./Kos, O./Sladek, H. (Hg.), Bildung, Wissenschaft, Kritik. Festschrift für Dietrich Benner zum 60. Geburtstag. Weinheim 2001, S.21-32. Ruhloff, Jörg: »Traditionen der Postmoderne in Antike und Renaissance. Zur Theorie und Geschichte des problematischen Vernunftgebrauchs in der Pädagogik«, in: Fischer, W./Ruhloff, J. (Hg.): Skepsis und Widerstreit, a.a.O., S.97-120; Helmer, Karl/Meder, Norbert/Meyer-Drawe, Käte/Vogel, Peter (Hg.): Spielräume der Vernunft. Jörg Ruhloff zum 60. Geburtstag, Würzburg 2000. Vgl. z.B. Masschelein, Jan/Verf.: Alterität Pluralität Gerechtigkeit, a.a.O. Vgl. Bourdieu, Pierre, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt/M. 1987. Freud, Siegmund: »Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia«, a.a.O., S.133-204, S.193. Zum biologistischen Phantasma, das dieses Konzept trägt, vgl. Masschelein, Jan: »The Discourse of the Learning Society and the Loss of Childhood«, in: Journal of Philosophy of Education, Vol. 35, No.1, S.1-20. Vgl. Liesner, Andrea: »Die Bildung einer Ich-AG. Anmerkungen zum Lehren und Lernen im Dienstleistungsbetrieb Universität«, in: dies./Sanders, O. (Hg.): Bildung der Universität, Bielefeld 2005.
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Vgl. dazu in seiner Lektüre von Foucaults Wahnsinn und Gesellschaft die Analyse des cartesischen Cogito von Derrida, Jacques: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. 1972, S.88ff. Man könnte es auch das »kritische«, »aufgeklärte« oder »reflexive« Wissen nennen, würden nicht die Modelle der Kritik, der Aufklärung und der Reflexion selbst betroffen sein. So ist es schwierig, für ein solches sich der unvermeidlichen Wahnhaftigkeit bewusstes Wissen einen Namen zu finden. Um es noch einmal zu verdeutlichen: Die Ungewissheitsproblematik besteht nicht darin, nicht zu wissen, bis wohin das Wissen geht und wo das Nichtwissen und der Wahn anfangen, sondern darin, dass man nicht mehr wissen kann, ob es sich beim Wissen um Wissen handelt oder um ein Nichtwissen bzw. um einen Wahn. Vgl. dazu Derrida, Jacques: Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, Frankfurt/M. 1992, S.59. Vgl. Ruhloff, Jörg: »Widerstreit - Eine architektonische Konstante im Aufbau der Pädagogik«, in: Ruhloff, J./Schaller, K. (Hg.), Pädagogische Einsätze 1991. Festschrift für Theodor Ballauff zum achtzigsten Geburtstag, Sankt Augustin 1991, S.71-85. Vgl. Hügli, Anton: Philosophie und Pädagogik, Darmstadt 1999. Vgl. z.B. Heydorn, Heinz-Joachim: Zu einer Neufassung des Bildungsbegriffs, Frankfurt/M. 1972, S.119ff. Vgl. vom Verf.: »Intentionalität und Unentscheidbarkeit. Der Andere als Problem der Moderne«, in: Koch, L./Marotzki, W./Peukert, H. (Hg.), Revision der Moderne?, a.a.O., S.57-80. Vgl. z.B. Gößling, Hans Jürgen: Subjektwerden. Historisch-systematische Studien zu einer pädagogischen Paradoxie, Weinheim 1993. Treml, Alfred K., »Über die beiden Grundverständnisse von Erziehung«, in: Oelkers, J./Tenorth, H.-E. (Hg.): Pädagogisches Wissen, a.a.O., S.347-360, S.352. Beispielhaft für das Spektrum zwischen Zwang und Freiheit: Von der Vorstellung einer wissenschaftlich begründeten Erziehungstechnologie (Brezinka) über die Kommunikationstheoretische Wende (Schaller) bis zu antiautoritären und zur Anti-Pädagogik (Braunmühl), von handlungstheoretischen Erziehungprogrammen über das Selbstbildungsparadigma bis zu autopoietischen Konzepten der Humanontogenese. Zwar beansprucht jede Richtung, das Problem zu lösen, doch wird es bei genauerer Betrachtung bis ins Detail von ihm heimgesucht. Deshalb kann der pädagogische Diskurs als Musterbeispiel für autodekonstruktive Prozesse angesehen werden. Vgl. dazu vom Verf.: Dekonstruktion und Erziehung. Studien zum Paradoxieproblem in der Pädagogik, Habilitationsschrift Halle 2000 (erscheint 2005 im Waxmann Verlag). Vgl. dazu Schäfer, Alfred/Verf. (Hg.): Machbarkeitsphantasien, Opladen 2003. Vgl. zur Semantik dieses Diskurses und der strategischen Dimension seiner Überredungsbegriffe die Analysen aus gouvernementalitätstheoretischer Perspektive von Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.): Glossar der Gegenwart, Frankfurt/M. 2004. Vgl. Sennett, Richard: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998. Auf solche Absurditäten, wie sie heute an der Tagesordnung sind, soll hier nicht weiter eingegangen werden, dass z.B. der Bevölkerung eingeredet wird, durch Einsparungen das Bildungssystem verbessern oder durch schärfere Qualitäts- und Leistungskontrollen und differenziertere Selektionsmechanismen die Ungleichheit von Bildungschancen beseitigen zu können, die doch gerade durch die frühe und hohe Selektivität des Bildungswesens bedingt ist, oder dass durch die sich universalisierende Tribunalisierung in Form verstärkter Evaluationen, Überprüfungen und Kontrollen die Motivation zur freiwilligen und selbst gesteuerten Leistungssteigerung und zur engagierteren und autonomen Kundenorientierung befördert würde. Vgl. zur Frage des »Vielleicht«, einer anderen Möglichkeit des Möglichen und zur kommenden Demokratie Derrida, Jacques: Politik der Freundschaft, Frankfurt/M. 2000, S.51-80; Ders.: Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, Frankfurt/M. 2003.
Insa Härtel
Verrückte Phantasie, paranoide Autorität, politische Psychose Ein Lektüreversuch (Homi K. Bhabha)
Nachstehende, noch vorläufige Überlegungen stehen im Kontext eines Nachdenkens über Wirkungen einer postulierten ›Krise väterlicher Autorität‹ auf dem – aktuell wieder höchst umstrittenen – Feld der Autorschaft: Wie kann die Produktion kultureller Äußerungen vor dem Hintergrund ungewisser autoritativer Instanzen gedacht werden? Wenn ich mich dieser Frage im Folgenden von einem postkolonialen Textkörper aus annähern möchte, dann ist damit eine spezifische Denkbewegung verbunden, die die koloniale Beziehung als konstitutiv für jene Positionen und Funktionsweisen westlicher Rationalität und Autorität begreift, die in den Beziehungsgeflechten auch ihrer ›eigenen‹ (post-) modernen Kulturen effektiv sind und in Frage stehen. Entsprechend kann auch ein Nachdenken über die Wirkmacht von Autorität in der (westlichen) kulturellen Produktion nicht von diesem gewaltsamen ›Umweg‹ Abstand nehmen; er macht die Erkenntnis spezifischer Charakteristika dieses autoritativen Gefüges erst möglich. Die Re-Lektüre von Texten aus Homi K. Bhabhas The location of culture (1994), die meinen Überlegungen hier zugrunde liegen, soll in diesem Sinne insbesondere prekäre paranoide Z ü g e jener westlichbürgerlichen Autoritätsfiguren denkbar machen, deren Spuren sich schließlich noch in den mit diesen Figuren verbundenen Autorschaftsmodellen finden lassen. Im Folgenden soll also gezielt einigen bei 91
Insa Härtel
Bhabha skizzierten Autoritätskonstellationen nachgegangen werden, um im gleichen Zug Entwürfe von Handlungsfähigkeit zu eruieren, die aus dieser Sicht traditionelle Vorstellungen von Autorschaft ablösen. Ein solches Modell von Handlungsmacht setzt gewissermaßen zugleich eine Einverleibung und Unterbrechung paranoider Phantasien voraus bzw. sich einer radikalen Verunsicherung aus, die bis zu ›(prä-)psychotischen‹ (auch zu spezifisch ›wollüstigen‹) Zuständen reichen kann. Die Auseinandersetzung mit Texten Bhabhas verlangt in ihrem selbst vielstimmigen und sich einem zwangs-hermeneutischen (vgl.u.) Lesen hermetisch verschließenden Charakter besondere Lektürepraktiken. Meinem spezifisch gelagerten Erkenntnisinteresse folgend handelt es sich bei den folgenden Gedankengängen um den durchaus experimentellen Versuch, Bhabha mit einigen seiner Referenztexte, die er in großer Dichte an- aber selten weiter ausführt, zu lesen und gegenzulesen. Der Drang, aus wie auch immer disparat erscheinenden Bestandteilen eine erzählbare Geschichte zu weben, wird noch Gegenstand der Betrachtung sein. Es lässt sich darüber spekulieren, ob das Verfahren, sich an den Worten zu reiben, sie in Richtung ihrer ›Quellen‹ zu verfolgen, diesen auszusetzen und anzubinden, auch anachronistisches Resultat der immer noch verwirrenden und – dem Sujet gemäß – enteignenden Umgangsweise Bhabhas mit »Autorschaft« ist. Immerhin spricht er gelegentlich von einer seine Lektüre bestimmenden »tendenziöse[n] Auslotung« oder davon, dass er weder die gelesenen Texte bei ihrem noch sich »selbst gänzlich bei [s]einem Wort« nimmt.1
Stimmen hören Eines Abends, als ich auf einem Barhocker halb eingeschlafen war, versuchte ich spaßeshalber alle Sprachen aufzuzählen, die an mein Ohr drangen: Musik, Konversation, Geräusche von Stühlen, Gläsern, eine ganze Stereophonie, deren exemplarischer Ort ein Platz in Tanger ist (beschrieben von Severo Sarduy). Auch in mir redete es (das ist bekannt), und dieses sogenannte ›innere‹ Reden ähnelte ganz dem Geräusch des Platzes, jener Abstufung leiser Stimmen, die mich von außen erreichten.2
In diesem Ausschnitt aus Die Lust am Text führt Barthes ›sich‹ als einen »öffentliche[n] Ort«, einen »Suk« ein,3 auf dem gehandelt wird: Im Zustand des Halbschlafes werden die Stimmen, die sich von außen zu Gehör bringen und spaßeshalber aufgezählt werden können, dem ver92
Phantasie | Autorität | Psychose
gleichbar, was im Innen spricht. Äußere und innere Stimmen ähneln sich. Es tauchen Wörter, Syntagmen, Formulierungsfetzen auf, die nicht einen Satz formieren und die sich, indem es sich um ein »zugleich ganz kulturelle[s] und ganz wilde[s] Reden« handelt,4 gleichsam in einem widersprüchlichen Verhältnis zur Kultur und zum Ich situieren.5 Die Lust am Text folgend können die nebeneinander arbeitenden, sich in einem diskontinuierlichen Arrangement befindenden Sprachen damit nicht nur auf einen behaglichen, kulturkompatiblen »Text der Lust«, sondern auch auf einen »Text der Wollust« verweisen, der einen erschüttert und sich verlieren macht.6 In Barthes’ stereophonischer Anekdote taucht ein Reden auf, ohne dass sich ein Satz bildet; »dieser Nicht-Satz war keineswegs etwas, das nicht die Kraft gehabt hätte, zum Satz zu werden [...]; es war: was auf ewige, unnahbare Weise außerhalb des Satzes ist«.7 Der Raum des Nicht-Satzes ist etwas, was Eingang in den Satz hätte finden können, »aber dennoch außerhalb davon blieb«, wie Bhabha schreibt;8 er bleibt außerhalb dessen, was – hierarchisch und meisterhaft abgeschlossen – »Abhängigkeit, Unterordnung, innere Ausrichtung« impliziert.9 Eine gewisse Ausrichtung kommt mit Bhabhas Lektüre in The postcolonial and the postmodern. The question of agency (1992) wieder ins Spiel, wenn dieser den »verrückten und wunderbaren Tagtraum des semiotischen Pädagogen, der etwas zu tief ins Glas geschaut hat«,10 zum Anlass nimmt, um der Frage einer »Handlungsfähigkeit« des Marginalen, Minoritären etc. »außerhalb des Satzes«11 nachzugehen. – »[K]ann es ein soziales Subjekt des ›Nicht-Satzes‹ geben? Ist es möglich, sich in jenem disjunktiven, unbestimmten Moment des Diskurses außerhalb des Satzes historische Handlungsfähigkeit vorzustellen? Ist das Ganze vielleicht nicht mehr als eine theoretische Phantasie, die jede Form politischer Theorie auf einen Tagtraum reduziert?«12 Mit der Einführung des Begriffs des Tagtraums bzw. der Phantasie für das, was bei Barthes als ein Zustand des Halbschlafes beschrieben ist, wäre im Verständnis Freuds umgehend der Wunsch involviert – eine Phantasie »schwebt« gleichsam zwischen den »Zeitmomenten«, »Vergangenes, Gegenwärtiges, Zukünftiges wie an der Schnur des durchlaufenden Wunsches aneinandergereiht«.13 Man ist mit der Phantasie demnach auf eine Struktur ineinander verwobener Zeitlichkeiten verwiesen, in der von einem aktuellen Wunsch erweckenden Eindruck auf die Erinnerung eines Wunsch erfüllten Zustandes zurückgegriffen und eine ebenso erfüllte zukünftige Situation produziert wird14 – in einem phan93
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tastischen Raum, der keinen »Realitätsanspruch« stellt15 und doch in Antizipation bzw. ›Probehandeln‹ auch auf die Realität bezogen bleibt.16 Bhabha greift Freudsche Bestimmungen auf und setzt darauf, dass die Phantasie das Subjekt in unvereinbaren, diskontinuierlichen, verleugneten Gefügen artikuliert, wobei sie nicht »alternativ zum Handeln in der realen Welt« funktioniert.17 Gerade die in der Phantasie »außerhalb des Satzes« wirksame Zeitlichkeit soll hier Strategien für die Bildung und Verhandlung von Orten der Handlungsmöglichkeit gleichsam an den Rändern hierarchisch und abschließend vorgenommener ›Sätze‹ und Setzungen begründen. Mit dem, was »außerhalb des Satzes« wie die Phantasie einen Zustand beschreibt, der »nicht reine Erfahrung« ist und »noch nicht Konzept, teils Traum, teils Analyse«, geht es Bhabha um eine theoretische Aufschließung, um ein »über die Theorie hinaus«.18 Ein ›Darüber-hinaus‹, das nicht nur die Grenzen von Theorie und (politischer) Praxis, sondern auch das semiologische Projekt tangiert, welches sich (wie auch immer »spaßeshalber«) um die Aufzählung der eindringlichen Sprachen bemüht. Es kommt ein Moment ins Spiel, that »takes semiotics by surprise«.19 Damit bewegt sich dieses phantastische Projekt nicht allein »außerhalb« des Autors: es fügt sich nicht nur nicht »der intentionalen Oberhoheit des ›Autors‹«, sondern verweigert sich auch einer lediglich »weitere[n] Wiederholung der theoretischen Litanei« von dessen Tod.20 Ich möchte den Vorstellungen einer »Individuation« spezifischer Handlungsfähigkeit – im Anschluss bzw. in Abgrenzung zu Modellen der Autorschaft – folgen, die sich mit den Stimmen »außerhalb des Satzes« verbinden und die Bhabha als »Nachwirkung« einer von kultureller Differenz durchdrungenen intersubjektiven Verflechtung begreift. Dabei interessiert mich anschließend insbesondere das Auftauchen wahnhafter oder psychotischer Aspekte in diesem Modell von Handlungsmacht bzw. in den autoritativen Strukturen, in denen und gegen die es agiert.
Intersubjektives Gewebe Ausgehend u.a. von Formulierungen Bachtins, die den Autor deplazieren,21 wären die Linien oder Ketten des Sprechens und Kommunizierens zu eruieren, die stets ein »Milieu fremder Wörter, Bewertungen und Akzente«22 durchqueren, in welches der halb schlafende Barthes quasi eingetaucht ist. In dieses »elastische, oftmals schwer zu durch94
Phantasie | Autorität | Psychose
dringende Milieu«23 fremder Wörter dringt ein Wort in seiner Intention und Ausrichtung auf einen Gegenstand, es flicht sich ein und bricht sich darin.24 »[Z]wangsläufig Tausende lebendiger Dialogfäden« berührend, in die ihr Gegenstand jeweils verwoben ist, ist die Äußerung aktiv am »sozialen Dialog[]« beteiligt.25 – Der Dialogcharakter des Wortes bezieht sich bei Bachtin nicht nur auf dessen Gestaltung »in der dialogischen Wechselwirkung mit dem fremden Wort innerhalb des Gegenstands«, sondern auch darauf, dass jedes Wort auf eine Antwort zielt; auf ein »künftige[s] Antwort-Wort eingestellt«, kann es »dem entscheidenden Einfluß des zu erwartenden Entgegnungswortes nicht entgehen«.26 Bildet sich das Wort Bachtin zufolge »in der Atmosphäre des schon Gesagten«, so wird es also zugleich von dem noch nicht gesagten, antizipierten »Entgegnungswort bestimmt«.27 – Bhabha spricht bezüglich Bachtins Speech Genres and Other Late Essays auch von einer Berührung der räumlichen Grenzen des Äußerungsgegenstandes in der »Assimilation« der Rede des anderen und einem darin produzierten »Moment der Indetermination im Akt der […] ›Adressivität‹ […]«.28 Arendt folgend, auf die sich Bhabha in einer weiteren Schleife bezieht, kommen im Handeln und Sprechen die Handelnden und Sprechenden selbst »zum Vorschein und ins Spiel«, auch wenn es um die »jeweiligen, objektiv-weltlichen Interessen« geht.29 Konstituieren diese Interessen ein die Menschen in einen Bezug zueinander setzendes ›inter-est‹, so wird dieser Zwischenraum stets von einem weiteren ›Zwischen‹, einem kaum fassbaren Bezugsgewebe aus Worten und Taten »überwuchert« und durchdrungen.30 In dieses immer schon existierende Gewebe fällt jeder Beginn eines Handelns oder Sprechens. Werden in jeder ›lebendigen Äußerung‹ bei Bachtin also eine Vielzahl verwebend-verwobener ›Dialogfäden‹ berührt, so schlagen Sprechen und Handeln nach Arendt gleichsam »Fäden […] in ein bereits vorgewebtes Muster«, die dieses Gewebe immer auch verändern bzw. »alle Lebensfäden, mit denen sie innerhalb des Gewebes in Berührung kommen, auf einmalige Weise affizieren«.31 Auf diese Weise werden die Fäden gesponnen, bis sie »klar erkennbare Muster« ergeben bzw. »als Lebensgeschichten erzählbar« sind.32 »Wer« einer in seiner kaum greifbaren Einzigartigkeit ist, offenbart sich auf unwillkürliche Weise und anderen deutlich und unmissverständlich, bleibt der Person selbst jedoch nicht selten verstellt33 und lässt sich nicht willentlich lenken, bestenfalls nachträglich fassen. – So kann man die (Lebens-)Geschichte beginnen, indem man sich einschaltet und seine 95
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Fäden schlägt, aber man kann sie nicht ›gestalten‹. Während man bestimmte Ziele verfolgt, werden die durch das Handeln und Sprechen produzierten erzählbaren Geschichten auf eine von den Beweggründen abweichende Weise hervorgebracht.34 So dass die »Verlegenheit« schließlich darin liegt, daß wir in jeder Abfolge von Geschehnissen, die im Erzähltwerden einen eindeutigen Sinnzusammenhang [unique meaning] ergeben, bestenfalls den Täter (agent) ausmachen können, der den Geschehnisablauf erst einmal ins Rollen gebracht hat, und obwohl dieser Täter häufig das Subjekt, der »Held« der Geschichte bleibt, kann er nie unzweideutig als Autor ihres Endergebnisses angesprochen werden.35 Somebody began it and is its subject in the twofold sense of the word, namely, its actor and sufferer, but nobody is its author.36
Entsprechend ist »die Geschichte der Menschheit« oder von Menschengruppen37 nicht ›verfasst‹. Der Sinnzusammenhang, der sich durch die Erzählbarkeit einer Sequenz zeitlich verbundener, noch so zufällig oder disparat veranlasster Geschehnisse ergibt,38 kann nicht auf einen Autor oder einen ›hinter den Kulissen‹ die Fäden ziehenden Verfasser (Gott, eine ›unsichtbare Hand‹ o.Ä.) zurückgeführt werden. Eine solche Rückführung versucht nur, dem Dilemma Herr zu werden, das sich daraus ergibt, dass sich das historische Geschehen zwar menschlichem Handeln verdankt, aber eben nicht ›gemacht‹ ist.39 Die Vorstellung eines verborgenen, Regie führenden Fädenziehers lässt sich weiter als eine ›Umdeutung‹40 lesen, die eine erste Spur des Paranoiden erahnen lässt: Ein durch ein soziales Gewebe sich konstituierendes Handeln wird projektiv einer absichtsvoll vorgehenden verborgenen Figur attribuiert. Gerät man mit einem solchen ›Autorschafts‹-Modell nicht in die Nähe eines (Beziehungs-)Wahns, der nicht ›beabsichtigte‹ Äußerungen und Handlungen anderer als solche gewichtet, ausdeutet oder beurteilt41 – um die ängstigende Verwirrung, die mit der kontingenten Struktur intersubjektiven Handelns entsteht, quasi zu ›heilen‹ und einen konsistenten Entwurf der soziosymbolischen Ordnung zu garantieren? Von Bhabha wird die solchermaßen verstellte konstitutive Ungewissheit bzw. die ›autorlose‹ Differenz zwischen verursachender Figur und sich ergebender Geschichte auf spezifische Weise aufgegriffen, die das sich handelnd enthüllende ›Wer‹ »außerhalb des Satzes« schreibt; dabei werden die »einzige Bedeutung« der sich einstellenden Geschichte bzw. die weitgehende Konsensualität des (weder Gegen- noch Für-, sondern) 96
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›Miteinander‹, die Arendt als eine Art Voraussetzung für die Enthüllung des ›Wer‹ konzipiert,42 in Frage gestellt. Gerade aus einer Perspektive soziokultureller Differenz und Marginalisierung ginge es darum, andere Konstellationen menschlichen ›Miteinanders‹ zu denken. Dieses kann etwa »die Kräfte der hegemonialen Autorität repräsentieren«; es kann zu Solidarität und Widerstand gegen Suppressionen kommen oder zu dem Versuch, von einem subalternen oder minoritären Punkt aus »das ›interest‹ der Gesellschaft […] in Frage zu stellen oder neu zu artikulieren«.43 Dieses ›inter-est‹ erscheint damit als explizit verhandelbar. – Das handelnde Subjekt kommt in der Bhabhaschen Konzeption nicht allein als Wirkung ›eines‹ intersubjektiven Gewebes, sondern insbesondere als Effekt seiner Infragestellung ins Spiel. Das noch nicht gesagte, die Äußerung ausrichtende ›Entgegnungswort‹ Bachtins findet sich hier gleichsam als Befragtsein und Frage außerhalb des Satzes wieder. »[T]he agent, constituted in the subject’s return, is in the dialogic position of calculation, negotiation, interrogation: Che vuoi?«44 Eine fragende, von dem unergründlichen Begehren des Anderen herrührende Stimme (die in der ›väterlichen‹ Institution bürgerlich-westlicher Prägung keine Antwort mehr findet) geht gewissermaßen aus der stereophonischen Phantasie ›außerhalb des Satzes‹ hervor – und bringt ebenso »eine unerträgliche Angst«,45 ein ›hysterisiertes‹ Subjekt bzw., wie es bei Bhabha heißt, eine »interrogative Handlungsfähigkeit«46 hervor. In einer Bewegung hin zu spezifischeren Situationen, die sich zugleich konstitutiv für den ›allgemeinen‹ theoretischen Zugang zeigen, geht es mir im Folgenden um Umgangsweisen mit dem intersubjektiven Verhandlungsraum durch Figuren westlicher Autorität bzw. Rationalität – und weiter um die sich generierende Handlungsmacht derer, die durch diese nicht ›repräsentierbar‹ sind.
Deutungszwang »Es ist ein auffälliger und allgemein bemerkter Zug im Verhalten der Paranoiker, daß sie den kleinen, sonst von uns vernachlässigten Details im Benehmen der anderen die größte Bedeutung beilegen, dieselben ausdeuten und zur Grundlage weitgehender Schlüsse machen«.47 In der Zusammenschau mit dem zugleich ganz kulturellen und ganz wilden Sprechen und Denken der Bartheschen Tanger-Phantasie, in der sich jenseits fixierter Bedeutungen innere und äußere Stimmen überlagern, 97
Insa Härtel
erscheint der ›Deutungszwang‹ des Beziehungswahns als schroffer Kontrast. Alles, was an anderen bemerkt wird, erscheint hier bedeutungsvoll, alles deutbar. Die Kategorie dessen, was keiner Motivierung bedarf, wird verworfen,48 außen und innen scheinen projektiv klar getrennt. Eine solche Trennung zwischen innen und außen versucht auch Freud selbst in Zur Psychopathologie des Alltagslebens, der obiges Zitat entstammt, aufrechtzuerhalten. Er erkennt hier den der Paranoia bzw. dem Aberglauben49 und der Psychoanalyse gemeinsamen »hermeneutische[n] zwang«50 und versucht im gleichen Zug, sich in einer Art ›Glaubenbekenntnis‹ von jenen ›anderen‹ zu unterscheiden.51 Weiter heißt es: [E]rstens projiziert er [der Abergläubische] eine Motivierung nach außen, die ich innen suche; zweitens deutet er den Zufall durch ein Geschehen, den ich auf einen Gedanken zurückführe. Aber das Verborgene bei ihm entspricht dem Unbewußten bei mir, und der Zwang, den Zufall nicht als Zufall gelten zu lassen, sondern ihn zu deuten, ist uns beiden gemeinsam.52
Freud unterscheidet sich, ohne es konsequent einzugestehen, »erst im augenblick des schließens, im moment des urteils und mitnichten während der deutung«.53 Wäre der Zwang zur Deutung von Zeichen in gewissem Maß ein ›abergläubisches‹ oder ›wahnhaftes‹ Moment der Psychoanalyse, die dieses zugleich analysierbar macht? Es ist u.a. das in diesen Freudschen Passagen lesbare Bestreben, klare Grenzen zwischen Paranoia und Aberglaube einerseits sowie Wissenschaft bzw. Psychoanalyse andererseits aufrechtzuerhalten, von dem ausgehend Derrida den Begriff der »abendländischen stereotomie«54 verwendet, jenseits dessen sich wiederum das »Außerhalb des Satzes« in Bhabhas Verständnis situiert: Man muss, so heißt es, »außerhalb des Satzes, und zugleich ganz kulturell und ganz wild denken«, »um die okzidentale Stereotomie […] zu unterbrechen«.55 Die unzähligen Stimmen im phantastischen Universum Barthes’, die die Ebene des Individuellen überschreiten, arbeiten dem Modell der Stereotomie entgegen, für die eben das Herausschneiden von Räumen, soliden Sequenzen bzw. von einheitlich »zusammenhängenden und deterministischen interpretationsfelde[rn]«56 charakteristisch ist. In einer Art stereometrischer, an das ›Wahnhafte‹ grenzender Gewissheit, sich von wahnhaften Zuschreibungen abgrenzen zu können, versucht Freud in Zur Psychopathologie des Alltagslebens also gewissermaßen, »die wissenschaft vom seelischen«57 als ein Erkenntnisfeld ›herauszuschneiden‹. Es scheint, als würde er hier ein solches (ausschlie98
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ßendes) Herausschneiden im Sinne einer Grenzziehung zwischen sich und dem paranoiden bzw. abergläubischen Interpretieren brauchen und verteidigen, welches er anderenorts selbst ins Wanken bringt. Geht es hier um die Instituierung einer (psychoanalytischen) Theorie und Praxis, so hütet sich Freud in anderen Zusammenhängen genau vor einer ›Ontologisierung‹ oder ›Substantialisierung‹ der Grenze etwa zwischen dem Draußen und Drinnen58 – und würde damit selbst in einer Art ›Außerhalb‹ sprechen, welches die Stereotomie in Verwirrung versetzt. (Auch in den Textpassagen in der Psychopathologie finden sich m.E. Hinweise auf solche beunruhigenden Tendenzen.)59 In diesem Sinne enthalten die Schriften Freuds ebenso ›bemeisternde‹ wie sich aussetzende Tendenzen im Umgang mit ungewissen Grenzen, quasi in Abhängigkeit vom Stand der psychoanalytisch-›wissenschaftlichen‹ Institution und der darin gebundenen Angst. Im Grunde, so Derrida, glaubt Freud ebenso wenig wie der Abergläubische »an die solide beschaffenheit der von unserer abendländischen stereotomie ausgeschnittenen räume.« Er (und mit ihm Derrida) »glaubt nicht an die kontextualisierenden und einrahmenden, aber nicht realen grenzen zwischen dem seelischen und dem körperlichen, dem drinnen und dem draußen, von all den anderen angrenzenden oppositionen ganz zu schweigen [...]«60 Im Grunde fehlt der Glaube an krisenfeste Grenzen und öffnet die Tore für De-Ontologisierungen oder paranoische Angst. – Liest man Texte Bhabhas, so verschiebt sich die Anordnung zwischen Paranoia, ›wissenschaftlich‹-rationalen und ›abergläubischen‹ Strukturen ein weiteres Mal. Jene Freudschen Theoreme des ›Beziehungswahns‹ – die sich in Zur Psychopathologie des Alltagslebens eben als selbst nicht eindeutig abgrenzbar von westlicher Stereotomie und wahnhaften Konstellationen zeigen – werden von Bhabha hier ausschließlich als Werkzeug der Analyse paranoider Autoritätsfiguren eingesetzt und erhalten an dieser Stelle eine Art schwebenden, unverorteten Status. Im gleichen Zug wird, wie zu zeigen sein wird, die ›Deplaciertheit‹ des Aberglaubens nach Maßgabe westlich-wissenschaftlicher Weltanschauung in gewisser Weise ihrerseits deplacierend aufgegriffen und fruchtbar gemacht: Etwa der ›Aberglaube‹ im Indien des 19. Jahrhunderts arbeitet in einer durch westlich-koloniale, vermeintlich ›rationale‹ Autoritäten dominierten Situation deren Paranoia entgegen, welche jeden Zwischenraum des Verhandelns und Fragens angstvoll verschließt. Dies sei im Folgenden ausgeführt.
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Paranoide Autorität In einer von Bhabha in Signs taken for wonders (1985) postulierten Wendung zeigt sich im Kontext kolonialer Repräsentation eine spezifische Differenz zwischen der Präsenz der Macht und dem, was ihre eigenen Regeln glauben machen wollen.61 Geht man davon aus, dass die Anerkennung von Autorität (ungeachtet jener Bestimmungen, die sie u.a. über den Ausschluss von allen mit der »autoritativen Vernunft« in Konflikt stehenden Gründen definieren) stets »eine Bestätigung ihres Ursprungs« erfordert, die als das »Etwas, das einen Herren ausmacht« unmittelbar offensichtlich und allgemein akzeptiert sein muss,62 so stößt das unmittelbare (An-)Erkennen der Autorität in der kolonialen Situation auf Probleme. Um nämlich auf diese Weise autoritativ wirksam zu sein, müssen die »An-Erkenntnisregeln« einen Konsens widerspiegeln; um machtvoll zu sein, sind sie auszuweiten, wenn es darum geht, auch »außerhalb ihres angestammten Bereichs«63 liegende ›Objekte‹ zu repräsentieren.64 Die diskriminierende Ausübung kolonialer Macht lässt die Einheit stiftende Unterstellung einer Konsensualität des ›Miteinander‹, einer »Kollektivgröße«65 nicht zu. Was sich nicht repräsentieren lässt, wird zu beherrschen versucht – auf der Basis einer Verleugnung, welche die mit der Beherrschung verbundenen Verwerfungen negiert; dabei werden ›diskriminatorische‹ Identitäten produziert, welche die ›reine‹ Identität der Autorität wiederum (vermeintlich) sicherstellen.66 In Sly Civility (1985) geht Bhabha einerseits von narzisstischen Ansprüchen aus, denen gemäß »der Andere das Selbst autorisieren und dessen Priorität anerkennen, seine Konturen ausfüllen, seine Referenzen vervollständigen, letztlich sogar wiederholen und seinen gebrochenen Blick befrieden möge«.67 Andererseits bringt die koloniale Situation keinen ungebrochenen Spiegel hervor, die imaginären ›Heilungsversuche‹ werden durch den »unberechenbare[n] Einheimische[n]«68 weniger zufrieden gestellt als annulliert. Wenn man ihnen ihre groben und wertlosen falschen Vorstellungen über die Natur und den Willen Gottes oder die monströsen Narreteien ihrer phantastischen Theologie entgegenhält, werden sie das vielleicht mit einer schlauen Höflichkeit (sly civility) oder mit einem geläufigen und nichtssagenden Sprichwort abtun. Sie antworten dann vielleicht, daß »der Himmel ein geräumiger Ort ist und tausend Tore hat« und daß ihre Religion die Pforte sei, durch die sie einzutreten hofften. Derart haben sie zusammen mit ihren unverrückbaren Überzeugungen auch ihre skeptischen Ausflüchte.
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Durch solche Ausflüchte können sie das Für und Wider des Falls jeder Betrachtung entziehen und die Menschen ermutigen, zu denken, daß noch der scheußlichste Aberglaube beliebigen heilsamen Zwecken dienen kann und demnach im Angesicht Gottes auch als Wahrheit und Rechtschaffenheit gelten kann.69
Selbst wenn man sich seines Wissens absolut gewiss zu sein glaubte, lassen sich die ›tausend Tore‹ der abqualifizierten differenten Erkenntnisformen nicht einfach bemeistern. Dieser Passage zufolge vermag sich der in westlicher Weltanschauung – seien es Anschauungen von Natur oder Gott – deplaciert (Freud) erscheinende scheußliche Aberglaube in der Rede der anderen als Wahrheit zu erweisen; er nimmt die Rechtschaffenheit gleichsam in sich auf und umgeht die ›herausgeschnittenen‹ Erkenntnisfelder. Es ist die entstehende Unberechenbarkeit und Unsicherheit – durch das, was das herrschende Universum aushebelt, nicht darin integrierbar ist –, in der eine ängstigende Paranoia Raum greifen kann. Ein die Desintegration ersatzweise ›entschädigender‹ machtvoller Verfolgungswahn zeichnet sich ab – von Bhabha gewissermaßen als Kehrseite des Narzissmus der Autorität begriffen –,70 wenn der die narzisstischen Ansprüche auf Berechenbarkeit und Bestätigung nicht erfüllende Einheimische als der feindselige Fremde wahrgenommen wird, wie Freud ihn beschreibt. Jedes noch so kleine Anzeichen von ›Fremden‹, von denen der verfolgte Paranoiker »etwas wie Liebe« erwartet, aber indifferent – oder hier nicht den Ansprüchen entsprechend – behandelt wird, wird im Beziehungswahn verwertet – wobei die »Indifferenz im Verhältnis zu seiner Liebesforderung« nach Freud nicht ganz zu unrecht »als Feindseligkeit« empfunden wird.71 – So wird die »Weigerung, dem Auge der Macht das ihm rechtmäßig zustehende Bild der Autorität zurückzugeben«, in der Sprache der Paranoia geschrieben als eine »unversöhnliche Aggression, die ausdrücklich von außen kommt«.72 Der nicht erfüllte Liebeswunsch konjugiert sich im Verfolgungswahn mittels Affektverwandlung und Projektion als »ich hasse ihn ja – weil er mich verfolgt«, und das heißt: er hasst mich.73 Projektive Zuschreibungen kausal-absichtsvoll unterstellter Wirkmechanismen schneiden das ›Milieu‹ intersubjektiver Verhandlungsräume aus oder ab. Die durch die (verleugnete) Entstellung »von außen kommende Aggressivität des anderen«74 rechtfertigt in dieser Logik das Subjekt der Autorität bzw. die autoritäre Forderung und zwingt den Einheimischen in der Projektion in eine Relation zum Herrn, die niemals die verlangte sein kann.75 Allein die an den Tag gelegte, das Bild ›väterlich-gerechter‹ 101
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Autorität verfremdende Härte vermag in dieser paranoiden Logik den Einbruch einer Wahnvorstellung vom bedrohlichen ›Chaos‹ oder ›Ende der Welt‹76 noch zu verhindern – und vermag es doch nicht. Der Ort des anderen ist im kolonialen Diskurs ohne ›Verhandlungsraum‹ durch fixe Ideen und Angstphantasien besetzt und die ›irrtümlichen‹ Besetzungen der anderen können auf nicht berechenbare und Angst fördernde Weise die ›eigenen‹ Ausdrucksweisen und Namen einverleiben oder enteignen. So heißt es zum Beispiel bei Alexander Duff, Indienmissionar des 19. Jahrhunderts: [J]eder Begriff der Eingeborenen, den der christliche Missionar verwenden kann, um die göttliche Wahrheit zu vermitteln, ist bereits als auserwähltes Symbol eines dazu passenden tödlichen Irrtums besetzt […] Man wird sich dann anders ausdrücken und [den Eingeborenen] sagen, daß es eine zweite Geburt geben muß. […] Nun ist es aber so, daß diese Ausdrucksweise und sämtliche anderen, ihr ähnlichen schon anders belegt sind. Worauf ihnen der Gayatri, der heiligste Vers der Veden mitgeteilt wird … [was] religiös und metaphorisch die zweite Geburt [der Eingeborenen] darstellt. ... Der Versuch, sich besser auszudrücken, kann leicht den Eindruck vermitteln, es müßten nur alle Menschen vollkommene Brahmanen werden, damit sie Gott sehen können.77
Der ›tödliche Irrtum‹ passt zum Begriff göttlicher Wahrheit. Werden dominante Begriffs- und Wissenskonstellationen unheimlicherweise durch ›eingeborene‹ Kenntnisformen artikuliert, dann werden ›Aberglaube‹ und Irrtum Wahrheit und Gott verwechselbar. Es ist genau das von kultureller Differenz durchdrungene und paranoid ›ausgeschnittene‹ intersubjektive Gewebe, das sich immer wieder als nicht beherrschbar erweist. Das vertraute Symbol ist in dem Milieu fremder Wörter, Bewertungen und Akzente (Bachtin) immer schon belegt oder auch belagert, die ›aberkannten‹ anderen Kenntnissysteme – etwa als Irrtum oder Aberglaube, ›Narretei‹ klassifiziert – ergreifen gleichsam »vom dominanten Diskurs Besitz« und verfremden »die Basis seiner Autorität« (seine Erkenntnisregeln).78
Westliche Ratio Wie »in den pittoresken Worten« des »verzweifelten Missionars« im Kontext ›schlauer Höflichkeit‹ deutlich wird, verliert der ›Rationalismus‹ der »Fortschrittsideologien« des 19. Jahrhunderts (wie etwa Evo102
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lutionismus, Missionarismus) »in der Begegnung mit der Kontingenz der kulturellen Differenz immer mehr an Kraft«, heißt es in The postcolonial and the postmodern. The question of agency.79 Die koloniale Begegnung wirke sich auf die »Dünne der Erzählung« aus, welche Foucault in einer Passage von Die Ordnung der Dinge eruiert. In einer Konstellation des 19. Jahrhunderts, in der »das menschliche Wesen« über das Zerbrechen der Einheit des Werdens von Mensch und Welt und die Entdeckung einer den Dingen eigenen Historizität schließlich (diese begründend) selbst »durch und durch historisch geworden ist«,80 wird jedes Streben nach Universalität gewissermaßen von der eigenen Geschichtlichkeit heimgesucht. Zu jener »Dünne der Erzählung« neigt die Geschichte in der Akzeptanz der eigenen historischen Verwurzelung bzw. Relativität: Sie dringt dann sozusagen »in die Bewegung ein, die ihr mit dem gemeinsam ist, was sie erzählt«.81 Der »positive Inhalt« durch die Humanwissenschaften lässt sich nicht halten; diese tun nichts anderes als die kulturelle Episode, »auf die sie als auf ihren Gegenstand angewendet werden« (was auch die eigene Synchronie sein kann), mit derjenigen in Beziehung zu setzen, »aus der sie hervorgegangen sind«.82 Es sind nach Foucault – über die Spiele des modernen Historizismus hinaus – ›Gegenwissenschaften‹ wie die Ethnologie, die nicht den Menschen selbst, sondern (etwa durch eine spezifische Bezugnahme auf andere Kulturen) die (unbewussten) Möglichkeitsbedingungen jenes »Wissen[s] über den Menschen« in der abendländischen episteme befragen.83 Wird damit das, was sonst »als erworben« hat gelten können, prinzipiell in Frage gestellt,84 so ist dieses ›Prinzip des Infragestellens‹ selbst »eine[r] bestimmte[n] Position der abendländischen ratio«85 geschuldet: »Die Ethnologie steht innerhalb der besonderen Beziehung, die die abendländische ratio mit allen anderen Kulturen herstellt«,86 und diese spezifische Position ist – wenn bei Foucault auch nur in negierter Form – mit dem Kolonialismus verbunden. (»Das heißt natürlich nicht, daß die kolonisatorische Situation für die Ethnologie unerläßlich ist.«)87 Nach Bhabha wird der koloniale Text zur (verleugneten) »Grundlage der Beziehung«,88 welche die westliche Ratio mit anderen Gesellschaften und »sogar mit der Gesellschaft, in der sie historisch erschienen ist«,89 haben kann. Sie kehrt gewissermaßen aus der Beziehung zu ›anderen Kulturen‹, die Foucault u.a. als mit einer »historischen Souveränität des europäischen Denkens«90 verbunden beschreibt und die nach Bhabha immer auch eine »Übertragungsbeziehung zwischen dem Westen und seiner kolonialen Geschichte« ist, zeitverschoben zu sich zurück.91 103
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Dabei handelt es sich auch wieder um einen selbstentfremdenden Prozess.92 Mit der Rückkehr zu ›sich selbst‹ kehrt gleichsam auch das verweigerte Bild von Autorität zurück. Die Beziehung zur ›eigenen‹ als ›souverän‹ unterstellten Kultur konstituiert sich über die koloniale Beziehung – und die Begegnung mit der Kontingenz kultureller Differenz (vgl.o.) vollzieht sich als unheimliche Entfremdung von ›sich selbst‹ – mit ›tausend Toren‹ für paranoide Ängste und Abwehrmanöver. Diese bestimmen folglich ebenso die Beziehung der westlichen Ratio zu der ›eigenen‹ Kultur und verfolgen sie bis in die Art ihres Theoretisierens, ihre Modelle von Wissensproduktion und Autorschaft.
Zirkulierende Zeichen, Phantasien und Affekte Abschließend soll es um Formen der Handlungsmacht gehen, die sich aus intersubjektiv gewobenen, zirkulierenden Phantasien und Affekten ›außerhalb‹ des angenommenen Werts rationaler Regelungen bzw. der Wissensausschneidungen generieren, wenn die Erzählungen ›dünn‹ werden. In Elementary Aspects of Peasant Insurgency in Colonial India (1983) führt Guha die Psychosen dominanter sozialer Gruppen vor, die sich in einer fälschlichen Zuschreibung sich ausbreitender – etwa mit Vorstellungen eines ›simultanen‹ Auftauchens belegter – Revolten (von vormals als loyal angenommenen Gruppen) an eine vermeintlich vorangegangene konspirative Verschwörung manifestieren.93 In Anlehnung an obige Ausführungen ließe sich sagen: Es kommt zu einem fälschlicherweise unterstellten Modell verborgen-intentionaler ›Autorschaft‹. Zwar gibt es nach Guha tatsächlich ein organisierendes Prinzip in einem solchen Geschehen – aber dieses wäre nicht in einer Verschwörung, sondern in der Dominanzstruktur selbst zu suchen:94 Die Rebellion resultiert demnach weniger aus einem bewussten Zusammenschluss bzw. einem revolutionären Bewusstsein als aus der negativen Bedingung der sozialen Existenz im Zustand des Unterworfenseins.95 Eine derartige Erhebung »required no secret plots but only the open and overbearing presence of the colonial power to stimulate it«.96 Bhabha folgend ließe sich wiederum vermuten, dass sich die Handlungsmacht der Bauernrebellion durch die Präsenz der Macht hindurch in der hybridisierenden Zirkulation von Phantasien bzw. Affekten hervorbringt, welche die ›abendländi-
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sche Stereotomie‹ (die auch in den ›negativen Bedingungen‹ noch anklingt) unterläuft – ich komme darauf zurück. Guha und Bhabha rekurrieren in diesem Zusammenhang u.a. auf den Aufstand in Indien um 1857 bzw. auf die Zirkulation von »Chapatis« (ungesäuertes Fladenbrot und populäres Nahrungsmittel) in den damaligen ›North-Western Provinces‹: Man wußte darüber nicht mehr, als daß ein Bote auftauchte, dem Vorsteher des Dorfes den Fladen gab und ihn bat, ihn ins nächste Dorf weiterzuschicken, und daß der Fladen auf diese Art von Ort zu Ort die Runde machte [...] Und alles, was die Geschichtsschreibung dazu mit Gewißheit festhalten kann, ist die Tatsache, daß die Übermittler dieser seltsamen Sendschreiben von Ort zu Ort wanderten, und wo immer sie hingingen, neue Erregung auslösten und unbestimmte Erwartungen weckten.97
Es ist unklar, wie die sich verbreitenden Chapatis zu lesen sind und ob sie mit den Aufständen verbunden waren.98 In Abhängigkeit auch von differenten kulturellen Codes, so Guha, konnten sie jedoch auf verschiedene Weise mit den rebellischen Unruhen in Beziehung gesetzt werden.99 Das Zeichen wurde etwa – quasi paranoid – als Index eines vorgängigen Komplotts gedeutet:100 Die auf ›britisch-offizieller‹ Seite etwa mit Entfremdungserscheinungen einhergehende fehlende Kenntnis einer ›Identifizierungsregel‹ der zirkulierenden Chapati-Symbole produzierte nicht selten Verschwörungstheorien, die die unerklärliche Weitergabe als Signal der gerade erfahrenen Unruhen markierten. Die Zufälligkeit bzw. Nachträglichkeit der auf diese Weise kausal gedeuteten Beziehung blieb von anderen, lokalen Administratoren nicht unbemerkt.101 Diesem Interpretationskomplex wird von Guha eine andere Art der zeitgenössischen Deutung im Sinne eines die Zukunft antizipierenden unbestimmten Omens an die Seite gestellt, welches in Momenten der Kollision auftaucht, »when the generally accepted semioticization of a social or political order comes under question and unforeseen options are opened up«.102 – Ausgehend von Riten, bestimmte Objekte als symbolische Träger von Epidemien anderen Gemeinschaften zu übermitteln, um auf diese Weise Schutz vor der Krankheit zu erlangen,103 wäre es im Falle der zirkulierenden Chapatibrote gewissermaßen zu einer Verschiebung der Bedeutung von Pathologie zu Politik gekommen.104 Ohne deren (›verschwörerische‹) Ursache zu sein, waren die Chapatis dieser Ansicht nach doch nicht ohne jede Beziehung zu den Unruhen:105 Als Zeichen einer Art unspezifischen Vorhersage riefen sie gleichsam eine Beunru105
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higung, ein rätselhaftes Unbehagen hervor. Auf eine im Freudschen Sinne an den ›Aberglauben‹ grenzende Weise trugen die Unmengen der in die Übertragung der Chapatis gelesenen Bedeutungen dazu bei, die Gemüter durch die Vorahnung einer drohenden Katastrophe zu ›verdunkeln‹; in einer mit wachsenden Unruhen aufgeladenen Atmosphäre vermittelte sich gleichsam eine Rebellion in Antizipation.106 Bhabas Ausführungen binden projektive Phantasien und rebellische Handlungsmächte im Moment der indeterminierten Bedeutung zusammen und fokussieren in den ›dünnen‹ Erzählungen der Chapatis (vgl. Bhaba) besonders auch die über ethnische und kulturelle Grenzen hinweg auftretenden Gerüchte und Paniken.107 Panik als der Affekt des nach Guha108 ›autorlosen‹, sich als eine Kette von Reaktionen zeigenden Gerüchts widersetzt sich demnach in ihrer »beschleunigte[n] Zeit«109 einer binären Auffassung von Kulturen oder politischen Antagonismen. Entsprechend betont Bhabha im Hinblick auf die – eben Ungewissheit und Panik erzeugende – Neu-Einschreibung des Chapati-Symbols als ein Zeichen in ungewohnter sozialer Bedeutung gerade die Unterbrechung der zirkulierenden kulturellen Codes.110 Panik und Angst zirkulieren »unkontrolliert auf beiden Seiten«111 und sind keineswegs auf die Einheimischen beschränkt (auch wenn die ›britischen Autoritäten‹ wiederum bestrebt sind, sie auf die Besonderheiten der ›Eingeboren‹ zu projizieren), wie sich in den Chapatibrot-Berichten zeigt.112 – Nach Bhabha wird »das organisierende Prinzip des ChapatiZeichens gebildet […] in der Übertragung von Angst und Besorgnis, von Projektion und Panik, wie sie zwischen Kolonialherrn und Kolonisiertem zirkulieren« – und gerade die »partielle Einverleibung« von Affekten und Phantasien des Herrn könnte die rebellische Handlungsmacht konstituieren.113 Die Macht des Handelns auf dieser Basis ist bei Bhabha schließlich mit Bions Erkenntnissen in Experiences in Groups… (1961) assoziiert, demzufolge sich Muster des Handelns bzw. Denkens in Gruppen wiederum dem Zugriff des Einzelnen immer auch entziehen – wenn dieser auch zugleich den Wunsch hegt, »sich als Herr seines Schicksals zu fühlen«.114 Das Individuum hat das Gefühl, »nie mit dem Gang der Ereignisse Schritt halten [zu können], an den er stets und in jedem Augenblick von vornherein gebunden«, mit dem er verwoben ist115 – eine Gruppenstrukturierung »innerhalb einer Zeitdifferenz«,116 die Bhabha zufolge seinem Entwurf einer Individuation von Handlungsmacht – als eine Wirkung des Intersubjektiven – vergleichbar ist. 106
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Bions Ausführungen können hier dazu dienen, den intersubjektiven Verhandlungsraum und die sich in diesem »außerhalb« zeigenden Räume weiter zu differenzieren. Ihm zufolge ist die Funktion der Gruppe, sich (als ›differenzierte‹ oder ›Arbeits‹-Gruppe) einer Aufgabe zu widmen (die gewissermaßen dem ›offiziellen‹ Mandat ihres Zusammentretens entspricht), wobei u.a. »an den Wert rationaler oder wissenschaftlicher Behandlung eines Problems«117 geglaubt wird, stets von Gefühlen ›durchwirkt‹, die einer herrschenden Grundannahme entsprechen. Es ist, als ob »die Gruppe affektiv so handelt«, als habe sie – auf einer von der Unfähigkeit der Individuen zur Symbolbildung gekennzeichneten Ebene – »gewisse Grundannahmen über ihre Ziele«.118 Damit ist das Denken und Handeln, der ›Gang der Ereignisse‹ stets von Annahmen oder Phantasien geprägt, die bestimmt sind, psychotische Ängste abzuwehren. Denn die Erscheinungen der Grundannahmen tragen nach Bion Merkmale einer Abwehr gegen psychotische Angst119 – welche sich niemals dauerhaft aufrechterhalten lässt. »Es ist […] nur eine Frage der Zeit, wann psychotische Angst von solcher Stärke entsteht, daß eine neue Abwehr« bzw. »ein Ventil in geschlossenem Handeln der Gruppe«120 gefunden werden muss. Wenn Bhabha der Annahme grundlegender psychotischer Muster entsprechend die Panik in ihrer Umkehrbarkeit zur Wut als »Psychose«121 der »Kampf-Flucht-Gruppe«122 interessiert, dann handelt es sich nach Bion um Affekte, die durch ein Geschehen »außerhalb der Arbeitsgruppenfunktionen der betreffenden Gruppe« veranlasst werden (z.B. durch ein Feuer in einem Theater oder Lokal, wie Freud es in der Massenpsychologie anführt) und ein der Grundannahme entsprechendes Handeln als »greifbare Möglichkeit des Affektausdrucks« oder Ventil bewirken.123 Dieses den Anlass zur Panik bildende »Außerhalb« wird von Bhabha auch als eine Art diskursiver ›Rand‹ reformuliert, wie er sich etwa in der Chapatibrot-Erzählung artikuliert124 – ein sich öffnender, Angst freisetzender und durch herrschende Wissenssysteme bzw. Geschichtsschreibungen nicht wieder einzuholender125 »Raum kultureller und interpretativer Unentscheidbarkeit«.126 Panik produziert sich demnach in der ›kontingenten‹ und ›konfligierenden‹ Berührung kultureller Differenzen, und über die sich in der »politische[n] Psychose der Panik« ergebende hybride Grenzerfahrung hinweg wird »der Aufstand ausgefochten«;127 in ihren »plötzlichen, dünnen Zeichen« wird hier (eine sozusagen ›planlose‹) rebellische Handlungsmacht geschrieben – welche nach Bhabha nicht weniger wirksam ist, »nur weil 107
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sie auf der disjunktiven oder de-plazierten Zirkulation von Gerücht und Panik basiert«128 – und sich, wie ich hinzufügen möchte, immer auch als ›Ventil‹ für grenzüberschreitende psychotische Affekte und darin wandelbare Phantasien generiert.
Schluss In Bhabhas Entwürfe hat sich eine in Frage stehende Wirkmacht westlicher Autoritätsfiguren nicht nur als Verabschiedung des Modells intentional-beherrschbarer Autorschaft eingeschrieben, das ohne weiteren Erklärungswert für kulturelle Produktionsprozesse in seinen projektiven Mechanismen selbst erklärungsbedürftig wird. An die Stelle sind Vorstellungen intersubjektiver Gewebe und Verhandlungsräume getreten, durch die sich Denk- und Handlungsabläufe vollziehen, deren Ergebnisse (zu denen auch das produzierende Subjekt gehört), weder als kausal oder absichtsvoll bestimmt noch als zufällig gelten können. Die Öffnungen und Schließungen im bzw. die Einreißungen und Fixierungen des Intersubjektiven bilden soziohistorisch je spezifische Formen und Ausprägungen. In diesem Sinne hat mich der Weg – und das Zirkulieren – meiner Lektüre von Überlegungen zum intersubjektiven, dem Denken und Handeln stets zwischengeschalteten Gewebe zu spezifisch ›zuschneidenden‹, von kolonialen Beziehungen geprägten autoritativ-machtvollen Umgangsweisen mit diesem Zwischenraum als Stereotomie, Deutungszwang oder paranoider Wahn geführt, deren Verhärtungen als ein möglicher Effekt radikaler Verunsicherungen durch eine nicht repräsentier- und unbeherrschbar bleibende kulturelle Differenz lesbar sind, von der sie immer wieder heimgesucht werden. Die u.a. jeden Wahn, Aberglauben und andere als ›westlich-rationale‹ Kenntnissysteme projektiv ausschließenden und selbst paranoiden dominanten Tendenzen produzieren immer schon unheimliche Doppelgänger und ›kontaminierte‹ (nicht einfach durch ihr Negiertsein bestimmte) Existenzen, mit denen eine Stereophonie aus fragenden, verfremdenden oder verschluckenden Stimmen, Ahnungen und Affekten die Gewissheit der Paranoia befällt. Das heißt umgekehrt auch, dass widerständiges Handeln von dem gefährlichen Wechselspiel aus Verunsicherung und Paranoia hier nicht zu trennen ist. Grenzerfahrungen ›politischer Psychose‹.
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In einem solchen Blick auf koloniale Herrschaftsbeziehungen, der die paranoid-despotischen Züge und Ambivalenzen von Autoritäten und Wissenssystemen erkennbar macht und ein radikales In-Frage-gestelltSein, einen Aufenthalt im »Außerhalb« bzw. psychotische Phantasien und Affekte in den Mittelpunkt stellt, haben sich ungewisse autoritative Instanzen, deren bindende Kraft in Frage steht, eingeschrieben. Dabei wäre die gegenwärtige Schreibperspektive, die den Fokus auf eben diese Aspekte vergangener Situationen legt, von jenen Situationen selbst mitgeprägt. Der solcherart ›zeitverschränkende‹ Blick zeichnet das Bild eines nimmer konsensuellen Gefüges, in dem sich verbindliche Bindungen dünn reiben, Bedeutungen radikal ins Ungewisse verlagern, Orte ›außerhalb‹ identifizierender Welten aufreißen und (wie auch immer wahnhafte) Ersatzbildungen wuchern. Dies gilt auch für die Schriften Bhabhas in ihrem zugleich ganz kulturellen und ganz wilden Theoretisieren, in die ich meinen Faden ›geschlagen‹ habe. Dazwischen schieben sich nicht symbolisierungsfähige Annahmen und Affekte in den Vordergrund.
Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
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Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000, S.275, S.280. Barthes, Roland: Die Lust am Text, Frankfurt/M.1996, S.74. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S.22. Vgl. ebd. Ebd., S.74 Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, a.a.O., S.271. Barthes, Roland: Die Lust am Text, a.a.O., S.75. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, a.a.O., S.270. Vgl. ebd., S.270f. Ebd., S.272. Freud, Sigmund: »Der Dichter und das Phantasieren« [1908], in: ders., Gesammelte Werke, Bd. VII, S.213-223, S.217f. Vgl. ebd. Braun, Christina von: »Der imaginäre Raum und das unsichtbare Bild«. Ein Gespräch mit Christina von Braun, in: Die Philosophin. Forum für feministische Theorie und Philosophie, Heft 17 (1998), S.75-83, S.77. Vgl. Pagel, Gerda: Narziß und Prometheus. Die Theorie der Phantasie bei Freud und Gehlen, Würzburg1984. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, a.a.O., S.270.
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Ebd., S.270, 268. Bhabha, Homi K.: The location of culture, London/New York 1994, S.181. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, a.a.O., S.267, S.270. Vgl. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, a.a.O., S.281. Bachtin, Michail M.: Untersuchungen zur Poetik und Theorie des Romans, Berlin/Weimar 1986, S.97. Ebd., S.96. Vgl. ebd., S.96ff. Ebd., S.97. Ebd., S.100f. Ebd., S.101. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, a.a.O., S.281. In The Problem of Speech Genres heißt es: »The utterance is addressed not only to its own object, but also to others’ speech about it. But still, even the slightest allusion to another’s utterance gives the speech a dialogical turn that cannot be produced by any purely referential theme with its own object. [...] We repeat, an utterance is a link in the chain of speech communication, and it cannot be broken off from the preceding links that determine it both from within and from without, giving rise within it to unmediated responsive reactions and dialogic reverberations. But the utterance is related not only to preceding, but also to subsequent links in the chain of speech communion. [...]« (Bakhtin, Michail M.: Speech genres and other late essays, University of Texas Press 1996, S.94). Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2002, S.224. Auf Arendts Verständnis kultureller Produktion im Sinne etwa des Kunstschaffens kann ich an dieser Stelle nicht eingehen. Vgl. ebd., S.224f. Ebd., S.226. Ebd. Vgl. ebd., S.219. Vgl. ebd., S.226f. Arendt, Hannah zit. n.: Bhabha, Homi K., Die Verortung der Kultur, a.a.O., S.283; vgl. Arendt, Hannah: The human condition. The University of Chicago Press 1998, S.185. Anmerkung in eckiger Klammer von mir, I.H. Arendt, Hannah: The human condition, a.a.O., S.184. Vgl. Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, a.a.O., S.227. Vgl. ebd., S.229. Vgl. ebd., S.229f.; sowie Arendt, Hannah: The human condition, a.a.O., S.185. Vgl. ebd., S.231. Vgl. Freud, Sigmund: »Zur Psychopathologie des Alltagslebens« [1901], in: ders., Gesammelte Werke, Bd. IV, a.a.O. Vgl. Arendt, Hannah: The human condition, a.a.O., S.180; sowie Bhabha, Homi K: Die Verortung der Kultur, a.a.O., S.285. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, a.a.O., S.285. Bhabha , Homi K.: The location of culture, a.a.O., S.185. Zizek, Slavoj: Der erhabenste aller Hysteriker. Lacans Rückkehr zu Hegel, Wien 1991, S.194 Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, a.a.O., S.276. Freud, Sigmund: »Zur Psychopathologie des Alltagslebens«, a.a.O., S.284. Vgl. ebd. »Die Kluft zwischen der Verschiebung des Paranoikers und der des Abergläubischen ist minder groß, als sie auf den ersten Blick erscheint.« (Ebd., S.288.) Derrida, Jacques: Meine Chancen, Berlin 1994, fol.17. Vgl. Freud, Sigmund: »Zur Psychopathologie des Alltagslebens«, a.a.O., S.286. Freud, Sigmund: »Zur Psychopathologie des Alltagslebens«, a.a.O., S.286f. Anmerkung in eckiger Klammer von mir, I.H. Derrida, Jacques: Meine Chancen, a.a.O., fol.17. Ebd. fol.20.
Phantasie | Autorität | Psychose 55 56 57 58 59
60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73
74 75 76 77 78 79 80 81 82 83
Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, a.a.O., S.278. Derrida, Jacques: Meine Chancen, a.a.O., fol.20. Ebd. Vgl. ebd., fol.19, fol.21. Beim Blick auf die dort angeführten Erkenntnisweisen erscheint die paranoide Sicht oder Erkenntnis »schärfer als das normale Denkvermögen«; zugleich ist sie wegen der »Verschiebung« des »erkannten Sachverhalts auf andere […] wertlos« zu nennen. (Freud, Sigmund: »Zur Psychopathologie des Alltagslebens«, a.a.O., S.284.) »Die dunkle Erkenntnis […] psychischer Faktoren und Verhältnisse des Unbewußten«, die »natürlich nichts vom Charakter einer Erkenntnis hat«, etwa bzgl. Aberglaube, Mythologie wie Paranoia spiegelt sich »in der Konstruktion einer übersin nlichen Realität«, die die Wissenschaft in »Psycho logie des Unbewuß ten« zurückzuverwandeln hat: Aus Metaphysik werde Metapsychologie. (Vgl. ebd. 287f.) Damit versucht Freud einen metaphysischen Diskurs ›umzusetzen‹ (Freud), der ihm allererst die Begriffe hierfür gibt. (Vgl. Derrida, Jacques: Meine Chancen, a.a.O., fol.21.) Heißt es weiter, dass nur »in unserer modernen, naturwissenschaftlichen, aber noch keineswegs abgerundeten Weltanschauung« der Aberglaube derart »deplaciert« erscheint (Freud, Sigmund: »Zur Psychopathologie des Alltagslebens«, a.a.O., S.288), so verunklaren sich die Grenzen zwischen abergläubischem, paranoidem und ›gesundem‹ Benehmen zugleich. Das Verfahren etwa, »die Außenwelt anthropomorphisch in eine Vielheit von Persönlichkeiten […]« aufzulösen, wodurch die abergläubisch gedeuteten »Zufälligkeiten« »Handlungen, Äußerungen von Personen« waren, entspricht, wie es heisst, den Paranoikern, »welche aus den unscheinbaren«, von anderen gegebenen »Anzeichen« Schlüsse ziehen, und den »Gesunden alle[n], welche mit Recht die zufälligen und unbeabsichtigten Handlungen ihrer Nebenmenschen zur Grundlage der Schätzung ihres Charakters machen«. (Ebd.) Derrida, Jacques: Meine Chancen, a.a.O., fol.20. Vgl. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, a.a.O., S.166. Ebd. Ebd., S.165. »Seid der Vater und der Unterdrücker der Menschen«, heißt es in anderem Zusammenhang. (Macaulay zit.n.: Bhabha, Homi K., Die Verortung der Kultur, a.a.O., S.141.) Vgl. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, a.a.O., S.164. Vgl. ebd., S.163ff. Ebd., S.146. Ebd., S.147. Aus einer Predigt des Erzdiakons Potts 1818, zit. n.: Bhabha, Homi K., Die Verortung der Kultur, a.a.O., S.146f. Vgl. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, a.a.O., S.148. Freud, Sigmund: »Über einige neurotische Mechanismen bei Eifersucht, Paranoia und Homosexualität« [1922], in: ders., Gesammelte Werke, Bd. XIII, S.195-207, S.199. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, a.a.O., S.148. Vgl. Freud, Sigmund: »Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia Paranoides)« [1911], in: ders., Gesammelte Werke, Bd. VIII, S.239-316, S.299ff.; vgl. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, a.a.O., S.148. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, a.a.O., S.148. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S.149f. Duff, Alexander zit. n.: Bhabha, Homi K., Die Verortung der Kultur, a.a.O., S.150. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, a.a.O., S.168 (in anderem Zusammenhang). Ebd., S.292. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/M. 1990, S.444, vgl. 440ff. Ebd., S.444. Ebd., S.444f. Ebd., S.452f.
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Insa Härtel 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106
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111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122
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Vgl. ebd., S.447. Ebd., S.451. Ebd., S.452. Ebd., S.451. Vgl. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, a.a.O., S.292f. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, a.a.O., S.293. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge, a.a.O., S.451. Vgl. ebd., S.451. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, a.a.O., S.293f. Vgl. ebd., S.294. Vgl. Guha, Ranajit: Elementary aspects of peasant insurgency in colonial India, Oxford University Press 1983, S.225. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Ebd., S.226. Kaye zit. n.: Bhabha, Homi K., Die Verortung der Kultur, a.a.O., S.300f. Vgl. Guha, Ranajit: Elementary aspects of peasant insurgency in colonial India, a.a.O., S.240. Vgl. ebd., S.242. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S.240f. Ebd., S.245. Vgl. ebd., S.243. Vgl. ebd., S.244f. Vgl. ebd., S.246. Vgl. ebd.; S.245f. Von hier aus lassen sich Verbindungen ziehen zu den oben (im Kontext Barthes/Freud) genannten ›antizipatorischen‹ Funktionen der Phantasie. Bhabhas Ausführungen in By bread alone… (1994) bestimmen die Chapati-Zirkulation wiederum im Verhältnis zur kontingenten Spannung zwischen Symbol und Zeichen, wobei das Zeichen auf ein ›entsubjektiviertes‹, intersubjektives Moment verweist, von dem ausgehend u.a. »eine (Neu)ordnung der Symbole in der Sphäre des Sozialen« (Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, a.a.O., S.286.) ermöglicht wird, wie es u.a. mit Bezug auf Lacan heißt. Im Umfeld der Ereignisse um 1857 tauchten auch Gerüchte auf, die sich etwa um eine von ›englisch-offizieller‹ Seite herbeigeführte Unreinheit z.B. durch eine Verunreinigung der täglichen Nahrungsmittel rankten. (Vgl. Guha, Ranajit: Elementary aspects of peasant insurgency in colonial India, a.a.O., S.262.) Vgl. ebd., S.261. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, a.a.O., S.307, vgl. 302f. Vgl. ebd.; S.301f. Solche Codes blieben bei Guha z.T. eine Art Grundlage für die jeweiligen Interpretationsweisen. – Auch bei Guha wird an anderer Stelle auf die ethnische Grenzen überschreitende, durch Gerüchte hervorgerufene Panik verwiesen. (Vgl. Guha Ranajit: Elementary aspects of peasant insurgency in colonial India, a.a.O., S.254.) Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, a.a.O., S.304. Vgl. ebd. Ebd., S.307. Bion, W. R.: Erfahrungen in Gruppen und andere Schriften, Stuttgart 1971, S.67. Ebd. Vgl. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, a.a.O., S.308. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, a.a.O., S.307. Bion, W.R.: Erfahrungen in Gruppen und andere Schriften, a.a.O. S.71f. Ebd.; S.140; vgl. S.139. Vgl. ebd., S.141. Ebd., S.120, S.140. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, a.a.O., S.307. Diese bildet eine der möglichen Grundannahmen, welche besagt, die Gruppe habe »sich zusammengefunden […], um gegen etwas zu kämpfen oder davor zu fliehen«. (Bion, W. R.: Erfahrungen in Gruppen und andere Schriften, a.a.O. S.111.) – »Meine
Phantasie | Autorität | Psychose
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These ist, daß Panik, Flucht und planloser Angriff in Wirklichkeit dasselbe sind«. (Ebd., S.133.) Bion, W.R.: Erfahrungen in Gruppen und andere Schriften, a.a.O. S.133f., Hervorhebung von mir, I.H. Vgl. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, a.a.O., S.308. Die Bewegung, in der das »Moment der politischen Panik« in »eine historische Narrative« transformiert wird, reißt, so heißt es, »die Stereotomie von innen/außen« nieder und rührt damit an das (traumatische, nicht-wissbare) Moment der ›Extimität‹, »um das herum der symbolische Diskurs der menschlichen Geschichte sich konstituiert«. (Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, a.a.O., S.309.) – Die Begegnung mit der (mit der Frage des Che vuoi? verbundenen) ›rätselhaften Botschaft‹ des Anderen »[…] ist der ex-time Kern der Signifizierung«, heißt es in anderem Zusammenhang bei Zizek. (Zizek, Slavoj: Die gnadenlose Liebe, Frankfurt/M. 2001, S.181f.) Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, a.a.O., S.308. Ebd., S.309. Ebd., S.310.
113
Wahn-Zeichen Literatur – Theater – Medien
Thomas Weitin
Melancholie und Medienwahn Bedingungen authentischen Lesens und Schreibens bei Goethe, Lavater und Haller
»Wie froh bin ich, daß ich weg bin!«1 Mit dem Paukenschlag eines enthusiastischen Ausrufungszeichen beginnt Werther die Korrespondenz mit seinem Freund Wilhelm, wohl wissend, dass die spontane, ungezügelte, gleichsam herausgerutschte Äußerung der Erklärung bedarf. »Dich zu verlassen, den ich so liebe, von dem ich unzertrennlich war, und froh zu sein!« Nichts anderes als die Liebe ist es auch, die zur Flucht nötigt, die Leidenschaft einer jungen Frau, die unbedacht geweckt zu haben der Enteilte sich nun anklagt: »Die arme Leonore!« Ihr Schicksal nimmt »die Geschichte des armen Werther« vorweg, deren Dokumente der anonyme Herausgeber seiner kurzen Vorrede nach »mit Fleiß gesammelt« hat, um das daraus entstandene Buch seinen Lesern zu empfehlen. Der erste Satz des Briefromans erweist sich von diesem Rand des Textes aus als Vorzeichen der späteren Fluchtversuche Werthers vor seiner unerfüllten Liebessehnsucht und bezeichnet genau genommen bereits das Ende der Geschichte, da Werther sein ›Wegsein‹ mit der Endgültigkeit eines Kopfschusses realisiert. Die Konstellation mit der editorischen Bemerkung ergibt indes noch eine weitere semantische Schicht, denn bevor überhaupt die in Briefen entwickelte Narration ihren Verlauf nehmen kann, bezeichnet das ›Wegsein‹ zunächst einmal die von Werther thematisierte Abwesenheit der Briefpartner füreinander und die 117
Thomas Weitin
strukturell gleichwertige Trennung des als Erzähler fungierenden Herausgebers von seinen Lesern. Die Vorrede übernimmt die Funktion, die für das Buch als Fernmedium konstitutive räumliche Distanz rhetorisch zu überbrücken, wozu die direkte, ein unmittelbares Gespräch simulierende Ansprache das geeignete Mittel scheint. Gleichsam im entre nous zwischen Erzähler und Leser soll der Umgang mit dem Briefroman und die Einfühlung in seinen suizidalen Protagonisten geregelt werden. »Und du gute Seele, die du eben den Drang fühlst wie er, schöpfe Trost aus seinem Leiden, und laß das Büchlein deinen Freund sein, wenn du aus Geschick oder eigener Schuld keinen nähern finden kannst.«2 Verlassenwerden und Verlust, Trennung und Abwesenheit – für diese Erfahrung gibt es, folgt man der bekannten Freudschen Dichotomie, grundsätzlich zwei Möglichkeiten der Verarbeitung: die Trauer einerseits, die den Verlust durch schrittweise Übertragung der libidinösen Bindung vom verlorenen auf ein neues, ein Ersatzobjekt kompensiert, und die Melancholie, der eben diese Ersetzung misslingt. Während sich das Subjekt nach Vollendung der Trauerarbeit wieder »frei und ungehemmt«3 bewegt, wendet der Melancholiker den Verlust auf sich zurück und verwandelt die Klagen über das, was er entbehren muss, in bittere Selbstanklagen, die Vorwürfe an den Geliebten in ausführliche Selbstvorwürfe. Es ist dieser Mechanismus der Verwandlung des Objektverlusts in einen Ichverlust,4 der Freud vom Narzissmus des Melancholikers als demjenigen Charakterzug sprechen lässt, der ihn wesensmäßig vom Trauernden unterscheide und dem Psychoanalytiker nicht eben sympathisch macht, weil die »unzweifelhaft genußvolle Selbstquälerei der Melancholie«5 mit der analog zur Trauer angestrebten ökonomischen Erklärung unvereinbar ist.6 Was Freud vor allem am Melancholiker ärgert, ist der »Zug einer aufdringlichen Mitteilsamkeit«7, sein Kommunikationsverhalten also. Die Melancholie erscheint in dieser Hinsicht als ein Zustand des geradezu manischen vor allem von sich selbst Sprechens,8 wohingegen die Trauer mit Rückzug und Schweigen assoziiert wird. Der Wahnsinn der Melancholie trägt die Züge eines überaus wortreichen »Kleinheitswahnes«, der sich »bis zur wahnhaften Erwartung von Strafe« steigern kann, in jedem Falle aber als eine Pathologie des Gewissens erscheint, als eine Überreizung der kritischen Zensurinstanz des Ichs.9 Mit der unterschwellig das Bild des extrovertierten Hypochonders unterstellenden Narzissmusthese knüpft Freud an den historisch im ausge118
Melancholie und Medienwahn
henden 18. Jahrhundert verbürgten Melancholiediskurs an, der zentraler Weise auf den Zusammenhang zwischen Selbstbeobachtung und Schwermut abstellte. Der Typus des einsamen Gelehrten und Bildungsmenschen galt aufgrund der für sein Dasein als Leser und Schreiber konstitutiven Bewegungsarmut, die man für ein Erschlaffen der Nerven, mangelnde Blutzirkulation und eine prekäre Verdauung verantwortlich machte, als prädestiniert für Melancholie und Hypochondrie, ja sogar als potentiell Suizid gefährdet.10 Die breite Durchsetzung der Schriftkultur infolge der Aufklärung und die rasche Entwicklung des Buchmarktes führten zu »Vielschreiberey«11 und ›Lesesucht‹,12 wie die häufig geprägten, pathologisierenden Beschreibungen des Mediennutzungsverhaltens lauteten. Vor allem die bürgerlichen Gelehrten hatten leichten Zugang zu Büchern als den Quellen eines immer reichhaltiger sprudelnden Wissens, das nicht zuletzt, etwa in Gestalt medizinischer und pädagogischer Abhandlungen, sie selbst betraf und von ihnen zur Schärfung gerade der Selbstbeobachtung genutzt werden konnte, die niedergeschrieben und publiziert wurde, um wiederum anderen bei der Justierung der ihrigen behilflich zu sein. Lesen und Schreiben war im ausgehenden 18. Jahrhundert eingebunden in eine Aufmerksamkeitsspirale, die im Einzelfall hypochondrisch-melancholische Dimensionen annehmen konnte und also für die Autoren die Möglichkeit in sich barg, »sich selbst krank zu schreiben«.13 Wer sich mit fortschreitendem Wissen genauer zu analysieren in der Lage war, konnte stetig mehr Fehler und Abweichungen an sich erkennen und Grund zur Schwermut finden. Bedenkt man, dass das Genre der Tagebuch- und Bekenntnisliteratur im 18. Jahrhundert vornehmlich dem protestantischen Predigermilieu des deutschen Pietismus entstammte, verwundert es nicht, dass der melancholische »Kleinheitswahn« zu dieser Zeit hauptsächlich religiöse Züge trug. Goethes Epoche machender Werther-Roman schreibt sich vor diesem Hintergrund ein in die zum Teil hitzig geführte Debatte um Publizität und Volksaufklärung, die in der Mitteilung und literarischen Darstellung des Suizid ihren umstrittensten Gegenstand hatte.14 Während die konsequenten Befürworter des für die sich herausbildende bürgerliche Gesellschaft maßgebenden Öffentlichkeitsprinzips auf die abschreckende Wirkung von Selbstmord-Geschichten setzten, warnten Kritiker vor möglichen Nachahmern. Ein Skandalbuch war der Werther vor allem deshalb, weil er sich keiner der beiden bis heute gern eingenommenen Positionen 119
Thomas Weitin
des aufklärerischen oder skeptischen Medienverständnisses anschloss, sondern den ›dritten Weg‹ der Empfindsamkeit einschlug.15 Während Lessing verlangte, »ein so warmes Produkt« wie der Werther benötige eine »kalte Schlußrede« (»je cynischer je beßer!«),16 fand Goethe für den zunächst anonym erschienenen Text mit dem fiktiven Herausgeber eine Instanz, die die Rezeption in seinem, d.h. im empfindsamen Sinne lenken sollte. In der bereits zitierten Vorrede ergeht indes an die Adresse jener, die »ebenden Drang« wie der Titelheld verspüren, nicht nur die gewagte Aufforderung, sich Trost durch Einfühlung in die Leiden des anderen zu suchen, es ist die Kommunikationssituation selbst, die Situation des Schreibenden und des Lesenden, die hier als strukturell melancholische angesprochen wird. Der Herausgeber beschreibt seine Rezipienten als einsame Leser, die aus »eigener Schuld« oder aber, was in diesem Zusammenhang entscheidender ist, »aus Geschick« keinen anderen »Freund« als das vor ihnen liegende Buch ihr eigen nennen können und den Verlust des Autors als eines Gegenübers zu beklagen haben, das ausgefallen ist, noch ehe Werther der »Krankheit zum Tode«17 namens Melancholie zum Opfer fällt.18 Die Rückseite der ›schicksalhaft‹ erfahrenen Medialisierung der Gesellschaft durch Buchmarkt und Schriftverkehr ist ihre nicht minder wirkungsmächtige Individualisierung, die jenseits der für die ständische Ordnung noch prägenden Gruppenzugehörigkeit Privatheit zur Lebensgrundlage werden lässt.19 Für die Literatur bedeutet dies den Verlust von Autormacht20 infolge der Umstellung der Lektüre von der rhetorischgemeinschaftlichen Organisationsform des lauten Vorlesens auf die seit Bodmers berühmter Formulierung sprichwörtliche »Einsamkeit des Cabinets«, das individuelle Lesen »mit leiser Stimme« und »ohne Zeugen«.21 Leseanweisungen wie in der Vorrede zum Werther versuchen, die radikale hermeneutische Unsicherheit und Leere auszugleichen, und beschwören damit zugleich das tief Melancholische des medialen Wandels herauf, der einen Verlust darstellt, bei dem man im Sinne Freuds »nicht deutlich erkennen« kann, »was verloren wurde«.22 Die Unfähigkeit, den Verlust auszugleichen, liegt darin begründet, dass er notwendigerweise ungewiss bleiben muss.
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Melancholie und Medienwahn
– von eigener Hand Die melancholische Kommunikationssituation, das ›Wegsein‹, das der Roman seinen Titelhelden doppelsinnig erleben und bis zur radikalen Konsequenz durchleiden lässt, bezeichnet den Verlust des Unmittelbaren, das damit in einen imaginationsbedürftigen Zustand rückt. »Einsamkeit« verlangt nach »Einbildungskraft«, die Werther indes nicht wie gewöhnliche Menschen »mit so viel Emsigkeit« auf »das Vergangene« richten, sondern mit dem Gestus desjenigen, der auf all seinen Erfahrungen den »Stempel des Genies« spürt, darauf verwenden will, »das Gegenwärtige« schöpferisch anzueignen.23 So schreibt er Wilhelm gleich zu Beginn von einem »paradiesischen« Garten, der die »Gegenwart des Allmächtigen« fühlbar werden lasse.24 Ebenfalls von Anfang deutlich ist indes das Repräsentationsproblem, das die vom empfindsamen Helden habitualisierte Genie-Ästhetik mit sich bringt: ihr totalisierender Anspruch auf Authentizität. Mit Blick auf die erhabenen Empfindungen in dem erwähnten Garten versagt dem Briefschreiber das Ausdrucksvermögen. Er gesteht dem Freund: »Aber ich gehe darüber zugrunde, ich erliege unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen.«25 Ist es hier noch das genietypische Überborden der Einbildungskraft, das den Ausdruck verhindert, wird Werther am Ende schwermütig, weil er sie gänzlich verliert. »Ich leide viel, denn ich habe verloren, was meines Lebens einzige Wonne war, die heilige, belebende Kraft, mit der ich Welten um mich schuf; sie ist dahin!«26 Wenig später muss der Herausgeber zur Fortsetzung der Narration eingreifen, weil die Quellengrundlage der hinterlassenen Briefe immer dünner wird. Dem Scheitern der Liebe korrespondiert das Scheitern Werthers als Autor (und Maler), und beides liegt in einem Authentizitätsanspruch begründet, der sich nicht nur auf den künstlerischen Ausdruck, sondern auf grundsätzlich alle Äußerungen des Lebens bezieht. In seinen Reflexionen über Malerei und Dichtung vertritt Werther – wiederum in typischer Geniepose – eine radikal normenkritische Position, der zufolge Regeln »das wahre Gefühl von Natur und den wahren Ausdruck derselben zerstören«, weshalb er beschließt, sich »künftig allein an die Natur halten« zu wollen.27 Als großer Maler fühlt er sich in dem Augenblick, da er Naturerlebnisse rein genießt und »nicht einen Strich«28 zu Papier bringt. Anstelle des »dreimal« angefangenen Porträts von Lotte entsteht so letztlich nur ein »Schattenriß«.29 Ins Sprachlich-Literarische gewendet, lautet das repräsentationskritische Credo: »Was braucht’s Namen! er121
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zählt die Sache an sich!«30, und eben diese Maxime leitet Werther auch bei der Erfassung der gesellschaftlichen Realität sozialer Beziehungen unter dem Idealbild unmittelbar sympathetischer Gemeinschaftlichkeit, wobei der Werther-Roman gegen das Bestreben seines Protagonisten den Bruch zwischen der Natur der Empfindung und ihrer Repräsentation nachgerade hervortreibt.31 So kommt der inaugurale Moment innerlicher Übereinstimmung mit Lotte, als beide nach dem Ball ein abziehendes Gewitter beobachten, nicht durch die gemeinsam erlebte Natur ›an sich‹, sondern durch ein literarisches Zitat zustande, das diese bezeichnet: »[I]hr Blick durchdrang die Gegend; sie sah gen Himmel und auf mich, ich sah ihr Auge tränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte: ›Klopstock!‹«32 Bedingung von Werthers Authentizität ist die unmittelbare Ausdruckshaftigkeit der von ihm in empfindsamer Manier verehrten Odendichtung, deren Gattungskonventionen die vermeintlich unmittelbare Wahrnehmung vorstrukturieren und den empfindsamen Augenblick nur in der Aporie stattfinden lassen, sich im Bezug auf ein Drittes entäußern zu müssen, um ganz bei sich selbst oder dem anderen zu sein. Diese Aporie bleibt für den Leser Klopstocks und Ossians trotz seiner zur Schau gestellten Abscheu Büchern gegenüber unhintergehbar.33 Wirklich authentisch kann er nur werden, indem er das ›Wegsein‹ der mittelbaren Medienwelt tatsächlich ins Unmittelbare wendet und mit seinem Selbstmord die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes erfüllt: von eigener Hand.
Geheimnis und Öffentlichkeit, Aufmerksamkeit und Zerstreuung Unter den Bedingungen nachhaltiger Schriftlichkeit, die die Distanz zwischen Autor und Leser zum Normalfall werden lassen, wächst der auf der Literatur lastende Druck des Authentischen. Das bedeutet gemäß der von Koschorke beschriebenen Mediologie des 18. Jahrhunderts, dass just in dem Moment, da die Schriftkultur breite Bevölkerungsschichten erreicht, die Imagination unmittelbarer Gesprächssituationen zum literarischen Standard wird. Die maßgeblichen Medien der kompensatorischen Vergegenwärtigungsphantasien sind Brief und Briefroman, die in nie gekannter Frequenz ausgetauscht und publiziert werden.
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Melancholie und Medienwahn
Hinzu tritt eine im Sinne der alten Bedeutung des transitiven Verbs ›authentisieren‹ verfahrende Rhetorik der Beglaubigung, die den Lesern »ohne Zeugen« eine zeugenschaftliche Literatur an die Hand gibt. Kein empfindsamer Roman, der seine Authentizität nicht als ›wahre Geschichte‹ beglaubigte, und kein Tagebuch, dessen ›Echtheit‹ sich nicht Auflagen steigernd auswirkte. Johann Georg Heinzmann betont, als er 1787, zehn Jahre nach dem Tod des Mediziners, Naturwissenschaftlers und Dichters Albrecht von Haller dessen Tagebuch herausgibt: »Ich habe keine Kopie[,] sondern die Originalhandschrift vor mir. Ehrwürdig in mehr als einem Betracht ist mir diese Reliquie!«34 Die Veröffentlichung, eine eigenartige Kompilation aus den Rezensionen Hallers und dem eigentlichen Tagebuch in Gestalt der Fragmente religiöser Empfindungen folgt dem erklärten Ziel, die Gerüchte über die angebliche Ungläubigkeit des aufgeklärten Wissenschaftlers und Lehrdichters zu zerstreuen, der erst nach dem Tod seiner beiden ersten Ehefrauen und eines seiner Söhne zum kirchlich gläubigen Protestanten wurde und in den vierzig Jahren, die die Aufzeichnungen erfassen, an periodischen Depressionen und häufigen religiösen Selbstzweifeln litt. Allein sein manisches Arbeiten,35 insbesondere die ständige, auch während des Essens, bei Spaziergängen und zu Pferde nicht unterbrochene Lektüre von Büchern vermochte seine abgründige Melancholie zeitweilig zu verdrängen.36 Die Publikation des von monotonen Selbstbezichtigungen und steter Strafgewissheit geprägten »düstern Tagebuches«37 bewirkte freilich zumindest in der Forschung das glatte Gegenteil des vom Herausgeber erhofften Effekts; die höchst privaten Aufzeichnungen gelten heute als Beleg für die Unfähigkeit Hallers, seine wissenschaftlichen Überzeugungen mit seinem Glauben in Einklang zu bringen.38 Gleichfalls bekannt ist, dass sich Haller Zugang zur Religion von einem jungen Mann erhoffte, dessen private Tagebücher eine außerordentlich große Breitenwirkung39 haben sollten: Johann Kaspar Lavater.40 Sein Geheimes Tagebuch. Von einem Beobachter seiner Selbst erschien 1771 anonym und ohne sein Wissen unter der Herausgeberschaft des reformierten Leipziger Predigers Georg Joachim Zollikofer, der es in seiner ausführlichen Vorrede mit dem Hinweis authentisiert, »daß es das wahre und ächte Tagebuch eines Mannes ist, dessen erste und letzte Angelegenheit es war, sein Herz genau zu kennen«.41.Der Authentizitätsan123
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spruch einer Publikation lässt sich nicht deutlicher untermauern als mit der durch und durch paradoxen Veröffentlichung einer als fortan ›geheim‹ genannten Schrift, wozu es freilich im Falle des Lavaterschen Tagebuchs einer ebenso abenteuerlichen wie umständlichen Konstruktion bedarf. Lavater ließ der Überlieferung Mary Lavater-Slomans nach seine Aufzeichnungen im Kreise seiner Freunde kursieren, um sie anschließend wieder zu ›vergessen‹42 und also vollkommen überrascht zu werden von der Veröffentlichung durch Zollikofer, dem sie von einem anonymen Zuträger aus dem Freundeskreis zugespielt worden waren. Der anonyme Bote hatte derweil nicht nur die genannten Daten und Orte vielfach geändert, sondern auch eigene Texte hinzugefügt, und Zollikofer hatte seinerseits den Text redaktionell bearbeitet, d.h. Anmerkungen zu Stellen geschrieben, bei denen er anderer Meinung war, und Passagen gestrichen, die ihm die Identität des geheimen Autors zu verraten schienen.43 Das »wahre und ächte Tagebuch« lag hier also ebensowenig vor wie im Falle Hallers, dessen Herausgeber Heinzmann nur jene Bruchstücke der persönlichen Aufzeichnungen publizierte, die seine These vom gläubigen Haller zu belegen schienen, und etwa alles, was auf Englisch verfasst worden war, wegließ.44 Anders als Haller hatte Lavater die Gelegenheit, im zweiten, von vornherein von ihm autorisierten Band des Tagebuchs, der 1773 erschien, zur Editionssituation des ersten und zum Problem der ›erdichteten Authentizität‹ Stellung zu nehmen. Er tut dies in einem Brief an den Herausgeber, in dem er ausführt, seine »Privatgeschichte« sei in dem Buch »auf mancherley Weise zerstückt, versetzt, verändert, umgestaltet und gedruckt« worden, so dass er im Grunde berechtigt sei, »diese Schrift nicht für mein Werk zu erklären«.45 Gleichwohl bestehe kein eigentlicher Widerspruch zur Echtheitserklärung der Publikation, da zwar »viel an der äußerlichen Geschichte, an der Form erdichtet«46 worden, der moralische Gehalt hingegen davon unberührt geblieben sei. Lavater, der die religiös motivierten Selbstbeobachtungen mit dem Ziel aufzeichnete, alle seine alltäglichen Sünden schonungslos offen zu legen, mokiert sich ausdrücklich über einzelne Passagen der veröffentlichten Fassung, die ihn bei rein vergnüglichen und wenig kontemplativen Verrichtungen zeigen (»Ich bin niemals Schlitten gefahren.«), und weiß sich doch mit dem Herausgeber darin einig, dass der vom Buch erhoffte pädagogische Effekt an der Beobachtung und ihrer Interpretation als solcher und nicht an ihren austauschbaren Gegenständen festzu124
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machen ist. Wo sich fehlerhafte Verhaltensweisen wie Eitelkeit und Zerstreuungssucht konkret äußern, sei letzthin sekundär, im Vordergrund stehe die Sensibilisierung der Leserschaft für die bürgerliche Tugend der Aufmerksamkeit sich selbst gegenüber. Der Herausgeber bestimmt als »Hauptabsicht« der Publikation, »christliche Leser zum Nachdenken über sich selbst, zur genauen Beobachtung und Prüfung ihrer Gesinnungen und ihres Verhaltens zu erwecken«.47 Als Aufmerksamkeit sich selbst gegenüber wird Authentizität von einer philologisch-historischen und editionskritischen zu einer psychologischen Kategorie, die als solche dem individuellen Bezogensein auf Gott Ausdruck verleihen und zum zentralen Motiv und Movens pietistischer Religionsausübung werden kann. Sie wird zum Dreh- und Angelpunkt des Lavaterschen Tagebuches und seiner spezifischen Melancholie. Die Eintragungen, die der publizierten Fassung nach den gesamten Januar 1769 behandeln, sich indes über die verzeichneten Ereignisse, vor allem den alles dominierenden Tod eines nicht näher bezeichneten engen Freundes (es handelt sich um Felix Heß, der Lavater und seine Frau 1767 getraut hatte) dem für Lavaters religiöse Entwicklung entscheidenden Jahr 1768 zuordnen lassen, zeigen das permanente Ringen des Autors um die richtige Aufmerksamkeit und die allgegenwärtige Bedrohung durch ihr Gegenteil, die Zerstreuung. Dabei ist die Suche nach der richtigen Haltung zum Leben wie zum Glauben eingelassen in die gleichfalls omnipräsente Vanitas-Problematik, die in Gestalt eines anfänglichen Bildes des Verfassers am Schreibtisch mit Sanduhr und Totenkopf sowie eines als Schlussbild fungierenden Stillebens, das ein Buch, eine Waage und wiederum Sanduhr und Totenkopf versammelt, auch symbolisch den Rahmen der Publikation abgibt.48 Die ersten Zeilen des Tagebuchs handeln dementsprechend von der melancholischen Erfahrung schlechthin, der Erfahrung der Endlichkeit des Daseins und des ewigen Kreislaufes von Entstehen und Vergehen: »Um drey Uhr des Morgens erwachte ich, und hörte den Nachtwächter. Ich höre ihn niemals, ohne eine gewisse süße Melancholey, die mit einer feinen Empfindung der Flüchtigkeit meines Lebens, und mit dunklen Vorstellungen von wachenden Weisen, seufzenden Kranken, Gebärenden, Sterbenden u.s.w. verbunden ist.«49 Diese Art des Notats tritt im Tagebuch als Topos auf, der immer wieder die Eintragungen eröffnet und sich durch die Verbindung mit dem Ethos protestantischer Zeitökonomie in ein agonales Schema fügt: Aufmerksamkeit muss erkämpft werden. »Die Glocke schlug sieben. Nun erwachte das Gefühl meiner 125
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Sterblichkeit wieder. Schon wieder eine halbe Stunde hingetändelt [...].«50 »Ja! Harten Kampf kostete es, bis ich meinen Geist heute frühe zum Gebethe gesammelt hatte [...].«51 Misslingt dies, ist es ein »entsetzlich zerstreuter Tag«, den Lavater als verschenkt beklagt. »Ich konnte weder lesen, noch denken, noch arbeiten; aber durch meine eigene Schuld.«52 Wenn Lavater schreibt, unter »Zerstreuung« müsse all das verstanden werden, was den einzelnen vom »Endzweck« seines Daseins ablenke und ihn hindere, seiner »Bestimmung« gemäß zu handeln und zu denken,53 wird im Umkehrschluss der Sinnhorizont aufmerksamer Selbstbeobachtung deutlich, der darin liegt, durch Fokussierung des Individuellen dessen eschatologische Dimension zu erfahren, seine eigentliche Bedeutung, die nur in einem ihm voraus liegenden Allgemeinen liegen kann. Die Technik der Selbstbeobachtung, die als Wegbereiterin von Psychologie und Psychoanalyse gilt, greift damit auf die für das 17. Jahrhundert prägende Erfahrung der Preisgegebenheit der Natur gegenüber ihrem Schöpfer zurück. »In kontemplativer Schwermut vermeint das gespannte Horchen in den Bewegungen der eigenen Psyche zugleich den Puls des Alls zu vernehmen. Als Passivität der Wahrnehmung ist die Schwermut Passion am Vernommenen, in dem sich je das Ganze als Natur offenbart.»54 Lavaters allmorgendliche Vanitas-Erweckungen stellen die Melancholie als ein Medium der Selbstbeobachtung aus, das stabile Sinnrelationen dort etablieren kann, wo es den einzelnen befähigt, sich als Teil eines höheren Ganzen zu begreifen, zu dem er trotz oder gerade wegen der Einsicht in die Vergänglichkeit des eigenen Daseins in ein Verhältnis symbolischer Stellvertretung tritt. Deshalb kann die melancholische Erfahrung in der für den zeitgenössischen Diskurs typischen Abgrenzung von pathologischer Schwermut »süß« genannt und entsprechend der gängigen Vorstellung intellektueller Kontemplation in der »Einsamkeit des Cabinets« bildhaft repräsentiert werden. Dass für Lavater indes mit der medialen Melancholie über die Kontemplation hinaus noch mehr auf dem Spiel steht, liegt in der grundsätzlichen theologischen Wendung begründet, die er während des Jahres 1768 vollzieht. Er gibt die bislang vertretene milde Aufklärungstheologie auf zugunsten einer radikalen Christologie, deren Wunderglaube viele der ursprünglichen Weggefährten und Anhänger verstört. Durch den unmittelbaren Bezug zu Christus soll der einzelne Mensch bereits zu Lebzeiten himmlischer Kräfte teilhaftig werden. So glaubt der ausgebil126
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dete Pfarrer, durch intensives, aufmerksames Beten den verlorenen Freund Felix Heß ins Leben zurückrufen zu können, und imaginiert sich damit nicht nur zum symbolischen Stellvertreter des Heilandes, sondern direkt in die Christus-Position. Diese imaginäre Direktheit aber besitzt bei Lavater einen systematischen Status. Hinter dem, was die Kritiker als ›Wunderwahn‹ belächelten, steht ein ›Medienwahn‹ im Sinne des unbedingten Begehrens nach Unmittelbarkeit. Lavater sucht Beweise für und Gewissheit über das Fortwirken Gottes in der Gegenwart und nimmt Kontakt zu mehreren Personen auf, denen der Ruf, ein ›Medium‹ zu sein, vorauseilt.55 Die mediale Disposition seines Anliegens in ihrer dramatischen Dimension erfassend, formuliert er: »Mit Jesu Christo in eine reelle correspondenzmäßige Connexion zu kommen und einige Auserwählte in eine solche zu bringen, ist der Zweck meines Lebens. Erreiche ich diesen Zweck nicht, so ist mein Denken Irrthum, all mein Bedürfniß Täuschung, all mein Ahnen Wahnsinn.«56 In der Manier eines Vielbriefschreibers, der »geradezu süchtig«57 ist nach Kontakten, geht es Lavater darum, die melancholische Kommunikationssituation seines Glaubens, die Abwesenheit und den Tod des ursprünglichen Autors58 des neuen Testaments, durch ein ›Medienwunder‹ zu überwinden. Ein solches Streben nach Gewissheit durch Unmittelbarkeit steht anders als die »süße Melancholey« der Kontemplation unter dem Vorzeichen des Pathologischen. Den verlorenen Anderen qua Einbildungskraft als präsent zu imaginieren und eins mit ihm zu werden, ist im Einklang mit Lavaters Übertragung des Geniegedankens auf das Religiöse eine Art hypothetischer Wahnsinn, der das Ahnen und Wähnen der Offenbarung mit einer auf Direktkommunikation (Kommunion) abgestellten Erwartung verknüpft. Dabei wirkt das HypothetischTeleologische des Ansatzes als eine Schutzvorstellung, die verhindern soll, dass der latente Wahn des Religiösen mit einem Schlag manifest wird. Die gesetzte religiöse Gewissheit ist als Medienwahn ein Wahn des Wissens, der bei aller Obskurität der ›Versuche‹, die der populistische Theologe unternimmt – mit menschlichen Medien oder der Hilfe des Geistersehers Emanuel Swedenborg, die er zur Kontaktaufnahme mit seinem toten Freund vergeblich in Anspruch zu nehmen sucht –, symptomatisch für die neuzeitliche Situation des Wissens einsteht. Wo die durch die Aufklärung universalisierte Wirkungsmacht epistemischer 127
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Wissensformen sämtliche Lebensbereiche durchdringt, wird nicht die Sicherheit des Wissens, sondern der wohl kalkulierte wissenschaftliche Zweifel, die Hypothese, zum Paradigma. ›Gewissheit‹ findet einzig als religiöse Heilsgewissheit, als Glauben, einen Ort, der freilich nicht mehr vorbehaltlos sicher ist, wenn man ihn, und sei es nur rhetorisch, mit den Versuchsanordnungen wissenschaftlicher Evidenzproduktion in Verbindung bringt, wie es Lavaters Jagd nach Beweisen ganz offensichtlich tut. Dann droht der Wille zum Wissen zum Wissenswahn oder zur Wahngewissheit zu werden.
Glauben und Gewissheit Der Konflikt zwischen Glauben und Wissenschaft war für Albrecht von Haller seit dem ›Schicksalsjahr‹ 1736, dem Tod seiner Frau Marianne und dem Beginn seiner religiösen Aufzeichnungen, ein stetiges Problem. Der Naturwissenschaftler schrieb und lebte unter der Voraussetzung, dass »die Wahrheit in einem Abgrunde liege, über welchen wir keine Brücke haben«59. Haller notierte dies in einem mit Vom Nutzen der Hypothesen übertitelten Text, der die »Gewissheit« als »ein ächtes Gold« metaphorisiert, dessen höchster Wert ohne Zweifel, aber überaus rar sei, so dass, um das »Gewerbe unter den Gelehrten zu erhalten«, die »Nothmünze« bloße Wahrscheinlichkeit begründender hypothetischer Annahmen in Umlauf gebracht werden müsse.60 »Sie werfen nämlich Fragen auf, deren Beantwortung von der Erfahrung gefordert wird, und die ohne Hypothesen uns nicht eingefallen wären, eine Wirkung, die ihren unsäglichen Vortheil in den Wissenschaften hat.«61 Seine »Schutzreden für die Hypothesen« gleichsam in das rechte Licht rückend, warnt Haller jedoch davor, Wahrheit und Wahrscheinlichkeit zu verwechseln: »Nein; der Mond wird niemals wie die Sonne scheinen, aber doch ist sein schwächerer, sein kalter Schimmer uns nützlich.«62 Hallers virtuoses Wechselspiel von Aufklärungs- und Ökonomiemetaphorik wirft ein Schlaglicht auf das Jahrhundert der Wahrscheinlichkeitstheorien63 und der Entstehung des Wissenschaftsmarktes im engeren Sinn. Das von Heinzmann kompilierte Arrangement der Rezensionen und anderer kleinerer Wissenschaftstexte Hallers mit den Fragmenten religiöser Empfindungen führt vor diesem Hintergrund zu dem merkwürdigen Befund, dass Hallers religiöse Krisen durchaus nicht auf intellektuelle Zweifel des Wissenschaftlers an Glaubenstatsachen zu128
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rückzuführen sind. Als Physiologe stellt Haller empirisches Erfahrungswissen über die durch Deduktion gewonnene Vernunftwahrheit, die ihm zwar zur Hypothesenbildung unverzichtbar, zur wahrheitsgemäßen Erfassung der Wirklichkeit hingegen sekundär scheint.64 Zu diesem Erfahrungswissen zählt er ausdrücklich auch die christliche Offenbarung, sofern sie durch Wunder verbürgt ist, die wiederum durch Zeugen beglaubigt werden können. Während es zum Wesen von Wundern gehört, sich der Prüfung durch Erfahrung und Vernunft zu entziehen, kann die Glaubwürdigkeit von Zeugen nach ihren Maßstäben beurteilt werden.65 Mit dieser Rationalisierung der Religion scheint Haller der Lavaterschen Beweissuche recht nahe zu kommen, was durch die biographische Tatsache belegt wird, dass der berühmte Arzt zur Begutachtung einer Frau gerufen wird, in der Lavater ein Medium Gottes gefunden zu haben glaubt.66 Das Gutachten fällt indes negativ aus, und Lavater weiß daraufhin »nicht, was er denken soll […] vor allem suchen, forschen, beobachten«.67 Hier offenbart sich exemplarisch der Unterschied zwischen dem Theologen und dem Naturwissenschaftler, denn während Lavater mit dem Gestus des Empirischen weiter nach Beweisen ›forscht‹, geht es Haller, was seine religiöse Überzeugung betrifft, um eine andere Perspektive. Gerade weil die Wahrheit der Offenbarung im goldenen Licht der Gewissheit glänzt, weil sie gar die Voraussetzung für die vernünftige Erkenntnis der Natur abgibt, zählt sie gemeinsam mit Erfahrung, Vernunft und Geschichte zu den theoretischen Wahrheiten, denen der gläubige Protestant eine Wahrheit des Glaubens gegenüberstellt, die jenseits der Vernünftigkeit der Offenbarung, des Für-Wahr-Haltens der Auferstehung Christi, rein auf Empfindung beruhen soll, als Herzensreligion im pietistischen Sinne. Während Lavater sein Wähnen und Ahnen zum wissenschaftlichen Wissen aufzuwerten trachtet, sucht Haller das Gefühl des Religiösen in seiner Alterität zu belassen. Als zentrales Problem erweist sich dabei die im Tagebuch viel beklagte »Unempfindlichkeit«68 gegen Gott, der bei Lavater gleichfalls virulente Zustand der Zerstreuung, den Haller in erster Linie auf die Ablenkung durch Arbeit und insbesondere auf »die Lektür verfluchter Bücher«69 zurückführt, medizinischer Darstellungen vermutlich, die seine Einbildungskraft okkupieren und ihn vom Lesen in der Heiligen Schrift abhalten. »Ich hefte meine Augen auf anzügliche Stellen in Büchern, ich wende sie von der Offenbarung und geistlichen Dingen ab«,70 heißt es
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im typischen Ton melancholischer Selbstanklage, den Haller über vierzig Jahre lang beibehält. Nicht nur das Lesen, auch das Schreiben wird in diesem Zusammenhang problematisch. So wie er einerseits den stockenden Aufzeichnungsfluss als Vergessen Gottes interpretiert – »Dieses lange Intervallum bedeutet nichts Gutes« –, befürchtet er andererseits ein Übergreifen seiner arbeitsmäßigen »Werksucht« auf das dann niemals tief genug gehende Schreiben:71 »Vielleicht wäre es besser, wenn ich nur lieber nichts mehr hier aufzeichnete.«72
Protokoll und Register Die authentische Darstellung der Empfindung ist ihre Nicht-Darstellung. Die Werthersche Lösung des Dilemmas kann jedoch für Tagebuchautoren, die dem protestantischen Imperativ zur Selbstbeobachtung folgen, kein Ausweg sein, weder für Haller noch für Lavater. Letzterer baut sein Tagebuch deshalb zu einem Aufschreibesystem aus, das die emphatische christologische Vorstellung offenbarungsmäßiger Direktkommunikation auf das Verhältnis von Autor und Leser überträgt. An den entscheidenden Stellen gibt er seinen Aufzeichnungen durch Tempuswechsel den Charakter eines Echtzeitprotokolls, das Schreiben und Beschriebenes direkt zusammenführt und derart im Medium der Schrift Unmittelbarkeit simuliert. So notiert er angesichts seines sterbenden Freundes: »Ich wagte es, mein Tagebuch hervorzuziehen, und es bis hierher fortzusetzen, und nun wage ich es unter öfterm Verhorchen meines Freundes einige Gedanken bey seinem Sterbebette niederzuschreiben... Denn ich weiß, welchen Eindruck nachgehends solche Erinnerungen zuweilen auf mein Herz zu machen pflegen.«73 Die rezeptionsästhetische Erwägung deckt sich mit dem Wandel in der Bewertung der Medientechnik des Protokollierens, der sich im Laufe des 18. Jahrhunderts vollzieht. War bis dahin etwa für die Beteiligten eines Gerichtsverfahrens klar, dass ein wortgetreues Protokoll bedeutete, mit der Verschriftlichung solange zu warten, bis an der Aussage eines Beschuldigten oder Zeugen kein Zweifel mehr besteht, setzt sich nun die Auffassung durch, dass das Protokoll eine exakte, in Echtzeit stattfindende technische Aufzeichnung sein kann, die unabhängig vom Willen des Subjekts die reine Materialität seiner Aussage verzeichnet.74 Das 130
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Protokoll wird zu einem Überwachungsmedium, dem man zutraut, jedwede Verdachtszeichen unmittelbar zu erfassen; und so scheint es nur konsequent, das Lavaters um Exaktheit bemühte Selbstbeobachtung sich dieses technische Dispositiv zu eigen macht. Von solch ausgefeilter Technik zur Simulation von Authentizität ist das Tagebuch Hallers weit entfernt. Anders als es der vom Herausgeber gewählte Titel nahe legt, sind die Notizen durchaus nicht in erster Linie vom Streben nach detaillierter Selbstbeobachtung bestimmt, sondern stellen, wie Haller selbst es nennt, ein »Sündenregister« dar, in das seine Schuld, von der er fest überzeugt ist, immer aufs Neue eingetragen wird, ohne daraus eine Geschichte fortschreitender Erkenntnis und Selbstbildung zu entwerfen.75 Zum reinen Registrieren hatte Haller bereits als Kind eine starke Neigung, da er wie später auf seinen Reisen über sämtliche Ausgaben gewissenhaft Buch führte.76 Transponiert zum Medium der Gedankenführung, liegt der Effekt des Registers weniger in der Präzision des Verzeichneten als in der Monotonie des Aufzeichnens selbst, das nichts Neues, sondern ewig Gleiches festhält. »Alles in gleichem elenden Zustande», »Weit schlechter als jemals», »Schon lange nichts göttliches mehr« und vor allem: »Nichts gebessert« lauten typische Hallersche Einträge,77 die den Ton einer Melancholie anschlagen, die von Lavaters reflektiert-kontemplativer Schwermut in erster Linie durch ihre für die Schreibweise eines Dichters erstaunliche Spracharmut zu unterscheiden ist. Halt findet Haller in der Wiederholung typisierter Formulierungen, die als solche die Aporien des authentischen Aufzeichnens von vornherein umlaufen. Während Lavaters Authentizitätssimulation auf die präzise Wiedergabe trauriger Empfindungen zielt und zu diesem Zweck die Leser gleichsam mit am Sarg des toten Freundes sitzen lässt, geht es bei Haller weniger um die Abbildung als vielmehr um die Induktion jener traurigen Stimmung, in der er sich empfindlich gegen Gott weiß. In der Rückschau auf sein poetisches Schaffen stellt er eine direkte Verbindung her zwischen dem seinen Gedichten eigenen »schwermüthigen Ton« und einer »gewissen Armuth im Ausdrucke«, die er aus der »sehr unreinen Mundart« seines Heimatlandes, einem konstitutiven Fremdsein in der Sprache also, erklärt.78 Im ›Sündenregister‹ findet er ein Medium, das die Fremdheit in der Sprache von sich aus evoziert und Melancholie befördert als einen ›anderen Zustand‹, der nicht Mittel zum Zweck, sondern selbst schon Erlö131
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sung ist vom Druck der Authentizität. Zeit seiner Aufzeichnungen fragt sich Haller in Phasen der Zerstreuung, ob er sich zur eigenen Sammlung »von Gott die Krankheiten, die Schwermuth wieder zurückerbitten«79 soll. Die melancholische Registratur hat die Antwort je schon verzeichnet.
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Goethe, Johann Wolfgang von: »Die Leiden des jungen Werther«, in: ders., Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 6, Hamburg 1965, S.7-124, S.7. Ebd. Freud, Sigmund: »Trauer und Melancholie«, in: ders., Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften. Frankfurt/M. 1993, S.175. »Bei der Trauer ist die Welt arm und leer geworden, bei der Melancholie ist es das Ich selbst.« (Ebd., S.176.) Ebd., S.181. Die während der Abfassung von Trauer und Melancholie schier endlos tobenden Materialschlachten des Ersten Weltkrieges dürften gleichfalls zur Abwehrhaltung der Melancholie gegenüber beigetragen haben. In diesem Zusammenhang wäre es interessant zu untersuchen, inwiefern das ökonomische Primat der Kriegswirtschaft auf Freuds Behandlung des Problems durchschlägt. Als Gutachter, der über die Glaubwürdigkeit von kriegsuntüchtigen psychisch Kranken zu entscheiden hatte, war Freud Teil der ›totalen Mobilmachung‹ (Ernst Jünger), mit der eine effektive Ressourcenausschöpfung gewährleistet werden sollte. Ebd., S.175. Freud betont ausdrücklich, dass »die Manie keinen anderen Inhalt hat als die Melancholie«. (Ebd., S.184.) Ebd., S.174, 176. »Gelehrte, die beim gänzlichen Mangel der Leibesübung immer lesen und schreiben, über einen Gegenstand lang und anhaltend meditieren, sind unter allen Menschen die ungesundesten und unglücklichsten, sie verlieren die Empfindlichkeit für das Vergnügen, und verfallen endlich in die gefährlichste Feindin des Lebens, in die Schwermuth […]« (Müller, Johann Valentin: Selbstmord nach seinen medizinischen und moralischen Ursachen betrachtet, mit beigefügten Lebensregeln und Rezepten zum besten hypochondrischer und melancholischer Personen für Aerzte und denkende Leser aus allen Ständen, Frankfurt/M. 1796, S.18.) Vgl. Anonym: »Schreiben an einen Freund über die Ursachen der jetzigen Vielschreiberey in Deutschland«, in: Journal von und für Deutschland, o.O. 1789, S.139-143. Vgl. Koschorke, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 2003, S.398ff. Schreiner, Julia: Jenseits vom Glück. Suizid, Melancholie und Hypochondrie in deutschsprachigen Texten des späten 18. Jahrhunderts, München 2003, S.205. Vgl. ebd., S.219f. Vgl. Scherpe, Klaus: Werther und Wertherwirkung. Zum Syndrom bürgerlicher Gesellschaftsordnung im 18. Jahrhundert, Wiesbaden 1975. Lessing, Gotthold Ephraim: »Brief an Johann Joachim Eschenburg vom 26.10.1774«, in: Lachmann, K. (Hg.), Lessings Sämtliche Schriften, Bd. 18, Leipzig 1907, S.115f.
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Goethe, Johann Wolfgang von: »Die Leiden des jungen Werther«, a.a.O., S.48. In dem im Brief vom 12. August verzeichneten Gespräch mit Albert verteidigt Werther den Selbstmord mit dem Hinweis auf eben jene Krankheit, »wodurch die Natur so angegriffen wird, daß teils ihre Kräfte verzehrt, teils so außer Wirkung gesetzt werden, daß sie sich nicht wieder aufzuhelfen, durch keine glückliche Revolution den gewöhnlichen Umlauf des Lebens wiederherzustellen fähig ist«. (Goethe, Johann Wolfgang von: »Die Leiden des jungen Werther«, a.a.O., S.48.) Werther führt das Beispiel einer jungen Frau an, die Hand an sich legte, weil sie sich nach dem Verlust ihres Geliebten in keine Ökonomie der Trauer fügen konnte: »Sie sieht nicht die weite Welt, die vor ihr liegt, nicht die vielen, die ihr den Verlust ersetzen könnten, sie fühlt sich allein, verlassen von der Welt – und blind, in die Enge gepreßt von der entsetzlichen Not ihres Herzens, stürzt sie sich hinunter, um in einem rings umfangenden Tode alle ihre Qualen zu ersticken.« (Ebd., S.46.) Wiederum ist es eine Frau, die Werthers weiteres Schicksal vorzeichnet. Der Disput hat indes auch eine deutlich ätiologische Ebene, die anklingt, wenn Werther die gesellschaftliche Ignoranz gegenüber solcherlei Leiden mit der Haltung gegenüber einem Fieberkranken gegenüber vergleicht, über den man sagt: »›Der Tor, stirbt am Fieber! Hätte er gewartet, bis seine Kräfte sich erholt, seine Säfte sich verbessert, der Tumult seines Blutes sich gelegt hätten: alles wäre gut gegangen, und er lebte bis auf den heutigen Tag‹«. (Ebd., S.50.) Der Vergleich, den Albert mit Unverständnis quittiert – »paradox! Sehr paradox« (ebd., S.48.) –, zeigt die Unfähigkeit der im 18. Jahrhundert noch weit verbreiteten Humoralpathologie, seelische Erkrankungen auch nur adäquat zu erfassen, und legt stattdessen einen psychologischen Zugang gerade zur Melancholie nahe. Vgl. Koschorke, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr, a.a.O., S.265. Vgl. Bosse, Heinrich: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit, Paderborn u.a. 1981. Bodmer, Johann Jacob: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie und dessen Verbindung mit dem Wahrscheinlichen, Zürich 1740, S.3. Freud, Sigmund: »Trauer und Melancholie«, a.a.O., S.175. Goethe, Johann Wolfgang von: »Die Leiden des jungen Werther«, a.a.O., S.8 (1.-3. Zitat), S.7 (4. und 6. Zitat), S.12 (5. Zitat). Ebd., S.8f. Ebd., S.9. Ebd., S.84f. Ebd., S.15. Ebd., S.9. Ebd., S.41. Ebd., S.42. Vgl. Pabst, Stephan: Aporien des Authentischen. Zur Genese des Authentizitätssyndroms im 18. Jahrhundert am Beispiel des Romans »Die Leiden des jungen Werther« von Johann Wolfgang Goethe, Magisterarbeit, Humboldt-Universität zu Berlin 2000. Goethe, Johann Wolfgang von: »Die Leiden des jungen Werther«, a.a.O., S.27. »Du fragst, ob du mir meine Bücher schicken sollst? – Lieber, ich bitte dich um Gottes willen, laß sie mir vom Halse!« (Ebd., S.10.) Gleichwohl kommt bereits der erste Kontakt mit Lotte maßgeblich durch eine Lektüre zustande. Beide tauschen sich über Goldsmith’s Vicar of Wakefield aus. Heinzmann, Johann Georg: »Vorrede«, in: ders. (Hg.), Albrechts von Haller Tagebuch seiner Beobachtungen über Schriftsteller und über sich selbst. Zur Karakteristik der Philosophie und Religion dieses Mannes, Bern 1787, S.XVII. Am 20.4.1741 schreibt Haller an seinen engen Freund Geßner: »Ich arbeite, ich leide; dies macht mein Leben aus«. (Zit. n.: Siegrist, Christoph: Albrecht von Haller, Stuttgart 1967, S.149.) Angeblich besaß Haller die Fähigkeit, gleichzeitig zu lesen und zuzuhören. Seine Bibliothek, das Hauptinstrument seiner Arbeit, war mit 13500 Bänden eine der größten Privatbibliotheken seiner Zeit. (Vgl. Albrecht von Haller. 1708-1777, Katalog zur Ausstellung im Saal der Bürgerbibliothek Bern vom 6.10-20.11.1977, S.26.) Helbling, Josef: Albrecht von Haller als Dichter, Bern 1970, S.139.
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Toellner, Richard: Albrecht von Haller. Über die Einheit im Denken des letzten Universalgelehrten, Wiesbaden 1971, S.122. Man kann davon ausgehen, dass die Tagebücher Lavaters aufgrund der im Vergleich zu den teuren Physiognomischen Fragmenten geringeren Anschaffungskosten eine höhere publizistische Reichweite hatten. (Vgl. Weigelt, Horst: J.K. Lavater, Göttingen 1991, S.104.) Vgl. zur Entwicklung des Verhältnisses: Kunz, Reinhard: Johann Caspar Lavaters Physiognomielehre im Urteil von Haller, Zimmermann und anderen zeitgenössischen Ärzten, Zürich 1970, S.17-23. Zollikofer, Georg Joachim: »Vorrede«, in: ders. (Hg.), Geheimes Tagebuch. Von einem Beobachter seiner Selbst, Leipzig 1771, S.6. Bei Lavater-Sloman heißt es tatsächlich: »Dann vergisst Johann Caspar sein Tagebuch […]« (Lavater-Sloman, Mary: Genie des Herzens. Die Lebensgeschichte J.C. Lavaters, Zürich/Stuttgart 1955, S.105.) Vgl. Weigelt, Horst: J.K. Lavater, a.a.O., S.103. Daher ist die große Lücke in den Aufzeichnungen zwischen dem 29.3.1747 und dem 5.4.1772 zu erklären. (Vgl. Toellner, Richard: Albrecht von Haller, a.a.O., S.122.) Lavater, Johann Kasper: Unveränderte Fragmente aus dem Tagbuche seiner Selbst; oder des Tagebuches zweyter Theil, nebst einem Schreiben an den Herausgeber desselben, Leipzig 1773, S.V. Ebd., S.XVII. Ebd., Brief des Herausgebers: S.XXXIIIf. Vgl. zum Zusammenhang von Melancholie- und Vanitas-Symbolik: Wagner-Egelhaaf, Martina: Die Melancholie der Literatur. Diskursgeschichte und Textfiguration, Stuttgart/Weimar 1997, bes. S.79-92 und S.218ff. (Abbildungen). Lavater, Johann Kasper: Geheimes Tagebuch, a.a.O., S.18. Ebd., S.98. Ebd., S.46. Ebd., S.37. Ebd., S.259. Hervorhebungen von mir, TW. Mattenklott, Gert: Melancholie in der Dramatik des Sturm und Drang, Königstein 1985, S.26. Vgl. Lavater-Sloman, Mary: Genie des Herzens, a.a.O., S.120ff. Lavater, Johann Kaspar: Promemoria zur Lebensgeschichte [1794], zit. n.: Weigelt, Horst: J.K. Lavater, a.a.O., S.120. Weigelt, Horst: J.K. Lavater, a.a.O., S.5. Zedlers Universallexikon führt das Konzept der Autorschaft auf die Verkündigungen Christi zurück: »Denn da Gott kein Mensch gesehen; so zeigt er uns einen anderen Urheber autorem, der bei Gott keinen bloßen Zuschauer abgegeben, sondern durch ein Geheimnis-volles Band mit ihm vereiniget ist; Dieses ist der Sohn Gottes, der uns die göttlichen Geheimnisse verkündiget hat, deren Wissenschaft den Sterblichen unentbehrlich ist. Das Wort Autor selbst trifft man zwar nicht bey einem heiligen Scribenten an; davor braucht Paulus aber ein rechtes Machtwort, wenn er Herzog des Glaubens setzet.« (Zedlers Universallexikon, Bd. 62, Leipzig 1749, Sp.29.) Haller, Albrecht von: Tagebuch, a.a.O., S.100. Ebd., S.104. Ebd., S.111. Ebd., S.114. Vgl. Campe, Rüdiger: Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist, Göttingen 2002. Die Vernunftwahrheiten (vérités de raison) müssen sich den Tatsachenwahrheiten (vérités de fait) unterwerfen: »Wer nur etwas von den umschränkten Begriffen der Menschen weiß, wer aus der Geschichte der Natur gelernet hat, wie oft die Versuche uns von Begebenheiten überwiesen haben, die aller unser Weisheit entgegenliefen, wenn wir die schwankenden Gründe beleuchten, durch welche die Menschen die Glaublichkeit bestimmen wollen, der wird leicht einsehen, wie wenig die von unsern engen Begriffen aufgeworfenen Schwierigkeiten uns abhalten sollen, dasjenige zu er-
Melancholie und Medienwahn
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kennen, was das Zeugnis der Wahrheit hat.« (Haller, Albrecht von: Briefe über die wichtigsten Wahrheiten der Offenbarung, Reutlingen 1779, S.38f.) Über die Figur des Zeugen kann auch das Wunder als Erfahrungstatsache gewertet werden. Haller betont, »wie richtig die Zeugen ein Wunder beweisen können, da es ja ein Vorwurf der Sinne ist«. (Haller, Albrecht von: Tagebuch, a.a.O., S.227.) An anderer Stelle heißt es dazu: »Die Wunder sind ein sehr dienliches Mittel, die Wahrheit der Offenbarung zu beweisen; sie sind für einen jeden Menschen faßlich; da eine lange Kette von Schlüssen für die meisten unbrauchbar ist.« (Ebd., S.301.) Es handelt sich dabei um die als ›Wasserliesel‹ bekannt gewordene Elisabeth Tüscher aus Biel, die mit starrem Blick auf ein Wasserglas ›Gedanken lesen‹ konnte. Lavater-Sloman, Mary: Genie des Herzens, a.a.O., S.120. Haller, Albrecht von: Tagebuch, a.a.O., S.232. Ebd., S.251f. Ebd., S.154. Ebd., S.252f. Ebd., S.259. Lavater, Johann Kasper: Geheimes Tagebuch, a.a.O., S.85f. Vgl. Niehaus, Michael: Das Verhör. Geschichte, Theorie, Fiktion, München 2003, S.260ff. »Gestern war es ein ganzes Jahr, daß ich mein Sünderegister anhub. Damals war ich schlimm, unbeständig, suchte in meiner Traurigkeit Trost in den Eitelkeiten der Welt; kannte Gott und Christum nicht, – Bin ich aber jetzt nicht noch eben so hochmüthig, geizig, jähzornig, gehäßig und im Herzen so üppig als ich jemals gewesen.« (Haller, Albrecht von: Tagebuch, a.a.O., S.231.) Vgl. Toellner, Richard: Albrecht von Haller, a.a.O., S.122. Haller, Albrecht von: Tagebuch, a.a.O., S.236 (1. Zitat), S.225 (2. Zitat), S.223. Ebd., S.125f. Ebd., S.274.
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Marianne Schuller
Zwischen Sinn und Unsinn Wort-Ding oder Wahn beim späten Stifter
The notion of madness is never given. It is not a theme, a subject matter but a word. Shoshana Felmen Wenn der Autorname Adalbert Stifter fällt, lässt die psychiatrische Rede nicht lange auf sich warten. Nicht zuletzt aufgrund seines Selbstmordes – Stifter hat sich mit einem Rasiermesser in den Hals geschnitten – wird von einem »pathologischen Affekt« oder, weit reichender, von einer Psychose gesprochen.1 Die nachfolgenden Überlegungen jedoch nehmen diesen medizinisch-psychiatrischen Diskurs, der sich als bis heute wirksamer Abkömmling des mit dem 19. Jahrhundert einsetzenden Zeitalters der wissenschaftlichen Psychiatrie erweist, nicht auf. Weder wenden sie sich der unter dem Autornamen verdeckten Person, noch solchen Texten Stifters zu, die den Wahnsinn in verschiedenen Versionen und Schattierungen thematisieren. Die Frage geht vielmehr in eine andere Richtung: Jenseits von Gegenstand und Thema versucht sie, so etwas wie ›Wahn‹ als konstitutives, dem literarischen Text inhärentes Moment auszumachen. Es scheint, dass sich bei Stifter eine Zone der Unentscheidbarkeit zwischen jenen Oppositionen abzeichnet, die, nach Foucault, die Identifizierung und Definition des Wahns wie des ›Wahnsinns‹ im Zeitalter der Vernunft begründen: Eine Zone der Unentscheidbarkeit zwischen Sinn und Unsinn, zwischen Vernunft und Unvernunft, zwischen dem Lesbaren und Unlesbaren. Liegt in der Eröffnung einer solchen Zone (vielleicht) ein Signum von Literatur, so trüge gerade Literatur dazu bei, den Wahn als 137
Marianne Schuller
Gegenstand und Gegenüber des Wissens von Grund auf in Frage zu stellen. * Ungefähr ein Jahr vor seinem Selbstmord, während er sich in seinem Geburtsort Oberplan aufhält, um einen Stein für das Grab seiner Mutter setzen zu lassen, schreibt Stifter einen nur wenige Seiten umfassenden autobiographischen Text. Von den Herausgebern der so genannten Reichenberger Ausgabe mit dem an Jean Paul2 angelehnten Titel Mein Leben versehen, wird dieser Nachlasstext aufgrund seiner für Stifter und für das Genre Autobiographie so befremdlichen Kürze und seiner interpretatorischen Unzugänglichkeit in der Regel als »autobiographisches Fragment«3 klassifiziert. Der kleine Text4 besteht aus zwei Teilen: Zunächst stellt Stifter im Nachhall der »Vorrede« zu der Novellensammlung Bunte Steine (1853) die Topoi seiner ›Philosophie‹ und Poetologie zusammen:5 Monadologie und Atomistik, neuplatonische Spiegelung von Mikro- und Makrokosmos werden im Hinblick auf den Diskurs des Erhabenen aufgenommen, sofern sie unsere Sinnes- und Vorstellungskraft überschreiten und eben deshalb das Subjekt als das herausfordern, was diese Grenze als Rätsel, Wunder und Geheimnis reflektieren kann und muss. Während der konstative Aussagemodus über das Wunder, das Rätselhafte und Geheimnisvolle von ›Natur‹ und ›Leben‹ klar, durchsichtig und stabil ist, wird in dem Moment, in dem das Wörtchen »ich« auftaucht, die Rede selbst enigmatisch und befremdlich. So heißt es: »Ich bin oft vor den Erscheinungen meines Lebens, das einfach war, wie ein Halm wächst, in Verwunderung geraten.«6 Die Irritation, die der Satz auslöst, rührt von der Verschränkung der Zeitformen Präsens, Perfekt und Imperfekt her. Es entsteht eine gespenstische Szene, sofern das Schreib-Ich sich als abgeschiedene Instanz und als Leser des eigenen vergangenen Lebens entwirft, der bei jeder erneuten Lektüre des Lebens-Textes in Verwunderung gerät. Im Zuge dieser Verschränkungen von Schreiben und Lesen, von Leben und Tod, ist nicht mehr mit Gewissheit zu entscheiden, ob das Wunder, ob der ›Abgrund des Rätsels‹7 den Erscheinungen des Lebens oder dem Text der Autobiographie geschuldet sind. Die Autobiographie setzt ein, indem sie nicht nur in den aufgeführten philosophisch-poetologischen Diskurs interveniert, sondern auch, indem 138
Zwischen Sinn und Unsinn
sich eine Kluft zwischen dem Inhalt der autobiographischen Aussage – mein Leben war einfach – und dem kompliziert unstimmigen Weg des Aussagens auftut. Mit der Kluft zwischen dem geraden Weg der Aussage und dem Gedränge, in welches sich das Aussagen begibt, kommt eine den Text vorantreibende Bewegung in Gang: Der Text unternimmt den Versuch einer sprachlichen Repräsentanz von verlorenen Objekten des Begehrens ›vor‹ der Sprache. Dieser Versuch Stifters, sich der die verlorenen Objekte wie Glanz, Gewühl, Schwere, Klänge, Unten sich im Modus eines Textes zu erinnern, stellt, von heute aus gesehen, eine geradezu unheimliche Nähe zu Auffassungen der Psychoanalyse ›nach‹ Freud her. So hat Jacques Lacan8 die kontingenten Objekte wie Rausch, Klang, Funkeln oder Blickpunkte als Versuche der Wiederaneignung eines verlorenen Körpers gesehen und als Objekte a (gesprochen: »klein a«) angeschrieben. Wenn sich, nach Lacan, um dieses a Phantasien auf der Suche nach den Urobjekten wie Fäzes, Brust, Stimme, Blick gruppieren,9 so bringt sich der Text Stifters als diese und durch diese sich in Wiederholungen, Schlaufen und Kreisen bewegende Suche nach dem verlorenen Körper, der als mütterlicher markiert ist, hervor. Weit zurück in dem leeren Nichts ist etwas wie Wonne und Entzüken, das gewaltig fassend, fast vernichtend in mein Wesen drang, und dem nichts mehr in meinem künftigen Leben glich. Die Merkmale, die fest gehalten wurden, sind: es war Glanz, es war Gewühl, es war unten. Dies muß sehr früh gewesen sein; denn mir ist, als liege eine sehr weite Finsterniß des Nichts um das Ding herum. Dann war etwas Anderes, das sanft und lindernd durch mein Innres ging. Das Merkmal ist: es waren Klänge. Dann schwamm ich in etwas Fächelndem, ich schwamm hin und wider, es wurde immer weicher und weicher in mir, dann wurde ich wie trunken, dann war nichts mehr. [...] Ganz klar war etwas, das sich immer wiederholte. Eine Stimme, die zu mir sprach, Augen, die, mich anschauten, und Arme, die Alles milderten: ich schrie nach diesen Dingen. Dann war Jammervolles, Unleidliches, dann Süsses, Stillendes. [...] Ich erinnere mich an Glanz und Farben, die in meinen Augen, an Töne, die in meinen Ohren, und an Holdseligkeiten, die in meinem Wesen waren. Immer mehr fühlte ich die Augen, die mich anschauten; die Stimme, die zu mir sprach, und die Arme, die alles milderten. Ich erinnere mich, dass ich das »Mam« nannte. Diese Arme fühlte ich mich einmal tragen. Es waren dunkle Fleke in mir. Die Erinne-
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Marianne Schuller
rung sagte mir später, dass es Wälder gewesen sind, die außerhalb mir waren. Dann war eine Empfindung wie die erste meines Lebens, Glanz und Gewühl. Dann war nichts mehr.10
Der Text spricht von Objekten, die sich in den Wiederholungen und Umschreibungen als Objekte des Triebes11 darstellen: Statthalter eines ursprünglichen, an die mütterliche Position gebundenen Befriedigungserlebnisses, das unwiederbringlich verloren ist und als verlorenes sich ans Detail, ans Partielle, ans Körperstückchen heftet.12 Ein mütterliches funkelndes kostbares Andere, das gibt und ja sagt und das zugleich die entsetzliche Macht des Vorenthaltens hat. Im Zuge der Anfänge des Sprechens, das die symbolische Separation vom mütterlichen Körper vollzieht, in dem Moment in dem »Mam« in »Mutter« umbenannt wird und als Gestalt vor dem Ich aufsteht,13 stellt sich ein traumatisches Ereignis ein. Das Kind hat ein Fenster zerschlagen und blutende Schnittwunden davon getragen, die von der Mutter verbunden werden. Es heißt: Ich fand mich einmal wieder in dem Entsetzlichen, Zugrunderichtendem, von dem ich oben gesagt habe. Dann war Klingen, Verwirrung, Schmerz in meinen Händen und Blut daran, die Mutter verband mich, und dann war ein Bild da, das so klar vor mir jetzt dasteht, als wäre es in reinlichen Farben auf Porzellan gemalt. Ich stand in dem Garten, der damals zuerst in meiner Einbildungskraft ist, die Mutter war da, […] in mir war die Erleichterung, die alle Male auf das Weichen des Entsetzlichen und Zugrunderichtenden folgte, und ich sagte: »Mutter, da wächst ein Kornhalm.« Die Großmutter antwortete darauf: »Mit einem Knaben, der die Fenster zerschlagen hat, redet man nicht.« [...], die Mutter sprach wirklich kein Wort, und ich erinnere mich, dass ein ganz Ungeheures auf meiner Seele lag; das mag der Grund sein, dass jener Vorgang noch jetzt in meinem Innern lebt. Ich sehe den hohen schlanken Kornhalm so deutlich, als ob er neben meinem Schreibtische stände [...].14
Ist der Wunden-Schnitt als Emblem der traumatischen Separation vom mütterlichen Körper, der das Kind in die symbolische Ordnung der Sprache mit ihren imaginären Bildeffekten einführt, zu deuten, so tauchen in der Erinnerung exakt an dieser Schnittstelle ein klares Vorstellungsbild und ein wohl artikuliertes Syntagma auf: »Mutter, da wächst ein Kornhalm.« Es ist emphatisch an die ›Mutter‹ adressiert, die jedoch, während sie die Wunde verbindet und damit einen Bund herstellt, ihrerseits schweigt. Ist das Schweigen der Mutter – »die Mutter sprach wirk140
Zwischen Sinn und Unsinn
lich kein Wort« – traumatisch, so wird darüber zugleich das Sprechen das Sprechen als eines gekennzeichnet, welches durch das Ausbleiben, durch das Fehlen der Resonanz der mütterlichen Position markiert ist. In dem Maße, wie die Mutter schweigt, erweist sie sich als ein verschwiegenes Moment innerhalb der symbolischen Produktion Stifters als Maler und als Schriftsteller. Der autobiographische Text, den Stifter während seiner Bemühungen um einen Grabstein für seine Mutter schreibt, beschreibt sich damit selbst als Denkmal dessen, dass die symbolische Produktion als Bild und Sprache von einem traumatischen Verlust getragen ist, von dem sie zugleich ablenkt, indem sie ihn durch Substitution verdrängt: Mutter, da wächst ein Kornhalm. Trotz seiner grammatischen und syntaktischen Korrektheit erscheint dieser Satz als absurd, als wahnhaft. Warum? Weil er in seiner Isoliertheit und gefrorenen Kontingenz eine halluzinativ anmutende Bildpräsenz erzeugt, die sich einer emblematischen Bedeutung und dem Verstehen verschließt. Genau diese Resistenz gegen das Verstehen, die sich auch im mütterlichen Schweigen zur Geltung bringt, aber ist es, die eine bleibende Herausforderung für die künstlerische Arbeit darstellt: »Ich sehe den hohen schlanken Kornhalm so deutlich, als ob er neben meinem Schreibtisch stände«. Dem autobiographischen Text zufolge ist es dieses Syntagma, dem Stifters Leben wie seine künstlerische Produktion unterstellt sind. Dabei spielt der Signifikant ›Halm‹ eine ebenso kontingente wie ursächliche und verwunderliche Rolle: In der Position eines Vergleichs – mein Leben war einfach wie ein Halm wächst –, also in metaphorischer Funktion zunächst eingeführt, wird es nun zu jenem Signifikanten, der sinnlos und wirksam den kleinen Albert wie den großen Adalbert Stifter trifft. Steckt im Vater-Namen ›Stifter‹ das Wort ›Stift‹, so bezeichnet ›Halm‹ ein stiftähnliches Gebilde: Sowohl den Stengel mit der Frucht als auch, wie etwa in ›Strohhalm‹, den abgelebten toten Rest der Getreidefrucht bezeichnend, sind darin Fülle und Leere, Lebendiges und Totes verschränkt wie ›Halm‹ über die indogermanische Wurzel kal im Sinne von »treiben, bewegen«, bzw. über »holm, erhöhung, hügel« eine phallische Bedeutung annimmt. Diese überträgt sich auf Schrift, sofern ›Halm‹ nicht nur ›Rohr‹, sondern auch ›Schreibrohr‹ bezeichnet. Das Schreibrohr ist ein Stift, mittels dessen gezeichnet und geschrieben wird. Wie Stifter nicht nur Schriftsteller, sondern auch Maler war, so kehrt in ›Halm‹ ein verstellter Bezug zu ›Mal‹ wieder: Während ›Mahl‹ ein Anagramm von ›Halm‹ ist, und Korn (›Kornhalm‹) Inbegriff von Speise, 141
Marianne Schuller
so ist das Wort gleich lautend mit ›Mal‹, in dem das ›Wundenmal‹ widerhallt, das, wie die Wundenmale Christi oder wie das ›Muttermal‹, am Realen des Körper erscheint.15 Was zunächst als Motiv auftauchte – die Wunde – wird über den Signifikanten ›Halm‹ und die Wucherungen, die er als Signifikant stiftet, zu einem ›Mal‹, das Stifters Texten eingeschrieben ist: Dieses Mal bildet ein libidinös besetztes Wort-Ding – »Mutter, da wächst ein Kornhalm«–, das eine Zone der Unentscheidbarkeit zwischen Sinn und Unsinn als ein dem literarischen Text inhärentes Moment markiert. Kann dieses WortDing, sofern es sich der symbolischen Assimilation verschließt, als wahnhaft bezeichnet werden, so beherrscht es auch die als Urszene von Lesen und Schreiben dargestellte Schlusssequenz. Auf diesem Fensterbrette war es auch allein, wenn ich zu lesen anhob. Ich nahm ein Buch, machte es auf, hielt es vor mich, und las: »Burgen, Nagelein, böhmisch Haidel.« Diese Worte las ich jedes Mal, ich weiß es, ob zuweilen noch andere dabei waren, dessen erinnere ich mich nicht mehr.16
Wieder taucht das durch Isoliertheit und erstarrter Kontingenz ausgezeichnete Wort-Ding als Zusammenfall von Sinnsperre und narrativer Funktion auf. Als ein der Sprache/Schrift inhärentes Moment grundiert es nicht nur den autobiographischen Text, sondern meandert durch eine Reihe Stifterscher Erzählungen wie etwa durch die späte Erzählung Der Walbrunnen. Steht in deren Zentrum ein wildes »braunes Mädchen«, so werden zum Erstaunen eines greisen Gönners, Mentors und Erziehers am Beginn von deren Schreibübungen eben diese dem Sinn unzugänglichen Worte aufgeführt: [D]er alte Mann erstaunte auf das Höchste, da er die Schrift las. Es war nirgends das, was auf der Vorschrifttafel stand, abgeschrieben, oder etwas geschrieben, was in die Feder gesagt worden sein konnte, oder was man sich selbst zu denken vermochte, sondern ganz andere seltsame Worte: Burgen, Nagelein, Schwarzbach, Suselein, Werdehold, Starau, zwei Engel, Zinzilein, Waldfahren und Ähnliches[.]17
Auch hier also eine Ansammlung von Wort-Dingen, die in ihrer Unverständlichkeit dem Erzählen als »unauslöschliche Male« eingesenkt sind. Im autobiographischen Text steht an dieser Stelle und in dieser Funktion ein Wort-Ding, das auch vom braunen Mädchen aufgeschrieben worden ist: das Wort-Ding ›Schwarzbach‹:
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Zwischen Sinn und Unsinn
Auf diesem Fensterbrette sah ich auch, was draußen vorging, und ich sagte sehr oft: »Da geht ein Mann nach Schwarzbach, da fährt ein Mann nach Schwarzbach, da geht ein Weib nach Schwarzbach, da geht ein Hund nach Schwarzbach, da geht eine Gans nach Schwarzbach.« Auf diesem Fensterbrette legte ich auch Kienspäne ihrer Länge nach an einander hin, verband sie wohl auch durch Querstäbe, und sagte: »Ich mache Schwarzbach.«18
Bei der Sequenz geht es nur scheinbar um die Beschreibung von Beobachtungen und damit nur scheinbar um die Abbild- oder Referenzfunktion von Sprache. Vielmehr tritt, nicht zuletzt durch die leiernde Wiederholung, der Signifikant ›Schwarzbach‹ als Wort-Ding hervor. Kontingent und delirant wird ›Schwarzbach‹ zum Anlass einer Poesis, die sich in einer der Schrift strukturell verwandten Anordnung zur Geltung bringt. Das Ich stellt schwarz auf weiß ein Gitterwerk aus Kienspan her, das aus dem toten Holzstück zugleich das wärmende Licht lebendiger Erleuchtung gewinnt. Als Abfall beim Holzhandwerk gewonnen, zum Feueranmachen und als Fackel benutzt,19 verschränkt der Kienspan wie der Buchstabe20 das Tote und das Lebendige. Die Szene also figuriert eine Urszene der Schrift, die sich als Wiederholung der Schöpfungsgeschichte, nach der die Worte Gottes Licht und Finsternis voneinander scheiden, darstellt:21 »Ich mache Schwarzbach«. Nimmt man es als eine Art Übersetzung von ›Styx‹, dem dunklen Flusses des Totenreichs, so kehrt in dem einen Schöpfungsakt vollziehenden Wort zugleich das traumatische Schweigen wieder, welches zu Beginn des Textes an die mütterliche Position gebunden war. Nach dieser Szene untersteht Poesis einer Struktur, die sich durch eine wahnhafte Verschmelzung von Wort und Ding auszeichnet. Dem späten Stifter-Text zufolge ist dieses Moment unableitbar, also strukturell, an Sprache und Schrift gebunden. Mutter, da wächst ein Kornhalm; ich mache Schwarzbach: Zwei korrekte Syntagmen, die ununterscheidbar zwischen Halluzinativem, Fingierendem/Fiktivem, Wirklichem und Wahnhaftem, zwischen Sinn und Unsinn oszillieren. Das Stiftersche Erzählen, so lässt sich sagen, steht im Bann des Wort-Dings. Dabei ist ›Bann‹ umgangssprachlich im Sinne von magischer Gefangenschaft wie im Sinne Giorgio Agambens nicht nur als einfache Beziehungslosigkeit/Ausgeschlossenheit, sondern als eine Beziehung zur Beziehungslosigkeit zu verstehen.22 Im Zuge dieser Lesart wird auch die Gattungsfrage undeutlich. Denn nun ist nicht mehr zu unterscheiden, ob es sich bei diesem Stifter-Text
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Marianne Schuller
um ein kunstvolles Kalkül, um eine Halluzination, um eine authentische Selbstaussage, um den Versuch einer Selbstanalyse avant la lettre oder ob es sich um den Anfang einer Autobiographie handelt, die, gegenüber dem Goetheschen Ideal, bloßes Fragment geblieben ist. Nimmt man die Zone der Unentscheidbarkeit mit in den Blick, dann handelt es sich vielleicht weniger um ein Fragment als vielmehr um einen Text, der dem Erzählen die Grenze des Erzählens einträgt. Eine Grenze, die im Text durch das wahnhafte Wort-Ding markiert und verdrängt ist.
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Vgl. Winterstein, Alfred: Adalbert Stifter. Persönlichkeit und Werk. Eine Tiefenpsychologische Studie, Wien 1947, bes. S.333ff.; Augustin, Hermann: Adalbert Stifters Krankheit und Tod. Eine biographische Quellenstudie, Basel/Stuttgart 1964. Vgl Paul, Jean: »Mein Leben. Ein Bruchstück«, in: Berend, E. (Hg), Jean Pauls Werke, Berlin o.J., S.829ff. Vgl. Begemann, Christian: Die Welt der Zeichen. Stifter-Lektüren, Stuttgart 1995, S.95ff. Vgl. hierzu grundsätzlich Schuller, Marianne: »Das Kleine der Literatur. Stifters Autobiographie«, in: Schuller, M./Schmidt, G., Mikrologien. Literarische und philosophische Figuren des Kleinen, Bielefeld 2003, S.77-89. Vgl. zur »Vorrede« den Kommentar der Herausgeber der historisch-kritischen Gesamtausgabe, in: Doppler, Alfred/Frühwald, Wolfgang (Hg): Adalbert Stifter. Werke und Briefe, Bd. 2.3, Stuttgart/Berlin/Köln 1995, S.90-120. Sauer, August u.a. (Hg.): Adalbert Stifters sämmtliche Werke. 25 Bände, Prag 1904ff./Reichenberg 1927ff., Bd. 25, S.177 (im Folgenden abgekürzt als PRA). Vgl. PRA, Bd. 25, S.177. Vgl. Lacan, Jacques: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Freiburg 1980, S.101112. Vgl. Schuller, Marianne/Schmidt, Gunnar: Mikrologien, a.a.O., S.29. PRA, Bd. 25, S.177. Vgl. Lacan, Jacques, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, a.a.O., S.186-190. Vgl. Clément, Catherine/ Kristeva, Julia: Das Versprechen, München 2000, S.130. Vgl. PRA, Bd. 25, S.178f.: »Mam, was ich jetzt Mutter nannte, stand nun als Gestalt vor mir auf, und ich unterschied ihre Bewegungen, dann der Vater, der Großvater, die Großmutter, die Tante. Ich hieß sie mit diesen Namen […]« PRA, Bd. 25, S.179. Wie Lawrence Rickels ausschreibt, hatte Stifter, der in einem Stift erzogen worden ist, selbst eine Art Muttermal, das er durch einen Bart zu verdecken suchte. Hieß der Vorname seiner Frau ›Amalie‹, so fordert Stifter, der sie in Briefen häufig ›Mali‹ nannte, sie ebenso häufig mit ›Mal ja!‹, auf, zu malen. Vgl. Rickels, Lawrence: »Stifter’s Nachkommenschaften: The Problem of Surname, the Problem of Painting«, in: MLN, Volume 100/No. 3 (1985), S.577-598, S.594. PRA, Bd. 25, S.180f. PRA, Bd. 13.2, S.324f.
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PRA, Bd. 25, S.181. Vgl. Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch [1865], Bd. 11, Leipzig 1922, Sp.685. Angeblich ist das Wort ›Buchstabe‹ von ›Buchenbaum‹ abgeleitet, woraus sich eine Nähe zwischen Kienspan und Buchstabe ergibt. Vgl. Das erste Buch Mose, 1-2. Vgl. Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M. 2002, S.39f.: »Der Bann ist eine Beziehungsform […] Der Bann ist die reine Form des Sich-auf-etwas-Beziehens im allgemeinen, das heißt die einfache Setzung einer Beziehung mit dem Beziehungslosen. In diesem Sinne ist sie mit der Grenzform einer Beziehung identisch.«
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Thomas Gann
Im Züchtungswahn? Gottfried Benns »Dorische Welt«
Im Folgenden soll sich der Frage angenähert werden, ob und in welcher Weise Gottfried Benns Text Dorische Welt ein Zug des Wahns, der Wahnhaftigkeit eingeschrieben ist. Dabei wird es weniger um die Frage gehen, ob der Text als Dokument eines (klinisch-psychotischen) Wahnsystems seines Autors lesbar ist. Vielmehr soll nach strukturellen Zügen von Wahnhaftigkeit gefragt werden, die sich im Text Dorische Welt auf der Ebene seines literarischen Schreibverfahrens am Werk zeigen. Als politisch-historischer Rahmen dieser Fragestellung wird hierbei jenes Problemfeld zu erörtern sein, das sich alltagssprachlich u.a. als »Züchtungswahn« oder »Rassenwahn« des Nationalsozialismus benannt findet. Zwischen ihm und Benns Text strukturelle Relationen herzustellen, ist das Erkenntnisinteresse der folgenden Lektüren.
Benns »Dorische Welt« im Kontext des Jahres 1934 Gottfried Benns Aufsatz Dorische Welt. Eine Untersuchung über die Beziehung von Kunst und Macht erscheint im Oktober 1934 in dem Essayband Kunst und Macht, nachdem eine kürzere Fassung des Textes schon im Juni 1934 in der Zeitschrift Europäische Revue abgedruckt worden war. Zu diesem Zeitpunkt verknüpft sich mit dem Namen Gottfried Benn in den historischen Zusammenhängen der NS-Diktatur bereits eine wechselvolle Geschichte. Sie reicht von Benns frühen Fürsprachen für den »neuen deutschen Staat«1 im Jahr 1933 bis hin zu ersten Anfeindungen seiner Schriften, vor allem der ›expressionistischen‹ 147
Thomas Gann
Frühschriften, aus den Reihen völkisch-nationaler Literaten,2 sowie der bereits am 7. Juni 1933 erfolgenden Absetzung Benns als kommissarischem Vorsitzenden der Sektion für Dichtung der Preußischen Akademie der Künste. Ein bekanntes Faktum in der deutschsprachigen Literaturgeschichte sind Benns literarische Bekenntnisse zum NS-Staat im Frühjahr 1933, dokumentiert durch die zwei Radioreden Der neue Staat und die Intellektuellen und Antwort an die literarischen Emigranten, über deren Thematik und potentiellen Auftraggeber bzw. Adressaten Benn keinen Zweifel gelassen hat: »die beiden Rundfunkreden für den neuen deutschen Staat« (s.o.). Die Geschichte habe sich wieder »der nationalen Idee« zugewandt, resümiert Benn in Der neue Staat und die Intellektuellen vom 24. April 1933; überall bildeten sich »vor unseren Augen […] autoritäre Staaten«. Im Zusammenhang dieses historischen Phänomens spricht Benn von der Entstehung eines ›neuen Typs‹ (vgl. III, S.460) – »Eine echte neue geschichtliche Bewegung ist vorhanden, ihr Ausdruck, ihre Sprache, ihr Recht beginnt sich zu entfalten.« (Ebd.) Unmissverständlich wird die von Benn konstatierte neue geschichtliche Bewegung auch mit Begriffen und Phänomenen des Biologischen in Verbindung gesetzt. Der »neue Typ« ist ein »biologischer Typ«. Die Geschichte, so Benns historisch-biologische Betrachtung der Entstehung bzw. ›Entfaltung‹ des »neuen Staats«, »[…] schickt den neuen biologischen Typ vor, sie hat keine andere Methode.« (Ebd.) Der »neuen revolutionären Bewegung« des NS-Staats bescheinigt Benn dementsprechend: »[S]ie erscheint ja, um eine neue anthropologische Qualität und einen neuen menschlichen Stil zu bringen, um aus ihrem Grundbegriff neue intelligible und ästhetische Formen zu entwickeln.« (III, S.461) Auch der umfangreiche Aufsatz Dorische Welt von 1934 bewegt sich thematisch in dieser Problemkonstellation von Kunst, Biologie (neuem »biologischen Typ«) und »neuem Staat«. Zugleich ist es der letzte längere Essay, den Benn bis zum Ende des zweiten Weltkriegs publiziert hat. Unter diesem Aspekt ist der Text auch lesbar im Sinne eines letzten Kapitels, einer finale Äußerung im Rahmen jener staatsaffirmativen Texte, die in seinem Werk im Jahr 1933 einsetzen und den Korpus der in dieser Zeit veröffentlichten Schriften beinahe vollständig ausfüllen. Im Rahmen dieses faschismusaffinen Werkkontexts ist Dorische Welt in vielen Forschungsarbeiten als in seiner Hinwendung zum deutschen Fa148
Im Züchtungswahn?
schismus radikalstes Dokument der Bennschen Essayistik bewertet worden. So urteilt Klaus Theweleit in seiner großen Orpheus am MachtpolStudie: »Dieser Griechen-Mann-Text ist Benns faschistischster Text.«3 Dass Benns letzter längerer Aufsatz dieser Werkphase gerade den kulturhistorischen Kontext der »dorischen« Epoche der griechischen Antike zum Ausgangspunkt nimmt, ist kein Zufall, noch weniger als das Anzeichen einer Flucht bzw. ›inneren Emigration‹ in eine vergangene, frühantike Welt. Die »Dorer«, das »Dorertum« in seiner emblematisch in der Stadt Sparta tradierten Konnotation einer autoritär-militärischen Gesellschaftsordnung, die Rede von der »Härte« und »Strenge« spartanischer Erziehung ebenso wie die als ›spartanisch‹ reklamierten Praktiken eugenischer Auslese lassen sich rückblickend als äußerst beliebte ideologische Referenz- und Symbolquellen des Dritten Reichs rekonstruieren. Dabei zeigt sich der in der nationalsozialistischen Literatur beständig wiederkehrende Rekurs auf den Topos des Spartanischen und Dorischen auch als ein Bemühen, den NS-Staat in eine Kontinuität zu Strängen abendländischer Kultur zu setzen und zugleich seine welthistorische Bedeutung im Sinne einer epochalen geschichtlichen Wende zu proklamieren. Heroisches Geschichtsbewusstsein und mythologische Ausstattung aus der Griechischstunde: Um der nationalsozialistischen Politik den Glanz einer Wiedergeburt griechisch-antiker Geschichte im Jahr 1933 zu verleihen, lässt sich das Bekenntnis zum »Dorertum«, zum militärischen Züchtungsstaat Sparta in zahllosen nationalsozialistischen Publikationen finden. Alfred Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts vermutete in der Kultur der Dorer den Ausdruck einer »germanischen Rasse« (»Die Dorer […] schützten das schöpferische blonde Blut«4) und verband mit ihnen den »Sieg des nordisch-apollinischen Lichtprinzips«5. Albert Speer glaubte, seine Nürnberger Parteitagsbauten »vom dorischen Stil abgeleitet zu haben«6. Als leuchtendes Vorbild galt der Züchtungsstaat Sparta nicht zuletzt auch den Anthropologen und »Rassenhygienikern« des Dritten Reichs: »Daß bei den alten Spartanern Aussetzen schwächlicher Kinder üblich war, ist ja allgemein bekannt. Nach Plutarch hat der Gesetzgeber Lykurg dabei bewußt züchterische Gesichtspunkte im Auge gehabt.«7 Auch Benns Aufsatz, der sich im Untertitel als Eine Untersuchung über die Beziehung von Kunst und Macht ausgibt, schreibt sich ein in diesen (bio-)politisch-kulturhistorischen Diskurs des »Dorischen«. Im Rahmen 149
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einer ideologiekritischen und diskursanalytischen Untersuchung ließen sich in seinem Aufsatz eine Unzahl von Analogien, Parallelitäten, von affirmativen Referenzen und Anspielungen auf das »Welt«-Bild des zeitgenössischen NS-Staats, kurz: auf die Behauptung einer Strukturgleichheit zwischen ›faschistischer‹ und ›dorischer Welt‹ rekonstruieren. Nicht anders als die Germanen in der Rassenkunde H.F.K. Günthers oder ähnlichen Publikationen zeichnet sich auch die Dorische Welt Benns durch einen diffusen Charakter des ›Nordischen‹ aus. Die Dorer sind »ein Volk […] von Norden kommend« (III, S.283); »der Nordwind hat sich erhoben […]« (III, S.284) Auf ihren Vasen finden sich »Dreiecke, Schachbrettmuster, Kreuze und Hakenkreuze« (III, S.287). Politisch charakterisiert Benn die Dorische Welt als frühe Form eines militärischautoritären Staats: »Es gab nur eine einzige Moral, die hieß nach innen gerichtet: der Staat und nach außen: der Sieg.« (III, S.291) Er beschreibt sie als »Männerlager« (III, S.292). »Die Erziehung geht nur auf dieses Ziel: Schlachten und Unterwerfung.« (III, S.293) »Das Ganze war ein Lager, ein schnell bewegliches Heer, wenn die Schilde aufeinanderstießen und die Helme von den Schleudersteinen dröhnten, das war ihr Marsch.« (III, S.294) In diese Nachzeichnung einer männlichkriegerischen Militärgesellschaft fügt sich eine den Text durchziehende Negation des ›Femininen‹, die auch explizit homoerotische Züge trägt: »Dorisch ist jede Art von Antifeminismus.« (III, S.294) »Die dorische Welt war männlich […]« (III, S.296) »Dorisch ist die Knabenliebe, damit der Held beim Mann bleibt, die Liebe der Kriegszüge, solche Paare standen wie ein Wall und fielen.« (III, S.294)8 In diesem Zusammenhang zeigen sich in Benns Text auch Elemente einer um 1934 noch mit unklarem Ausgang geführten, kunstpolitischen Auseinandersetzung über die angemessenen Kunstformen und -stile im »neuen Staat« des Nationalsozialismus.9 Offenkundig lassen sich Analogien herstellen zwischen Benns Ausführungen über die dorische Kunst als einer »Arbeit […] am Staat und am Marmor«10 (explizit schildert der Text dorische Skulpturen männlicher Nacktheit, sowie eine Architektur monumentaler Tempel und schmuckloser ›dorischer‹ Säulen) und dem durch die Ästhetik Arno Brekers, Albert Speers oder Leni Riefenstahls geprägten Stil staatlich-offizieller NS-Kunst:11 »Die Dorer arbeiten am Stein, er bleibt unbemalt. Ihre Figuren sind nackt. Dorisch, das ist die Haut, aber die bewegte, die über Muskeln, männliches Fleisch, der Körper.« (III, S.295) »Über ganz Hellas die dorische Saat: sch ö n e Körper […]« (III, S.295) 150
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Überblickt man diese stichwortartig herausgegriffenen Textpassagen, scheint der Text über seinen größtenteils ideologisch affirmativen Charakter gegenüber dem Weltbild des NS-Staats von 1934 keinen Zweifel aufkommen zu lassen. Benn selbst hat es nicht unterlassen, dieser Parallelität offen Ausdruck zu verleihen: Wir sehen [in der ›dorischen Welt‹] die Zeichen der modernen Öffentlichkeit, des modernen Staates, der modernen Macht. Man kann nicht sagen, das ist weitab, Antike. Keineswegs. Die Antike ist sehr nah, ist völlig in uns, der Kulturkreis ist noch nicht abgeschlossen. (III, S.303) […] – wir sind mitten drin in unseren eigenen politischen Prinzipien. (III, S.304)12
So eindeutig sich der Text heute in seinem faschismusaffirmativen Gehalt zeigt, so fragwürdig ist zugleich seine konkrete Motivation und Position im Werkkorpus der Bennschen Schriften. Versprach er sich mit ihm noch die Möglichkeit, als Dichter des Mythos einer neuen Dorischen Welt »Staatsverantwortung [zu] tragen«13 und Eingang zu finden in den Kreis offizieller NS-Autoren wie Hanns Johst, Hans Grimm oder Will Vesper (allesamt Mitglieder der neu eingesetzten preußischen Dichterakademie)? Wollte Benn in lediglich strategischem Kalkül noch einmal und bis zum Exzess, bis zur äußerst realisierbaren Möglichkeit sein Schreiben und seine Fähigkeit zum nationalsozialistischen Propaganda-Schriftstellertum darbieten? Oder schreibt er tatsächlich in der Hoffnung, eine schriftstellerische Synthese herstellen zu können zwischen dem faschistischen Staat und seiner eigenen dichterischen Tätigkeit, die er in den poetologischen Ansätzen der 1930er Jahre immer wieder als Kunst des »Formalen«, als Prozess der »Formung«, als »Arbeit am Marmor« dargestellt hatte?14 Aus diskursanalytischer Sicht zeigt sich in Benns Text neben diversen Elementen zeitgenössischer Sparta-(NS-)Rhetorik und neben den sich teilweise in kleinste Details verlierenden kulturhistorischen Darstellungen auch eine Zuspitzung auf einen konkreten biopolitischen Diskurs. Nicht bloßen Militarismus, politischen Antidemokratismus, »Antifeminismus« oder ästhetischen NS-Neoklassizismus à la Breker und Speer verkündet Benns Text. In seiner suggestiven Evokation einer Strukturgleichheit zwischen »Dorischer Welt« und NS-Staat wendet sich Benn auch einem weiteren, sehr konkreten Politikfeld zu: der »Züchtung«; jenem Leitbegriff, durch den die NS-Politik ihre medizinisch-naturwissenschaftliche Legitimation zu erhalten glaubte: der Vision einer 151
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züchterischen Herstellung eines »neuen deutschen Menschen« (vgl. III, S.240). »Züchtung« – dieser Zentralsignifikant erscheint in nahezu allen BennTexten der Jahre 1933/1934. Bereits Benns im Mai 1933 gesendete Rundfunkrede Antwort an die literarischen Emigranten argumentiert mit den Worten: »Verstehen Sie doch endlich […], daß es sich bei den Vorgängen in Deutschland gar nicht um politische Kniffe handelt […], sondern es handelt sich um das Hervortreten eines neuen biologischen Typs, die Geschichte mutiert und ein Volk will sich züchten.« (II, S.297) Ähnliche Ausführungen finden sich in Benns im Juni 1933 publiziertem Text Züchtung, der den Auftakt einer Reihe von Aufsätzen und Reden bildet – u.a. Der deutsche Mensch (August 1933), Geist und Seele zukünftiger Geschlechter (September 1933), Zucht und Zukunft (Oktober 1933) –, die allesamt um das NS-Paradigma der Züchtung eines »neuen deutschen Menschen« kreisen: Niemand zweifelt mehr, daß hinter den politischen Vorgängen in Deutschland eine geschichtliche Verwandlung steht, die unabsehbar ist. Der kulturelle Lack einer Epoche ist brüchig und springt. Aus den Nahtlinien des Organischen stößt die Erbmasse, aus den Defekten der Regenerationszentren die menschlichen Gene [sic!] ans Licht. (III, S.237)
Gerade durch eine Politik eugenischer Züchtungspraktiken finden sich auch die »Dorer« in Benns Dorischer Welt ausgezeichnet: Ihr Traum ist Züchtung und ewige Jugend, Göttergleichheit, großer Wille, stärkster aristokratischer Rassenglaube, Sorge über sich hinaus für das ganze Geschlecht. (III, S.293) Körper zur Zucht: das Gesetz bestimmte das heiratsfähige Alter und wählte den günstigsten Zeitpunkt und die günstigsten Umstände für eine Schwängerung aus. Man ging wie in Gestüten vor, man vernichtete die schlechtgelungene Frucht. (III, S.296)
Im Gegensatz zu der in der Benn-Forschung immer wieder kursierenden Rede über Benns »Unwissenheit« und »Blindheit« gegenüber den Plänen und Inhalten nationalsozialistischer Politik ist angesichts der in seinen Texten dieser Zeit geradezu inflationär auftauchenden »Züchtungs«Formeln zu konstatieren, dass Benn – zumindest in Konturen – bereits im Jahr 1933 genau jene Vorhaben vorausgesehen hat, die das NSRegime in seiner Eigenschaft als »radikal biopolitischer Staat« (Giorgio 152
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Agamben)15 als eine seiner zentralen politischen Missionen umzusetzen plant: eugenische bzw. »rassenhygienische« Maßnahmen kontrollierter Fortpflanzung, Sterilisationsgesetze, medizinische Erfassung und Überwachung der Bevölkerung mittels zentral organisierter »Gesundheitsämter«, gesteuerte Ehegattenwahl im Dienste der Gesundung und »Aufnordung« des »Volkskörpers«; und schließlich auch die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung zum Ziel seiner »Reinigung«.16
Züchtung als literarisches Verfahren Vokabeln des Wahns und des Wahnhaften werden mit dem Dritten Reich immer wieder in Verbindung gebracht, nicht nur in der Rede des »Größenwahns« seiner Akteure, sondern auch des »Rassenwahns« und »Züchtungswahns« der Nürnberger Gesetze und schließlich des Holocaust. Nimmt man diese alltagssprachliche Rede von der Wahnhaftigkeit des NS-Staats auf, so treten in den Züchtungsvisionen des Nationalsozialismus Elemente hervor, denen auf unterschiedlichen Ebenen Strukturen des Wahnhaften unterstellt werden können. Im Zusammenhang mit Hannah Arendts Überlegungen zum »ideologischen Denken« in ihrer Studie über Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft ließe sich von einem wahnhaften Weltbild auf höchster staatlich-institutioneller Ebene sprechen.17 Historisch beispiellos zeigt sich im Nationalsozialismus ein wissenschaftlich-anthropologisches System aus Eugenik und Rassenbiologie an eine totalitäre politische Institution, den NS-Führer-Staat, gekoppelt. Zu den Zügen dieses wissenschaftlich-institutionellen Wahnsystems gehört das Phänomen einer paranoischen Furcht, die – wie viele NS-Publikationen beständig wiederholen – davon ausgeht, von kulturellen, ökonomischen wie biologischen Feinden umgeben zu sein, die die eigene »Rasse« zu vernichten drohen; insbesondere eine Furcht vor der »Verunreinigung«, »Entartung« und »Zersetzung« des eigenen »Volkskörpers« bzw. der eigenen »Rasse«. Auf der anderen Seite zeigt sich der NS-Züchtungs- und Rassenwahn in einem in bürokratischer Kleinteiligkeit entworfenen Plan der »Züchtung eines neuen deutschen Menschen« mittels biopolitischer Überwachungs- und Kontrollstrukturen, die sich auf jedes einzelne Mitglied des »Volkskörpers« erstrecken (Erfassung der Bevölkerung durch Gesundheitsämter, Steuerung der Fortpflanzung durch Maßnahmen der Sterilisation und Eheberatungspflicht usw.). 153
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Die Frage, ob und wie sich Benns Text Dorische Welt im Kontext dieser wahnhaften Dynamiken zwischen 1933 und 1945 lesen lässt, soll im Folgenden nicht nur auf der Ebene inhaltlicher Ähnlichkeiten von Aussagen, Thesen und Motiven thematisiert werden. Darüber hinaus soll zur Untersuchung kommen, ob sich Züge von Wahnhaftigkeit auch gerade in der sprachlich-literarischen Verfasstheit des Textes, in seiner – um eine Zentralvokabel des Bennschen Essays aufzugreifen – sprachlichen »Form«, seiner sprachlich-literarischen Geformtheit und damit auch in Grundzügen einer Bennschen Poetik zeigen, die sich nicht nur auf die Jahre 1933/1934 beschränkt. Zum Text. Er beginnt folgendermaßen: Dorische Welt Eine Untersuchung über die Beziehung von Kunst und Macht I. Eine Welt in einem Licht, das oft beschrieben ist An das kretische Jahrtausend, das Jahrtausend ohne Schlacht und ohne Mann, wohl mit jungen Pagen, die hohe Spitzkrüge, und Prinzchen, die phantastischen Kopfputz tragen, doch ohne Blut und Jagd und ohne Ross und Waffen, an dies Voreisenzeitalter im Tal von Knossos, diese ungeschützten Galerien, illusionistisch aufgelösten Wände, zarten artistischen Stil, farbige Fayencen, lange steife Röcke der Kreterinnen, enganliegende Taillen, Busenhalter, feminine Treppen der Paläste mit niederen breiten Stufen, bequem für Weiberschritte –: grenzt über Mykene die dorische Welt. (III, S.283)
Dorische Welt – der Essaytitel erscheint ohne die Bestimmung eines Artikels. Handelt er von einem kulturhistorisch bestimmbaren Zeitraum, von der »dorischen Welt [… Epoche, Periode, Ort, Zeitalter usw.]« der griechischen Antike? Spricht er von einer, von unserer »Welt«, von der »Welt« des Jahres 1934, insofern sie in der Eigenschaft beschrieben werden kann, eine »dorische Welt« zu sein? Oder stellt die Dorische Welt in einem Modus literarischer Selbstbezüglichkeit nicht mehr und nichts anderes dar, als den nun folgenden Text, den Namen/Titel für ein literarisches Werk, ein literarisches Objekt, eine literarische Fiktion? Was dem Titel des Essays nicht eindeutig zu entnehmen ist, wird auch im weiteren Verlauf des Texts eine nicht endgültig zu beantwortende Frage bleiben. Wovon spricht Benn eigentlich, wenn er von der/einer dorischen Welt spricht?
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Der Titel des ersten Kapitels »Eine Welt in einem Licht, das oft beschrieben ist« trägt zunächst wenig zur Klärung dieser Frage bei. In seiner syntaktisch-grammatischen Struktur bleibt Benns Titelnennung vielmehr selbst rätselhaft. Der Nebensatz »das oft beschrieben ist« lässt sich durch seinen Artikel »das« eindeutig dem Objekt »Licht« zuordnen. Beschrieben scheint im Folgenden also nicht etwa eine »Welt« zu werden, sondern eben dieses »Licht«, die Art ihrer Beleuchtung; im Diskurs einer Theorie visueller Medien gesprochen: ihrer Belichtung. »Eine Welt in einem Licht, das oft beschrieben ist« – als beschrieben und damit auch als beschriftet kennzeichnet der Satz also nicht eine Welt, sondern das »Licht«, in dem sie steht. Wie aber kann Licht (im Sinne seiner Eigenschaft aus materielosen Strahlen zu bestehen) in dieser Weise beschrieben sein? Wir werden auf dieses Problem zurückkommen. Eine erste, hier bereits angefügte Hypothese: Es ist ein Licht, das nicht als optisch-real vorzustellen ist, sondern als ein Licht, das ausgeht von Beschriebenem; das von Schriften, literarischen Texten, wissenschaftlichen Studien – im Fall von Dorische Welt insbesondere kulturhistorischen Studien – auf die (dorische) »Welt« geworfen wird. Eine sehr eigenartige Form der historischen Beleuchtung erfährt die Dorische Welt bereits im ersten Satz (»An das kretische Jahrtausend […]«), der zugleich den gesamten ersten Absatz des Textes darstellt. In seiner syntaktischen Struktur fällt er durch die ungewöhnliche Form einer disproportionalen Zweiteilung auf. Während die Grundstruktur des Satzes: An x grenzt y, »An das kretische Jahrtausend […] grenzt die dorische Welt«, in dieser Form noch einem Diskurs der Schul- und Lehrbuchliteratur über die griechische Antike entstammen könnte, erfährt das »kretische Jahrtausend« im Bennschen Satz eine verwirrende Überreicherungen an näheren Bestimmungen, die in einer Struktur der Metonymie parataktisch aneinandergereiht werden. Die sich in kleinste Details verlierenden Beschreibungen treten hierbei in einer Funktion auf, die sie auch in ihren konkreten Motiven aufrufen: Schmuck, »phantastischer Kopfputz«, »illusionistisch aufgelöste Wände«, »farbige Fayencen«, sowie ein aus kulturhistorischer Sicht äußerst fragwürdiges Arsenal auftretender Figuren, die aus anderen Jahrhunderten und eher einem anderen Schauspiel entnommen zu sein scheinen: »junge Pagen«, »Prinzchen«. An diese überschmückte Welt »grenzt« in einer lapidaren, kargen, adjektiv- und motivlosen, gewissermaßen ›spartanischen‹ Formulierung: »[…] über Mykene die dorische Welt.« Von ihr ist in dem recht langen 155
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Satz eben nur dies gesagt, dass sie »über Mykene« grenzt. Mit der räumlichen Präposition »über« und im Gegensatz zu der nahe liegenden Präposition »an«, ist in Benns Ausführung jedoch zugleich ein suggestives Bild ihres Standorts evoziert: In einer hohen, ganz »Mykene«, d.h. die gesamte vordorische Geschichte umfassenden Position und wie eine aufgehende, leuchtende Sonne steht (… herrscht, … thront) die »dorische Welt« in bzw. über Benns Satz. Über allem Schmuck, über aller verwirrenden Vielfalt ›grenzt‹ die »dorische Welt« – hier bereits ein zweifaches Objekt: einerseits eine historische Epoche, andererseits ein Bennscher Text –; ein Text, der (nicht nur in der Inhaltsübersicht jeder Benn-Werkausgabe) an andere Texte ›grenzt‹, Grenzen und Abgrenzungen setzt, und zugleich über einem Ganzen steht. Zum einen über jenes sich als überschmückte Vielfalt präsentierendes, vordorisches »Mykene«, zum anderen, dies eine Vermutung meiner Lektüren, über Benns eigenem Werk. Geht man von dieser doppelten, historisch wie literarisch selbstreflexiven Codierung des Objekts Dorische Welt aus, zeigen sich als angrenzende Sphären bereits im ersten Satz des gleichnamigen Essays nicht nur kulturhistorische Epochen, sondern – nicht unähnlich archäologischen Fundstücken – auch Texte und programmatische Entwürfe aus Benns früheren Schriften, gewissermaßen der Historie seiner eigenen Werkgeschichte. Wenn Benn zu Beginn des ersten Satzes vom »kretischen Jahrtausend« spricht, so ist anzumerken, dass Benn selbst im Jahr 1916 ein Gedicht mit dem Titel Kretische Vase veröffentlicht hat. Nicht nur die Epoche des Kretischen findet sich in Benns Gedicht aufgerufen, auch die Motive »Mykene« und »Licht« (»mykenischen Lichts«), ebenso Bilder aus dem Motivkreis einer dorischen »Statuenkunst« (»Läuferglieder«). Auch die »Knabenhände« der Kretischen Vase lassen sich in einem Konnex zu der »Knabenliebe« in der Dorischen Welt lesen.
Kretische Vase Du, die Lippe voll Weingeruch Blauer Ton-Zaun, Rosen-Rotte, Um den Zug mykenischen Lichts, Un-geräte, Tränke-Sehnsucht Weit verweht.
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Lockerungen. Es vollzieht sich Freigebärung. Lose leuchtend Tiere, Felsen; Hell-Entzwecktes: Veilchenstreifen, laue Schädel, Wiesenblütig. Welle gegen Starr und Stirn, Glühe tiefer Bachanale Gegen die Vernichtungsmale: Aufwuchs und Bewußtseinshirn – Spüle, stäube! Knabenhände, Läuferglieder, raumumschlungen, Stranden dich zu Krug und Hang, Wenn bei Fischkopf, Zwiebel, Flöten Leda-Feste rosenröten Paarung, Fläche, Niedergang. – (I, S.84)
Einem Deutungsansatz Wolfram Groddecks folgend, ist Benns Gedicht Kretische Vase im Sinne eines poetologisch programmatischen Texts bzw. eines Lektüreprogramms Bennscher Gedichte zu lesen. Die Vase als kostbarer Aufenthaltsort, der – wie das Wort »Ton-Zaun« andeutet – aus »Ton« besteht, einem Homonym von akustischem und materiellem »Ton«,18 kennzeichnet im Sinne einer Figur literarisch-poetologischer Selbstreflexion auch das Objekt Gedicht selbst. Das Vasengedicht spiegelt sich im Bild des Gedichts als Vase, zu der Groddeck u.a. ausführt: »Wer das Gedicht Kretische Vase zu lesen beginnt, der nippt am Trinkgefäß des Gedichts, […]«19 Ein Genuss, der in dem Gedicht über die von Groddeck herausgestellten autoreflexiven Zügen hinaus allerdings auch – und darin ähnlich wie in Benns späterer Rede vom »Dorischen« – markiert ist von Motiven eines homophilen Begehrens. Gemalt um Benns Gedichtvase zeigen sich vielfältige Bilder einer »Paarung«, die gerade nicht den Gesetzen biologisch-natürlicher Fortpflanzung folgt, sondern – in einer ebenso sexuellen wie poetologischen Lesart – von einer Zeugung im Rahmen von Unnatur, Perversion, Künstlichkeit (»Un-geräte«, »Hell-Entzwecktes«) spricht.20 Auch im zweiten Abschnitt des Texts Dorische Welt taucht das Motiv der »Vase« auf. Hier jedoch, wie in einer teilweisen Revidierung der Poetik der Kretischen Vase von 1916 – verkürzt: als Aufbewahrungsort 157
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eines ebenso ›entzweckten‹ wie dionysischen, dem »Niedergang« geweihten Genusses –, wird die Vase primär herausgestellt als ein Träger von »Ordnung« und »gegliederte[m] Raum«; als Objekt, dem eine Ordnung ›eingebrannt‹21 wurde: [E]s ist immer eine Ordnung da, durch die wir in die Tiefe sehen, eine, die das Leben einfängt auf gegliedertem Raum, es erhämmert, meißelnd ergreift, es als Stierzug auf eine Vase brennt –, eine Ordnung, in der der Stoff der Erde und der Geist des Menschen noch verschlungen und gepaart, ja wie in höchstem Maße einander fordernd, das erarbeiten, was unsere heute so zerstörten Blicke suchen: Kunst, das Vollendete. (III, S.283)
Über die neue politische Macht dieser Ordnung lässt Benn im Jahr 1934, folgt man wiederum einem dritten Auftauchen des Vasenmotivs in der Dorischen Welt, wenig Zweifel: »da wohnen die Töpfer, die bäuerlichen, alte Schule, und firnissen ihre Vasen, braun und schwarz auf gelblichem Grund, die unteren Teile bleiben frei, werden nur einfach verziert, doch auf Hals und Schultern kommen die geraden Linien, Zickzack, Dreiecke, Schachbrettmuster, Kreuze und Hakenkreuze […]« (III, S.287)22 Folgt man dieser Spur einer poetologischen Referenz in Kretische Vase und der auffällig transformierten Variation des gleichen Motivs in dem späteren Essay, stößt man in der Dorischen Welt auf eine Vielzahl weiterer Verweise auf Texte, Motive und poetologische Entwürfe aus Gottfried Benns früheren Schriften; gewissermaßen auf »eine Welt in einem Licht, das oft beschrieben ist«. Liest man Benns Text als ein – seine Essayproduktion »für den neuen deutschen Staat« betreffend – finales Dokument, so ist er unter einer literaturprogrammatischen Perspektive zugleich ein letztgültiger, gewissermaßen testamentarischer Aufbewahrungsort früherer Texte und Schreibprogramme.23 Elemente und Motive der griechischen Antike sind bereits in der frühen Lyrik Benns ein wiederkehrendes Thema.24 »Dorertempel« kommen bereits in dem Gedicht Englisches Café aus dem Jahr 1913 vor. Während Benns Dorische Welt als zentrales Kunstmotiv immer wieder die dorische »Säule«, »die graue Säule ohne Fuß« anführt, heißt es in dem ebenfalls auf eine Vielzahl antiker Motive verweisenden Gedicht Karyatide, wiederum aus dem Jahr 1916, noch in einer gegensätzlichen Diktion: »Bespei die Säulensucht: toderschlagene / Greisige Hände bebten sie / Verhangenen Himmeln zu«. (I, S.81)
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Auch in einem anderen zentralen Text Gottfried Benns finden sich, liest man ihn in Konfiguration zu dem späteren Essay, Motive des ›Dorischen‹. An einer Stelle der Schrift Das moderne Ich von 1920, die ähnlich wie die spätere Dorische Welt mit den Stilprinzipien assoziativer, parataktischer Reihungen und montierender Textwiederholungen arbeitet, findet sich eine Formulierung, die sich auch als philologischer Hinweis lesen lässt: Hellstes Griechenland, die Taineschen Hellenen, wie kräftig der Hals und wie hoch die Brust. Arme, sparsame, junge Rasse, Hirten von drei Oliven lebend, einer Knoblauchzehe und einem Sardellenkopf; schlafend auf Straßen, die Frauen auf den Dächern, helle Winde, Glücke um ein Nichts – , ihre Götter, die nicht sterben, die die Winde nicht erschüttern, die der Regen nie durchnäßt, die der Schnee nicht erreicht, »wo wolkenlos der Äther sich öffnet und das weiße Licht leichtfüßig läuft«. / Hellstes Griechenland, die Taineschen Hellenen, arme sparsame junge Rasse und plötzlich: aus Thrazien: Dionysos. (III, S.45)
Wiederkehrend zeigen sich in der Textpassage von Das moderne Ich Motive aus dem Gedicht Kretische Vase: »Fischkopf, Zwiebel, Flöten« – »Hirten von drei Oliven lebend, einer Knoblauchzehe und einem Sardellenkopf« (… eine ›spartanische‹ Kost). Angelegt zeigt sich auch hier bereits die Licht- und Sonnenmetaphorik aus Dorische Welt: »Hellstes Griechenland«. Hingewiesen wird in der Textpassage aber auch auf eine historische Textquelle der Ausführungen: »die Taineschen Hellenen«. Wie in der Bennforschung bereits mehrmals untersucht, ist es die erstmals 1866 auf deutsch erschienene Philosophie der Kunst des französischen Philosophen und Kunsttheoretikers Hippolyte Taine, die sich als eine der literarischen Quellen identifizieren lässt, die dem Text Das moderne Ich in Form wörtlicher Zitationen und montierenden Umstellungen zugrunde liegt.25 Auf eine auf den ersten Blick ganz analoge Form der montierenden Verwendung der Taineschen Schrift stößt man in Dorische Welt. Holger Hof, der die Montagetechnik in Gottfrieds Benns Essayistik zum Thema einer umfangreichen Untersuchung gemacht hat, führt zu dem Essay von 1934 aus: Die Überschrift des ersten Kapitels kann durchaus wörtlich genommen werden. Gottfried Benn bezog sein gesamtes faktisches Wissen von der ›dorischen Welt‹ aus Büchern. Seine beiden Hauptquellen sind Hippolyte Taines Philosophie der Kunst und
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Jacob Burckhardts Griechische Kulturgeschichte, aus denen etwa zu gleichen Teilen montiert wird.26
Philologisch erweist sich der Essay in äußerst weiten Teilen generiert aus Montagen, als deren Textquellen neben kulturhistorischen Studien sowie der frühen Schrift Die Geburt der Tragödie Friedrich Nietzsches und weiterer Nietzsche-Texte auch Gottfried Benns eigene Texte aus verschiedenen Werkphasen (u.a. Die Eroberung, Kretische Vase, Karyatide, Das Moderne Ich, Rede auf Heinrich Mann, Züchtung, Bekenntnis zum Expressionismus, Rede auf Stefan George) zu identifizieren sind. Stilistisch zeigt sich die Dorische Welt entgegen der Vielzahl ihrer Quellen jedoch als ein Text, der bestrebt ist, als ein homogenes Ganzes in Erscheinung zu treten. Als Spezifik der Bennschen Montageweise bemerkt bereits Holger Hof eine: »hochartifizielle Technik, die bei aller Kompliziertheit immer der rezeptionsästhetischen Maxime der Einheitlichkeit traditioneller Kunstwerke folgt. Fast alle Zitate werden von Benn so bearbeitet, daß sie sich nahtlos in den Assoziationsfluß des vorgegebenen Themas einfügen.«27 Was Hof demnach als ein Charakteristikum des Bennschen Montagestils erkennt, ist seine Nahtlosigkeit: »Es ist das Produktionsverfahren einer literarischen Präzisionstechnik, die gerade darin besteht, die Nahtstellen der Einbauteile so zu verschweißen, daß sie nicht mehr erkennbar sind.«28 In seiner signifikanten Eigenschaft der ›Nahtlosigkeit‹ ist Benns Text jedoch nicht nur in der produktionsästhetischen Fragestellung eines spezifischen Montageverfahrens zu lesen. Wie im Folgenden dargestellt werden soll, ist das Kalkül der Herstellung einer nahtlosen Homogenität und Kontinuität in der Dorischen Welt vielmehr auf mehreren simultanen bzw. simultan ineinander greifenden Ebenen wirksam. Als homogene Welt präsentiert sie sich in Benns Text zum einen als eine kulturhistorische Epoche, die ihre Identität durch radikale Abgrenzungen konstituiert. Die Nahtstellen der aus kulturhistorischen Studien zusammenmontierten »dorischen Welt« zeigen sich in Benns Text gleichsam nach Außen verlagert. Die Schnitte, die Benn zur Darstellung bringt, sind diejenigen der Abgrenzung von einer verwirrenden Vielfalt des »kretischen Jahrtausends«, von geschlechtlichen Vermischungen, von einer ›femininen‹ Welt der Prinzchen und Pagen, von »Rassensplittern mit Mutterrecht« (III, S.283), von einer »Silhouette Griechenlands, panhellenisch gemischt« (III, S.292). In diesem Rahmen einer sich durch 160
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Grenzen der Ausschließung geschlossenen »Welt« findet die Dorische Welt ihre ästhetische Beschreibung demgegenüber in monolithischen Formen, die sich durch Schmucklosigkeit, Einheitlichkeit und Massivität (Säule, Quader, Chöre) auszeichnen: Als zusammenhängendes Ganzes »[…] steht die graue Säule ohne Fuß, der Tempel aus Quadern, steht das Männerlager am rechten Ufer des Eurotas, seinen dunklen Chöre –: die dorische Welt.« (III, S.292) Als eine Homogenität bzw. als ein kontinuierlicher Zusammenhang nahe gelegt werden auch die zeitlich weit auseinander liegenden ›Welten‹ der dorischen Epoche und der faschistischen Gegenwart. Auffällig ist, dass in Benns Text aus den genannten Studien Taines und Burckhardts vor allem jene Motive und Textpassagen einer – z.T. äußerst entstellenden – Verwendung unterzogen werden, die sich im Rahmen einer montierenden Neukomposition in das zeitgenössische NS-Weltbild vom autoritären Militär- und Züchtungsstaat Sparta integrieren lassen. Integriert und bis zur Nahtlosigkeit eingeführt werden jedoch nicht nur die kulturhistorischen ›dorischen Welten‹ Taines und Burckhardts in die NSStaatsdoktrin des Jahres 1934 (»Schlachten und Unterwerfung«, »Körper zu r Z u ch t […]. Man ging wie in Gestüten vor«29 usw.); eine Inkorporation, der Benn u.a. die Formulierung gibt: »Die Antike ist […] völlig in uns.« (III, S.303) Ein weiterer Zug des Integrativen betrifft den in Dorische Welt erkennbaren Versuch einer Synthese, einer Neu- und Zusammenfassung seiner eigenen, früheren Schriften und Schreibprogramme zu einem homogenen Ganzen. Liest man Benns Text Dorische Welt, ebenso wie Kretische Vase, als einen dezidiert poetologisch-programmatischen Text, so ist in ihm ein Schreibprogramm erkennbar, das eine Vielzahl früherer Text aufgreift und in einem neuen Zusammenhang gewissermaßen in einer neuen »Welt« situiert.30 Überträgt man die Rede vom »schönen Körper« der Dorischen Welt auf den veröffentlichten Korpus der Bennschen Schriften, über dem nun mit der Publikation des Texts auch eine Dorische Welt »grenzt« (vgl. III, S.283), kommt in Benns literarischer Praxis auch ein Verfahren der Selektion, der Reinigung, der Formung eines »neuen Typs«, mithin: der Züchtung in den Blick. Aus diesem Blickwinkel sind die Figuren des »schönen«, »großen« und »gezüchteten Körpers« im Text von 1934 auch als Abgrenzungen und Verwerfungen früherer Schreibpositionen lesbar; insbesondere gegenüber Benns ›frühexpressionistischer‹ Werkphase, wie den Gedichtsammlungen Morgue oder Fleisch. Gegenüber den dortigen Figurationen eines sich im ›zerlö161
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senden‹ Rausch befindlichen, kranken, deformierten, von Zeichen der Hässlichkeit markierten Körpers,31 beschwört die Dorische Welt die makellose Oberfläche des ›sch ö n en Körpers‹. Ein Bestreben, dass u.a. in der apodiktischen Formel gipfelt: »Zwischen Rausch und Kunst muss Sparta treten, Apollo, die große züchtende Kraft.« (III, S.303) Was in dieser metonymischen Verkettung: »Sparta […], Apollo, die große züchtende Kraft« zusammentritt und sich in eine Kontinuität setzt, sind auch jene drei Ebenen, die Benn in seinen Texten der Jahre 1933/34 wiederkehrend in einer Großsynthese zu vereinigen sucht: der politische Staat, die Kunst, die biopolitisch-eugenische Vision eines »neuen Menschen«. Was diese drei Ebenen zu einem Ganzen vereinigen soll, ist, wie einer Reihe Bennscher Texte dieser Zeit zu entnehmen ist, das Problem der »Form«, der Formung, der Gestaltung. Dieses Bestreben der »Form« appliziert Benn auf die politische »Ordnung« des dorischen Staats, auf die künstlerische »Ordnung« der dorischen Statuenkunst ebenso wie auf die ästhetische »Ordnung« des dorischen Willens zur »Züchtung« schöner und großer Körper. Die Konsequenz dieses Bennschen Entwurfs eines Großprojekts der »Formung« ist eine Literatur, die sich ihrerseits explizit in eine Parallelität zu Verfahren der »Züchtung« setzt. Was Benn über die dorische Kunst ausführt: eine Kunst spartanischer Schmucklosigkeit, eine Ästhetik der »Statuenkunst«, die ihr Vorbild im ›gezüchteten‹ und ›schönen‹ Körper hat und die nach »Vollkommenheit«, nach dem »vollkommenen Körper« strebt (vgl. III, S.298), gilt in dieser Hinsicht auch für seine eigene Literatur; für ein Verfahren, das parallel zum NS-Paradigma der »Rassenhygiene« die Herstellung eines geordneten und gereinigten Ganzen zum Ziel hat. Benns in dieser Weise als züchterische Formung verstandene Literatur moniert ihr Paradigma einer »Kunst der Form« dabei nicht nur als einen produktionsästhetischen Begriff, sie setzt sich auch zu den Züchtungsentwürfen des NS-Staats in ein affirmatives Verhältnis der Ergänzung: »[…] auch der Züchtungsgedanke fällt unter dies Formproblem« (III, S.488), führt Benn im gleichen Jahr in seiner Rede auf Stefan George aus; einem Text der in dem visionären Entwurf einer neuen, (bereits hier auch »dorischen«) »imperativen Kunst« gipfelt. Eine beschwörende, z.T. alttestamentarische Züge tragende Vision, die in ihrer Stilistik große Ähnlichkeiten zu Textpassagen der Dorischen Welt aufweist: 162
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Abendländischer Geist, der neue, der wird sprechen aus jener Welt der ungeheuersten Klarheit, die sich vorbereitet, die sich nähert […]. Eine Welt, die sich gegen das Mütterliche richtet […] es ist dorische Welt. Form und Schicksal. Moira –: der jedem zugewiesene Teil, der Raum des Lebens, den die Arbeit füllt am Staat und am Marmor. Zucht und Kunst, – die beiden Symbole des neuen Europas […] Form und Zucht. Es gibt nur die Kunst, so endet die Epoche, die imperative Kunst, die Raum setzt, Grenzen setzt, anordnet, das Maßlose gliedert, in der der Staat und der Genius sich erkennt und sich vermählt. (III, S.489)
Welche Formen sprachlicher bzw. literarischer Artikulation bringt ein solches Schreibprogramm hervor? Nach meiner These zeigen sich in Benns Texten der Jahre 1933/1934 Elemente einer Sprache, die Züge von Wahnhaftigkeit trägt, insofern der Tatbestand der Geschlossenheit der Wahrnehmungen und Vorstellungen in einer selbst geschöpften, die Intensität eigenen Erlebens und eigener Affekte entlastenden »Welt« als ein zentrales Kriterium von psychiatrischen, psychoanalytischen oder politischen Theorien des Wahns bestimmt werden kann. Im Rahmen unterschiedlicher Disziplinen und Theorieansätze ist der Wahn immer wieder charakterisiert oder definitorisch bestimmt worden als der Aufenthalt in einer geschlossenen, durch keine Infragestellung oder Kritik mehr falsifizierbaren oder relativierbaren Ordnung, der der hermetische wie totale Status einer »Welt«, einer »Weltordnung« zukommt.32 Auf einen weiteren Aspekt des Wahns hat Jacques Lacan im Anschluss an Sigmund Freuds strukturelle Psychoanalyse hingewiesen. In seinem Seminar Die Psychosen, einem Untersuchungsfeld, das um »Sprachphänomene in der Ökonomie der Psychose«33 kreist, bestimmt Lacan die Genese psychotischer Formen von Wahn aus einer Praxis der »Verwerfung des Signifikanten«.34 Im Unterschied zu den Freudschen Begriffen der Verdrängung oder der Verneinung ist der Terminus »Verwerfung« demnach zu bestimmen als der Versuch einer spurlosen, gewissermaßen: keine Nahtstellen hinterlassenden Tilgung eines Elements/eines Signifikanten aus der symbolischen Ordnung.35 Was sich in dieser Konsequenz in den Halluzinationen und Zwangsvorstellungen des Wahns zeigt, ist eine Dynamik, in der das so auf der Ebene der symbolischen Ordnung Verworfene von außen, bzw. auf der Ebene des Realen wiederkehrt. In Aufnahme des Freudschen Begriffs der »Projektion« in der Psychose36 bestimmt Lacan in dieser Weise als Grundstruktur des Wahns: »Was
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derart Objekt einer Verwerfung* gewesen ist, erscheint im Realen wieder.«37 Betrachtet man vor dem Hintergrund dieser Bestimmungsansätze des Wahns den Text Dorische Welt, so lässt sich auch in ihm der Konstitutionsversuch einer wahnhaften und in dieser Eigenschaft ebenso unrelativierbaren wie nahtlosen »Welt«-Ordnung erkennen. Die konkreten Formen dieses Verfahrens wahnhafter Homogenisierungen wären noch genauer zu untersuchen bzw. eines eigenen »close readings« wert. Ich würde sie zunächst in struktureller Weise in einem durch den Text konstituierten (Signifikanten-)System metonymischer Kontinuitäten festmachen: Simultan zu den bereits angesprochenen, ausgreifenden kulturhistorischen Schilderungen stellt der Text ein geschlossenes metonymisches System her, in dem Benns Ausführungen und Bestimmungen lediglich in immer neuen Versionen und wie in einer Endlosschleife zu variieren vermögen. Im Gegensatz zur Struktur der Metonymie als einem Verfahren, das eine (Verschiebungs-)Bewegung im Sinne syntagmatischer Beziehungen zwischen Signifikanten herstellt,38 formieren sich die metonymischen Verweisungsketten der Dorischen Welt zu einer zirkulären Bewegung, die zugleich einer Stillstellung, einem Stillstand gleichkommt. An die Stelle der Bewegung im Sinne eines »Gefangensein[s] in den ewig auf das Begehren nach etwas anderem ausgerichteten Bahnen der Metonymie«39 rückt in Benns Text ein fixiertes Prozessieren entlang der Grenzen einer Dorischen Welt, die der Text selbst in dieser Sprachbewegung zugleich konstituiert und festschreibt. Es ist ein System sich spiegelnder und ergänzender Begriffe und Motive, in der sich seine theoretischen Zentralsignifikanten Kunst – Züchtung – Form – dorische Statuenkunst – Sparta – Staat – Kampf – progressive Anthropologie – Ordnung – Raum – schöner Körper – Vollkommenheit – usw. so nahtlos wie strukturell endlos zu einer suggestiven Ordnung zusammenfügen, dass die Frage nach ihren konkreten Relationen, Differenzen und Antinomien, die Frage nach ihrem realen oder fiktiven Status nicht mehr stellbar ist. In ihrer Konstitution einer differenzlosen Ganzheit kennt Benns Dorische Welt weder Ausgänge noch Alternativen, sie ist ebenso Vergangenheit wie Zukunft (»Ewigkeit«), sie ist ebenso Schrift wie Realität, ebenso literarischer Text wie abendländische Kulturgeschichte, ebenso außer uns wie »völlig in uns«. (III, S.303)
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Dieses literarische Sprachsystem Dorische Welt bringt Sätze hervor, die keine Argumentationen mehr entwerfen, keine Thesen mehr erörtern, keine Grenzen zwischen literarischer Fiktion und Aussagen über eine politische Gegenwart mehr ziehen lassen, sondern nur noch in der suggestiven Wirkung ihrer eigenen Präsenz erscheinen: […] es ist immer das Sein, doch ganz gebannt; alle Vielfalt, doch gebunden; Felsenschreie, Äschyläischer Gram, doch Vers geworden, in Chöre gegliedert; es ist immer eine Ordnung da, durch die wir in die Tiefe sehen, eine, die das Leben einfängt auf gegliederten Raum, er erhämmert, meißelnd ergreift, es als Stierzug auf eine Vase brennt – eine Ordnung, in der Stoff der Erde und der Geist des Menschen noch verschlungen und gepaart, ja wie in höchstem Maße einander fordernd, das erarbeiten, was unsere heute so zerstörten Blicke suchen: Kunst, das Vollendete. (III, S.283) Die Antike, das ist dann die neue Wendung, der Beginn dieses Prinzips […] grundsätzlich S t i l zu werden, Kunst, Kampf, Einarbeitung ideellen Seins in das Material, tiefes Studium und dann Auflösung des Materials, Vereinsamung der Form als Aufstufung und Erhöhung der Erde. (III, S.306) […] der Mensch, das ist die Rasse mit Stil. (III, S.307) Kunst ist die Arterhaltung eines Volkes, seine definitive Vererbbarkeit. (III, S.307) Alle Ewigkeit will Kunst. Die absolute Kunst, die Form. (III, S.308) Die Zeitalter enden mit Kunst, und das Menschengeschlecht wird mit Kunst enden. […] Der Mensch, die Mischgestalt, der Minotaurus […] hier ist er akkordisch rein und in Höhen monolithisch […] (Ebd.)
Die Suggestionswirkung dieser Sätze liegt nicht nur in ihrer apodiktischen und definitorischen Rhetorik. In Dorische Welt stehen sie zugleich in einem Gesamtzusammenhang, der ihre Geltung nicht mehr durch konkrete Begründungen, sondern durch eine ebenso klangliche wie plastisch-visuelle Präsenz (»Licht«, »hellstes Griechenland«, »schöne Körper«, »die dorische Säule« usw.), gewissermaßen durch eine Welt leuchtender »Oberflächen«40 reklamiert. In diesem Zusammenhang findet sich allein die ebenso konstatierende wie imperative Formulierung »wir sehen« bzw. »sehen wir« im letzten Kapitel des Textes Dorische Welt in elffacher Wiederholung.
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Jener ästhetische Ort aber, wo der Mensch als »akkordisch rein und in Höhen monolithisch« im Sinne einer »dorischen Harmonie« (vgl. III, S.300) erscheint, ist nicht nur derjenige einer von Benn evozierten, durch die Herrschaft einer »Kunst der Form« bestimmten Dorischen Welt. Er ist in seiner Kopplung an eine realpolitische Praxis züchterischer NS-Biomacht auch der Ort eines wahnhaften Körper- und Menschenbildes. Nicht anders als in Benns Poetik der Dorischen Welt bewegt sich auch der Züchtungsstaat des Nationalsozialismus in einem Programm der Säuberung von mangelhaften Mischgestalten zu nahtund spurlosen Reinheiten (begriffen als »Aufartung« und »Aufnordung« des »Volkskörpers«, Auslese des »Artfremden« usw.).41 Rassenhygieniker wie Fritz Lenz sprechen in diesem Zusammenhang von einer »Gestaltung des Typus Mensch«.42 Hier wie dort sind es vor allem suggestive Oberflächen visueller Bilder, vor deren Hintergrund sich halluzinierte Ganzheiten zunächst in einem ›Sehen‹ manifestieren sollen. So ist es auch der »rassenkundliche Blick« im Sinne eines »bildnerischen Sehens«, an den die berüchtigte, im NS-Staat kanonische Rassenkunde Hans F.K. Günthers in seinen Vorbemerkungen zuallererst appelliert: »Der Blick des heutigen Menschen ist bildnerisch nicht erzogen. […] Man könnte vielleicht sagen: am allerletzten wird im neuzeitlichen Menschen der Bildhauer aufgerufen.«43
Schluss Die Frage, wie weit Lacans psychoanalytische Theorie der »Verwerfung« auf die literarischen wie realpolitischen Züchtungswelten zwischen 1933-1945 anwendbar ist, ist Aufgabe weiterer Untersuchungen. Die Psychose, der NS-Züchtungsstaat und ein literarischer Text wie Benns Dorische Welt bleiben trotz aller Berührungspunkte unterschiedliche Terrains, die unterschiedlichen Strukturen und unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten folgen. Was sich in den erörterten literarischen wie eugenischen Entwürfen von »Züchtung« und »Auslese« zeigt, erweist sich jedoch in seinen Konturen anschließbar an Lacans Entwurf einer Strukturlogik wahnhafter »Verwerfung«. Man könnte in diesem Sinne im Fall der Psychosen nach Lacan, im Fall des Züchtungsprogramms des Nationalsozialismus und im Fall des Bennschen Texts Dorische Welt von drei Schauplätzen sprechen, an denen sich »Verwerfung« in
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Form eines wahnhaften Prozesses der Löschung von Differenzen ereignet. Aus dieser Perspektive ist in der alltagssprachlichen Rede vom »Züchtungswahn« der Tatbestand einer radikal verwerfenden (›auslesenden‹, ›ausmerzenden‹) Praxis vernehmbar; ein wahnhaftes Projekt der Herstellung differenzloser Einheit.44 Lesbar ist ein strukturell ähnliches Modell von »Verwerfung« auch in Benns Dorischer Welt, – hier allerdings im Modus eines literarischen Verfahrens der Tilgung eigener, früherer Texte (… Poetiken, … Motive, … Körperbilder); einer gewissermaßen artifiziellen, sich bereits auf dem Terrain einer literarisch-fiktionalen »Ausdruckswelt«45 ereignenden Verwerfung, über deren ›psychotische‹ Disposition an anderer Stelle zu spekulieren wäre.
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Vgl. u.a. das Vorwort des Aufsatzbandes Der neue Staat und die Intellektuellen: »Das Resultat meiner fünfzehnjährigen Entwicklung stelle ich an den Anfang: die beiden Rundfunkreden für den neuen deutschen Staat.« (III, S.703) Benns Schriften werden im Folgenden im laufenden Text unter Verwendung der vierbändigen Werkausgabe: Benn, Gottfried: Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke. Textkritisch durchgesehen und herausgegeben von Bruno Hillebrand, Frankfurt/M. 1982-1990 und unter den in Klammern angegebenen Siglen zitiert: Bd. 1, Gedichte, Frankfurt/M. 1982 (I), Bd. 2, Prosa und Autobiographie, Frankfurt/M. 1984 (II), Bd. 3, Essays und Reden, Frankfurt/M. 1989 (III), Bd. 4, Szenen und Schriften, Frankfurt/M. 1990 (IV). Vgl. u.a. den expressionismuskritischen Aufsatz »Die neue Dichtung« Börries von Münchhausens, der im populären Deutschen Almanach auf das Jahr 1934 des ReclamVerlags erschien (wiederabgedruckt auch im editorischen Kommentar: III, S.678-684). Theweleit, Klaus: Buch der Könige 2x. Orpheus am Machtpol, Basel/Frankfurt/M. 1994, S.671. Rosenberg, Alfred: Der Mythus des 20. Jahrhunderts [1930], München 1942, S.34. Ebd., S.46. Nennungen des »Dorischen« finden sich in Rosenbergs Text immer wieder: »das dorische Hellas« (S.114), »der klassische dorische Bau« (S.353), »die basislose dorische Säule« (S.367). Eine weitere Bezugsquelle dieser Rede vom »Dorischen« für den Bennschen Text kann in der 1933 in deutscher Übersetzung erschienen Schrift Heidnischer Imperialismus Julius Evolas ausgemacht werden. Als diffuser Topos von Imperialismus, Männlichkeit und Autorität durchzieht das »Dorische« im Rahmen eines Appells zur Rückbesinnung auf eine »nordisch-solare Urtradition« den Evolaschen Text (vgl. Evola, Julius: Heidnischer Imperialismus [Imperialismo Pagano, Rom 1928], Leipzig 1933, S.2, S.5, S.80, S.82, S.87). Speer, Albert: Erinnerungen, Berlin 1969, S.75. Lenz, Fritz: Menschliche Auslese und Rassenhygiene (Eugenik) [1921], München 1932, S.16.
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Der Name »Sparta« ist bis heute ein gängiger homosexueller Code; die Erotik der »Knabenliebe« firmiert traditionell, rückführend auf Dichter wie Pindar und Theognis, auch unter dem Begriff des »dorischen Eros«. U.a. in der Dichtung Stefan Georges finden sich Motive dieses »dorischen Eros« in reichhaltiger Zahl, nicht selten auch dort verknüpft mit spartanischen Topoi von Heldentum und Krieg. Vgl. u.a. die Gedichte Der Kampf; Kommt wort vor tat kommt tat vor wort?; Ist dies der knabe längster sage (George, Stefan: Werke. Ausgabe in zwei Bänden, Bd. 1, München 2000, S.246, S.359, S.378). Vgl. zu diesen Auseinandersetzungen u.a. Hein, Peter Ulrich: Die Brücke ins Geisterreich. Künstlerische Avantgarde und Kulturkritik im Faschismus, Reinbek bei Hamburg 1992. Zu dieser Formel vgl. die Ausführungen in Benns ebenfalls 1934 publizierter Rede auf Stefan George: »Form und Schicksal. Moira –: der jedem zugewiesene Teil, der Raum des Lebens, den die Arbeit füllt am Staat und am Marmor. Zucht und Kunst, – die beiden Symbole des neuen Europa, wenn es noch ein neues geben soll, da steht George, und es gibt kein Zurück.« (III, S.489) Vgl. hierzu u.a. Wolbert, Klaus: Die Nackten und die Toten des »Dritten Reiches«. Folgen einer politischen Geschichte des Körpers in der Plastik des deutschen Faschismus, Gießen 1982. Vgl. hierzu auch ähnliche Einschätzungen in der Benn-Literatur. Benn »läßt es sich nicht nehmen, im Namen der Kunst und der Schönheit Zug für Zug in dieser ›Dorischen Welt‹ die Züge des Staats zu entwickeln, in dem er dies schreibt, Zug für Zug das Modell des aktuellen Nazi-Staats«, bemerkt Klaus Theweleit über den Text (Theweleit, Klaus: Buch der Könige 2x, a.a.O., S.671). Eine ähnliche Einschätzung findet sich in einem Aufsatz Friedrich Kittlers, der den Text als nichts Geringeres als »Benns feierliche Ausrufung des totalen Staats und der totalen Mobilmachung« (Kittler, Friedrich A.: »Benns Lapidarium«, in: Weimarer Beiträge, Wien 1994, Heft 1, S.5-14, S.10) charakterisiert hat: »Die dorische Säulenordnung, der ja nicht nur Füße, sondern auch alle Blattwerke am Kapitell abgehen, feiert das Anorganische als solches, die Architektur der Reichsparteitage.« (Ebd., S.11) Vgl. Der neue Staat und die Intellektuellen, III, S.432. Vgl. hierzu insbesondere die Texte Nach dem Nihilismus (III, S.223-231), Rede auf Stefan George (III, S.479-490). Vgl. Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M. 2002, S.152: »Tatsache ist, daß das nationalsozialistische Reich den Zeitpunkt markiert, an dem die gegenseitige Integration von Medizin und Politik, die einen der wesentlichen Züge der modernen Biopolitik darstellt, ihre vollendete Form anzunehmen beginnt.« In ähnlicher Weise hat bereits Michel Foucault die biopolitischen Züge des NS-Staats bestimmt: »Der Nazismus ist wohl tatsächlich die auf die Spitze getriebene Entwicklung neuer, seit dem 18. Jahrhundert vorhandener Machtmechanismen. Es gibt keinen disziplinäreren Staat als das Naziregime; auch keinen Staat, in dem die biologischen Regulierungen auf straffere und nachdrücklichere Weise wiederaufgenommen worden wären. Disziplinarmacht, Bio-Macht: Beide hat die Nazigesellschaft aufgegriffen und zum Einsatz gebracht (der Zugriff auf das Biologische, die Fortpflanzung, die Nachkommen; Erfassung auch von Krankheit und Unfällen). Keine Gesellschaft, die disziplinärer und zugleich versicherungsförmiger gewesen wäre als die von den Nazis eingeführte oder in jedem Fall geplante. Die Kontrolle der den biologischen Prozessen eigenen Zufälle war eines der unmittelbaren Ziele dieses Regimes.« (Foucault, Michel: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-76), Frankfurt/M. 1999, S.306) Bereits in Hitlers Mein Kampf hatte man lesen können, dass der zukünftige Staat die »Erhaltung und Steigerung der Rasse« (Hitler, Adolf: Mein Kampf [1925/26], München 1939, S.430) als seine höchste Aufgabe anzusehen habe. Nicht anders als in vielen Schriften der deutschen »Rassenhygieniker« der 1920er und 1930er Jahre (Eugen Fischer, Fritz Lenz u.a.), liest sich Hitlers Staatsdoktrin als ein medizinischeugenisches Programm: »Er [der ›völkische Staat‹] hat die Rasse in den Mittelpunkt des allgemeinen Lebens zu setzen. Er hat für ihre Reinerhaltung zu sorgen. Er hat das Kind zum kostbarsten Gute eines Volkes zu erklären. Er muß dafür Sorge tragen, daß
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nur wer gesund ist, Kinder zeugt […]. Der Staat muß dabei als Wahrer einer tausendjährigen Zukunft auftreten, der gegenüber der Wunsch und die Eigensucht des einzelnen als nichts erscheinen und sich zu beugen haben. Er hat die modernsten ärztlichen Hilfsmittel in den Dienst dieser Erkenntnis zu stellen.« (Ebd., S.446f.; im Original sämtlich gesperrt gedruckt) Vgl. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft [dt. Erstausgabe 1955], Zürich 1995, S.717-730. Vgl. Groddeck, Wolfram: »Benns Kretische Vase«, in: Schuller, M./Strowick, E. (Hg.) Singularitäten. Literatur – Wissenschaft – Verantwortung, Freiburg i. Br. 2001, S.361374, hier: S.367. Für den »Ton« als Ausgangsmaterial von Töpferwaren besteht zudem eine etymologische Herkunft aus dem ahd. »daha«: (beim Austrocknen) Dichtwerdendes (vgl. DUDEN. Deutsches Universalwörterbuch, Mannheim 2001, Eintrag: »Ton«). Groddeck, Wolfram: »Benns Kretische Vase«, a.a.O., S.366. Neben so eindeutigen Signifikanten, wie dem Wort »Knabenliebe«, sind in Benns Gedicht auch versteckte anagrammatische Anklänge an einen »dorischen Eros« rekonstruierbar. So steckt in dem lyrische Neologismus »Rosen-Rotte« auch das Wort: »Rosette«, nicht nur der Begriff für eine ornamentale Verzierung in Form einer aufgeblühten Rosenblüte (vgl. auch Benns Formulierung »rosenröten« am Schluss des Gedichts), sondern auch eine Metapher für die Öffnung des Anus (vgl. DUDEN Deutsches Universalwörterbuch, a.a.O., Eintrag: »Rosette«). An die Stelle des Homonyms »Ton« tritt hiermit auch die Polysemie des Wortes »brennen«: verbrennen (in Flammen stehen), ein Mal einbrennen, »schmerzen, ein wundes Gefühl hinterlassen« und Ziegel bzw. den »Ton« »unter großer Hitzeeinwirkung härten lassen« (vgl. DUDEN Deutsches Universalwörterbuch, a.a.O., Eintrag: »brennen«). Nicht zuletzt das Bild einer militärischen Uniform aus dem Arsenal der NS-Mode ließe sich wieder finden in Benns kulturhistorischer Beschreibung einer dorischen Vase: Verzierungen bzw. Abzeichen an Hals und Schulter, Kreuze und Hakenkreuze, gerade Linien usw. Auf den ›grundsätzlichen‹ bzw. eine zusammenfassende (Werk-)Kontinuität herstellenden Status des Texts Dorische Welt hat Gottfried Benn selbst auch noch nach 1945 hingewiesen: »In einigen Aufsätzen (›Dorische Welt‹) finden sich Formulierungen und Thesen, die als Grundsatz fast durch alle meine Bücher gehen […]« (IV, S.269), heißt es in der »Vorbemerkung« zur Ausgabe seiner Essays aus dem Jahr 1951. Vgl. zusammenfassend Wodke, Friedrich Wilhelm: Die Antike im Werk Gottfried Benns, Wiesbaden 1963. Vgl. ebd., S.37ff. Auf Benns Verfahren der wörtlichen Übernahme und der Textmontage weist Wodtke bereits in dieser frühen Studie hin. Hof, Holger: Montagekunst und Sprachmagie. Zur Montagetechnik in der essayistischen Prosa Gottfried Benns, Wiesbaden 1991, S.242. Ebd., S.11. Ebd. In Taines Studie lautet die gleichnamige Stelle: »Es handelte sich, um vollkommene Körper zu haben, zunächst darum, schöne Rassen zu züchten, man ließ sich dabei an wie in den Gestüten. Man tötete die schlechtgebauten Kinder. Mehr noch, das Gesetz regelte das Alter der Heiraten, wählte den günstigsten Zeitpunkt und die günstigsten Umstände für gute Zeugung aus« (Taine, Hippolyte: Philosophie der Kunst, Jena 1922, S.57). Insbesondere im vierten Teil seiner Schrift, aus heutiger Sicht einer der ersten Ansätze einer milieutheoretischen und u.a. rassisch-biologischen Kunstgeschichte, wendet sich Taine unter dem Titel »Die Bildhauerkunst in Griechenland« jenen physischen Entstehungsbedingungen der griechischen Kunst zu, die er unter den Merkmalen der »Rasse« fasst. Als Stichwortgeber zeigt sich Taine hier in vielen Passagen nicht nur von Gottfried Benn, sondern auch für faschistische Autoren wie Alfred Rosenberg; u.a. wenn es heißt: »Je größer der Künstler ist, desto tiefer offenbart er die Wesensveranlagung seiner Rasse […]« (Ebd., S.455) Als ein weiterer Versuch der Synthese des Korpus der Bennschen Schriften zu einem geschlossenen Werk kann der ebenfalls im Jahr 1934 und ebenfalls im Aufsatzband Kunst und Macht publizierte Aufsatz Lebensweg eines Intellektualisten gelesen wer-
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den. In diesem Fall in dem autobiographisch angelegten Unterfangen, frühere Texte an den eigenen ›Lebensweg‹, u.a. auch an die eigene »Erbmasse« zu koppeln, inhaltlich und programmatisch zu rekapitulieren und in eine entwicklungslogische Kontinuität zu setzen. Vgl. exemplarisch das frühe Gedicht Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke von 1912 (I, S.28). Zu Ansätzen einer expressionistischen »Ästhetik des Hässlichen« in Benns Frühwerk vgl. u.a. Eykman, Christoph: Die Funktion des Hässlichen in der Lyrik Georg Heyms, Georg Trakls und Gottfried Benns. Zur Krise der Wirklichkeitserfahrung im deutschen Expressionismus, Bonn 1965. Der Eklat, den Benns Publikation der Morgue-Gedichte 1912 verursachte, ist bekannt. Reaktionen, die u.a. von einer »Perversität« und »Scheußlichkeit ohne gleichen« sprechen, sind dokumentiert in: Hohendahl, Peter Uwe (Hg.): Benn – Wirkung wider Willen. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Benns, Frankfurt/M. 1971. Von einer »Weltordnung« und ihrer Systematik eines ›wundervollen Aufbaus‹ sprechen u.a. die als Schlüsseltext eines psychotischen Wahnsystems viel besprochenen Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken Daniel Paul Schrebers (vgl. Schreber, Daniel Paul: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken [1903], Berlin 1995, S.15: »Das Ganze der Weltordnung erscheint danach als ein ›wundervoller Aufbau‹«; eine Ganzheit, der Schreber in einer zugehörigen Fußnote auch den Namen »wundervolle Organisation« gibt). Ausführlich hat die Psychiatrie das Phänomen der strukturellen Unkorrigierbarkeit und Widerspruchslosigkeit von Wahnsystemen im Anschluss an Karl Jaspers unter dem Begriff der »Wahngewissheit« erörtert (Vgl. Jaspers, Karl: Allgemeine Psychopathologie. Für Studierende, Ärzte und Psychologen [1913], Berlin/Heidelberg 1946, S.87ff., S.341ff.). In ähnlicher Weise hat es Hannah Arendt als ein Spezifikum des ideologischen Denkens in totalitären Staaten wie dem Nationalsozialismus herausgestellt, sich durch ein System logischer Deduktionen (»Zwangsfolgern«) von der Wirklichkeit emanzipiert zu haben: »Ideologisches Denken ist, hat es einmal seine Prämisse, seinen Ausgangspunkt, statuiert, prinzipiell von Erfahrungen unbeeinflussbar und von der Wirklichkeit unbelehrbar« (Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, a.a.O., S.720). Lacan, Jacques: Die Psychosen. (Das Seminar von Jacques Lacan, Buch III, 19551956), Weinheim/Berlin 1997, S.191. Vgl. ebd., S.178ff.: »Worum handelt es sich, wenn ich von Verwerfung* spreche? Es handelt sich um Verwerfung eines ursprünglichen Signifikanten in die äußere Finsternis, eines Signifikanten, der von da an auf dieser Ebene fehlen wird. Das ist also der Grundmechanismus, den ich am Fundament der Paranoia annehme.« Diesen Signifikanten hat Lacans Psychoanalyse als die symbolische Funktion des »Namen-des-Vaters« gefasst und in dieser Hinsicht als zäsurierende, unterbrechende Instanz bestimmt. Zu Lacans Definition vgl. Lacan, Jacques: »Über eine Frage, die jeder möglichen Behandlung der Psychose vorausgeht«, in: ders., Schriften II, Weinheim 1991, S.61-117, hier S.110: »Damit die Psychose ausgelöst wird, muß der Namen-desVaters, der verworfen*, d.h. nie an den Platz des Andern gekommen ist, daselbst aufgerufen werden in symbolischer Opposition zum Subjekt. Das Fehlen des Namens-desVaters an diesem Platz leitet nämlich durch ein Loch, das es im Signifikat aufreißt, jene kaskadenartigen Verwandlungen des Signifikanten ein, die einen progressiven Zusammenbruch des Imaginären zur Folge haben, bis an den Punkt, wo Signifikant und Signifikat sich in der delirierenden Metapher stabilisieren.« Vgl. hierzu die Ausführungen in Sigmund Freuds Schreber-Lektüre: »wir sehen […], daß das innerlich Aufgehobene von Außen wiederkehrt« (Freud, Sigmund: »Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides)« [1911], in: ders., Zwei Fallberichte, Frankfurt/M. 1997, S.159. Vgl. Lacan, Jacques: Die Psychosen, a.a.O., S.226. Der Begriff der Metonymie knüpft hierbei auch an die grundlegenden Überlegungen Roman Jakobsons zur Polarität von Metapher und Metonymie als paradigmatischer und syntagmatischer Dimension der Sprache an; des weiteren an Jacques Lacans für die Struktur des Unbewussten formulierte Analogisierung der Metonymie mit Freuds Begriff der »Verschiebung« in der »Traumarbeit«. Vgl. Lacan, Jacques: »Das Drängen
Im Züchtungswahn?
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des Buchstabens im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud«, in: ders., Schriften II, a.a.O., S.15-55, S.36: »Die Verschiebung, im Französischen déplacement, was dem deutschen Ausdruck näher kommt, ist dieses Umstellen der Bedeutung, das die Metonymie zeigt, und das seit seinem Erscheinen bei Freud als jenes Mittel des Unbewussten gedacht wird, das am besten geeignet ist, die Zensur zu umgehen.« Vgl. ebd., S.44. Der Begriff der nahtlosen »Oberfläche« taucht in Benns Schriften immer wieder auf; nicht zuletzt in einer antifemininen, anti-›mütterlichen‹ Konnotation. So heißt es im Schlussabsatz seines Roman des Phänotyp von 1944: » ›Bei den Müttern sind sie zu Hause, die Deutschen.‹ / Bei den Müttern, hinter der Schürze! Gesummt, gedämmert und pyknisch gedacht! Aber über dem Preußentum und seinen tiefen Nahtstellen erhebt sich eine europäische O b e r f l ä c h e , die ferne leuchtet. Die andere Welt, der Olymp des Scheins.« (II, S.191) In ähnlichen Worten schreibt Benn in seinem LebenswegText über die Kunst als »Ausdruckswelt«: »Eine neue Welt hebt an, es ist die Ausdruckswelt. Das ist eine Welt klar verzahnter Beziehungen, des Ineinandergreifens von abgeschliffenen Außenkräften, gestählter und gestillter Oberflächen – […]« (II, S.323) Beständig zeigt sich die von Benn evozierte »Oberfläche« in dieser Hinsicht als Ort einer getilgten Spur, als Ort über den »tiefen Nahtstellen«, klar verzahnt, gestählt, gestillt. »Formales möge kommen […], Aluminiumflächen, O b e r f l ä c h e n –: S t i l – ! – kurz, die neue nach außen gelagerte Welt.« (II, S.325) Vgl. hierzu u.a. Günther, Hans F.K.: Rassenkunde des deutschen Volkes [1922], München 1928. Lenz, Fritz: Menschliche Auslese und Rassenhygiene (Eugenik), a.a.O., S.551. Günther, Hans F.K.: Rassenkunde des deutschen Volkes, a.a.O., S.1f. Hierin würde auch die paranoische Dimension dieses »Wahns« eine Erklärung finden. Das in der NS-Literatur wiederkehrend auftauchende Szenario einer Bedrohung durch »Volksfeinde«, »Parasiten«, »degeneriertes Erbgut« wäre als jenes reaktive Muster erkennbar, das symbolisch Verworfene und halluzinativ ›von außen‹ Wiederkehrende still stellen zu wollen, in einer selbst entworfenen Eigenwelt wahnhafter Nahtlosigkeiten und Homogenitäten, in der dem Verworfenen lediglich der Status des Anderen als Instanz des Feindes zukommen kann. Es ist auffällig, dass dieser von Benn für sein Schreiben immer wieder reklamierte Begriff (»Ausdruckswelt«) wiederum mit dem Signifikanten »Welt« operiert; in Benns Schriften taucht er erstmals ebenfalls im Jahr 1934 auf (vgl. Lebensweg eines Intellektualisten, II, S.323).
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Perfor(m)ierte Bühnen Christoph Schlingensiefs Szenographien in
Atta Atta: Die Kunst ist ausgebrochen
Wir sind Bilder von morgen, aber wir sterben schon heute! Christoph Schlingensief, 1997
Vorzeichen Im Bühnenbild der Theaterproduktion Atta Atta – Die Kunst ist ausgebrochen, die zu Beginn des Jahres 2003 an der Volksbühne am RosaLuxemburg-Platz in Berlin erstmals aufgeführt wurde,1 stehen, da und dort, groß dimensionierte Buchstaben, gleich Skulpturen. Es sind wenige, zu wenige, als dass sich daraus Worte ergeben würden. Auch anagrammatisch findet sich hier kein Sinn. Lücken überwiegen. Doch lassen sich die Buchstaben dem Namen des Regisseurs der Produktion, Christoph Schlingensief,2 zuordnen. Die Signatur ist, nachhaltig zerstückelt, allerdings erst einem Vorwissen erschlossen: Der Name ist zu lesen, wenn die Mehrheit der Buchstaben imaginär ergänzt sein wird. Die Schrift (graphein) trägt sich in die Szene ein; die Szenographie spiegelt sich als eine Graphie-Szene. Doch das Bühnengeschehen, das sich inmitten dieser platzierten Grapheme abspielen wird, ist ein wüstes Spektakel, das weder einem literarischen Text noch einem niedergelegten Regiekonzept zu folgen scheint. Was also sagt das allegorische (Wort-)Bild, das keines ist? Auf der Bühne wird es einen Text geben, der aus dem Stegreif die (Buchstaben-)Körper (aus-)bildet: das Sprechen in der Szene, das für 173
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alle im Theaterraum zu einer Erfahrung geworden sein wird.3 Die Schrift aber spielt noch vor dem eine eigene Rolle: Die Inszenierung ist durchsetzt von Bühnenzeichen, die auf anderes anspielen. Diese gehen zurück auf Lektüren von Schlingensief. Es liegt buchstäblich nahe, auf der Suche nach etwas Dargestelltem zu übersehen, dass die opaken Buchstabenskulpturen die Delegierung der Regie an und in eine »Situation der Heteronomie«4 reflektieren: eine Perforation und zugleich eine emphatische Performation des privilegierten Signifikanten.
zusammen auftreten Im ersten Augenschein sind Schlingensief-Inszenierungen bedrohlich disparat. Nichts, das in diesen Szenen zu sehen ist, wäre hinterher zu beschwören.5 Und das, obschon oder gerade weil die überfordernde Dichte sich als Überbotenheit von Buchstäblichkeit darstellen kann: als inszenierter Zusammenfall der Register von Wörtlichkeit und Übertragenheit. Das Empfinden, ein Band des Sinns fehle in Schlingensief-Produktionen, weist auf eine Lockerung dieses Bandes.6 Die Produktionen sind eine paradoxe, produktive Identifikation mit der durch Gilles Deleuze und Félix Guattari theoretisierten Schizophrenie.7 Was Theorie-Bilder von Schizophrenie für diesen Schauplatz der Kunstfiktionen vorzeichnen, ist eine Perfor(m)ation der Bühnen. Die fingierte Lockerung des Sinn-Bands kann sich nicht vollenden, sie wird scheitern. Und nicht, weil sie fingiert ist. Das Scheitern ist (über) sich selbst: im Bilde. Einen von außen angelegten »kritischen Maßstab«8 zu unterbieten, dient so einer Darstellung. Das ist paradox, weil die Szene, wie Schlingensief sie (sich) produzieren lässt, eine Differenz von Handeln und Darstellen9 in der dem Theater geläufigen Weise des Sotun-als-ob im Doppelsinn ausstellt. Die Produktionen stellen vielmehr eine Unmöglichkeit (dar): sie suchen den Kollaps symbolischer Repräsentation. Die Referenz ist dabei die auf eine Realität der Simulation, auf die »Irrealität einer halluzinierenden Ähnlichkeit des Realen mit sich selbst«.10 Simulieren bedeutet dabei im Wortsinn: zusammen auftreten. In jedem einzelnen unwägbaren Prozess, als den sie sich jeweils darstellen, hat Schlingensief – seit seiner ersten Theaterproduktion von 1993 – selbst teil. In Atta Atta spielt Schlingensief ›sich selbst‹: Schlingensief. Selbst-Identität in der jeweiligen Tagesverfassung und (Selbst-) 174
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Darstellung, das wilde und zugleich inszenierte »Austoben der Affekte« (Freud), das hier an die Wiener Aktionisten angelehnt ist, kompliziert das kathartische Übertragungsgeschehen: Ist das »Austoben« nicht/einer Rolle zugeschrieben und/oder von jemandem sanktioniert, dessen Eigenschaft es ist, in der Szene zu fehlen, wird die Bühnenszene vom Traum mit offenen Augen zugleich zur Störung des Illusionismus.11 Die hybriden und heterotopen Institutionen, die sich bei Schlingensief gründen (wie der Wahlkampfzirkus Chance 2000 oder zuletzt die Church of Fear), stören die Projektion einer als sicher angenommenen »Autonomie« der Kunst.12 Autonomie dabei in Anführungszeichen. Eine dieser Institutionen ist das besondere Ensemble, die »Familie«, wie Schlingensief seine Akteure nennt, das sich aus Professionellen, Laien und Psychiatriepatienten zusammensetzt. Die »Familie« agiert in einer Montage: Videoprojektionen, Requisiten aus dem Kunstkontext, Theorietext, Theoreme usw. bilden gleichzeitig die Inszenierung und partiale Re-Inszenierungen der Avantgardekonzeptionen des 20. Jahrhunderts aus. Vielfach konfigurieren sich Szenen als ein »Nachspielen« (Schlingensief) von Filmhandlungen, Kunst-Performances, TV-Sendungen. Es gibt hier kein festes Proszenium, weil Proszenien sich überall eintragen. Im Hinblick auf eine Medienirrealität, in der immer bereits rezipiert ist, wird in Atta Atta – und in Schlingensief-Arbeiten generell – ein neuer Einsatz versucht: Die Sekundarität der Zitation ist in eine simultane APräsenz mit dem Original aufgehoben. Theater als eine Institution, die in der Gewissheit eines als-ob gegründet ist, im Modus der Fiktion, im Status der Bühne, wird perfor(m)iert.
Das Spiel des Titels … Bereits der Titel Atta Atta spiegelt eine »halluzinierende Ähnlichkeit« in seinem Wortbild. Semantisch bezogen auf einen der Selbstmordattentäter des 11. September 2001, entfaltet sich in der Wiederholung des Namens gleich ein mehrfacher Kommentar: Der Familienname ist ein Palindrom (griech. das Zurücklaufende), ein Wort, das vorwärts wie rückwärts gelesen werden kann. Das bewegte Bild, das es, neben dem statischen Ausweisphoto, vom Attentäter Mohammed Atta gibt, geht auf eine Videoaufnahme beim Passieren der Kontrollen am Startflughafen vor dem Attentat zurück. Die Aufnahme ist zu kurz, um dem Blick auf eine Physiognomie, der Lokalisation einer »Sicherheitslücke«, Zeit zu geben. 175
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Wieder und wieder wurde sie in der Berichterstattung zurückgespult: Atta – und noch einmal: Atta. Das Ereignis wird in der Wiederholungsschlaufe dieser, wie auch derjenigen Szene vom Einsturz des World Trade Center (WTC) statuarisch, eine annoncierte, paradoxe Traumatisierung via Bildschirm. Im wiederholten Rücklauf des Films (bei Atta Atta auch in dem des Wortbilds) ist gleichermaßen die Phantasmagorie einer Umkehrbarkeit gestützt: alles auf Anfang. Die Titelwendung Atta Atta13 ist daneben ein ideographisches Bild der symmetrischen Zwillingstürme des WTC als die präzis in sich selbst gespiegelte starre phallische Form. In der Anordnung im Titel der Inszenierung wird die Architektur zu einer sprechenden, anders als massenmedial nach dem Attentat die Rede von dem »ins Herz« getroffenen Amerika war. Die Bezeichnung Ground Zero reflektierte bereits, im ground floor und der semantisierten Ziffer Null, eine monotone Verdoppelung: gerade indem sie die Spiegelung bricht, den Nullwert metonymisch verschiebt, jeweils als Stockwerksebene und als Zahlwort figuriert. Das dezentrierte Wortbild von Atta Atta nun weist auf ein Spiegelstadium ohne Brechung: Für Atta wahrt Attas Todesflug die halluzinierte Ähnlichkeit eines monströs-idealen Selbstbildes. Ohne Irritationen, ohne Störung, ohne ein Scheitern.
... und des Untertitels: Ein- und Ausbruch der Kunst und des Realen Die publizistische Rede vom »Einbruch des Realen«14 wandte sich nach dem 11. September 2001 vorzugsweise gegen das Theorem der Simulation, das für die gesellschaftlichen Produktionen von einem Kollaps des Symbolischen ausgeht, wie er sich im psychotischen Prozess zeigt. Das Motiv, dem (unbewusst imaginär besetzten) Realen näher sein zu wollen, ist dabei aus der Kolportage der Zeitstimmung vor dem Ersten Weltkrieg nur allzu vertraut. Im Programmbuch zu Atta Atta wird der Philosoph Peter Sloterdijk mit einem Postulat gerade der Umkehr dessen zitiert: Es gelte derzeit, neo-dadaistisch die »Konstellation von Vernunft und Verzweiflung«, die »Sprache der Gebrochenheit« nach dem Ersten Weltkrieg zu rekonstruieren. In der Publikation mit dem Titel Ausbruch der Kunst wird Sloterdijk aus einem Gespräch Anfang des Jahres 2003, wie folgt, zitiert:
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Die Situation ist so dämonisch und von vielen Seiten her so verrücktmachend, dass man nicht weiß, auf welche Stimmen man hören darf einschließlich der Stimmen in einem selbst. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir verführt werden durch Reflexe, durch Nachahmungsgebote, durch irgendwelchen Wahnsinn, der von innen oder außen kommt, ist im Moment so groß, dass wir alle einen Grund haben, uns Sorgen zu machen über den nächsten Schritt – unseren eigenen und den anderer.15
Die Öffentlichkeit ist zu einem Raum verhetzender Stimmen geworden. Das beginnt für Sloterdijk mit den demagogischen Einwirkungen der Massenmedien vor dem Ersten Weltkrieg. Reflexe der Nachahmung, die eine anthropologische (Trennungs- als Todes-)Angst moderieren, beherrschen das Bild. Der Wahn, Stimmen zu hören, den Sloterdijk hier als psychotischen Prozess anspielt, bringt ein im Symbolischen Verworfenes im Realen in halluzinatorischer Form wieder in Erscheinung.16 Der Beitrag Sloterdijks legt nahe, dass das im Symbolischen Verworfene nunmehr im Symbolischen (in den Medienrepräsentationen) selbst begegnet. Der Ausbruch der Kunst, Untertitel der Produktion Atta Atta, referiert in der von Sloterdijk postulierten Umkehrung, in einem Chiasmus, auf den »Einbruch des Realen«. Er weist auf das Vorgebliche eines »Einbruchs des Realen«, der sich als imaginär erweist, insofern das Reale immer bereits über das Symbolische, in einem Doppelsinn des Wortes, »eingebrochen« ist.
Der Nabel des Traumas Dass Bilder mit anderen Bildern nur in einer Rahmung zu subvertieren sind, illustriert sich in Atta Atta in einer Einspielung, die an der BilderSpirale buchstäblich weiterdreht: Robert Smithsons Film Spiral Jetty von 1970. Eine gewaltige, etwa 450 Meter lange Erdmole, die darin zu sehen ist, widerlegt für das Konzept des Künstlers Smithson dabei das Paradigma der Präsenz, Oberfläche, Optizität. Die Erdmassenspirale ist ein Nicht-Ort, nicht nur, weil sie, wie damals bereits abzusehen war, unterdessen im Wasser versunken ist. Die Geoglyphe ist die Markierung eines anderen Territoriums, insofern sie aus Gestein besteht, das andernorts abgetragen wurde. Und das ist ein Vorgang, der im Werk der LandArt nicht zu sehen ist. In Smithsons Konzept der Sites/Nonsites, einem Wortspiel mit den Homonymen sight/nonsight, ist der Nicht-Ort Sub-
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traktion einer Site (eines Ortes) in einem/einen Kunst-Kontext. Die Unzugänglichkeit der Geoglyphe ist von Smithson in einem Kommentarwerk gerahmt, das nicht sekundär ist. Die Spiral Jetty ist so auch der Film, der in Atta Atta eingespielt wird. Die Sequenz, bei Gelegenheit in einer der Aufführungen zu sehen, in der Smithson selbst über die Mole der Spiral Jetty flüchtet, ist bereits selbst eine Zitation des Alfred Hitchcock-Films North by Northwest. Sie wird, wie bei Atta Atta nicht zu hören, »durch Stimmen eingeleitet, die, aus allen Richtungen herkommend, beschwören, daß die Jetty einfach nur eine Komposition aus ›Erde, Salz, Kristallen, Schlamm, Steinen und Wasser‹ ist.«17 Das Bühnengeschehen von Atta Atta rahmt die Spiral Jetty noch einmal mit eigenen Stimmen und Bildern. Die Spirale taucht in der Folge einer Sequenz mit Rauchschwaden auf, wie in einem sequentiellen Diptychon mit diesen wechselnden Wolkenformationen. Einem Bild, das die medial bekannte WTC-Sequenz zitiert und den Bildausschnitt anders bestimmt. Der vielfach gesendete Kollaps des »Megazeichens« (Baudrillard) ist nicht zu sehen. Das reflektiert ein Ent-Setzen angesichts dieses massenhaften Todes ohne eine Hinterlassenschaft von Leichen, also ohne Autopsie, ohne Augenscheinlichkeit. Die reflektorischen Rahmen bereits bei Smithson werden komplexer in der Rahmung durch die anderen Bilder und Stimmen in Atta Atta. Die Geoglyphe zeigt dabei sichtbar/unsichtbar, de/zentral das eigene poetologische Verfahren an: In der Spirale, die im Gegen/Schnitt aus den geschwärzten Wolken auftaucht, drehen De/Repräsentation und das geoglyphische Zeichen ineinander. Diese Art Doppelhelix (helix: griechisch »Spirale«), gleichsam der Nabel des Traumas, entwirrt sich nicht in einem eindeutigen metaphorischen Sinn dieses Zeichens. Im »Gegensinn«18, wie Freud ihn für die Urworte angenommen hat, kann die Spirale (speira: griechisch »Windung«) als vergleichbares Urzeichen vielmehr zugleich Leben und Tod bedeuten. In diesem »stumpfen Fluchtpunkt«, wie der Titel einer anderen Arbeit von Smithson lautet, läuft Spiegelung der Unendlichkeit zugleich auf »das Paradox einer sichtbaren Blindheit hinaus«19, auf den blinden Fleck im Augenpaar. Es ist eine ungebrochene Form, in der sich Brechung zugleich ereignet. Das unsichtbar Unvorstellbare ist über die Poetizität des Bildes (an-) erkannt, über ein Bild, das anders bewegt (ist). Es ist keines einer Amnesie. Es hat/ist (die von Smithson konzeptuell gerahmte Archaik des Bildes fortsetzend) ein Gedächtnis des Todes.
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Ambiguität Die mit der Spirale weiblich besetzte Geo-Graphie rückt in Atta Atta in die Position des unzitierten Bildes vom Kollaps der Zwillingstürme. Die Transposition weist auf eine andere Szene, in der sich das Geschlecht als ineinander vertauscht findet. Es ist eine gespenstische Szene: In bodenlange Tschadors vermummte Gestalten stehen vereinzelt auf der Bühnenschräge in einem Halbdunkel; in der Videoprojektion zuvor ›läuft‹ ein Standbild: Nomadenzelte, ein Flüchtlingslager. Die Frauen bleiben stumm, Wüstenwind rauscht. Nach und nach verlassen die Gestalten die Bühne. Die letzte geht zuvor zu einem Mikrofon und stellt sich jetzt, über die Stimme, als Mann/als Schlingensief heraus; er sagt sonor: »Long live Islam!«. In einem Vergleich mit dem Schlussbild in Georg Büchners Dantons Tod, in dem Lucile ausruft: »Es lebe der König!«20 verdeutlicht sich Schlingensiefs Verfahren. In Büchners Drama ist die Französische Revolution in jenes Stadium geraten, in dem sich die Reziprozität von Gewalt nach innen, gegen die eigenen Protagonisten, richtet. Lucile, Gattin eines Danton-Gefährten, spielt sich den ehemals gleichgesinnten Mördern ihres Mannes selbst in die Hände, indem sie den gemeinsamen Todfeind der Revolutionäre, den König, hochleben lässt. Sie begeht vermittelt Selbstmord. Der Doppelsinn von Verrat an der Sache des (eigenen) Mannes und Treue bis in den Tod – von Selbstbestimmtheit und Selbstwiderspruch – löst sich dabei nach keiner Seite hin auf. Lucile setzt die Genealogie rhetorisch fort (der König ist tot – es lebe der König) und bricht zugleich mit derjenigen Demarkation, welche die erste Gewalt gegen den König betraf. Darin unterbricht sie die strukturell in einer reziproken Kette insistierende Gewalt, die dann auch den Tod ihres Mannes zur Folge hatte. Die Szene in Atta Atta inszeniert eine ähnlich komplexe Ambiguität. Die Artikulation (des Mannes Schlingensief) setzt in die Szene eine Differenz zwischen dem Sehen und dem Hören ein, in der eine Metapher buchstäblich wird: Die (politische) Stimme der islamisch gewandeten Frauen ist hörbar: die des Mannes. In der Semantik von »Long live Islam« verschiebt sich die Differenzierung dabei noch einmal: in den Widerstreit universalistischen Frauenrechts mit dem Toleranzgebot gegenüber dem Islam.
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Heil anzetteln Das Bild ist hier unterlaufen vom Hörbaren, das Hörbare in der Differenz von Semantik und metaphorischer, also politischer oder anders besetzter Stimme (oder auch Seele) subvertiert. Im Sinne dessen formuliert Dietmar Kamper: Daß ein Bild ein Bild ist und als Bild fungiert, kann im Medium des Imaginären selbst nicht begriffen werden. Das gelingt nur durch die Sprache, und zwar am ehesten durch die Sprache, die man hört. Reflexion (d.h. Spiegelung) ist nur symbolisch als Reflexion zu setzen, zu halten und zu führen. Wird das versäumt, geht ein perfekter Wahn auf, der sich seine eigene Realität erschafft und unwiderleglich wird. […] Dann hilft nur noch eine Exkursion, eine Sprengung, ein Aufbruch, der ein letztes Mal Gewalt übt gegen die Gewalt. Gegen das Imaginäre der Bilder hilft nur die körperliche und sprachliche Einbildungskraft, die sich innerhalb von Beziehungen situiert.21
Eine Sprengung, ein Aufbruch, »der ein letztes Mal Gewalt übt gegen Gewalt«, wird diese nicht zum letzten Mal üben. Aufbruch differiert in nur einem Buchstaben vom Ausbruch. Dennoch zeigt sich das ganze Ausmaß eines Unterschieds zwischen dem in einer Linearität verbleibenden Aufbrechen und einem exzentrischen Ausbrechen, wie es das Luciles in Dantons Tod ist. Auch Heil kann/muss im Symbolischen angezettelt werden. Luciles Ausruf »Es lebe der König« zitiert nur den Modus einer Affirmation. Die vielfachen Zitationen in den Schlingensief-Produktionen erwirken eine vergleichbare Ungewissheit gegenüber der Modalität, in der das rezente Aufführungsbild noch gegeben ist oder scheint: Anderes ist immer zugleich aufgerufen. Die unhintergehbare Form einer paradoxen Gewissheit angesichts dessen, was wirklich auf der einen einzigen Bühne im Theater geschieht, wird die Aleatorik eines Spiels, das zugleich in besonderer Weise potenziert ist: Die Szene wird durch weitere Szenen überbordet, die Rolle durch weitere Rollen überboten.
Eine ablenkende Aufmerksamkeit Das auf der Bühne Gesprochene wird beständig durch andere Bühnenzeichen, anderes Agieren, dezentriert. In der permanenten De-Inszenierung der Inszenierung ist, wer spricht, nicht sich selbst überlassen und zugleich nicht Blickpunkt. Der Schauspieler Bernhard Schütz be180
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schreibt diese Art ablenkender Aufmerksamkeit Schlingensiefs für seine Protagonisten in einem Gespräch folgendermaßen: »Was Schlingensief durch seine Moderation schafft, ist, daß er alles, was wir auf der Bühne machen: Schreien, Toben, Zerstören, bindet. Er bezieht jede Äußerung auf sein Thema.«22 In verschiedenen Produktionen Schlingensiefs (wie auch in Chance 2000)23 ist der Psychiatriepatient Achim von Paczensky »Heiner Müller« alias Achim von Paczensky. Er sieht sich nicht selbst als »Heiner Müller«. Im Namen von, im Aufruf durch Schlingensief, entsteht eine buchstäblich entfernte, keine spieltechnisch generierte Ähnlichkeit. Dabei ist der Aliasname immer zugleich genannt. Im doppelten Namen angesprochen, spricht der Körper im eigenen Namen. Er mimetisiert nicht Symptome, ist nicht im Doppelsinn ausgestellt. Er hat weiter »das Charakteristikum eines wirklichen Körpers, nämlich unsichtbar zu sein, unbemerkt, einfach da, rahmenlos«.24 Die paternale Regiegeste ist die einer Zulassung zum Sprechen im eigenen Namen. Die Akteure synchronisieren mit ihren Stimmen kein Skript. Formen bleiben »unverwaltet«25: Fehler, eine Erschöpfung. In Atta Atta läuft synchron mit dem Bühnengeschehen auf großer Leinwand ein Film. Schauspielgrößen wie Hannelore Hoger und andere agieren scheinbar unspektakulär, bei einem privaten Abendessen. Die Gruppe wechselt Berliner Etablissements. Zunehmend fällt der Bühnenschauspieler Herbert Fritsch aus, besser: in die Rolle; er benimmt sich ›daneben‹ und wird hinauskomplimentiert. Gegen Ende der Theateraufführung erscheint er auf der Bühne, wird vom Bild zum Körper. Der Film ist aus einem Nachspielen des Buñuel-Klassikers Der diskrete Charme der Bourgeoisie hervorgegangen.26 Der Buñuel-Film führt eine Handlung ein, um sie dann, wie als einen Traum, abzubrechen; den Lebenden erscheinen Tote, mit denen sie, wie selbstredend, sprechen. Vom Leben zum Tod und zum Traum bildet sich kein Kontinuum der Fiktion, vielmehr ein fiktives Kontinuum. Die Bizarrerie ergibt sich in (dessen) Unterbrechungen. Die Figuren folgen plötzlichen Eingebungen; im anderen Fall wollen sie aufbrechen und tun es dann doch nicht. Immer geben sie dabei etwas oder jemandem nach. Buñuel bildet eine Struktur von Aufmerksamkeit (ab), in der auch die inneren Stimmen figuriert sind, im Rahmen der Fiktion real werden.
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Unterbrechung und Prozess Für Deleuze/Guattari ist die alles entscheidende Frage im Blick auf einen psychotischen Prozess, »ob wir Psychose den Prozeß selbst oder die Unterbrechung des Prozesses nennen (und welche Art von Unterbrechung)«.27 Sie votieren gegen die Unterbrechung als Ödipalisierung. In der Szenographie von Atta Atta wird mit ausgesprochenem Bezug auf das Theorem der Ödipalisierung zugleich nicht im Sinne der Figurenzeichnung des bürgerlichen Theaters, eines referierten Beziehungsgeschehens, gearbeitet. Vielmehr setzt Schlingensief das Buñuel-Projekt unter anderen Vorzeichen fort. Den Charme einer unwillkürlichen Übersetzung der inneren Stimmen, der bei Buñuel konstruiert ist, stellen bei Schlingensief die Psychiatriepatienten her. Die geschlossene Familienszene öffnet und vervielfacht sich in den buchstäblich nicht vor-gesehenen Einreden zu Szenen über die Szene hinaus, Szenen neben der Szene. Die Aufführung vollzieht sich, indem sie gestört ist. Eine Massierung, Überbordung, Überzähligkeit von Bühnenereignissen entsteht. Die anders begabten Familienmitglieder stellen eine Unvorhersehbarkeit des Sprechens, eine Psychosomatik des Sprechens (wieder) her. Ihr Sprechen ist kein auswendiges. Durchgehend stehen vielmehr nach außen hin scheinbar unvermittelte Ereignisse des Sprechens oder des Schweigens bevor. Die Artikulation ist dabei radikal skaliert: katatonisch bis hyperton, monoton krächzend bis poetisch surreal. Es seien »so Sonderlinge« sagt die Schauspielerin Irm Hermann. Im Wortsplitter findet sich Spiegelung im Buchstabenmaterial wieder: so/So. In der Szene, die »so« kommentiert ist, zeichnen sich die Körperkonturen der »Sonderlinge« im verkleinernden Schattenriss auf dem Bühnenvorhang ab. Schlingensiefs fiktive Eltern rahmen zu beiden Seiten die Riege der Kleinen als Riesen. Das erinnert an die »Bedeutungsgröße« mittelalterlicher Malerei: Personen, die etwas darstellten, wurden größer dargestellt. In Atta Atta ist die Miniaturisierung der »Sonderlinge« zugleich technologisch und psychologisch. Das Dispositiv als solches ist zitiert. Und wieder kommt eine Metapher zum Tragen: Der Schauplatz ist durch eine Projektion bestimmt, die ihn teilt. Was wir sehen, ist nicht das, was ist. Es ist das, was zu sein scheint.
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Ein Exkurs: Die Labilität des als-ob Die Preisgabe der theaterkonstitutiven Differenz von Performanz und Referenz, von Darstellung im gewohnten Sinne, ist auch Preisgabe der Bühne als Metapher eines anderen Schauplatzes. Im Anti-Ödipus kehrt sich die Frage nach der Repräsentation Theater/Psyche um: Wenn das Theater zu einer Metapher der Psyche wird, kann es nicht mehr nur darum gehen, was damit über die Psyche gesagt sein soll, sondern welches Theater dabei gemeint sein kann. Sigmund Freuds Formulierung des Ödipuskomplexes 1923 in Das Ich und das Es ist von Deleuze/Guattari als Widerstand gegenüber der Autopoiesis des Unbewussten kritisiert.28 Der theoretische Disput mit Freud um einen adäquaten Begriff vom Es wird zugleich – und wie sich zeigen wird, nur vordergründig – zu einem über avancierte Theaterformen. Freud scheint vor der »wilden Produktion« des Unbewussten zurückgeschreckt zu sein. Für Deleuze/Guattari hat es den Anschein, »als habe er hier um jeden Preis etwas Ordnung einführen wollen, eine nunmehr klassische Ordnung des alten griechischen Theaters. […] Und noch nicht einmal ein avantgardistisches Theater, wie es zu Zeiten Freuds bestand (Wedekind), sondern das klassische Theater, die klassische Ordnung der Repräsentation.«29 Der Verweis auf Frank Wedekind führt hinter die Bühne dieses Disputs. Das Abrücken Freuds von seiner frühen Verführungstheorie, nach der Sexualisierung im Kindesleben (die sich in Wedekinds Fiktion wiederfindet) den Anlass zu Störungen der Hysterie bildeten, wirkt zurück: Das verändert auch den Wirklichkeitsgrad des psychischen Geschehens. Im Vor-Bild der Fiktion (der Orestie des Aischylos) wird das Bild, das sich Freud bietet, imaginär. Zugleich mit der literarischen Figur zeigt sich der Modus der Fiktion entlehnt: Ödipus wird zur Metapher, gleichermaßen ist die Figur Ödipus, als Metapher, nicht mehr vieldeutig. Im geregelten Bezug auf Aischylos löst Freud eine Kontiguität auf, die ihn als Autor betrifft: Die Ursachen von Symptomen im Ödipus fiktionalisieren zu können bedeutet, Autorschaft einsinnig bestimmen zu können. Die Hinwendung zum Drama ist zugleich eine Abkehr von jenem Schau-Spiel, welches die Hysterikerinnen im ärztlichen Blick gaben und bei dem die stummen Rollen des Blickens vielmehr verteilt erschienen. Erst die freie Assoziation der Klientinnen macht die Symptome dann zu einer deutbaren Rede.
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Die Metaphorik des Theaters, des Stadions, einer geteilten Arena, in der sich das Drama der Ich-Bildung in Träumen symbolisiert, findet sich in Jacques Lacans Arbeit zum »Spiegelstadium« wieder. Sie taucht »spontan« im Traum/Text auf, »als würde sie unmittelbar aus den Symptomen des Subjekts hervorgehen«.30 Die Arena symbolisiert das Stadium der Ich-Bildung, das für die immer bereits gebildete Identität nicht zu rekonstruieren ist. Die Metaphorik scheint dabei nicht, wie Lacan ausdrücklich formuliert, (Freuds) Rücksicht auf Darstellbarkeit geschuldet. Vielmehr geht sie »unmittelbar« aus den Symptomen des Subjekts hervor. Ihre Genese scheint nicht vermittelt zu sein. Doch die Frage nach der Mediatisierung setzt weiter in Zweifel: Was ist von der Wahrhaftigkeit dieser Metaphorik wirklich zu wissen? Lacan situiert die Metaphorik in dem Sujet der Psychoanalyse: im Traum. Die Unmittelbarkeit ist die des Mediums: Traum. Sujet und Medium fallen in eins. Traum/Wirklichkeit, Theater/Wirklichkeit sind dem Unbewussten nicht als eine Differenz geläufig. Ungewissheit angesichts der (Un-)Gerahmtheit scheint vielmehr eine Verbindung von Primär- und Sekundärprozessen: Ist das (noch) Traum, (noch) Theater? Der luzide, halb durchlässige Traum antizipiert das Erwachen, als den Zustand, in dem ich weiß, dass mir träumte. Andersherum wäre der Eintrag eines antizipierten Traums in das Wachbewusstsein das Wähnen.
Fluch(t) aus der Szene Die folgende Szene aus Atta Atta, in der Aufführung vom Februar 2004, ist eine dramatische Sequenz gerade im Durchbrechen des Dramas als Gattung, als Spiel. Denn Schlingensief stellt in der Inszenierung seine eigenen Eltern in den Schauspielern Josef Bierbichler und Irm Hermann auf die Bühne: Schlingensief hantiert mit einem Hasen, einem Requisit, das er in einem in den Bühnenboden eingelassenen Becken mit Wasser tränkt. Er geht ins Publikum, führt den benetzten Hasen wie eine Handkamera und hält ihn einer jungen Frau an das Gesicht. Diese reagiert unwirsch, steht auf, geht zu einer durch das Bühnenbild im Parkett angelegten kleinen weißen Burg. Sie steigt kurz in diese Burg hinein und entschließt sich dann, den Saal ganz zu verlassen. »Vater« Josef Bierbichler sieht dies von der Bühne aus und sagt sinngemäß, an Schlingensief adressiert, die junge Frau habe den Saal verlassen. Daraufhin schlägt dieser (selbst-)aggressiv 184
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mit den Händen auf die Wasseroberfläche (zerschlägt den Spiegel mit einem narzisstischen Bild) und flucht: »Immer mache ich alles kaputt! Ich bin so Scheiße! Immer muss ich alles kaputtmachen! Das ist überhaupt kein performativer Akt.« »Mutter« Irm Hermann tritt nun einige Schritte auf ihn zu, stellt fest: »Das ist ja heute gar kein Spiel mit Dir!« Im gewaltsamen Einschluss findet die Andere/das Andere sich hier gerade ausgeschlossen. Die Szene ist in der Übertretung des Proszeniums zum reziproken (Selbst-)Ausschluss aus der Szene geworden (zur Geltung und Vergeltung, schlimmstenfalls in der Blutrache). Für die junge Frau ist das Theater nicht mehr Traum; Schlingensiefs Performance ist nicht mehr »performativer Akt«. Im weiten Sinn des Wortes ist im Theater alles performativer Akt: Körpergeschehen. Im engen, linguistischen Sinn ist der performative Akt bzw. die performative Äußerung ein Sprechakt, mit dem sich zugleich eine Handlung vollzieht, wie etwa ein Versprechen. In dieser Szene ist der performative Akt eine Anspielung der Beuys-Aktion wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt: Beuys, dessen Kopf mit Honig und Goldblättern bedeckt ist, hält einen toten Hasen im Arm und trägt ihn, durch die Ausstellung spazierend und mit ihm redend, von Bild zu Bild, lässt ihn die Bilder mit den Pfoten berühren, setzt sich, nachdem der Rundgang beendet ist, auf einen Stuhl und beginnt, dem Hasen die Bilder eingehend zu erklären, »weil ich sie den Leuten nicht erklären mag«.31
Schlingensief erklärt dem Hasen das Theater, und er mag es den Leuten so erklären, wie es bislang nicht war. Dabei berührt der Hase ein (erstarrtes) ›Bild von einem Gesicht‹. Es galt, das Publikum zum Sprechen zu bringen. Doch die Benetztheit, die in der Beuys-Aktion das eigene Gesicht betraf und die hier die des Hasen und der jungen Frau wird, ist nicht leicht zu transferieren, wie Beuys selbst darlegt: Mit Honig auf dem Kopf tue ich natürlich etwas, was mit dem Denken zu tun hat. Die menschliche Fähigkeit ist nicht, Honig abzugeben, sondern zu denken, Ideen abzugeben. Dadurch wird der Todescharakter des Gedankens wieder lebendig gemacht... [Der Gedanke] kann aber auch intellektualisierend tödlich sein, auch tot bleiben, sich todbringend äußern etwa im politischen Bereich oder der Pädagogik.32
Die Ungewissheit angesichts der Referenz (der Bühnenzeichen) hebt sich auch bei Schlingensief nicht nur da, wo Zitate erkannt sind, in der singulären Szene auf und kann nur/muss hier zugleich ausgehalten werden. Wie sich die Szene darstellt, ist radikal nicht wiederholbar. Das 185
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setzt eine Grundfeste des Theaters aus, die es mit einem tödlichen Ritual gemeinsam hat.
Trans-Substitutionen Atta Atta zitiert durchgehend das Orgien Mysterien Theater von Hermann Nitsch als das als-ob des Opferrituals, welches bereits selbst Stellvertretung ist, um die »mimetische«33 bzw. die reziproke Gewalt der Blutrache zu bannen. Nitsch, der 1964 ein literarisches Aktionsdrama mit dem Titel König Ödipus schrieb, verfasste im selben Jahr im MANIFEST das lamm, seine – wie die Aufführungen von Atta Atta nummerierten – Aktionen als Ersatzhandlungen dieses Banns der Gewalt im Opferritual. In den Aktionen wird ein totes Lamm mit Blut und Gedärmen überschüttet. Blut, das den lebendigen Körper durchpulst, wird erst nach außen tretend Anzeichen der Versehrung. Das Schütten des Blutes führt hier an die Wunde zurück: Das ausgeblutete Tier stirbt symbolisch den zweiten Tod. Zugleich ist das Tier/Symbol überströmt von realem Blut – in der Wunde, die jene reale Wunde zum Tode verschüttet: der Kunstaktion – an die Versehrung zurückgeführt: Das Blut strömt nicht mehr im Geäst der Adern; es stürzt in Strömen, wird verschüttet.34 In Atta Atta gibt es Theaterblut – oder auch Künstlerfarbe.35 Die Bruchlinien der Repräsentation werden nicht kaschiert. Bühnenzeichen geben nicht vor, keine zu sein. Zugleich wird an den Bruch zurückgeführt, ohne die Wunde (in der Kunst) zu schließen. Das exzeptionelle NitschZeremoniell des Dreitagespiels, mit der zentralen Aktion der »Lammzerfleischung«, findet bei Schlingensief auf einem Campingplatz statt. Gleichsam in der (gegenüber Deleuze/Guattari profanisiert) nomadischen Lebensform der Deutschen, die jenen beduinischen Nomadenzelten kontrastiert ist. In einer der Szenen stellt Fabian Hinrichs Schlingensiefs einst in Oberhausen zurückgelassene Jugendfreundin »Inge« dar. Schlingemsief »selbst« ist nach Berlin gegangen und hat eine Künstlergruppe gegründet, mit der er in der Anfangszene von Atta Atta an den »Oberhausener Kurzfilmtagen« teilnimmt. Soweit die Fiktion. In einer auf dieses Anfangsmotiv (und auf Schlingensiefs Anfänge) Bezug nehmenden Szene sagt nun »Inge« auch an »Nitsch« alias Staatsanwalt a.D. Dietrich Kuhlbrodt, einen Angehörigen der Schlingensief-»Familie«, adressiert: »Ich will Dir in den Mund kacken.« Stoffwechsel und (Zeichen-)Produktion, 186
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Orales und Anales sind (als künstlerische Stimme) kurzgeschlossen. Die Unterscheidung Mund/After ist dabei gerade in der Ausscheidung (von prätentiöser Kunstkacke) ausgeschlossen. Für den Produzenten ein Ablegen ohne Ab-Schied ist es für den Rezipienten nur ein SchluckenMüssen, eine Verstopfung der eigenen Mündigkeit. Ein Konflikt stellt sich dabei nicht nur für die Rezipienten dar, die das Publikum sind. Rezipient ist auch der Produzent/Schlingensief selbst. Kunst wird bei Schlingensief zu einer Kunst zweiter Ordnung. Doch gerade die Ordnung des Ersten und der Nachgeordnetheit, von Sekundarität oder Zitation, hebt sich auf. Der Zirkel, der sich bei Nitsch als Stellvertretung des Opferrituals darstellt, wird gebrochen: »alles dividiert sich, aber in sich selbst«, wie es Deleuze/Guattari für ihre Analyse der Schizophrenie annehmen. »Das ist vielleicht das Paradoxeste: eine disjunktiv bleibende Disjunktion, die gleichwohl die getrennten Begriffe affirmiert, und zwar über alle ihre Distanz hin, ohne den einen durch den anderen zu begrenzen noch den einen aus dem anderen auszuschließen. Das ›sei es … sei es …‹ statt des ›oder aber …‹«36 In Atta Atta – in der Aktion 20, und nur hier – erzählt »Schlingensief«: »Ich hatte einen Traum. Wir müssen die Familie rekonstruieren: Nitsch ist Mühl. Mühl ist Brus. Brus ist Weibel. Weibel ist Bock.« Mit Peter Weibel und John Bock ist die metonymisch organisierte Genealogie, sind die Trans-Substitutionen seit den Wiener Aktionisten in der Gegenwart angekommen. Die psychotischen Verrückungen durch Depersonalisation in dieser Traum-Kette stehen dabei dem Wortbild Atta Atta entgegen. Denn zwischen »Weibel«, der jemand anderes ist (auch: für etwas steht) und »Weibel« kommt hier ein Punkt zu stehen (oder im Sprechen das Pneuma). Substitutionen werden zu Trans-Substitutionen. Die Einspeisungen in Schlingensiefs eigene Arbeit sind autornamentlich markiert. Es kommt zu einem sichtbaren Tausch. Signifikant setzt sich hier die Buñuel-Rezeption anders dazu in Beziehung: Im Nachspielen der »Bourgeoisie« (im synchronen Film zur Aufführung von Atta Atta) findet Essen, Verspeisung gerade nicht statt, wird die (Wieder-)Aufnahme diskretiert. Eine Hommage. »Inge«, die zuvor in einer lyrischen Szene mit Schlingensief den Wunsch äußert, Sprengstoff-Attentäterin werden zu wollen, ist diejenige, welcher jener Anwurf auf die (Nitsch-)Kunst semantisch in den Mund gelegt ist. Im metaphorischen Sinne exkludiert hat hierbei der Regisseur: »Inge« spricht (es) nur aus. Doch sie, die in Oberhausen Zu-
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rückgelassene, ist ein Mann. Oder auch: Vater/Schlingensief. Ankunft im Ödipus, im Attentat? Das durch den Titel der Inszenierung organisierte Spiel der Spiegelung ist auch eines der Brechung. Doch die unentscheidbare Frage nach dem psychotischen Prozess und nach seiner Unterbrechung hebt sich darin gerade nicht auf. Die Anlehnung an Nitsch ist auch ein Vorbehalt, doch nicht im Sinne eines eigenen Gegenbilds. Die Ambiguitäten bleiben.37 Nitsch exzessiv zu zitieren und zugleich intensiv hinterfragt zu haben, führt gleichsam die Struktur der inneren Stimme in die Szene ein: Was man sieht, nämlich die ganze Orgie im Sinne von Nitsch, ist nicht das, was sich im Unsichtbaren darüber aussagt.
(V)erfahren und Wahn Der Prozess der Bildung (des Individuums wie auch der Kunst) ist Unwägbarkeiten und – als ein Prozess von Nachahmung – Unentscheidbarkeiten der Autorschaft unterworfen. Dies wird derzeit mit einem neuen Determinismus beantwortet, der Entlastung von einer Verantwortung gewährt, wie zuvor und anders die Religion. Symptome, Verhalten werden in ein Genmaterial eingerückt. Eine Insistenz auf dem Symptomatischen stellt sich nur noch als Idiosynkrasie des Einzelnen dar. Erfahrung muss für die Wissenschaft immer erst noch bewiesen werden, selbst wenn es Evidenzen gibt.38 Diese totale Entschlüsselungsarbeit macht vor der Verschlüsselung von Sinn im Wahn jedoch halt. Dabei ist der Wahn möglicherweise die Spiegelung dieses (wissenschaftlichen) Lesens, das Erfahrung nicht anerkennt, weil zu deren Vermittlung Narrativität gehört. Zum klinischen Symptom werden halluzinatorische Stimmen andererseits, wenn es bei jenen, welche Stimmen zu hören glauben – und so auch glauben machen, sie hörten diese – kein artikuliertes Wissen über deren Metaphorizität gibt. Zu glauben oder zu wissen, Stimmen zu hören, fällt dabei für die Klinik in eins. Ihre Maßgabe des Sagbaren setzt eine Doppelbindung, bei der einer Pathologisierung nicht auszuweichen ist. Doch die Klinik wird von der Bestimmung der »Wahngewissheit« (Karl Jaspers) zugleich selbst heimgesucht: Die gleichermaßen nicht verifizierbare wie nicht falsifizierbare Erfahrung, Stimmen zu hören, hat in einem positiven Wissen keinen Ort. Die Maßgabe des Sichtbaren ist, blickt man auf die Semantik ihrer klinischen Legitimation, genau jene Stigmatisierung, die mit den Verfahren vor188
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geblich vermieden ist. Und Stigmata sind eben nur einer »Wahngewissheit« oder einer Religiosität nach außen sichtbare Zeichen eines inneren, eines seelischen Vorgangs.39 Die Klinik ordnet nach sichtbaren Zeichen und mit bildgebenden Verfahren. Es werden Symptome katalogisiert, hirnorganische Läsionen lokalisiert, Korrelate gesucht.40 Ein Einlesen in das Wissen gelingt als das Überlesen einer Transposition, die in der halluzinatorischen Stimme statthat: Denn die Abspaltung gibt dem Unsichtbaren und Unsagbaren, der Stimme (oder auch Erfahrung oder Seele), eine eigene Semantik. Die ortlose Geisterhaftigkeit der Stimmen ist dabei nicht metaphorisch, sie bildet etwas ab. In den Vorarbeiten zu Wahnsinn und Gesellschaft formuliert Foucault, die Gegenwart mache Schizophrenie möglich, »weil unsere Kultur diese Welt auf eine solche Weise liest, dass der Mensch selbst sich nicht mehr in ihr erkennen kann«.41 Im Lesen als kleinem Wahn, als einem Stimmenhören, wo keine sind, wird die Metapher luzide: Lesen ist nicht nur als Metapher, wie jene der Bühne, sondern literal die »Bedrohung einer unerinnerlichen Wahrheit«42 der Wissenschaft.43 Der psychotische Wahn ist Kritik eines Wissens, das nicht als Erzählen und Lesen, das in entsprechenden Worten, nicht aber sprechend konfiguriert ist. Der Ausschluss der Unwägbarkeit, des Wähnens, das ein Komplement zur Luzidität (gegenüber dem Traum) ist, schließt in einen Wahn ein, der als Wahn der Norm erst noch zu bestimmen wäre. Er siedelt im blinden Fleck der Wissenschaft: in jenem Medium, von dem aus die Fragen gestellt sind. Im neuzeitlichen Wort vom Wahnsinn bildet es sich sprachlich ab: Es ist die hinzugewonnene Literarizität. Wahnsinn ist unterdessen Mangel an Linearität geworden, (moralisch) an Stringenz. Der übersichtige Wahnwitz, das Wähnen als Zwischen-den-Zeilen-lesen, scheint vom Defizit der Zeile enggeführt in die eine (imaginäre) Linie, in den einen Urheber: heraus aus einer heteronomen Situation wechselseitiger Kommentiertheit.44 Schlingensiefs Szenen stellen in ihren Buchstäblichkeiten einen Ort des Wahns (dar), für den das Wort aus dem vorliterarischen Deutsch in den Sinn kommt. In ihm hat sich der Zusammenhang des Sprechens erhalten: Wahnwitz ist, noch in ihrem Verlust, die (zugleich unmögliche) Kontiguität von Erfahrung.
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Die Ausführungen beziehen sich auf die als »Aktion 18-20« durchnummerierten Aufführungen vom 18.1., 26.2. und 27.3.2004. Christoph Schlingensief (geb. 1960 in Oberhausen) drehte bereits als Kind Kurzfilme, 1983 mit Tunguska – Die Kisten sind da den ersten abendfüllenden Spielfilm, 19881992 die Deutschlandtrilogie (100 Jahre Adolf Hitler – Die letzte Stunde im Führerbunker, Das deutsche Kettensägenmassaker und Terror 2000). 1993 folgte er einer Einladung zur Regiearbeit an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin mit 100 Jahre CDU. Es entstanden zahlreiche Inszenierungen, darunter dort zuletzt Atta Atta, in der Folge zudem Talk-Shows, TV-Reihen und Arbeiten im Kontext der bildenden Kunst, zunächst 1997 auf der Documenta X (Mein Filz, mein Fett, mein Hase – 48 Stunden Überleben für Deutschland), 1998 auf der Berlin Biennale, 2003 schließlich auf der Biennale di Venezia. Medienöffentlich kommentiert wurden – neben der aktuellen Opernproduktion für Bayreuth 2004 (Parsifal) – vor allem auch Interventionen wie Passion Impossible – 7 Tage Notruf für Deutschland (Hamburg 1997), die Containeraktion im Zusammenhang mit der Abschiebung von Asylbewerbern in Wien (2000) oder die Hamlet-Inszenierung mit aussteigewilligen Neo-Nazis in Zürich (2001). In plakativer Buchstäblichkeit mag hier Jacques Lacans Theorem vom »Drängen des Buchstabens im Unbewussten« zitiert sein. Buchstäblichkeit findet sich auch in der Antizipation eigener Erfahrungen: Bühnenelement ist neben anderem ein hölzerner Hochstand. Schlingensief nimmt darauf den vom Tonband her eingespielten brandenden Applaus für seine (erst für den Sommer 2004 projektierte) Inszenierung des Parsifal in der deutschen Hochkulturinstitution Bayreuth entgegen. Derrida, Jacques: As if I were dead. Als ob ich tot wäre, hg. und übersetzt von U. O. Dünkelsbühler u.a., Wien 2000, S.39. Überdies ist Text, der dies dokumentiert, gezwungen, die vom Geschehen exzessiv nahegelegten Anführungen zu ökonomisieren. Die Anführung, als diejenige Schrifttechnik, die seit dem 19. Jahrhundert uneigentliche und fremde Rede mit Sonderzeichen demarkiert, fällt in der Inszenierung (um hier in diesem Bild der Schrift zu sprechen) aus oder anders: sie verliert in der exzessiven Ausführung ihren Wert. (Vgl. Wildgruber, Georg: »Theorie und Chor«, in: Neumann, G./Pross, C./ Wildgruber, G. [Hg.], Szenographien. Theatralität als Kategorie der Literaturwissenschaft, Freiburg 2000, S.410, Anm.23.) Leclaire, Serge zit. n.: Deleuze, G./Guattari, F., Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt/M. 1995, S.399, Anm.29. Die Schizo-Analyse versucht, »die Existenz einer unbewussten libidinösen Besetzung der historisch-gesellschaftlichen Produktion aufzuzeigen, die von den mit ihr koexistierenden Besetzungen unterschieden ist«. (Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Anti-Ödipus, a.a.O., S.127.) Die Berliner Volksbühne unterbiete generell einen kritischen Maßstab, schreibt HansThies Lehmann in seiner Kanonisierung neuer Theaterformen mit dem Titel Postdramatisches Theater. Das Register führt unter dem Namen Schlingensief eine Nennung an. Die Marginalie, in welcher die neue Rechtschreibung (ph wird zu f) buchstäblich aus dem Unbewussten zu drängen scheint, ist repräsentativ für einen Strang in der Rezeption: »Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang das Phänomen Christof [sic] Schlingensief, der mit seinen irgendwo zwischen Pop, Dada, Surrealismus, Politik und Medientheater angesiedelten Aktionen eine bemerkenswerte mediale Präsenz für politische Fragen erreichte, die freilich unentscheidbar zwischen Show, Unfug und Politik changiert.« (Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt/M. 1999, S.220.) Die Differenz zwischen Performativem und Referentiellem stellt das signifikante Unterscheidungskriterium für die Theaterwissenschaft dar. So lässt sich nach FischerLichte die europäische Theatergeschichte »als Geschichte von Umstrukturierungen und Neubestimmungen des Verhältnisses zwischen beiden Funktionen begreifen«. (Vgl. Fischer-Lichte, Erika: »Grenzgänge und Tauschhandel. Auf dem Wege zu einer per-
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formativen Kultur«, in: Wirth, U., Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M. 2002, S.277-300, S.279.) Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod, München 1991, S.114. Der Autor und Kritiker Georg Seeßlen beschreibt diesen gleichzeitigen Kollaps des Blickens, der Lektüre und der Erzählung – kurz gesagt des Wissens: »Man sieht Schlingensief-Filme und Inszenierungen nicht, und schon gar nicht werden sie einem als lesbare erzählt, man bewegt sich vielmehr in so etwas wie einem waagerechten Fall durch sie, und man weiß nicht, ob man diesen Rausch genießen oder sich ängstigen soll, weil nirgendwo Halt zu finden ist.« (Seeßlen, Georg, in: Lochte, J./Schulz, W. (Hg.), Schlingensief! Notruf für Deutschland. Über die Mission, das Theater und die Welt des Christoph Schlingensief, Hamburg 1998, S.60.) Schlingensief stellt in der fingierten, nicht fiktiven Bahnhofsmission, die er während der Aktion 7 Tage Notruf für Deutschland 1997 in Hamburg einzurichten begonnen hatte, nicht nur die Institution des Theaters, sondern implizit die der Sozialbehörden in Frage, die zunehmend zurückweist, was für sie außerhalb liegt: Menschen, die eben dieser institutionellen Ausschlussgeste wegen außerhalb der Institutionen Familie, Firma obdachlos leben. Der Titel Atta Atta ist darüber hinaus eine (in ihren Implikationen vielleicht auch unbewusste) Anspielung auf den Ata-Imi-Tag der Großelterngeneration. Auf jenen Wochentag, der von den Frauen mit den Putzmitteln Ata und Imi verbracht wurde: der »Großkampftag«, wie er (post)faschistisch hieß. Indiz hierfür ist das Vorkommen einer Ata-Flasche in der Volksbühneninszenierung Erniedrigte und Beleidigte von Frank Castorf. Die Flasche ist hier so deutlich von Schauspieler Henry Hübchen in eine Videokamera gehalten, dass man des Selbstzitats im eigenen Haus gewahr wird. Diedrich Diederichsen resümiert: »Mit dem Baudrillardismus müsste man jetzt aufhören können.« Er führt aus: »Kurz dachte ich, wie man denn noch Zeichen hin und herschieben kann, wenn das, was diese bezeichnen, nicht mehr ist – eine mit Menschen bevölkerte Welt. Das völlig formalisierte, verselbständigte und durch Milliarden von Repräsentationen floatende Zeichen WTC gehörte zu einer geschlossenen Welt der Codes, die sich die Leute angewöhnt haben, ›die Medien‹ zu nennen. Dass in einem Angriff auf die Codes darin lebende Menschen zu Tode kommen, das war mein entscheidender Schock. Dieser Tag war das überfällige Ende der seit zwei Jahrzehnten kursierenden Überzeugung, dass ›die Medien‹ eine einzige andere und geschlossene Welt wären.« (Diederichsen, Diedrich: »Das WTC hat es gegeben«, in: die tageszeitung vom 6./7.Oktober 2001.) Die Leute haben sich, kurz gesagt, angewöhnt, von »den Medien« zu sprechen, weil »die Medien« es tun, womit die »Welt der Codes« zwar geschlossen ist, sich aber in den offenen Systemen, welche »die Leute« darstellen, gleichermaßen spiegelt wie bricht. Je nachdem, wie das Medium namens »die Medien« verwandt ist oder auch wie verwandt das Medium »die Medien« ist, gibt es reflexartige Nachahmung oder auch nicht: Es ist ein Übertragungsgeschehen, wie in einer Familie. Sloterdijk, Peter: »Erschütterung des Erschütterungs-Managements«, in: Hegemann, C. (Hg.), Ausbruch der Kunst. Politik und Verbrechen II, Berlin 2003, S.56-86, S.74f. Mit Dietmar Kamper »läßt sich die gegenwärtige Hoffnung nur noch wie folgt formulieren: daß es möglich sei, mittels eines genauen Hörens der Doppelspur von Performanz und performativer Thematisierung der Performanz das emergente Getäuschtsein momentan aufzuheben durch Sätze, die Antworten sind auf Fragen, die kein Redner zu stellen wagt«. (Kamper, Dietmar: Die Ästhetik der Abwesenheit. Die Entfernung der Körper, München 1999, S.41f.) Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Anti-Ödipus, a.a.O., S.117. Depersonalisation und halluzinatorische Stimmen sind gegenüber anderen psychiatrischen Krankheitsbildern das signifikante Erscheinungsbild der Psychose oder auch Schizophrenie. Hobbs, Robert: Robert Smithson. A retrospective View, hg. vom Wilhelm Lehmbruck Museum Duisburg und dem Herbert F. Johnson Museum of Art, New York o.J., S.18. Vgl. Freud, Sigmund: »Über den Gegensinn der Urworte« [1910], in: ders., Studienausgabe, Bd. IV, Frankfurt/M. 2000, S.227-234. Vgl. Buci-Glucksmann, Christine: Der kartographische Blick der Kunst, Berlin 1997; zu Smithson insbes. S.129-154, S.154.
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Vgl. Büchner, Georg: »Dantons Tod«, in: ders., Werke und Briefe, München 1988, S.67-133, S.133. Zugleich mag dies auch eine Anspielung sein auf den Song der britischen Rockgruppe THE WHO mit dem Titel Long live Rock. Kamper, Dietmar: Die Ästhetik der Abwesenheit, a.a.O., S.150. Schütz, Bernhard in: »Der Schauspieler als Mobiles Einsatzkommando. Stefanie Carp spricht mit Bernhard Schütz über seine Arbeit mit Schlingensief«, in: Lochte, J./Schulz, W. (Hg.), Schlingensief! Notruf für Deutschland, a.a.O., S.79-90, S.82. Das Projekt Chance 2000 (Prater der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin, 13.3. bis 12.4.1998) war Theaterveranstaltung/Wanderzirkus/Parteigründung bis hin zur Anmeldung für die Bundestagswahl 1998. (Vgl. Albers, Irene: »Scheitern als Chance – Die Kunst des Krisenexperiments«, in: Finke, J./Wulff, M. [Hg.], Chance 2000. Die Dokumentation. Phänomen. Materialien. Chronologie, Agenbach 1999, S.43-72.) Kamper, Dietmar: Die Ästhetik der Abwesenheit, a.a.O., S.47. Vgl. Briegleb, Till: »7 Tage Notruf für Deutschland. Eine Bahnhofsmission«, in: Lochte, J./Schulz, W. (Hg.), Schlingensief! Notruf für Deutschland, a.a.O., S.97-138, S.99. Den freundlichen Hinweis darauf verdanke ich Barbara Wolpert. Der im Film mitwirkende Siegfried Gerlich bestätigte den Zusammenhang. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Anti-Ödipus, a.a.O., S.160ff., S.168. Bereits Georg Groddeck, Begründer der klinischen Psychosomatik, wollte die Bestimmungen des Es, das im übrigen durch ihn in die psychoanalytische Theoriebildung einging, in den 1920er Jahren anders als Freud eingesetzt wissen. (Vgl. Will, Herbert: Georg Groddeck. Die Geburt der Psychosomatik, München 1987, S.117ff.) Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Anti-Ödipus, a.a.O., Frankfurt/M. 1995, S.69. Lacan, Jacques: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion wie sie uns in der psychoanalytischen Behandlung erscheint«, in: ders., Schriften I, hg. von N. Haas, Olten 1973, S.61-70, S.68. Adriani, Götz/Konnertz, Winfried/Thomas, Karin: Joseph Beuys: Leben und Werk, Köln 1981, S.152ff. Ebd., S.155. Vgl. zum Begriff der »mimetischen Gewalt« Girard, René: Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt/M. 1992. Klocker, Hubert (Hg.): Wiener Aktionismus. Wien 1960-1971. Der zertrümmerte Spiegel. Günter Brus, Otto Mühl, Hermann Nitsch, Rudolf Schwarzkogler, Klagenfurt 1989, S.271f. In Atta Atta – Aktion 20 nimmt Schlingensief nicht nur vielfach Bezug auf Hermann Nitsch; das (Theater-)Blut, das in Strömen fließt, spielt nun auch auf Mel Gibsons zu dieser Zeit in Deutschland anlaufenden Kinofilm Passion an. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Anti-Ödipus, a.a.O., S.97f. Carl Hegemann, Dramaturg der Berliner Volksbühne, äußert in einem Gespräch: »Das Einzige, was wir verbreitet haben, ist eben Ambiguitätstoleranz. Unsere Erfahrung zu vermitteln, dass man auch unstrukturierte Situationen ertragen und auch auf einem wackligen Boden arbeiten und eine Meinung äußern kann. Lieber als der Totalitarismus ist uns die Orientierungslosigkeit. Lieber als die Fixierung auf eine Vaterfigur, die in jeder Situation sagt, wo es langgeht, ist uns die Fähigkeit, diese unstrukturierten Situationen zu ertragen.« (Müller, Katrin Bettina: »Wie im Himmel so auf Erden«, in: die tageszeitung vom 16.3.2004, S.17.) Von der Insistenz des Wahns auf dem Symptomatischen, gegen dessen Einrückung in das Symptom, zeigt sich zuweilen auch die Klinik affiziert. Über eine Mediatisierung: Zu den Krankheitsbildern der Schizophrenie, deren Ätiologie, deren Entstehenszusammenhang rätselhaft bleibt, sucht man in der Kunst Aufschlüsse. Neben Hans Prinzhorns Publikation von 1922 zur Bildnerei der Geisteskranken sind hier zu nennen: Marcel Réja (bereits 1907), Walter Morgenthaler (1921), Karl Jaspers (1922). Die Studien, signifikant im Beginn der 1920er Jahre entstanden und auf psychotisch affizierte Kunstproduktionen bezogen, reagieren auf das Weltkriegsgeschehen. Durch das 20. Jahrhundert hindurch scheinen die (doppelten) Bilder des Psychotischen gegenüber einem traumatischen Ausfall des Wissens den Versuch dargestellt zu haben, wieder zur
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Sprache zu kommen. So lassen sich der Rezeptionszusammenhang des Begriffs Schizophrenie nach dem Ersten Weltkrieg mit Jaspers, Prinzhorn u.a. und der in den 1960er Jahren von Auschwitz bestimmte Diskurs von Ronald D. Laing, Deleuze/Guattari u.a. sowie die Anti-Psychiatrie auch als Verschiebungen verstehen. Dabei lässt gerade das Enigmatische, Überkomplexe die Schizophrenie – »unsere Krankheit«, wie Deleuze/Guattari schreiben (a.a.O., S.169) – in Psychiatrie, Psychoanalyse, Philosophie und Kunst zu einer Bühne der Theoreme werden, zu einem Signum des 20. Jahrhunderts in der Konfiguration von Wahn, Wissen und Institution. Bis in die 1970er Jahre hinein lässt sich eine paradoxe Identifikation mit der Schizophrenie rekonstruieren, der nun, zunehmend hegemonial, ein Paradigma gegenübersteht, das sich neurobiologisch konstituiert. Die produktive Identifikation mit der Schizophrenie hat, beginnend mit Dada als dem Paradigma einer Widerständigkeit (in) der Kunst, weiterhin Residuen: So weisen die neo-dadaistischen Rekurse in den Schlingensief-Produktionen auf die zweite Rezeption der Schizophrenie bei Deleuze/Guattari im Anti-Ödipus. Schlingensiefs Wendung von der Church of Fear, zuletzt eine seiner fingierten Institutionen, nutzt gerade diese Verkehrung zwischen Wissen und Glauben und gibt einer Erfahrung (als dem nicht in den positivistischen Verfahren der Wissenschaft Verifizierbaren) einen (Andachts-)Raum. Ein Gefühl, das im Sinne des Wissens nicht gewusst, nicht (an-)erkannt werden kann, wird hierbei kollektiv geglaubt, weil es nur im Glauben (an sich selbst) noch existiert und existieren kann: das Gefühl der Angst. Derzeit ist von der Klinik unter anderem eine Störung der Neurotransmission angenommen. Bemerkenswert scheint, dass das neurobiologische Paradigma Disbalancen der Neurotransmission nicht als reziproke Prozesse annimmt. Obschon: »Wir wissen, daß die Biochemie den sozialen Verhältnissen gegenüber hochempfindlich ist. A priori ist plausibel, daß die Situation des Mattgesetztseins eine biochemische Reaktion bewirkt, die ihrerseits bestimmte Erfahrungs- oder Verhaltensweisen fördert oder erschwert.« (Laing, Ronald D.: Phänomenologie der Erfahrung, Frankfurt/M. 1969, S.104.) Foucault, Michel: Psychologie und Geisteskrankheit, Frankfurt/M. 1968, S.129. Hervorhebungen von mir, K.S. Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1969, S.386. Bereits Eugen Bleulers Begriffsbildung verweist dabei auf die Aufschlüsse über das Wissen (nicht nur der Klinik), die in den wissenschaftlichen, ›neutralen‹ Termen liegen, werden diese übersetzt. Bleuler übersetzt das eigene Kunstwort »Schizophrenie« als »gespaltenen Geist«. (Vgl. Kraft, Hartmut: Grenzgänger zwischen Kunst und Psychiatrie, Köln 1998, S.18.) Ronald D. Laing hingegen als »gebrochenes Herz«. (Vgl. Laing, Ronald D.: Phänomenologie der Erfahrung, a.a.O., S.119.) Mit anderen Worten: Nicht nur die Schizophrenie sondern auch die Wissenschaft selbst generiert in einem komplexeren als dem in einer (wissenschaftlichen) Syntax noch formulierbaren Sinn. Eine witzige Heuristik des Kommentars findet sich bei Schlingensief in einer Szene, in der er, den Suhrkamp-Band in der Hand, den Soziologen Niklas Luhmann liest. Er kompiliert Textpassagen aus Die Kunst der Gesellschaft. Auf einem Bein stehend, das andere gehoben, abgewinkelt. Das Bild scheint sinnfällig. Die Balanceübung hat ihre Poetizität im Zusammenhang der eigenen Arbeit: Zum einen manifestiert sich hier Lektüre. Zum anderen ist die Gleichzeitigkeit eines (Vor-)Lesens und eines Sprechens zu sehen gegeben. Die Reverenz an Luhmann zeigt sich in einem beweglichen Vorbehalt des eigenen Körpers gegen (dessen) Schrift, desjenigen Körpers, der zugleich liest: »Man kann dann sagen: ein Kunstwerk zeichnet sich durch die geringe Wahrscheinlichkeit seiner Entstehung aus. Es ist sozusagen ein demonstrativ unwahrscheinlicher Sachverhalt.« (Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997, S.247.)
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Beeinflussungsapparate Eine paradiskursive Montage
Die Macht der Medien? Kann man den Medien widerstehen? Seit die elektronischen Medien ubiquitär geworden sind, koppeln sich an sie nicht nur Vorstellungen von souveräner Selbstausdehnung und Fun. Ebenso grassiert die Befürchtung, das Subjekt könne Anhängsel von Apparaten werden, durch die unheilvolle Stimmen ihre manipulierenden Einflüsterungen ausüben. Das Buzzword von der Macht der Medien kursiert und meint ein Gemisch aus politischer Einflussnahme, Verlust von Literalität und Unmittelbarkeit, Errichtung künstlicher Paradiese und letztlich der Ohnmacht des Subjekts. Die Konfiguration von Macht, Ohnmacht und Gegenmacht wird in einer frühen Episode der Superman-Comics zum Thema, sie zeigt in fantastischer Überhöhung etwas von der befürchteten Unheimlichkeit der Medienmacht. Gerade der Trivialmythos spiegelt in seiner farbigen Darstellungsform das Wissen einer Kultur, die sich als Empfänger undurchschaubarer Ströme erfährt. In Hypnosis by Radio1 wird selbst der Übermensch als jemand gezeichnet, der sensibel für einen medial übertragenen Sirenengesang ist. Ein betörender Klang beraubt ihn – wenn auch nur für kurze Dauer – seiner supranormalen Kraft: Ein berühmter Pianist hypnotisiert mit einer Melodie, die durch das Radio übertragen wird, eine ganze Stadt. Auch Superman verfällt dem Charme der Töne und wird zum willenlosen Gefolgsmann. Gut zwanzig Jahre bevor Marshall McLuhan in Understan195
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ding Media das Radio als »heißes Medium« charakterisiert und in dem Aufheizen der Sinne eine Hypnose erkennt, zeigt der Comic-Held, dass es unwahrscheinlicher Kräfte bedarf, um der medialen Insinuation widerstehen zu können.2 Doch wäre er nicht der Übermensch, könnte er nicht mit seinem »Willen zur Macht« aus der Hypnose erwachen. Superman betreibt – ganz altmodisch – Medienkritik in Gestalt eines Mediumoklasmus. Die Befreiung aus der Willenlosigkeit erfolgt durch die Zerstörung des Apparats. Nicht der Verursacher der Machtausübung ist das erste Ziel der Vernichtung, sondern die Übertragungstechnik.
Superman Action Comics, 1941
Gewiss wohnt dem Trivialgenre die kalkulierte Tendenz inne, den sensationellen Überschwang literarisch in Szene zu setzen (wodurch es selbst in der Geschichte der Medienwahrnehmung von der konservativen Kulturkritik unter Beschuss geriet). Doch verfügen die paranoiden Ingredienzien, die in der Story anklingen, über eine Referenzialität, die auf konkrete Leben und ihre Tragik verweist: Nachdem Timothy McVeigh 1995 das Regierungsgebäude in Oklahoma City in die Luft gesprengt hatte, beklagte er sich darüber, dass die Armee ihm Mikrochips eingepflanzt habe, wodurch er jeden Moment trackbar wäre. McVeigh Superman?
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Wahn, Wissen, Literatur Die plakative Gegenüberstellung von grafischer Trivialliteratur, Wahnbildung und Medientheorie initiiert eine Verschiebung der Frage danach, ob Medien und ihre Machthaber verwirrend, krankmachend oder realitätsverzerrend wirken. Das zweifellos wichtige Problem, welchen Einfluss Medien auf die sie nutzenden Subjekte haben, scheint für eine Beantwortung verstellt, denn die Opazität des Subjekts (als freies, komplex formiertes, sich wandelndes, multiple wünschendes, mit einem Unbewussten ausgestattetes, wissendes, unwissendes, träumendes etc.) kann kaum mehr als plausible Thesen zulassen. Stattdessen soll an einigen exemplarischen Diskursgegenständen gezeigt werden, dass zwischen Wahn, Literatur und medienanalytischen/-kritischen Äußerungen Signifikanten kursieren, die diese unterschiedlichen Äußerungsfelder miteinander verbinden. Innerhalb dieses paradiskursiven Feldes werden Wahrheitsmodelle über Medien kreiert, bearbeitet und reproduziert. Diese Bearbeitungen fügen sich zu einem kulturellen Komplex, der Auskunft über die Beschaffenheit von Wissen geben kann. Wissen wird in dieser Perspektive als ein Gefüge aus Aussagen (Beobachtungen, Behauptungen, Befürchtungen, Deutungen etc.) aufgefasst, die die benannten Felder symbolischer Produktion miteinander teilen. Um es deutlich zu sagen: Wissen wird hier nicht synonym mit Wissenschaft gesetzt. Vielmehr – ich zitiere Foucault – »lokalisiert sich Wissenschaft in einem Feld des Wissens und spielt darin eine Rolle«.3 Auch gilt nicht die vorschnelle Behauptung, dass Wahnwissen und Wissenschaft ineinander aufgehen;4 doch vermag ein Lichtstrahl auf die enunziativen Similaritäten hervorbringen, von welchen Modellen sich das Denken über die Medien in unserer Kultur nährt. Dieser Perspektivenwechsel könnte zu der Skepsis führen, ob es tatsächlich Medien sind, die den Subjekten die Realität entwenden und Fremdheiten aufnötigen, oder ob es die Wirkungen von Diskursen sind, die behaupten, dass Medien dies vermögen. Dass Verdachtsdiskurse den Medien gegenüber entstehen konnten, ist durchaus verständlich: Es existiert mittlerweile eine undurchschaubare Fremdwelt aus Telemedien, die auf Strom, Strahlen und geheimnisvollen Schaltungen beruht. Sie bieten sich geradezu an für paranoide Konzeptionen, weil ihr enigmatischer Charakter und ihre Kopplung mit politischen oder wirtschaftlichen Machtinteressen den Verdacht unheimlicher Wirkmächtigkeit provozieren. Da ihr Funktionieren und ihre Reichweite im Unsichtbaren liegen, schließt das interpretierende Ver197
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halten – sozusagen zwingend – die Lücke der Unsicherheit. Dass Medien eine anthropologische Grundbedingung für Sozialisierung, Kommunikation, Subjektbildung darstellen (Sprache, Stimme, Gesten, Mimik), verhindert nicht, dass im Moment ihrer Künstlichwerdung immer auch die Befürchtung der Entstellung entsteht. Die Unheimlichkeit des Medialen hat ihre diskursive Geschichte, die formierend auch auf aktuelle Deutungsmuster einwirkt. Manfred Schneider hat in einer Skizze dem Recycling von Kommunikationsidealen in der Historie nachgespürt.5 Er zeigt, dass sich gegen die evolutionäre Entwicklung immer wieder Aufbereitungen alter Referenzdiskurse geltend machen. Die gleiche Logik der zirkulären Erneuerung lässt sich auch für die Verdachtsdiskurse feststellen. Im Folgenden werde ich kaum mehr als eine Konstellation von Tonlagen und Themen montieren. Diese Montage hat zum Ziel, einen Strang des kulturell manifestierten Medienwissens aufscheinen zu lassen. Im Zentrum soll ein Terminus stehen, in dem Medium, Wirkung und Psychopathologie zusammengefasst sind – der Begriff des Beeinflussungsapparates.
Beeinflussungsapparate im Wahn 1919, in der Frühphase psychoanalytischer Theoriebildung und Nosographie, hat Viktor Tausk den Begriff des Beeinflussungsapparates geprägt und damit imaginär-halluzinative Erfindungen von Paranoikern bezeichnet, die sich Beeinflussungen von Maschinen ausgesetzt sahen.6 Tausk gibt die grundlegenden Eigenschaften des Beeinflussungsapparates, wie sie von Patienten beschrieben werden, wie folgt wieder: Der Apparat • produziert oder löscht Gedanken, Gefühle und innere Bilder. • ruft körperliche Sensationen und sexuelle Erregung hervor. • wird von Verfolgern bedient. • funktioniert auf Basis von Wellen, Strahlen oder Strom, ohne dass eine genaue Angabe der physikalischen Funktionsweise des Apparates gegeben wird. Die psychoanalytischen Schlussfolgerungen, die Tausk aus diesen nosographischen Befunden zieht, sollen an dieser Stelle keine Rolle spielen. In Tausks Beschreibung der Symptome reflektiert sich eine Epoche, die, neben der Elektrifizierung und Industrialisierung, die Entstehung 198
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moderner Medien wie Telegraph, Telephon, Phonograph, Photographie und Film erlebt hat. Am Ende des 19. Jahrhunderts werden zudem die unsichtbaren Energien von Röntgenstrahlung und Radioaktivität entdeckt. Die Kranken koppeln ihre Wahrnehmung an Realitätspartikel, die zu systemähnlichen Konstruktionen aufgewertet werden. Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts sind vereinzelt Berichte bekannt, in denen die neue Maschinen- und Medienwirklichkeit thematisiert wird. Bereits 1810, in einer der ersten modernen psychiatrischen Krankengeschichten, präfiguriert John Haslam die Tausksche Analyse.7 Beschrieben wird James Tilley Matthews, der sich von einer illustren Bande verfolgt sieht. Diese Gang bedient einen Apparat, den Matthews air-loom nennt.
Air-Loom: John Haslam, Illustrations of Madness, 1810
Der Signifikant kann als Referent auf die Webmaschine (»loom«) und gleichzeitig auf die unsichtbare Übertragungsmechanik (»air«) gelesen werden. Die Tele-Beeinflussung qua elektrischer Maschine und Magnetismus hat für Matthews zur Folge, dass er von einem ganzen Cluster aus Unannehmlichkeiten heimgesucht wird: Sprachbehinderung, brainsayings, Trennung von Gefühl und Intellekt, thigh-talking, Zwangsdenken, sudden death-squeazing, laugh-making und eine Reihe weiterer 199
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Leiden. Haslams Bemerkung, dass diese Kalamitäten bisher nie beobachtet wurden, deutet auf einen Paradigmenwechsel: Nicht religiöse Manie oder Hexenglauben, sondern profanes Medien- und Machtwissen bestimmen die paranoide Konstruktion. Der Beeinflussungsapparat ist eine hybride Mischung aus Elektrizität, Magnetismus und Pneumatik. Betrachtet man die Illustration, enthält der Apparat Anspielungen auf das Messmersche Baquet. Die Wirkungen bilden entsprechend einen Komplex aus physischen Kraftwirkungen, Gefühlsentfremdung, Krankheit und Fremdsteuerung: Kaum übersehbar ist die zeitgenössische Erfahrung mit industriellen Gegebenheiten, die sich in den Wahn eingeschrieben haben. Friedrich Krauß’ notorischer Bericht Nothschrei eines Magnetisch=Vergifteten aus dem Jahr 1852 schließt sich nicht nur historisch, sondern auch motivisch an den Fall von Matthews an. Wie dieser wird auch er von Gesindel verfolgt, das ihn mit »magnetischem Feuer hinunterbrennt«.8 Der »Pöbel« elektrisiert und magnetisiert ihn ebenfalls mit einem Apparat, der jedoch deskriptiv wenig ausgemalt wird. In seinen Illustrationen gibt er gängige Elektrisiermaschinen seiner Zeit wider.
Elektrisiermaschinen: Friedrich Krauß, Nothschrei eines Magnetisch=Vergifteten, 1852
Dennoch ist klar: Kraft und Gedanken werden mit ihm übermittelt, ohne dass eine direkte Berührung notwendig ist. Der Magnetiseur fixiert sein 200
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Opfer oder »schwätzt« mittels seiner Apparatur auf es ein. Denken, Affektivität, der Blick und der Leib werden beeinflusst: Eine Energieübertragung findet mit der Maschine statt, was bewirkt, dass dem Opfer Worte und Gedanken unterlegt, Bilder und Leidenschaften in ihm aufgestellt, Gedächtnis und »Facultäten« gehemmt, Sensationen mitgeteilt werden. »Sie belagern mich wie Stechfliegen, stellen die ärmlichen Bilder ihrer abgeschmackten, obscönen Phantasie in mir auf, verunstalten, verdrehen und verspotten meine Gedanken, durchkreuzen sie, wehren sie ab [...]«9 Was bleibt, ist ein »automatisiertes« Subjekt. Krauß resümiert: »Es umstrickt diese Magnetisierte eine gewisse starre Ergriffenheit, die sie zur Maschine stempelt.«10 Der Mensch gleicht sich mimetisch der Maschine an. Der Sachverhalt erinnert an Marx’ Beschreibung des Arbeiters im industriellen System: »In der Fabrik existiert ein toter Mechanismus unabhängig von ihnen [den Arbeitern], und sie werden ihm als lebendige Anhängsel einverleibt.«11 Der Verlust von Handlungsfreiheit, Denk- und Gefühlsräumen, der von Krauß drastisch erlebt und angeklagt wird, betont einen Aspekt von Maschinisierung/Medialisierung, der mit dem Prothesen-Theorem (z.B. McLuhan, Freud) nicht abgedeckt wird: Die Apparatur erschöpft sich nicht in instrumentalistischer Handlungsverlängerung, sie tritt in ihren kontingenten Anschlussmöglichkeiten und Wirkungen als Passivierungs- und Strukturierungsinstanz auf.12 Für das 19. Jahrhundert figuriert der Magnetismus als materialistische Chiffre für diese unsichtbare, unstoffliche Einflussnahme; sie verbindet unterschiedliche Diskurse der Epoche – Physik, Medizin, Spiritismus/Okkultismus, Wahn – und gibt damit einen interpretativ ausbeutbaren Signifikanten vor. Auch Franz Wollny verfasst in den 1880er und 90er Jahren eine Reihe von Abhandlungen über Telepathie, Suggestion und Hypnose. In einem geschraubten, manieristischen Stil sucht er »sogenannte übernatürliche […] Wirkungen« 13 als physische Sachverhalte zu begründen. Im Hinblick auf die medialen Wirkungen reiht sich sein Verdacht in das bekannte Muster: Magnetische Einflüsse erweisen sich als Gefahr bringend »für das öffentliche, wie für das Privatleben in dem Sinne […], dass sie die Freiheit und Sicherheit der Person, die Unverletzlichkeit der Wohnung, Gesundheit und Leben des Bürgers auf die aggressivste Art und Weise in Frage zu stellen scheinen«.14 Vermutungen kann er allerdings nur darüber anstellen, dass die telepathischen Effekte durch Apparate zur Ausführung gelangen. So sieht er sowohl in dem »dichten Netz über 201
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unseren Häuptern sich ausbreitender Drähte [die Telegraphendrähte], künstliche Vorrichtungen«, die zu Betrügereien Gelegenheit geben, als auch im neuen Medium des Telephons eine Zurüstung, mit der Regierungen und Kirche gewalttätige Zwecke verfolgen.15 Man sieht: Wollny ist auf der Höhe der Zeit, wenn er die »mechanischen Einrichtungen und ersonnenen Apparate«, die »das ganze System von geheimen Einwirkungen«16 stützen, zu erfassen sucht. Neben Telegraphie und Telephonie stellt er sich eine »Art von Instrumenten« vor, »die dem neuerdings erfundenen Phonographen«17 verwandt zu denken sind. Er unterscheidet zwei Typen: Einen Apparat, der ein allgemeines Gepräge hat, ein anderer, der auf einzelne Individuen abgestimmt ist. Der letztere ist – in moderner Internet-Terminologie gesprochen – eine personalisierte Anwendung. Letzthin zielen aber beide Apparaturen auf die Aufhebung des Individuellen. Die katastrophische Fantasie Wollnys hat die Degradierung des Menschen zu »lebenden Maschinen« zum Inhalt, die Beförderung der Unsittlichkeit und die »monströseste Geistesverstümmelung«.18 Zweifellos nimmt Wollny in seiner Kritik die Diagnose der Vermassung auf, die die konservative Kulturkritik des 19. Jahrhunderts motiviert. Zu erinnern ist, dass zeitgleich Gustave Le Bons Psychologie der Massen erscheint, in der die Masse als das verschlingende Kraftfeld beschrieben wird, welches das Individuum in einen Reflex-Organismus verwandelt (s.u.). Wollnys Konzeption einer ›Soziologie‹ der Medien zeigt eine generelle Richtung auf, die die Paranoia bis heute verfolgt: Nicht die Beschränkung auf die individuelle Erfahrung steht im Zentrum, eingenommen wird vielmehr die Großperspektive auf die gesellschaftliche Gesamtbeeinflussung. Kurzum: Medien machen Massen. Eine psychologische Theorie der Medien in nuce bietet Clifford Beers in seinem Bericht einer Paranoia, den er 1908 veröffentlicht hat. Auch Beers inkorporiert die neueste Medienentwicklung in seinen Wahn. So sieht er seine Halluzinationen hervorgerufen durch eine Kombination aus Laterna Magica und Film. Er antizipiert damit den Farbfilm, in dem lebhafte Horrorvisionen von zerstückelten Körpern mit frohen Bildern heiler Kindheit wechseln. I imagined that these visionlike effects […] were produced by a magic lantern controlled by some of my myriad persecutors. The lantern was rather a cinematographic contrivance. Moving pictures, often brilliantly colored, were thrown on the ceiling of my room and sometimes on the sheets of my bed.19
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In nachträglicher Reflexion erklärt Beers diese Projektionen als Abkömmlinge der während der Kindheit konsumierten Sensationsnachrichten der Presse. In seiner Konstruktion schießen also tradierte und aktuale Medieneinflüsse zusammen, die eine inkonsistente Bilderflut generieren, von der sich das Subjekt überschwemmt und verfolgt sieht. Beers Schilderung und Selbstanalyse ist interessant, weil die im Wahn erdachten Medien nachträglich als Resultat von Medienkonsum gedeutet werden. Als habe die Verfolgung und zerrüttende Wirkung bereits in der prä-psychotischen Phase begonnen. Die Literatur des Wahns ist bis heute eine der Einzelkämpfer mit Outsiderstatus geblieben. Psychiatrie oder Psychoanalyse haben sie zuweilen als Objekt ihrer Wissenschaftsinteressen genutzt. Inzwischen hat sich die Situation durch das Internet verschoben. Das Web ist zu einem Diskursort geworden, an dem sich paranoide Konzepte in iterativen Schleifen gegenseitig stützen und befruchten.20 Eine quasi-wissenschaftliche Community der mind control victims bzw. psychotronics victims ist entstanden, die Erfahrungsberichte, Analysen, Artikel, Forenbeiträge, technische Zeichnungen, Photographien, Diagramme erstellt, verarbeitet und austauscht. Domains, Hypertextverlinkungen und EmailKontakte sind mittlerweile zu einem unüberschaubaren Netz aus Verweisungen geknüpft worden. Eine Verallgemeinerung hat stattgefunden, in der der Diskurs sich seinen Rahmen für seine Normalisierung schafft und seinen exotischen Status abzulegen sucht.
Infografik: www.mindcontrolforums.com, 2004
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Neben der Menge an Material und der rekursiven Diskursbildung zeichnet sich die »neue« Paranoia vor allem durch eine technische ›Informiertheit‹ aus. Dies wird zum einen an einer technoiden Begrifflichkeit deutlich und am Einsatz von Infographiken, die detailliert Auskunft über die Funktionsweise von Beeinflussungsapparaten geben. Mikrowellen, Gehirnimplantate, brainwave analysis and hard-disk storage, Telemetrie, Computer, neuronale Telekommunikation, Mobiltelephone, Abhöranlagen, psychotronische Bildgebung, ultra sound, Neuroradio, elektromagnetische Strahlung, Aufnahme- und Abspielgeräte für subliminale Botschaften etc. – die Paranoia reagiert sensibel auf den Umstand, dass wir von Technologie umgeben sind, die uns auf den Leib rückt und zur zweiten Natur geworden ist. Die paranoide Gemeinschaft ist bekümmert über diese Strahlen und Ströme und betreibt durch die hypertrophe Diskurswucherung eine Aufwertung des Verdachts zur Gewissheit: dass Medien für eine umfassende Bewusstseinskontrolle eingesetzt werden. Der Topos der Beeinflussung wird aber trotz rhetorischer und argumentativer Neuausrichtung letztlich recycelt. Krankheiten, Verlust der Individualität, Gedankenund Gefühlsklau sind die wiederkehrenden Klagen, wie sie seit dem 19. Jahrhundert bekannt sind.21 Als exemplarisch können folgende Zitat gelesen werden. Am Ende einer langen Ausführung zu Mind-ControlTechnologien schreibt Kathy Kasten, die sich selbst als »researcher and targeted individual« bezeichnet: It should be apparent that humanity has had both the technology and the will to manipulate each other remotely. Information about the possibility of mind control has surfaced with regularity every few years. Yet, there is no public outcry en masse of the incredible invasion of privacy, and emotional and physical manipulation of everybody on the planet.22
In einem ähnlichen Wissenschaftssound artikuliert sich Rauni Leean Kilde; ihr Artikel trägt den programmatischen Titel Microwave Mind Control: Modern Torture and Control Mechanisms Eliminating Human Rights and Privacy: When the use of electromagnetic fields, extra-low (ELF) and ultra-low (ULF) frequencies and microwaves aimed deliberately at certain individuals, groups, and even the general population to cause diseases, disorientation, chaos and physical and emotional pain breaks into the awareness of the general population, a public outcry is inevitable.23
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Eine geheime Eschatologie liegt dem paranoiden Diskurs zugrunde: Es möge der Tag kommen, an dem der Widerstand (»outcry«) den Menschen aus seiner Vermassung und Erniedrigung befreit. Die Wiederholung letzter Wahrheiten und das Wuchern der stereotypen Diskurse mag Langeweile produzieren, ihr Sinn liegt jedoch darin, dass die Menge der Belege die ausweglose Gegenwärtigkeit der Beeinflussungsapparate widerspiegeln soll. Implizit und explizit betreibt die Paranoia eine »Medientheorie«, die eine geschlossene Ordnung von Rezeptions-, Produktions- und Sendetechnologien hypostasiert. Der Paranoiker findet sich darin eingefangen – und revoltiert gleichzeitig gegen die Geschlossenheit. Er steht auf der Seite einer Aufklärung, die das Subjekt als mündiges, selbstverantwortliches und frei denkendes herbei wünscht. Der Paranoiker tritt als Kultur- und Machtkritiker auf; seine Anstrengung zielt darauf, den Verblendungszusammenhang zu durchbrechen. Die Opposition zwischen unterwerfender Medienmacht und autonomem Subjekt ist grundlegend: Sie treibt nicht nur die Paranoia an, sie bestimmt auch eine Reihe medientheoretischer Ansätze.
Beeinflussungsapparate in der Theorie Mit der Zunahme an Mediendichte, -konsum und -abhängigkeit erlangt auch die Medienwissenschaft und -kritik einen tragkräftigen Resonanzboden. Inzwischen ist das, was über Medien gesagt und geschrieben wurde und wird, nicht mehr zu überblicken. Die Grenzen zwischen Wissenschaft, Essayistik und Journalismus sind dabei äußerst fließend. Wie immer man nun die Medien reflektierende Tätigkeit klassifiziert, sie muss sich auf ihre Grundlagen hin befragen lassen. Die folgenden Stichproben (die nicht auf eine Systematik oder Vollständigkeit ausgerichtet sind) wurden im Hinblick auf ihre Korrelierbarkeit mit dem Thema der Beeinflussung ausgewählt. Sie sollen die These stützen, dass intertextuelle Referenzen zwischen unterschiedlichen Deutungssphären vorliegen, die an der Kreation einer Wissenskonfiguration über Medien beteiligt sind. Vor allem geraten medientheoretische Diskurse in den Blick, da ihnen ein konstruktivistischer bzw. beziehungsbildender Impetus unterstellt werden kann. Meine Intention ist es nicht, durch Nachbarschaft von Wahn und Reflexion die letztere zu diskreditieren und sie dem Pa-
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thologischen zu unterstellen. Doch mögen Ähnlichkeiten die Frage aufwerfen, ob man beruhigt von klaren Diskursgattungen sprechen kann. Mit Nietzsches Kulturkritik tritt zeitversetzt zu den frühen Wahntexten ein vehementer Diskurs auf, der um die Themen Degeneration, Willensschwäche und moderne Nervosität kreist. Wenn er in seinem generalisierenden Duktus die Moderne angreift, kommt auch die Maschine in den Blick: »Die Maschine controlirt furchtbar, daß alles zur rechten Zeit und recht geschieht. […] Die Maschine erzieht nicht den Willen zur Selbstbeherrschung.«24 Das klingt im ersten Satz nach Marx, verwandelt sich dann jedoch in eine Psychologie, die eine Situation beklagt, in der der Mensch sich verliert. Die Maschine kann als Platzhalter für weitere Imperative gelesen werden, zu denen auch die Medien gehören, an die der Mensch sich angeschlossen findet und die ihn »reizen«. Denn nicht die produktiv-zweckrationale Seite kommt bei Nietzsche in den Blick, sondern die Durchschlagkraft transmaterieller Effekte. Um den Begriff der Reizung, der gegen den des Erlebens abgesetzt wird, kreist die Kritik Nietzsches: »Die Sensibilität [ist] unsäglich reizbar […]. Er [der Mensch] reagiert nur noch auf Erregung von außen her.«25 In dieser Sprachform adaptiert Nietzsche einerseits die Sicht einer materialistischen Physiologie, andererseits klingt aber der Kanon der paranoischen Klage an: die Fremdbestimmung, die (sexuelle) Reizung, die Entleerung, die Schwächung des Willens. »Eine Art Anpassung an diese Überhäufung mit Eindrücken tritt ein: der Mensch verlernt zu agieren.«26 Nur wenige Jahre nach Nietzsches Diagnose, im Jahre 1895, nimmt Le Bon in Psychologie der Massen den Topos der Erregung und Willenlosigkeit auf. Bemerkenswert ist die Zeitgleichheit des Erscheinungsdatums und der Erfindung des Massenmediums Film. Wenn auch Le Bon auf diesen Beeinflussungsapparat noch nicht eingehen kann, stellt sich dennoch eine Relation her. Denn die Machtdimension des Bildes hat in seiner Theorie einen herausragenden Stellenwert. Mag seine Soziologie auch nicht als Medientheorie zu lesen sein – Le Bon ist an den inneren Funktionsmechanismen der Masse interessiert – so ist sie bedeutsam als Schnittstelle zwischen der alten Magnetismus-Episteme und kommenden mediensoziologischen Konzepten des 20. Jahrhunderts. Bereits in den ersten Sätzen seines Traktats formuliert Le Bon seine Grundannahme einer Opposition von Masse und Individuum, Unbewusstheit und Bewusstsein: Das Kennmerkmal der Epoche ist die Ersetzung der bewussten Aktivität des Einzelnen durch die unbewusste der 206
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Masse. Diese Unbewusstheit vergleicht Le Bon mit dem Zustand der Hypnose und der Suggestion, der ein Individuum unterliegen kann. In der Masse wirkt eine Art Feedback-Mechanismus, durch den die individuellen Partikel in eine Richtung dirigiert werden. Am Ende steht der Automatenmensch: Der Einzelne ist nicht mehr er selbst, er ist ein Automat geworden, dessen Betrieb sein Wille nicht mehr in der Gewalt hat.27 Le Bon integriert das Vokabular der Epoche in seinen Diskurs: Magnetismus, Hypnose, Suggestion, Maschine. Ähnlich wie Nietzsche, Krauß oder Wollny sieht er aus Menschen Maschinen werden, die untereinander nur noch per Reiz-Reaktionsmechanik funktionieren: »Die Masse ist der Spielball aller äußeren Reize, deren unaufhörlicher Wechsel sie widerspiegelt. Sie ist also die Sklavin der empfangenen Empfindungen.«28 Anders als seine Vorläufer erwähnt Le Bon nicht den Apparat/die Maschine als äußere mediale Verursachung, er nennt lediglich den Redner und das populäre Theater. Beide sind dafür verantwortlich, dass ein irrationales Imaginäres induziert wird: Sie [die Masse] denkt in Bildern, und das hervorgerufene Bild löst eine Folge anderer Bilder aus, ohne jeden logischen Zusammenhang mit dem ersten. […] Sie nimmt die Bilder, die ohne Bewusstsein auftauchen und sehr oft nur eine entfernte Ähnlichkeit mit der beobachteten Tatsache haben für Wirklichkeit.29
Bei Le Bon ist ebenfalls das aufklärerische Ideal die Basis der Konstruktion: Urteilskraft, Wahrheitsliebe, Realitätsbewusstsein werden durch die Bilderflut negiert. Was sich für Le Bon im Inneren der Psyche abspielt, gibt ziemlich genau wieder, was zeitgleich mit dem aufkommenden Kino, mit sich ausweitender Werbung und photographischer Bilderflut im Äußeren geschieht. In der Folge entsteht entsprechend am Beginn des 20. Jahrhunderts eine Kulturkritik des »Schundfilms«, die das Arsenal bekannter Klagen enthält. Thorsten Lorenz hat in einem Artikel die frühe Filmkritik von Seiten der Medizin, Psychiatrie und Kinoreformbewegung nachgezeichnet. Diese sieht in dem Medium die Ursache für Nerven- und Geistesstörung, Denkunterbrechung und sogar Mörderproduktion.30 Das projizierte Bild legt sich nicht nur auf die Leinwand, es dringt ins Innere der Seele und frisst sie auf. Auch Jacques Lacan hat in den 50er Jahren in seinem Seminar zur Psychose die Verbindung vom Film zum Wahn hergestellt: Dort vergleicht er die platonischen Verrücktheiten der mittelalterlichen Troubadoure, die das Bild (und eben nicht die fleischliche Realität) einer Dame besin207
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gen, mit dem Bild auf der Leinwand. Er spricht zusammenfassend von den »Verrücktheiten des reinen Trugbilds«.31 Ähnlich argumentiert die kulturkonservative Phototheoretikerin Erna Lendvai-Dircksens. In ihrem Artikel mit dem Titel »Zur Psychologie des Sehens« (1931) nimmt sie die Neue Sachlichkeit ins kritische Visier. Sie entdeckt unter anderem eine Einseitigkeit im Ausdruck, eine Vorliebe für das Gegenständliche in verzerrten Perspektiven, eine ornamentale Vordergründigkeit, wirklichkeitsabweichendes Schwarzweiß und maskenartige Porträts. Der Verlust der Tiefe im Ausdruck wird rezeptionstheoretisch rückgekoppelt an seelische Verwerfungen bei den Subjekten, die diesen Eindrücken ausgesetzt sind: Die Empfindungsseele stumpft ab, falsche Schlüsse werden merkfähig, Hypothesen werden Wahrheit. Ohne Gefühlstiefe sei der Mensch ratlos und preisgegeben.32 LendvaiDircksens meint, eine mediale Entfremdung entdecken zu können, die den Menschen aus seinem Eigentlichen reißt. Eine paranoische Klage? Diese punktuellen Medienkritiken geraten unter der Wucht und Unerbittlichkeit der Kritischen Theorie in den Sog des Generellen. Bereits in den 40er Jahren gehen Adornos gemeinsam mit Horkheimer gemachten Ausführungen zur Kulturindustrie von einem sich schließenden Kosmos aus, in dem der Mensch zum Konsumenten degradiert wird und einer industriell gelenkten Zurichtung unterliegt. In Adornos Einlassungen zum Fernsehen der 50er Jahre verschärft sich die Diagnose – die Medienwelt (Fernsehen, Radio, Film, illustrierte Zeitschriften, Comics, Reklame) umzingelt das Individuum und verstopft den Zugang zur Privatexistenz. Adorno sieht das »Ganze des Systems« am Werk. Bis in die individuelle Triebökonomie des Unbewussten reichen die Einflussnahmen. Die Institutionen der Kulturindustrie nehmen die Triebe in ihre Regie – »zum Vorteil der Institutionen und der mächtigen Interessen, die hinter ihnen stehen.«33 Adorno sieht das Individuum, das sich das Medium der Geistlosigkeit in die Wohnstube stellt, umfassend zerstört: Verlust der Sublimationsfähigkeit, Trug, Standardisierung, eine auf den Leib gerückte erkaltete Welt, Verlust der Grenze zwischen Realität und Gebilde, Regression, Stumpfsinnigkeit und Vernebelung realer Entfremdung, Süchtigkeit, Entwöhnung von Sprache, Konformismus, Erstarrung, in Betrieb gesetzte Reaktionsformen. Adornos furiose Aneinanderreihung von Verdikten kulminiert in einem Bild, das erschreckende Deckung mit den paranoiden Konstrukten aufweist:
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Entzauberter Zauber, übermitteln sie [die archaischen Bilder] kein Geheimnis, sondern sind Modell eines Verhaltens, das der Gravitation des Gesamtsystems ebenso wie dem Willen der Kontrolleure entspricht.34 Unermüdlich lassen sie [die Lenker] den Betrachtern mit einem Schlag offene und verborgene ›Botschaften‹, messages, zukommen. Vielleicht haben letztere, als die psychotechnisch wirksameren, im Planen den Vorrang.35
Wie ein Nachhall auf all die Texte der voraus gelaufenen Medienepoche klingt die Analyse Adornos: die Allgegenwart der Kontrolle durch Medien, das Herrschen der Mächtigen, die Auslöschung des Individuellen und des Geistes, die konformistische Vermassung. Adornos aufklärerischer Gestus setzt als Gegenmodelle die reflektierende Sprache und eine auf Distanzierung bedachte Kunst, die durch Protest gegen das »von der Zivilisation verschandelte Unbewusste« sich auszeichnet. Adorno scheut sich nicht, die neue Medienwirklichkeit mit den beiden totalitären Staaten zu vergleichen: Diktatorialer Wille herrscht, um alles zusammenzufügen, um Eigenheiten auszuradieren. Ähnlich totalitär wie Adorno entwirft Jean Baudrillard seine postmoderne Medienwelt unter dem Stichwort Hyperrealität. Die Theorie unterscheidet sich von der Adornoschen darin, dass sie Begriffe wie Ideologie oder politische/repressive Macht auslöscht, wodurch sie nicht in den Ruch des Paranoid-Verschwörerischen gerät. Doch durch diese Auslassung erscheint die Medienwelt nun wie von Aliens in die Welt gebracht, als Gegebenheit ohne Ursache. Die Beschreibung des Medialen bekommt einen sonderbaren Zug, der zum science-fictionhaften tendiert. Die Grundthese Baudrillards ist bekannt: Eine zweite simulative Wirklichkeit ist installiert worden, die als »Dispositive des Ambientes« auf die Vorstellungen, die Bedürfnisse, das Begehren und die Wahrnehmung einwirken. Es gibt kein Außerhalb mehr, wir alle stecken im Gefängnis der Simulation. Die Dimension der Betrachtung wird eingezogen, es gibt keinen Raum mehr zwischen den Bildern und dem Selbst, der eine distanzierende Reflexion ermöglichen würde. »Es gibt nur noch das totale, fusionierende, taktile, ästhesische (und nicht mehr ästhetische) Environment.«36 Damit wird der Realität der Garaus gemacht. Baudrillard scheut sich nicht zu behaupten, dass wir in einer »Halluzination der Realität« leben würden.37 Anders als in der Kritischen Theorie geht es nicht mehr darum, eine falsche Wirklichkeit zu erkennen, die dem Bewusstsein oktroyiert wird, die Wirklichkeit ist tot: 209
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[V]on Medium zu Medium verflüchtigt sich das Reale, es wird zur Allegorie des Todes, aber noch in seiner Zerstörung bestätigt und überhöht es sich: es wird zum Realen schlechthin, Fetischismus des verlorenen Objekts – nicht mehr Objekt der Repräsentation, sondern ekstatische Verleugnung und rituelle Austreibung seiner selbst: hyperreal.38
Die Konstruktion ist logisch inkonsistent, erweist sich darin aber als strukturähnlich mit jener der Paranoia: Baudrillard inszeniert sich als Außenbetrachter, der, folgt man der Theorie, längst ausgelöscht ist. Im paranoischen Diskurs wird ja auf ähnliche Weise eine ausweglose Medienumzingelung angenommen. Und auch der Wahnkranke durchschaut den Verblendungszusammenhang, um die Sehnsucht nach dem Wahren wach zu halten. Baudrillard nimmt eine Art Gottposition ein, von der aus er erkennt, wie die Menschwesen einer unfühlbaren »Ausdrucksteuerung«, einer »Steuerung durch Information« unterliegen und zu einer Anpassung genötigt werden, die der des »animalischen Mimetismus« gleicht.39 Diese Medienlandschaft ohne Ausgänge kann als theoretischer Schlusspunkt verstanden werden: Subjekt und Umwelt sind total verkünstlicht, ein interesseloser Mechanismus ohne Beweger hält das Ganze in Bewegung. Der kritische Ton aller Theorien klingt laut. Diese Tonlage wird in der Literatur durch eine Mehrstimmigkeit angereichert: Neben der Kulturkritik hat auch das Faszinosum für Beeinflussungsapparate Platz. Aber gerade diese Heroisierung scheint zu belegen: Es gibt ein machtvolles Wirkfeld, das die Wirklichkeit in Gefahr bringt.
Beeinflussungsapparate in der Fiktion Die Faszination für Beeinflussungsphänomene und -apparate hat in der Literatur vor allem die Science-Fiction und Ufologie zu Geschichten motiviert.40 Mag auch die Trivialliteratur diese Thematik äußerst fruchtbar bearbeiten, so hat auch die so genannte Hochliteratur ihre Fantasien über die Manipulation mit Medienmaschinen entwickelt. Dieser Paralleldiskurs zur Medienkritik kann hier nur punktuell am Beispiel einiger bekannter Texte angespielt werden.
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Lange vor der Erfindung von Film und Fernsehen treten Strahlen und elektrische Ströme in einem literarischen Text auf, ganz von finsteren Mächten darauf abgestellt, Menschen etwas vorzumachen. In Friedrich Schillers Der Geisterseher (1787-88) versucht ein Vertreter der Gegenaufklärung (zunächst) sehr erfolgreich mit Laterna Magica, Elektrisiermaschine und viel Nebel eine Gesellschaft zum Gespensterglauben zu bewegen. In einer pseudo-religiösen Inszenierung mit Symbolen und Beschwörungen lässt der Magier, wie er genannt wird, das Bild eines Toten entstehen. In eben diesem Moment werden die Beteiligten, die einander an den Händen fassen, von einem elektrischen Schlag gerührt, Donner erschallt. Der Magier beginnt seinen Dialog mit dem Toten. Die Wirklichkeit bricht in dieses synästhetische Theater ein in Gestalt eines Gerichtsdieners mit Wache; der Magier wird im Namen der Regierung verhaftet. Alles erweist sich als Betrug. Die Erzählung benötigt im Anschluss mehrere Seiten, um alle Phänomene als Effekte einer unsichtbaren Maschinerie zu erklären. Das Außerordentliche, das Wunderbare, die Verwirrung der Einbildungskraft müssen einerseits als geheimnislose Banalität entlarvt werden. Andererseits ist das evozierte Gespenst mehr als ein Symbol der Anti-Aufklärung, hinter ihm steckt das Schreckgespenst des Medialen selbst. Es vermag seine Wirkungen zu haben, wenn es ihm gelingt, seine Mechanismen zu verbergen. In diesem Sinne resümiert der Prinz, der das Opfer der »Seltsamkeit der Mittel« geworden war: »Ich leugne nicht, dass ich mich einen Augenblick habe hinreißen lassen, dieses Blendwerk für etwas mehr zu halten.«41 Die platonische Bildkritik hallt hier nach, die später im Text noch einmal aufgenommen wird, als der schwärmerische Prinz ein Madonnenstück betrachtet: »[…] bei diesem vergaß er den Künstler und seine Kunst, um ganz im Anschauen seines Werks zu leben.«42 Es wiederholt sich die Gespenstererscheinung; der Rezipient ist im Modus der Distanzlosigkeit dem Bild gegenüber. Er besetzt die Kunsterscheinung fetischistisch, die, folgte man Adorno, darin in ihrer Eigentlichkeit verfehlt wird. Das Medium hängt wie ein Vampir am Körper; eine erotische Verbindung, die letztlich den Bildverehrer ins Verderben führt. Schiller schreibt seinen Roman mit dem Ziel, »alle Wahnbegriffe aus dem Gedächtnis herauszureißen«.43 Der Intellektuelle als Medienmahner. Ganz anders agiert der Intellektuelle in Strindbergs Erzählung Tschandala (1889), wo er als grausamer Medienmacher auftritt. Auch hier spielt die Laterna Magica die Rolle der mächtigen Bildmaschine zur 211
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Erzeugung entmenschlichter Affekte und Gesten. Das Opfer entspricht dem Typus des ungebildeten, regressiven Menschen, der mit Bildern gelenkt und in eine zweite Wirklichkeit entführt werden kann. Dieser Tattare wird als verschlagener Mensch geschildert, der den Magister hintergeht und grausame Spielchen mit diesem treibt. Am Ende der Erzählung holt der Magister zum Gegenschlag aus: Er bereitet seinen Opponenten vor, indem er ihm Alkohol gibt und unheimliche Geschichten erzählt. Dann lockt er ihn in die Nacht. Dort projiziert der Magister mit der Laterna auf eine Wand aus Nebel und Rauch zunächst eine schwarz gekleidete Frauengestalt, dann (wie der Schillersche Magier) das Riesenbild eines Toten. Durch die unwillkürlichen Bewegungen der Nebelwand und aufgrund der Manipulationen an der Linse scheinen die Gestalten zu leben. Der Tattare erschreckt, beginnt zu jaulen wie ein Wahnsinniger. Der Magister hält sein Opfer wie an einer Schnur: Schiebt er das Glas in der Laterne hin und her, setzt sich auch der Tattare in Bewegung. Er lässt das Bild einer Natter entstehen, danach das einer Maus. Der Betrachter wird in eine Mimesis ans Erblickte gezogen, er geht in die Knie, stößt Quieklaute aus und möchte sich in einem Maulwurfsloch verkriechen. Diesen Augenblick des Ichverlusts nutzt der Medienmagier und projiziert das Bild eines Hundes, zunächst auf die Nebelwand, dann auf die weiße Decke, in die der Tattare sich eingehüllt hat. (Ich erinnere daran: In Beers Bericht wurde ebenfalls eine Laterna auf die Bettdecke gerichtet). Der Hund gewordene Mensch beginnt zu bellen. Der Moment der Apotheose ist gekommen: Acht ausgehungerte Haushunde stürzen heran, direkt auf das Bild auf der weißen Decke und zerfleischen ihren Herren, den sie als lästigen fremden Artgenossen verkennen. Strindberg lässt es an Deutlichkeit nicht missen: Sogar die niedere Kreatur ist dem Bild verfallen, wie der durchs Bild zur Kreatur erniedrigte Mensch: »Paria war tot, Aria hatte gesiegt; gesiegt mit Hilfe seines Wissens und seiner geistigen Überlegenheit über die niedere Rasse.«44 Strindberg zeigt – in moderner Terminologie gesprochen – wie die Immersivität, das Eintauchen in eine medial generierte Bildwelt, einen Prozess der Regression in Gang setzt. Die Kopplung von Medium und Machtwissen kulminiert zum Inbild finaler Grausamkeit. Man könnte sagen, dass die Strindbergsche Fiktion die paranoide Wahrnehmung mit Hilfe von Medien- und Psychotechnik realisiert: Findet sich der Paranoiker in der Rolle des Opfers, wird in der Erzählung das Gleiche aus Sicht des Siegers mitgeteilt. Das Bildmedium fungiert bei Schiller wie 212
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auch bei Strindberg weder als spielerischer Zeitvertreib noch als Erkenntnisinstrument.45 Indem sie es als Beeinflussungsapparat ausweisen, nehmen sie eine Tendenz vorweg, die im 20. Jahrhundert dominant werden wird.
Panoramatische Projektion: Albert A. Hopkins, Magic: Stage Illusions, Special
Effects and Trick Photography, 1898
Bekanntlich hat George Orwell in 1984 (1949) die mediale Immersivität als totalitäres Horrorszenario beschrieben, das sich aus der Erfahrung sowjetischer Aktualerfahrung und dystopischer Zukunftsangst zusammensetzt. Bemerkenswert ist die technische Fantasie Orwells, die bis heute immer dann aufgerufen wird, wenn die Medien in Verdacht geraten. Im ersten Kapitel des Romans wird die Funktionsweise des Telescreens beschrieben, über den Big Brother nicht nur seine Botschaften verbreitet, sondern der darüber hinaus in seiner Struktur darauf gerichtet ist, ein Jenseits des Medialen nicht zuzulassen. Senden und Empfangen erscheinen als technische Einheit, die kaum etwas anders als Paranoia realisiert. The telescreen received and transmitted simultaneously. Any sound that Winston made, above the level of a very low whisper, would be picked up by it, moreover, so long
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as he remained within the field of vision which the metal plaque commanded, he could be seen as well as heard. There was of course no way of knowing whether you were being watched at any given moment. How often, or on what system, the Thought Police plugged in on any individual wire was guesswork. It was even conceivable that they watched everybody all the time. But at any rate they could plug in your wire whenever they wanted to. You had to live – did live, from habit that became instinct – in the assumption that every sound you made was overheard, and, except in darkness, every movement scrutinized.46
Dagegen nimmt sich die Negativutopie Huxleys in Brave New World (1932) noch vergleichsweise harmlos aus, sie scheint eher dem 19. als dem 20. Jahrhundert verhaftet zu sein. Huxley greift nämlich das Motiv der Hypnose auf und wertet sie zu einer Psychotechnik via RadioÜbertragung auf: Schlafenden werden Messages eingetrichtert, die auf eine Inskription von Reflexen hinauslaufen. Hypnopaedia oder moral education, wie der offizielle Euphemismus im Text diese Form der Unterwerfung bezeichnet, zielt auf eine fugenlose Anpassung ans Bestehende. Was bei Adorno der objektive Geist der Industrie ist, dass nennt die literarische Figur des Direktors des Central London Hatchery and Conditioning Centres ohne Umschweife: »Suggestions from the State.«47 Anders als die früheren Texte von Schiller und Strindberg sind die beiden Texte des 20. Jahrhunderts darin identisch, dass sie von einer Systematizität der Beeinflussungstechniken ausgehen. Die finsteren Machenschaften Einzelner oder Gruppen ist gewichen zugunsten einer totalen Unterwerfung. Flucht, die Schiller noch in den Blick nehmen konnte, erscheint seit Strindberg nicht mehr möglich. Der Medienpessimismus erstarkt mit der Ausweitung der Technologien und Machtkonzentration. Dass das Thema der Medien auch in der literarischen Avantgarde Spuren hinterlassen hat, soll an zwei konträren Beispielen angedeutet werden. Ein Entrealisierungsschub geht von dieser Literatur aus, der die Frage aufkommen lässt, ob sie als Bestandteil des paradiskursiven Kosmos’ über Beeinflussungsapparate gelten können. Die Literatur Raymond Roussels, dessen Texte nach eigenem Bekunden der Imagination alles und der Wirklichkeit fast nichts verdanken, kann als Testterrain angesehen werden. Im vierten Kapitel von Locus Solus (1914) stößt der Autor zum Thema vor: Ein bizarres Experiment wird an einem Geisteskranken durchgeführt. Roussel entwirft ein surrealistisches 214
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Wissenschaftssetting, das von seinem zwanghaft-minutiösen Beschreibungsstil formal flankiert wird. Der Kranke, dessen Kopf ein sonderbarer Helm bedeckt, in dem eine Nadel mit mächtiger magnetischer Kraft eingelassen ist, wird in einen Käfig geleitet. Der mediale Kerker enthält eine Linse (1) mit daraus entströmendem blauen Licht (2), das der Doktor in seiner Intensität an Knöpfen reguliert (3), sowie zwei Bilder (4), auf die der Mann mit seinem Magneten (5) die Nadel (6) im Helm des Gefangenen ausrichtet. Der Doktor führt seine Lichtmanöver aus, die Bilder verblassen unter dem Einfluss der Einstrahlung und der Kranke steigert sich mehr und mehr in eine Erregung und gerät vor Angst schließlich außer Rand und Band. Er reißt an den Gittern, eine Befreiung gibt es nicht.48 Diese traumartige Sequenz in einen linearen Sinn zu zwingen, in dem jedes Element seinen symbolischen Wert bekommt, würde wohl den Gehalt des Textes verfehlen. Aber ist nicht dieser Albtraum vergleichbar mit der Strindbergschen Erfindung? Vorgeführt wird ein kalkulierter Eingriff mit Wellen und Licht, der dem Opfer die letzten Verstandeskräfte zu rauben scheint. Roussel montiert eine pseudowissenschaftliche Anordnung, in der all die Aspekte von Wichtigkeit sind, die aus dem Reservoir der Medienangst gespeist sind: der mächtige Lenker, das Eingeschlossensein, der Beeinflussungsapparat, die Kräfte, die Bilder, der Verlust von Vernunft und Selbstbestimmung. Was Roussel aus der Außenposition zum Opfer in unterkühltem, fantastischem Ästhetizismus vorführt, das wiederholt vierzig Jahre später William Burroughs aus der Innenperspektive, heiß und psychedelisch. In The Ticket That Exploded, einem wirren Cut-up-Text, sind Tonbandmaschinen, Kameragewehr, Radio, Klang-Bild-Bäder, Photographien, die im Orgonakkulmulator verschweißt werden, Soundtracks und Film allesamt Mittel zur Erzeugung von sexuellen Halluzinationen, zur Kriegsführung, telepathischen Kommunikation, Manipulation und Herrschaftsgewinnung. Diese fiktive paranoische Welt hat Burroughs in seiner Abhandlung Electronic Revolution ›theoretisch‹ gegründet.49 In einer Mischung aus Poetologie zur Cut-up-Technik, Medientheorien und Wahnsinn wird einerseits eine subversive symbolische Praxis entwickelt, die gegen die Kontrolle der Massenmedien gerichtet ist, und stellt andererseits das Phantasma einer unbeschränkten Manipulationsmacht aus. Burroughs beschreibt eine Reihe von einfachen Tonbandexperimenten, die auf einem angenommen Feedbacksystem basieren: Man nehme einen Verkehrsunfall auf, spiele das Ganze in die Straße hinein. Der Effekt: 215
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ein neuer Unfall. Oder man nimmt Stimmen von Freunden oder Feinden auf, zerhacke das Ganze, setze die Teile neu zusammen, mische Sexsounds hinein. Das äußere Klanggewirrwarr streut symbolische Viren aus, die subliminal empfangen werden und sogar als innere Stimmen wahrgenommen werden können: »the human nervous system unscrambles a scrambled message this will seem to the subject like his very own ideas which just occured to him.«50 Burroughs nimmt die SchizoGottposition ein, der alles lenken kann, um im nächsten Moment den Paranoiker zu geben, der erkannt hat, dass CIA und andere Dienste längst von dieser Technik Gebrauch machen. Sex, Gewalt, Krankheit, Wahnsinn werden mit der Scramble-Technik viral verbreitet. Burroughs visioniert zum gleichen historischen Zeitpunkt, als Baudrillard die Abschaffung der Wirklichkeit behauptet, die Entdifferenzierung von Bild und Leben: »there is no way to distinguish film from flesh«51 heißt es im Roman. Im Essay phantasiert er ein gigantisches Festival mit 100.000 Menschen, von denen jeder zerhackte, rauschende Sexvideos mitbringt, die miteinander gemischt werden. Dann beginnt die Show: Projected on vast screens, muttering out over the crowd, sometimes it slows down, so that you see a few seconds, than scrambled again, then slow down, scramble. Soon it will scramble them all naked. The cops and the National Guard are stripping down. [...] Now a thing like that could be messy, but those who survive it recover from the madness.52
Massenekstase, Hysterie, »war game«53. Was bei Roussel als pittoreske Skurrilität erscheint, reflektiert sich bei Burroughs in Gestalt einer endzeitlichen Massenbeeinflussung, in der Unterhaltung und Machtpolitik ununterscheidbar werden. Am Ende des 20. Jahrhunderts wird diese Sicht in einer (vorerst) letzten Drehung der Schraube radikalisiert: Als apokalyptische Kulmination kann die Filmerzählung The Matrix (1999) von Larry und Andy Wachowski betrachtet werden. Einer zur bloßen Biomasse reduzierten Menschheit, die schlafend in einer Nährlösung lebt, um den Aliens als rohstoffliche Lebensgrundlage zu dienen, wird eine perfekte Welt ins Gehirn simuliert. Als hätten die postmodernen Simulationstheoreme bei der Abfassung des Skripts Pate gestanden, wird am Ende des 20. Jahrhunderts die Utopie einer Künstlichkeit evoziert, die den Menschen nicht mit dem Inkommensurablen konfrontiert, sondern die ihn vollständig einpuppt und die Frage nach Realität und Irrealität nicht mehr auf216
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kommen lässt. The Matrix kann als ultimative Metapher einer Medienkonzeption gelesen werden, die eine mehr als zweihundertjährige Geschichte hat: Hinter dem Glanz der Medieneffekte wird den Menschen das Leben ausgesaugt. In diesem Bild verdichtet sich auf krasse Weise, was alle Verdachtsdiskurse zu sagen nicht müde wurden: Anthropos wird zum Kampfplatz der Medien, die auf nichts anderes hinaus wollen, als ihn zu schwächen.
Finale Folgte man den vorgestellten Dokumenten, so wäre mit dem Erscheinen der Medienmaschinen der Mensch der Aufklärung verschwunden. Anstatt mündiges Wesen zu sein, wird er als Funktion gesehen: Der Mensch wird zum Teil einer Maschine, die ihn programmiert; er soll wünschen, was die Maschine wünscht. Die Rede über die Medien, die als überaus mächtig entlarvt werden, entwickelt implizit eine pessimistische Anthropologie: Darin wird der Mensch als offen für seine Pervertierung beschrieben. Degradiert zum Automaten, zur Puppe, zum Tier, zum vegetable. Die vorausgesetzte Beeindruckbarkeit und Formbarkeit des Menschen ist die Basis für die Ausarbeitung totalitärer Phantasien, die mit der Fortentwicklung und Allgegenwart der Medien zunehmen. Fiktion, Theorie und Wahn erweisen sich in ihren Blicken auf den Sachverhalt zwar nicht als gleich – stilistisch, begrifflich und erzählerisch sind Differenzen nicht zu übersehen –, aber thematische Angleichungen treten deutlich hervor; die Texte sind paradiskursiv aufeinander beziehbar. Ob Anleihen, Übernahmen oder kontingente Gleichzeitigkeiten vorliegen, das muss nicht entschieden werden. Die Kultur ist von einem Phantasma durchwirkt, das sich als Wissen darstellt. Aber gerade diese Häufung des Ähnlichen über Diskursgrenzen hinaus, von dem hier nur ein Bruchteil vorgestellt werden konnte, erzeugt keine Gewissheit. Es sind die Similaritäten zwischen Dichtung, Wahn und theoretischer Konstruktion, die die Frage nach dem Status des Wissens provozieren und Skepsis hervorrufen: Die Grenzlinie zwischen Einsicht und Imagination erscheint verwischt. Muss man also zu einer epistemologischen Offensive gegen diese Unklarheit aufrufen? Vielleicht wäre eine Fantasie zu malen, die ausführte, wie es wäre, ohne Satelliten, Übermittler, elektrische Engel und Stimmen, Projektionen, Drähte und Speicher zu leben.
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Novak, Leo (art)/Siegel, Jerry (script): »Hypnosis by Radio« in: Superman Action Comics, no. 38 (July 1941). Vgl. McLuhen, Marshall: Die magischen Kanäle [1964], Dresden/Basel 1995, S.61. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt/M. 1986, S.262. Die m.E. riskante Entdifferenzierung von Wahn und Wissenschaft scheinen Hahn, Person, Pethes für das 19. Jahrhundert zu betreiben, wenn sie gegen die Pathologisierung die »wissenschaftliche Dimension der ›Wahnsinnsautobiographien‹« ins Licht rücken möchten und eine »Archäologie dieses vergessenen Wissens« anstreben. Ganz ohne Anführungszeichen sprechen die Herausgeber von »Theorien«, die »als das Unbewußte der Wissenschaft betrachtet werden". Der Wahn als Psychoanalyse der Wissenschaft? (Vgl. das Vorwort in Hahn, Torsten/Person, Jutta/Pethes, Nicolas [Hg.]: Grenzgänge zwischen Wahn und Wissen. Zur Koevolution von Experiment und Paranoia 1850-1910, Frankfurt/New York 2002.) Schneider, Manfred: »Kommunikationsideale und ihr Recycling«, in: Weigel, S. (Hg.), Flaschenpost und Postkarte, Köln/Weimar/Wien 1995, S.195-221. Tausk, Victor: »Über die Entstehung des ›Beeinflussungsapparates‹ in der Schizophrenie«, in: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, Nr. 5 (1919), S.1-33. Haslam, John: Illustrations of Madness [1810], edited by Roy Porter, London/New York 1988. Die einzige in Deutschland zugängliche Originalausgabe des Werks von Krauß in der Universitätsbibliothek Tübingen konnte von mir für diesen Aufsatz nicht eingesehen werden. Ich beziehe mich auf die Quellenauszüge in Hahn/Person/Pethes (a.a.O.) und die von Ahlenstil und Meyer herausgegebene Auswahl. Krauß, Friedrich: Nothschrei eines Magnetisch=Vergifteten [1852], ausgewählt und kommentiert von H. Ahlenstil und J.E. Meyer, Göttingen 1967, S.56. Krauß, Friedrich: »Nothschrei eines Magnetisch=Vergifteten« [1852], in: Hahn/Person/Pethes (Hg.), Grenzgänge zwischen Wahn und Wissen, a.a.O., S.43. Marx, Karl/Engels, Friedrich: Werke, Bd. 23, Berlin (DDR) 1962, S.445. Diesen Gedanken zur Technik als Medium übernehme ich von Gramm, Gerhard: »Zirkular der modernen Gesellschaft. Abkehr von der klassischen Handlungstheorie«, in: Frankfurter Rundschau vom 7.10.2003, S.19. Wollny, Franz: In Sachen der Hypnose und Suggestion. Ein Vademecum für Herrn Prof. Wundt, Leipzig 1893, S.11. Ebd., S.14. Wollny, Franz: »Hypnose und Suggestion, in neuem Licht betrachtet«, in: ders., Vermischte Abhandlungen und Aufsätze, Leipzig 1892, S.114-115. Wollny, Franz: Historisch-psychologischer Traktat, Leipzig 1892, S.26. Wollny, Franz: In Sachen der Hypnose, a.a.O., S.18. Ebd., S.21f., S.24. Beers, Clifford: »A Mind That Found Itself [1908], in: Peterson, Dale (ed.), A Mad People’s History of Madness, Pittsburgh 1982, S.167. Ein Knotenpunkt ist http://mindcontrolforums.com. Krauß, Wollny und heutzutage Mike Coyle (»The Influencing Machine« [1996], in: www.pd.org/totpos/perforations/perf5/inlfu.html vom 1.3.2004) beziehen sich auf den Fall von James Tilley Matthews denn auch als Beleg für die Existenz von Beeinflussungsapparaten und nicht als Krankengeschichte. Kasten, Kathy: »Timothy McVeigh Was Telling The Truth – It’s Not Your Father’s Mind Control Technology« [2000], in: http://www.rense.com/general2/truth.htm vom 2.3.2004. Kilde, Rauni Leean: »Microwave Mind Control: Modern Torture and Control Mechanisms Eliminating Human Rights and Privacy« [1999], in: http://mindcontrolforums. com/microwave-mindcontrol.htm. Einen geradezu naturwissenschaftlichen Furor zeigt Dorothy Burdick in ihrem Buch Such Thing are Known (New York 1982), das stakkatohaft technologische Fakten an Fakten reiht, um die »tools of mind attack« zu erfassen.
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Nietzsche, Friedrich: »Also sprach Zarathustra«, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. von G. Colli und M. Montinari, Bd. 4, Berlin 1967, S.436. Nietzsche, Friedrich: Umwertung aller Werte, hg. von F. Würzbach, Bd. 2, München 1969, S.480. Ebd. Le Bon, Gustave: Psychologie der Massen [1895], Stuttgart 1951, S.19. Ebd., S.22. Ebd., S.26. Vgl. Lorenz, Thorsten: »Wenn das Kino töten könnte. Medien-Mörder: Über den Ursprung eines pädagogischen Wahns«, in: Frankfurter Rundschau vom 2.11.2002, S.19. Lacan, Jacques: Die Psychosen. Seminar III, hg. von N. Haas, Weinheim/Berlin 1997, S.301. Lendvai-Dircksens, Erna: »Zur Psychologie des Sehens« [1931], in: Kemp, Wolfgang, Theorie der Fotografie II: 1912-1945, München 1999, S.158-162. Adorno, Theodor W.: »Prolog zum Fernsehen« [1953], in: ders., Eingriffe, Frankfurt/M. 1963, S.69. Ebd., S.77. Adorno, Theodor W.: »Fernsehen als Ideologie« [1953], in: ders., Eingriffe, a.a.O., S.83f. Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod, München 1982, S.113. Hier ist anzumerken, dass der Signifikant total in Baudrillards Schriften eine erhebliche Rolle spielt. Ebd., S.116. Ebd., S.113-114. Ebd., S.113. Hierzu liegt von Martin Kottmeyer eine kommentierte Bibliografie vor: »Alienating Fancies: The influencing machine fantasy in ufology and the extraterrestial mythos«, in: www.magonia.demon.co.uk/arc/90/mkinf1.htm vom 24.7.2004. Schiller, Friedrich: Der Geisterseher [1887-88], Stuttgart 1996, S.7, S.68. Ebd., S.124. Ebd., S.162. Strindberg, August: Tschandala [1889], Frankfurt/M. 2001, S.162. Dass Medien sowohl als Erkenntnis- als auch als Illusionierungstechnologien wahrgenommen wurden, zeige ich exemplarisch in: »The Peculiar Effect. Nathaniel Hawthornes Medien- und Modernitätskritik«, in: Stadler, U./Haupt, S. (Hg.), Das Unsichtbare sehen. Bildzauber, optische Medien und Literatur (erscheint 2004 in der Edition Voldemeer). Orwell, George: 1984 [1949], in: http://www.online-literature.com/orwell/1984/1/ vom 16.3.2004. Die totale Überwachung hat Mynona (ein Pseudonym Salomo Friedländers) in seinem Roman Graue Magie bereits 1922 als Möglichkeit des Films beschrieben. Dort bedient sich der Filmgigant Morvitius »der neuesten elektronischen Erfindungen. Seine Kurbler hantieren überall, an jeder Straßenecke, in den Lüften, im Inneren der Häuser. Ja, er stellt Kurbel-Automaten auf, welche die Vorgänge ohne persönliche Bedienung festhalten.« (Mynona: Graue Magie. Ein Berliner Nachschlüsselroman, Berlin 1998, S.114.) Huxley, Aldous: Brave New World [1932], New York 1989, S.28. Roussel, Raymond: Locus Solus [1914], Frankfurt/M. 1977, S.134-138. Ich unterlasse die Diskussion, ob Electronic Revolution als Wissenschaftsparodie oder als authentischer Essay einzustufen ist. Vgl. Burroughs, William S.: Die elektronischen Revolution [1970-76], Bonn 2001. Ebd., S.24. Burroughs, William S.: The Ticket That Exploded [1968], New York 1987, S.69. Burroughs, William: Die elektronischen Revolution, a.a.O., S.36. Ebd., S.58.
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Ich denke, also bin ich. René Descartes Naja, du weißt wer du bist. Und du weißt alles Mögliche über dich selbst. Aber was den alltäglichen Kleinkram betrifft, sind Notizen wirklich sinnvoll. Leonard Shelby Es folgt ein Experiment, von dem ich, als ich es begann, nicht ganz überzeugt war. Ich zweifelte, ob es gelingen würde, ob es überhaupt zumutbar wäre. Jetzt, nachdem ich es vollzogen habe und hier nun nachträglich durch dieses Vorwort vor seiner Dokumentation die letzten Zeilen zur Absicherung seines methodischen Settings niederschreibe, tendiere ich in Richtung Gewissheit. Es ist wahrscheinlich, dass es funktioniert. Sicher bleibt der1 Leser ein Unsicherheitsfaktor. Er wird möglicherweise das WorldWideWeb gelesen (fragmentarisch selbstverständlich) oder die letzte Documenta besucht (ebenso fragmentarisch, es geht nicht anders) oder Christopher Nolans Film »Memento« gesehen (auch dies ist nur, aber anders, fragmentarisch möglich) oder sich irgendwie anders, aber in vergleichbarer Weise zu verirren gelernt haben müssen. Wenn hier etwas Vorerfahrung besteht, dann ist es wahrschein-
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Es sind – wie auch folgend – alle Geschlechter gemeint. Ich wähle hier aus (noch zu reflektierender) Gewohnheit eine zentralperspektivische Darstellungsweise.
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lich, dass mein Wähnen im Folgenden eine symbolische Ordnung gefunden haben wird, die als Wissen kommuniziert werden kann. Innen. Schreibtisch. Tag. [italic sequence] Vielleicht ist das wahnhaft. Wenn ich um mich blicke, jetzt, im Augenblick, in dem ich zu schreiben beginne, dann sehe ich nur Chaos. Dutzende, vielleicht Hunderte von Zetteln liegen über den Schreibtisch verstreut, einige wenigstens zusammengeheftet, andere gerade noch als ehemalige Stapel erahnbar. Dazwischen Bücher, wenige aufeinander gestapelt, die meisten aufgeschlagen, irgendwo, manchmal auf einer mit irgendeiner Form von Lesezeichen besonders hervorgehobenen Seite, manchmal auch einfach da aufgeschlagen, wo ich das Lesen aus ganz verschiedenen Gründen abgebrochen habe. Schlimmer noch sieht es auf dem Bildschirm aus, den mir mein Arbeitsgerät als weiteren Schreibtisch vorgaukelt: Tausende (Millionen, Milliarden um genau zu sein, aber welchen Unterschied macht das?) – wie man zu sagen pflegt: virtuelle – Zettel liegen da herum. Auch diese teils in irgendeiner Form gebündelt, geheftet, gestapelt, teils lose verstreut, irgendwo … – alle irgendwo, ja tatsächlich irgendwo »aufgeschlagen« von der Suchmaschine, die ich zum Hervorkramen der Zettel nutze. Vor mir, direkt vor der Tastatur, ein aus sechs oder sieben Zetteln bestehender tatsächlicher Stapel. Er ist chronologisch sortiert. Der unterste Zettel ist beschrieben, bezeichnet, bekritzelt mit Worten, Notizen, Verweisungspfeilen, Einkreisungen, Unterstreichungen, Hervorhebungen, die ich gestern und vorgestern Abend produziert habe. Der oberste Zettel des Stapels vor der Tastatur stammt von heute. Er bezieht sich auf die darunter liegenden. Er zeigt die eben noch, kurz bevor ich zu schreiben begann, als vorläufig endgültig gedachte Struktur dessen, was ich jetzt zu schreiben begonnen habe. Außen. Global village, Marktplatz. Tag. Noch einmal: Wenn Wahn das Nicht-Objektive oder Nicht-Objektivierbare bezeichnet, das nicht von allen allgemein Geteilte oder Teilbare, das, was nicht nach allgemein gültigen oder verständlichen Kriterien geordnet ist, nicht einem kleinsten gemeinsamen Nenner genügt, dann haben wir mit der Globalisierung ein echtes Problem. Auf dem Marktplatz unseres global village dürfte das meiste nicht (laut) gesagt werden – jedenfalls nicht, wenn dabei der Verdacht von Wahn vermieden werden
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soll. Auf dem Marktplatz des global village dürften die Komplexität und die Komplikationen des Weltweit-Werdens gerade nicht vorstellbar gemacht werden (im Gegensatz zur Kasseler Binding-Brauerei). Laut gesagt werden dürfte nur das über die Besonderheiten Erhabene. Jegliche z.B. kulturspezifischen Besonderheiten müssten vermieden werden. Der Diskurs auf dem Marktplatz des global village wäre der des kleinsten gemeinsamen Nenners. Und das ist auch eine Art Wahn. Das Besondere, Individuelle, Singuläre, im Sinn des nicht zum objektiven Wissen gehörige Wahnhafte bleibt – wie man im Englischen zu sagen pflegt – off the record. Es gehört nicht ins Archiv. Es wird nicht mitgeschrieben und nicht mitgedacht. Das ist – wie erwähnt – eine Folge der nach dem Paradigma des zentralperspektivischen Blicks organisierten, universalen, ihrer selbst gewissen Ratio. – Und ihres durch das inhärente Abbildungsprinzip notwendiger Weise eingeschränkten Horizonts. Der globale Blick ist der einer extremen Zentralperspektive, der »geflügelte Blick«34 gewissermaßen. Der Beobachterstandpunkt ist extrem weit entfernt vom zu Beobachtenden. Die Erde als Globus sieht man nur aus dem Weltraum. (Ansonsten, mit irdischem Maßstab, sieht sie, geben wir es zu, eher aus wie eine Scheibe.) Diese Perspektive ist jedoch nur wenigen vorbehal- Zentralperspektivische ten. Bei einigen, die diese Perspektive einge- Globalisierung der Welt. nommen haben, hat sie einen tiefen Eindruck hinterlassen. Ulrich Walther etwa berichtet von einem »Weltraumgefühl«, das ihn im All überkommen habe: »Dort oben ist ein tiefes Schwarz auf der einen Seite und ein helles Blau zur Erde hin. Sie sind also zwischen den Dingen. […] Sie sind in einer Zwischensituation, haben eine Distanz zu allem gewonnen. Und das ist eben ein ganz anderes Gefühl. Das ist das Weltraumgefühl.«35 Diese besondere Perspektive des Überblicks scheint zu einer Gewissheit zu führen, die einige Zeit verloren schien. So antwortete der NasaAstronaut Jerry Linenger auf die Frage, ob die Weltraum-Erfahrung seine religiöse Einstellung verändert habe, konkret, ob er an Gott glaube:
34 35
Schmeiser, Leonhard: Die Erfindung der Zentralperspektive, a.a.O., S.79ff. Litz, Christian: »Ein Gefühl, das du auf der Erde nie haben wirst. Warum der Astronaut Ulrich Walter jedem empfehlen würde, einen Kurztrip ins All zu buchen«, in: http://www.brandeins.de/magazin/archiv/1999/ausgabe_02/leitbilder/artikel1.html vom 8.9.2002.
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»Ja, diese Erfahrungen haben mich in meinem Glauben bestärkt. Als ich so auf die Erde hinunterschaute, wusste ich, dass es einen Schöpfer geben muss.«36 Das Phänomen ist relativ leicht erklärlich über die sozialpsychologischen Mechanismen der Symbolischen Form perspektivischer Abbildung. Die perspektivische Abbildung zwingt – wie das Experiment Brunelleschis zeigte – qua Konstruktion den Rezpienten zum Einnehmen der Perspektive des Produzenten. Dadurch, dass der Rezipient nun sagen kann, »ja, das ist mein Blick. So sehe ich das auch«, wird ein soziales Band zwischen Rezipient und Produzent (bzw. anderen Rezipienten), jene schon erwähnte Gemeinschaftsgewissheit, gespannt: »Das ist unser Blick«. Implizit ist dabei die notwendige Annahme, dass es einen Produzenten geben muss. Andererseits: Gott ist tot. Das sollten wir auch nicht vergessen. Er wurde funktional säkularisiert (oder im engeren Wortsinn weg|ratio|nalisiert). Das gehört auch mit zur Aufklärung*, zum Enlightment. Und zum rationalen Durchblick. Und darum haben wir es nun mit dem Archiv als Database zu tun. Innen. Schreibtisch. Tag. [italic sequence] Ich gebe es auf. Es geht nicht. Es will sich nicht ordnen. Jedenfalls nicht so, dass ich es gewissermaßen nur noch abzuschreiben brauche. Ich fange dennoch an, habe bereits begonnen … anzufangen … – War das der Anfang? Habe ich es wieder nicht recht mitbekommen, das Beginnen? Den Anfang? Muss ich wieder schreibend handeln in dem sicheren Gefühl, irgendwo hinein- oder herausgeplatzt zu sein? Eigentlich, so denke ich, eigentlich müsste es so sein, dass ich als Wissenschaftler ein Wissen habe, irgendwo, im Kopf oder auf diesen Zetteln, und dieses lediglich niederschreibe. Am besten in einer Form, die es potentiellen Lesern des Niedergeschriebenen möglichst leicht macht, es zu verstehen, es mit mir zu teilen, es nach dem Lesen als eigenes, eigen verfügbares Wissen zu haben. Warum gelingt mir das nicht? Warum gelingt mir das – ehrlich gesagt – nie?
36
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http://emagazine.credit-suisse.com/article/index.cfm?fuseaction=OpenArticle&aoid= 12785&lang=de vom 30.4.2004.
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Innen. Kassel, Documenta11_Plattform_5, Binding Brauerei. Tag. Als ein Versuch, dieses »Neue Medium« zu fassen – und auch »to develop poetics, aesthetics and ethics of this database.« (wie Manovich vorschlug)29 – habe ich die Documenta11 verstanden. Das Gesamtkonzept Documenta11 lief über einen Zeitraum von 18 Monaten als Abfolge von fünf so genannten »Plattformen« in Form von Diskussionen, Konferenzen, Workshops, Büchern, Film- und Video-Programmen an verschiedenen Orten – Wien, Neu-Dehli, Berlin, Santa Lucia, Lagos, Kassel. Das allein ist ein Hinweis darauf, dass es hier um eine Auseinandersetzung mit dem WeltweitWerden – und zwar durchaus in dem von Derrida intendierten Sinn – ging. Aber auch im Detail, wenn man nur eine, nämlich die Plattform_5: Ausstellung herauszieht und nicht versucht, dieser Inszenierung mit einem an der Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts orientierten Kunstverständnis zu begegnen, wird klar, dass es um eine Auseinandersetzung mit der Realität und der Utopie einer multikulturell-pluralistischen, postkolonial-heterogenen, divers-demokratischen, telematisch strukturierten und durch ein ganz erhebliches Ausmaß an Mediatisierungen geprägten »Weltgesellschaft« ging. »In der Documenta11 reicht das übliche Kunstverständnis hinten und vorne nicht«, schreibt Franz Billmayer. »Um zu verstehen, worum es jeweils geht, muss man viel lesen und viel außerkünstlerisches Wissen aktivieren.«30 Mangelnde Besucherfreundlichkeit wurde der Konzeption u.a. darum vorgeworfen. Aber ist das ein Manko? War das ein Versehen, eine Nachlässigkeit?
29 30
Manovich, Lev: »Database as a Symbolic Form«, a.a.O. Billmayer, Franz: »… Veränderungen, Übergänge, Umbrüche … Überlegungen zur Documenta11 in Kassel«, in: BDK-Mitteilungen, Nr. 4 (2002), S.14-15, S.15.
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Ich glaube nicht. Eher andersherum: In das Konzept mangelnder Besucherfreundlichkeit passen auch die spärlichen Beschriftungen der einzelnen Arbeiten, die vielleicht absichtlich nicht viel dazu beitragen, die Arbeiten besser zu verstehen, sondern dem Rezipienten ganz deutlich vor Augen führen, dass er viel zu wenig weiß (und dies nur mit Hilfe der »künftigen« Kulturtechnik eines Irr-Sinns aushaltbar ist). Auch die schiere Menge der zeitbasierten Arbeiten – Videos, Diashows usw. –, gekoppelt mit den in der Regel nicht bekannten Anfangszeiten, und vielleicht am offensichtlichsten die Innenarchitektur der Binding-Brauerei als kaum überschaubares Labyrinth aus white cubes geben dem Rezipienten das Gefühl von einerseits Nichtwissen und andererseits durch akute Zeitnot vermittelten Entscheidungsdruck.31 Ausgelöst durch seine Erfahrung vor Ort, die Lektüre unterschiedlicher Kritiken und die gleichzeitige Arbeit mit psychotisch reagierenden Analysanten in der psychoanalytischen Praxis kommt Karl-Josef Pazzini zu der Vermutung, »dass mit der Documenta eine Formulierung gefunden wurde, die deutlich macht, dass die bislang im Westen als normal geltende neurotische Struktur mit ihren paranoischen Abhängen sich so verformt hat, dass sie deutlich wahrnehmbarer stabilisiert wird durch die benachbarten Strukturen der Perversion und vor allem der Psychose. Die Mischungsverhältnisse der Diskurse, die das soziale Band sind und die individuellen Strukturen konfigurieren helfen, ändern sich.«32 Noch einmal: Ist diese »mangelnde Besucherfreundlichkeit« ein Versehen, eine Nachlässigkeit?
31 32
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Ebd. Pazzini, Karl-Josef: »Documenta11 – Inszenierung von psychotischer Struktur?«, Vortrag zum Kongress Produktionen (in) der Psychose der Assoziation für die Freudsche Psychoanalyse, Burghölzli 21.9.2002, unveröffentlichtes Manuskript.
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Steven Johnson zieht in seinem Buch Interface Culture einen Vergleich heran, den ich für merk-würdig, weil aufschlussreich halte. Er überträgt eine Bemerkung von Samuel Taylor Coleridge über die Architektur der gotischen Kathedrale auf das, was er als das »Neue Medium Interface« zu beschreiben versucht: Coleridge schrieb, die Architektur der gotischen Kathedrale sei »infinity made imaginable« – vorstellbar gemachte Unendlichkeit. Der mittelalterliche Geist sei nicht fähig gewesen, die volle Unendlichkeit des Göttlichen zu denken, konnte sich aber den majestätischen Türmen gotischer Dome und deren Innenarchitektur als einen auf »irdischen Maßstab reduzierten Himmel« unterwerfen.33 Und noch einmal: Ist die »mangelnde Besucherfreundlichkeit« der Documenta11 – die Unübersichtlichkeit, der Zeit- und Entscheidungsdruck, die Überforderung – ein Versehen, eine Nachlässigkeit? Ist das nicht möglicherweise ein Versuch, das »Neue Medium« auf einen »irdischen Maßstab« zu reduzieren? Es anschaulich, wahrnehmbar, vorstellbar zu machen? Complication made imaginable? Innen. Schreibtisch. Tag. [italic sequence] Vielleicht ist das wahnhaft, prinzipiell. Vielleicht liegt es auch am Thema. Vorausgegangen war die Faszination für die Figur eines Detektivs mit Gedächtnisstörungen. Und die vielleicht noch größere Faszination für die Erzählung seiner Geschichte. Eine Erzählung, die eigentlich keine Erzählung mehr ist, ja gar nicht sein kann, weil sie versucht, den, dem diese Geschichte erzählt wird, in eine Situation zu bringen, die der des Detektivs mit Gedächtnisstörungen sehr nahe ist. Aus dieser Perspektive gibt es keine Geschichte, aus diesen immer wieder neuen Perspektiven gibt es bestenfalls einen Haufen von Geschichten. Aber aus irgendeinem Grund gibt es einen Drang, diese Geschichten in eine Reihenfolge oder so etwas Ähnliches zu bringen, sich einen Reim darauf zu machen, Sinn darin zu entdecken. Beim Rezipienten des Films wie bei seinem tragischen Helden. Innen. Database. Nacht. »Indeed, if after the death of God (Nietzsche), the end of grand Narratives of Enlightenment (Lyotard) and the arrival of the Web (Tim Berners-Lee) the world appears to us as an endless and unstructured collec-
33
Vgl. Johnson, Steven: Interface Culture. Wie neue Technologien Kreativität und Kommunikation verändern, Stuttgart 1999, S.54f.
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tion of images, texts, and other data records, it is only appropriate that we will be moved to model it as a database.«22 Man könnte es als einen für das Computerzeitalter (manche sagen auch, aber unreflektiert: »Medienzeitalter«)23 spezifischen Wahn bezeichnen: Die Welt als Database. Von nichts mehr zusammengehalten als einer – paradoxerweise auch noch höchst rigiden – technischen Struktur, ohne irgendeinen Kontext, roten Faden oder thematische Präferenz. Totales anything goes. Lev Manovich behauptet die Database als aktuelle »key form of cultural expression«. Erwin Panofskys Analyse der Zentralperspektive als Symbolischer Form der Neuzeit folgend,24 schlägt er vor, Database als eine gegenüber der Perspektive neue Symbolische Form zu denken. Im Sinne einer epistemischen Grundstruktur kann der auf Ernst Cassirer zurückgehende Begriff25 der Symbolischen Form als eine Art Wissensmanagementsystem (und damit im o.g. Sinn Wahnausschlusssystem) gedacht werden. Es ist (auf begriffs-konzeptioneller Ebene) in etwa vergleichbar dem historischen Apriori, das Michel Foucault in seiner Archäologie des Wissens den einzelnen untersuchten Epochen unterstellt. Die Symbolische Form ist gegenüber dem Foucaultschem historischen Apriori jedoch in größeren Maßstäben gedacht. Während Panofsky mit der Symbolischen Form der Perspektive – wie schon erwähnt – den Zeitraum von der Renaissance bis zur Moderne abdeckt, macht Foucault für den gleichen Zeitraum verschiedene historische Apriori geltend. Foucault nennt das – die je zeitspezifischen Umgangsform mit dem Wissen bestimmende – historische Apriori auch Archiv: »Das Archiv ist zunächst das Gesetz dessen, was gesagt werden kann. […] es ist das, was an der Wurzel der Aussage selbst als Ereignis und in dem Körper, in dem sie sich gibt, von Anfang an das System ihrer Aussagbarkeit definiert. […] es ist das, was den Aktualitätsmodus der Aussage als Sache definiert; es ist das System ihres Funktionierens.«26 Das heißt, die epochenspezifischen Diskursinhalte sind nicht in erster Linie Ergebnisse 22 23
24 25 26
228
Manovich, Lev: »Database as a Symbolic Form«, a.a.O. Es gibt keinen wirklich triftigen Grund, kommunikative und kommunionale Mittler als »Medien« erst ab jenem Zeitpunkt zu bezeichnen, seit dem sie an die Steckdose angeschlossen werden müssen. Schon immer wurde das, was nun als »Mediengesellschaft« bezeichnet wird, nur durch den Gebrauch technischer Gerätschaften zusammengehalten, die Telekommunikation ermöglichen, vom Buch über die Buschtrommel bis zur Sprache überhaupt. Vgl. Panofsky, Erwin: Die Perspektive als ›symbolische Form‹, Berlin 1927. Vgl. Cassirer, Ernst: Philosophie der Symbolischen Formen [1924], Darmstadt1988. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt/M. 1997, S.187f.
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rationaler Denkprozesse, sondern vielmehr Resultat dessen, was zu einem bestimmten Zeitpunkt als sagbar und denkbar gilt. Foucaults Archiv operiert jedoch nicht auf einer abstrakt medientheoretischen Ebene, die etwa lediglich definieren würde, welche Satzbildungen der Pool der z.B. während der Epoche des klassischen Rationalismus gebräuchlichen Worte erlaube. Vielmehr ist damit der Versuch unternommen, den praktizierten Metadiskurs einer Epoche zu fassen: »Zwischen der Sprache, die das Konstruktionssystem möglicher Sätze definiert, und dem Korpus, das die gesprochenen Worte passiv aufnimmt, definiert das Archiv eine besondere Ebene: die einer Praxis«.27 In Die Ordnung der Dinge wendet Foucault dieses methodische Vorgehen an auf die Metadiskurse, die Archive der so genannten Neuzeit.28 Foucault beschreibt dabei vor allem die Umbrüche im Übergang von der Renaissance zum Klassischen Zeitalter und von dort hin zur Moderne. Er analysiert die – so könnte man im o.g. Sinn sagen – jeweils »Neuen Medien« der in den jeweiligen Epochen möglichen Diskursinhalte. In eben dieser Weise lese ich Lev Manovichs Behauptung, die Logik der Database sei die zurzeit aktuelle Symbolische Form. Die Logik der Database ist das aktuelle historische Apriori, das bedingt, wie und was wir und was wir wie sehen können. Die epistemische Struktur der Database bedingt einen spezifischen Wahn des Computerzeitalters, der sich (wie ich gezeigt zu haben hoffe) am Fall des Detektivs mit Gedächtnisstörungen paradigmatisch festmachen lässt. Leonard Shelby zieht sich, ähnlich Descartes, auf einen Punkt unangreifbarer Gewissheit zurück, der aus der Perspektive des sich seines cogito gewissen Subjekts jenseits der Unterscheidbarkeit von Wahn und Wissen liegt. Einerseits eine fast grenzenlose Flexibilität, die keine verbindlichen Perspektiven mehr kennt, andererseits eine gesteigerte Subjektzentrierung, die von ihrer eigenen Geschlossenheit nichts wissen will. Der Anspruch einer objektiven Vernunft bleibt dabei weitgehend auf der Strecke, nicht jedoch der Machtanspruch (wie das Ende des Films recht gravierend zeigt). Dieser perspektivisch flexible Subjektwahn hat mit medialen Strukturen zu tun. Und, wie sich am WWW demonstrieren lässt, umgekehrt: Der epochenspezifische Wahn bedingt Inhalt und Struktur seines Archivs als praktizierten Metadiskurs. Dabei kann man jedoch nicht eindeutig sagen, dass das epochenspezifische Archiv, unser »Neues Medium« gewisser-
27 28
Ebd., S.188. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt/M. 1997.
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maßen, kausale Folge allein der kommunikationstechnologischen, inklusive der abbildungstechnologischen und archivarischen Möglichkeiten wäre. Zwar ist recht offensichtlich, dass der Hang zu Modularisierung, Standardisierung, Globalisierung oder, ganz allgemein gesagt, Verallgemeinerung eine in höchstem Maß auffällige strukturelle Ähnlichkeit hat mit dem radikal formalen und radikal formalisierenden Denken, das das Programmieren der universalen Maschine erfordert und das sich im Dekontextualisierungsprinzip der Database mehr als paradigmatisch festschreibt. Andererseits ist die Entwicklung der universellen – vielleicht besser: globalisierenden – Maschine innerhalb der Epoche Grund gelegt worden, die durch die Symbolische Form der Perspektive geprägt war. Und – wie dargestellt – vollzog sich die so genannte »Krise der Repräsentation« vornehmlich als Krise der Repräsentationstechnik der Perspektive in der Kunst bereits um die vorletzte Jahrhundertwende. Es konnte mit der Darstellungstechnik der Perspektive nicht mehr alles dargestellt werden, was dargestellt werden sollte oder könnte. Und dieses Problem war, wie wir wissen, spektakulär produktiv z.B. für die Kunst des 20. Jahrhunderts. Innen. Schreibtisch. Tag. [italic sequence] Ein Detektiv mit Gedächtnisstörungen – diese recht tragische Figur hatte mich fasziniert. Sergej Sergejewitsch Korsakoff hatte einmal formuliert: »A man’s memory is all that stands between him and chaos.« – Probleme mit dem Gedächtnis sind also ohnehin eine recht tragische Sache. Aber dann auch noch gerade ein Detektiv mit Gedächtnisstörungen! Einem Detektiv geht es immer um die Wahrheit, im klassischen Detektivroman zumeist entlang der Frage, wer der Mörder ist. Um der Wahrheit nahe zu kommen, sammelt er die Indizien, die Zeugenaussagen, ordnet sie, kombiniert, rekonstruiert den Tathergang, fügt ein Puzzle zusammen, dessen Bild am Ende die Wahrheit zeigt und den Mörder überführt. Der Detektiv sammelt, so könnte man sagen, viele kleine Geschichten und ordnet sie zu einer großen zusammenhängenden. Klar, dass ein Detektiv mit Gedächtnisstörungen dabei einige Schwierigkeiten hat. 15 Minuten maximal kann Leonard Shelby seine Gedächtnisinhalte speichern. Danach verschwinden sie. Es hat mit dem Transfer zwischen Kurz- und Langzeitgedächtnis zu tun. »Aber es ist nicht Gedächtnisschwund!«, beeilt er sich zu versichern, vielleicht um nicht für in ir-
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gendeiner Weise verrückt gehalten zu werden. Er erinnert sich an alles bis zu der Verletzung, die zu seinem – wie er sagt – »Zustand« führte. Allein: »Ich merk mir nichts Neues mehr. Es verblasst alles.« – Sein Wissen muss er deshalb auswendig aufbewahren. 15 Minuten reichen zumeist, um eine kurze Notiz zu schreiben, ein Polaroid-Foto der Situation zu machen und gegebenenfalls mit einigen aufklärenden Worten – »mein Wagen«, »mein Hotel« oder dem Namen der abgebildeten Person usw. – zu kommentieren. Dem Rezipienten des Films geht es nicht anders. Spätestens nach 5 Minuten wird er aus der Szenerie gerissen und eine neue Episode beginnt. Immerhin, jede zweite Szene erscheint in Schwarz-Weiß. Das erleichtert die Orientierung. Ein wenig allerdings nur, denn der Zusammenhang, den die farbigen Szenen bilden, wird rückwärts erzählt. Im Überblick stellt sich die Erzählstruktur des Films wie folgt dar:
Dadurch, dass eine farbige Szene mit dem Beginn der vorhergehenden (farbigen) endet, bemerkt der Rezipient, dass die farbigen Szenen den chronologischen Ablauf der Geschichte rückwärts erzählen. Das jedoch bemerkt der Rezipient erst, wenn es schon zu spät ist, wenn die ersten Szenen, die chronologisch zukünftigen, schon wieder vergessen sind. Diese Erzählstruktur führt dazu, dass der Rezipient gewissermaßen 113 Minuten gespannt auf den Anfang des Films wartet (wenn man die Schwarz-Weiß-Szenen als eine Art Vorgeschichte betrachtet) und dabei das (chronologische) Ende der Geschichte allmählich vergisst. Und – und das ist wohl die hauptsächliche Intention des Produzenten – es kommt dadurch zu dieser merkwürdigen Art mimetischer Identifikation des Rezipienten mit dem Problem des Hauptakteurs. Nach jedem cut wird der Rezipient in eine Szene geworfen, die quasi mittendrin beginnt, und er teilt auf diese Weise mit dem tragischen Detektiv die Verwirrung darüber, was momentan – und was überhaupt – los ist.
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Innen. Genf, Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire. Nacht. Das ganze Wissen der Welt versprachen uns die Betreiber der Suchmaschine Lycos Ende der 1990er Jahre – und mit ihnen eine ganze Menge anderer, die mit dem »Neuen Medium« Geld verdienen wollten oder überzeugt waren, dass mit dem WorldWideWeb berechtigte Hoffnungen auf Demokratisierung des Wissens und grenzenlose Aufklärung* zu verbinden wären: »Das ganze Wissen der Welt – einfach per Mausklick! […] Aktuelle Informationen, neuste Nachrichten, grenzenlose Kommunikation und das komplexe Wissen der Menschheit – jederzeit für Jedermann.« Dass das WWW als ein Projekt der Aufklärung* gedacht wurde und noch gedacht wird, erkennt man bei Lycos schon am FirmenLogo: Die Sonnenfinsternis oder vielmehr ihre Vorausberechenbarkeit ist geradezu Symbol der Aufklärung* und des Triumphs des Verstands über das magische Zeitalter, in dem es noch für echte Aufregung gesorgt hat, wenn plötzlich das Licht aus ging. Das Problem mit dem WorldWideWeb als Archiv des Wissens der Welt wird schnell deutlich, wenn man es mit zentralperspektivischen Blick betrachtet. Als ich irgendwann im Jahr 1998 beim Internetsurfen mal wieder den Überblick verlor, fragte ich mich, ob es wohl irgendwo in den semantischen Weiten der damals mit nur 50 Millionen noch relativ überschaubaren Web-Seiten ein Zentrum gibt, ein Zentrum des Internet, von dem aus so etwas wie Überblick zu erwarten wäre. Ich tippte darum »center of the internet« in eine Suchmaschine ein und wurde – zu meiner großen Überraschung – fündig. Unter www.uni-kassel.de/fb22 fand ich »the official center of the internet«, den Projektionspunkt der zentralperspektivischen Darstellung des WWW. Die beiden Studenten der Kunsthochschule Kassel, Oliver Schulte und Maik Timm, hatten dort sogar einen Rundumblick – »a view from the center« – installiert. Die Übersicht, die man von dort aus hat, bleibt allerdings unbefriedigend. Zwar hat man dank der auf dem mathematischen Koordinatenraum Descartes’ basierenden Quicktime-VR-Technik einen wirklichen
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Rundumblick.16 Was man sieht, bleibt aber, wenn auch in 3-D, visuelles Rauschen. Und – und das ist das Problem, wenn das Wissen der Welt nach cartesianischer Methodik überprüft werden soll – es bleibt semantisches Rauschen. Es ist überhaupt nicht übersichtlich oder klar und distinkt. Es ist gerade nicht »vollständig zu überzählen und im Allgemeinen zu überschauen, um […] gegen jedes Übersehen [gesichert zu sein].«17
Auch der im übertragenen Sinn zentralperspektivische Versuch, die semantischen Weiten des WorldWideWeb in einer (intersubjektiv gültigen) Ontologie zu fassen, löst das Problem nicht. Web-Kataloge wie Yahoo, die im Gegensatz zu echten Suchmaschinen wie Google, Altavista etc. auf einer Ordnung handverlesener Webseiten in riesigen Ontologien basieren, bilden lediglich marginale Teile des WorldWideWeb ab.18 Die 14 Masterkategorien, die unter www.yahoo.com erscheinen, bilden die oberste Ebene einer ca. 20.000 Kategorien umfassenden Ontologie in Form eines Begriffspyramidenstumpfs, die aber lediglich geschätzte 0,4% des tatsächlichen content des WorldWideWeb beinhaltet. Da die Zuordnung einzelner Seiten zu den ihnen entsprechenden Kategorien durch Menschen erfolgt, verwundert diese kleine Zahl nicht weiter. Jede Seite muss tatsächlich gelesen, wenigstens überflogen werden. Es verwundert auch nicht, dass die Trefferquote bei Suchanfragen in der Regel sehr gut ist. Sucher und Sortierer stehen in einem sozialen Ver16
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Es sei dringend empfohlen, das »center of the internet« im WWW aufzusuchen um von den Navigationsmöglichkeiten im Raum Gebrauch zu machen. Man kann dort nicht nur links-rechts und oben-unten navigieren, sondern auch zoomen, um in der Vergrößerung der Details Gewahr zu werden. (http://www.uni-kassel.de/fb22/home/candela2/ center/main.html vom 3.6.2004.) Descartes, René: Discours, a.a.O. (4. Regel) Diese und die folgenden Informationen zu Internet-Suchmaschinen und WebKatalogen basieren auf einer Untersuchung, die Steve Steinberg 1996 in der Zeitschrift Wired veröffentlichte. (Vgl. Steinberg, Steve G.: »Seek and ye shall find (Maybe)«, in: Wired, Nr. 4.05 (1996), S.108-114, S.174-182.) Möglicherweise sind sie inzwischen hoffnungslos veraltet.
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hältnis ähnlich dem, das zwischen Rezipient und Produzent einer zentralperspektivischen Abbildung provoziert wird. Beide, Rezipient und Produzent urteilen aus Perspektive des sich seiner selbst und seines Verstandes gewissen Subjekts. Das ist ihr common sense. Die geradezu lächerlich niedrige Erfassungsquote dieses Weltwissensmanagement gibt jedoch Hinweis darauf, dass dieses Verfahren dem WorldWideWeb gegenüber unangemessen sein könnte. Mike Couzens hat das Problem auf den Punkt gebracht. Auf die Frage, ob das WorldWideWeb mit der Metapher der Bibliothek annähernd zu fassen sei, antwortete er: »Maybe, but if so: 1. The librarians have gone home. 2. All books are on the floor. 3. The lights are off.«19 Wenn das WWW eine solche dunkle Bibliothek ist, in der die Bücher auf dem Boden verstreut sind und auch das Auskunftspersonal gegangen ist, und wenn es – das hat Couzens gar nicht erwähnt – auch keinen Katalog gibt, der für irgendeine Art von Ordnung oder Orientierung sorgen könnte, dann ist es nicht weiter verwunderlich, wenn die Leser dieser Bibliothek psychotische Persönlichkeitsstrukturen entwickeln oder multipel werden. Dissoziative Identitätsstörungen nehmen jedenfalls signifikant zu. (Fundamentalismen als neurotische Gegenreaktionen auch…) Es stellt sich die Frage, ob dieses Medium, das Tim Berners-Lee durch die formalen Regelungen des HyperTextTransferProtokolls (http) und der HyperTextMarkupLanguage (html) Anfang der 1990er Jahre am CERN ins Leben rief, mit einem üblicherweise hauptsächlich technisch verstandenen Medienbegriff angemessen zu fassen ist. Ein als Gerät verstandenes Medium kann man immer auch ausschalten oder einfach nicht benutzen usw. Das WWW jedoch lässt sich nicht einfach so abschalten. Das WorldWideWeb ist zweifellos als so etwas wie Bedingung und zugleich technischer Grund dessen zu sehen, was – mit dem Label »Globalisierung« versehen – den Prozess der Entgrenzung von Märkten, Kulturen, Staaten und Identitäten zumindest beschleunigt. Möglicherweise ist es angemessener, hier von einem Medium in dem Sinne zu reden, wie man sagt, Fische leben im Medium Wasser; Medium also – wie in physikalischen oder chemischen Kontexten – als ein »Träger« oder »Stoff«, in dem sich bestimmte Vorgänge abspielen (Luft als Träger von Schallwellen oder als Stoff, in dem bestimmte chemische Prozesse ablaufen). Das WorldWideWeb und der damit verbundene
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Mike Couzens, Manager cisco systems, bei seinem Eröffnungsvortrag auf der Online Educa Berlin 2000. Dank an Joeran Muss-Merholtz für diesen Hinweis.
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Prozess der Entgrenzung von Märkten, Kulturen, Staaten und Identitäten könnten gedacht werden als ein Neues Medium (Träger und Stoff) psychischer und sozialer Vorgänge. Jacques Derrida hat diesem Medium einen Namen gegeben: WeltweitWerden. Derrida weigert sich, den Begriff »globalization« zu verwenden, er will bei der französischen Version bleiben, »um den Bezug auf eine ›Welt‹ [monde, world, mundus] aufrechtzuerhalten, die weder der Kosmos, noch der Globus, noch das Universum ist.)«20 In der deutschen Übersetzung ist darum dem französischen Wort mondialisation zwecks genauerer Bestimmung stets ein Weltweit-Werden nachgestellt. Vielleicht ist es ein Zufall, dass sich auch Weltweit-Werden (in der deutschen Version wenigstens, englisch hieße es worldwidisation, französisch mondialisation) als WWW abkürzen lässt, vielleicht liegen diese Dinge nicht so nah beieinander, wie ich sie sehe. Vielleicht sind dann auch die davon ausgehenden und möglicherweise auf dem spezifischen Wahn des »computer age« basierenden Wähnungen falsch. Aber ich wähne weiter: »Welt« leitet sich ab von dem althochdeutschen Wort »weralt«. Es ist eine Zusammensetzung aus dem germanischen Wort für »Mann, Mensch« (vgl. »Werwolf«: der Mensch, der sich zeitweise in einen Wolf verwandelt) und einer indogermanischen Wurzel mit der Bedeutung »Menschheit, Zeit«. Eine in dieser Weise verstandene »Welt« ist etwas anderes als der Kosmos, der Globus oder das Universum. Und es ist auch etwas anderes als das Ganze der transkontinentalen Handelsströme und Finanzpipelines. Ich denke dabei Geschichte mit – und Geschichten, Sprache, Kultur, Kulturen, soziale Bänder, Diskurse, Traditionen, Generationen, Alter … – Menschen-Alter, wer-alt … »Alter« nicht als Zeitabschnitt, Epoche, sondern – so die etymologische Herleitung – als Wachsen oder hier besser: Gewachsenes: »Welt« also als das zwischen den, mit den, durch die Menschen Gewachsene. »Kultur« wäre – im weiten Sinne – ein anderes Wort dafür. Allerdings: »Kultur« – und eben darin besteht die Komplexität des Weltweit-Werdens – gibt es zurzeit nur im Plural. Und das führt – im globalen Maßstab – zu dieser »destinerrance«, zur »destination errance«, zur Schickungsirre.21
20 21
Derrida, Jacques: Die unbedingte Universität, Frankfurt/M. 2001, S.11. Derrida hat die Figuren des »Geschicks« und seiner »Irrungen« (»destinerrance«) breit entfaltet in: Derrida, Jacques: Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und jenseits. 1. Lieferung: Envois/Sendungen, Berlin. 1989.
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Innen. Schreibtisch. Tag. [italic sequence] »Sammy Jenkis hatte das gleiche Problem. Aber er hatte kein richtiges System. Er notierte sich alles. Am Ende hatte er eine aberwitzige Sammlung von Zetteln, brachte aber alle durcheinander.« – Auf dem Rücken der linken Hand des Detektivs mit Gedächtnisstörungen sind die Worte »Remember Sammy Jenkis« eintätowiert. Sammy war sein erster großer Fall damals, vor dem Ereignis, das ihm sein Erinnerungsproblem bescherte. Leonard Shelby war Ermittler bei einer Versicherung, er musste die Anträge überprüfen, um Versicherungsbetrug auszuschließen: »Mr. Samuel R. Jenkis, der seltsamste Fall aller Zeiten … Der Mann ist 58 Jahre, Steuerberater, kurz vorm Ruhestand. Seine Frau und er hatten einen Autounfall, nichts besonders ernstes. Aber er benimmt sich seltsam, er kriegt nicht auf die Reihe, was los ist.« Der Erzählstruktur des Films dient der Fall Sammy Jenkis auch dazu, so etwas wie eine objektive Außenperspektive auf den psychischen »Zustand« Leonard Shelbys zu schaffen, der sonst nur aus der – durch eben diesen »Zustand« fragmentierten – Ich-Perspektive des Detektivs mit Gedächtnisstörungen geschildert wird. »Ich erzähl’ den Leuten von Sammy, damit sie mich besser verstehen. Sammys Geschichte hilft mir, meine eigene Situation besser zu verstehen.« Der Hinweis auf dem Handrücken Leonard Shelbys ist Teil seines eigens entwickelten Wissensmanagementsystems, er löst eine Kette konditionierter Suchbewegungen nach weiteren Tätowierungen aus – Handgelenk: »THE FACTS«, Unterarm: »FACT I: male«, »FACT II: white« usw. Die Rekonstruktion des aktuell bearbeiteten Falls beginnt stets mit der metamethodologischen Aufforderung »Remember Sammy Jenkis«. Mich hatte »der Fall Sammy Jenkis« an das WWW erinnert: »Am Ende hatte er eine aberwitzige Sammlung von Zetteln, brachte aber alle durcheinander.« – Da haben wir nun das »ganze Wissen der Welt«, weil wir uns »haufenweise Notizen« gemacht haben, in einem handlichen, »einfach per Mausklick« zu bedienenden Medium. Aber bei genauerer Betrachtung oder tatsächlichem Gebrauch ist es vielleicht mehr eine »aberwitzige Sammlung von Zetteln«. Es dürfte evident sein, dass ein Detektiv mit Gedächtnisstörungen ein recht ausgefeiltes Wissensmanagementsystem braucht. »Man braucht ein richtiges System, wenn es funktionieren soll«, doziert Shelby. »Irgendwie lernt man, seiner eigenen Handschrift zu vertrauen. [Ich assoziierte: War das nicht Descartes? Oder im Anschluss Kant? – Sapere
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aude! – vertraue Deiner Handschrift?] Das wird ein wichtiger Teil des Lebens. Man macht sich Notizen. Und auch wohin man diese Notizen legt, ist ganz wichtig. [Descartes, 3. Regel der Methode] Man braucht ein Jackett mit mindestens sechs Taschen. Bestimmte Taschen für bestimmte Dinge. Irgendwie lernt man, wo alles hinkommt und wie das System funktioniert. Und man muss aufpassen, dass andere nichts für einen selbst aufschreiben. [Kant: »Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen«2] Dinge, die keinen Sinn ergeben oder einen auf eine falsche Fährte locken [Descartes: »Um (…) die Wahrheit aller erkennbaren Dinge aufzusuchen, müssen deshalb zunächst alle Vorurteile abgelegt werden, d.h. man muß sich vorsehen und den früher angenommenen Ansichten nicht vertrauen, bevor sie nicht einer neuen Prüfung unterworfen und als wahr erkannt worden sind.«3] … ich mein’, keine Ahnung, wieso man jemanden mit einem solchen Leiden übers Ohr hauen will …« – Ich kann mich dessen nicht erwehren, es hat vielleicht mit dem »Zustand« meines Schreibtischs zu tun: »Ich will also annehmen, dass nicht der allgütige Gott die Quelle der Wahrheit ist, sondern daß ein boshafter Geist, der zugleich höchst mächtig und listig ist, all seine Klugheit anwendet, um mich zu täuschen […]«4 Wie gesagt, woran mich die Beschreibung des Wissensmanagementsystems des Detektivs mit Gedächtnisstörungen denken ließ – hier wiederum Descartes während seiner Suche nach der perfekten Methode, richtig zu denken und Wahrheit in den Wissenschaften zu suchen –, mag einer Überinterpretation gleichkommen. Aber es geht mir nicht darum, Filminterpretation zu betreiben und Christopher Nolan auf die Schliche zu kommen. Es ist relativ gleichgültig, ob Christopher Nolan tatsächlich bei der Erfindung des Detektivs mit Gedächtnisstörungen an René Descartes gedacht hat, ob er eine Kritik, eine Persiflage, eine Karikatur des neuzeitlichen Wissenschaftlersubjekts oder seines methodischen Vorgehens im Sinn hatte. Ich bin noch in der Phase des Wähnens, ich lese den Film hier unabhängig von vermuteten Intentionen seines Regisseurs, um zwischen den Zeilen und zwischen den Szenen ein Wissensmanagement-
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Kant, Immanuel: »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« [1783], in: Zehbe, Jürgen (Hg.), Was ist Aufklärung? Aufsätze zu Geschichte und Philosophie, Göttingen 1994, S.55-61, S.55. Descartes, René: Untersuchungen über die Grundlagen der Philosophie, Digitale Bibliothek Bd. 2 (Philosophie, 15794) S.28ff. Ebd.
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system, genauer: dessen Wissensproduktionssubsystem zu umschreiben, das einer anderen Methode folgt, möglicherweise auch der gleichen oder einer von dieser abgeleiteten Methode, aber mit anderen Folgen als von Descartes seinerzeit intendiert. Leonard Shelby, der Detektiv mit Gedächtnisstörungen, dient mir dabei als Versuchsobjekt. Man stelle sich – probehalber, »in sensibili experimento« – seinen »Zustand« vor für einen anderen Typus von Wahrheitssucher: Ein Wissenschaftler, dem sein Wissen ständig entgleitet … Innen. Neuburg, Ofenstube. Tag. Der kartesische Raum basiert in mehrfacher Hinsicht auf der Abbildungstechnik der Zentralperspektive. Dass die analytische Geometrie quasi das Umkehrverfahren zur Konstruktion der zentralperspektivischen Abbildung ist, dürfte unmittelbar einleuchten. Als René Descartes jedoch den November 1619 in seiner warmen Ofenstube nahe Ulm verbrachte, erfand er nicht weniger als die Metatheorie zur neuen Gemeinschaftsgewissheit. Der Projektionspunkt der zunächst nur visuellen Informationsverarbeitung der Zentralperspektive wurde gewissermaßen aus dem Auge des Betrachters ein paar Zentimeter nach hinten, weiter in dessen Kopf verlagert und dadurch zum universalen Projektionspunkt jeglichen Denkens. Mit der Selbstgewissheit des cogito konnte fortan die beginnende anonyme Massenkommunikation, zu der durch Buchdruck (heute das WWW) und freie Warenwirtschaft seit dem 15. Jahrhundert die technischen und ökonomischen Voraussetzungen gegeben waren, methodologisch fundiert werden. Die durch massenhaft produzierbare Bücher technisch zu bewerkstelligende, intersubjektive Verständigung (und damit die Akkumulation von Wissen) über die Umwelt zwischen einem Autoren und all seinen Lesern ohne direkte Interaktion wurde möglich, wenn sich nur Autor und Leser am gemeinsamen Projektionspunkt des denkenden Ich versammelten. Interessanterweise hatte Descartes seine Überlegungen anonym publiziert (als hätte er das Database-Prinzip schon vorwegnehmen wollen, indem er die Variable »Autor« statt mit seinem Namen mit dem Wert »du Perron« füllte). Ebenso kühn wie diese – allerdings nur im Rückblick so zu verstehende – Vorwegnahme war Descartes’ – ebenso nur im Rückblick so zu verstehende – Vorwegnahme der von Wolfgang Ernst zwecks Umgang mit den rumorenden Archiven des Weltweit-Werdens für nötig befundene »künftige Kulturtechnik« eines Irr-Sinns. Die
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»wahnsinnige Kühnheit« Descartes’ (die wir – wie Derrida anmerkt – »vielleicht nicht mehr so sehr als Kühnheit verstehen, weil wir […] zu sehr mit seinem Schema vertraut sind«) bestand darin, das Denken auf einen Punkt zu bringen, der jenseits der Opposition von Wissen und Wahn liegt, jenseits der Opposition von Kollektiv und Individuum und des von diesen allgemein Geteilten oder Teilbaren. Descartes’ im Zweifel gefundenes cogito gilt sogar für den Wahnsinn: Sogar wenn mein Denken durch und durch wahnsinnig ist, gilt: cogito, sum. »Die so erreichte Gewißheit genießt nicht den Schutz vor einem eingeschlossenen Wahnsinn, sie wird im Wahnsinn selbst erreicht und gesichert. Sie gilt sogar, wenn ich wahnsinnig bin. Das ist die höchste Sicherheit, die weder den Ausschluß noch das Umgehen [des Wahns] zu suchen scheint.«12 Descartes zieht sich auf einen Punkt unangreifbarer Gewissheit zurück, der nicht nur jenen Irr-Sinn als einen unter anderen möglichen Fällen des Denkens erscheinen lässt, sondern – in genau diesem, in gewisser Weise jedoch diesem grundlegend entgegengesetzten Sinn – er zieht sich damit auf einen Punkt zurück, in dem exakt das Vorhaben einer Globalität wurzelt, nämlich Totalität zu denken, indem man ihr entgeht. »Indem man ihr entgeht, das heißt: indem man über die Totalität hinausgeht, was – im Seienden – nur in Richtung des Unendlichen oder des Nichts möglich ist«.13 Dieses von Descartes in methodologische Worte gefasste Denken erlaubt das – praktizierend z.B. mit Kolonialisierung und Zentralperspektive schon in den vorhergehenden Jahrhunderten vorweggenommene – Kartographieren des Ganzen als Globus und Globales von einem unmöglichen, weil – im Seienden – unendlichen Projektionspunkt aus: Der nach zentralperspektivischen Regeln konstruierte, nun aber »geflügelte Blick«.14 Es ist René Descartes’ späteren Lesern anzulasten, dass bei allen Bemühungen, das Ganze zu fassen zu kriegen, offenbar übersehen wurde, dass mit der auf zentralperspektivischen Prinzipien beruhenden sozialen Akkumulation von Wissen ein Verständnis von Kommunikation zugrunde liegt, das diese als die Wiederholung der Informationsverarbeitung des Autors durch den Leser sieht. Auf diesem Verständnis basiert der My-
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Derrida, Jacques: »Cogito und Geschichte des Wahnsinns«, in: ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. 1976, S.53-101, S.89. Ebd., S.90. Vgl. Schmeiser, Leonhard: Die Erfindung der Zentralperspektive und die Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft, München 2002, S.79ff.
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thos, man könne Wissen wie Waren (z.B. Bücher) an andere weitergeben. »Kommunikation erscheint in Analogie zum Warentausch als Informationsaustausch.«15 Dieser Mythos erst macht Behauptungen möglich wie, »das ganze Wissen der Welt« liege im Internet. Innen. Schreibtisch. Tag. [italic sequence] »Ein anonymes Zimmer. Es ist nichts in den Schubladen. Du siehst trotzdem nach. Nichts. Außer der Bibel – die ich natürlich lese … gewissenhaft … haha … hm …« – Es ist nicht ganz klar, woher Leonard Shelby Gewissheit bezieht. Er lebt in Hotelzimmern. Sein Zimmer erkennt er an seiner Handschrift auf den dort verstreuten Notizzetteln. Seines »Zustands« wird er gewiss durch das methodische Meta-Tatoo auf dem Handrücken: »Remember Sammy Jenkis«. Es setzt, wie erwähnt, den methodischen Apparat in Gang. Er macht es anders als Sammy Jenkis, der seine »aberwitzige Sammlung von Zetteln« durcheinander gebracht hat. Er – Shelby – hat ein »richtiges System […] Hat man eine Information, die extrem wichtig ist, kann die Lösung darin bestehen, sie auf den Körper zu schreiben statt auf ein Stück Papier. So kann man sich dauerhafte Notizen machen.« Das Telefon klingelt. Shelby nimmt ab. Und, obwohl er den Anrufer nicht kennt, nicht wieder erkennt, erzählt er – während er nebenbei mit der Pflege seines Wissensmanagementsystems beschäftigt ist, vorhandene Tätowierungen betrachtet und neue vorbereitet – von Sammy Jenkis. »Sammy hatte keinen Schwung, keinen Grund, klarzukommen. Ich? Ja, ich hab einen Grund.« – »John G. raped and murdered my wife«, ist der quer über Shelbys Brust tätowierte »Fact«, der sein Leben bestimmt. Darunter steht: »Find him and kill him.« Während er telefoniert, betrachtet Shelby die der Folge seiner schlussfolgernden Ermittlungen entsprechende Sequenz der eintätowierten »Facts«: »1. male, 2. white, 3. Firstname: John (or James), 4. Lastname: G____, …« Die Kamera fährt in Nahaufnahme seinen Körper ab, folgt seinen Händen, die hier und da ein Pflaster von einer frischen Tätowierung entfernen, einen Oberschenkel enthaaren, um den Ort für die Archivierung neuer »Facts« vorzubereiten, bis er seine telefonische Erzählung wegen eines plötzlichen Perspektivenwechsels abrupt stoppt: Unter einem eben noch eine frische Tätowierung verdeckenden Pflaster steht geschrieben: »Never answer the phone!« 15
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Giesecke, Michael: »Der Verlust der zentralen Perspektive«, a.a.O., S.108.
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Außen. Florenz, Baptisterium. Tag. Es wird ein Vorgriff gewesen sein auf eine – wie Wolfgang Ernst anlässlich des Rumorens der Archive schreibt – »künftige Kulturtechnik«. Der Leser – zum Beispiel – wird ständig den Standpunkt geändert haben können, er wird imstande gewesen sein müssen, die Perspektiven zu wechseln und die Dinge in neuem Licht zu betrachten. Er wird so etwas wie einen Irr-Sinn benötigt haben: »Sich im Datenwald dieser Un/ordnung nicht zu verlieren ist der Imperativ einer vertrauten Pädagogik« – so Wolfgang Ernst – »Doch sich in einem Labyrinth verirren zu lernen ist die Option einer künftigen Kulturtechnik, jenseits der Archive und als Form einer Reise, deren Ziel man erst kennenlernen muß – destinerrance im Sinne Derridas.«7 Die (demnach noch) gegenwärtige kulturtechnische Vereinbarung zwischen Leser und Autor, sich – wenn auch nacheinander – an einem gemeinsamen Standpunkt zu treffen, von dem aus der eine nachvollziehen kann, was der andere gesehen hat, hat eine lange Tradition. Erwin Panofsky zufolge geht sie zurück auf die Erfindung der Zentralperspektive in der Renaissance.8 Er sieht in der Perspektive die Symbolische Form der Neuzeit und hebt damit das Verfahren ab von einer bloßen Abbildungstechnik oder einem Modell psychischer Wahrnehmung. Darüber hinaus geht es um eine damals neue Kommunikationstechnik, zunächst visueller Art. Die Zentralperspektive ermöglicht es, Erfahrung zu wiederholen, die unbekannte Betrachter irgendwann irgendwo gewonnen haben. Sie ermöglicht es, visuelle Informationsverarbeitung zu kopieren und dadurch »Standpunkt und Perspektive von anderen Menschen zu programmieren.« Im 14. Jahrhundert erlang – so Michael Giesecke – »die Frage, wie man individuelle Wahrnehmung verallgemeinern, individuelles Wissen nicht nur einem leiblichem Gegenüber sondern vielen, auch unbekannten, Menschen zur Verfügung stellen kann, große Bedeutung. Und die Maler und Architekten, die sich mit perspektivischen Konstruktionen befaßten, lieferten hier die besten Antworten.«9
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Ernst, Wolfgang: Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung, Berlin 2002, S.131f. Panofsky, Erwin: Die Perspektive als ›symbolische Form‹, Berlin 1927. Giesecke, Michael: »Der Verlust der zentralen Perspektive und die Renaissance der Multimedialität«, in: Kemp, W. et al. (Hg.): Vorträge aus dem Warburg-Haus, Berlin 1998, S.85-116, S.103.
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Einer jener Maler und Architekten war Filippo Brunelleschi. Seine perspektivische Abbildung des Baptisteriums in Florenz schien ihm selbst so überwältigend, dass er zwecks intersubjektiver Überprüfung ein Experiment vorschlug, das sich als eines ungeheurer Tragweite herausstellte: Der Betrachter solle sich in der Mitteltür des dem Baptisterium gegenüberliegenden Doms, dem Projektionspunkt der Abbildung, aufstellen Der Produzent/Rezipient und den Blick, den er von dort aus hatte, mit ist im Bilde. dem Blick auf Brunelleschis Bildtafel vergleichen. Jeder Betrachter würde das Baptisterium von dort aus so sehen, wie es Brunelleschi gesehen hatte. Der Betrachter sollte durch ein kleines Loch in der Mitte der Bildtafel, die er umgedreht zwischen sich selbst und das Baptisterium halten Formale Skizze des Expe- sollte, zunächst das Baptisterium im Original riments zur Produktion der Gemeinschaftsge- ansehen und dann einen Spiegel zwischen die wissheit. Abbildung und das Original halten, um so das Gemälde anstelle des Baptisteriums zu sehen.10 Der subjektive Blick wurde damit transportabel und verallgemeinerbar. Alle Menschen, die den Standpunkt des Malers – oder vielleicht besser: des perspektivischen Konstrukteurs – vor der Bildtafel einnahmen, unabhängig davon, wo sich diese befindet, konnten das Baptisterium wieder so sehen, wie Brunelleschi es gesehen hatte, weil der Standpunkt des Konstrukteurs (das Guckloch in der Bildtafel) dank unabhängig vom konkret Abgebildeten beschreibbarer Konstruktionsregeln von der Abbildung selbst mitkommuniziert wird. »Was« – so Giesecke – »ist dies für ein Gemeinschaftserlebnis – und nicht bloß ein Erlebnis, sondern eine Gewißheit, die sich experimentell bestätigen läßt?!«11 Innen. Schreibtisch. Dämmerung. [italic sequence] Leonard Shelbys Wissensmanagementsystem hat seine Tücken. Diesen Tücken kann auch der Rezipient des Films zum Opfer fallen. Jedenfalls wenn er im Kino eine Erzählung erwartet. 10
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Vgl. insbesondere zur hier nicht weiter ausgeführten Funktion des Spiegels: Pazzini, Karl-Josef: Bilder und Bildung. Vom Bild zum Abbild bis zum Wiederauftauchen der Bilder, Münster 1992, S.58ff. Giesecke, Michael: »Der Verlust der zentralen Perspektive«, a.a.O., S.106.
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»After the novel, and subsequently cinema privileged narrative as the key form of cultural expression of the modern age, the computer age introduces its correlate — database«,5 schreibt Lev Manovich. Er behauptet damit eine neue Symbolische Form. Erzählungen kann man nicht mehr erwarten. Und mir drängt sich der Verdacht auf, der Film Memento könnte konzipiert sein, wie er konzipiert ist, um dem romanund kinoverwöhnten Rezipienten seine Gewohnheiten und diesen entsprechenden Erwartungen in vielleicht dekonstruktiv zu bezeichnender Weise vor Augen zu führen. Ich habe den Film insofern dekonstruiert, als ich ihn in 44 Teile zerschnitten habe und diese als einzelne records in eine Database eingegeben habe. Als Schnittstellen dienten mir die Perforationen, an denen der Farbmodus wechselt (Schwarz-Weiß- in Farbszenen bzw. umgekehrt). Ich habe somit 21 Schwarz-Weiß-Szenen, 22 Farbszenen und eine, die schwarz-weiß beginnt, aber etwa in der Mitte, während Leonard Shelby ein sich allmählich entwickelndes PolaroidFoto, das die Leiche eines gewissen John G. zeigt, betrachtet, farbig wird. Diese Szene ist die letzte des Films und zugleich die erste der im Film erzählten Story, jener Anfang, auf den der Rezipient des Films 113 Minuten wartet (wenn man die Schwarz-Weiß-Szenen als eine Art Vorgeschichte betrachtet). Das wird schlagartig evident, wenn entsprechende Anfragen, so genannte SQL-queries, an meine Database gestellt werden.6 Je nachdem, wie die Anfragen in der simple query language gestellt werden, erhält man jedoch andere Antworten auf die Frage, wer der Mörder ist. Frappierend ist, dass es ganz offensichtlich nicht allein damit getan ist, dass das Rätsel nur etwas schwieriger zu lösen ist, weil die Reihenfolge der Geschehnisse irgendwie durcheinander geraten ist, dass es einfach nur ein bisschen mehr Puzzle-Arbeit erfordert, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Christopher Nolan macht recht überzeugend klar, dass bei der dem Database-Prinzip inhärenten Dekontextua5
6
Manovich, Lev: » Database as a Symbolic Form«, http://www.manovich.net/docs/database.rtf vom31.5.2002. Vgl. auch: Ders.: The Language of New Media, Cambridge/London 2001. In der simple query language (SQL) formuliert lauten diese z.B. so: »SELECT * FROM memento WHERE color = 0 ORDER BY nolans_cut ASC«, das wäre die Vorgeschichte, und »SELECT * FROM memento WHERE color = 1 ORDER BY nolans_cut DESC« für die Geschichte der Ereignisse, um die es – im Sinne einer Detektiv-Story – eigentlich geht: Wer war der Mörder? In Umgangssprache formuliert bedeutet das etwa: Nimm aus der Tabelle »memento« (alle im Film vorhandenen Szenen), die Szenen, deren Eigenschaft »color« den Wert 0 (bzw. 1) haben, und ordne diese nach dem Wert der Eigenschaft »nolans_cut« (die von Christopher Nolan vorgegebene Schnittfolge) in aufsteigender Folge (für die erste query) bzw. in absteigender Folge (für die zweite query).
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lisierung der Daten (hier der Filmszenen) die Rekontextualisierung – bzw., weil das eben (sowohl bei der Gedächtnisproblematik des Protagonisten und ebenso bei der durch den Schnitt provozierten Gedächtnisproblematik des Rezipienten) nicht sicher gegeben ist: Kontextualisierung – direkt abhängig ist von der Reihenfolge und gegebenenfalls Auswahl, d.h. von der an die Database gestellten queries. Der Rezipient wähnt den überwiegenden Teil des Films Leonhard Shelby als Opfer der Geschichte. Bei veränderter Database-Query, deren Konstruktionsprinzip erst in der letzten Filmszene wirklich klar wird, entpuppt er sich hingegen als wahnhafter Mörder, der sich selbst immer wieder – aus welchen pathologischen oder nicht-pathologischen Gründen auch immer – Geschichten einredet, die zwingend Motive für Morde an (aus anderer Perspektive) unschuldigen Opfern nach sich ziehen. Das vermeintliche Puzzle wird zur Collage, die gänzlich anderen Konstruktionsprinzipien unterliegt – vor allem nicht nur genau eine einzige, richtige Lösung hat. Nolans Experiment, das Database-Prinzip in der – paradoxerweise doch, formal wenigstens, linearen – Erzählung eines Films vorzuführen, brachte mich auf die Idee, dieses Verfahren auf die Produktion eines wissenschaftlichen – formal ebenso linearen – Texts anzuwenden. Ich frage mich, ob dadurch der »Zustand« meines Schreibtischs temporär in die Form einer symbolischen Ordnung, in die Form von Wissen zu transformieren wäre, ob mein Wähnen in eine allgemein, intersubjektiv verständliche Form gebracht werden könnte. Dabei müsste klar gemacht werden, dass es selbstverständlich – darum geht es ja gerade – prinzipiell ebenso eine andere Form hätte gewesen sein können. Aber nicht irgendeine, es müsste eine insofern bestimmte Form sein, als sie explizit zeigen müsste, dass sie auch eine andere hätte sein können. Darum würde es mir gehen: die Formlosigkeit der Database in Form bringen. Die Database ist amorph, sie hat keine Form, kann aber in alle möglichen Formen gebracht werden. Sie ist ein Potential an Formen. Deshalb kann eine Database »an sich«, d.h. ohne konkret formulierte query, keine Geschichte sein, keine Erzählung und keine Historie. Auch nicht im Sinne eines wissenschaftlichen Argumentationsganges – jedenfalls nicht nach dem seit der Neuzeit virulenten Paradigma des selbst-vernünftigen Wissenschaftlersubjekts. Es liegt geradezu im Wesen der Database, keine Geschichte zu sein. Eine Database hat keinen Anfang und kein Ende. Sie hat kein Thema, keine »story«, erst recht keine »Moral«, keine Reihenfolge – weder eine definierte Folge der Daten oder durch diese rep-
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Wahn(-) und Wissensmanagement
räsentierten Objekte, noch der Wörter oder der Sätze, mit denen die Objekte oder Daten zur Darstellung kommen könnten usw.: Alles, was eine Geschichte ausmacht – als Erzählung oder Historie – fehlt. Alles, was als Werk des Autors bezeichnet werden kann, fehlt. Der Autor fehlt, in seiner Funktion des Komplexitätsreduzierers. Und damit fehlt folglich auch der Standpunkt des Autors und deshalb schlägt hier dann auch das Prinzip der Zentralperspektive, als Vereinbarung eines gemeinsamen Standpunktes von Maler und Betrachter oder Autor und Leser, fehl. Würde es mir, als Autor (der gewissermaßen vorgibt, keiner zu sein) dennoch gelingen, den »Zustand« meines Schreibtischs als Text, als formal lineare Erzählung temporär in eine Form zu bringen, die als Wissen kommuniziert werden kann oder überhaupt kommuniziert werden kann, also nicht als Wahn abgetan werden kann? Würde es mit der Übertragung der Schnitttechnik Christopher Nolans (und dieser merkwürdigen Art mimetischer Identifikation des Rezipienten mit dem Problem des Hauptakteurs, hier also des Autors) auf einen Wissen schaffenden Text gelungen sein, Wissen zu schaffen? Wird es mir gelungen sein, mein Wähnen so zu formulieren, dass es Wissen gewesen sein wird? Eine Prozessform von Wissen wenigstens?
Abspann [ORDER BY literatur.author_name ASC] Billmayer, Franz: »… Veränderungen, Übergänge, Umbrüche …«. Überlegungen zur Documenta11 in Kassel, in: BDK-Mitteilungen, Nr. 4 (2002), S.14-15. Cassirer, Ernst: Philosophie der Symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache [1924], Darmstadt 1988. Derrida, Jacques: Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und jenseits. 1. Lieferung: Envois/Sendungen, Berlin 1989. Derrida, Jacques: Die unbedingte Universität, Frankfurt/M. 2001. Derrida, Jacques: »Widerstände«, in: Ders., Vergessen wir nicht – die Psychoanalyse! Frankfurt/M. 1998, S.128-178. Descartes, René: Untersuchungen über die Grundlagen der Philosophie, 28 ff. Digitale Bibliothek Band 2: Philosophie, 15794 (vgl. Descartes-PW Abt. 2.) Ernst, Wolfgang: Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung, Berlin 2002. http://emagazine.credit-suisse.com/article/index.cfm?fuseaction=OpenArticle&aoid=12785 &lang=de vom 30.4.2004. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt/M. 1997. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt/M. 1997. Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt/M. 1973.
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Torsten Meyer Giesecke, Michael: »Der Verlust der zentralen Perspektive und die Renaissance der Multimedialität«, in: Kemp, W. et al. (Hg.), Vorträge aus dem Warburg-Haus, Berlin 1998, S 85-116. Johnson, Steven: Interface Culture. Wie neue Technologien Kreativität und Kommunikation verändern, Stuttgart 1999. Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? [1783], in: Zehbe, Jürgen (Hg.), Was ist Aufklärung? Aufsätze zu Geschichte und Philosophie, Göttingen 1994 (Kleine Vandenhoeck Reihe Bd. 1258), S.55-61. Litz, Christian:» Ein Gefühl, das du auf der Erde nie haben wirst. Warum der Astronaut Ulrich Walter jedem empfehlen würde, einen Kurztrip ins All zu buchen«, in: http://www.brandeins.de/magazin/archiv/1999/ausgabe_02/leitbilder/artikel1.html vom 8.9.2002. Manovich, Lev: Database as a Symbolic Form, in: http://www.manovich.net/docs/database.rtf vom 31.5.2002. Vgl. auch: Ders.: The Language of New Media, Cambridge/London 2001. Nolan, Christopher: Drehbuch Memento, in: http://www.christophernolan.net/files/memento-script.pdf vom 25.4.2004 (for educatioal purpose only). Panofsky, Erwin: Die Perspektive als »symbolische Form«, Berlin 1927. Pazzini, Karl-Josef: »Documenta11 – Inszenierung von psychotischer Struktur?«, Vortrag zum Kongress »Produktionen (in) der Psychose« der Assoziation für die Freudsche Psychoanalyse, Burghölzli 21.9.2002, unveröffentlichtes Manuskript, Universität Hamburg 2002. Pazzini, Karl-Josef: Bilder und Bildung. Vom Bild zum Abbild bis zum Wiederauftauchen der Bilder, Münster 1992. Schmeiser, Leonhard: Die Erfindung der Zentralperspektive und die Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft, München 2002. Steinberg, Steve G.: »Seek and ye shall find (Maybe)«, in: Wired, Nr. 4.05 (1996) S.108114, S.174-182.
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Institution und Wahn
Gottfried Fliedl
Do not cross ... Museum, Fiktion, Wahn Eine Skizze
Ehrwürdige Mineralien lagen in ihren offenen Gräbern aus staubigem Pappmaché; die Photographie eines verwunderten spitzbärtigen Herrn wachte über einer Sammlung verschieden großer, seltsamer schwarzer Klumpen. Sie hatten Ähnlichkeit mit gefrorenem Larvenkot, und ich blieb unwillkürlich vor ihnen stehen, denn es wollte mir nicht gelingen, ihre Natur, Zusammensetzung und Bestimmung zu erraten. Der Pedell war mir mit filzgedämpften Schritten nachgegangen, immer in respektvollem Abstand; jetzt jedoch kam er heran, eine Hand auf dem Rücken, den Geist der anderen in der Tasche, nach seinem Adamsapfel zu urteilen, mußte er schlucken. »Was ist das?« fragte ich. »Die Wissenschaft hat es bislang noch nicht geklärt«, erwiderte er; ohne Zweifel hatte er den Satz auswendig gelernt. Im gleichen gekünstelten Ton fuhr er fort: »Sie wurden 1895 von dem Stadtrat und Ritter der Ehrenlegion Louis Pradier aufgefunden«, und sein zitternder Finger wies auf die Photographie. »Schön und gut«, sagte ich, »aber wer hat entschieden, und warum, daß sie einen Platz im Museum verdienen?« »Und jetzt darf ich Ihre Aufmerksamkeit auf diesen Schädel lenken!« rief der Alte energisch: offenbar wünschte er das Thema zu wechseln. »Ich würde wenigstens gern wissen, woraus sie bestehen«, unterbrach ich ihn. »Die Wissenschaft…,« begann er von vorn, hielt dann aber inne und betrachtete mürrisch seine Finger, die sich an dem Staub auf dem Glas schmutzig gemacht hatten.1
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Gottfried Fliedl
1 Das Museum wird konventionellerweise mit methodisch kontrolliertem Wissen, dessen Produktion, Darstellung und Vermittlung in Verbindung gebracht und legitimiert. Wenn wir vom Museum als Bildungsinstitution sprechen, meinen wir genau das, wenngleich offen bleibt, welche gesellschaftliche Funktion dieses spezifische ›museale Bildungswissen‹ eigentlich hat. Selbst das Ausstellungswesen, bei dem so offenkundig seine ›unterhaltenden‹ und ›zerstreuenden‹ Aspekte eine große Rolle spielen, muss das Populäre an ihm immer mit einer gewissen wissenschaftlichen Glaubwürdigkeit in Balance halten.2 Museen (Ausstellungen als das ältere Medium und Sammlungen) hängen in der Tat geschichtlich mit der Ausdifferenzierung von Wissenschaft und Wissensdisziplinen eng zusammen, und Museums- und Sammlungsgeschichte einerseits und Wissenschaftsgeschichte andrerseits konvergieren immer wieder. Dennoch liegt in der einseitigen Bevorzugung dieses einen Strukturmerkmals ein (Selbst-)Missverständnis des Museums. Dieses wird gestützt durch eine dem Museum eigentümlichen Autorität und Wahrheitspflichtigkeit, die in der Gegenstandskonkretheit der gesammelten Dinge vermeintlich garantiert und in einer mit Begriffen wie Authentizität und Originalität beschriebenen Erfahrungsmöglichkeit vermittelt werden. Das Insistieren auf dieser ›Gegenstandskonkretheit‹ verstellt vielleicht den Blick darauf, dass auch die physische Präsenz eines Dings in einer eigentümlichen Dialektik von Ferne und Nähe – dies wird oft als Kern des musealen Exponierens genannt – ›Agentur‹ einer Fiktionalisierungsmöglichkeit sein könnte, wie sie Christina von Braun für das Kino beschrieben hat: Wenn sich das Subjekt im Kino beliebig mit der Ohnmacht identifizieren kann, so doch nur deshalb, weil es diese Erfahrung nicht als reale Gefährdung, sondern als Fiktion wahrnimmt. Das heißt die Berührung mit der Angst und die Erfahrung der eigenen Sterblichkeit gehen mit der beruhigenden Gewißheit einher, daß »das alles gar nicht wahr ist« […] Der Mensch der modernen Medien kann sich im Kino – und erst recht in den seine Wahrnehmung noch tiefer einschließenden Welten des cyberspace – als Opfer oder als Täter, als »untergehend« oder als »auferstehend« phantasmieren: Die Tatsache, daß es sich um ein »Medium« handelt, erlaubt es ihm, solche Gefühle ohne Schuld und ohne tiefgehende Bedrohung zu erfahren: Die eigene Verletz-
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Do not cross …
lichkeit (und die der anderen) werden zu einem Nervenkitzel, zu einer lustvollen »Selbstentzweiung«.3
Beim Museum geht es um ähnliche, körperlich derart nahe gehende Erfahrungen, beim anatomischen Präparat, wie in der umstrittenen Körperwelten-Ausstellung ebenso wie beim archäologischen Fund menschlicher Überreste. Doch mag die Wirkung im Vergleich zum Film indirekter und gleichsam subkutaner oder auch vermittelter sein: die Einschreibung von Exponaten in den – prinzipiell unbestimmten musealen Zeithorizont – erinnert Un/Sterblichkeit. Und das Fiktionale des Mediums schützt vor der und ermöglicht diese ›Kipperfahrung‹. Dass das Museum trotz allem in den Debatten um die Wissensgesellschaft nicht als einer ihrer Schauplätze prominent Einzug gehalten hat, deutet auf eine Unsicherheit in der Wahrnehmung und Beurteilung der Institution hin, die hier interessiert. Das Museum war eben nie und ist nicht allein auf ein praktisches und verwertbares Wissen allein hin zu verpflichten, schon gar nicht einem im ökonomischen Sinn verwertbaren (auch wenn es gegenwärtig Tendenzen gibt, es wenigstens auf organisatorischer Ebene in dieser Hinsicht zu transformieren). So könnte man die Vermutung riskieren, dass die unbestrittene und noch immer wachsende Bedeutung des Museums (›Museumsboom‹), ein Indiz für die Notwendigkeit eines Ortes eines ›anderen Wissens‹ ist. Kulturgeschichtlich tief mit Praktiken religiös-kultischer und profaner Schaustellung, mit Ahnen-, Toten- und Reliquienkult, mit Schatzbildung und unterschiedlichsten religiösen und profanen, individuellen wie kollektiven Sammelpraktiken, mit Schau- und Ausstellungsweisen unterschiedlichster Funktion und Bedeutung, mit Markt und Warentausch verwoben, amalgamiert das Museum in hoch differenzierter Weise und vielfältiger typologischer Ausprägung bis heute alle diese unterschiedlichen Aspekte. Das Museum ist insofern eine ›hybride Institution‹4 als es nicht nur – und vielleicht nicht einmal in erster Linie – Wissen und Wissenserwerb organisiert, sondern vielfältige Erfahrungsmöglichkeiten, Anlässe der Selbstauslegung, Symbolisierungen, die weder den Beteiligten, also weder dem Publikum, noch ›dem Museum‹ (seinen MitarbeiterInnen und Zuarbeitern) bewusst sein und daher nicht Gegenstand bewusster und reflektierter Gestaltung und Nutzung sein muss. Vielleicht könnte man sagen, das Museum ist ein geschützter Raum, in dem Fragen gestellt werden können wie: »Wer bin ich?«, »Woher komme ich?«, »Was habe ich zu hoffen?« – und das auf sowohl individueller 251
Gottfried Fliedl
wie kollektiver Ebene; es bedient sich dabei eines Mediums, ›Exponat‹ – das als Sammelbegriff für sehr unterschiedliche Medien in höchst unterschiedlichen Aggregatzuständen dient. Vielleicht ist keine andere Institution in dieser Hinsicht – was seine zusammengesetzte Medialität betrifft – so ›plastisch‹ wie das Museum. Alles scheint hier denkbar und alles wurde schon ausprobiert: Performance, Essen, Film, theatralische Elemente stecken ohnehin drin (wie im Begriff der Inszenierung oder Ausstellungsregie deutlich wird), Bilder im weitesten Sinn sowieso, Sprache und Schrift, Gegenstände aller erdenklicher Art, Lebendiges und Totes…). Mit dieser dem Museum essentiellen Hybridität und der – weidlich fiktionierten – Eigenschaft der Originalität/Authentizität, verleiht das Museum seinen Antworten auf die an es gerichtete Fragen eine besondere Struktur. Indem es mit Sprache und Dingen zugleich zu tun hat, gewährleistet es eine »Einheit eines Universums […], das sich stets aufteilt in die Welt der Rede und des Blicks, des Unsichtbaren und des Sichtbaren, des Lebendigen und des Toten.«5
2 Der Bruch in der Geschichte des Sammelwesens, der zur Ausbildung desjenigen ›Modells‹ führt, für das wir heute den Begriff Museum reservieren, fällt wohl nicht zufällig mit Aufklärung und Säkularisierung zusammen. Was sich in der Zeit von – grob gesprochen – zwischen 1770 und 1830 entwickelt, ist ein Ort, der innerhalb der neuzeitlichen Rationalisierung und sich über sich selbst verständigenden Aufklärung wie eine Leerstelle offen gehalten wird für einen nie endenden Diskurs, in dem das ›andere der Vernunft‹ einen Platz behält. Auch hier gilt, dass der Schlaf der Vernunft Monstren wach hält; Monstren, die ihre Spuren bis in die Etymologie legen, als mostra in der Genealogie des Ausstellens, als Musen, die als ursprünglich ungebändigte weibliche Natur- und Rachemächte (freilich dann erst als Besänftigte) in die Genealogie des Museums hineinspuken. Im Augenblick des Schwindens von religiösen wie profanen Glaubensgewissheiten und der von ihnen gestützten Herrschaftsstrukturen (die zeitliche Engführung zwischen der Hinrichtung des Königs in der Französischen Revolution einerseits und der ›Erfindung‹ des Patrimoine und der Errichtung von Museen andrerseits ist das wohl illustrativste Beispiel dafür) tritt zwar das Museum substitutiv als eine die kollektive 252
Do not cross …
Identität (Nationalmuseum) stützende und generierende Instanz auf, nimmt aber dabei – etwa in Architektur oder Funktionalisierung von Exponaten – die älteren Mechanismen der Vergewisserung gleichsam in sich hinein. Dass beispielsweise museale Exponate die Funktion und Anmutungsqualität von Reliquien haben, ist oft beobachtet worden und vielleicht ist die Reliquie in dem hier diskutierten Zusammenhang das symptomatische museale Objekt schlechthin. Nämlich weil es die Doppeldeutigkeit der Institution, ihr Schwanken zwischen einem begründbaren (und anschaulichen) Wissen und einem magischen, unter Irrationalismusverdacht stehenden Glauben buchstäblich verkörpert. Die Unmöglichkeit einer scharfen Grenzziehung zwischen den unterschiedlichen Sphären kehrt im Museum und beim Ausstellungsmachen als z. B. ›didaktische‹ Frage wieder, als Unmöglichkeit, die Produktion und Kommunikation von ›Sinn‹ methodisch unter Kontrolle zu bekommen. Was an der Diskrepanz von intentional unterlegter Aussage und immer ›abweichendem‹ und ›überschießendem‹ Auffassen durch den Besucher/Betrachter sich gegen jede rationalisierende Bearbeitung und Kontrolle entzieht, was Ausstellungsmachern an der unausweichlichen Beliebigkeit des ›Bedeutens‹ durch Besucher und Rezipienten als praktische Herausforderung so beunruhigend erscheint, deutet möglicherweise auf die fortdauernde Besonderheit des Museums hin: dass es ein Schauplatz und Verhandlungsort von Ungewissheit ist. Diese in der Praxis ›übersehenen‹ Strukturmerkmale prägen dennoch oder gerade wegen ihres vorbewussten Charakters das Museum und sie sind in ihrer Ambivalenz überwiegend auch nicht Gegenstand der Museumsforschung, sondern ragen allenfalls als die rationalen und empirischen Analysen ›störenden‹ Symptome in die Theoriebildung. Im Museum selbst wird die Grenze zwischen dem Diesseits des rationalen institutionellen Anspruchs und dem Jenseits des durch ihn ›Übersehenen‹ gelegentlich merkbar an Tabus, wie dem Berührungsverbot6 oder dem Tauschverbot, an Geboten, Anweisungen, Sicherheitsvorkehrungen, einem Leitsystem, der Tätigkeit der Aufseher (die in ihrer Ambiguität zwischen Tabuhütern und Tabuverletzern zu literarischen Ehren – etwa bei Thomas Bernhard oder Javier Marías – gekommen sind), an didaktischer Formierung. Ritualisierungen, die durch ein internalisiertes Besuchsverhalten oder die Architektur oder etwa die Disposition von Objekten und dem ›Gestell‹ des ›Zu-Sehen-Gebens‹ gestützt werden, tragen dazu bei, die Fiktivität der Institution nicht wahrzunehmen.7
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Grenzziehungen, wie das do not cross… als imaginäre Schranke vor einem Ausstellungsobjekt, verdecken die Ambiguität des Museums und machen sie zugleich sichtbar, sind aber auch durchlässig gegenüber Verletzungen und Übertretungen, oder sind zur Überschreitung von Tabus geradezu einladend angelegt. Äußere Grenzziehungen, wie z.B. gewisse architektonische Maßnahmen aber auch die bloße städtebauliche Situierung, können in einer Art inszenierter Liminalität das Museum als Ganzes von seiner ›Umwelt‹ abgrenzen und besondern.
3 Seit der Französischen Revolution bzw. der Aufklärung sind Museen Orte, an denen (nationale/kollektive) Zugehörigkeit, Gemeinschaft hergestellt und gleichsam visualisiert werden sollen. Weit mehr als um Sachwissen geht es um Identitätswissen, das als aus dem gemeinsamen kulturellen Besitz reproduzierbar gedacht wird.8 Das Museum scheint heute mehr denn je in dieser Tradition eine für die Konstitution von imagined communities geeignete Institution zu sein (das klassische Nationalmuseum boomt; viele und unterschiedlich definierte – gerade marginalisierte – Gruppen nutzen das Museum zur Selbstrepräsentation und wähnen sich im Museum in die offiziellen Hinsichten der kanonisierten Kultur integriert). Doch das Museum kann diese Identität nur fingieren. Auf Ein- und Ausschluss beruhende Repräsentation als Grundlage von Identifizierungsprozessen – wie sie etwa Grundlage nationaler (aber aller identitätsbedeutsamer, auf höchst unterschiedliche Gruppeninteressen bezogene) Museumsstrategien sind – enthält sie immer (gleichsam subkutane, unter den rationalen Schichten einer in der Ausstellung visualisierten ›gemeinsamen Geschichte/Erzählung‹) ›übersehene‹ Elemente: etwa strukturelle Elemente des Opfers oder des Ahnenkultes, der Gewalt und Hegemonie, der Schuld und des Traumas. Rituale und Inszenierungen im Museum bannen und offerieren zugleich daraus entspringende Erfahrungen von Angst, Ungewissheit und Fremdheit. Dabei geraten die gewaltförmigen, fiktionalen oder tendenziell wahnhaften Anteile selbst dann aus dem Blick, wenn diese in der Ikonographie des Museums, seiner Architektur und Ausstattung, im Display der Objekte oder in der vom Museum ›inszenierten‹ Ritualisierung der Besichtigung gleichsam ›wiederkehren‹.9 Sie tauchen allenfalls in einer popularisierenden oder trivialisierenden Bearbeitung und Sichtweise auf, 254
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wie z.B. in der Figur des ›besessenen Sammlers‹ (dessen Sublimierung misslingt und ihn bereit macht, für ein begehrtes Objekt ein Verbrechen zu begehen) oder des ›sühnenden Objekts‹ (man denke an den hartnäckigen Trivialmythos des sich gegen die Entdecker des Grabes Tut Ench Amuns wendenden ›Fluches‹ der Mumie). Extreme Fälle (wie der des Prager Jüdischen Museums in der NS-Zeit, wo die Vernichtung von Menschen, einschließlich fast aller MitarbeiterInnen des Museums, zur Bedingung der Erinnerbarkeit der und des Vernichteten durch das Museum wird)10 zeigen aber, dass diese die Gewaltförmigkeit von Identitätsprojektionen rationalisierenden Strukturen zusammenbrechen und in eine negative Utopie des Museums umschlagen können.
4 Gerade aber in der beschriebenen Ambiguität des Museums liegt, so unterstelle und frage ich, seine sozialisierende Funktion. Das Museum ist – weit mehr als man gemeinhin annehmen und zugeben möchte – ein Ort, an dem die Diskurse der Macht, der Identität, des Fremden und Anderen, des Geschlechts, der (Selbst-)Repräsentation von Gesellschaften, Gruppen wie Individuen (an-)schaubar, verhandelbar und (an-)sprechbar gehalten werden. Die andeutungsweise beschriebenen civilising rituals,11 die den Umgang mit Museen kennzeichnen, stützen die Aufgabe des Museums, als »Organisation« nicht nur »Schutz vor dem Wahn« zu bieten, sondern dem Wahn durch Begrenzung Schutz zu gewähren.12 Das auffallende Phänomen der Künstler- und Autorenmuseen, bzw. der zunehmenden Integration künstlerischer Arbeiten und Intervention im Museum – bis hin zum von Künstlern selbst gestalteten Museum –, ist nicht nur ein Versuch, historisch gewachsene Strukturen musealer Ordnung und Repräsentanz durch individuelle und idiosynkratische Zugriffe aufzuweichen; dies scheint auch ein Indiz dafür zu sein, die Kunst (der Moderne) als »Reaktionsform auf die Ausgrenzung des Wahns«13 ins Museum so zu integrieren, dass sich das Museum als Ort des ›intelligenten Grenzverkehrs‹ zwischen Wissen und Wahn neu zu organisieren vermag. Nicht der Rückgriff auf gemeinsam geteiltes, in den Gegenständen, den common objects einer Ausstellung repräsentierten Sach- und IdentitätsWissen, sondern die vorgeführte und fortgeführte Unmöglichkeit, auf diesem rationalisierenden Weg, Identität oder Wissen (als etwas Festste255
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hendes und Feststellbares) herzustellen,14 machen möglicherweise einen ›Sinn‹ des Museums aus und eine Chance, es weiterzuentwickeln. In dieser Hinsicht ist die Analyse der Institution auch ein Stück praktischer Kritik an ihrer partiell undurchschauten vermeintlichen Effektivität als Ort der Herstellung und Vermittlung von Wissen und Gewissheit. Die Gespaltenheit der Institution zwischen der Abschließung der Diskurse, ihrer Stillstellung (in der ›gelungenen‹ Ausstellung, in der ›abgeschlossenen‹ Sammlung, in der ›beendeten Forschung‹ etc.) einerseits und ihrer Offenheit, Unabschließbarkeit andrerseits eröffnet zumindest ein Wähnen und – wenn sie zur Gewissheit kippt – ›Wahn‹. Das Museum lebt von Grenzüberschreitungen.
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Nabokov, Vladimir: »Der Museumsbesuch«, in: ders., Gesammelte Werke. Erzählungen 2, hg. von D. Zimmer, Bd. 14, Reinbek 1989, S.197-213, S.199f. Als in die Ausstellung Sieben Hügel (Berlin) eine fiktive, ethnografisches Exponieren imitierende künstlerische Intervention über ein ebenso fiktives und »beschwerdefreudiges« Volk implementiert wurde, führte das zur »Aufdeckung« als »unwissenschaftlich« durch einen eifrigen, investigativen Journalisten und zu einer massiven öffentlichen Debatte und Kritik. Vgl.: Kaube, Jürgen: »Wunderkummer [sic!] des Wissens. Hinter den ›Sieben Hügeln‹ von Berlin: Das beschwerdefreudige Volk der Khuza wird entlarvt«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6.7.2000; Drescher, Bettina: »Im Westen nichts Neues? Themenpark und ›Sieben Hügel‹. Präsentationstechniken im Vergleich«, in: http://www.ulmer-verein.de/drescher.html vom 5.10.2004. Braun, Christina von: »Kollektives Gedächtnis und individuelle Erinnerung. Selbstund Fremdbilder unter der Einwirkung von Photographie und Film«, in: Kunstforum, Nr.128 (1994), S.162. Zum Museum als ›hybride Institution‹ und zur Herkunft und Gebrauchsweise des Begriffs der Hybridität in den Kulturwissenschaften vgl. Offe, Sabine: Ausstellungen, Einstellungen, Entstellungen. Jüdische Museen in Deutschland und Österreich, Berlin/Wien 2000, S.39ff., insbes. S.43f. und Anm.59. Ruhs, August: »Sublime Gier. Beitrag zu einer Psychoanalyse des Sammelns«, in: Pazzini, K.-J. (Hg.), Museum & Psychoanalyse, unveröffentlichter Reader der Internationalen Fachtagung im Museum für Hamburgische Geschichte (27.-29.9.1966). An dieser Stelle seien einige Gedanken zum Berührungsverbot zusammengefasst, die Bernard Deloche im Abschnitt L’Obsession du Sacré entwickelt: Kunstwerke, Museumsgüter generell, Sammlung von Dingen (gleichgültig ob sie deponiert oder exponiert werden) sind im Museum als etwas präsent, »das man besitzt, aber wovon man sich verbietet, es zu berühren, etwas, das ihnen [den Besuchern] einen Genuß verschafft, aber ganz symbolisch und abgeleitet.« »Die Kunst wurde also durch das Museum auf die Ebene einer geheiligten Sache gehoben, die aufhörte, ein Medium des Kultes zu sein, um selbst ein Objekt des Kultes zu werden […]« Das Berührungstabu konstituiert eine bestimmte Weise des Umgangs, aber mehr noch, es konstituiert einen bestimmten
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Status des Objekts als musealem, als Exponat: »Im Museum ist das Heiligsein der Kunst ihre Isolierung, ihre Zurschaustellung, ihr Schutz in Vitrinen, kurz die Distanz um ihrer selbst willen, die Schaffung eines hieratischen und mythischen Raumes.« Das Berührungsverbot erzeugt und sichert eine spezifische Begehrensbeziehung. Die »Konsumation«, die »Realisierung des Begehrens«, wird unterbunden, damit das Begehren aufrecht bleibt. Um das zu ermöglichen, ist eine museale Struktur – die Heiligung und das Tabuisieren – notwendig und zwanghaft: »Ohne weiteres manifestiert sich der Zwang durch das Verbot: Die Objekte sind da, aber unberührbar und unzugänglich, das Verhalten des Besuchers ist strikt kontrolliert und kanalisiert. Das Benehmen, die Geste (nicht berühren!), die Stimme, selbst der Blick sind dirigiert. Der Wächter überwacht wildwütig seine Schätze, und jeder Besucher ist unter Verdacht, schuldig zu sein. Schuldig, sich zu sehr […] schon genähert zu haben, schuldig, eine kaum begonnene Geste noch nicht unterlassen zu haben, schuldig, einfach fähig zu sein, ein Verbot zu übertreten!« »Und gerade das, was das Museum verbietet, betrifft die symbolische Inbesitznahme, selbst verurteilt es den Besucher, auf Distanz zu bleiben, und verwandelt ihn in einen Voyeur durch die Vermittlung der Institution. So versteht man besser diese merkwürdige und zermürbende Schuldigkeit, die mehrmals bei Valéry vorkommt […] Der Besucher wird schon für fehlerhaft erklärt, bevor er überhaupt das Museum betritt, man ruft in ihm ein Gefühl des Respekts und der Fehlerhaftigkeit hervor […] Er betritt demnach das Museum aus keinem anderen Grund als einer ganz und gar symbolischen Befriedigung und wird streng unterdrückt. Das Museum ist die Schule der Repression […]« (Vgl. Deloche, Bernard: »Museologica. Contradictions et logique du Musée«, in: ders., Museologica, Macon 1989, S.31-69.) In einer Führung durch das Naturhistorische Museum in Wien beteuert unsere Führerin mehrmals »Das ist alles echt« – während wir ständig an Fischleibern und Säugetierpräparaten vorbeidefilieren, denen Mull, Stroh oder andere Präparierungsreste aus allen Nähten dringen und so auf hilflose Weise ihr Artifizielles sichtbar wird. Zum Museum als einem privilegierten Ort, an dem ›Ursprung‹ thematisiert wird und seine Lust am Untergegangenen, Ausgestorbenen, etwa den Sauriern als ›Leitfossil‹ der Museumskultur oder erst recht den ›Mumien‹, die als Nach- und Überlebenssicherungsmedien im Museum auf extrem paradoxe Weise um ihr Phantasmatisches gebracht werden, indem es museal reinszeniert und aufrechterhalten wird, vgl. Heinrich, Klaus: Floß der Medusa, Basel/Frankfurt/M. 1995, S.77ff. Für museale Erzählweisen, die das leisten, hat Sabine Offe den Begriff des »narrativen Fetischismus« von Eric Santner adaptiert. Sie versteht darunter museumsspezifische Erzählweisen, die nicht notwendigerweise auf Verdrängen und Vergessenmachen aus sind, die aber erreichen sollen, mit Erinnerung einhergehende Gefühle von Angst oder Trauer zu vermeiden. (Vgl. Offe, Sabine: Ausstellungen, Einstellungen, Entstellungen. Jüdische Museen in Deutschland und Österreich, Berlin/Wien 2000.) Dem Unbewussten dieser Erzählweisen korrespondiert auf der Rezeptionsseite die Verdrängung der sozialen Grundlagen des Blicks auf die kulturellen Artefakte (Pierre Bourdieu), auf der materiellen Seite der Sammlung die Verdrängung der lebendigen Arbeit durch ihre Ausstellung als tote: »Der Sammler [wir dürfen hier ruhig auch an das Museum als Sammler denken] entdeckt, erwirbt, errettet Objekte. Die objektive Welt ist gegeben, nicht hergestellt, und darum verbleiben vergangene, mit dem Vorgang des Erwerbs verbundene Machtbeziehungen verborgen. Die Herstellung von Bedeutung in der musealen Klassifizierung und Präsentation wird als adäquate Repräsentation mystifiziert. Zeit und Ordnung der Sammlung löschen die konkrete gesellschaftliche Arbeit ihrer Erzeugung aus.« (Clifford, James: »Sich selbst sammeln«, in: Korff, G./Roth, M. [Hg.], Das historische Museum, Frankfurt/M./New York 1990, S.91.) »Aborigines für Europas Museen ermordet«, lautete die spekulative Schlagzeile einer Tageszeitung im Jahr 1998: »Im vergangenen Jahrhundert sind Aborigines, australische Ureinwohner, auch ermordet worden, um in den Vitrinen von Sammlern in Europa zu landen. Einige Aborigines seien regelrecht auf Bestellung erschossen worden, so der Chef einer Forschungsstätte für Aborigines, Leo Malezer, in Brisbane. Die sterblichen Überreste seien an Museen und private Sammler verkauft worden. Der Archäologe Lyndon Ormond-Parker schätzt die Zahl der ›gesammelten Körper‹ auf 3000 bis 6000. Auch im Wiener Naturhistorischen Museum befinden sich die sterblichen Über-
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reste von 15 Aborigines, die Ende des vorigen Jahrhunderts von Sammlern gespendet oder auch angekauft wurden. Unter den Ausstellungsobjekten befand sich auch der Kopf eines Tasmaniers, den die Tasmanier zurückhaben wollen, um ihn nach ihren Riten bestatten zu können. Die Verhandlungen über eine Rückgabe sind noch im Gange. Dieser Kopf stammt aus dem Museum der tasmanischen Hauptstadt Hobart und war einem Fregattenkapitän als Geschenk für das Naturhistorische Museum in Wien übergeben worden. Das Londoner ›Natural History Museum‹ hat nach eigenen Angaben mehr als 160 sterbliche Überreste von Aborigines in seinem Fundus.« (Pistor, Gerhart: »Aborigines für Europas Museen ermordet«, in: Kurier vom 18.3.1998.) Duncan, Carol: Civilizing Rituals. Inside Public Art Museums, London 1995. Vgl. Pazzini, Karl-Josef/Schuller, Marianne/Wimmer, Michael: Wahn, Wissen, Institution, unveröffentlichtes Exposé, Hamburg 2003. Ebd. Bei Wolfgang Pircher heißt es: »Und Objekt des Gedächtnisses an sich ist alles, was Objekt der Phantasie ist, mitfolgend aber alles, was nicht ohne die Phantasie auftritt oder vorgestellt wird (Aristoteles). […] D. h., das erinnernde Gedächtnis kann täuschen (Gedenken, Eingedenken gibt es auch ohne Erinnerung), als Täuschung der Sinne und Erinnerung an etwas, was so nicht oder gar nicht war. Daher eine Unterscheidung in ein denkendes Gedächtnis und ein technisches Gedächtnis (Derrida). Das denkende Gedächtnis wird aber zerstört, wenn es der Schrift verfällt, der Verschriftlichung, in ihr verstummt, stirbt Liebe, Eros, denn sie, die Schrift, gibt nicht das wirkliche Begehren wieder, nicht die lebendige Beziehung zum anderen. Die Schrift ist technisches Gedächtnis, doch sie kann lebendiges, denkendes Gedächtnis anlocken und verführen, etwa im Raum des Museums. In diesem Sinn ist das Museum Schrift. Und in eben diesem Sinn hat das Museum mit dem Tod zu tun.« (Pircher, Wolfgang: »Museum, ein Raum in der Zeit. Das Museum als technisches Gedächtnis, wo die Nation ihren Ruhm und ihre Ehre verschrieben weiß«, in: Falter, Nr.19 [1989], S.11.)
Jann Schlimme
»Wahnsinnig psychiatrisch« Reflexionen über Wahn und Wirklichkeit im »psychiatrischen Blick«
Wähnen wir nur zu wissen, was Wahn ist? 1 »Ach, Sie sind Psychiater!« Der Schrecken im Auge des Gegenüber verrät mir, dass dem Anderen tief verborgene Geheimnisse seiner selbst schlagartig ins Bewusstsein kommen. Geheimnisse, die er mir auf keinen Fall preisgeben will. Geheimnisse, die ihm nicht in sein Bild von sich selbst Anderen gegenüber passen. Er wird nun misstrauisch und vorsichtig sein. Allerdings, ich bin Psychiater. Und als solcher erlebe ich, dass der Andere unabsichtlich und für ihn unbemerkt das eine oder andere Geheimnis preisgibt, wenn auch nicht konkret inhaltlich, so doch übertragen und im symbolischen Sinne. Es geschieht hier etwas Erstaunliches. Denn es geschieht genau das, was der Andere fürchtet: Er fühlt sich durchschaut. Und doch: kann ich mir des Gesehenen sicher sein? Bin ich privat, schalte ich den Psychiater in mir aus. Dann betrifft mich das Misstrauen anderer, da sie mir nicht zuzutrauen scheinen, dass ich Beruf und privaten Alltag zu trennen vermag. Bin ich im Beruf, muss ich nun intensiv um das Begegnen, um das Miteinander und das Menschliche ringen. Wie aber steht es mit meinen eigenen Geheimnissen? Was ich im Privaten preisgebe, bleibt im Beruflichen normalerweise verborgen. Und so bin ich im Privaten Mensch und muss im Beruflichen stets intensiv um das Menschliche ringen. Dass Letzteres nicht von vornherein erfolglos ist, muss wohl nicht gesondert betont werden.
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Der Mensch im »psychiatrischen Blick« aber wird normalerweise misstrauisch, fürchtet das Offenbarwerden seines Verborgenen und verbirgt aktiv Aspekte seiner selbst. Fürchterlicherweise offenbart der »psychiatrische Blick« tatsächlich genau dieses Verbergen und zerrt so das darin Vor-sich-selbst-Verborgene an die Oberfläche. Das Gefühl des Durchschautwerdens und Durchschauens, die Stimmung des Misstrauens scheint tief im »psychiatrischen Blick« verwurzelt. Offenbar herrscht hier eine paranoide Stimmung. Hier wird nicht die These vertreten, dass sich das psychiatrische Erblicktwerden und das psychiatrische Blicken in der Stimmung des Paranoiden erschöpfen. Bekanntlich sind auch andere Stimmungen wie Vertrauen im psychiatrischen Miteinander möglich. Es soll allerdings die These untersucht werden, ob die paranoide Stimmung nicht ein konstitutives Moment im »psychiatrischen Blick« ist. Ihr kann dann nicht durch Verweigerung, sondern nur durch Anerkennung des paranoiden Moments entsprochen werden. Wie auch im Leben, so gilt für die Psychiatrie: Das Erleben ist die Gabe, die nicht verweigert werden kann. Dieser Henrysche Lehrsatz seiner »radikalen Lebensphänomenologie« verpflichtet die psychiatrisch Tätigen, nach der Struktur der Gegebenheit des konkret Gegebenen zu fragen.2 Damit ist hier gemeint: Wie ist es, psychiatrisch zu blicken und psychiatrisch erblickt zu werden? Der Stimmung des Paranoiden im »psychiatrischen Blick« und der Frage »Wie ist es…?« soll im Folgenden auf zwei Wegen nachgegangen werden. Die zwei Wege ergeben sich aus folgender Überlegung: Ist es nicht erstaunlich, dass es ein psychiatrisches Wissen vom Wahn gibt, welches trotz dieser ursprünglich paranoiden Stimmung des »psychiatrischen Blickens« tagtäglich mit großer Sicherheit wahnhaftes von nichtwahnhaftem Erleben zu unterscheiden vermag? In dieses Erstaunen kommen wir zwanglos, wenn wir uns psychiatrische Lehrbuchdefinitionen des Wahns vor Augen führen, denn in ihnen findet sich ein scheinbar feststehendes Wissen davon, dass sich der Wahn durch seine Unkorrigierbarkeit auszeichnet – was seinerseits »auf den ersten Blick« unkorrigierbar anmutet (s.u.).3 Weiß das psychiatrische Wissen um seine zur Disposition stehende eigene Wahnhaftigkeit? Und wenn nicht: hat dies mit dem »psychiatrischen Blick« zu tun? Denn dieser gilt dem Wissen als vorgelagert – er fördert gewissermaßen das zutage, was im Wissen dann geordnet wird. Die These ist also folgende: Im Geschehen des »psychiatrischen Blickens« wird die ihm eingelagerte paranoide Stimmung ausgeblendet, was wiederum dem Psychiater abseits des »psychi260
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atrischen Blickens« durchaus präsent sein kann – und als Ringen um das Menschliche im Psychiatrischen Ausdruck finden kann. Um die dann dem »psychiatrischen Blick« verborgene paranoide Stimmung zutage zu fördern, ist es sinnvoll, einerseits den historischen Ursprung des »psychiatrischen Blicks« zu befragen. Der andere Weg wendet sich dem Status des psychiatrischen Wissens vom Wahn zu, wie es sich berufsalltäglich im »psychiatrischen Blick« manifestiert. Die Hoffnung des Abschreitens dieser Wege ist, ein Verständnis des »psychiatrischen Blicks« und des psychiatrischen Wissens vom Wahn zu gewinnen, welches nicht mehr vor sich selbst die offenbar eingelagerte Stimmung des Paranoiden und die fragliche Wahnhaftigkeit seines Wissens vom Wahn verbergen muss.
Das psychiatrische Wissen vom Wahn Die Unterscheidung von »Wahn und Wirklichkeit« ist die ursprüngliche psychiatrische Unterscheidung, an welcher entlang sich die Psychiatrie ausgebildet hat. Psychiatrie formierte sich ab 1800 insbesondere an der Behandlung des »Wahnsinnigen«, der hierdurch in durchaus aufklärerischer Manier ebenfalls in den Genuss von Humanitätsfortschritten kommen sollte.4 Wenden wir uns dem Wahnkranken zu, wird deutlich, dass dem Wahnkranken das, was andere als Wahn benennen, Wirklichkeit ist. Wahn muss also zumindest als subjektive Wirklichkeit anerkannt werden, welche allerdings den Status einer »eingebildeten Wirklichkeit« hat. Andererseits, wer sagt uns, dass wir nicht selbst einem Wahn unterliegen, wenn wir beispielsweise im psychiatrischen Wissen eine strenge Unterscheidung von »Wahn und Wirklichkeit« annehmen. Anzumerken wäre hier zudem die Frage, ob diese Annahme im psychiatrischen Alltag nicht auch notwendig ist, um überhaupt psychiatrisch arbeiten zu können? Wesentlich für das psychiatrische Wissen um das Wahnerleben ist vor allem die Unkorrigierbarkeit der für andere Menschen unwahrscheinlichen Überzeugungen. Dieses psychiatrische Wissen vom Wahn wird in der Psychiatrie nicht als Modell oder Wissenskonstruktion verstanden, welches prinzipiell ungewiss oder fallibel ist. Vielmehr dient es im psychiatrischen Diskurs und Alltag als unverrückbare Definition dessen, was als Wahn zu klassifizieren, zu diagnostizieren und zu erkennen ist.
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Es ist die im Alltag unüberprüfte Gewissheit im psychiatrischen Wissen vom Wahn. Dieses ist auch an Lehrbuchdefinitionen abzulesen: Kriterium des Wahns ist weniger das Unwahrscheinliche, Unmögliche oder Unrichtige, sondern die unerschütterliche Überzeugung ohne ausreichende Begründung: Der Patient weiß einfach, dass es so ist und nicht anders, ohne dass er dafür eines Beweises bedarf.5
Dieses Lehrbuchwissen der Psychiatrie geht vor allem auf Karl Jaspers (1883-1969) zurück, der in seiner Allgemeinen Psychopathologie 1913 eben genau dieses Kriterium der Unkorrigierbarkeit als zentral für den Wahn benannte. Dabei entwickelte er aus dem Wissen um die Unkorrigierbarkeit der Überzeugung des Wahnkranken von seinem Wahnerleben die Vorstellung, dass es im Wesentlichen zwei zentrale Verwandlungen des Menschen brauche, um wahnhaft Erleben zu können. Das erste Moment sei das »primäre Wahnerlebnis«, das zweite Moment die »Veränderung der Persönlichkeit«.6 Während sich im primären Wahnerlebnis das Erleben völlig neu zu ordnen scheine – im Sinne des erstaunenden »etwas ist anders – aber was?« –, erfordere die parallele Veränderung der Persönlichkeit gerade das Abweisen dieser Veränderung als eigene. Dieses als »Projektion« verstehbare Externalisieren der als bedrohlich erlebten Veränderung in das Äußere bzw. in die Welt schütze so zugleich vor der Wahrnehmung der innerlichen und zutiefst destabilisierenden Veränderung der eigenen Person.7 »Projektion« – damit haben wir die als zentral im Psychiatrischen gewusste psychische Bewegung des Wahnhaften benannt. Denn die »Projektion« meint genau diejenige Bewegung, durch welche die »Einbildung« so in die Welt des Betreffenden gelangt, dass sie ihm als Wirklichkeit begegnen kann. In dieser Bewegung verliert sie zugleich ihren Status von »Einbildung« für den Betreffenden, da dieser das »Projizierte« unmittelbar im Äußeren beobachten und in den Blick nehmen kann. Obwohl für den Betroffenen in Objekthaftigkeit sichtbar, versteht sich dieses Objekthafte im psychiatrischen Wissen als »scheinbar«, da es ein dem Betroffenen im Innern Unverfügbares und Unsichtbares ist, welches nur ins Äußere verlagert wird. Wahnwirklichkeiten sind so verstanden jene »eingebildeten Wirklichkeiten«, die das Merkmal der Unkorrigierbarkeit aufweisen. Nun erlebt der Mensch auch in »eingebildeten« oder gar wahnhaften Wirklichkeiten sein Erleben z.B. als Verfolgter des CIA als eine auferlegte Gabe, die er nicht verweigern kann. Es scheint jedoch dasjenige aktive Moment bzw. diejenige Kraft zu fehlen, die aus dieser Affektivi262
»Wahnsinnig psychiatrisch«
tät eine aktive Aneignung des »Fundaments« dieser Wirklichkeit motiviert. Vielmehr hat sich der Wahnerlebende unabweislich innerhalb seiner Wahnwelt zu bewegen, zu positionieren und zu verhalten. Das »Fundament« seiner Wirklichkeit entspricht offenbar genau diesem Merkmal der Unkorrigierbarkeit. Insofern begegnet der Wahn eher als ein Verständnis dafür, welches sowohl unkorrigierbar als auch begründend ursächlich klärt, warum man selbst so oder so erlebt. Es unterfängt in diesem Sinne gerade jenes Differenzieren von Innen und Außen, welches jeglicher Konstitution und Unterscheidung von Subjekt und Objekt, von Selbst und Welt vorausgeht. So erscheint der Wahn als das »Wähnen der jenseitigen Bedeutung«, die stets noch »hinter« den Dingen und der Welt und »hinter« einem selbst steht, die darin allesamt zum »Schein« dieses Hintergrunds geworden sind. Zwar ist diese »jenseitige Bedeutung« für den Betroffenen nicht im objekthaften Sinne sichtbar, jedoch im persönlichen Sinnzusammenhang geradezu »augenfällig«. Auch hier – so der Gedanke der »Projektion« – ist ein im Innern Unverfügbares und Unsichtbares so ins Äußere hineinverlagert, dass es für den Betroffenen sichtbar wird. »Projektion« fasst als Begriff demnach zwei Bewegungen des ins Äußere verlagernden Sichtbarwerdens von unsichtbaren Innerlichkeiten: zum einen im objekthaften Sinne des Auges (was insbesondere bei Halluzinationen zuträfe); zum anderen im sinnhaften Sinne des Verstehens (was insbesondere für den Wahn zuträfe). Aber erfolgt im Wahn nicht mehr, als die »Projektion« eines hintergründigen und dann erklärenden Fundaments eigener Wirklichkeit? Beispielsweise wird in der schizophrenen Psychose – zu der oftmals Wahnwirklichkeiten gehören – das Innere des Menschen gar zum »frei besetzbaren Spielfeld« des Äußeren. Hier wird die Intentionalität eigenartig »einseitig« bis hin zum schizophrenen Erleben des »Gemachtwerdens«, in welcher der aktive Charakter vollständig in das Äußere verlagert ist. So besorgen z.B. die akustischen Stimmen – als Halluzinationen verstandene Einbildungen – beim Schizophrenen ihr Gehörtwerden selbst: ich kann mich ihnen nicht verschließen, zuwenden oder abwenden.8 Einzig der Wahn zirkelt eine Begrenzung heraus und ermöglicht so eine begrenzte »Welt«, innerhalb derer sich eine Innerlichkeit zu positionieren und der sie sich zu stellen vermag – auch wenn sie sich, wie in der häufigsten Form des Verfolgungswahns, nur noch flüchtend abzuwenden bemüht ist. Die fundamentale Paradoxalisierung des schizophrenen Erlebens durchdringt aber sogar noch den Wahn, der diesen sowohl in eine passiv-ausgelieferte Ohnmacht als auch zugleich in eine 263
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paranoid-zahnlose Allmacht aufspaltet.9 Diese Innerlichkeit zeichnet sich zum einen dadurch aus, dass eine identifikatorische Beziehung mit dem Äußeren im Sinne eines imaginierten Einsseins erfolgt, zum anderen aber genau dies das Aktivitätszentrum aus dem Erlebniszentrum herauslagert, Affektivität und Kraft gewissermaßen auftrennt. Insofern misslingt den schizophren Erkrankten, so sie entsprechende »IchStörungen« (Beeinflussungserlebnisse, Erlebnisse des Gemachten) aufweisen, keine Subjektivierung und Objektivierung mehr. Dann wird sogar der religiös-ekstatische Wahn zum »Spiegel« der abgründig verschlingenden Unbestimmbarkeit im Innersten des Menschen, der zugleich als letzte Kruste vor dem »Hineinfallen« in diese Dekompositionsstelle schützt. Jedoch kann diese Paradoxalisierung soweit gehen, dass noch nicht einmal mehr ein Wahnerleben möglich ist, welches wiederum einem schwerst fragmentierten Selbst entspricht.10 Im Wahnerleben erlebt sich der Mensch von Innen heraus durch die »jenseitige Gewissheit« aufgestoßen. Zwar ermöglicht der Wahn dem Menschen, sich und seine Welt einigermaßen verständlich zu erleben, jedoch ist seine Selbstwirksamkeit in seiner Wirklichkeit sehr begrenzt – bis er nur noch fliehen kann. Nicht zuletzt verweisen zeitlich flüchtige Wahnerlebnisse z.B. von Borderline-Persönlichkeiten darauf, dass im Wahn auch ein Schutz für das Ich vor weiterer Zersplitterung gewährt wird. Dieser Schutzaspekt wird in der Psychoanalyse – wie z.B. in der Selbstpsychologie – besonders betont, wie bereits an der Kennzeichnung der »Projektion« als »Abwehrmechanismus« deutlich wird. Damit ist aber auch gesagt, dass es sich beim Wahn gar nicht primär um eine »Projektion« einer unsichtbaren Innerlichkeit handeln muss, sondern auch um eine als in sich schlüssig erlebte, aber abseits der wahnhaften Innerlichkeit unbeweisbare Interpretation des Erlebten handeln könnte. Diese schützt eine Innerlichkeit, die sekundär projiziert werden kann. Diesem hier grob referierten psychiatrisch-psychodynamischen Wissen vom Wahn liegt hingegen der »psychiatrische Blick« voraus, in welchem der Wahnerlebende eben gerade als Wahnerlebender erblickt wird. Der eingeübte »psychiatrische Blick« vermag so wirklich eine »eingebildete« wahnhafte von einer nicht-wahnhaften Wirklichkeit zu unterscheiden. Aber liegen wir hier mit unserem »psychiatrischen Blick« nicht auch oft genug ›daneben‹, um uns fragen zu müssen, ob wir uns nicht des Erblickten zu sicher sind?11 Fragen wir uns also nach dem »psychiatrischen Blick«. Legt er nicht, ganz wie im Wahn, den Men-
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schen von Innen heraus schutzlos für das Erblicktwerden durch den Anderen offen?
Einbildung, Schwärmerei, Reizbarkeit und der »ärztliche Blick« Bevor in den deutschen Ländern um 1800 aus der Aufklärung und der Romantik, der bürgerlichen Selbsterfahrung und den medizinischen Verständnisweisen der »psychiatrische Blick« innerhalb der Medizin geboren wurde, hatte die Bewegung der Aufklärung seit der frühen Neuzeit den Boden bereitet. Basierend auf dem Menschenbild der prinzipiellen Unverbundenheit der res cogitans und der res extensa, wie sie René Descartes (1596-1650) formuliert hatte,12 gelang nicht nur ein zunehmendes Aufklären einer nahezu maschinenhaft verstandenen, den erkannten Naturgesetzen folgenden Natur – was insbesondere auch den menschlichen Körper betraf –, sondern auch das Konzentrieren des vernünftig-geistigen in das Ego und entvölkern der Welt von guten und bösen (außermenschlichen) Geistern. Zugehörige unvernünftige Erfahrungen und Verhaltensweisen verlagerten sich in die »innere Natur« des Menschen. Ausdruck fand dies bereits im 16. und 17. Jahrhundert, eine Zeit höchst magischen und abergläubischen Weltverständnisses, welches neben und mit religiös-christlichen und wissenschaftlichen Weltverständnissen existierte. Hingegen konnten Erfahrungen der »Nachtfahrenden« wie z.B. die Nachtfahrt vernünftigerweise durch Augenzeugen nicht bestätigt und geteilt werden; so wurden sie ins Innere der Nachtfahrenden hineingelagert und gewannen dem Traum vergleichbar einen Charakter von ausschließlich innerer Erfahrung.13 Die »Magie« der »Nachtfahrenden« aber wurde deshalb nicht realiter unwirksam, ihre Wirksamkeit verstand sich aber zunehmend als Folge eines Pakts mit dem Teufel und nachfolgend als ketzerisches Abschwören von Gott.14 Ruhte infolge Descartes Unterscheidung von »Geist« und »Natur« die prinzipielle Freiheit und Vernunft des Ego noch im Selbstbesitz desselben – diesem Verständnis entsprach der Objekt abbildende Charakter des Sehens verbunden mit Descartes Annahme der präformierten Ideen der res cogitans –, zeigte sich im Geschehen der Aufklärung diese Freiheit und Vernünftigkeit als Autonomie angesichts der verstandesbedingten Teilhabe des Ego an der Vernunft. Die prinzipielle Möglichkeit 265
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der Freiheit musste nunmehr auch in einer vernunftorientierten Lebensführung stets neu gewonnen und gesichert werden. Denn die Bewegung zur Vernunft zog den Menschen ja mit in diese Bewegung hinein, da diese das Durchdringen von Allem mit Vernunft bedeutete.15 Die eigene Vernünftigkeit und Unabhängigkeit gegenüber der Natur konnte vernünftigerweise nicht im individuellen Stillstand bewahrt werden. Zugleich dedämonisierte und entteufelte die Aufklärung in ihrer Demonstration der Unvernunft eines Geisterglaubens unvernünftige Einbildungen und unvernünftiges Handeln als Ausdruck einer hierin zunehmend als unvernünftig verstandenen »inneren Natur« des Menschen. Diese Verinnerlichung des Unvernünftigen des Menschen entsprach durchaus der bürgerlichen Selbsterfahrung des 18. Jahrhunderts, aus dem eigenen Innern heraus unvernünftig bedrängt zu werden. Doch die Verlagerung der Herkunft der Einbildungen ins Innere des Menschen und deren »Real-Entwirklichung« löste die Einbildungen nicht auf, stellte aber die Frage der Herkunft neu: Woher kamen die unvernünftigen Einbildungen und – aufklärerischer gefragt – welchen Regelmäßigkeiten folgten sie, wenn der Teufel sie nicht mehr schickte? Diese Unsicherheit und Frage verwies auf die innere Widersprochenheit der Person, provozierte und motivierte nicht nur größtmögliche Selbstaufklärung über dieses »Innere«, sondern – wie im Sturm und Drang und der Romantik – auch Kritik an der Einseitigkeit des Vernunftprinzips, da ja nicht nur die »Nachtseite« sondern auch das »Fühlen« dem Menschen unabdingbar zugehörte. Insbesondere Emanuel Swedenborg (16881772), ein berühmter »Geisterseher«, nahm ein dem »Fühlen« zugeordnetes, abseits des sinnesorganischen, von der Vernunft unabhängiges »inneres Sehen« an. Dieses ermögliche dem Einzelnen Zugang zu den tieferen, hinter dem objekthaft Sichtbaren liegenden, im Fühlen sichtbar werdenden Dimensionen der Wirklichkeit.16 In der Aufklärung hingegen galt zunächst mit John Locke (1632-1704) der objekt-abbildende Charakter des Sehens im Sinne des englischen Empirismus, wobei Locke das Bewusstsein im Unterschied zu Descartes als tabula rasa galt, welches sich unter dem Eindruck äußerer und innerer Wahrnehmungen erst ausbilde. Diese Widersprüchlichkeit der Verständnisse des Blickens löste erst Immanuel Kant (1724-1804) auf, indem er zeigte, dass der Blick nicht zur objektiven Gestalt des Äußeren – dem sog. »Ding an sich« – durchdringen könne, sondern sich schon stets im Rahmen seiner eigenen apriorischen Bedingungen des Blickens bewege. Damit war das Blicken sowohl Vorstellen als auch Abbilden, aber 266
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eben innerhalb des menschenmöglich Abbild- und Vorstellbaren. Swedenborgs »inneres Sehen« konnte so als sinnhafte »Augenfälligkeit« des Einzelnen verstanden werden, verblieb unabdingbar innerhalb des menschenmöglich Vorstellbaren und musste damit ebenso der Vernunft unterworfen werden, wie »äußerlich Gesehenes«. Gerade Kant bezog in seiner wirkmächtigen Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), in welcher ganz im Sinne der Aufklärung die Frage, »was er [der Mensch], als freihandelndes Wesen, aus sich selber macht, oder machen kann und soll«17, im Mittelpunkt stand, die Aufklärung über das eigene Innere mit ein, über welches sich der Mensch jedoch infolge Verstellung, affektiver Betroffenheit, Gewohnheit und Nachträglichkeit der Beobachtung fundamental täuschen könne und zudem diesbezüglich »konstruktiven« Grenzen der Selbsterkenntnis unterliege. Hierin demonstrierte sich die Autonomie des Menschen als fundamental abhängig vom Ego als ausgezirkeltem Bereich der Vernunft.18 Zugleich demonstrierte sich die Selbstaufklärung über die »Nachtseite« des Menschen, über seine »innere Natur«, gerade infolge des Vernunftgebots nicht nur als notwendig, da nunmehr diese »Nachtseiten«Aspekte nicht – wie in der frühen Neuzeit noch – an Geisterwesen oder Außermenschliches delegiert werden konnten, sondern auch als außerordentlich prekär. In diesem Sinne war die Aufklärung ein zweiseitig doppelbödiger Prozess: Einerseits das Aneignen und Zuschreiben der Vernunft an das Ego, dem das Entfremden und Zuschreiben der Unvernunft an die innere Natur des Menschen entsprach; andererseits das Abheben des vernünftigen Ego, dem das Zurücklassen der unvernünftigen inneren Natur des Menschen entsprach. Damit fand sich der »aufklärerische Blick« in einer zwar abgehobenen, zugleich aber fragilen »Blick«Position, aus der heraus er alles vernünftig in Augenschein nehmen konnte und nehmen musste. Denn auch der eigene Blick auf das eigene Innere war nun dem Abbildungsgedanken (innerhalb des Menschenmöglichen) verpflichtet und musste dieses Innere vernünftig in Augenschein nehmen. Das vernunftorientierte und selbstaufklärerische Erforschen der »inneren Natur« des Menschen findet sich besonders im »Seelengefährdungsdiskurs« des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts. Zentral war das Magazin für Erfahrungsseelenkunde, welches von Carl Philipp Moritz (17561793) initiiert und mit kurzer Unterbrechung von 1783-1793 herausgegeben wurde. In diesem Magazin veröffentlichte sich in literarischer (Selbst-)Thematisierung die bürgerliche Selbsterfahrung von funda267
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mentaler Verunsicherung, die Moritz auch in seinem Roman Anton Reiser (1785-1790) zum Thema gemacht hatte. Sein populäres und einflussreiches Magazin folgte bei der Beobachtung der »Innerlichkeit« in Analogie der naturwissenschaftlichen Methode.19 Diese zeichnete sich im damaligen, der Aufklärung folgenden Selbstverständnis durch größtmögliche Distanz und Ruhe des Beobachters aus, um Einblick in die Gesetzlichkeiten des Faktischen zu gewinnen. So forderte Moritz von seinen Autoren auch bei Selbstbeobachtungen, »ruhiger, kalter Beobachter« zu bleiben, mit dem Beobachteten nicht empathisch mitzuleiden und so außerhalb des Wirbels der Leidenschaften zu verbleiben. Diese Einübung eines »Tatsachenblicks« entspricht dabei sehr genau demjenigen Blickgeschehen, welches zeitgleich die Ärzte zunehmend bei der Beobachtung der (körperlichen) Krankheiten betrieben (s.u.).20 Die im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde thematisierten Beobachtungen der »Nachtseite« des Menschen umfassten im wesentlichen zwei verschiedene Bereiche. Als Reminiszenz an das Denken der »klassischen Epoche« (Foucault), in welchem Absonderlichkeiten wie auf einem Tableau mosaikartig angeordnet wurden, erschienen zunächst die »Kuriositätengeschichten«, in denen die gleichsam mechanisch ablaufenden, exotischen (Verhaltens-)Weisen der wie Zootiere ausgestellten menschlichen Natur exponiert wurden.21 Bedeutsamer waren die Versuche, in den Fallgeschichten auslösende Faktoren, d.h. vernünftige Erklärungen für das Absonderliche zu finden. Vorwiegende Ursachen sahen die Autoren in »falsch verstandener Religion«, direkt gefolgt von der gefühlsduseligen »Schwärmerei«.22 »Schwärmerei« bildete sich zum zentralen Auslöser aller möglichen Arten von Melancholie und Wahnsinn, Selbstmord oder Mord heraus. Sie war aufs Engste verbunden mit der »Einbildungskraft« des Menschen und wurde zum widersprechenden Aspekt der menschlichen Natur im Hinblick auf seine Vernunftorientierung. Allerdings verfolgten die Autoren des Magazins keine medizinisch-ärztlichen oder gar kurativen Interessen, sondern waren trotz allen Nachweises, dass auch Gebildete der »Schwärmerei« anheim fallen konnten, zunächst dem großen Programm der Aufklärung verpflichtet. Im pädagogischen Sinne nämlich »zielte dieses Programm [des Moritzschen Magazins] auf eine Stärkung der ›höheren Seelenkräfte‹ bei den Männern und Frauen des ungebildeten Volkes, damit sie nicht weiterhin einer ›Überhitzung‹ der Einbildungskraft zum Opfer fielen.«23 Wie fand nun dieses aus dem Selbstverständnis des aufgeklärten Menschen her-
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vorgegangene Verständnis von Einbildung und Schwärmerei Eingang in die Medizin, aus welcher die Psychiatrie letztlich hervorging? Für die damalige Medizin von besonderer Wichtigkeit war der Brownianismus mit seiner Lehre der »unspezifischen Reizbarkeit«. Vielen Medizinern im 18. Jahrhundert funktionierte der menschliche Körper wie eine unbelebte Maschine, die im Sinne des Vitalismus – wie ihn beispielsweise der Hallesche Arzt und Professor Georg Ernst Stahl (1660-1734) formulierte – ein immaterielles principium vitale (sog. »Lebenskraft«) belebte, in Bewegung und Empfindung versetzte.24 Die physiologische Wende der damaligen Medizin förderte jedoch organische Gesetze und lebendige Fähigkeiten des Körpers zutage, was im Nachweis der seelenund nervenunabhängigen Eigenbeweglichkeit bzw. des Verkürzungsvermögens der herauspräparierten – also im vitalistischen Sinne toten – Muskelfaser durch Albrecht von Haller (1708-1777) besondere Prägnanz erfuhr. Da jedoch eine seelenähnlich verstandene, immaterielle »Lebenskraft« den Körper nur im Ganzen zu animieren vermochte – diese sich ja aber nicht im isolierten Stückchen Muskel sinnvollerweise hätte aufhalten können – stellte sich erneut die Frage nach einem übergeordneten Prinzip des Lebendigen, welches den Gesamt-Organismus in seiner Unterscheidung von Lebensfähigkeit und Aktivität zur anorganischen Materie erklärte.25 Dieses Problem löste der schottische Arzt und Philosoph John Brown (1735-1788). Er entwickelte ein Verständnis des lebenden Organismus, welcher sich von der unbelebten Materie durch seine Reizbarkeit und Reizbeantwortung unterscheide. Dabei verstand Brown ein Gleichgewicht von Umwelt, Körperreizen und Erregbarkeit des Organismus als gleichbedeutend mit Gesundheit, wohingegen eine Störung des Gleichgewichts – sei es durch Überreizung oder Unterreizung – einem krankhaften Geschehen entspreche. Demnach nahmen Reize nur indirekt und unspezifisch Einfluss auf den Organismus, indem sie abhängig von der Reizempfänglichkeit des Organismus (Erregbarkeit) und vom Gleichgewicht an Erregung des Organismus wiederum das Verhältnis von Erregung und Erregbarkeit verändern konnten und so Krankheiten (mit-) bedingten. Krankheiten verstanden sich als krankhafte Reaktionen des Organismus im Sinne quantitativer Abweichungen im Verhältnis von Erregbarkeit und Erregung, so dass sich normale und pathologische Lebensvorgänge nicht grundsätzlich unterschieden.26 In diesem aus heutiger Sicht unspezifischen Krankheitskonzept verstand sich die nunmehr im Newtonschen Zwischenreich existierende Lebenskraft weiterhin als 269
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eigentliche Ursache des Lebens, war organismusvermittelt im Kontakt mit dem Materiellen und sorgte entsprechend seiner Verteilung im Organismus entsprechend des animierten Organs sowohl für organische Kräfte der Reizbarkeit, als auch für die seelischen Kräfte des »Seelenorgans«. Damit wurde im organischen Zusammenspiel der ganze Körper animiert, verblieb aber für sich in einer mechanisch-tierhaften Verfassung. Nah verwandt war die Lösung des im Hinblick auf die Entstehung der Psychiatrie wirkmächtigen Leipziger Universitätsmediziners und Philosophen Ernst Platner (1744-1818).27 Platners Neue Anthropologie (1790) verstand den Menschen physiologisch untermauert im gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis von Körper und Seele. »Platner ging nun von einem »zweifachen Seelenorgan« aus, einem geistigen und einem tierischen. Das geistige beziehe sich auf die Vernunft, das tierische auf den Körper. Beide gehörten anatomisch zum Gehirnmark bzw. zum Nervensystem. Die Seele selbst sei etwas anderes als das »Seelenorgan«. Ihr Sitz bzw. der Sitz des »ätherischen Körpers«, der, wie Platner nun mit Leibniz annahm, sie umkleide, könne beim derzeitigen Kenntnisstand noch nicht genau nachgewiesen werden, sei aber jedenfalls im Gehirn zu suchen.«28 Diese an die damalige Medizin anschlussfähige Anthropologie war auch insofern wichtig, als Platner bereits 1784 eine pathologische Bestimmung der »Schwärmerei« vorgenommen hatte, die der Medizin Zugang zum Irren ermöglichte. »Diese Bestimmung der Schwärmerei als von der Vernunft nicht (mehr) kontrollierte, den Menschen völlig beherrschende Einbildungskraft, die Platner zugleich als Folge körperlicher Störung ansah, erlaubte es, neben der religiösen zahlreiche weitere Varianten von Schwärmerei aufzuspüren«, welche sich allesamt, wie Platner argumentierte, in wahnsinniges Erleben steigern konnten.29 Damit verstand sich der Wahnsinn als Ausdruck des tierischen Seelenorgans, welches dann im Vordergrund stand und das geistige Seelenorgan als eigentlich menschliches in den Hintergrund drängte. Dieser Gedanke kann – wie wir sehen werden – tatsächlich als zentrales irrenärztliches Verständnis des Wahnsinns im frühen 19. Jahrhundert verstanden werden. Dies entspricht zugleich der ebenfalls pathologisierten »Schwärmerei« im »Seelengefährdungsdiskurs«. Grundtenor war auch hier die Annahme, dass sich in der »Schwärmerei« die »überspannte bzw. gespannte« Tätigkeit der unteren Seelenkräfte gegen die höheren geistigen Vermögen des Menschen verschworen hatten – was bei Überlegenheit 270
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der tierischen bzw. maschinenhaft funktionierenden niederen Seelenkräfte durchaus zum Wahnsinn führen konnte. Die »Reizbarkeit« des Organismus war damals unsichtbar und konnte allenfalls im Hintergrund des Sichtbaren gewähnt werden. Erst die »Elektrifizierung« der Nerven mit dem Nachweis physikalisch-messbarer Elektrizität in den Nerven im 19. Jahrhundert machte scheinbar die »Reizbarkeit« sichtbar, forderte aber bereits wieder die Verwandlung dieses unspezifischen, nicht in unserem Sinne wissenschaftlichen Konzepts.30 Die besondere Bedeutung des unspezifischen Konzepts der unsichtbaren und hintergründig gewähnten »Reizbarkeit« lag jedoch in ihrer analogen Übersetzbarkeit in die Verständnisweisen der bürgerlichen Selbsterfahrung. Die äußerliche Trennung von Natur und Geist wurde damit insbesondere in der medizinischen Verständnisweise mit einem innerlichen Zusammenhang ausgestattet, der allerdings – hierin lag ja die Bedeutung des transformierten Lebenskraft-Gedankens – im aufklärerischen Sinne vom autonomen Ego bei entsprechendem Gleichgewicht der Reizbarkeit der Organe diktiert werden konnte. Die Abgehobenheit des Ego wurde damit ebenso medizinisch verstehbar. Zudem entsprach der Gedanke der Reizbarkeit im Hinblick auf das Nervensystem dem in der bürgerlichen Selbsterfahrung intensiv thematisierten Phänomen der Empfindsamkeit. Insofern ein Mensch empfindsamer war als ein anderer, verstand sich nun im medizinischen Sinne sein Nervensystem als reizbarer. Insbesondere diese Analogie machte vermutlich den Brownianismus im kulturellen Sinne virulent. Folgenschwer ist dieses Konzept insbesondere für die Medizin gewesen, da hierdurch Psychiatrie als medizinische Thematisierung der Gefährdungen des Selbst in Analogie der vorlaufenden bürgerlichen Thematisierung möglich wurde.31 Die Vorstellungen des Menschen, die nicht dem Abbilden äußerlich Gesehenen entsprachen, gewannen entlang der »Reizbarkeit« einen im tierhaften Organismus lokalisierten eigengesetzlichen Charakter, die der Mensch von seinem autonomen Ego her vernünftig in den Blick nehmen konnte. Mit der zunehmenden Aufklärung physiologischer Prozesse wandelte sich zugleich der »ärztliche Blick«: Krankheiten konnten nun nicht mehr als dem Körper äußerliche Wesenheiten verstanden werden, die nach möglichst vollkommenem Wesensausdruck strebten und durch individuelle Eigenarten des Körpers verfälscht und so in ihrem natürlichen Verlauf aufgehalten wurden; wobei die ärztliche Aufgabe vor allem darin bestand, diese Verfälschungen zu beheben, um den natürlichen Krank271
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heitsverlauf hin zum als krankheitsinhärent verstandenen Genesen oder Sterben zu begleiten.32 Sondern: Krankheiten waren Ausdruck pathologisch veränderter organischer Prozesse, lagerten sich dem Organischen ein, bildeten sich entlang den Gesetzen des Organischen aus und bedienten sich des Organismus, um zu leben und sich zu zeigen. Der »ärztliche Blick« entzifferte nunmehr in den Krankheitssymptomen die Zeichen eines den organischen Gesetzen folgenden Krankheitsprozesses, verstand die subjektiven Beschwerden und Äußerungen des Kranken als Ausdruck der organischen Erscheinung der Krankheit, die folglich auf eben genau diesen Hintergrund des Organischen verwiesen. Der »ärztliche Blick« durchleuchtete somit das organische Geschehen der Krankheit mit Vernunft und nahm dem Körper gegenüber die abgehobene Ego-Position des aufklärerischen Blickens ein.33 Letzteres gelang – wie wir sehen werden – für die Vorstellungen des Einzelnen deshalb, da das unspezifische Konzept der Reizbarkeit die bürgerliche Selbsterfahrung mit den medizinischen Erfahrungen analogisierte. Aus eben dieser Gemengelage wurde der »psychiatrische Blick« geboren.
Die Geburt des »psychiatrischen Blicks« Eine Betrachtung des »psychiatrischen Blicks« soll im Folgenden beim eher theoretischen Johann Christian Reil (1759-1813) und dem eher handlungs-praktisch orientierten Johann Heinrich Ferdinand von Autenrieth (1772-1835) untersucht werden. Beide standen nachweislich seit 1804 in einem intensiven und lebhaften brieflichen Gedankenaustausch.34 Reil, seit 1787 in Halle als Extraordinarius tätig, hatte trotz Leitung des dortigen Klinikums zwar keine nennenswerten Erfahrungen mit der Behandlung »Geisteszerrütteter«, entfaltete aber insbesondere mit seinen Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen (1803) eine epochale Wirkung. In der gängigen Psychiatriegeschichtsschreibung steht er regelhaft an erster oder mindestens zweiter Stelle der zentralen und wirkmächtigen »psychischen Ärzte« der Jahrhundertwende in Deutschland, entfaltete insbesondere zeitgenössisch intensive Wirkung.35 Die Schrift des europaweit wirkmächtigsten französischen Psychiaters Phillipe Pinel (1745-1826) Traité médico-philosophique sur l`aliénation mentale ou la manie (1801) und der »Seelengefährdungsdiskurs« waren ihm vertraut. Reil darf wohl im 272
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deutschsprachigen Raum als der theoretisch einflussreichste »psychische Arzt« seiner Zeit verstanden werden, der bekanntlich das Wort Psychiatrie prägte. Autenrieths, Ordinarius für Medizin an der Tübinger Universität seit 1797, wird in der gängigen Psychiatriegeschichtsschreibung allenfalls spärlich erwähnt. Allerdings verfügte er in praktischer Hinsicht für seine Zeit als Universitätsmediziner über ungewöhnlich umfangreiche Erfahrungen in der Behandlung »Wahnsinniger« und hatte über seine gut besuchten, regelmäßigen Vorlesungen zum »Wahnsinn« und dessen Behandlung und seine beiden Schüler Heinrich Köstlin (1787-1859) und Albert Zeller (1804-1877), die »zeitgemäß« trotz schwerer Bedenken Autenrieths gegen große Irrenanstalten die Gründung der von Zeller geleiteten württembergischen Irrenanstalt Winnenthal planten (eröffnet 1834), psychiatrische Wirkung. Dort erfuhr wiederum Wilhelm Griesinger (1817-1868), der Autenrieth noch über den »Wahnsinn« hatte vorlesen hören, seine psychiatrische Ausbildung, die wesentlich für sein 1845 veröffentlichtes Hauptwerk Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten war, mit welchem er das Referenzwerk der Psychiatrie der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts verfasst hatte.36 Bekanntlich behandelte Autenrieth auch Friedrich Hölderlin (1770-1843) vom 15. September 1806 bis zum 3. Mai 1807 im Tübinger Klinikum.37 Interessant für den hiesigen Zusammenhang ist neben dem Verständnis des »Wahnsinnigen« auch dessen Behandlung, wobei sowohl Reil als auch Autenrieth in diesen Punkten trotz wichtiger Unterschiede weit reichende Entsprechungen aufweisen, die betreffend Autenrieth praktisch an seinen Behandlungen untersucht worden sind.38 1.) Sowohl Reil als auch Autenrieth verstanden den »Wahnsinnigen«, »Maniacus«, »Geisteszerrütteten« bzw. »Geistesverwirrten« bildhaft analog den »eigensinnigen, übelgezogenen großen Kindern«39 bzw. dem »wilden Tier«, welche absoluten Gehorsam gegenüber dem Arzt zeigen müssen und idealtypisch kein Bewusstsein von sich selbst haben. 2.) Sie beschrieben bzw. betrieben eine Abfolge psychischer Kurmethoden, die zum vollen selbständigen Verstandesgebrauch zurückführen sollte entsprechend der Zügelung bzw. Erziehung der eigenen »inneren Natur«: »So gängeln wir den Kranken, von der untersten Stufe der Sinnlosigkeit, durch eine Kette von Seelenreizen, aufwärts zum vollen Verstandesgebrauch«.40
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Zu 1.) Reil knüpfte seine Überlegungen eng zusammen mit den Verständnisweisen bürgerlicher Selbsterfahrung und den philosophischen Subjektverständnissen seiner Zeit, wobei ihm als ausgezeichnetes Merkmal des Verstandes das Selbstbewusstsein galt, das alles Vorgestellte wie in einem Brennpunkt vom Subjekt her ordne und in Beziehung setze. Hierdurch erlangen wir – so Reil – die Vorstellung der Einheit der Person, was Ausdruck eines gesunden Selbstbewusstseins sei. Was also in der Philosophie das autonome Ego war, war Reil zufolge diese höchste Funktion des Nervensystems, die eine organische Selbständigkeit aufwies. Diese höchste Funktion hatte unterschiedlichste Vorstellungen zu ordnen und synthetisieren, die durch das Nervensystem geleitet wurden. Die Vorstellungen ordnete er nach dem »Gemeingefühl« (welches der Seele den Körper in seiner gefühlten Konstellation präsentierte), den »Sinnesorganen« (als offener Zugang zum Äußeren) und den »Imaginationen«.41 Letztere waren Ausdruck und Folge der inneren Eigenreizung des Nervensystems und folgten entsprechend aufzuklärenden Gesetzen des Nervensystems bzw. der Vorstellungen.42 Reil zufolge sei beim »Geisteszerrütteten« der »freie Wille« aufgehoben, er beobachte sich nicht im Ganzen selbst und könne dem Arzt nichts Wesentliches außer seinem Wahnsinn mitteilen.43 Auch sei er den Kindern vergleichbar, sei nicht von der eigenen Krankheit überzeugt und insofern nur selten freiwillig zur Kur bereit.44 Reil führte sein Verständnis des Wahnsinns ausführlich aus. Im Falle des Wahnsinns geschehe Folgendes: Das Ganze wird dann in seine Teile aufgelöst, jedes Getriebe wirkt für sich, oder tritt mit einem anderen, außerhalb des gemeinschaftlichen Brennpunkts, in eine falsche Verbindung. […] Es werden gleichsam [seelische] Provinzen abtrünnig […] In diesem Zustande muss die Synthesis im Bewusstseyn verloren gehen. Die Seele ist gleichsam von ihrem Standpunkt weggerückt; unbekannt in ihrer eigenen Wohnung, in welcher sie alles umgestürzt findet, hat Mast und Ruder verloren und schwimmt gezwungen auf den Wogen der schaffenden Phantasie in fremde Welten, Zeiten und Räume, glaubt bald ein Wurm bald ein Gott zu seyn, lebt in Höhlen oder Palästen und versetzt sich in Zeiten die nicht mehr sind, oder noch kommen sollen.45
Oder nochmals derselbe Gedanke anders: Diese Beziehungen der Theile des Seelenorgans unter einander sind auf eine eben so bestimmte Vertheilung der Kräfte im Gehirn und dem gesammten Nervensystem gegründet. Wird dies Verhältniss gestört; so entstehn Dissonanzen, Sprünge, abnorme
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Vorstellungen, ähnliche Associationen, fixe Ideenreihen, und ihnen entsprechende Triebe und Handlungen. Die Seelenvermögen können sich nicht mehr der Freiheit des Willens gemäss äussern. So ist das Gehirn wahnsinniger Personen beschaffen. Die Kräfte einiger Gebilde desselben sind über die Norm erhöht, andere in dem nehmlichen Verhältniss herabgestimmt. Daher Mangel an Einklang zwischen denselben, fehlerhafte Fortpflanzung erregter Thätigkeiten und Umsturz der Normalität der Seelenfunctionen. Je thätiger die Phantasie des Verrückten ist, desto weniger kommen die Eindrücke der Sinnorgane zum klaren Bewusstseyn. Je mehr er an eine Ideenreihe gefesselt ist, desto weniger können andere Platz gewinnen und die fixirten verdrängen. Denn es ist unbedingtes Naturgesetz, dass die distributiven Aeusserungen der Lebenskraft in dem Maasse erlöschen, als ihre Wirksamkeit an einem Ort hervorstechend angestrengt wird.46
Zusammenfassend verstand Reil den »Geisteszerrütteten« als wahrhaft im Geiste zerrüttet, welches verhindere, dass er ein synthetisches Bewusstsein von sich selbst hervorbringe. Er verliere im wahrsten Sinne des Wortes seinen Verstand – sein autonomes Ego –, da sein Nervensystem in sich selbst eine heillose Verwirrung hervorbringe, anstatt das Ganze auf einen Punkt hin zu konzentrieren, zu beziehen und so zu vereinigen. Da der »Geisteszerrüttete« nicht mehr im Ganzen um sich wisse, könne er auch selbst zu seiner Genesung nichts beitragen, müsse – noch stärker als ein Kind – zum Verstandesgebrauch wieder zurück gezwungen werden. Reil verstand den Wahnsinnigen folglich als einen Menschen, dem es nicht um sich selbst geht. Der Wahnsinnige zeigte sich als das Opfer seiner ihn verrückenden Krankheit, kann die ihn beherrschenden Einbildungen, »Ideenreihen« und »thierischen Seelenvermögen« (Triebe, Leidenschaften etc.) nicht mehr ego-zentrifugal, d.h. insbesondere willentlich, kontrollieren und mit Vernunft durchleuchten. Autenrieth verstand den Wahnsinn zwar ähnlich, aber noch stärker am humoralpathologischen Verständnis orientiert. Wahnsinn sei »die Gewohnheit der Seele, nur unvernünftig zu denken«, wobei dies der »durch Untätigkeit geschwächten Seelenkräfte […] zur anderen Natur gewordene[] Hang zu widersinnigen Einbildung, Trieben und Verstandesäusserungen« geworden sei.47 Auch Autenrieth bemühte den Vergleich der »Geistesverwirrten« mit »eigensinnigen, übelgezogenen großen Kindern«,48 die unsinnigen, sie »beherrschenden Neigungen« folgen.49 Er definierte die »Manie« – synonym für »Wahnsinn« oder »Geistesverwir275
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rung« – als Störung des Sensorium commune50 und führte aus, dass das Sensorium commune der anatomische und physiologische Vereinigungspunkt sei, wohingegen die »ursprünglich thätige Kraft« der Seele eben gerade darin liege, im freien Bewusstsein ihres Willens willkürlich Art und Grad der Tätigkeit des Seelenorgans und des Körpers zu wählen.51 Durch Störungen des Sensorium commune insbesondere im idealtypischen Verlauf der Manie wird die freie Willensbestimmung unmöglich. Bei dieser Verlaufsform zeige sich phasenhaft ein »Verlust« des Verstandes bis hin zur »thierischen Narrheit«, unterbrochen durch Phasen vollständiger oder auch teilweiser Besserung der Verstandestätigkeiten.52 Dieser phasenhafte Verlauf war bekanntlich von Pinel als idealtypische Form der Manie beschrieben worden (s.u.).53 In der Dissertation Däublers, die allgemein als Wiedergabe von Autenrieths Verständnis interpretiert werden kann, wird entsprechend der Gefäßpole »Arteriosität-Venosität« im analogen Schluss auch das Nervensystem in einen »arteriosen, festen und oxidierten« versus »venosen, weichen und hydrogenisierten« Pol aufgeteilt.54 Der »hydrogenisierte« Pol repräsentiere das »Einbildungs-Vermögen«, der »oxidierte« Pol das »Abstraktions-Vermögen« und beide entsprächen damit den Denkformen des Poeten (hydrogenisierter Pol) bzw. Mathematikers (oxidierter Pol).55 Der Sympathikus, als Prototyp des hydrogenisierten Nervenpols, könne bei Überreizung das Sensorium commune mit Einbildungen überschwemmen und so an die Stelle der »realen Wirklichkeit« eine »eingebildete Wirklichkeit« setzen.56 Habe dies zunächst eine funktionelle Qualität, könne dies letztlich in strukturelle Änderungen übergehen, die dann im »Blödsinn« ihren Ausdruck finde, den Autenrieth als Endstadium der idealtypisch verlaufenden Manie ansah. Im »Blödsinn« habe der Kranke dann die Fähigkeit zur Freiheit der Seele endgültig verloren.57 Dabei begegnete ihm der Kranke nicht als gleichwertiger Mensch, sondern eben als »widersinniges Kind«, welches den Sinn seines Handelns und Denkens nicht verstehe. Ihm fehle gerade das, was durchaus den Menschen ausmache: der Verstand. Ohne dieses reflektorische, selbstbewusste Vermögen aber glich – im damaligen Verständnis – der Mensch nur noch einem Tier, sei es nun im Sinne eines Besetztwerdens durch fixe Ideen oder durch ein Absinken in den maschinenhaft-organischen Körper. Insofern versteht sich der Vergleich des »Maniacus« mit einem »wilden Tier«, welches es zu »bändigen« und zu »zähmen« gelte, welches insbesondere in der Dissertation Däublers wissenschaftlich untermauert wird.58 276
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Dies entspricht in tiefster Analogie dem gängigen zeitgenössischen Verständnis des Irren zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland und Europa. Grundlegend war der Verlust des autonomen Ego, der Zentrierungsfunktion des Nervensystems – sei diese fehlende Selbstbeobachtung und Selbstdurchleuchtung mit Vernunft nun strenger aufklärerisch verstanden oder nicht. Die Eigengesetzlichkeit der dem Nervensystem inhärenten Einbildungen zeige sich infolge der fehlenden synthetischen Leistung des Nervensystems, dem fehlenden zensurierenden Ego beim Wahnsinnigen. Der behandelnde Arzt sehe gleichsam »ungeschönt« die Innenerfahrung des tierischen Nervensystems. Auch Pinel »konzipierte Irresein nicht nur als Krankengeschichte, sondern vornehmlich als Störung der Selbst-Mächtigkeit, Selbstbeherrschung, Selbsterhaltung, Identität, weshalb »Entfremdung« (»aliénation«) als Oberbegriff für die Formen des Irreseins – teilweise synonym mit »Manie« – gewählt wird.«59 Erleichtert wurde dieses Verständnis zudem dadurch, dass die in Tollhäusern oder Spitälern behandelten Kranken nur selten aus dem Bürgertum stammten und in ihrer Lebenswelt als unintegrierbar galten, so dass die fehlende Anerkennung des Verhaltens und des Sprechens des Irren als dem eigenen gleichwertig auch aus bürgerlichen Gründen leicht fiel. 60 Zugleich fand sich hier die Analogisierung von Reizbarkeit und Empfindsamkeit, wobei die übersteigerte und einseitige Reizung oder Reizbarkeit des Nervensystems der übersteigerten Empfindsamkeit entsprach. Entsprechend dem Gefühl steter Bedrohtheit durch das eigene Innere, welches jederzeit durchbrechen könne – wie der Seelengefährdungsdiskurs gezeigt hatte – setzte sich die Vorstellung eines überfallartigen Beginns des Wahnsinns durch.61 Die sonst geltenden Ursachen waren nur wenig vom »Seelengefährdungsdiskurs« zu unterscheiden, wobei neben der unglücklichen Liebe und falschen Ideen über Religion, zudem Schwärmertum und überspannte, einseitige Geistestätigkeit zu finden waren.62 Zu 2.) Reil unterschied in seiner psychischen Kurmethode drei Klassen der psychischen Mittel, welche aufeinander abfolgen. Der Reilsche Grundansatz war dabei, dass der Arzt zunächst die synthetischen Funktionen des Nervensystems für den »Wahnsinnigen« übernahm, ihn hierbei gewissermaßen von Innen her ordnete und durchleuchtete. Die Abfolge der Behandlungen umfasse so zunächst Behandlungen »materieller Natur«, die »körperliche bzw. thierische Lust« hervorbringen – wie 277
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Wärme, Streicheln oder Beischlaf – oder »körperlichen bzw. thierischen Schmerz« hervorbringen – wie Hunger, Durst, Brenneisen, Haarseile, Ruten oder andere »unschädliche« Arten der Tortur – wirken durch eine »Erschütterung des Seelenorgans« und seien vor allem »im Anfang der Cur angezeigt, um durch sie den Kranken zu unterjochen, ihn zur Besonnenheit zu bringen und seine Aufmerksamkeit zu wecken«.63 Die zweite Klasse der psychischen Kurmethode betreffe zunächst die äußeren Sinne (Auge, Ohr, Tastsinn).64 Zunächst benannte Reil hier der ersten Klasse vergleichbare, plötzlich schockierende oder beruhigende Sinneseindrücke, um dann eine zweite Gebrauchsart der zweiten Klasse der psychischen Kurmethode anzuführen. »Die zweite Gebrauchsart dieser psychischen Mittel ist nur bey Kranken statthaft, die bereits unterjocht und an unbedingten Gehorsam gewöhnt sind.«65 Unter dieser zweiten Gebrauchsart besprach er z.B. ausgiebig die Wirkungen der Musik: »Die Musik beruhiget den Sturm der Seele, verjagt die Nebel des Trübsinns und dämpft zuweilen den regellosen Tumult in der Tobsucht mit dem besten Erfolg.«66 Die dritte Klasse der psychischen Kurmethode seien »Zeichen und Symbole und besonders Sprache und Schrift« – insbesondere das korrigierende ärztliche Gespräch. Diese Mittel seien die eigentliche Kur, welche die »oberen Seelenkräfte« – bzw. den Verstand – korrigieren und trainieren und die Sinnlichkeit wieder ins normale Verhältnis zum Verstand bringen, »um der Verrücktheit ein inneres Hinderniss im Wege zu stellen«.67 Da dies aber bereits erreichbare Verstandestätigkeit voraussetze, könne dies nur bei denjenigen wirken, »die zur radikalen Cur vorbereitet, oder auf dem Wege der Genesung sind.«68 Klarer findet sich dieses Ordnen von Innen her bei Autenrieth, der jedoch auch über weitaus mehr Behandlungserfahrung verfügte. Zunächst hatte das Behandeln des »Narren« zwei Aspekte: zum einen ging es um das Sichern und Absichern des »Wahnsinnigen« vor sich und anderen, zum anderen um das Heilen und Zurückführen des »Wahnsinnigen« zur Vernunft. Er unterschied unheilbare von heilbaren Wahnsinnigen, wobei aber diese Unterscheidung letztlich nur durch den intensiven Versuch des Behandelns getroffen werden könne.69 Aber: »Demungeachtet liegt es in seiner Natur, daß gewöhnlich nur die wenigsten von ihm befallenen Unglücklichen hergestellt werden können.«70 In dieser Hinsicht galten Auterieth insbesondere die periodischen Verlaufsformen der Manie als unheilbar (s.o.). Heilen bedeutete für Autenrieth zunächst die Behandlung des organischen Übels. Er verstand in zeitgenössischer medizi278
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nisch-organischer Sichtweise die geistige Verwirrung als Ausdruck eines organischen und psychischen Geschehens.71 Dabei unterschied er eine außerordentliche Vielzahl von organischen Ursachen, die er in seinen Vorlesungen immer wieder veränderte und oftmals einen humoralpathologischen Hintergrund zeigten.72 In seiner Annahme der einseitigen Nerventätigkeit konnte sich Autenrieth seinem eigentlichen Thema zuwenden, der Frage nach der arzneilichen Behandlung des Geistesverwirrten. Seine Behandlungsmethoden mit Arzneimitteln orientierten sich dabei insbesondere am Konzept der Reizung, aber auch an humoralpathologischen Konzepten, welche außerordentlich differenziert waren und hier nicht referiert werden sollen.73 Nach erfolgreicher Behandlung der körperlichen Ursachen schloss sich dann eine langwierige, der Reilschen Kurmethode nahestehende Behandlung an: »Von da an ist der Kranke dann körperlich genesen, dem ohngeachtet aber noch nicht ganz verständig, weil jetzt erst die Seele der närrischen Vorstellungen sich wieder entwehnen muß, und das Nervensystem Zeit erhalte, sich herzustellen.«74 Es ging um eine psychisch-erzieherische Entwöhnung vom »Hang zu widersinnigen Einbildungen, Trieben und Verstandesäusserungen«.75 Als zentraler Punkt in der Behandlung des Geistesverwirrten galt es, »seinen Eigensinn in jeder Hinsicht zu besiegen, und den Kranken zu überzeugen, seine des Arztes Zwecke werden alle, auch trotz des Sträubens des Kranken erreicht.«76 Dabei sei der Wahnsinnige »mit Strenge« zu bessern, sollte »aber nie grausam behandelt werden«.77 Allerdings ging es Autenrieth um nichts weniger, als schrittweise den »Willen des Kranken« zu brechen: »Zu jeder vollständigen Heilung scheint mir immer ein Brechen des Willens des Kranken, ein solches Hingeben in den Willen der ihm vorgesetzten Personen zu gehören.«78 Um diesen unbedingten Gehorsam zu erreichen, der dem Reilschen Grundgedanken der psychischen Kurmethode entsprach, empfahl Autenrieth zunächst die Einsperrung des Geistesverwirrten im »Palisadenzimmer«.79 Anschließende Strafaktionen sollten sicher stellen, dass der Wahnsinnige »lange in der Stille und Ruhe zu halten, und durch Einsamkeit zahm zu machen« sei.80 Dieses beinhaltete auch das Binden des Tobenden mit Schnüren, das Hungern lassen bei Weigerung von Medikamenteneinnahme und das Anlegen der Autenriethschen Gesichtsmaske bei Schreienden. Als »Belohnung für Wohlverhalten« nannte Autenrieth beispielsweise einen »Spaziergang im Felde unter Aufsicht eines hinlänglich starken und verständigen Wärters«.81 279
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Zusammengefasst: In Absicht auf das Psychische beruht die Therapie darin, während der Narrheit den Menschen gehorsam zu lernen, und so als ein unvernünftiges Thier gleichsam der Vernunft eines andern gehorchen.[…] und das 2te ist, wenn es zur Besserung sich nähert, seine falschen Vorstellungen nach und nach zu untergraben und 3tens, seine schwachen Verstandes Kräfte wie die eines Kindes zu unterstüzen.82
Die Position des Arztes bestimmte er im Sinne eines unantastbaren und unkritisierbaren Herrschers über den Kranken.83 Auch dieses Behandlungsverständnis findet sich zeitgenössisch im frühen 19. Jahrhundert,84 wobei der Grundgedanke darin gesehen werden kann, dass der »Geisteszerrüttete« wieder zur »Einheit der Person« zurückfinden soll. Der Verstand – der geradezu ins Außerseelische geflüchtet war – musste wiedergewonnen werde. Dieses gelang dadurch, dass der Arzt die Position des autonomen Egos des Kranken übernahm. Er zügelte dann das Innere des Wahnsinnigen so, wie es beim Gesunden das autonome Ego ebenfalls tun würde. Da das Innere scheinbar beim Wahnsinnigen zuäußerst lag und zutage trat, gelang so eine Hilfe von Innen heraus. Die Ordnung der Vorstellungen des »Geistesverwirrten« erforderte einen Kampf des Arztes mit der Erkrankung, wobei ihm der Kranke selbst nur wenig helfen könne. Im Gegenteil, der Wahnsinnige stehe seiner Behandlung selbst im Weg, so wie ihm seine Verrücktheit im Weg stehe, seinen Verstand zu gebrauchen. Um also den Geisteszerrütteten überhaupt behandeln zu können, war es demnach in diesem Verständnis schlüssig, den Kranken zu »unterjochen«, ihn zum »Gehorsam« gegenüber einem geordneten Verstand durch »unschädliche Tortur« zu zwingen. Der ursprüngliche »psychiatrische Blick« hatte folglich eine eigenartige Struktur, in welcher das Erleben eines Menschen im Sinne einer »geistlosen« Maschine, eines »vernunftlosen Automaten«, eines ungezähmten »wilden Tiers« betrachtet wurde. Der »psychiatrische Blick« verstand sich als der vernünftige Blick des ärztlichen Verstandes auf die ungefilterte »innere Natur« des Kranken, welches in ausgezeichneter Weise beim Geistesverwirrten geschah. Diese »innere Natur« als vom Kranken Verbliebenes, in Behandlung Kommendes, sieht und durchdringt das Ego des Arztes vernünftig mit seinem »psychiatrischen Blick« und kann so als Übergangs-Ego diese »innere Natur« erziehen, bis schließlich wieder ein Ego beim Kranken aus seinem eigenen Nervensystem syn280
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thetisiert wird, welches nun das Ego des Arztes nicht mehr braucht – aber eben auch bereits wieder vernünftig ist. Das Erblickte war zwar als Ausdruck einer ungezügelten, ausschließlich ihren eigenen Gesetzen folgenden Einbildungskraft noch nicht folgerichtig aus sich heraus verstehbar, aber die Gesetze der Einbildungen galten eben auch als noch nicht hinreichend aufgeklärt. Die fehlenden Zügel des Verstandes setzten insbesondere im Wahn die Einbildungen von jeglicher Verstandesprüfung frei. Hierdurch verstand sich ihre Unvernunft, da der Kranke seine Einbildungen nicht mehr korrigieren konnte. Der Wahnsinnige wird so im ursprünglichen »psychiatrischen Blick« tatsächlich als von Innen heraus erblickt verstanden. Denn der »psychiatrische Blick« folgte dem Weg des Bewusstwerdens der Einbildungen beim »Wahnsinnigen«. In diesem Sinne ist dem »psychiatrischen Blick« die Stimmung des Paranoiden in seine historische Wiege gelegt. Hier zeigt sich eine Kopplung der Struktur des »psychiatrischen Blicks« und des psychiatrischen Wissens vom Wahn. Sie findet sich in genau jenem Moment, in welchem formuliert werden konnte, dass sich die Unvernunft des Wahnsinnigen darin fand, dass er selbst – als Folge des Verstandesverlusts begriffen – seine eigenen Einbildungen nicht mehr korrigieren konnte. Was also im Verständnis des »Wahnsinnigen« um 1800 ganz allgemein zu gelten schien, würde im heutigen psychiatrischen Wissen als exklusives Merkmal des Wahns gelten: die fehlende Korrigierbarkeit der Einbildungen, die eine umfassende Wirklichkeit projektieren und dabei dem Ganzen einen hintergründigen Sinn unterlegen. Auf dieser Linie gilt es weiterzufragen. Doch zuvor sei eine andere Frage erlaubt: Kann ich mich denn als Mensch bezeugen, wenn ich mich durch den von mir Erblickten nicht meinerseits erblicken lasse? Dies scheint beinahe unmöglich, denn ich verweigere dann von vornherein die Möglichkeit von Korrekturen des Anderen an mir. In einer unbeteiligten face-to-face-Beobachtung, in welcher der Beobachtete sich nicht als zurückschauend erleben kann, geschieht eine Degradierung des Erblickten. Dies wird offenbar für den Erblickten – aber auch den Blickenden, jedoch vorwiegend abseits des Blicks – spürbar, wohingegen der Blickende dies im Blicken (gewohnheitsmäßig) auszublenden vermag. Das Paranoide ist ja gerade das Erblicktwerden, ohne wirksam Zurückblicken zu können. Und doch – wie insbesondere Freuds analytisches Setting zeigt – liegt hierin ein besonderer Kunstgriff, der tatsächlich gelingt. Denn gerade infolge des fehlenden Erblicktwerdens gelingt die psychiatrische Selbstwahrneh281
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mung, als wäre er eine Filmleinwand, auf welche der Andere seine Innerlichkeit projiziert. Und der Andere projiziert tatsächlich, welches in Therapieprozessen wichtig ist, um sonst vor sich verborgene Innerlichkeiten entstehen und darin korrigierbar werden zu lassen.85 Aber muss sich der Psychiater dieser künstlichen und eigenartigen Position nicht zuweilen entwöhnen, um menschlich begegnen und wirksam korrigieren zu können? Sind also nicht Fragen nach dem Status des psychiatrischen Wissens vom Wahn zugleich Fragen danach, wie sich der Psychiater zur paranoiden Struktur seines »psychiatrischen Blicks« stellt?
Wahnsinn – der Wahn ist Wirklichkeit Aber nicht jede Wirklichkeit ist wahnhaft – wie sofort angefügt werden müsste. Wahn ist eine besondere Form von Wirklichkeit. Näherungsweise versteht sie sich als eine umfassende und fundierende Wirklichkeit, die durch unkorrigierbare Einbildungen projektiert wird. Damit sind also nicht Einbildungen gemeint, die ausschnitthaft Wirklichkeiten ergänzen – wie z.B. Halluzinationen, die ebenfalls unkorrigierbar für den Betroffenen sind (ansonsten gewinnen sie als Pseudo-Halluzinationen einen anderen psychiatrischen Status) – oder verfälschen – wie z.B. Illusionen, die ebenfalls unkorrigierbar für den Betroffenen sind.86 Gerade an Illusionen wird deutlich, dass Wahnwahrnehmungen den wahrgenommenen Gegenstand nicht verkennen, sondern »umdeuten« und mit einer unkorrigierbaren Bedeutung »hinterlegen«. Der »psychiatrische Blick« ist in diesem Sinne auf die Widersprüchlichkeit von Einbildungen und sonstiger Wirklichkeit angelegt. Was aber soll nun hier mit »sonstiger Wirklichkeit« gemeint sein? Ist es die kulturell akzeptierte, gemeinhin gemeinsam geteilte und erlebte Wirklichkeit? Akzeptieren wir dieses Verständnis, zeichnen sich wahnhafte Wirklichkeiten insbesondere durch die Privation und Vereinzelung des wahnhaft Erlebenden aus, die sich z.B. in einem »aktiven Misstrauen« in Beziehungen reproduzieren müsste. Dieses »aktive Misstrauen« als unabsichtlich sich vollziehendes Verbergen – auch vor sich selbst – einer tiefsten und fundierenden Innerlichkeit kann tatsächlich bei Menschen gefunden werden, die in über Jahre hinweg stabilen Wahnwirklichkeiten ohne Zeichen einer schizophrenen Paradoxalisierung leben.87 Christian Scharfetter schlägt deshalb vor, Wahnwirklichkeiten entlang dieser Privation zu verstehen.88 Damit wird Wahn vor allem dann behandlungs282
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würdig, wenn diese Vereinzelung qualvoll wird, nur noch leidend ertragen werden kann. Es stellt sich aber durchaus die Frage, ob wir mit einem solchen Verständnis nicht einen Charakter des Wahnhaften übersehen, der ihn von anderen Wirklichkeiten unterscheidet – seien diese nun mehr oder minder Ausdruck von individuellen oder gemeinsamen Einbildungen. Kehren wir nochmals zu Jaspers zurück, denn von ihm haben wir das Merkmal der Unkorrigierbarkeit übernommen. Jaspers verstand den »psychiatrischen Blick« nicht primär als einen Photoapparat, der Innerlichkeiten nüchtern-sachlich abbildet bzw. in welchem der Psychiater dem Wahnsinnigen von Innen her – an der Stelle des verlorenen Ego – auf dessen Innerlichkeit blickt. Im übrigen ein Verständnis, welches sich im Gefolge Jaspers als Anspruch in der Psychiatrie eingebrannt hat, in der anthropologischen Psychiatrie des »Wengener Kreises« besonders prägnant-menschlichen Ausdruck fand89 und durch die PsychiatrieEnquête der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts auch zunehmend institutionellen Eingang gefunden hat.90 Dies gilt es näher zu betrachten. Die Schwierigkeit des ursprünglichen »psychiatrischen Blicks« ist ja folgende: Wenn das Nervensystem für sich genommen »eingebildete Wirklichkeiten« produziert, die erst vom vernünftigen und autonomen Ego auf ihren Wirklichkeitsgehalt überprüft werden müssen, könnte dann eine Unterscheidung von »Einbildung« und »realer Wirklichkeit« noch sicher gelingen? Hat doch im heutigen Verständnis das Ego keine Zugänge zur Realität abseits des Nervensystems. Hilft hier der Synthesis-Gedanke – auch im Sinne einer Kohärenzbildung unterschiedlichster Wahrnehmungen – weiter? Diese Frage scheint insbesondere im Hinblick auf wahnhafte Wirklichkeiten wichtig, zeichnen sie sich doch gerade durch ihre innere Kohärenz und Schlüssigkeit aus. Jaspers ging in seiner – gern und zu Recht als eigentlicher Beginn einer wissenschaftlich reflektierten Psychopathologie benannt – Allgemeinen Psychopathologie davon aus, dass die Seele selber uns nicht zum Gegenstand werden kann, sondern: »Sie wird Gegenstand durch das, als was sie in der Welt wahrnehmbar sich zeigt: in somatischen Begleiterscheinungen, in verstehbarem Ausdruck, im Benehmen, in Handlungen – weiter zeigt sie sich in Mitteilungen durch Sprache, sagt, was sie meint und denkt, bringt Werke hervor.«91 Dabei verstand er den »außerbewußten Unterbau« im Sinne des stets bewusst Unbemerkten als eine notwendige »theoretische Vorstellung«, die sich in ihrer »Fruchtbarkeit 283
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für die Erklärung des wirklich erlebten Seelischen und für die Schärfung der Beobachtung« bewähre.92 Zugleich begriff er die Wirklichkeit des Einzelnen als einen Ausschnitt aus dem »überhaupt möglichen« von Wirklichkeit, die ein jeder als seine Welt unabweislich vorfinde, sich damit in seiner Welt finde und sie zugleich hervorbringe.93 Insofern zeigt sich stets eine tiefe Entsprechung des Menschen mit seiner Welt. Der »psychopathologische Blick« versteht sich dann als eine zweiseitige Angelegenheit: Auf der einen Seite das Bemühen um »von innen gewonnenes Anschauen des Seelischen«, welches vom Kranken unmittelbar erlebt werde, vom Beobachter nur indirekt im Sinne vom »Hineinversetzen« zu vergegenwärtigen sei (sog. »Verstehen« bei Jaspers); auf der anderen Seite die »von außen direkt in der Welt aufzeigbaren Wirkungen des Seelischen«, welche vom Kranken nicht notwendig unmittelbar erlebt werden (sog. »Erklären« bei Jaspers).94 Wichtig bleibt, die Indirektheit des Seelischen auch im Falle des »Verstehens« nicht zu vergessen, denn hierin korrigiert sich der ursprüngliche »psychiatrische Blick«. Denn nun blickt der Psychiater dem Wahnsinnigen nicht mehr von Innen her ins Innere, sondern bemüht sich um ein Erblicken des Erlebens – des »von Innen her« – des »Wahnsinnigen«. Im »Verstehen« liegt also eine doppelte Indirektheit vor, wodurch sich zeigt, dass das Erleben des Kranken stets Referenzpunkt bleibt, aber niemals als vollständig »verstanden« verstanden werden kann. Jaspers betont mehrfach, dass es besonders dem Psychopathologen notwendig ist, »das Bewußtsein des Umgreifenden des Menschseins«, die Unerkennbarkeit des »Ganzen des Menschen« zu bewahren.95 Sonst drohe nicht nur die Gefahr der Übermacht des jeweiligen psychopathologischen Verstehens, sondern insbesondere in dieser Verabsolutierung eine Blindheit für das Seelische.96 Wie nun unterscheidet Jaspers in diesem korrigierten »psychiatrischen Blick« wahnhafte von nicht-wahnhaften Wirklichkeiten? Jaspers nimmt für das psychiatrische Wissen vom Wahn an, dass im Wahn an die Stelle des Wissens der Glaube gesetzt wird. Diese Ähnlichkeit von Glauben und Wahngewissheit folgt für Jaspers vor allem daraus, dass sich der intellektuelle Zweifel des wahnhaften Menschen im Dienste des Wahns befindet, er deshalb mit Hilfe seines Zweifelns den Wahn nicht unterlaufen kann. Es gibt aber auch klare Unterschiede von Glauben und Wahngewissheit. Folgen wir hier erneut Jaspers, so findet sich nach ihm die Gewissheit auf der Ebene des Bewusstseins, in welchem Wissen methodenabhängig entsteht und geordnet ist. Im Wissen 284
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finde sich eine Spaltung in das Subjektive, das wissende Bewusstsein und das Objektive, den bewussten bzw. gewussten Gegenstand. Der Glaube hingegen gehe über die Gewissheit schon insofern hinaus, als er sich aus dem gelebten Leben des Glaubenden bezeuge. Zugleich aber überschreite er die im Bewusstsein bestehende Subjekt-Objekt-Spaltung. Dieses Überschreiten geschehe aus dem Glaubensgehalt, welcher Umgreifendes und Erstaunendes ist und nicht sinnvoll verobjektiviert werden kann. Würden wir dies tun, würde er seinen Charakter des Umgreifenden, des Erstaunenden verlieren. Darin erhellt sich für Jaspers, dass Gewissheiten ohne den Wissenden bestehen, wohingegen Geglaubtes persönlich, d.h. existenziell ist. Jaspers eigener »philosophischer Glaube« ist insofern unruhig, stets sich selbst dialektisch unterfangend und ungewiss: »Er bleibt das Wagnis radikaler Offenheit.«97 Oder im Rückgriff auf das vorher Gesagte: das Bewahren des Erstaunlichen. Damit setzt sich zwar der Glaube im Wahn an die Stelle der Wahngewissheit, wie er es auch im Falle eines absolut geglaubten naiven Realismus tun würde, dieser Glaube des Wahnkranken ist aber für Jaspers nicht Glaube, sondern »Unglaube«, wie er das nennt.98 Denn für Jaspers kann der Wahnkranke seine im Wahn fixierte Subjekt-Objekt-Spaltung gerade nicht überschreiten. Denn gerade auf diesem Weg würde ja die Wahngewissheit ihrerseits unsicher, der Wahn selbst würde als prinzipiell Korrigierbares verstanden. In diesem Sinn kann der Wahnkranke nicht glauben, denn um glauben zu können – im Sinne von Jaspers –, muss Wissen korrigierbar sein. Für den Glauben muss die SubjektObjekt-Spaltung überstiegen werden können, muss das Erstaunen bewahrt werden. Der Wahn aber drängt sich dem Menschen in seiner unkorrigierbaren Wahngewissheit auf, bietet Halt. Er bietet sich an, wenn nicht mehr geglaubt werden kann. Glaubensgehalte »bleiben in der Schwebe des Nichtgewußtseins. […] Sie werden zu schnell wie ein Wissen behandelt und haben dann ihren Sinn verloren.«99 Im Wahn hingegen bleibt nichts in der »Schwebe«, sondern die »Schwebe«, das Erstaunende, das »primäre Wahnerlebnis« wird konkretisiert und vereinheitlicht. Im Wahn wird die »Schwebe« in eine unverrückbare Subjekt-Objekt-Spaltung getrieben, die gerade deswegen »verrückt« erscheint. Im Psychiatrischen versteht sich der Wahn als eine durchreichende Interpretation von Wirklichkeit, die daran leidet, sich ihrer Interpretation nicht zuweilen entledigen zu können, um das Ganze nochmals anders zu sehen.
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Diskussion Mit Jaspers bewahrt der Mensch die Korrigierbarkeit seiner Überzeugungen also nicht dadurch, dass sein Verstand im synthetischen Sinne alles einer umfangreichen Kohärenzprüfung unterzieht, sondern er kann mithilfe seines Verstandes alles einer korrigierenden Vernunftprüfung unterziehen, da er das Umgreifende in der »Schwebe« bewahren und aushalten kann. Diese innerste Ungewissheit, die Jaspers gerne mit Begriffen wie »Un-…-heit« oder »Un-…-barkeit« belegt und »un-fass-bar« zu »fassen« bzw. »fass-bar« zu »verpassen« bemüht ist, zielt auf eine Art »schöpferischen Grund« des (eigenen) Lebens, der die Frage beantwortet: Warum ist überhaupt etwas, und nicht vielmehr nichts? Aber zielt er hiermit nicht auf das Leben selbst? Das Leben erweist sich empfindend unmittelbar selbst ohne Distanz, ohne daß sich irgendein Abstand in ihm auftut, der es von sich selbst trennen würde, und ohne daß ein einziger Blick jemals in es eindringen könnte, um es als Gegenüber oder Objekt in irgendeinem Draußen zu entdecken. Das Leben ist an sich der Welt fremd, es ist akosmisch; und wenn die Welt einen ekstatischen Horizont der Sichtbarkeit bezeichnet, so ist es unsichtbar. Niemand hat jemals das Leben gesehen oder wird es jemals sehen. Wer hat jemals seine Mühe, seine Angst, seine Freude gesehen? Wer hat jemals Gott gesehen? […] Das Leben ist unsichtbar und dennoch ist es kein phänomenologisches Nichts, sondern weit entfernt davon! Vielmehr kommt in ihm das Erscheinen wirklich ursprünglich zum Erscheinen, und zwar insofern es sich selbst erscheint. Dieses Selbsterscheinen des Erscheinens ist genau jenes Leben, das sich selbst in jedem Punkt seines Seins erweist. Somit konstituiert und definiert dieser ständige und unzerbrechliche Selbsterweis zur gleichen Zeit wie das Wesen des Lebens auch das Wesen jeglicher Ipseität sowie eines jeden denkbaren Sich und folglich, was wir jeder tatsächlich in unserem wahrhaften und unvorstellbaren Sein sind.100
Und der Selbsterweis? Die Affektivität ist das Wesen eines jeden »sich erprobenden Erweises« in diesem ursprünglichen Sinne. Sie ist das Wesen des Lebens und der Ipseität. »Wesen« will besagen, daß es die phänomenologische Realität des Lebens ist: Es offenbart nicht das Leben, sondern bewirkt, daß das Leben sich ursprünglich sich selbst offenbart, sich selbst erweist, und in dieser Hinsicht ist das Wesen das Leben.101
Das Leben offenbart sich sich (!) selbst nicht nur im Erleben und verweist das Erleben an sich selbst, sondern erweist dem Erleben die Kraft der Selbst-Veränderung.102 Diese Kopplung von Erleben/Kraft ist in 286
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psychischen Erkrankungen in ihnen eigentümlicher Weise entkoppelt, denn sie entsprechen sich nicht. Dies macht den Leidenscharakter psychischer Erkrankungen aus.103 Ist der Mensch in diesem innersten und ursprünglichen Sinne sich selbst offenbar, geschieht ihm »mehr« als nur die Korrigierbarkeit seines Wissens. Nun ist allerdings diese Offenheit nicht der »Normalfall« und es ist zudem fraglich, ob der Mensch sich in der Offenbarung des Lebens anders festsetzen kann, als indem er erlebt. Da er dieses Erleben willkürlich nur im Suizid abreißen lassen und durchtrennen kann, welches jedoch bis zum Tod lebendig bleibt, fragt sich: Was haben wir im Hinblick auf wahnhafte Wirklichkeiten mit dieser Einsicht gewonnen? In einem »psychiatrischen Blick« wirkt die Aussage, dass wahnhafte Wirklichkeiten eigentümlich starr und »un-lebendig« sind, da in ihnen die Fülle des wirklich Möglichen reduziert wird, wenig konkret. Da sich das Leben als sich selbst übersteigend hervorbringt, und zwar in dem Sinne, dass es sich selbst als Sich-verständlich-übersteigend verständlich hervorbringt, liegt genau hier die besondere Qualität des Wahnhaften. Wahn ist eine Rückbindung des Unverständlichen ins Verständliche – infolge konkret inhaltlicher bzw. wirklicher Festsetzung –, ohne wahrhaft verständlich zu werden, da das Sich-verständlich-Übersteigen unverständlich wird. Im wahnhaften Erleben wird die »entkoppelte« Kraft wieder rückgekoppelt, es kann wieder gehandelt werden. So verstanden wird ein solches Verständnis wahnhafter Wirklichkeit im kulturellen Sinne virulent, denn nun können auch gemeinsame Wirklichkeiten gleichbedeutend als wahnhafte Wirklichkeiten verstanden werden. Der »psychiatrische Blick« wird damit als derjenige Blick verständlich, der innerhalb einer gemeinsamen Wirklichkeit – wie wahnhaft diese auch sein mag – sowohl diese gemeinsame Wirklichkeit gegen singuläre Vielfalten seiner Multiplikation schützt – da er sie als wahnhaft erkennt –, als auch – und dies ist gewissermaßen die Jaspersche Korrektur – singuläre Vielfalten gegen eine gemeinsame wahnhafte Reduktion schützt – da er sie als Wirklichkeiten erkennt.104 Im letzteren Sinne wären dann tatsächlich nur diejenigen Wahnerlebenden behandlungswürdig, die einen Leidensdruck erleben – auch wenn sie als Wahnerlebende psychiatrisch gewusst werden. In dieser Argumentation aber wird zugleich deutlich, dass der »psychiatrische Blick« grundlegend durch eine paranoide Stimmung gekennzeichnet ist. Dies nicht primär infolge seiner gemeinschaftlichen Schutz287
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funktion, die überall Wahnhaftes wähnt und aufzuspüren bemüht ist. Sondern weil er in seiner festlegenden Unterscheidung selbst sein Sichverständliches-Übersteigen unverständlich werden lassen muss, um verständlich wahnhafte von nicht-wahnhaften Wirklichkeiten unterscheiden zu können. Damit sind wir an den Anfang zurückgekehrt. Wir könnten die Argumentation von vorne beginnen, ohne an ein Ende zu gelangen. Was bleibt? Die grundlegende paranoide Stimmung des »psychiatrischen Blicks« zeigt, dass der »psychiatrische Blick« innerhalb des Psychiatrischen nicht in der willkürlichen Einflusszone des psychiatrisch Tätigen liegt. Er ist keine Brille, die innerhalb des Psychiatrischen willkürlich aufoder abgesetzt werden kann. Dies aber macht das Ablegen dieses Blicks bei entsprechender Gelegenheit umso nötiger, soll das Psychiatrische menschlich bleiben. Offenbar muss diese Gelegenheit dem psychiatrisch Tätigen aber von woanders herkommen. Dieses »Woanders« ist die vollkommen andere Situation, die ins Psychiatrische hineinragt, es bis zum »Umgreifenden« durchschlägt und dem Psychiatrischen darin die mögliche, vollkommen andere Interpretation aufweist. Erinnernd an Jaspers korrigierten »psychiatrischen Blick«, der sich um ein Erblicken des Erlebens, des »von Innen her« des Wahnsinnigen bemüht und weiß, ihn niemals vollständig verstehen zu können, kann dies durchaus die wahnhafte Wirklichkeit sein. Nicht in dem Sinne, sie als Wirklichkeit zu übernehmen, sondern sie als eine mögliche Wirklichkeit anzunehmen.
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Scharfetter, Christian: »Wissen – Meinen – Irren – Wähnen. Das Spektrum der Selbstund Weltkonstrukte«, in: Fundamenta Psychiatrica, Nr. 17, S.64-76, S.66. Vgl. z.B. Henry, Michel: Radikale Lebensphänomenologie, Freiburg 1992, S.201. Vgl. z.B. Möller, Hans-Jürgen/Deister, Arno: »Schizophrenie«, in: Möller, H.-J./Laux, G./Kapfhammer H.-P. (Hg.), Psychiatrie und Psychotherapie, Berlin/Heidelberg 2003, S.1051-1122, S.1066. Blasius, Dirk: »Einfache Seelenstörung«. Geschichte der deutschen Psychiatrie 18001945, Frankfurt/M. 1994, S.19ff.; Dörner, Klaus: Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie, Hamburg 1999, S.226ff.; Kaufmann, Doris: Aufklärung, bürgerliche Selbsterfahrung und die »Erfindung« der Psychiatrie in Deutschland 1770-1850, Göttingen 1995, S.111ff. Möller, Hans-Jürgen/Deister, Arno: »Schizophrenie«, a.a.O., S.1056. Jaspers, Karl: Allgemeine Psychopathologie, Berlin/Heidelberg 1973, S.86ff. Ebd., S.89. Wulff, Erich: Wahnsinnslogik. Von der Verstehbarkeit schizophrener Erfahrungen, Bonn 1995, S.138. Benedetti, Gaetano: Todeslandschaften der Seele, Göttingen 1998, S.31f. und 106ff. Scharfetter, Christian: »Wissen – Meinen – Irren – Wähnen«, a.a.O., S.72. So argumentiert auch Scharfetter, vgl. ebd., S.66f. Descartes, René: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Hamburg 1994, S.61ff. Duerr, Hans-Peter: Traumzeit. Über die Grenzen zwischen Wildnis und Zivilisation, Frankfurt/M. 1985, S.28ff. Dülmen, Richard van: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, Bd. 3, München 1994, S.78ff. Baruzzi, Arno: Die Zukunft der Freiheit, Darmstadt 1993, S.170f. Kupfer, Alexander: Die künstlichen Paradiese. Rausch und Realität seit der Romantik, Stuttgart 1996, S.90ff. Kant, Immanuel: »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«, in: ders., Werkausgabe, Bd. XII, Frankfurt/M. 1978, S.399. Baruzzi, Arno: Die Zukunft der Freiheit, a.a.O., S.177ff. Kaufmann, Doris: Aufklärung, bürgerliche Selbsterfahrung und die »Erfindung« der Psychiatrie in Deutschland, a.a.O., S.46ff.; Sonntag, Michael: »Die Vermessung der Seele. Zur Entstehung der Psychologie als Wissenschaft«, in: Dülmen, Richard van (Hg.), Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis in die Gegenwart, Köln 2001, S.361-384, S.362ff. Foucault, Michel: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt/M. 1991, S.11ff. Kaufmann, Doris: Aufklärung, bürgerliche Selbsterfahrung und die »Erfindung« der Psychiatrie in Deutschland, a.a.O., S.51ff. Ebd., S.55. Ebd., S.77. Stahl, Georg Ernst: Über den Unterschied zwischen Organismus und Mechanismus. Dissertatio inauguralis medica de medicina medicinae curiosae, Halle 1961, S.52ff.; vgl. allgemein zum Konzept der Lebenskraft Putscher, Marielene: Pneuma, Spiritus, Geist. Vorstellungen vom Lebensantrieb in ihren geschichtlichen Wandlungen, Wiesbaden 1974. Lohff, Brigitte: »Die Entwicklung des Experiments im Bereich der Nervenphysiologie. Gedanken und Arbeiten zum Begriff der Irritabilität und der Lebenskraft«, in: Sudhoffs Archiv, Nr. 64 (1980) S.105-129, S.128. Shyrock, Richard H: »The medical Reputation of Benjamin Rush. Contrasts over Two Centuries«, in: Bulletin of the History of Medicine, Nr. 45 (1971), S.507-552, S.540; Tsouyopoulos, Nelly: Andreas Röschlaub und die Romantische Medizin. Die philosophischen Grundlagen der modernen Medizin, Stuttgart 1982, S.213ff; Tsouyopoulos, Nelly: »German Philosophy and the Rise of Modern Clinical Medicine«, in: Theoreti-
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cal Medicine, Nr. 5 (1984), S.345-357, S.349ff.; Wiesemann, Claudia: Die heimliche Krankheit. Eine Geschichte des Suchtbegriffs, Stuttgart 2000, S.69ff. Zum Unterschied von Platner und Brown vgl. Oehler-Klein, Sigrid/ Wenzel, Manfred: »Reizbarkeit – Bildungstrieb – Seelenorgan. Aspekte der Medizingeschichte der Goethezeit«, in: Hölderlin Jahrbuch, Nr. 27 (1991), S.83-101, S.92ff. Benzenhöfer, Udo: Psychiatrie und Anthropologie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Hürtgenwald 1993, S.26. Kaufmann, Doris: Aufklärung, bürgerliche Selbsterfahrung und die »Erfindung« der Psychiatrie, a.a.O., S.56. Roelcke, Volker: Krankheit und Kulturkritik. Psychiatrische Gesellschaftsdeutungen im bürgerlichen Zeitalter (1790-1914), Frankfurt/M. 1999, S.101-111. Kaufmann, Doris: Aufklärung, bürgerliche Selbsterfahrung und die »Erfindung« der Psychiatrie, a.a.O., S.300ff. Foucault, Michel: Die Geburt der Klinik, a.a.O., S.162ff. Ebd., S.162ff. Fichtner, Gerhard: Die Psychiatrie zur Zeit Hölderlins. Ausstellungskataloge der Universität Tübingen, Nr. 13, Tübingen 1980, S.38. Ellenberger, Henry: Die Entdeckung des Unbewußten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung, Zürich 1996, S.304; Benzenhöfer, Udo: Psychiatrie und Anthropologie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, a.a.O., S.66ff.; Kaufmann, Doris: Aufklärung, bürgerliche Selbsterfahrung und die »Erfindung« der Psychiatrie, a.a.O., S.283ff. Dörner, Klaus: Bürger und Irre, a.a.O., S.289ff.; Hesselberg, Anne: Die Psychiatrie J.H.F. Autenrieths (1772-1835). Diss. Med., Tübingen 1981, S.122; Benzenhöfer, Udo: Psychiatrie und Anthropologie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, a.a.O., S.79. Vgl. Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe, Stuttgart 1943-1985, Bd. 7/2 (Dokumente 1794-1822), Nr.354, S.362-364. Vgl. Hesselberg, Anne K: Die Psychiatrie J.H.F. Autenrieths, a.a.O., S.152ff; Uffhausen, Dietrich: »›Weh! Närrisch machen sie mich‹. Hölderlins Internierung im Autenriethschen Klinikum als die entscheidende Wende seines Lebens, in: Hölderlin Jahrbuch, Nr.21 (1985), S.306-365, S.329-357. Dies soll nicht über Unterschiede hinwegtäuschen, wobei Reil sicherlich stärker an Kant und zeitgenössischer Philosophie orientiert und damit moderner war, wohingegen Autenrieth zwischen einem humoralpathologisch-voraufklärerischen und aufklärerischen Verständnis hin- und herwanderte. Dass Autenrieth dadurch in seinen Verständnissen nicht immer widerspruchsfrei war, kann wohl durchaus als typisch für Phasen tiefgreifender Verständniswandlungen angesehen werden, soll hier aber nicht genauer untersucht werden. Autenrieth, Johann H. F. von: Versuche für die praktische Heilkunde, Band I, Heft 1 und 2, Tübingen 1807, S.208. Reil, Johann C.: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, Amsterdam 1968, S.253. Reil, Johann C.: Ueber Erkenntnis und Kur der Fieber, Halle 1799-1815, Bd. IV, S.32ff. Koschorke, Albrecht: »Poiesis des Leibes. Johann Christian Reils romantische Medizin«, in: Brandstetter, G./Neumann, G. (Hg.), Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800, Würzburg 2004, S.259-272, S.268ff. Reil, Johann C.: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, a.a.O., S.33. Ebd., S.34. Ebd., S.63f. Ebd., S.46f. Autenrieth, Johann H. F.: Versuche für die praktische Heilkunde, a.a.O., S.204f. Ebd., S.208. Ebd., S.209. Hesselberg, Anne K: Die Psychiatrie J.H.F. Autenrieths, a.a.O., S.24. Autenrieth, J. H. F.: Handbuch der empirischen menschlichen Physiologie, Tübingen 1801-1802, Bd. 1, S.49 und Bd. 3, S.274ff. und 284ff.
»Wahnsinnig psychiatrisch« 52
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Vgl. Autenrieth, J. H. F.: Nachschriften der Krankengeschichten, zit. n.: Hesselberg Anne K: Die Psychiatrie J.H.F. Autenrieths, a.a.O., S.27ff. Sowie Fichtner, Gerhard: Die Psychiatrie zur Zeit Hölderlins, a.a.O., S.32ff. Dörner, Klaus: Bürger und Irre, a.a.O., S.147. Däubler, J. C.: De naturae maniae. Diss. med, Tübingen 1807, S.30ff, z. n.: Hesselberg, Anne K: Die Psychiatrie J.H.F. Autenrieths, a.a.O. Ebd., S.31. Ebd., S.32. Ebd., S.69. Ebd., S.138. Dörner, Klaus: Bürger und Irre, a.a.O., S.146. Kaufmann, Doris: Aufklärung, bürgerliche Selbsterfahrung und die »Erfindung« der Psychiatrie, a.a.O., S.299. Ebd., S.300; Dörner, Klaus: Bürger und Irre, a.a.O., S.146f. Kaufmann, Doris: Aufklärung, bürgerliche Selbsterfahrung und die »Erfindung« der Psychiatrie, a.a.O., S.300. Reil, J. C.: Rhapsodieen über die Abwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, a.a.O., S.180. Ebd., S.198ff. Ebd., S.200. Ebd., S.207. Ebd., S.213. Ebd., S.213. Autenrieth, Johann H. F.: Versuche für die praktische Heilkunde, a.a.O., S.199, S.219. Ebd., S.199. Ebd., S.312. Hesselberg, Anne K: Die Psychiatrie J.H.F. Autenrieths, a.a.O., S.28ff. Vgl. ebd., S.28ff., 40ff und 61ff. Autenrieth, Johann H. F.: Nachschriften der Krankengeschichten, a.a.O., S.97. Ders.: Versuche für die praktische Heilkunde, a.a.O., S.204f. Ebd., S.204. Ebd., S.208. Ebd., S.227. Ebd., S.211. Ebd., S.225. Ebd., S.212. Ders.: Nervenkrankheiten [1812], S.72, z.n. Hesselberg Anne K: Die Psychiatrie J.H.F. Autenrieths, a.a.O. Hesselberg, Anne K: Die Psychiatrie J.H.F. Autenrieths, a.a.O., S.133ff. Kaufmann, Doris: Aufklärung, bürgerliche Selbsterfahrung die »Erfindung« der Psychiatrie, a.a.O., S.300. Damit wird hier nicht behauptet, dass der »psychoanalytische Blick« freudscher Prägung ausschließlich die Struktur des ursprünglichen »psychiatrischen Blicks« reproduziert. Schließlich erschöpfte sich auch die Freudsche Psychoanalyse keineswegs im analytischen Setting und »Projektionen«. Allerdings legt die hiesige These zum ursprünglichen »psychiatrischen Blick« eine Prüfung der benannten Blickstruktur auch für den »psychoanalytischen Blick« nahe, wie die zeitlich spät einsetzende Gegenübertragungsdiskussion in der Psychoanalyse zeigt. Sass, Henning/Hoff, Paul: »Deskriptiv-psychopathologische Befunderhebung«, in: Möller, H.-J./Laux, G./ Kapfhammer H.-P. (Hg.), Psychiatrie und Psychotherapie, a.a.O., S.382-399, S.393f. Schinkel, Andreas/Schlimme, Jann: »Aktives Vertrauen, aktives Misstrauen und Paranoia. Thesen zu Personalität und Sozialität«, in: Handlung Kultur Interpretation, Nr.11 (2002), S.134-153, bes. S.141ff. Scharfetter, Christian: »Wissen – Meinen – Irren – Wähnen«, a.a.O., S.67ff. Passie, Thorsten: Phänomenologisch-anthropologische Psychiatrie und Psychologie, Hürtgenwald 1995, S.17ff; Emrich, Hinderk M/Schlimme, Jann: »Heidegger in Psychiatrie, Psychoanalyse und Psychotherapie. Wider das ›Gestell‹ des Psychologi-
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Jann Schlimme
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91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104
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schen«, in: Thomä, Dieter (Hg.): Heidegger-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart 2003, S.486-492, S.487f. Pfefferer-Wolf, Hans: Der sozialpsychiatrische Habitus. Umrisse einer Theorie der Sozialen Psychiatrie, Frankfurt/M. 1999, S.214ff. und 233ff. Entgegen eiliger Schlüsse bedeutet dies jedoch keineswegs, dass die Stimmung des Paranoiden im heutigen »psychiatrischen Blick« fehlen würde. Diese fehlende Entkräftung der These hat hingegen nichts mit dem gern bemühten Unterschied von »Anspruch« und »Wirklichkeit« zu tun, sondern gibt im Gegenteil der These erst ihre aktuelle Virulenz. Versteht sich der »psychiatrische Blick« vom Blickenden her nicht mehr (ausschließlich) als Photoapparat und er selbst als Filmleinwand der projektierten Innerlichkeit des Erblickten, werden sowohl die Wechselspiele der Blickstrukturen im Psychiatrischen interessant als auch die Phänomene, die schematisch weiterhin mit dem »Photoapparat« und der »Filmleinwand« verstanden werden könnten. Genau auf ein solches Verständnis zielt ja der hier unternommene Versuch. Jasper, Karl: Allgemeine Psychopathologie, a.a.O., S.8. Ebd., S.9. Ebd., S.11. Ebd., S.22ff. Ebd., S.24ff. Ebd., S.29f. Jaspers, Karl: Der philosophische Glaube, München 1974, S.16. Ebd., S.91ff. Ebd., S.33. Henry, Michel: Radikale Lebensphänomenologie, a.a.O., S.196f. Ebd., S.198f. Ebd., S.199ff. Rombach, Heinrich: Strukturanthropologie. »Der menschliche Mensch«, Freiburg/Breisgau 1993, S.142, S.322ff. Letzteres ist sicherlich geläufiger unter dem Begriff einer »sozialpsychiatrischen Korrektur«. Jaspers soll hier nicht als Sozialpsychiater bezeichnet werden, sondern es soll auf den korrigierten »psychiatrischen Blick« hingewiesen werden.
Karl-Josef Pazzini
Zur Konstellation von Wahn, Wissen und Institution im psychoanalytischen Setting
Wahn ist ein in und mit der Psychiatrie abgrenzbares Phänomen geworden, so scheint es, das mit einiger Gewissheit diagnostiziert, eingegrenzt und behandelt werden kann. Nicht immer mit Aussicht auf Erfolg. Das Erzielen von Gewissheit ist ein Effekt des Wahns. Wissenschaften sollen, jede auf eine andere Art und in anderen Zusammenhängen, Wahnhaftes ausschließen, Vernunft fördern und schützen und dabei Gewissheit, zumindest im Sinne von Verlässlichkeit, hervorbringen; sie sollen eine »gewisse« Sicherheit bieten. Dabei kann Wissenschaft sich aber auf keine Offenbarung, keine Autorität, keinen externen sicheren Grund mehr berufen. Gewissheit soll daraus resultieren, dass sichergestellt wird, dass Wissenschaften nur das produzieren, was mit Mitteln einer empirischen oder logischen Überprüfung als nachvollziehbar, überprüfbar dargestellt werden kann. Gewissheit wird demnach nicht vorausgesetzt oder von woanders her garantiert, sondern wird weitgehend garantiert durch die Verfahrensweisen, die eine Überprüfung der resultierenden Ergebnisse ermöglichen sollen und Irrtümer korrigieren können. Gewissheit kann nicht absolut fundiert werden, sondern wandert ab in institutionell etablierte Verfahrensweisen, in Rituale, könnte man sagen, und manchmal deren kreative Weiterentwicklung. Anders formuliert: Wissenschaft hat die Aufgabe, dennoch Gewissheit hervorzubringen. Worin diese Qualität besteht, ist äußerst schwierig darzulegen. Ohne im Detail in verschiedene erkenntnis- oder wissenschaftstheoretische Diskurse zu gehen, sei einfach gesetzt: Die extensi293
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ven Bemühungen um die Überprüfbarkeit, Nachvollziehbarkeit, Falsifikation, Verifikation von wissenschaftlich gewonnenen Ergebnissen, deren Kontrolle und Evaluation, deren Exzellenz sind Symptome einer Suche nach Gewissheit, auch wenn sie als vorläufig bezeichnet wird. Erst im Vollzug der überprüfbaren Operationen wird deutlich, dass lediglich die Vorgehensweisen selber Gewissheit produzieren. Sie bewegt sich in reflexiven Rückgriffen zur Erzeugung von Kontinuität vorwärts. Dass es weder eine äußere noch eine innere Garantiemacht gibt, auch keine jenseitige, das hat Descartes in aller Schärfe aufgezeichnet. Mehr noch: Descartes hatte die entfesselte Neugier, die sich im Kombinieren und Erfinden ergeht, verdammt im Namen der Methode1. Eben jenes aus der Perspektive der strengen, wiederholbaren Methoden wilde Kombinieren und Erfinden, das keine Prozesssicherheit in dem Sinne vermittelt, dass man wissen könnte, woher etwas komme, wozu etwas gehöre und der Prozess damit reversibel und wiederholbar bleibe. Descartes antwortete damit auf eine weit verbreitete Klage: »Das ›neugierige Auge‹ – des Betrachters oder des Schöpfers – wird […] bedroht von den Exzessen des eigenen Enthusiasmus« schreibt Stoichita Lipsius zu Beginn des 17. Jahrhunderts zitierend. Die Methode des neugierigen Auges ist die des Kombinierens und Erfindens. Descartes stellt fest: »Der allen Menschen gemeinsame Wunsch zu wissen ist eine unheilbare Krankheit, denn die Neugier wächst mit der Lehre.«2 Zumindest der Intertext, der die kombinatorischen Möglichkeiten vielfältiger Verbindungen erzeugt, wird als gefährlich eingeschätzt. Descartes begründet die These von der Unheilbarkeit der Krankheit des Wissenwollens mit der Lehre. Auch die Lehre der Methode und die methodisch klare und distinkte Lehre selber tragen zur Unheilbarkeit bei. »Der ›unersättlichen Neugier‹ setzt er die ›geregelte Seele‹ gegenüber«3, damit es zu nachvollziehbaren Erkenntnissen kommt. Die von Descartes entwickelte Methode, der unser wissenschaftliches Arbeiten soviel verdankt, treibt unersättliche Neugier und Forschen hervor, die sich im selben System nicht einfangen lassen. Damit wird indirekt und vielleicht wider Willen eine Offenheit und Pathologie erzeugt. Es stellt sich die Frage, wie wird in der Wissenschaft damit umgegangen, wie werden Grenzen gesichert, also Definitionen in Kraft gesetzt? Unersättliche Neugier wird im Verhältnis zu der von Descartes ausgearbeiteten Methode zur Krankheit. Die Präsentation seiner Methode nennt er ein Gemälde,4 er erzählt »gleichsam eine Geschichte«, »gleichsam eine Fabel«5, er wollte sich von den Theorien abwenden, wollte die un294
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mittelbaren Effekte der Gedanken in den alltäglichen Angelegenheiten kennen lernen.6 Der Gründungsmythos der modernen Wissenschaft kommt in Gestalt einer Fiktion, einer Art Autobiographie an die Öffentlichkeit. In diesem Darstellungsprozess liegt noch eine Ahnung der Unabschließbarkeit. Sie wird als die Krankheit der Neugier bezeichnet, d.h. auch als ein Bestreben, Gewissheiten zu verlassen, Methoden zu unterminieren. Diesen ungesicherten Grenzen zum Trotz wurde Wahn im Laufe der Neuzeit zu etwas Pathologischem, an dem man leidet oder zu leiden hat (spätestens an den Folgen, wenn er einmal diagnostiziert ist).7 Dennoch bleibt unklar, wie Wahn abgegrenzt werden kann, da einige Definitionsmerkmale des Wahns, wie Gewissheit, Systematizität, in Zusammenhang gebracht mit der notwendigen Fiktionalität von Forschungsprozessen und ihrer Überprüfung, starke Gemeinsamkeiten mit den Erfordernissen einer auf Sichtbarmachung basierenden Wissenschaft aufweisen.8 Die wissenschaftlichen Prozeduren generieren institutionelle Grenzen und gleichzeitig sind sie den Rückwirkungen dieser Grenzziehungen unterworfen, Grenzen, die besagen, was wie erforscht werden kann und soll. An dieser Stelle müsste nun praktischerweise eine Definition dessen stehen, was Wahn jenseits des Pathologischen gegenwärtig sein könnte, es müsste auch deutlicher werden, warum die gegenwärtigen und so gewordenen Abgrenzungen nicht zufrieden stellend sein können. Eine solche Verfahrensweise wäre allerdings gewaltsam und müsste dem Verdacht unterliegen, ein weiteres Ghetto für das Wahnhafte zu schaffen, vielleicht ein etwas liberaleres. Eine solche Verfahrensweise – so die These – steht auch, bezogen auf das hier auftauchende Problem, nicht zur Verfügung. Es würde wiederum nur mit einer etwas anderen Gewichtung als bisher unterschieden, was noch erlaubt sei, was noch erträglich sei, was vielleicht noch im kreativen Sinne produktiv sei, ästhetisch anregend und was nicht. Es würde eine neue Norm aufgestellt, die von letztlich doch bipolarer Unterscheidung spricht.9 Wo wäre der Ort, von dem aus das bestimmt werden könnte, woher käme die Autorität, die den Kriterien Geltung verleihen könnte?
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Vorschlag Hier soll ein anderes Verfahren vorgeschlagen werden: Zunächst ist davon auszugehen, anzuerkennen, dass mehr oder weniger deutlich eine Definition des Wahns entstanden ist, der vermeintlich zu seinem Ausschluss aus dem Bereich des Normalen geführt hat. Wahn ist demnach aufzulösen, still zu stellen, auszuschließen, zu heilen. Mit Wahn rechnet man jenseits eines pathogenen individuellen Schicksals oder einer kollektiven, etwa fundamentalistischen Ideologie nicht. Wenn er woanders als dort aufgespürt wird, wird er in der Regel auf eine der beiden Formen zurückgeführt und »behandelt«. Der Wunsch nach Ausschluss des (pathologisch gewordenen) Wahns resultiert aus seiner imponierenden Gewissheit, die der Notwendigkeit der Bezweifelbarkeit aller Gewissheiten, wie Descartes es nachgewiesen hatte, widerspricht. (Pathologischer) Wahn kann durch kein argumentatives Verfahren erreicht oder erschüttert werden. Er markiert das Ende der Neugier. Darin liegt aus der Perspektive der Moderne in der Tat eine nachvollziehbare Gefahr, weil hier etwas außerhalb ihres Einflussbereiches gerät, das in seinem Ausschluss tatsächlich sich zu großer destruktiver Handlungsmächtigkeit entwickeln kann. Bisher ist allerdings auch nicht die Frage beantwortet, ob diese Macht nicht auch aus der Kraft des Ausschlusses resultiert, also in gewisser Weise eine geliehene Macht ist. Es bleibt also immer auch der Verdacht, dass nicht nur das Wahnhafte als solches diese destruktive Potenz an sich hat, indem es unmoderiert durch die Differenzierungen eines Diskurses, die aus der Bezweifelbarkeit kommen, folglich also das jeweils Fremde wahrnehmen und sogar aufnehmen könnte, der Destruktivität des Imaginären zum Durchbruch verhilft. Die destruktive Potenz des Wahns käme, so der Verdacht, durch den Ausschluss selber zustande.10 Die Ängste, die vor einem vornehmlich in einem psychiatrischen Diskurs bestimmten Wahn entstehen, sind berechtigt. Es kann demnach die Frage gestellt werden, wie unter den gegenwärtigen institutionellen Gegebenheiten mit der Schwierigkeit der Ab- und Ausgrenzung eines zum Pathologischen und damit Destruktiven hin tendierenden Wahns umgegangen wird. Die Frage verschärft sich dahin, ob nicht der Wahn etwas sei, das bei den bekannten Institutionen infolge 296
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der Abgrenzungsprozeduren, die eine Verfahrensgewissheit garantieren sollen, plötzlich auf beiden Seiten der Grenze auftaucht,11 dann aber auf Seiten der Institution verleugnet werden muss. Der Versuch der Ausgrenzung des Wahns konzentriert nicht etwa das destruktive Potential auf der ausgegrenzten Seite, sondern wirkt zurück auf das, was geschützt werden soll, weil der Wahn auch Momente enthält, die zu einer lebendigen Produktion neuer Erkenntnisse und Erfahrung notwendig sein können. Die Psychoanalyse hat darauf aufmerksam gemacht, dass selbst die Wahnbildungen der Paranoiker […] eine unerwünschte äußere Ähnlichkeit und innere Verwandtschaft mit den Systemen unserer Philosophen [zeigen]. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier Kranke in asozialer Weise doch dieselben Versuche zur Lösung ihrer Konflikte und Beschwichtigung ihrer drängenden Bedürfnisse unternehmen, die Dichtung, Religion und Philosophie heißen, wenn sie in einer für eine Mehrzahl verbindlichen Weise ausgeführt werden.12
Kennzeichen des abgegrenzten Wahnes, des pathologischen, ist hier seine Asozialität. Er ist mit nichts mehr verbunden und gewinnt daraus aus der Innensicht des Wahnsinnigen seine Absolutheit, seine Überzeugungskraft; allerdings mit dem Effekt, dass der individuelle Paranoiker etwa nicht mehr mit den Mitteln zu erreichen ist, die die anderen wähnen lassen, sich in der Sozialität, in der Gemeinschaft zu befinden. Das führt gegenwärtig zu dem Notbehelf – ähnlich wie Descartes ihn zunächst in Erwägung zog –13, dass die Kriterien für die Anerkennung und damit für die Gewissheit an institutionsfremde Kategorien ausgeliefert wird, wie Brauchbarkeit einer Unterscheidung, Effekte der wissenschaftlichen Ergebnisse in den alltäglichen Beschäftigungen, Anwendbarkeit des Wissens, wirtschaftliche Nützlichkeit, die außerhalb der Logiken des zu Unterscheidenden selber liegen, Entlastung von der Einsamkeit gewähren, in die sich Descartes und in der Folge viele Wissenschaftler künstlich brachten. Die Einsamkeit tendiert dazu, Beziehungen herstellen zu wollen. Descartes war sich aber ganz im Klaren darüber, dass sein Methodenvorschlag eine experimentelle Situation schildert; es war eine Fabel, eine Autobiographie, in der er darlegt, wie er seinem Begehren nachgegangen ist. Er konnte das offensichtlich noch zusammenhalten und unterscheiden. Darin liegt seine Produktivität. Der größte Teil der Rezeption der Descartschen Gedanken lief aber offensichtlich so, als handele es sich um die Beschreibung einer Wunsch297
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erfüllung, einen Weg in die Distanz von all den ausgedehnten Dingen und den Dingen, die sich am eigenen Körper ausdehnen, bei der Erektion und der Schwangerschaft (auch dies Elemente einer metaphorischen Rede). Das Begehren, gekürzt auf Wunscherfüllung, lässt den paranoischen und wahnhaften Zug dauernder Kontrolle, des Verdachts der Täuschung und der Erfüllung neuzeitlicher Wissenschaft entstehen. Verkürzt könnte man sagen: Der nicht ausschließbare paranoische Zug neuzeitlicher Wissenschaft, die den Wahn auszuschließen sucht, rührt daher, dass Descartes sich künstlich in die Situation der Ungewissheit versetzt hatte. Der Psychoanalytiker Sciacchitano umschreibt das so: Ich erschaffe mir eine künstliche Ungewissheit, indem ich Wahrnehmungen, logische und mathematische Überlegungen, bewährte Überzeugungen ausser Geltung setze, um die Gewissheit nicht mehr bloß auf der Kenntnis der Ursache, sondern auf sich selbst zu gründen, das heisst auf die Gewissheit der eigenen Ungewissheit. Ich, das zukünftige Subjekt der Wissenschaft, bin es, der ich festlege, dass ich all das, was ich weiss, gar nicht weiss – um das Wissen auf ein gleichsam sicheres Fundament stellen zu können.14
Die künstliche Ungewissheit erzeugt aber lediglich eine denkende, asoziale Existenz des Individuums. Die Erfahrung zeigt schon auf das Denken bezogen, dass das Individuum nicht unbedingt weiß, was es denkt, dass es immer auch noch etwas anderes denkt, das es nur nachträglich konstruieren kann, wie Freud aufzeigte, und im nächsten Schritt Lacan dies auf die Ungewissheit des Anderen erweiterte. Instruktiv dargestellt im Gefangenensophisma (der volle Titel lautet hier einschlägig: Die logische Zeit der Assertion der antizipierten Gewißheit. Ein neues Sophisma)15. Im Gefangenensophisma wird gezeigt, dass die Logik temporalisiert und in den Diskurs um die Wahrheit die soziale Diskurskomponente des Risikos, des Muts, des Vertrauens und des Handelns im rechten Augenblick, eine Zeit zum Begreifen und die Hast des Schließens eingeschlossen werden. Wissensproduktion (Urteilsfindung) wird sozialisiert und erweist zunächst als Akt und in der Formulierung nur nachträglich und nicht wiederholbar ihre Wahrheit. Ein Akt im Lacanschen Verständnis hat als Effekt eine retroaktive Veränderung der Bedingungen des eigenen Sprechens, man erkennt sich und andere dann nicht unmittelbar wieder. Das ist etwas anderes als die Auflösung eines imaginären Widerstandes, als die Überschreitung eines Verbotes, sondern eine unausweichliche Veränderung des Maßstabes. Es gibt dann einen Moment der Inkommensurabilität, ein Auftauchen des Subjekts. Das hat 298
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Strukturähnlichkeit mit Liebe und dem Durcheinander der Verliebtheit.16 In der Verliebtheit und der Liebe werden die Grenzen des Verstandes überschritten, das zu Beurteilende wird inkommensurabel,17 wird die Begrenzung der Vernunft aufgehoben, deren Begrenzung darin besteht, dass sie keine Grenze kennt (weder im Raum, noch in der Zeit – Cyberspace). Es entsteht die Urform der Para-Noia. Jede symbolische Konstruktion wird anfechtbar. Das muss man wahrnehmen können dürfen. Es entsteht Angst, denn es gibt keine Garantie dafür, die jenseits als Orientierung dienen könnte. Es wird Aggressivität freigesetzt, weil sich das Bild von sich und der Welt nicht in einer geschlossenen Gestalt zur Ruhe bringen lässt. Nur die Wahrnehmung (verstanden als Rezeption und als »Für-wahr«-Nehmen) dieses Risikos lässt ein handlungsfähiges Subjekt auftauchen, ermöglicht das Wähnen auf der einen und limitiert möglicherweise den Leiden machenden Wahn auf der anderen Seite. Durch die von Descartes erstmalig radikal vorgenommenen Operationen an den Grenzen der Zuverlässigkeit definierenden Denkens fehlt wissenschaftlichen Ergebnissen die Qualität der Gewissheit, wie sie aus den in der Neuzeit für die Wissenschaft durch Säkularisierung abgeschnittenen Quellen des Hoffens, Glaubens und Liebens, aber auch der Angst und Aggressivität erst entstehen können. Diese Momente verlieren fortan ihre Dignität, Gravität und Gravitation im Wissenschaftsbetrieb, nicht unbedingt in der individuellen Alltagspraxis etwa des universitären Wissenschaftlers, wohl aber in den Prozessformen der Wissensproduktion selber. Im Vorgriff auf das Folgende sei an dieser Stelle Freuds Reflexion über den (pathologischen) Wahn und seine Behandlung eingefügt: Freud schreibt 1907 anlässlich seiner Reflexionen über W. Jensens Gradiva: Wenn die junge Dame, in deren Gestalt die Gradiva wieder aufgelebt ist, Hanolds Wahn so voll aufnimmt, so tut sie es wahrscheinlich, um ihn von ihm zu befreien. Es gibt keinen anderen Weg dazu; durch Widerspruch versperrte man sich die Möglichkeit. Auch die ernsthafte Behandlung eines wirklichen solchen Krankheitszustandes könnte nicht anders, als sich zunächst auf den Boden des Wahngebäudes stellen und dieses dann möglichst vollständig erforschen. Wenn Zoe die richtige Person dafür ist, werden wir wohl erfahren, wie man einen Wahn wie den unseres Helden heilt. Wir wollten auch gern wissen, wie ein solcher Wahn entsteht. Es träfe sich sonderbar und wäre doch nicht ohne Beispiel und Gegenstück, wenn Behandlung und Erforschung des Wahnes zusammenfielen und die Aufklärung der Entstehungsgeschichte dessel-
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ben sich gerade während seiner Zersetzung ergäbe. Es ahnt uns freilich, daß unser Krankheitsfall dann in eine »gewöhnliche« Liebesgeschichte auslaufen könnte, aber man darf die Liebe als Heilpotenz gegen den Wahn nicht verachten, und war unseres Helden Eingenommensein von seinem Gradivabild nicht auch eine volle Verliebtheit, allerdings noch aufs Vergangene und Leblose gerichtet? 18
Freud betont, dass das, was den Wahn hat zustande kommen lassen, nicht von Außen erkannt werden kann, sondern sich erst in der Erforschung durch Behandlung oder der Behandlung als Erforschung zersetzt und dabei in einer Konstruktion seine Elemente freigibt. Auch bezogen auf die Nichtirritierbarkeit des Wahns, seine Gewissheit schlägt Freud vor, dass man sich dieser Gewissheit, um sie aufzulösen, nicht alleine argumentativ, sondern auch durch ein Äquivalent, den Glauben, nähern müsse: Sondern in jedem Wahn steckt auch ein Körnchen Wahrheit, es ist etwas an ihm, was wirklich den Glauben verdient, und dieses ist die Quelle der all so weit berechtigten Überzeugung des Kranken. Aber dieses Wahre war lange Zeit verdrängt; wenn es ihm endlich gelingt, diesmal in entstellter Form, zum Bewußtsein durchzudringen, so ist das ihm anhaftende Überzeugungsgefühl wie zur Entschädigung überstark, haftet nun am Entstellungsersatz des verdrängten Wahren und schützt denselben gegen jede kritische Anfechtung. Die Überzeugung verschiebt sich gleichsam von dem unbewußten Wahren auf das mit ihm Verknüpfte, bewußte Irrige und bleibt gerade in Folge dieser Verschiebung dort fixiert.19
Fragen Man kann die Unterscheidungsproblematik auch noch anders deutlich machen: Kann man von einem für Wissenschaft und Kunst notwendigen, unvermeidlichen, produktiven Wahn sprechen? Legt das die zwar oft anekdotenhafte Erwähnung des Zusammenhangs von Wahnsinn und Genie,20 die Figur des »mad scientist« nicht nahe, die immer wieder auch als Faszinosum eingesetzt wird? Könnte hier von einem Wahn die Rede sein, der gerade so eben nicht pathologisch ist? Wenn die Problemskizze zutreffend ist, stellt sich die weitere Frage, ob es möglicherweise Strukturen für Institutionen geben kann, die der schwierigen Grenzziehung gerechter werden könnten, die auf eine andere Weise Grenzen zu ziehen nahe legen. Es ist dabei überhaupt fraglich, 300
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ob man in dieser aktiven Form von einer Intention, Grenzen zu ziehen, schreiben kann oder ob diese Grenzen medial (im Sinne der griechischen Grammatik), also weder aktiv noch passiv, sind. Wenn zudem noch die Annahme einiges für sich hat, dass die Descartschen Unterscheidungen und methodologischen Überlegungen ganz wesentlich zu der Problematik überprüfbarer Grenzziehungen aus der Gewissheit des zweifelnden Denkens beigetragen haben, es aber nirgendwo eine Institution im Bereich etablierter Wissenschaft gibt, die dem daraus resultierenden paranoiden Zugs der Denkens- und der Wissenserzeugung einen sozialen Ort seiner Berücksichtigung und Bearbeitung gibt, dann wäre nach Ansätzen zu suchen, die sich vom Projekt der Aufklärung, das mit »Descartes«21 formuliert wurde, nicht verabschiedet haben, dennoch seine Reste nicht als außen befindliche betrachten und wiederum zum Objekt der Analyse machen, sondern Vorgehensweisen entwickeln, die auf die Folgen der Abgrenzung des Wahns, seiner problematischen Eingrenzung auf bestimmte pathologische Phänomene eingehen können als konstitutivem Bestandteil menschlicher Subjektivität. Universität stellt gegenwärtig ein Setting zur Verfügung, das nach dem Vorbild eines individuellen cartesianischen Forschers gebaut ist: Er muss in die Lage versetzt werden, sich von der alltäglichen Lebenswelt zu distanzieren, ein körperloser Agent werden zu können, der die Ergebnisse seiner Forschung an Ausschnitten jener Lebenswelt überprüft. Dabei ist nach wie vor das Problem nicht gelöst, wie eine solche Gegenüberstellung – was auch heißt Grenzziehung – faktisch gelingen kann, wenn sie nicht einmal im Denken stringent durchgeführt werden kann. Es ist etwas, das dieser Grenzziehung widersteht, was den Kern des cartesianischen Subjekts ausmacht,22 wofür die Vorstellung eines selbsttransparenten Ichs nur eine Verlegenheitslösung ist. Der Forscher, wie jedes Individuum, erleidet durch den Rückzug auf den Discour de la Methode einen Realitätsverlust, der nur durch eine Konstruktion, die Beziehungen und Verbindungen zwangsläufig (und nicht freiwillig) herstellt, »geheilt« werden kann. Diese Herstellung von Verbindung wird aber kaum in ihrem (unvermeidlich) fiktiven Charakter analysiert, sondern eher im Sinne eines Sachzwangs akzeptiert, quasi als natürliche Folge mit erleichternder Gewissheit aufgenommen oder die Wiederherstellung eines Zusammenhangs wird unter Verleugnung der Konstruktivität der Beziehung zur »Außenwelt« als Antwort von Daten auf die Theoriebildung gesehen. 301
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Dies geschieht insbesondere in naturwissenschaftlich ausgerichteter Forschung. Eher in den Blick kommt die Konstruktivität dieses Hiatus in den so genannten Geisteswissenschaften, weil sie zum Gegenstand der Forschung selber gehört; nicht zu verleugnen ist die Fiktivität des Übergangs in den Künsten, weil, wie deren Entwicklung spätestens seit der Moderne zeigt, diese Beunruhigung zu ihrem Thema gehört.23
Freuds Forschungen Freud kommt als naturwissenschaftlich ausgerichteter Mediziner gegen Ende des 19. Jahrhunderts an eine ähnliche Problematik dadurch, dass er sich mit Leiden befasst, die auf die Konstruktionen der Naturwissenschaft als höchst fragile aufmerksam machen.24 Freud bleibt Naturwissenschaftler, aber einer, der die Konstruktionen als fiktive wahrnimmt, für wahr nimmt. Die Psychoanalyse dagegen bricht mit der Psychologie, indem sie mit der Unvernunft
spricht, welche im Wahnsinn spricht, indem sie also durch diesen Wortwechsel nicht zum klassischen Zeitalter selbst zurückkehrt, das im Unterschied zur Psychologie eben den Wahnsinn als Unvernunft bestimmt hatte, wenn auch, um ihn aus- oder einzuschließen, sondern zu jenem Vorabend des klassischen Zeitalters, von dem dieses noch heimgesucht wurde.25
Und diese Fiktion, bzw. deren Untersuchung lässt Freud Rücksicht nehmen auf die Grenzen der Darstellbarkeit. Die Darstellbarkeit bezieht sich aber nicht nur auf die Niederlegung von Forschungsergebnissen in schriftlicher Form, sondern auch auf das Setting der Gewinnung von Erkenntnissen. In diesem Zusammenhang möchte ich allerdings nicht in erster Linie die Entdeckung der Psychoanalyse als Konzept entfalten, sondern der Dimension dieser Erfindung im Sozialen nachgehen, wie sie sich im sozialen Feld eingerichtet hat. Ich möchte Freuds Setting daraufhin untersuchen, ob es strukturell Anhaltspunkte bietet, die unhintergehbare Fiktionalität, die aus den Descartschen Überlegungen folgt, zu beachten, also nicht zu verleugnen, den Hiatus auszuhalten und damit dem Wahnsinn einen Ort zu geben, an dem er nicht eingekapselt oder ausgeschlossen werden muss, so dass er lediglich zum Objekt einer scheinbar zur Distanz fähigen Beobachtung werden muss. Die philosophischen Prämissen hierzu finden sich etwa bei Derrida und Zizek.26 302
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• Zunächst soll vorgeschlagen werden, das psychoanalytische Setting daraufhin zu untersuchen, ob und wie dieses den Auswirkungen des Ausschlusses des Wahns in einer veränderten Fundierung von Institution Rechnung trägt. • Es soll untersucht werden, inwieweit dessen Struktur den Folgen der Moderne (Grenzen des [natur-]wissenschaftlich orientierten, nach dem Modus der Beherrschbarkeit finalisierten rationalen Denkens) im Sozialen eine Alternative bietet. • Eine weitere im Folgenden nur angedeutete Überlegung ist: Wie hängt die Entwicklung des psychoanalytischen Settings auch mit der veränderten Gefasstheit der Gesellschaft in Form der Demokratie zusammen? Um dies zu klären, muss etwas weiter ausgeholt werden.
Erfindung des psychoanalytischen Settings Die Erfindung des psychoanalytischen Settings resultierte aus dem aufgeklärten Forscherimpetus eines Naturwissenschaftlers, der als Psychiater praktizierte. Freud war, wie er schrieb, »bei Lokaldiagnosen und Elektroprognostik erzogen worden«27 und sah sich mit Leiden konfrontiert, die mit naturwissenschaftlichen Methoden nicht erklärbar und auch nicht behandelbar waren. Es tauchten Symptome auf, die etwas anzeigten, für das kein physiologisches Korrelat gefunden werden konnte, das in keiner Weise nach bisher geltenden wissenschaftlichen Methoden beobachtbar gewesen wäre oder hätte sichtbar gemacht werden können. Das war ein Zug der Problemstellung, die zur Konturierung der Psychoanalyse führte. Nimmt man das Symptom als Signifikant, dann traten in der anfänglichen Irritation, aus der die Psychoanalyse sich entwickelte, Signifikat und Signifikant auseinander, aber nicht beliebig. Es galt den Versuch zu unternehmen, eine Konstruktion zu finden, eine Beziehung zwischen beiden durch (nicht nur individuell produzierte) Einbildung herzustellen. Sowohl die Reste mittelalterlichen Begriffsrealismus, aber auch die eines strengen Nominalismus zerbröselten. Das Sprechen und die Sprache wurden fremd als Instrumente der Abbildung oder auch der Beherrschung der Welt, ebenso als Instrumente nur der Kommunikation. Denen, die die Problemstellung nicht ertragen konnten, blieb der Ausweg, die Freud zur Forschung und zum Experimentieren veranlassenden 303
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Symptome als Vortäuschungen (Simulationen) zu klassifizieren. Was aber war das Kriterium, um zwischen Realität und Täuschung zu unterscheiden? Wie weit war in die so angenommene Täuschung ein bewusster Wille involviert? Hieß das, die Symptome selber seien die Krankheit, zeigten aber nichts an, verwiesen ins Leere? Sie hätten sozusagen nur Zeigefunktion oder seien Kommunikations- und Interaktionsanlass, eine Forderung nach Anerkennung (von was?), ohne feste, d.h. sichtbare Anhaltspunkte? Die Beobachtbarkeit, die Verknüpfung von Symptomen mit rational beschreibbaren Ursachen war bis dahin zugleich Kriterium der Unterscheidung zwischen wahr und falsch. Symptome, die sich dieser Einordnung nicht beugten, mussten in diesem Sinne weiter erforscht werden,28 bis zur sicheren Beobachtung eines kausalen Nexus, einer gewissen Verknüpfung. Das Verlassen dieses Projektes setzte sich dem Verdacht aus, irrational zu sein – bis heute. Unsicher wurde die Unterscheidung zwischen Wahn und Wissen,29 aber auch die Situation der Darstellung des Wissens, der Gewinnung von Wissen (Experiment) durch die konsequente Anwendung selbst. Freud traf auf seiner Suche nach (Be-)Handlungskonzepten auf Charcot, der dabei war, in der Anlehnung an die (natur-)wissenschaftlichen Erfordernisse der Überprüfbarkeit und der Sammlung von Daten konsequent, aber ihm selber wohl unbemerkt, Artefakte zu produzieren, das Fiktive daran aber zu verbergen suchte.30 Eng miteinander verschlungen war bei Charcot die Produktion von Wissen als Aufführung, die Klassifikation dieses Wissens, eine daraus abgeleitete Diagnostik und die Versuche der Heilung in der Salpetrière. Freud schreibt über seinen dortigen Aufenthalt: Der Schüler aber, der mit ihm einen stundenlangen Gang durch die Krankenzimmer der Salpetrière, dieses Museums von klinischen Fakten, gemacht hatte, deren Namen und Besonderheit größtenteils von ihm selbst herrührten, wurde an Cuvier erinnert, dessen Statue vor dem Jardin des Plantes den großen Kenner und Beschreiber der Tierwelt, umgeben von der Fülle tierischer Gestalten zeigt, oder er mußte an den Mythos von Adam denken, der jenen von Charcot gepriesenen intellektuellen Genuss im höchsten Ausmaß erlebt haben mochte, als ihm Gott die Lebewesen des Paradieses zur Sonderung und Benennung vorführte.31
In diesem Zitat sind unterschiedliche Momente der Ausgangssituation für die Erfindung des psychoanalytischen Settings verdichtet. Hier nur in Andeutungen: 304
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• Freud deutet an, dass es Charcot gelungen sei, Fakten zu schaffen, etwas der Beobachtung zugänglich zu machen. Es existiert zudem eine Sammlung (von Kranken in der Klinik). Diese Fakten wurden benannt (Repräsentation). Charcot fand die Fakten, die Daten nicht vor, sondern produzierte sie. Das konfrontiert mit dem ungewissen Rand des Experiments. (Davon und von seiner Zeit bei Brücke behält Freud die Rede vom »Laboratorium« für seine »Versuchsanordnung« des Settings bei.) • Freud stellt eine Nachbarschaft fest: Cuvier, Jardin des Plantes, Tierwelt, »tierischen Gestalten«. (Die Erinnerung führt eine scheinbar klarere Ausgangssituation vor: Aus der Distanz des Überlegenen heraus werden die Angehörigen einer anderen Art klassifiziert. Freud bemerkt, hier nur in der Form einer Erinnerung an die heroischen Zeiten einer Naturwissenschaft, dass ihm ein sicheres Abgrenzungskriterium, eine Norm, gegenüber den »Kranken« fehlt.) • Freud fällt ein Bezug zur Thora und zur mythischen Menschheitsgeschichte ein (Adam). (Dieser Einfall fällt aus der Reihe der anderen Charakteristika heraus, stellt einen Bezug zur Sprache, zu den Wirkungen des Sprechens, auch auf den, der spricht, heraus: Danach war es bald aus mit dem Paradies. Nachdem sie einmal gesprochen hatten, wollten sie zwischen gut und böse unterscheiden.) • Freud selber bezeichnet sich als Schüler (Charcots Salpetrière ist also eine Lehranstalt). • Die Kranken (Fakten), um die es ging, waren die Hysterischen, deren Herausforderung auch Freud annahm. Damit sind einerseits wichtige Institutionen und Verfahrensweisen benannt, die vor der Psychoanalyse das neuzeitliche Verhältnis zur Realität geprägt haben, damals aber als richtungweisend in Zweifel gezogen werden mussten: Benennung, Sammlung, Fakten, Sichtbarkeit, Klassifikation, Lehranstalt, Konstruktion der Genese, der Geschichte, Religion, etc. Die Rettung der alten Verfahrensweisen, die Charcot in den Augen Freuds betrieb, kulminierten – wie Freud später erkannte – in einem Irrweg: der Verwendung der Hypnose. Diese konnte nicht mehr die Unterscheidung von Beobachtung und gleichzeitiger Produktion des Beobachteten, erst recht nicht die Reflexion des Hervorgebrachten durch den Patienten, leisten.32 Freud kommt in seiner weiteren Arbeit sehr bald an die Grenzen dieser Verfahrensweise.33 305
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Entwicklung des Settings In Kooperation mit Josef Breuer entwickelte Freud schrittweise gleichzeitig und in Wechselwirkung mit theoretischen Überlegungen ein neues Setting. Darin grenzte er sich immer mehr vom stärker physiologisch orientierten Breuer ab. Dennoch bleiben Strukturelemente der naturwissenschaftlichen Forschung erhalten: Laboratorium, Experiment, Überprüfbarkeit. Elemente des Arbeitens, die diesen Kriterien nicht entsprachen, wurden als Um- oder Ausweg betrachtet, bis dereinst physiologische Forschung soweit sei. Josef Breuer, eine halbe Forschergeneration älter als Freud,34 ebenso wie Freud ausgebildet am physiologischen Forschungsinstitut Brückes, hatte, davon zeugt die gemeinsam verfasste Einleitung in die Studien über Hysterie, größere Schwierigkeiten als Freud, das naturwissenschaftliche Paradigma als begrenzt zu akzeptieren.35 Breuer erfasste nicht die Bedeutung des Sprechens und des Hörens. Das lässt sich vielleicht bildlich auch so formulieren: Breuer hatte sich zwar mit dem Ohr beschäftigt, noch nicht mit dem Hören. Er hatte entdeckt, »daß das Gleichgewichtsgefühl unseres Körpers durch die zähflüssige Bewegung der Endolymphe im inneren Ohr geregelt wird«36. In dem mit der Zeit entwickelten genuin psychoanalytischen Setting wird dieses Gleichgewichtsgefühl suspendiert in seiner Aktivität. Manche können sich nur mit Schwierigkeiten oder überhaupt nicht auf diese Lage einlassen, weil sie keine der gewohnten Aktivität ist, manche ergreift der Schwindel – beim Aufstehen. Analysanten spüren sich in der Lage eines Kranken, vielleicht eines Toten, auf der .37 Sie liegen wie aufgebahrt, es besteht kein strikter Anlass dafür, dass man liegen müsste, man könnte auch sitzen. Schon in dieser Regel wird angedeutet, dass es sich hier um eine Fiktion handelt, um ein Als-Ob, was schon zu Beginn einschneidende Folgen hat. Das Liegen trägt zur Entspannung bei, jedenfalls könnte es das. Zur Tür hinaus, durch die sie eingetreten sind, könnten die Analysanten liegend nur getragen werden. Moderne Psychoanalytiker versuchen ihren Analysanten solche unangenehmen Sensationen zu ersparen. Sie werden nicht »ausgelegt«, sondern dürfen sitzen, sich und den anderen besitzen, jedenfalls in Augenschein nehmen. Solche Analytiker stärken die Versicherung, dass »wir beide« doch hier noch leben und im lebendigen Ge306
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spräch sind. Von Angesicht zu Angesicht. Die Analyse beginnt unter diesen Vorzeichen mit dem Ende. (Paulus hatte im Brief an die Korinther geschrieben, dass das erst im Himmel der Fall sein werde, erst dann würden wir von Angesicht zu Angesicht sehen, davor wie durch einen Spiegel.)38 – Auch hier gilt es, daran zu denken, dass dies nicht konkretistisch aufgefasst werden darf, auch sitzend kann man liegen. Das psychoanalytische Setting arbeitet nur im übertragenen Sinne von Angesicht zu Angesicht. Es soll die Möglichkeit gegeben werden, sich nicht zu verwechseln, das heißt, dass der Verwechslungsprozess selber, die Übertragung, als Relation bemerkt werden kann. Damit kann deutlich werden, dass die Unterscheidung von Subjekt und Objekt eine imaginäre ist, die – abgekürzt geschrieben – in den Registern des Symbolischen und des Realen als deutliche Demarkation nicht auftritt. Unterscheidet man also zwischen Übertragung und Gegenübertragung, so betrachtet man den Verwechslungs- und Austauschprozess mit dem Akzent auf dem Imaginären. Das kann methodisch nur als Durchgangsstadium sinnvoll sein. Die Sichtbarkeit dient in der Theorie Freuds und wohl auch in dessen Praxis, wie Didi-Huberman schreibt, als ein »fragiler Überrest«.39 Die Holzspule im Fort-Da-Spiel, beschriebe in »Jenseits des Lustprinzips«, lebe und tanze, »um die Abwesenheit zu figurieren«. Freud schreibe hier die Grundlage einer Art Archäologie des Symbols. Die Analysanten geben ein Bild ab, lassen sich fallen,40 nehmen einen Platz ein, der im Verhältnis zur alltäglichen Gesprächssituation asymmetrisch ist, es gibt zwei deutlich unterschiedene Plätze. Dabei verändert sich dementsprechend auch die Position dessen, der den Platz des Analytikers einnimmt. Der Analytiker wird zum Beisitzer, entbehrt des durch den Blick Form gebenden Gegenübers, er kann sich auch lassen.41 Ebenso fehlt dem Analysant der Form gebende Blick des Analytikers.
Setting als Künstlichkeit Betritt ein Analysant das Arbeitszimmer des Analytikers, dann wird ihm das Bild dessen, des Anderen, mit dem er spricht, speziell sein Gesicht, den er eben noch sah, entzogen; ebenso dem Analytiker. Beiden entzieht sich damit die visuell überprüfbare Wirkung ihrer Worte und des dann erst möglichen Schweigens auf dem Gesicht und in der Körperhaltung 307
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des anderen, weitgehend. Die Einbildungen aus vorangegangener Erfahrung bleiben zunächst. Im von Freud entwickelten und ihm allmählich zugefallenen Setting – aus der Geschichte der Hypnose und der medizinischen Klinik – wird so eine Aufmerksamkeit für das Hören in Szene gesetzt. Die direkte Anschauung ist untersagt. Damit wird die Aufmerksamkeit übers Hören und Sprechen auf die Produktion der Einbildungen, der Phantasmen gelenkt, die es zu durchkreuzen gilt. Jegliches Phantasma ist eine Antwort auf die Frage: »Was willst Du mir? Was willst Du, dass ich für Dich bin?« Das Setting ist demnach auch als Anleitung und Ermunterung zu sehen, ja fast als Zwang, die genannte Frage neu zu stellen, um den Übergang von Sehen zum Blick, die »signifikante Abhängigkeit des Subjekts«42 formulieren zu können. Auf das Sehen bezogen ist das immer schon verlorene Objekt der Blick. Wenn der Blick verschwindet, das Angeblicktwerden, verschwindet auch, so meint es, das Subjekt. Aus dieser Angst, dass es dann verschwindet, entsteht beim Subjekt der Wunsch, sich sehen zu sehen, um sich in sich selber zu verankern, sich seiner Existenz und Präsenz zu versichern. Auch das ein paranoischer Zug, der im Setting aktiviert werden kann. Im psychoanalytischen Setting entsteht eine Situation wie in großer körperlicher Nähe. Der Andere ist nicht mehr zu sehen, aber dennoch da, sogar in der Nähe; er ist hörbar, aber nicht in gewöhnlicher Gesprächsansicht sichtbar. Es besteht die Chance, den Anderen als Anderen belassen zu müssen, wenn die Übertragung gelöst werden kann. Es fehlt das Fühlen einer körperlichen Nähe, die Berührung. Es ist nur die Ahnung davon da. Das Sehen als phantasmatische Ersetzung der Berührung fehlt. Sprechendes und imaginierendes Ich haben Gelegenheit, bemerkbar auseinander zu treten. Damit wandert Fremdheit ein, in beide, den Analytiker und den Analysanten. D.h. auch bisher geschlossene Systeme werden auseinander gerissen, z.B. fast alle Regeln einer alltäglichen Kommunikation und Interaktion. Stattdessen wird ein anderes System geschaffen, in dem sich die beiden Individuen wechselseitig bedingen, es idealerweise aber nicht zu einem Abschluss kommt (keine Bedürfnis- und Anspruchsbefriedigung), sondern sich eine interaktive Leerstelle auftut (Freisetzen des Begehrens), eine künstliche Asozialität, die dazu hinführen kann, Gesellungsprozesse zu begreifen, eben die Assoziation, die als freie Assoziation auch ein politischer Begriff war.43 Niemand ist das, was er momentan ist, zur 308
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Gänze, er ist immer an einem symbolischen Platz, der ihm die Totalität verweigert. Dies zu begreifen, ist Voraussetzung für ein Leben in einer demokratischen Gesellschaft.44 Beide werden mit ihren notwendigen Fiktionen konfrontiert, und so auch damit, dass sie anders sein könnten. Fiktionen sind notwendig für Bildung. Davon ist vielleicht die bedeutsamste die Fiktion der Repräsentation der Referenz,45 als etwas, das aller Fiktion vorausgeht, also eigentlich das uneinholbare Reale. Die Befolgung der psychoanalytischen Grundregel schafft wegen ihrer Künstlichkeit und ihren Zwängen einen Widerstand gegen die Einbildung, sich schon auszukennen, was deren Hauptfunktion und alltäglich notwendig ist. Die Grundregel schafft einen Widerstand, an dem über Entbildung der Einbildungen Bildung statthaben kann, eine Übertragung, an der gearbeitet werden kann. Freud schafft einen neuen Experimentalraum und Zeit für Experimente. Fast jedem Beteiligten wird dabei deutlich, auch heute noch – die Witze über die Couch nehmen kein Ende –, dass dies nicht »natürlich« ist, man sich nicht auskennt. Freud – so hat es insbesondere Lacan erst viel später herausgearbeitet – konstruiert einen Platz für den Analytiker (den eines Forschers), auf dem ein Individuum sitzt, das dadurch, dass es in das Setting eingespannt ist, zum Subjekt wird, dem Wissen unterstellt wird. Das unbekannte, fremde »Objekt« setzt den Psychoanalytiker in die Position des Wissenden. Der Analytiker darf sich aber mit dieser Zuweisung nicht identifizieren, nur die Unterstellung lässt Wissen entstehen, nicht das tatsächliche Vorhandensein von Wissen. Natürlich ist Wissen vorhanden, beim Analytiker wie bei den Analysanten, beim Analytiker wahrscheinlich mehr an disziplinärem Wissen über den psychoanalytischen Prozess als beim Analysanten. Aber beide werden damit konfrontiert, dass dieses Wissen zunächst einmal abwesend ist und nur in einem Spiel, in einem Fort-Da-Spiel wieder aktiviert und in Erfahrung gebracht werden kann, indem es in die singuläre Situation Einlass findet. Es wird dabei ein anderes. An das psychoanalytische Wissen wird von der Kur her die Anforderung gestellt, dass es nicht abgeschlossen und verallgemeinert sein kann, keine Gewissheit, also kein Wissen im Perfekt erzeugen darf/kann. Es darf nicht zur Subsumtion verleiten, sonst wird das Singuläre der jeweiligen Begegnung verpasst.
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Beide beteiligten Individuen werden zu Forschern. Der Analytiker sitzt zwar dort als Experte, insofern er sich mit Psychoanalyse auseinandergesetzt hat und selber in der Regel in der Position des Analysanten war, aber gerade aus dieser Erfahrung und nur durch diese ist er gewarnt, etwas Bestimmtes zu wissen, etwas, mittels dessen er bestimmen und repräsentieren könnte, worum es geht. Weder er noch der Analysant sind selbständig. Damit verändert sich die Rede im Setting. Die Konstruktion einer solchen Rede [etwa auf einer Basis von Gesetzgebung im Namen des Volkes zu reden, oder im Namen der Wissenschaft oder Humboldts oder in der Position des Analytikers] erfordert die Setzung einer Fiktion, nämlich die Fiktion eines Subjekts. […] Als Angehörige der auf okzidentale Weise instituierten Vernunft schrecken wir vor dieser anfänglichen Setzung zurück, die notwendig theatralisch ist […]46
schreibt Legendre. Und an anderer Stelle: Den Menschen herzustellen heißt, ihm die Grenze zu sagen. Die Grenze herzustellen heißt, die Idee des Vaters in Szene zu setzen. Es heißt, den Söhnen des einen und des anderen Geschlechts das Verbot weiterzugeben. Der Vater ist zuallererst eine Angelegenheit des Symbols, etwas Theatralisches, ein lebendiges Artefakt.47
Diese Fiktionen müssen geglaubt werden. Zusätzlich muss der Zugang zur Überprüfung ihrer Realität versperrt werden durch ein Nein, durch ein Untersagen, durch ein kompromissloses Nein, ein Verbot. Dadurch entsteht die Fiktion, als sei da jemand, von dessen Willen es abhing, dieses Verbot aufzuheben. Das bringt Erleichterung, weil es vor der unvermittelten Einsicht in die Unmöglichkeit schützt, dass man etwas schon Bestimmbares über den Anderen wissen kann, insbesondere vor der Unmöglichkeit, dass der je andere schon weiß, wer man ist. Dieses Nein besagt: Es ist hier und jetzt nicht alles möglich. Nur innerhalb dieses Verbots, innerhalb des Regelwerks des Settings kann die Unmöglichkeit auftauchen, im geschützten Raum, und damit die Voraussetzung für Trauer geschaffen werden. Wahn, so wie er pathologisch wird, zeichnet sich dadurch aus, dass er Trauer nicht kennt. Gerade diese will er vermeiden. Das Wähnen wird noch aus dem Ungenügen getrieben, der Wahn im pathologischen Sinne wähnt nicht mehr, er ist angekommen, ohne Verluste noch berücksichtigen zu können, er ist aufs Ganze gegangen, totalitär. An dieser Kippe müht sich die Psychoanalyse um Trauerarbeit, weil sonst das Setting auch als Verfahren ins Wahnhafte kippt.
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Abstinenz Die Wahrscheinlichkeit dafür erhöhen soll die so genannte Abstinenzregel, die besagt, dass die Ansprüche der Beteiligten nicht aneinander erfüllt werden dürfen. Insofern fehlt eine glatte Anschlussfähigkeit (durch Problemlösung und Verwertung), wie sie fast überall in der Wissenschaft gegenwärtig gefordert wird. Sobald wir anfangen zu sprechen, schließen wir den unmittelbaren Genuss aus. Wir sprechen abwesend, sind nicht voll und ganz präsent. Sich daran zu orientieren, ist eine Formulierung für das Inzestverbot. Der Messianismus, die Gewissheit, dass es Erlösung von der Distanz in der Abstinenz gäbe, wenn er denn konkrete, klare und distinkte Gestalt annimmt, ist immer darauf aus, diese Lücke zu stopfen. Diese Sehnsucht kommt in der Forderung nach Anschlussfähigkeit, Praxisüberprüfung, Empirie zum Vorschein. Und insofern ist Wissenschaft, auch Erziehungswissenschaft, als säkularisierte Form des Milleniarismus zu verstehen: Sie befördert die Hoffnung, dass die Menschen sich eines Tages verstehen und auf sich selber als Garanten des Zusammenhalts von Signifikant und Signifikat Bezug nehmen könnten, ohne dass dabei etwas offen bleibt. Dass dann z.B. ein Kopftuch ein Kopftuch ist. Johannes schreibt in der Offenbarung: Und ich sah einen Engel vom Himmel herabfahren, der hatte den Schlüssel zum Abgrund und eine große Kette in seiner Hand. Und er ergriff den Drachen, die alte Schlange, das ist der Teufel und der Satan, und fesselte ihn für tausend Jahre, und warf ihn in den Abgrund und verschloß ihn und setzte ein Siegel oben darauf, damit er die Völker nicht mehr verführen sollte, bis vollendet würden die tausend Jahre. Danach muß er losgelassen werden eine kleine Zeit.48
Inszeniert wird in der Kur von beiden eher der Diabolos, derjenige, der alles durcheinander schmeißt, frei assoziiert, die Regeln der Moral und des richtigen Verhaltens suspendiert – im Rahmen. Einpassung, Stimmigkeit, Bedürfnisbefriedigung ist im Setting untersagt, damit die Unmöglichkeit erträglich wird. Eine erste Formulierung dieses Verbotes steht im Dekalog, das so genannte Bilderverbot. Das Verbot kann übertreten werden.
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Aufklärung Obwohl Freud dem Aufklärungsgedanken verpflichtet war, der von visueller Metaphorik glänzt, ist er darin so konsequent gewesen, dass er an die Bruchstelle gelangte, wo etwas nicht mehr und prinzipiell nicht zu sehen war. Darin liegt der ganze Mut, sein Risiko und in der Folge das Risiko der Psychoanalyse. Darin unterscheidet sie sich vom naturwissenschaftlichen Paradigma, nicht als dessen Verleugnung, sondern als dessen Fortführung unter den erkennbaren Schwächen. Meine Vermutung ist, dass Freud dabei die Tradition des Bilderverbotes, in der er stand, eine nicht zu unterschätzende Stütze war. Beide Motive, Aufklärung und Bilderverbot, hängen bei Freud eng zusammen, ein hochambivalenter Zusammenhang. In der Sensibilität für diese Ambivalenz begann Lacan im Kontext einer französisch, christlichen Tradition seine Relektüre Freuds.49 Um diese Abwesenheit zu erkennen, bedarf es der Präsenz des Analytikers, sie ist es, die mit der Abwesenheit von Sicherheiten für den Schritt in die Analyse herhält.50 Und eben sein offenes Ohr.
Macht Das Liegen suggeriert Ohnmacht. Es erinnert zum einen an eine ungünstige Position, wie ein Maikäfer auf dem Rücken oder wie ein Kranker in der Klinik, erinnert aber auch an den Schlaf und die Sexualität – ein Ansatzpunkt für viele Witze und Karikaturen zum Setting. Die Ausübung von Macht wird eingeschränkt auf das Sprechen bei sehr eingeschränkter Motorik, die ein Handeln im umfassenden Sinne nicht zulässt, wohl aber das Sprechen. Es wird also unter den vielen Möglichkeiten, unter denen der Andere auftauchen kann, Medialität eingeschränkt. Das erscheint zunächst als eine Erschwernis. Dies trägt aber dazu bei, dass nun das Bild der Macht leichter auftauchen kann – durchaus nicht unriskant. So groß ist das Entsetzen, das sich des Menschen bei der Entdeckung des Bildes seiner Macht bemächtigt, daß er in seinem eigenen Handeln sich von ihm abwendet, sobald dieses Handeln ihm jenes Bild unverstellt zeigt. Das jedenfalls geschieht im Fall der Psychoanalyse. Die prometheische Entdeckung Freuds war ein solches Handeln.51
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Das Bild der eigenen Macht kann entsetzlich sein, widerstreitet oft der Erinnerung und treibt so zur Wiederholung. Das Bild der eigenen Macht muss aus dem Imaginären heraus in eine kulturell wahrnehmbare Form gebracht und moderiert werden, wenn nicht gewaltsam die Mitglieder einer Gesellschaft an einem Platz, in einer bestimmten und damit definierbaren Funktion gehalten werden sollen. Neben der Psychoanalyse widmen sich der Analyse solcher Formulierungen in Performanz die Künste. Gelingt es nicht, solche Formulierungen und Bezähmungen des Bildes der eigenen Macht im Fluss zu halten, kann seine Befestigung einen ungezähmten Wahn zur Folge haben, aber auch konventionellere Formen, die sich in Systemen und der Verleugnung etwa der Fiktionalität von Wissenschaft äußern. Die Abwendung des Gesichts ermöglicht das Sprechen und Zuhören. »Mir drängt sich so viel auf, es gäbe soviel zu sagen. Wie soll ich das nur abhandeln. Irgendwie auf die Reihe bringen. Es ist alles auf einmal da. Wenn ich zufasse und spreche, gehen die vielen Möglichkeiten weg. Ich kann nur eins sagen und wieder eins und noch eins. Und es wird alles anders beim Sprechen. Es ist weg. Und schon wieder. Es kommt aber auch soviel Neues. Ich kann meine Vorstellungen gar nicht festhalten so, wie sie eben noch waren. Ich verändere mich mit jedem Wort. Was stelle ich dabei nur mit Ihnen an? Sie müssen ja das alles hören und Sie können sich ja gar kein Bild mehr von mir machen. Das ist doch ein Durcheinander.« – »Es stimmt«. – Der Analysant wechselte darauf in dieser Sitzung mehrfach zwischen einer fast manischen Begeisterung für die Effekte seines Sprechens, seiner Stimme und todtraurigem Verstummen wegen der Niederlagen im Wettlauf mit seinen Imaginationen. Als ich das Ende der Sitzung signalisiere, springt er auf von der Couch. »Sie sind noch da. Ich kann sie sehen. Ich weiß nicht, was eben mit mir los war.« Er dreht und wendet sich im Raum, wie um sich zu orientieren. – Dem Analytiker ist schwindelig und versucht durch Dehnen und Strecken sein Körperbild wieder zu aktivieren.
Allmähliche Konturierung des Settings Zunächst einmal fällt, vergleicht man die Forschungssettings, mit denen Freud groß geworden ist, ein deutlicher Unterschied zu den Veranstaltungen auf, die Charcot abhielt, ebenso zu der Institution, die sie formierte, zu der Sammlung, die zusammenbrachte, was davor disparat war, und damit zum Fundus einer Dokumentation und Diagnostik wurde. 313
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Freuds Setting ist eher gekennzeichnet durch eine Dezentralisierung, durch eine Zweiersituation (wer immer noch symbolisch oder imaginär als zentrierender Dritter anwesend ist). Eine Sammlung ergab sich in der psychoanalytischen Arbeit Freuds, wenn überhaupt auf der Ebene der Schrift, der merkwürdigen Antiquitätensammlung Freuds, nicht aber als Patientengut. Ebenso wenig gibt es überhaupt die Möglichkeit einer photographischen Dokumentation. Das hat auch eine Dezentralisierung der Macht zur Folge.
Fremdheit Die Auseinandersetzung mit dem Wahn, sei es nun in seiner mehr oder weniger strikten Form einer psychiatrischen Definition oder aber auch in der Form, die eine Abgrenzung und sichere Eingrenzung offen hält, wie es der Gebrauch der Bezeichnung »Wahn« und »wähnen« in der Geschichte nahe legt,52 haben es mit der Auseinandersetzung mit Fremdem und Fremdheit zu tun. Man kann auch sagen, dass der Wahn ein Versuch ist, sich mit Fremdem auszukennen, ohne sich mit ihm auseinanderzusetzen, ohne es zu berühren. Freud hatte es sogleich mit mehreren Formen der Fremdheit zu tun. • Die Leidenden/die Kranken waren fremd bezogen auf die Ätiologie und der Behandlung ihrer Leiden. Sie konnten nicht verstanden werden, ihnen wurden Vorwürfe gemacht, sie täten nur so, sie simulierten, sie bauten Fiktionen auf, handelten ähnlich wie Schauspieler. Es wurde aber deutlich, dass sie diese Rollen freiwillig mit einer bewussten Intention nicht verlassen konnten. Freud antwortet darauf in der Szenerie des Settings mit Anklängen an bekannte Inszenierungen (Beichte, Hypnose, Klinik), in dem aber die Rollen vollkommen anders verteilt wurden. • Die Zuordnung von Leiden und Gründen für dieses Leiden gelang mit den zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Mitteln nicht. Damit wurde Freud auch die naturwissenschaftliche Methode fremd, der er doch verpflichtet war. Aus dieser Fremde heraus kam er immer wieder auf sie zurück.53 • Dabei wurde er sich selber fremd. Denn in der Beschreibung seiner Vorgehensweise wurde ihm deutlich, dass er, statt naturwissenschaft-
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liche Forschungsberichte zu schreiben, eine Art Novelle schrieb, unerhörte Geschichten: Ich bin nicht immer Psychotherapeut gewesen, sondern bin bei Lokaldiagnosen und Elektroprognostik erzogen worden wie andere Neuropathologen, und es berührt mich selbst noch eigentümlich [Freuds Formulierung ist hier so, als sei etwas von außen auf ihn zugekommen, das ihn berührt habe, nicht irgendwie, sondern im Kern, an seinem Eigenen], daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind, und daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren. [Die Krankengeschichten liest er vielleicht wie mit fremden Augen. Er entdeckt, dass dieses Geschriebene etwas entbehrt.] Ich muß mich damit trösten [Er hat also einen Verlust erlitten, etwas verfehlt, vielleicht ist ihm etwas genommen worden.], daß für dieses Ereignis die Natur des Gegenstandes offenbar eher verantwortlich zu machen ist als meine Vorliebe; Lokaldiagnostik und elektrische Reaktionen kommen bei dem Studium der Hysterie eben nicht zur Geltung, während eine eingehende Darstellung der seelischen Vorgänge, wie man sie vom Dichter zu erhalten gewohnt ist, mir gestattet, bei Anwendung einiger weniger psychologischer Formeln doch eine Art von Einsicht in den Hergang einer Hysterie zu gewinnen. Solche Krankengeschichten wollen beurteilt werden wie psychiatrische, haben aber letzteren eines voraus, nämlich die innige Beziehung zwischen Leidensgeschichte und Krankheitssymptomen.54
Alfred Freiherr von Berger, Professor für Ästhetik an der Universität Wien, zeitweiliger Burgtheaterdirektor und bewunderter Lehrer Hofmannsthals, rezensiert Breuers und Freuds Studien zur Hysterie in der Wiener Morgenpresse am 2.Februar 1896 so: Seltsames Zeichen der Zeit! Während unsere Poesie sich geflissentlich mit dem Anschein der wissenschaftlichen Strenge umgibt, und sich mit Jodoform parfumiert, errötet die Wissenschaft, wenn sie sich darüber ertappt, daß sie unwillkürlich der Poesie nahe gekommen ist. In der Sache trifft jene Entschuldigung das Richtige.55
Ablösung der Psychologie von der Physiologie In diesen Formulierungen sind wir Zeugen einer Ablösung der Psychologie von der Physiologie, bei der sie, nach der Loslösung von der Philosophie wissenschaftlich werdend untergekommen war, um mehr an Gewissheit zu erlangen. Freuds Verhältnis zur Natur speist sich unter anderem aus zwei Quellen: einmal aus der romantischen Naturphilosophie (Schelling, Goethe, Dide315
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rot),56 zum zweiten aus einem naturwissenschaftlichen Materialismus, der für die Wahl des Medizinstudiums, so Freud, entscheidend gewesen sei. Starobinski charakterisiert den Text Die Natur, der damals allgemein Goethe zugeschrieben wurde,57 von dem Freud begeistert war: »Wir finden hier das Bild einer allgegenwärtigen Natur, die sich dem Menschen aber verweigert; ihre Zeugungskraft ist von höchstem Sinn und höchster Vernunft, aber unsere Vernunft hat zu ihr keinen Zugang«58. Freud ging es darum, diese Verweigerung aufzulösen, es ging ihm um Analyse, um einen Zugang. Dieser Zugang sollte aber nicht einhergehen mit der Leugnung bisheriger Differenzierungsmöglichkeiten (Naturwissenschaft), allerdings auch nicht mit der Leugnung der Grenzen der bisherigen Differenzierung. Deutlich war, dass es sich dabei nicht um eine einfache Erweiterung des bekannten Paradigmas handelte. Diese Ausgangslage brachte Freud zwischen alle Stühle. Seine Leistung bestand dann darin, sich diesen Fremdheiten zeitlebens auszusetzen. Er verabschiedete sich weder von seinen naturwissenschaftlichen Ambitionen, vom Geist der Aufklärung, den er damit verband, sich aber auch davon abzulösen verstand, noch distanzierte er sich von den Patienten oder objektivierte sie – nicht immer gelang das. D.h. er isolierte sie nicht erneut, indem er ihnen positiv etwas ganz anderes als ein Leiden zuschrieb, sondern er versuchte sie, bzw. deren Krankheit, zu verstehen und zu behandeln, wie es das naturwissenschaftlich unterfütterte ärztliche Paradigma erforderte, stellte dabei gleichzeitig sich und seine Einstellungen, die Konfiguration seiner Denk-, Forschungs- und Arbeitsweisen immer wieder auf die Probe. Er ließ die leise Stimme der Vernunft zu Wort kommen.59 Der erste Versuch, dafür einen spekulativ theoretischen Rahmen zu konstruieren, war das, was als Selbstanalyse im Briefwechsel mit Fließ sich entwickelte, der zweite war die Traumdeutung. Inkludiert in diesen ihm unterlaufenen Abschied von einem naturwissenschaftlich ärztlichen Selbstverständnis war das Verschwimmen der Grenzen zwischen Anormalität und Normalität, eben später auch zwischen Wahn und Wissenschaft. Sein Labor sah Freud in der Kur, im Setting und seinen Weiterungen, den theoretischen Passagen. Er schuf damit eine Praktik, die Theorie entwirft, wähnt, und Theorie voraussetzt, ein kleines Unternehmen mit großen Wirkungen.
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Grundregel, freie Assoziation Zunächst war die Einführung der freien Assoziation, die als Grundregel in das analytische Prozedere eingeführt wird, motiviert durch eine deterministisch, naturwissenschaftliche Überzeugung: Sie diente der Suche, der Benennung und Deutung unbewusster Determinanten der je individuellen Psyche. Freud rückte nicht davon ab, dass es da einen Determinismus gebe, nur die Form, die sich ergab, um ihn im Einzelfall zu entdecken, war ganz und gar nicht der naturwissenschaftlichen Methode zuzurechnen, sondern eher dem Detektivroman:60 Er ließ sprechen und hörte. Prinzipielle Beobachtbarkeit war damit ausgeschlossen, zumal er jedenfalls nach außen zur Öffentlichkeit hin nichts Genaues benennen konnte, was ihm im Vertrauen frei assoziativ mitgeteilt worden war, weil damit die Intimsphäre und z.T. öffentliche Belange tangiert worden wären,61 die sein neues Forschungssetting zerstört hätten. Hier findet ein Abschluss nach außen statt. Die Inhalte, die nicht nach außen kommen dürfen, sind aber gleichwohl die stärksten Garanten einer relativen Gewissheit, einer Gewissheit, die sich aus dem Verfahren ergibt. Dies setzt den Rezipienten solcher Forschung vor die Wahl eines Vertrauens in das vom Forscher Mitgeteilte oder einer Ablehnung des Vernehmbaren, weil er es nicht mit eigenen Augen sehen oder sonst wie dabei sein konnte. Er kann sich auch nicht auf scheinbar sich selbst geschrieben habende Daten verlassen. Vertrauen kann er nur aus dem Kontext und dem Intertext gewinnen. Es geht dabei um die Möglichkeit der Anerkennung von Zeugenschaft. Freud macht das an einem Beispiel deutlich und zieht daraus für sein Verfahren einen weitgehenden Schluss; nicht einmal Namen können verschwiegen werden, denn wenn man irgendwo eine »Reserve« erlaubt, wird die ganze Aufgabe unlösbar: Ich behandelte einmal einen hohen Funktionär, der durch seinen Diensteid genötigt war, gewisse Dinge als Staatsgeheimnisse vor der Mitteilung zu bewahren, und scheiterte bei ihm an dieser Einschränkung. Die psychoanalytische Behandlung muß sich über alle Rücksichten hinaussetzen, weil die Neurose und ihre Widerstände rücksichtslos sind.62
Anders als in der physiologischen Forschung gab es somit eine Verschränkung von gesellschaftlicher Öffentlichkeit, Privatsphäre und Wissenschaft, die an die Grundregeln der jeweiligen Sphären stieß, es wurden andere Zusammenhänge deutlich, die in den jeweiligen systemischen Abgrenzungen der einzelnen Bereiche des Fremden und des fremd 317
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Gemachten nicht mehr wahrnehmbar waren. Das Setting zeigt damit einen Zusammenhang auf, der nicht zu haben ist, der nicht zu bemeistern ist, es bildet sozusagen eine Enklave, ein Asyl.63 Die freie Assoziation schafft auch eine spezifische Beziehung zwischen Analytiker und Analysant. Freuds Reaktion auf die Begegnung mit dem relational Unbekannten, mit dem der naturwissenschaftlich ausgerichteten Medizin Fremden ist so, dass sie das Fremde bestehen lässt, es zusätzlich befremdet, indem er vom Analytiker wie vom Analysant verlangt, sich in eine ungewohnte Position zu begeben. Bei all diesen Erörterungen darf man einen wichtigen Zug zur allmählichen Entwicklung des Settings, wie wir es heute kennen, nicht übersehen: Sie war immer auch pragmatisch ausgerichtet, in einer seltsamen Mischung von theoretischen Überlegungen und Handlungsmöglichkeiten, geschuldet den Möglichkeiten ein »Laboratorium« zu errichten.64 Mit der Erfindung des Settings wird implizit auch die Frage gestellt nach der Erfahrbarkeit eines Zusammenhangs zwischen der Veränderung in der Gesellschaft in Folge der Aufklärung, zwischen der öffentlichen und privaten Sphäre, zwischen wissenschaftlichen Erkenntnismöglichkeiten und deren Einbau in das alltägliche Leben, zwischen der Erfahrung von Leiden und deren Anerkenntnis von anderer Seite, ohne dass für die Auflösung Rezepte zur Verfügung stehen; es geht demnach um Trauerarbeit als Abschied von absoluter Gewissheit und um Differenzierung, um den Verzicht auf Ganzheit und damit um die Kultivierung von Aggressivität. Dies wäre dann der Versuch auf die pathologischen Formen des Wahns zu verzichten, diese zu vermeiden, ohne das Wähnen aufzugeben, das die getrennten Sphären lose in Verbindung hält. Die Erfindung des Settings als Neukombination bekannter Institutionen (wissenschaftliches Laboratorium, Beichte, ärztliche Ordination …) weist auf die ausstehende Untersuchung, wie soziale Bindung unter den gegenwärtigen Bedingungen gedacht werden kann, wie sie entsteht, wie auch Elemente von Entbindung darin enthalten sind (Autonomisierung, Individualität …).
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Produktion und »Beobachtung« des »Faktums« zur gleichen Zeit Auf ein Moment des Settings möchte ich noch hinweisen, da es den wissenschaftlichen Anforderungen klassischer Art widerspricht: Sperrig aus der Perspektive vieler wissenschaftlicher Betrachtungsweisen ist, dass im Setting die »Krankheit« erst als solche, wie sie allmählich auftaucht, produziert wird (nachträglich erst kann man sehen, dass das bei der Medizin auch nicht anders ist). Die »Krankheit« ist nicht einfach da, sie wird nicht mitgebracht, lediglich ein paar Symptome, Beschwerden werden mitgeteilt, sie wird hervorgebracht. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es den Ort nicht, wo man sich erfolgreich beschweren könnte und es wird sich herausstellen, dass dieser auch im psychoanalytischen Setting nicht gegeben ist. Mitgebracht wird ein Anspruch auf Änderung, auf Erfüllung eines Wunsches. Es darf nur gesprochen werden. Es wird dann auf der Ebene dessen, was im Sprechen möglich ist, die Krankheit konstruiert, das Symptom gesprochen und ein Abschied davon vorbereitet, ein Leiden an fehlenden Möglichkeiten wird inauguriert, das Leiden flüssig, Trauer zugelassen. Der »Krankheit« wird dadurch eine andere Form gegeben. Sie wird zum relationalen Geschehen, in dem die Übertragung die Verbindung herstellt zwischen Analysant65 und Analytiker. Es kommt in jeder Sitzung zu einer anderen Darstellung im Rahmen eines unveränderten Settings. Wegen des notwendig auftretenden Widerstands durch die Übertragung, kommt es zu Wiederholungen, die erst im relativ stabilen Rahmen auffällig werden können.
Paranoische Züge des psychoanalytischen Settings Im Hinblick auf die Frage nach der Eingrenzbarkeit, Abgrenzbarkeit und dem produktiven Moment des Wahns ist es von Interesse, dass es im psychoanalytischen Setting nicht nur intentional darum geht, keine neue Ausgrenzung gegen den Wahn als pathologischen zu ziehen; sondern dessen Ungewissheit in Bezug auf seinen Status (im Kontrast zu seiner Gewissheit verleihenden internen Konstruktion) wird ins Setting selber als Produktionsmoment aufgenommen. Es wird eine »künstliche« Psychose, nämlich in Form einer Paranoia inszeniert, (bei einem »normalen« gebildeten bürgerlichen Individuum ist sie schon da, wird aber in der Kur aufgeführt). Diese Paranoia »ent319
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deckt« Lacan in der Relektüre Freuds nicht ohne Mithilfe der Surrealisten, insbesondere Dalís. Die Paranoia ist in diesem Kontext gleichzusetzen mit dem Entwurf eines verantwortlichen und vernünftigen Subjektes, das zunächst einmal alles auf sich bezieht und erst mühsam »lernen« muss, andere Instanzen zu konstruieren, die es verantwortlich machen kann, die es als mitursächlich anerkennt, im Verein mit anderen Individuen.66 Gegenüber einer im herkömmlich klinischen Sinne so bezeichneten Paranoia verdoppelt sich Paranoia im Setting als Verfolgungs- und Beziehungswahn. Das führt in der Konsequenz auch zu der von Freud konstatierten Ungewissheit der Unterscheidung von Wahn und Wissenschaft, dem Wahn, der Wunsch und Erfüllung von Ansprüchen »will«, der Wissenschaft, der es um die Systematizität geht. Beide gehen aufs Ganze. (In der gegenwärtigen Universitätsreform scheinen beide Aspekte zusammenzugehen.) In Bezug auf eine sichere Unterscheidung ist der Psychoanalytiker ohnmächtig. Ohnmacht des Analytikers will dabei aber nicht besagen, dass sich zwischen ihm und dem Paranoiker nichts ändern kann, Ohnmacht besteht vielmehr in der Unmöglichkeit der Vorhersage, eines gerichteten Plans, einer Heilung auf der Basis einer zu Beginn sicherbaren Diagnose, einer daraus ableitbaren Prognose und eines die Lücke zwischen beiden ausfüllenden Behandlungsplanes. Es geht vielmehr um die Frage der Grenze im Prozess selber, in dem die einzelnen Elemente diesseits und jenseits der Grenze sich neu sortieren können, indem Analytiker und Analysant Verantwortung für die Zuordnung zu anderen Elementen übernehmen, was aber in der Übertragung geschieht, keine sichere Grenze zwischen zwei Individuen beanspruchen kann. Es käme also zu einer Vermischung und zur Erforschung der jeweiligen Struktur der Psychose, wie sie Anteil an jedem Subjekt hat.67 Anders formuliert: Der Analytiker wird im Setting zum Garanten der Bedeutung, des Deutens (auch wenn er nicht tatsächlich deutet). Er stellt zwischen den Elementen des disparat Assoziierten Beziehungen her, die nicht nach Vorschriften zustande kommen. Indem er deutet, wird er zugleich zum Verfolger, »dessen Existenz die Psychiatrie immer verleugnet hat […] Denn das Subjekt, dem Wissen unterstellt wird, sichert dem Analysanden Bedeutung zu und bedroht gleichzeitig/mit der selben Geste sein Genießen«68. Die psychotische Struktur jedes Individuums wird damit aktiviert. (Kompliziert wird es dann, wenn der Analysant an Paranoia leidet, dann kann es zum Patt kommen, das dann nur noch in 320
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einer zufälligen Unterbrechung, die beide zur Kenntnis nehmen können, aufgelöst werden kann.) In einer abgekürzten Schreibweise könnte man sagen, dass das psychoanalytische Setting ein Aufführungsort für das Subjekt ist. Es kann dort aus dem Realen heraus momenthaft in Erscheinung treten. Das Subjekt ist also nicht konzipiert als Schöpfer, Hersteller, sondern taucht auf aus »der Nacht der Welt« (Hegel). Das Subjekt entsteht so relational (in einem Hiatus). Das Setting ist ein Ort, deutlicher die Spur des Subjekts zu bemerken, etwa wie in der auf den Beobachtungen von Brown basierenden Nebelkammer von Wilson Anfang des 20. Jahrhunderts indirekt nachgewiesenen Bewegungen von Ionen.
Institution »Subjekt« Das Unbewußte ist die Summe der Wirkungen, die das Sprechen auf ein Subjekt übt, auf jener Ebene, wo das Subjekt sich aus den Wirkungen des Signifikanten konstituiert. Damit ist festgestellt, daß wir mit dem Terminus »Subjekt« – und deshalb habe ich ihn auf den Ursprung zurückgeführt – nicht das lebendige für die subjektive Erscheinung erforderliche Substrat meinen, auch nicht irgendwelche Substanz, oder ein Sein der Erkenntnis in Pathie, zweiter oder ursprünglicher, nicht einmal den Logos, der irgendwo Fleisch würde, sondern das cartesische Subjekt, das in dem Augenblick erscheint, wo der Zweifel sich als Gewißheit erkennt. Es zeigt sich also in unserem Vorgehen, daß die Grundlagen dieses Subjekts sehr viel breiter, zugleich aber viel unfreier sind bezogen auf die Gewißheit, die es verfehlt. Da, das ist das Unbewußte.69
Das Subjekt, das, was das Subjekt ist, bleibt unsichtbar. Im Bereich des Sichtbaren muss das Subjekt erst institutionalisiert werden, etwa als Ich, als Selbst, als Person. Die Funktion, mit der dies geschieht, ist der Blick. Dieser Blick muss nicht tatsächlich von einem bestimmten Individuum ausgehen. Er muss nur als Blick gespürt werden können. In diesem Moment wird man sich des Subjektseins inne (ganz wesentlich eine Fiktion, deren Erscheinungsweise das Ich ist). Hier könnte man sagen, liegt ein paranoisches Moment in der Subjektkonstitution vor, ausgelöst durch den Blick, der nicht damit außer Kraft gesetzt wird, dass man sich wie im Setting nicht sieht. Dies ist die Funktion, mit der sich die Institution des Subjekts im Sichtbaren zuinnerst erfassen läßt. Von Grund aus bestimmt mich im Sichtbaren der Blick, der im Außen
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ist. Durch den Blick trete ich ins Licht, und über den Blick werde ich der Wirkung desselben teilhaftig. Daraus geht hervor, daß der Blick das Instrument darstellt, mit dessen Hilfe das Licht sich verkörpert, und aus diesem Grund auch werde ich – wenn Sie mir erlauben, daß ich mich, wie so oft, eines Wortes bediene, indem ich es in seine Komponenten zerlege – photo-graphiert.70
Unsichtbar Das Gesicht ist nicht nur als Körperteil zu verstehen, sondern ebenso als die Potenz des Sehens. Der Körper wird im Setting aus der Sichtbarkeit herausgenommen, auch aus der Deutung. Es geht gerade nicht darum, das, was sich an Regungen des Körpers tut, zu deuten, sondern nur um die Artikulation des Sprechens. Sie ist natürlich eine körperliche, eine die nicht ohne die Beteiligung etwa der Zunge und der Stimmbänder zu Tage tritt. Aber es soll nicht die paranoide Selbstbeherrschung evoziert werden, die Disziplin, die aus der wortwörtlichen Beobachtung resultiert, das ist nur ein momenthafter Bestandteil der Analyse, dem Blick ausgesetzt zu sein. Jedem der beiden Beteiligten wird die durch die dauernde Beobachtung, durch den wechselseitigen Blick ausgeübte Macht über den anderen versagt. Das ist nicht nur eine Gnade, denn der Blick hält ja auch den anderen mit Macht zusammen, verleiht diesem anderen und sich selbst eine Kontur. Die Potenz des Gesichts ist gesellschaftlich zu dem Modus der Bemächtigung und Beherrschung geworden. Das, was in unserer Gesellschaft als bedrohlich gilt, ist meist dem Unsichtbaren zuzurechnen. Darauf lassen Psychotiker – das sind die, die die Grenze unseres Verstehens darstellen – aufmerken. Sie geben zu verstehen, als Aufgabe, »von welchen Dingen die größte Bedrohung ausgeht: von den nicht wahrnehmbaren, unsichtbaren, immateriellen Dingen, von welchen wir verfolgt, vergiftet, verstrahlt werden«.71 Insofern richtet sich die Psychoanalyse im Setting auf die psychotische Struktur (in jedem Subjekt) ein. Das Setting wird zu einer Institution, in der diese Struktur in Erscheinung treten kann. Die Mittel der Darstellung sind in der Psychose ungewohnt, sie stimmen nicht mit den Verweisstrukturen und dem Zusammenhangsdenken der »Normalen« überein. Es fehlt mindest ein hier nur relativ abstrakt benanntes Element, das noch genauer beschrieben werden muss, jenseits
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der eingebürgerten, lacanistischen Reden von der »Verwerfung des Namens des Vaters«. Es liegt vielleicht in der Verwerfung noch eine Spur an »missglücktem Protest« gegen die Prävalenz des Sichtbaren und des klar und deutlich Sagbaren. Darin liegt das Faszinierende an der Psychose bis hin zur einfachen Umkehrung, dass sie die ideale Struktur sei (Antipsychiatrie). Dem psychotisch reagierenden Menschen fehlt es an Darstellungsmitteln und -formen, die eine Übertragung, wie sie von Angesicht zu Angesicht eingespielt ist, als beherrschbar erscheinen ließen. Auf der Couch nimmt das Leiden des Psychotikers nach immer wieder geäußerten Überzeugungen, nach Lehrbuchmeinung zu. Es heißt, dass dies daran läge, dass ihm das sichtbare Gegenüber fehle, das ihm helfe, Grenzen zu etablieren. Kann es aber nicht ebenso gut anders sein: Der Analytiker erträgt nur schwer, sich selber nicht an den Potenzen des Gesichts (Gesicht als Sinnespotentialität wie »Gehör« aber auch als »Körperteil« wie das Ohr), als der Fähigkeit sehend zu identifizieren, orientieren zu können. Es handelt sich ja im Setting mit nicht-psychotischen Analysanten um eine Verneinung der Sicht, die dennoch als Fundament vorhanden ist, die im Normalfall als glaubwürdig unterstellt ist. Beim Psychotiker geht der Zweifel aber weiter, das gewohnt Sichtbare steht bei ihm in anderen Zusammenhängen, bis hin zu der Auffassung, dass das Sichtbare nur eine Verschleierung der (seiner) Wahrheit sei. (Das kommt auch bei Metaphysikern vor.) Der Abstoßpunkt der Verneinung geht dem Psychotiker oder dem Psychoanalytiker verloren, also das, was verneint wird. Die psychotische Übertragung unterminiert den Charakter des Settings als aus künstlichen Spielregeln bestehend. Mit der psychotischen Übertragung zu arbeiten wird also nur dem Analytiker möglich, der auch sonst nicht auf der Position der Verneinung des Sichtbaren, der Potenzen des Gesichts hängen bleibt, sondern Möglichkeiten hat, jenseits des Sichtbaren und seiner Kontrolle zu arbeiten. Dem Analytiker gelingt dies dann nicht, wenn er das Setting als bloße Technik begreift, die methodisch für den kurzen Zeitraum der Analyse etabliert wird. Die Alternative wäre die schwierige Übung, den Ausnahmefall, den methodisch hergestellten, als den zu begreifen, der die psychotische Struktur inszeniert, die ansonsten aus dem gesellschaftlichen Verkehr ausgeschlossen bleibt. Beide Beteiligten, Analytiker und Analysant, werden damit ein wenig verrückt. Im dermaßen nicht inszenierten Normalfall gibt es nur eine imaginäre Sicherheit des Erblicktseins. Diese Sicherheit ist aber für gegenwärtige gesellschaftliche Be323
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dingungen, gerade auch in der Wissenschaft, die Ausschlag gebende, deshalb verführerisch. Kurzum: Das Setting konfrontiert mit dem Realen, mit dem Realen des Sprechens, mit der Übertragung, mit dem nur als differentielle Struktur haltbaren Symbolischen. Das visuell gestützte Imaginäre befindet sich in Auflösung und Umbildung. Das Setting konfrontiert mit dem, was im Realen wiederkehrt. Hier ist der Einsatz der Deutung, der Unterbrechung. Bleibt dies aus, besteht die Gefahr, sich dem Realen zu überlassen – als jouissance –, der Versuchung einer passage à l’acte zu erliegen, anstatt neue Mischungen zwischen Symbolischem, Imaginären und Realem zu erfinden, so wie es beispielsweise ein Künstler tut. Es geht um die Konstruktion eines Symptoms, das die drei Register zusammenhält, das sich aber nicht mehr an den Konstruktionsregeln der Normalität orientieren kann.
Auf der Couch Ein Analysant: Das würde mir aber schwer fallen, mich auf die Couch zu legen. Das ist ja die Stelle, an der ich beim ersten Mal ausgestiegen bin. Das wollte ich nicht. Mir war klar, dass ich dann etwas sagen könnte, was ich nicht weiß. Ich weiß ja dann nicht, wann ich besser stoppen sollte, damit ich nichts ausplappere. Aber deshalb bin ich ja hier. Und ich weiß, dass ich viel zuviel weiß.
Und nach einiger Zeit der Stille: Auf der Couch ist das Schweigen ganz anders.
Traumdeutung Das Verhältnis von Bild, Wahrnehmung, Hören, Schweigen und Sprechen wird gelockert in der Kur. Freuds erster umfänglicher Theoretisierungsversuch aus den Erfahrungen der Kur und des Settings finden sich in der Traumdeutung: Freud werden (im Sprechen) Bilder zu hören gegeben. Er versucht immer wieder, sie nicht zu identifizieren, sondern sie zu analysieren, auf324
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zulösen, nicht auf das zu sehen, was sie anzusprechen vorgeben, und nicht auf das zu hören, was sie vor Augen führen wollen, nicht einem Identifizierungszwang nachzugeben, der dem Bild eine Bedeutung gibt. »Man würde offenbar in die Irre geführt, wenn man diese Zeichen [der Bilderschrift des erzählten Traumes] nach ihrem Bildwert anstatt nach ihrer Zeichenbeziehung lesen würde.«72 Das hat zur Folge, wie Sarah Kofman feststellt, dass ein Rest bleibt, sich ein Spielraum auftut zwischen der Ordnung des Bildes und der diskursiven Ordnung der Sprache.73 Freud entdeckt, dass Bilder vom Sprechenden in der Sprache und beim Sprechen evoziert werden, damit sie identifiziert werden und man sich als Hörer und Sehender in sie einordne. Die Kontrolle über die Einordnung wird im Setting der Kur partiell verwehrt. Im Setting werden Abbilder von einem ursprünglichen Bild, Ergebnisse des Strebens nach Wahrnehmungsidentität unter Verdacht gestellt: Sie gelten als Verdrängung, Stillstellung von Konflikten, die durch Unpassendes entstehen. Mit der Analyse der Abbilder, der Identifizierungen, bei der erst einmal nichts zu sehen ist, hilft der Psychoanalytiker mit, die Bedingungen zu schaffen, dass Verdrängtes (also das bei der Abbildung Ausgeschlossene) wieder auftauchen kann.74 So könnte auf Wiederholung zielende Suche nach Wahrnehmungsidentität unterbrochen werden. Das erinnert an das Bilderverbot. Eine mögliche Umschreibung des Bilderverbots, wie es abkürzend genannt wird, könnte heißen: Kein symbolischer Ausdruck soll den Eindruck erzeugen dürfen, dass man dadurch etwas habe, oder davon etwas habe. Jeder symbolische Ausdruck soll nach Möglichkeit so strukturiert sein, dass seine nur momentane Geltung trotz seiner nur vorläufig nachträglichen Dauer erfahren werden kann. Eine Abbildung ist nur dann erlaubt, wenn sie Indikatoren dafür enthält, die über sie hinaustreiben, auf eine nächste Übersetzungsnotwendigkeit hin. Dazu gehört die Notwendigkeit, sich auch immer wieder zu entbilden, d.h. die Einbildungen zu zerstören, d.h. auch eine bisherige Ganzheit aufzugeben. Das erst bedeutet Erfahrungsfähigkeit. Mit dem psychoanalytischen Setting wird eine Einrichtung geschaffen, die kontinuierlich festgefahrene Bedeutung abbaut und andere Verknüpfungen ermöglicht. Der individuelle Erfahrungsprozess bekommt dadurch zumindest teilweise erstmalig eine soziale Dimension. Darin hat das Setting rituelle Züge, wirkt wie andere Rituale.75
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Riten mildern den Zerstörungsprozess durch Schönheit, mit Weihrauch, Licht, Feuer, Gesang, Tanz, Drogen, wertvollen Geräten. Sie leiten über in einen immer wieder zu reformulierenden Bund, in eine neue Verbindung der beteiligten Individuen, die als versprengte einzelne nicht überleben können, keine Angehörigkeit haben. Institutionen, auch die Universität, so wie wir sie bisher kennen und kaum anders denken können, bieten und inszenieren Bilder von Prozeduren zur Besetzung, so dass man sich dort auf eine Zeit niederlassen kann. Es besteht in ihnen immer wieder die Gefahr, dass der unaussagbare »Mittelpunkt«, der kaum mit festen Bildern dargestellt werden kann, der den »Geist« einer Institution bildet, entweder verschwindet oder doch (fetischistisch) festgelegt wird. Das besetzte Bild, das Bild, das man immer wieder gern sieht, das einen Wiedererkennungswert hat, bei dem wir uns erleichtert zurücklehnen, das uns irgendwie bekannt vorkommt und direkte Orientierung und Methoden bietet, diese Sorte Bilder dient der Wiederholung. Sie wird mit der Zeit zwingend. Sie ist auf der Seite des Todestriebs. Ist aber ein Bild plötzlich weg, da wo wir es erwarteten, besteht die Chance einer Unterbrechung. Etwas, was zusammenzugehören scheint auf immer, hört nicht mehr auf die Anforderungen der Wiederholbarkeit. Es kann möglicherweise dann eine andere Konfiguration entstehen. Eine andere Reaktion kann freilich auch die Halluzination sein: Da, wo etwas fehlt, wird einfach etwas hinzu gesehen. Fast alle Institutionen dienen genau diesem Zweck: Das Halluzinatorische jeglicher Wahrnehmung wird unterstützt und damit entsteht die Gefahr zum Umkippen in einen asozialen Wahn. Freuds »Erfindung« des Settings kann man auch lesen als ein Plädoyer für Zeiten und Orte und des leeren Platzes zur gemeinsamen Konstruktion von Sinn, der aus einer Dekonstruktion/Relektüre hervorgebracht werden kann. Für diese Ereignisse braucht es eine fortgesetzte Zeugenschaft (Kontinuität), weil dieser Sinn, wenn er nicht zum bleibenden, inkarnierten Symptom werden soll, immer wieder in einen Prozess der Dekonstruktion gebracht werden muss. Das Setting antwortet auf einen Verlust an Zusammenhang, bzw. in ihm wird eine andere Form des Zusammenhangs entdeckt: die Übertragung. In diese Dekonstruktion einbezogen ist das gesamte institutionelle Umfeld, aus dem heraus Freud allmählich das Setting entwickelte. Es unterscheidet sich von den institutionellen Rahmungen der Naturwissen326
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schaft, der Medizin, aber auch der Geisteswissenschaft und Kunst. Der damit gelegte Sprengsatz ist immer noch virulent und auch in der Geschichte der Psychoanalyse selbst noch nicht ganz begriffen. Das sei hier zum Schluss nur angedeutet: Damit das Setting als Laboratorium funktioniert, braucht es des intellektuellen Austauschs. Dazu muss erzählt werden können, etwas vorgestellt werden können. Aus dieser Notwendigkeit ergab sich die Mittwochsgesellschaft, eine Art des Schreibens, des nachträglichen Schreibens (nicht des protokollierenden Mitschreibens), ein Austesten der Grenzen der Darstellbarkeit, veränderte Formen der Tradierung (eigene Analyse), die Strukturierung einer Ausbildung, die Gründung von psychoanalytischen Vereinigungen, die sich immer noch in der unglücklichen Phase der Kopie traditioneller, bekannter Institutionalisierung befinden zwischen der Struktur einer Handwerkerinnung, katholischem Orden, Militär und Universität in ihrer historisch unterschiedlichen Ausprägung. Es schimmert aber dennoch durch, das habe ich versucht darzulegen und muss noch weiter expliziert werden, dass hier modellhaft, provozierend ein Dispositiv geschaffen wurde, mit dem Problem »Wahn« in seiner Beziehung zum Wissen und der Institution umzugehen.
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Vgl. Stoichita, Victor: Das selbstbewußte Bild. Vom Ursprung der Metamalerei [1993], München 1998, S.168f. Descartes, René zit. n.: ebd., S.169. Stoichita, Victor: Das selbstbewußte Bild, a.a.O., S.169. Es heißt: »comme en un tableau«. (Descartes, René: Discours de la Méthode, hg. von L. Gäbe, Hamburg 1960, S.6.) Es heißt: »comme une histoire« und »comme une fable«. (Ebd.) Ebd., S.16. Zur Verwendungsgeschichte des Wortes »Wahn« vgl. Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch [1865], Bd. 13, Leipzig 1922, S.602-645. Vgl. auch meine Ausführungen dazu in: Pazzini, Karl-Josef: »Die Universität als Schutz für den Wahn«, in: Liesner, A./Sanders, O. (Hg), Die Bildung der Universität, Hamburg 2004, o.S. (online-Verlag Hamburg University Press). Vgl. Pazzini, Karl-Josef: »Die Universität als Schutz für den Wahn«, a.a.O. Vgl. Pazzini, Karl-Josef: »Tertius datur. Skizze zur Funktion des Vaters in Bildung«, in: Friedrichs, W./Sanders, O. (Hg.): Bildung, Transformation. Kulturelle und gesellschaftliche Umbrüche aus bildungstheoretischer Sicht, Bielefeld 2002, S.85-110. Vgl. hierzu etwa die Positionen von Deleuze und Guattari, Laing und Basaglia.
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Gewissheit reklamiert ja der Wahn auch für sich, schreiben die Nicht-Wahnsinnigen. Freud, Sigmund: »Vorrede zu ›Probleme der Religionspsychologie‹ von Dr. Theodor Reik« [1912], in: ders., Gesammelte Werke, Bd. XII, Frankfurt/M. 1955, S.325-329, S.327. Descartes, René: Discours de la Méthode, a.a.O., S.16. Sciacchitano, Antonello: Wissenschaft als Hysterie. Das Subjekt der Wissenschaft von Descartes bis Freud und die Frage nach dem Unendlichen, Wien 2002, S.33f. Lacan, Jacques: »Die logische Zeit der Assertion der antizipierten Gewißheit. Ein neues Sophisma«, in: ders., Schriften III, hg. von N. Haas, Weinheim/Berlin 1994, S.101121, S.103f. Erinnert sei an Freuds Äußerung: »Für den wohlerzogenen Laien – ein solcher ist wohl der ideale Kulturmensch der Psychoanalyse gegenüber – sind Liebesbegebenheiten mit allem anderen inkommensurabel; sie stehen gleichsam auf einem besonderen Blatte, das keine andere Beschreibung verträgt.« (Freud, Sigmund: »Bemerkungen über die Übertragungsliebe« [1914/15], in: ders., Studienausgabe, Ergänzungsbd., Frankfurt/M. 1975, S.218-229, S.219. Hier sei beachtet, dass mens (lat.) im Wort »kommensurabel« steckt. Freud, Sigmund: »Der Wahn und die Träume in W. Jensens Gradiva« [1907], in: ders., Gesammelte Werke, Bd. VII, a.a.O., S.29-125, S.46f. Ebd., S.108. Dies wurde allerdings auch in der Wissenschaft (z.B. Lambroso) thematisiert. »[…] die ganze moderne Philosophie von Descartes an trägt einen inhärenten Bezug zur drohenden Verrücktheit in sich, und ist darum ein verzweifelter Versuch, eine klare Linie zwischen den Transzendentalphilosophen und den Verrückten zu ziehen (Descartes: Wie kann ich wissen, ob ich mir Realität nicht einbilde? Kant: Wie kann metaphysische Spekulation von Swedenborgscher Schwärmerei abgegrenzt werden?). Dieser Exzess von Verrücktheit, gegen den moderne Philosophie kämpft, ist die wahre Begründungsgeste cartesianischer Subjektivität […]« (Zizek, Slavoj: »Warum ist das cartesianische Subjekt das Subjekt des Unbewußten?« in: RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse, Nr. 37/38 [1997], S.9-28, S.10.) Vgl. ebd., S.12. Als ein Beispiel sei hier die kritisch paranoische Methode Dalís genannt, als ein anderes etwa der abstrakte Expressionismus. Vgl. Schmitt, Patrice: »Die paranoische Methode und ihre Beziehungen zu Salvador Dalí«, in: Dalí, S./Walther, I. (Hg.), Retrospektive 1920-1980, Ausstellungskatalog, S.262-274; Gorsen, Peter: »Salvador Dalí, der ›kritische Paranoiker‹, in: ders. (Hg.), Kunst und Krankheit. Metamorphosen der ästhetischen Einbildungskraft, Frankfurt/M. 1980, S.213-316. Zur Umgebung dieser Forschungen vgl. Worbs, Michael: Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende, Frankfurt/M. 1983; Mayer, Andreas: »Zur Genealogie des psychoanalytischen Settings«, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften. Psychoanalytisches Wissen, Nr. 2 (2003), S.11-42. Derrida, Jacques: »Gerecht sein gegenüber Freud. Die Geschichte des Wahnsinns im Zeitalter der Psychoanalyse«, in: ders., Vergessen wir nicht – die Psychoanalyse!, Frankfurt/M. 1998, S.59-127, S.76. Vgl. ebd. sowie Derrida, Jacques: »Cogito und Geschichte des Wahnsinns«, in: ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. 1994, S.53-101, insbes. S.89 ff.: »Die so [mit der Descartschen Methode] erreichte Gewissheit genießt nicht den Schutz vor einem eingeschlossenen Wahnsinn, sie wird im Wahnsinn selbst erreicht und gesichert. Sie gilt sogar, wenn ich wahnsinnig bin.« Zizek schreibt zum selben Thema in Rekonstruktion der Fragestellung Descartes über den Deutschen Idealismus in: Zizek, Slavoj: Die Tücke des Subjekts, Frankfurt/M. 2001, S.50ff. Das vollständige Zitat Freuds findet sich im Abschnitt »Fremdheit« dieses Aufsatzes. Darauf kam Freud immer wieder zurück, wenn er auch zwischendurch andere Wege beschritt. Vgl. Hahn, Torsten/Person, Jutta/Pethes, Nicolas (Hg.): Grenzgänge zwischen Wahn und Wissen. Zur Koevolution von Experiment und Paranoia 1850-1910, New York/Frankfurt/M. 2002.
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Vgl. Didi-Huberman, Georges: Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot, München 1997; Mayer, Andreas: »Zur Genealogie des psychoanalytischen Settings«, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, a.a.O., S.11-42. Freud, Sigmund/Breuer, Josef: »Studien über Hysterie«, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. I,, a.a.O., S.22f. Vgl. Didi-Huberman, Georges: Erfindung der Hysterie, a.a.O. Zur Beschreibung des dann entwickelten Settings siehe: Freud, Sigmund: »Zur Einleitung der Behandlung. Weitere Ratschläge zur Technik der Psychoanalyse I« [1913], in: ders., Studienausgabe, Ergänzungsbd., a.a.O., S.181-204, S.193ff. Vgl. Hessing, Jakob: Der Fluch des Propheten. Drei Abhandlungen zu Sigmund Freud, Rheda-Wiedenbrück 1989, S.60ff. Er reiste statt dessen Hals über Kopf weg von seiner Patientin und schwängerte statt deren seine Frau. Hessing, Jakob: Der Fluch des Propheten, a.a.O., S.61. Die Couch ist die direkte Verwandte der Kline, dem Liegemöbel, das auch in den Kliniken gebraucht wurde, verwandt auch mit dem Bett. Die Einführung der Couch ins Setting hat auch zu tun mit den damals modernen Schlaf- und Entspannungskuren. »Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.« (Der erste Brief des Paulus an die Korinther, 13.) Didi-Huberman, Georges: Was wir sehen blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes, München 1999, S.67. Sie bringen das Ich in eine andere Position. Siehe vorige Anmerkung. Lacan, Jacques: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Seminar XI, Olten 1978, S.84. Vgl. Flader, Dieter/Grodzicki, Wolf-Dietrich: »Hypothesen zur Wirkungsweise der psychoanalytischen Grundregel«, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, Nr. 7 (1978), S.545-594. Das muss hier fürs erste so abgekürzt stehen bleiben. Vgl. Laclau, Ernesto: Emanzipation und Differenz, Wien 2002; sowie Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus. Wien 2000; sowie Marchart, Oliver (Hg.): Das Undarstellbare der Politik. Zur Hegemonietheorie Ernesto Laclaus, Wien 1998. Diese kommt am deutlichsten im Zwang zum Tragen. Legendre, Pierre: Leçons VII. Le désir politique de Dieu, zit. n.: Pornschlegel, C./Thüring, H.: »Nachwort«, in: Legendre, P., Das Verbrechen des Gefreiten Lortie, Freiburg 1998, S.169-203, S.178f. Einschübe von mir, KJP. Legendre, Pierre: La Fabrique de l’Homme occidental, zit. n.: ebd., S.189. Johannes von Patmos schreibt vom tausendjährigen Reich bei der Wiederkunft Christ, in dem es Gerechtigkeit und Frieden gibt. (Die Offenbarung des Johannes, 1-3.) Sein Lehrmeister war Clérambault, der sich umbrachte, als er zu erblinden drohte. Vgl. Lacan, Jacques: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, a.a.O., S.131ff. Lacan, Jacques: »Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse«, in: ders., Schriften I, hg. von N. Haas, Weinheim/Berlin 1996, S.71-169, S.78. Vgl. Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, a.a.O. Vgl. »Die Kette der physiologischen Vorgänge im Nervensystem steht ja wahrscheinlich nicht im Verhältnis der Kausalität zu den psychischen Vorgängen. Die physiologischen Vorgänge hören nicht auf, sobald die psychischen begonnen haben. Vielmehr geht die physiologische Kette weiter, nur daß jedem Glied derselben (oder einzelnen Gliedern) von einem gewissen Moment an ein psychisches Phänomen entspricht. Das Psychische ist somit ein Parallelvorgang des Physiologischen (›a dependent concommittant‹).« (Freud, Sigmund: »Der psycho-physische Parallelismus« [1915], in: Studienausgabe, Bd. III [Anhang B von »Das Unbewusste«], a.a.O., S.165-167, S.166.) Und: »Die Zukunft mag uns lehren, mit besonderen chemischen Stoffen die Energiemengen oder deren Verteilungen im seelischen Apparat direkt zu beeinflussen. Vielleicht ergeben sich noch ungeahnte andere Möglichkeiten der Therapie; vorläufig steht
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uns nichts Besseres zu Gebote als die psychoanalytische Technik, und darum sollte man sie trotz ihrer Beschränkungen nicht verachten.« (Freud, Sigmund: »Abriß der Psychoanalyse«, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. XVII, a.a.O., S.63-138, S.108.) Freud, Sigmund/Breuer, Josef: »Studien über Hysterie«, a.a.O., S.227. Eingeschobene Kommentare von mir, KJP. Breuer und Freuds Buch wurde von der wissenschaftlichen Kritik abgelehnt, von der Geisteswissenschaft und Kunst her gelobt. Berger, Alfred Freiherr von zit. n.: Worbs, Michael: Nervenkunst, a.a.O., S.88. Vgl. Worbs, Michael: Nervenkunst, a.a.O., S.68-73; sowie Starobinski, Jean: Psychoanalyse und Literatur, Frankfurt 1973, S.89f. Tatsächlich stammt er von dem Theologen Tobler. Vgl. Worbs, Michael: Nervenkunst, a.a.O., S.68. Starobinski, Jean: Psychoanalyse und Literatur, a.a.O., S.89. Vgl. Freud, Sigmund: »Die Zukunft einer Illusion«, in: ders., Studienausgabe, Bd. IX, a.a.O., S.135-190, S.186 ff. Bei der Kriminalistik ist man gezwungen zwei Bewegungen miteinander zu kombinieren: Das Setzen und Erfinden einer Story (so wie es gewesen sein könnte), ihre gleichzeitige Zersetzung und Stabilisierung durch gefundene Indizien, um nicht den eigenen Vorstellungen zu erliegen. Indizien werden sie aber nur durch die vorgängige Erfindung einer Geschichte. Eingebaut in diese können sie die Geschichte zerstören. In der Psychoanalyse geht es darum, die Geschichte, die aufgedrängt wird, die sich aufdrängt, nicht entstehen zu lassen. Vgl. Freud, Sigmund: »Zur Einleitung der Behandlung«, a.a.O., S.195, Fußnote 1. Ebd. Die nach wie vor wissenschaftliche Intention ist im Übrigen auch einer der markanten Unterschiede zu einem z.T. ähnlichen Verfahren: der Beichte. So konnte Freud es nicht ertragen, den ganzen Tag beobachtet zu werden, von Blicken in Form gebracht zu werden: »Ehe ich diese Bemerkungen zur Einleitung der analytischen Behandlung beschließe, noch ein Wort über ein gewisses Zeremoniell der Situation, in welcher die Kur ausgeführt wird. Ich halte an dem Rat fest, den Kranken auf einem Ruhebett lagern zu lassen, während man hinter ihm, von ihm ungesehen, Platz nimmt. Diese Veranstaltung hat einen historischen Sinn. Sie ist der Rest der hypnotischen Behandlung, aus welcher sich die Psychoanalyse entwickelt hat. Sie verdient aber aus mehrfachen Gründen festgehalten zu werden. Zunächst wegen eines persönlichen Motivs, das aber andere mit mir teilen mögen. Ich vertrage es nicht, 8 Stunden täglich (oder länger) von anderen angestarrt zu werden. Da ich mich während des Zuhörens selbst dem Verlauf meiner unbewußten Gedanken überlasse, will ich nicht, daß meine Minen dem Patienten Stoff zu Deutungen geben oder ihn in seinen Mitteilungen beeinflussen. Der Patient faßt die ihm aufgezwungene Situation gewöhnlich als Entbehrung auf und sträubt sich gegen sie, besonders wenn der Schautrieb (das Voyeurtum) in seiner Neurose eine bedeutende Rolle spielt. Ich beharre aber auf dieser Maßregel, welche die Absicht und den Erfolg hat, die unmerkliche Vermengung der Übertragung mit den Einfällen des Patienten zu verhüten, die Übertragung zu isolieren und sie zur Zeit als Widerstand scharf umschrieben hervortreten zu lassen. Ich weiß, daß viele Analytiker es anders machen, aber ich weiß nicht, ob die Sucht, es anders zu machen, oder ob ein Vorteil, den sie dabei gefunden haben, mehr Anteil an ihrer Abweichung hat.« (Freud, Sigmund: »Zur Einleitung der Behandlung«, a.a.O., S.193ff. Vgl. ebd., S.198.) Hier ist es wichtig, Analysant mit »t« zu schreiben. Vgl. Ratmoko, David: »Die dämonische Wiederkehr des Verworfenen«, in: RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse, Nr. 53 (2002), S.31-65, S.33. Vgl. Juranville, Alain: Lacan und die Philosophie, München 1990, S.370. Juranville gibt allerdings hier überhaupt keinen Hinweis auf das psychoanalytische Setting. Rotmoko, David: »Die dämonische Wiederkehr des Verworfenen«, a.a.O., S.34. Es bleibt anzumerken, dass »Analysand« gerade in diesem Zusammenhang mit »t« geschrieben werden müsste. Lacan, Jacques: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, a.a.O., S.132f. Lacan, Jacques: »Vom Blick als Objekt klein a«, in: ebd., S.71-126, S.113. Vgl. dazu: »Cusanus kommt so, Aktiv und Passiv koinzidierend, zu dem Schluß: ›Visus tuus, do-
Wahn… im psychoanalytischen Setting
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mine, est facies tua‹. – Gottes Sehen ist sein Ge-Sicht. Das Bild dient als Interface.« (Meyer, Torsten: Interfaces, Medien, Bildung. Paradigmen einer pädagogischen Medientheorie, Bielefeld 2002, S.193.) Ruhs, August: »Triebquelle Auge/Triebobjekt Blick«, in: texte. psychoanalyse. ästhetik. kulturkritik, Nr. 3 (1999), S.105-123, S.108. Freud, Sigmund: »Die Traumdeutung« [1900], in: ders., Gesammelte Werke, Bd. II/III, a.a.O., S.284. Kofman, Sarah: Melancholie der Kunst, Wien 1986, S.25. Auch hier eine Parallele zur Kunst seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Vgl. Wimmer, Michael/Schäfer, Alfred: »Einleitung. Zur Aktualität des Ritualbegriffs«, in:, dies. (Hg.), Rituale und Ritualisierungen, Opladen 1998, S.9-47; Rath, Claus-Dieter: »Private und kollektive Rituale«, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, Nr. 1/2 (2003), S.405-422; Wulf, Christoph u.a. (Hg.): Das Soziale als Ritual. Zur performativen Bildung von Gemeinschaften, Opladen 2001.
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André Michels
Wahn, Wissen, Wahrheit Psychoanalyse und normative Wissenschaften
Der Wahn ist sozusagen stellvertretend für das defizitäre, abnorme Denken, als welcher er im allgemeinen Sprachgebrauch gilt. Allzu gerne übersieht man dabei, auch von Seiten der Psychiatrie aus, seine kreative Funktion, die einem Subjekt einen meist vorübergehenden, manchmal fortwährenden Schutz gegen eine bedrohliche Umwelt gewähren soll. Seiner Bedeutung für das Subjekt kommt man erst auf die Spur, wenn man sich auf die Fragen von Norm und Normativität einlässt. Der Wahn, jedes Wahngebilde, vermittelt demnach ein spezifisches Wissen von einer rekonstruierten Wirklichkeit und ist auf seinen Bezug zur subjektiven Wahrheit hin zu untersuchen.
I Der Wahn, ob individuell oder kollektiv, wird zu Recht als gefährlich angesehen, weil er unser Denken, Wissen, Fühlen unterwandert und es eigentlich zu vernichten droht. Anstelle der »Wirklichkeit« setzt er eine wahnhafte Gewissheit, die erstaunlicherweise von Anderen übernommen werden und damit alle Formen von Wissen infizieren kann. Diese Ansteckungsgefahr war dem rationalistischen Zeitalter unerträglich, das im Gegenzug die Psychiatrie als Disziplin und sozialen Ordnungsfaktor entworfen hat. Dieses Ursprungszertifikat hat sie bis heute, trotz aller Öffnungsversuche, nicht aus den Händen gegeben. Parallel 333
André Michels
dazu konnte nichtsdestoweniger eine alte Tradition oder Volksweisheit erhalten bleiben, welche die Wahrheit in den Mund der Kinder und Wahnsinnigen legt. Zwei Denkweisen, ja Kulturen stoßen dabei aufeinander, die unverträglich zu sein scheinen und sich in der Tat – wenn auch immer wieder Brücken geschlagen oder Versöhnungsversuche unternommen wurden – seit den Anfängen der abendländischen Wissenschaften befehden. Diese Kluft, die weiter besteht, gilt es richtig einzuschätzen und auf ihre innere Notwendigkeit hin zu befragen. Die Frage nach dem, was wir wissen können (Kant), bildet den Kern des philosophischen Verständnisses von Wahrheit. In der Wissenschaftstheorie ist es jene nach den Kriterien der Verifizier- oder Falsifizierbarkeit (Popper) von Aussagen. Indem sie ihr Wissensgebäude von allen möglichen Wahngebilden zu befreien sucht, bezieht sie sich auf einen impliziten Normbegriff, der stets am Werk ist, aber nur selten (wie z.B. bei Kelsen) eigens ausgearbeitet wurde. Wie verhält sich die Psychoanalyse zum normativen Denken, das zur Grenzziehung jedes Wissbaren und Sinnvollen beiträgt? Ist sie Folge oder Ursache einer Normenverschiebung, einer Umverteilung der relativen Bedeutung von Wahn, Wissen und Wahrheit? Wenn der Wahn keiner objektiven Wirklichkeit ent-spricht, so spricht er nichtsdestoweniger aus einem innigen Bezug zur subjektiven Wahrheit. Hilary Putnam jedoch hält diese Unterscheidung zwischen objektiver und subjektiver Wahrheit, zumindest was die Wissenschaften anbelangt, für überholt. Seine Herausforderung möchte ich aufgreifen, »to break the strangle hold which a number of dichotomies appear to have on thinking […] Chief among these is the dichotomy between objective and subjective views of truth and reason.«1 Inwiefern verträgt sich die somit angestrebte Distanz gegenüber einer logischen Norm, die einiges als plausibel oder objektiv anerkennt, anderes als bloß subjektiv verwirft, mit der Hypothese des Unbewussten? Diese hat dazu beigetragen, das Verhältnis von Subjekt und Objekt tief greifend zu verändern ohne jedoch die Dichotomie zwischen beiden aufzuheben. Es besteht eine gewisse Ähnlichkeit mit der Entdeckung der irrationalen Zahlen (2) bei Pythagoras, die seine Anhänger zunächst verwirrt, bevor sie sich als wegbereitend für eine neue Form von Rationalität erwiesen hat. Diesen Übergang – zwischen Rationalem und Irrationalem – hat jede Generation erneut zu erproben, weil mit jedem Einbruch des Realen, das 334
Wahn, Wissen, Wahrheit
immer andere Gestalten annimmt, die Weltordnung aus der Fassung und die »normal science«2 aus den Fugen zu geraten droht. Unbeständig sind also die Grenzen der Vernunft, d.h. die Kategorien sowohl des Möglichen als auch des Unmöglichen, die in ihrem normativen Anspruch stets neu zu definieren sind.
II Unter Wahn verstehen wir ein Gebilde, das sich außerhalb von Normalität und Realität gestaltet. Wie aber, wenn er uns gerade über beide Aufschluss gäbe und zu ihrem Innersten gehörte? Während die Psychiatrie daran vorwiegend das Defizitäre festhält, kennt die Psychoanalyse seine kreative Funktion an. Den Unterschied macht ein fast entgegengesetzter Normbegriff aus, der jedoch in keinem der beiden Gebiete herausgearbeitet wurde. Einen wesentlichen Anhaltspunkt liefert uns Freud am Schluss seines Schreberaufsatzes: »Es bleibt der Zukunft überlassen, zu entscheiden, ob in der Theorie mehr Wahn enthalten ist, als ich möchte, oder in dem Wahn mehr Wahrheit, als andere heute glaublich finden.«3 Wahn steht hier nicht im Gegensatz zu Realität, sondern zu Wahrheit und Theorie – als Repräsentanten des Wissens. Ist dieses Gegenüberstellen aber etwas anderes als ein Beziehen, ein Referieren? Kommt nicht ein wesentlicher Aspekt von Wahrheit und Wissen nur unter der Voraussetzung des Wahns zur Sprache? Dem Wahn entspricht eine Form der Rhetorik, welche die normative, d.h. Sinn stiftende Funktion der Sprache durchbricht. Die Wahrheit, die er übermittelt, kommt uns als inadäquat oder »ver-rückt« entgegen, als Abweichen von einer Norm, die jedoch nie, im Voraus, als solche gewusst oder genannt worden wäre. Sie steht in einem ähnlichen Spannungsverhältnis zu Denken, Wissen, Sprechen, wie die Zensur zu den Bildungen des Unbewussten: Traum, Witz, Versprecher, Fehlhandlung, Symptom… Oft nimmt die Norm die Gestalt der Zensur an, aus der sich bei Freud die verschiedenen Idealgebilde und Ichinstanzen entwickelt haben. Sie zeichnet für das Entstellende,4 »Verrückende« in jeder Diskursbildung verantwortlich, das beim Wahn noch ausgeprägter als in anderen Fällen, ist. Was ich denken, wissen, sagen kann, was ich tun darf oder soll – wonach Kant fragt – bezieht sich jeweils auf eine Norm, die nicht von 335
André Michels
vornherein gegeben ist, sondern einer nachträglichen Aus- und Überarbeitung bedarf. Vielleicht ist sie nie positiv determinierbar, sondern nur aus Abweichung und Abirrung erschließbar. Auch ein Hinweis auf einen Normbegriff, der nicht nur im Unbewussten begründet ist, sondern dieses mitgestaltet. Denken – ob in Fiktion, Wahn oder Theorie – bezieht sich auf eine Norm, setzt sie voraus, verändert sie und hinterlässt sie anders als es sie vorgefunden hat. Diese verschiedenen Tempi der Denkbewegung entsprechen der Skandierung eines Wissens, in dem die Norm jedoch nur als Schnittstelle vorkommt. Bei der Durchquerung des von ihr beschriebenen Feldes kommt es immer wieder zu einer Überquerung, die einen das Aus-maß, Un-maß ihrer Macht spüren lässt. Als stets vorhandenes, wenn auch nicht artikuliertes Bindeglied zwischen Denken und Wissen, ent-scheidet sie, was unter bestimmten Bedingungen die Sprachgrenze überschreiten darf und was nicht. Sie bestimmt ein Mögliches aufgrund eines Unmöglichen, ein Dürfen eher als ein Sollen.
III Wichtig sind in diesem Zusammenhang die Arbeiten Canguilhems, der sich, ausgehend von der Biologie, über ein halbes Jahrhundert mit der Elaborierung des Normbegriffs beschäftigt hat.5 Erstaunlicherweise werden seine Schriften hauptsächlich von Soziologen und Politologen gelesen, während sie auf das medizinische Denken den wohl geringsten Einfluss haben. Ein Rückbesinnen auf den eigenen Normbegriff ist – ausgenommen in der Bioethik – weitgehend aus dem medizinischen Denken verschwunden. Von Canguilhem kann man sich also Ideen zu einer Kritik der medizinischen Vernunft erwarten. Einen weiteren wesentlichen Bezugspunkt stellen die Arbeiten Kurt Goldsteins dar, der 1934, im Amsterdamer Exil, sein Hauptwerk: Der Aufbau des Organismus verfasste.6 Dieser bedeutende Neurologe und Denker hat im deutschen Sprachraum kaum Spuren hinterlassen. Obgleich er Freud eher kritisch gegenüberstand, hat er seine Arbeiten über die Aphasie als bahnbrechend bezeichnet. Er führte die Funktion des Individuums – in Biologie und Medizin – ein, die bisher kaum bedacht wurde. Sich an einer Norm orientierend, die sich nicht ausschließlich auf die Naturgesetze beruft, steht das Individuum für die Ausnahme. Diese
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Wahn, Wissen, Wahrheit
Konstellation lässt sich unschwer auf die Ebene des Seelischen übersetzen. Fragen wir nach der Bedeutung des Normbegriffs für das Individuum, so ist zunächst zu betonen, dass es seinem Wesen entsprechend immer wieder von ihr abweicht, ohne es unbedingt zu wollen und ohne sich dessen bewusst zu sein. Zudem ist es notwendig, zwischen zwei Lesarten zu unterscheiden, die häufig miteinander verwechselt werden: Zum einen wird die Norm als Ideal, zum anderen als Mittelmaß verstanden. Etymologisch kommt noch eine weitere Vermischung hinzu, die auf das Ungedachte an diesem Begriff hindeutet. Als Vorbild, Modell, kommt Norm von (lat.) norma = »Richtschnur«, »Gerät zum Messen rechter Winkel«, wohingegen anomal und Anomalie von (gr.) nomos = »Gesetz« stammen. Zur Bezeichnung des Abweichens von der Norm hat sich im Sprachgebrauch, neben anormal und abnorm, das Substantiv Anomalie durchgesetzt: Beide gehören jedoch verschiedenen semantischen Feldern an.7 Es ist also notwendig, die Norm begrifflich vom Gesetz zu unterscheiden. Die Schwierigkeit, sie zu denken, hängt damit zusammen, dass sie vorwiegend mit einem Abweichen in Erscheinung tritt und paradoxerweise dessen Gestalt annehmen kann. Ihrer positiven Bestimmung widersetzt sich der Prozess ihrer individuellen Aneignung, die nach einer ursprünglichen Transgression einer ausreichenden Distanz bedarf. Diese ist insofern notwendig, als mit einer zu strengen Anpassung an die Norm die Individualität nicht nur in Mitleidenschaft gezogen wird, sondern zu verschwinden droht.
IV Das Spezifische der Psychoanalyse liegt in der Anerkennung dieses konstitutiven Moments, worin sie sich ebenso von der Psychiatrie wie auch von anderen Psychotherapieformen unterscheidet. Das Anormale will sie nicht festschreiben oder kategorisieren, sondern kreativ verwenden. Mit welchem Normbegriff Freud gearbeitet hat, bleibt dabei noch unbeantwortet. Meine These ist, dass dies zum Ungedachten seines Diskurses gehört. In welchem Verhältnis aber steht das Unbewusste zum normativen Denken? Mit der Beantwortung dieser Frage könnte sich die Psychoanalyse besser gegen Vorwürfe wehren, die u.a. von Seiten der Frankfurter Schule 337
André Michels
und der Diskurskritik erhoben wurden. Sie beanspruche, Normen vorzugeben (Adorno), oder sie sei ein wesentlicher Bestandteil der unsere Epoche auszeichnenden normativen Techniken (Foucault). Foucault selbst kann man wiederum dahingehend kritisieren, dass er sein Verständnis der Norm nicht produktiv gewendet hat, sondern in ihr vorwiegend ein Machtinstrument im Dienste des medizinisch-juristischen Apparates gesehen hat. Auf diesen habe die Theologie, seit dem 18. Jahrhundert, die Funktion der Normenstiftung übertragen. Für die Psychoanalyse hat die Norm vor allem eine heuristische Bedeutung in der Ausarbeitung ihrer Grundbegriffe und ihres klinischen Ansatzes. Beim Studium der Neurosen ging es Freud um die seelischen Gesetze, die für alle gelten. So konnte er von seinem Krankheitsbegriff auf das »Normale« schließen. Das Gleiche lässt sich mit Lacan vom Wahn sagen, der als wesentliche Beschränkung der menschlichen Freiheit uns über letztere einigen Aufschluss verleiht. Zu bemerken ist, dass bei beiden – im Gegensatz zur medizinischen Tradition – die Pathologisierung der so genannten Geisteskrankheiten aus dem Sprachgebrauch gestrichen wurde. Die rezentere, heute vielfach verwendete Kategorie der BorderlineStruktur wird an der Grenze des »Normalen« angesiedelt und damit umso mehr an bestehenden Normen festgemacht. Wahrscheinlich aber beruht sie auf einem Missbrauch oder Missverständnis eines impliziten Normbegriffs, dem bisher nicht genügend theoretische Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Die Norm sucht die Psychoanalyse weder sozial, noch rein diskursiv, sondern vielmehr sexuell, d.h. als einen Teil ihrer Trieblehre, zu definieren. Ihrer heuristischen Funktion wird sie in den »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« gerecht, die mit einem Kapitel über die »sexuellen Abirrungen« beginnen. Gleich einem Wächter steht der Normbegriff zu Anfang dieses bedeutenden Buches,8 ein Begründungsversuch von Freuds klinischem Denken, zu dem er einen Zugang gewährt oder verbietet.
V Lacans Definition des Unbewussten,9 dessen Struktur sich an jene der Sprache anlehnt, verweist implizit auf diese als normative Instanz. Vor ihr sind wir alle gleich! Gleichheit beruht jedoch, in einem radikalen 338
Wahn, Wissen, Wahrheit
Demokratieverständnis, auf einer wesentlichen Ungleichheit, indem sie nicht nur das Abweichen von einer Norm ermöglicht, sondern diese durch jenes begründet. Nur so lässt sich eine – gelegentlich auftretende – Virulenz der Homosexuellenbewegung, in den 90er Jahren, erklären. Sie begleitete sozusagen die fortgeschrittensten Formen der Demokratie. Ermöglichen heißt aber nicht autorisieren, was nur vom sozialen Kontext getragen werden kann. In einem totalitären Staat funktioniert ein ganz anderer Normbegriff, der, losgelöst vom Gesetz, sich dieses zu unterjochen sucht. Mit dem Durchdringen der Privatsphäre – prinzipiell in jedem totalitären System – wird die analytische Kur undurchführbar. Eine bedeutende Ausnahme bildeten, in den siebziger Jahren, einige Militärdiktaturen Südamerikas. Die Couch des Analytikers war für viele zu einem Ort des Sprechens geworden, das man als »halböffentlich« bezeichnen kann, insofern die Instanz des Andern erhalten geblieben war. Wir lernen daraus, dass das Sprechen in der Analyse zur Überwindung der Privatsphäre beiträgt, ohne darum bereits öffentlich zu sein. Was auch bedeutet, dass sie nur unter der Voraussetzung eines bestimmten Verständnisses der sozialen Norm überhaupt ausgeübt werden kann. Eine Annäherung zwischen unbewusstem und normativem Denken findet nur unter der Vorbedingung – ein Hauptanliegen der Psychoanalyse – der Übertragung der Soll-Sätze statt. Ein Imperativ, ob kategorisch oder nicht, gilt dann nicht schlechthin, sondern als Variante – auch ein Abweichen – einer noch nicht artikulierten oder artikulierbaren Norm. Vielleicht der Grund, weshalb uns Lacan dazu ermutigte, Kant mit Sade zu lesen.10 Eine Norm gilt also unter der Voraussetzung ihrer Deutung, die sie als Differenz begründet und so ihre Übersetzung in die Signifikanten des Subjekts ermöglicht. Einer seelischen oder sozialen Unbeständigkeit gegenüber stellt die Norm das Beständige dar, worauf sich ihre subjektiven Variationen immer wieder beziehen. Ist sie darum etwas anderes als eine leere Referenz? Noch im »psychischen Determinismus«, auf den Freud soviel Wert legte, erkennen wir ihre Auswirkungen wieder. Er ist insofern für das Seelenleben bestimmend, als er selbst nicht – positiv – bestimmbar ist. Der Determinismus hat für das Unbewusste dieselbe Funktion wie das Invariante für die Wissenschaftstheorie: In ihm ist ein Wissen niederge-
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André Michels
legt, das aber selbst nicht gewusst werden kann und sich nur als Mangel oder Lücke manifestiert. Doch liegt bei dieser Schwierigkeit einer positiven Bestimmung der Norm nicht die größte Gefahr in einem logischen oder ethischen Relativismus?
Anmerkungen 1
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Übersetzt: »den Würgegriff zu brechen, den zahlreiche Dichotomien offensichtlich auf das Denken ausüben […] Als erste unter ihnen gilt die Dichotomie zwischen objektiven und subjektiven Ansichten von Wahrheit und Ursache.« (Putnam, Hilary: Reason, truth and history, Cambridge 1981, S.IX.) Vgl. Kuhn, Thomas: The structure of scientific revolution, Chicago 1970, S.23-42. Freud, Sigmund: »Über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia« [1911], in: ders., Gesammelte Werke, Bd. VIII, Frankfurt/M. 1955, S.239-316, S.315. Freud, Sigmund: »Die Traumdeutung«, in: ders., Gesammelte Werke, a.a.O., Bd. II/III, S.518f. Canguilhem, Georges: Le normal et le pathologique, Paris 1966. Kurt Goldstein (1878-1965): Nachfolger Ludwig Edingers als Leiter des Neurobiologischen Instituts, ab 1929 Ordinarius für Neurologie in Frankfurt am Main. Weil ihm in Frankfurt eine eigene Bettenabteilung verwehrt wurde (man bevorzugte seinen Kollegen Kleist, dessen Auffassung von der anatomischen Lokalisierbarkeit von Hirnfunktionen Goldstein kritisierte), wechselte er 1930 nach Berlin, wo er die neu gegründete neurologische Abteilung des Krankenhauses Moabit leitete, bis er 1933 von den Nazis zur Emigration gezwungen wurde. Siehe dazu die Diskussion in Lalande, André: Vocabulaire technique et critique de la philosophie [1926], Paris 1972, S.688-691. Freud, Sigmund: »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« [1905], in: ders., Gesammelte Werke, Bd. V, a.a.O., S.27-145, S.34. »L’inconscient est structuré comme un langage« (Das Unbewußte ist wie eine Sprache strukturiert). Lacan, Jacques: »Kant avec Sade«, in: ders., Écrits, Paris 1966, S.756-790.
Claus-Dieter Rath
Was uns fesselt – In den Fängen des Anderen Notizen für eine psychoanalytische Untersuchung von vier Modellen kollektiver Vergiftungsvorstellungen: fattura und
Tarentismus, Umweltvergiftung und die »Droge im Wohnzimmer«
In jeder Kultur gibt es perverse, neurotische und psychotische Strukturen. Obwohl die akuten kollektiven Manifestationen zweier Kulturen sich manchmal gleichen, kommen sie auf unterschiedlichen Wegen der Symptombildung zustande;1 sie enthalten verschiedene Arten der Wiederkehr des Verleugneten, des Verdrängten und des Verworfenen. Jede Kultur produziert aber nicht nur solche Strukturen und Zustände, sondern auch Theorien, Erklärungen, Definitionen, Beschreibungen, mit denen sie diesen eigenen Gebilden begegnet, um sie zu fassen: als Psychose, als Wahn, als biochemische Störung, als Auswirkung von Verhexung, Liebeszauber oder Besessenheit. Wobei die Gewissheit und die Überzeugungskraft dieser Erklärungen in Glauben, Okkultismus oder Wissenschaft gründen. Weiterhin schafft jede Kultur auch Gegenmittel, mit denen ihre Institutionen und ihre Mitglieder auf bestimmte Symptomäußerungen reagieren können oder müssen: Formen der Ausschlie-
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Claus-Dieter Rath
ßung, Verwahrung (Einschließung), Exorzismus (Austreibung), medikamentöse Physio- und Psychotherapien, Psychoanalyse, etc. Die folgende Skizze fragt nach Ähnlichkeiten und Differenzen von zwei »alten« und zwei »modernen« Formen der kollektiven Sinngebung subjektiven Leidens. Alle vier sind kollektive Vergiftungsvorstellungen. Sie sind Varianten des Spiels von Wissen und Wahn im Hinblick auf die Symptombildung und auf den Umgang mit diesen Symptomen: Einerseits die im Mittelmeerraum (Süditalien) verbreiteten Symptome einer aufgezwungenen Verliebtheit – einer Verhexung, einer magischen Überwältigung – (fattura d’amore) und die Symptome eines SpinnenBisses (Tarentismus), andererseits die Beschäftigung der Menschen der modernen Gesellschaften mit Vergiftung im Bereich der Ernährung und der Massenkommunikation. Der erste Teil befasst sich mit den beiden »alten« Vorstellungen, die als gesellschaftliche Phänomene in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verschwinden beginnen. Sie enthalten die Idee, dass der Leidende durch eine »giftige Substanz« an den Willen eines Anderen gefesselt sei. »Gift« – italienisch veleno – ist hier nicht allein im biochemischen Sinn zu verstehen, sondern in der weiteren Bedeutung des venenum, was mit der Venus – als Göttin der Liebe – zusammenhängt. Fattura und Tarentismus sind kollektive, wahnhaft anmutende Formen des Umgangs mit den Wirkungen einer unzugänglichen Leidensursache, der man sich passiv ausgesetzt sieht. In beiden Modellen ist das Symptom bzw. das im Symptom innewohnende Begehren jeweils schon eine Deutung. Zur Gewissheit wird die vermutete Ursache jedoch erst während der Therapie, die eine kulturell kodierte Praktik ist. Der zweite Teil behandelt die in den modernen Gesellschaften seit etwa 1970 sich ausbreitenden Ängste vor der Einwirkung bestimmter Substanzen und bestimmter Botschaften: es sind die Umweltgifte und die Massenkommunikationsmedien (besonders die elektronischen). Meine Skizze der beiden »alten« und der beiden »modernen« kollektiven Vergiftungsvorstellungen konzentriert sich jeweils auf zwei wichtige Momente: einerseits das der Vergiftung und andererseits das der Entgiftung, oder auch das der Fesselung (Faszination) und das der Befreiung aus einer bestimmten Bindung – also einerseits die Begegnung mit einem Agens/Agenten, und andererseits die Begegnung mit einer Therapie/einem Therapeuten.
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Was uns fesselt
Teil I fattura und Tarentismus Beide Vorstellungsmodelle waren jahrhundertlang im gesamten Mittelmeerraum verbreitet. Ich beziehe mich hier auf ihr Vorkommen in den ländlichen Gebieten Süditaliens noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, also in der Phase ihres Niedergangs. Während ich den Tarentismus nur aus der Literatur kenne, da er seit Jahrzehnten nicht mehr als soziales Phänomen existiert, lernte ich einige Momente der fattura – nämlich Vorstellungen über die Zauberkraft bestimmter Substanzen – bei einer Feldforschung in Kalabrien 1976-78 persönlich kennen. Die fattura ist bis heute nicht ganz ausgestorben und fungiert als Erklärungsmodell – zumindest partiell – noch heute in Süditalien (und in Varianten überhaupt im Mittelmeergebiet).
fattura Im Fall der aufgezwungenen Verliebtheit (fattura d’amore) »wirkt« normalerweise die in eine Speise gegebene Substanz einer Frau, die einen bestimmten Mann an sich binden will (Liebeszauber, Liebesphilter). Als »Therapie« lässt man sich durch eine Magierin oder einen Magier behandeln und wendet zudem selbständig bestimmte Rituale, Heilsprüche und Substanzen an. Verliebtheit spielt in der Sozialstruktur der ländlichen Familienbildung und Familienerhaltung keine Rolle, oder besser gesagt: sie stellt ein Risiko dar. Vom Jüngling, der ein Stück Land ohne Wasser erben wird, erwartet die Familie, dass er die Tochter des Nachbarn heiratet, der einen Brunnen besitzt. Beharrt der Sohn jedoch darauf, ein Mädchen zu heiraten, das keine Aussteuer hat, oder eine Witwe, die drei Kinder zu versorgen hat, oder gar eine fremde Durchreisende, führt das einerseits zu sozialen Konflikten, andererseits zu einem emotionalen Unbehagen bei dem jungen Mann. Die Verliebtheit des jungen Manns hat also keinen Sinn. Es gibt nur eine einzige Erklärung: er ist »verhext«, seine Verliebtheit ist ihm aufgezwungen worden. So wie der Familienvater verhext sein muss, der sich von einer anderen Frau angezogen fühlt, oder auch der Emigrant, der, nachdem er die Frau im Dorf zurückgelassen hat, am Ort seiner Arbeit sich in eine andere verliebt oder gar eine neue Familie gründet.
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Die Vorstellung, über etwas Einverleibtes von einem anderen besessen zu werden, ist im magischen Denken sehr verbreitet. Die Verabreichung dieses ›etwas‹, dieser magischen Gabe, tritt in Süditalien zumeist als fattura d’amore (Liebeszauber) auf.2 Die von der begehrenden Frau angebotene Nahrung gilt als manipuliert; die Gabe der Frau ist dabei der (biochemische) Träger ihres Begehrens. Wer diesen »Köder«3 nichts ahnend verschlingt, bleibt gleichsam an der Leine des gebenden Anderen hängen. Konkret: Der Mann wird einer Frau, die in die Speise oder den Kaffee etwas – zumeist Menstrualblut oder zerkleinertes Schamhaar – gemengt hat, unrettbar ausgeliefert, wird von ihr fasziniert sein.4 Die Waffen der Frau: becircen,5 verhexen. Allgemeiner: Das Opfer wird dem Charme, dem »Zauber« des anderen erlegen sein. Es geht dabei auch um Macht und Ohnmacht: Die Frau in der Öffentlichkeit in Süditalien, zumindest in der bäuerlichen Kultur noch bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts, hat kaum Möglichkeiten, ihr Interesse für einen bestimmten Mann zu bekunden. Doch als Haushälterin, die sich um die Ernährung kümmert, hat die Frau Macht über denjenigen, den sie nährt, die Familienangehörigen. Und natürlich auch als Mutter, die dem Kind die Brust gibt. Das Risiko der fattura, der Verabreichung von etwas in einer Speise, ist gesellschaftlich bekannt und gefürchtet. Dies führt zu einer strengen Ritualisierung der Ernährung, sowohl bei der Zubereitung (den Geschmack der Zutaten erkennen, um fremde Elemente davon zu unterscheiden), als auch bei der Verabreichung (die »sichere« Nahrung stammt von der Mutter oder von der Ehefrau; Nahrung von »fremder« Hand anzunehmen – von einer Wirtshausbedienung oder einer Nachbarin – bedeutet immer ein Risiko). Auch industriell hergestellte Nahrung (Konserven usw.) kann als sicher gelten, es kommt jedoch darauf an, wer sie dann weiter verarbeitet. Bei meinen Feldforschungsaufenthalten in Süditalien (Region Kalabrien) bringt mich meine Kontaktperson F. im Dorf u.a. mit einer etwa 65jährigen Bäuerin zusammen. Sie sind beide in der gleichen politischen Partei; die Bäuerin sagt, dass F. deshalb für sie wie ihre eigene Schwester sei. Da F. mich mitbringe, werde sie mich wie einen der Brüder von F. behandeln. Sie merkt an, dass sie mich schon in den vergangenen Tagen im Dorf gesehen habe. Falls ich sie jedoch alleine aufgesucht hätte, wäre sie mir mit einem ihrer Jagdgewehre gegenübergetreten (sie weist darauf hin, dass im Fernsehen in letzter Zeit viel von deutschen Terro344
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risten die Rede gewesen sei). Während des ersten Gesprächs mit ihr überhäuft sie mich in fast aggressiver Weise mit Nahrungsmitteln und Wein. Sie berichtete mir, sie lasse ihren jüngsten, noch unverheirateten Sohn nicht außer Haus essen, da sie befürchte, dass eine Frau ihm »etwas« ins Essen schütten könnte (fattura), um ihn zu verführen und in Besitz zu nehmen (fascinare). Als Opfer fühle er sich dann ›contre cœur‹ an sie gebunden.6 Dass nicht nur Einzelne solche Vorstellungen hegen, sondern dass sie kollektiv sind, ja dass sie ein System von Einwirkungsversuchen und Abwehrhandlungen bedingen, bestätigt mir ein Gespräch mit einem alten Dorfmagier, dessen Existenz zunächst vor mir geheim gehaltenen worden war. Dieser erklärt mir, dass er sich mit Zauber und Gegenzauber befasse und stellt im Rahmen eines gleichsam diagnostischen Rituals fest, ich – der ›Forscher‹ – sei Opfer des Nahrungszaubers von vier Personen geworden. Er will mir ein Gegenmittel verkaufen, das ich einnehmen soll. Nach meiner Rückkehr vom Magier stellt sich heraus, dass alle Kontaktpersonen ihn kennen. Zunächst hatten sie vorgegeben, von einem Magier in ihrem Dorf nie gehört zu haben. (»Bei uns glaubt doch niemand an so etwas …«) Schließlich war ich ein Fremder, gehörte nicht zu dem Kollektiv, das sich in solch einem kulturellen Ritual wiedererkannte. Zudem gab es einen Widerspruch zwischen der seit Jahrzehnten politisch progressiven Stadtverwaltung und diesen »unaufgeklärten« Denk- und Verhaltensweisen. Erst von der Bäuerin, da sie mich wie einen der Brüder von F. behandelt hat, erfuhr ich von dessen Existenz. Auf die theoretischen Zusammenhänge dieses Bezaubert- und Gefesseltseins war ich kurz nach dem ersten Gespräch mit jener Bäuerin durch die Studie des italienischen Psychoanalytikers Michele Risso aufmerksam geworden: Verhexungswahn. Ein Beitrag zum Verständnis von Wahnerkrankungen süditalienischer Arbeiter in der Schweiz.7 Sie untersucht das System der fattura anhand konkreter Fälle von plötzlichem Verhexungswahn bei Arbeitsemigranten und verknüpft die Fallgeschichten mit den grundlegenden Forschungen des italienischen Religionsethnologen Ernesto de Martino.8 Mit der ersten Welle der Arbeitsimmigration in der Schweiz war Ende der 50er Jahre »im Verhalten vor allem vieler süditalienischer Kranker aufgefallen, daß sie in demonstrativ wirkender Weise über schwere Körperveränderungsgefühle und andere Erscheinungen klagten, die sie auf 345
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magische Beeinflussung zurückführten«.9 Die beiden Autoren erfuhren beispielsweise von einem süditalienischen Gastarbeiter, er habe vor Monaten »an einem Fest teilgenommen. Beim Essen habe man ihm sicher ›etwas‹, er wisse nicht was, gegeben, was schwere Folgen für ihn gehabt habe. Auf der Heimfahrt mit dem Velo sei er auf den Kopf gestürzt, sei zwei Wochen im Spital gewesen und habe anschließend monatelang mit der Arbeit aussetzen müssen«.10 Es ging um die Begegnung mit einer Frau… Risso und Böker erwähnen Fälle, in denen ein Emigrant sich von der Tochter oder Ehefrau des Meisters bzw. Arbeitgebers angezogen fühlt – und sogleich mit heftigen körperlichen Symptomen reagiert: Kopfschmerzen usw. Beispielsweise hatte ein Landarbeiter ein Zimmer bei seinem Chef; dessen Tochter servierte ihm morgens den Kaffee. Er nahm an, diese habe ihm »etwas« in den Kaffee getan. Ein solches Verhältnis darf nicht sein, es kann nicht sein. Dieser Konflikt aktualisiert eine Schuldproblematik. Die Frau will den Mann haben, denkt sich der Mann. Man muss aber sagen: Er will von ihr gehabt werden. Er projiziert sein eigenes Begehren, ja seine Begehrlichkeit nach außen. Und: Die Frau will den Mann haben, denkt sich der Mann – doch es ist illegitim. Etwas bleibt stumm und unausgesprochen. Die kulturellen Zwänge bleiben unbefragt und unangetastet. In diesem Zusammenhang greift die – kulturell vorgeformte – Symptombildung. Die Schweizer Psychiater erklärten solche Vergiftungsideen beispielsweise zur »schizophrenieähnlichen Emotionspsychose«.11 (Aber sie waren nicht so ganz davon überzeugt.) Sie begegneten dem Leid dieser Population mit Verabreichungen: wahlweise mit einer Largactil-Kur, Insulin, Bofranil, Balophen, in mehreren Fällen kombiniert mit Elektroschocks. Eine Therapie, die den Patienten sinnlos erschien. Ihren in Süditalien wohnenden Familien jedoch ist das Leiden vertraut, als zu einem System (einer Pathologie) gehörend. Der so Erkrankte bleibt mit seiner Idee der Leidensursache keineswegs allein. Vielmehr spricht er mit seinen Vertrauten darüber. »[…] auch den Angehörigen ist es selbstverständlich, daß dem Gesunden jederzeit eine krankmachende fattura begegnen, daß er sie unterwegs ›auflesen‹ kann […]«12 Eine Befreiung von diesem Leiden erlebten die Emigranten, nachdem sie entweder einen Magier in ihren Heimatorten aufgesucht hatten oder sie bestimmte ihnen zugeschickte Objekte erhalten hatten. »Eine fattura ist zwar unheimlich, sie ist aber nichts Sinnloses; sie kann bekämpft 346
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werden, wenn man das Richtige dagegen unternimmt.«13 Das heißt: Gegen- und Abwehrzauber. So lässt zum Beispiel einer der Arbeitsemigranten »ein Büschel Haare nach Hause schicken, damit die Eltern etwas gegen den erlittenen Zauber unternehmen können«; in einem anderen Fall bringen die Verwandten »ein Stück ihrer Wäsche zu einem magaro nach Italien. – Diese Patienten können also mit Mitteln ›behandelt‹ werden, welche in ihrer Vorstellung kausale Wirkung haben.«14
Tarentismus De Martinos Studien befassen sich mit einer weiteren Form von Giftzauber: dem im 20. Jahrhundert nur noch im Salento (an der Südspitze Apuliens) anzutreffenden Tarentismus, dessen Opfer sich gebärden, als seien sie ›von der Tarantel gestochen‹. Seit einigen Jahrzehnten ist dieses soziale Phänomen überhaupt verschwunden. Das hier »wirkende« Gift ist das einer mythischen Tarantel. Das Opfer verfällt in einen Zustand tiefer Melancholie, Depression, Katatonie. Eine Austreibung findet durch das Ritual der Tarantella statt: beim Klang einer sehr rhythmischen und repetitiven Musik – eben der Tarantella – schüttelt das Opfer seinen reglosen Zustand ab und tanzt stundenlang bis zur Erschöpfung. Dies Geschehen erstreckt sich über mehrere Tage. Das Wort »Tarantella« ist abgeleitet von Taranto, Hafenstadt in Apulien. Zunächst wurde damit die Spinne benannt, und dann – bis heute – eine in ganz Süditalien verbreitete Form von Volksmusik und ein sehr repetitiver und schneller Tanz. Ein mittelalterlicher Text konstatiert: Da der Biß der Tarantel eine melancholische Erkrankung hervorruft, und da die Melancholie mit Fröhlichkeit geheilt wird, sind Gesang und Musik sehr heilsam für die Opfer eines solchen Bisses. […] die Unwissenden behaupten, die Tarantel gebe eine Musik von sich im Augenblick in dem sie beißt und daß der Kranke, wenn er gleichartige Melodien hört, eine deutliche Besserung erlebt.15
De Martino sagt, »der Tarentierte ›stellt sich vergiftet‹«. Er spricht von einem »kulturell autonomen Symbolgewebe«, d.h. einer »Autonomie des mythischen Tarantelsymbols gegenüber der Naturbeobachtung«, denn fast keiner der Tarantate war wirklich von einer Spinne gebissen worden und zudem stimmten die beschriebenen Taranteln keinesfalls mit deren zoologischer Form überein. »Tarantel, Stich, Gift besitzen also im Rahmen des Tarentismus einen echten Symbolgehalt: sie sind derart beschaffen, daß dank ihnen im Unbewußtsein latenten Seelenkonflikten 347
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Sinnhorizonte verliehen werden.« De Martino sieht die Signifikanten »Tarantel, Stich, Gift in eine[r] Bezugsreihe untereinander und mit anderen Bestimmungselementen«. Die Tarantel müsse vor allem jene dunklen Anforderungen des Unbewußten beschwören und gestalten, ins Leben rufen und wieder abklingen lassen, die in ihrer chiffrierten Ungebändigtheit das Bewußtsein zu überfluten drohen. In dem ihre Schicksale erzählenden Mythus besitzt daher die Tarantel verschiedene Größe, verschiedene Farben, löst die verschiedenen Tanzmelodien aus.16
De Martino beobachtete Beginn einer Musik- und Tanzkur: Es war uns vergönnt, einem dieser jährlich wiederkehrenden Bräuche beizuwohnen. Die Tarentierte lag regungslos mit geschlossenen Augen am Boden. Ein kleines Orchester war am Werke, versuchsweise verschiedene Tarantellamotive aufzuspielen, um jene Musikweise ausfindig machen zu können, die »ihrer« Tarantel entsprach und daher die Tarentierte in den Bannkreis des Heiltanzes hineinzureißen fähig war. Nach längerer musikalischer Erkundung begann die Tarentierte plötzlich das Tempo mit ihrem Haupte zu unterstreichen, und ihr Körper zeigte sich leicht von der Klangwelle bewegt: Merkzeichen, daß die »richtige« Musik gefunden war.17 [Um]die Tarantel zum »Krepieren« oder »Platzen« zu bringen, [ist es] geboten, daß als Ergebnis einer musikalischen Rekognoszierung auf der Grundlage eines traditionsgeheiligten Repertoires die »richtige« Musik ausfindig gemacht wird, nämlich die der am Stiche schuldigen Tarantel eigentümliche Melodie, um so den Tarentierten zum »Tanz der kleinen Spinne«, zur »Tarantella«, hinzureißen. Dieser Tanz führt eine unwiderstehliche Identifizierung mit der vergiftenden Tarantel herbei, ein Tanzen mit der Spinne oder geradezu als tanzende Spinne.18
Das Tarantelsymbol repräsentiert aber nicht allein das Übermächtige und Bedrängende, sondern es trägt auch »dazu bei, das Vorgestellte abfließen und lösen zu helfen.« Es verleiht dem Gestaltlosen Gestalt, verleiht Rhythmus und Melodie dem bedrohlichen Schweigen, Farbe dem Unfarbigen, in dauerndem Streben nach Gestaltung und Gliederung dort, wo sich ungeformte Erregung und isolierende Depressionszustände ablösen. Das […] Symbol bietet Perspektiven des Vorstellens, Hörens und Schauens dessen, was sonst in Gefahr gewesen wäre, bildlos, taub und blind zu bleiben, das aber unerbittlich verlangt, in Sichtbares und Hörbares umgesetzt zu werden.19
»Musik und Tanz« sind »die eigentlich ›reintegrierenden‹ Faktoren der Symbolwirkung«. 348
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Die ersten Chroniken lassen den Tarentismus auf die Zeit des Zusammenstoßes zwischen der islamischen und der christlichen Welt zurückgehen (kollektive Vergiftung bei den abendländischen Heeren); als Vergiftung durch Spinnenbiss taucht er im Mittelalter in Apulien auf (in den Häfen, von denen die Schiffe der Kreuzzügler ablegten) und in Süditalien überhaupt. Nur um weniges jünger sind die Berichte von der MusikKatharsis und von dem Tarentismus als mythisch-rituellem Symbol, dem eine eigene Autonomie zukommt.20 Die Virulenzzeit (Juni) ist einerseits die der Kornernte und eines gehäuften Vorkommens von Spinnen auf den Feldern, andererseits das der traditionellen heidnischen Austreibungsfeste des Frühjahrs im Mittelmeerbecken, die von der katholischen Kirche sehr bald »umgewandelt« wurden in die Feste des Hl. Johannes (24. Juni), Hl. Vito (15. Juni) oder in das Peter-und Paul-Fest (29. Juni). Das Phänomen des Tarentismus gilt heute als verschwunden. Seine Hochzeit – zumindest was das wissenschaftliche Interesse betrifft – erlebte es im Barock.21 Das Forscherteam von Ernesto de Martino hat 1959 in Bild und Ton nur noch rudimentäre Formen dokumentieren können:22 Jahr für Jahr wird am Peter-und-Paul-Fest in einer kleinen Kirche der Stadt Galatina der von der mythischen Tarantel »Gebissene« durch Musik und Tanz nach etwa drei Tagen vom Leiden befreit – bis ein Jahr später der »Biss« erneut wirkt. (Bei den 21 »Gebissenen«, die das Forschungsteam bei dieser Gelegenheit beobachtete, handelte es sich ausschließlich um sehr arme Landarbeiter/Tagelöhner, fünf Männer und 16 Frauen, zwischen 16 und 80 Jahre alt, alle Analphabeten oder Halbanalphabeten.) Die Zerstörung der heidnischen (paganischen) Therapierituale durch die katholische Kirche hat De Martino zufolge den Leidenden »ein mythisch-rituelles Symbol zur Bändigung der Krise« genommen; sie haben also eine Möglichkeit der ritualisierten Abfuhr verloren und blieben fortan in ihre Leiden eingesperrt – als Einzelne, als arme Irre. Im Gegensatze dazu war der Tarentismus der Vergangenheit gewiß nicht eine Krankheit gewesen, sondern ein mythisch-rituelles Symbol zur Bändigung der Krise, eine Funktion, die noch in den Resten der häuslichen Kur wirksam blieb. Unter dem zerrüttenden Druck der christlichen Symbolwelt wurde der Tarentismus zur Krankheit, sank er auf den Rang einer pathologischen Krise herab.23
Ich kann in dieser Skizze hinsichtlich des Tarentismus nicht auf klinische Darstellungen verweisen, die denen von Risso und Böker für die 349
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fattura entsprächen. Die mir bislang vorliegende Literatur behandelt die Krisen und Konflikte der Subjekte, die zur Symptombildung »Tarentismus« greifen, ziemlich allgemein.24 Die Einzelnen hätten zu bestimmten Jahreszeiten (besonders im Sommer) ihre Krisen; ihre psychische Struktur sei neurotisch oder psychotisch, doch wirkten sie im Alltag ziemlich normal. Ausgangspunkt sei zumeist eine existentielle Krise gewesen.
Agenten – Agenzien: Das Gift und der Andere Von besonderem Interesse für die psychoanalytische Untersuchung von fattura und Tarentismus ist die Position, die jeweils dem Anderen eingeräumt wird – den Wirkstoffen wie der einwirkenden Person oder Instanz, den Agenzien wie dem Agenten – und dies im Sinne des Anderen in Freuds Massenpsychologie: »Im Seelenleben des Einzelnen kommt ganz regelmäßig der Andere als Vorbild, als Objekt, als Helfer und als Gegner in Betracht.«25 Man kann Opfer der fattura werden. Man kann die fattura aber auch auf einen anderen ausüben. Über das in beiden Fällen erforderliche Wissen verfügt entweder eine kundige Person in der Familie oder ein Mago bzw. eine Maga (auch fattucchiera genannt). Die Magier sind dabei stets in einer Doppelrolle: einerseits Helfer der begehrenden Frau (der sie bestimmte Substanzen und Ritualwissen verkaufen), andererseits Erlöser des gefesselten Mannes. Dies erinnert an die »Doppelrolle« des Giftes, im Sinne des Pharmakon, das zugleich Heilmittel sein kann: Dosis und Überdosis (»zuviel des Guten«). (Ich gehe auf die Besonderheiten von »Gift« weiter unten noch einmal ein.) Beide Magiemodelle basieren also auf der Idee eines giftigen Agens, doch unterscheiden sie sich im Hinblick auf den Agenten. Agent ist beim Tarentismus der große Andere, verkörpert durch eine mythische Tiergestalt (eine zoologisch inexistente Tarantel). Die fattura d’amore hingegen beruht auf der Macht des kleinen anderen – des Mitmenschen – als Agent, und zwar als eine erzwungene Liebesbindung. Als Agens »wirkt« bei der fattura zumeist eine Substanz des weiblichen Körpers (der begehrenden Frau), manchmal auch ein eigens hergestelltes Zaubermittel. Das Problem bei der Untersuchung jeglicher Vergiftung ist, dass man meist nur eine Wirkung, nicht aber deren Urheber kennt. (Dies gilt nicht bloß für Giftmord im Vergleich zu anderen Mordarten, sondern auch für harmlose Fälle von Unwohlsein. Man fragt sich: »Habe ich etwas 350
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Schlechtes – Ungutes – zu mir genommen? Was wird es wohl gewesen sein?«) Nach einem anfänglichen Verdacht beginnt die Suche nach dem Agens (Wirkstoff) und nach dem Agenten (Täter). Die Gewissheit muss also erst konstruiert werden. Zwei Begegnungen sind bei den beiden Magie-Modellen zentral: zum einen die mutmaßliche Begegnung mit dem kontaminierenden Agens und dem Agenten (Zaubergift-Gabe eines Menschen bzw. Tarantelbiss), zum anderen die Begegnung mit einer Heils-Institution (Magier, Tanzritual), die eine Befreiung von der Zauberwirkung erreichen kann, mit der im Nachhinein eine Erhellung der Ursache verknüpft ist.
Zwei Begegnungen Im Falle von fattura und Tarentismus stellen sich die beiden zentralen Begegnungen so dar:
Begegnung 1: Kontaminierungsideen
FATTURA: Begegnung mit einer Frau, die einen fesselt, be- und verzaubert. Man ist in den Fängen des (weiblichen) Anderen. Der Magier in Kalabrien diagnostiziert im Hinblick auf vier Frauen im Dorf: Vi hanno jettato u venenu intru u mangiare. Una polvere vi hanno jettato, tante cose. »Die haben Ihnen ein Gift ins Essen gestreut. Ein Pulver haben sie reingeworfen, viele Sachen.« TARENTATE: Begegnung mit einer Spinne, die einem einen giftigen Biss zugefügt hat.
Begegnung 2: Heilsideen, -techniken und -institutionen
Die Lösung der Fesseln bzw. der Verliebtheit geschieht durch im Volk verbreitete Gegenmittel und -maßnahmen oder durch Rezepte eines Wissenden. FATTURA: Begegnung mit einer Person (weiblich oder männlich), Magier(in). Rückgriff auf ein kollektives und traditionelles Wissen bzw. auf Befreiungstechniken. Der Magier in dem kalabrischen Dorf verkauft ein Mittel Per sventure e disgrazie, … per tutte le cose – »für Unheil und Unglücksfälle … für all sowas«. 351
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TARENTATE: Begegnung mit einem kollektiven Heilritual, einer Austreibung, bei der Musik, und zwar die Melodie der besonderen Tarantel, eine entscheidende Rolle spielt.
Moderne Traditionen? Statt diese primitiv wirkenden Zauber-Modelle zu belächeln oder zu verklären oder – wie es heute geschieht – das Ritual der tarantella zu einer spektakulären Musikfolklore zu verdünnen (allüberall gibt es im Salento nun tarantella- und pizzica-Festivals,26 wobei pizzica der Name des Tanzes im salentinischen Dialekt ist: Er bezieht sich auf »essere pizzicato« – von einem Insekt gebissen worden sein; dabei geht es auch um die antreibende Wirkung dieser Musikart), sollte man Äquivalente und Differenzen zwischen jenen Formen, ein Unbehagen bzw. Leiden zu bewältigen, und denen in der modernen Welt untersuchen. Zur modernen Welt gehören heute – mit gewissen Einschränkungen in den ländlichen Gebieten – auch der Salent und Kalabrien. Man muss dabei jedoch in Betracht ziehen, dass ähnlich wirkende Phänomene in ihrer Struktur nicht zusammenpassen. Nachdem in dem mittlerweile modernisierten Süditalien eines dieser beiden Magie-Modelle kulturell verschwunden ist und das andere viel von seiner kulturellen Prägungskraft verloren hat, stellt sich die Frage, welche Agenten und welche Agenzien (Wirkstoffe) die Menschen dort nunmehr für ihr besonderes Schicksal, ihr Triebschicksal, für das Leben und Sterben, für Verliebtheit, Verfolgung und Leiden verantwortlich machen. Und welche Arten kollektiver oder individualisierter Gewissheiten und Ungewissheiten sich dabei einstellen. Von da aus könnte man weiter überlegen, ob und inwiefern mit solch einem kulturell kodifizierten Wahn etwas verloren gegangen ist: ein – wie immer auch zu bewertendendes – stabilisierendes Moment.27 Der Ethnologe Thomas Hauschild, der in den achtziger Jahren bei einem sehr langen Feldforschungsaufenthalt in der Region Lukanien Erfahrungen mit der Präsentation von magischen Symptomen und von magischen Heilpraktiken gemacht hat, äußert dazu: Sie leben nicht mehr in der Welt von la miseria, aber immer noch geht hier schief, was schief gehen kann. Ist daran eine aus der Elendszeit ererbte Mentalität schuld? Warum leben die Heiligenkulte weiter in Süditalien, obwohl dort die medizinische Versorgung dichter und vielleicht manchmal auch besser ist als in Deutschland, und ob-
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wohl die Arbeitslosigkeit nicht viel niedriger ist als bei uns? [Sollte es vielleicht heißen: »nicht viel höher«?] Warum konnten die Kulte alle Modernisierungen überstehen und leben nun sogar in touristischen Zentren und Großstädten weiter, wenn auch in veränderter, mal üppigerer und mal bescheidenerer Form? Warum gibt es heute, allen Ankündigungen Ernesto de Martinos zum Hohn, lange nach dem Umschwung zum Wohlfahrtsstaat und zur Konsumgesellschaft in Italien, wohl um die hunderttausend bis hundertfünfzigtausend Magier, mehrheitlich im Norden? Viele dieser Magier und Magierinnen der Städte sind offiziell registriert und bei der Steuerbehörde angemeldet. Sie behaupten nicht, daß sie fliegen könnten, und die unappetitliche Sache mit den Totengeistern und dem Speichel haben sie etwas in den Hintergrund gedrängt, aber sie legen die Tarotkarten und sprechen von altägyptischen Geheimnissen, sie haben astrologische Wahrsagemaschinen gebaut aus Computern und ihren Kunden verkaufen sie exorzistische Sprays.28
Beim Rückblick auf de Martinos 40 Jahre zuvor gegebene Erklärung kommt Hauschild zu dem Schluss: »Die Modernisierung, von der de Martino sich das Ende der Magie versprach, hat anscheinend nur zur Modernisierung der Magie geführt.« Das Verschwinden der – im Vergleich zur fattura – räumlich und zeitlich umschriebeneren Wahnform des Tarentismus führte De Martino allerdings schon um 1960 nicht auf materiellen Wohlstand, sondern auf eine andere – hier bereits erwähnte – historische Veränderung im klassischen Tarantelgebiet Salent zurück: Er nennt sie die »Zerschlagung einer Symbolik, einer Symbolautonomie«, hier besonders durch die katholische Kirche.29 Der Entzug der zuvor kulturell gewährleisten Symbolisierungsmöglichkeiten führte zum Verschwinden des Platzes, der bislang dem Subjekt in der Krise eingeräumt, ja angeboten worden war. Man kann hier an zwei Bewegungen denken, die Freud in Bezug auf die Kultur hervorhebt: Einerseits führt eine zu starke Restriktion durch die Kultur zur Neurotisierung ihre Mitglieder, anderseits führt die Auflösung der Eingebundenheit der Einzelnen in einer Religionsgemeinschaft mit ihren Kulten und Ritualen zu individuellen Pathologien. Wie schon erwähnt, sank – De Martino zufolge – »unter dem zerrüttenden Druck der christlichen Symbolwelt […] der Tarentismus zur Krankheit, […] auf den Rang einer pathologischen Krise herab.«30 Die Arten von Krise, von individuellem Unbehagen, die in der fattura eine Erklärung oder im Tanz der Tarantel eine Lösung finden, entstanden aus Formen des Leidens des Einzelnen an einer rigiden Gesellschaftsstruktur, in der sich der Einzelne wiedererkannte; die Gesellschaft 353
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schaffte ihr eigenes Überdruckventil und Formen der Reintegration derjenigen, die an den kulturellen Übeln erkrankt waren. Bestimmte Formen der Symptomgestaltung, der Heilssuche und der Heilspraktiken haben sich also erstaunlicherweise trotz der Modernisierung der Gesellschaft erhalten. Aber handelt es sich wirklich um ein »Erhalten«? Sind die vielen »Modernen Magier« im postindustriellen Italien, von denen Hauschild spricht, – die übrigens an heute auch in den zentraleuropäischen Metropolen verbreitete Phänomene erinnern – wirklich die unmittelbaren Erben der bäuerlichen Magier der kalabrischen Dörfer von damals?31 Übrigens: Der von mir erwähnte neunzigjährige Magier, der in der Berggegend bei Cosenza (Sila Greca) Ende der siebziger Jahre praktizierte, hatte sein Handwerk in den zwanziger Jahren in New York erlernt, während seiner Emigration in die Vereinigten Staaten nach dem Ersten Weltkrieg. Bekanntlich haben die Migrationen in die modernen Metropolen auch dazu geführt, dass heute dort Gemeinschaften leben, die ihre Symptome nach der Art traditioneller Gesellschaften bilden.32 Und obwohl es in den modernen Metropolen auch neue Spielarten und Mischformen entsprechender Befreiungstechniken gibt, die in Angelegenheiten von »Argent – Amour – Chance – Désenvoûtement – Protection assurée contre les ennemis – Examens – Concours – etc.«33 zu helfen versprechen, soll es hier um einen anderen Gesichtspunkt gehen: Wie gehen Menschen mit ihren Krisen um? Und nun: Wie gehen in einer Gesellschaft, in der jegliche politische, religiöse usw. Gemeinschaft aufgelöst scheint, Menschen mit ihren Krisen um? Was ist heute an die Stelle der kulturell »alten« Symptome getreten? Im Salent ist heute zu hören, die Tarantelbesessenheit sei verschwunden, seitdem es dort Psychologen gibt; subjektives Unbehagen äußere sich jetzt eben in Form individueller Neurosen und Psychosen; oder auch, die alten Rituale seien durch moderne, aus den Massenmedien bekannte, satanistische Kulte ersetzt worden. Man kann sogar vermuten, dass die hohe Zahl von Drogensüchtigen im heutigen Süditalien – in Großstädten wie auf dem Land – eine Art Äquivalent darstellt: der Schuss als Biss.
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Gift ist zu viel Wiewohl es in beiden Fällen um Gift geht, kann man vermuten, dass die fattura eher im Bereich des Ideal-Ichs liegt, also des Spiegelbildes bzw. des mütterlichen Begehrens, während der Tarantelbiss eher im Bereich des Ichideals, des Gewissens (rimorso – Gewissensbiss) liegt; hier kommt zur Giftwirkung der aggressive Akt des Gebissenwerdens hinzu, während bei der fattura etwas weniger gewaltsam auf das Opfer eingewirkt wird. Bei der fattura ist es ein Mitmensch, bei dem Tarantelbiss ist es eine höhere Instanz. Bei beiden sind die manifesten Symptome Schmerzen, Niedergeschlagenheit, Reglosigkeit, Ermattung usw. Bei beiden ist diese Symptombildung schon eine Deutung – im Rückgriff auf kulturelle Erklärungsmuster. Der nächste Schritt ist das Aufsuchen der »passenden« Therapie: mago oder Hausmittel gegen fattura bzw. Ingangsetzen des Tanzrituals zuhause oder an einem Wallfahrtsort: Galatina. Wenn wir von Gift bzw. Giftwirkungen sprechen, beziehen wir uns immer schon auf ein Begehren, auch wenn wir allein biochemische Zusammenhänge meinen. Es ist der Liebeszauber, der oftmals tödlich wirkende Liebestrank, der mit venesnom, venenum, veleno, venin als Bezeichnung für ein Toxikum gemeint ist. Ähnliches gilt für das »Pharmakon«: Es ist Toxikum, Heilmittel und Liebeszauber zugleich. Den anderen Euphemismus für todbringende Substanzen findet man im Wort »Gift« des germanischen Sprachbereiches. Heute ist fast ausschließlich nur je eine der beiden Bedeutungen erhalten: Gift im Englischen meint Gabe/Geschenk, Gift im Deutschen bedeutet heute (außer in Mitgift) Toxikum. Im Holländischen weist nach Marcel Mauss das Neutrum des gleichen Wortes auf das Toxikum, das Femininum hingegen auf das Geschenk.34 Dosis: Das »Zuviel« bleibt immer mit dem unbewussten Begehren verknüpft, d.h. mit dem Begehren des Begehrens des Anderen. Hieran schließen sich die Fragen an nach Verführung, Überwältigung, Überflutung, Überreizung, Missbrauch und Missbrauchsphantasien, etc. Bei Giften geht es immer um ein unsichtbares Gegenüber. Das Opfer wird dazu verführt, die Gabe zu nehmen, den Trank zu trinken, das Objekt anzunehmen. Freud geht davon aus,
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daß die Gier des Kindes nach seiner ersten Nahrung überhaupt unstillbar ist, daß es den Verlust der Mutterbrust niemals verschmerzt. […] Mit der Entziehung der Brust hängt wahrscheinlich auch die Angst vor Vergiftung zusammen. Gift ist die Nahrung, die einen krank macht. Vielleicht führt das Kind auch seine frühen Erkrankungen auf diese Versagung zurück.35
Andererseits: Ob die mütterliche Gabe dem Kind gut tut, hängt von der Dosis ab, denn eine Überdosis verwandelt das mütterliche Getränk (boisson) gleichsam in einen Gifttrunk (poison). Freud stellt die Vergiftungsidee auch als ein weit verbreitetes Phantasma der Liebe dar: Ich meine, wir können […] nicht umhin, die Neurosen als Folgen von Störungen in einem Sexualstoffwechsel anzusehen, sei es, daß von diesen Sexualtoxinen mehr produziert werden, als die Person bewältigen kann, sei es, daß innere und selbst psychische Verhältnisse die richtige Verwendung dieser Stoffe beeinträchtigen. Die Volksseele hat von jeher solchen Annahmen für die Natur des sexuellen Verlangens gehuldigt, sie nennt die Liebe einen »Rausch« und läßt die Verliebtheit durch Liebestränke entstehen, wobei sie das wirkende Agens gewissermaßen nach außen verlegt.36
Es geht auch um das Problem der konkreten Verknüpftheit des Psychischen und des Physischen. Und dabei stellt sich übrigens die Frage: Wie lässt sich die moderne Suche nach einem physikalischen Substrat und die Tendenz, Psychisches über das Einnehmen von Medikamenten (Psychopharmaka usw.) zu regeln oder rein biogenetisch erklären und beeinflussen zu wollen, von einer Wahnvorstellung abgrenzen? Sind diese sicher nicht unnützen Forschungen und Erfindungen vielleicht ebenfalls Versuche, das eigene Begehren zu leugnen und an seiner Stelle einen äußeren – d.h. der Psyche äußeren, d.h. eventuell durchaus im eigenen Körper anzusiedelnden – Agenten einzusetzen? Im Falle der Droge erscheint das Gift, das Rauschgift, als das absolute Objekt. Wenn Gift das »Zuviel« ist, die Overdose, Überdosis, dann kann man nicht von Gift als einer Substanz, einem Mittel reden. Ein Gift-Sinn müsste dann ein Sinn des/fürs Zuviel sein, der des Zuviel bedarf und gleichzeitig vor ihm warnt. Aber zuviel wovon? »Gift« bringt unsere Vorstellung von »Wirkung« – die uns in der Sphäre der Massenmedien so geläufig wie problematisch ist – ein weiteres Mal in die Krise. Die Vorstellung des Umsorgtseins weicht der Überzeugung, dass es einem übel besorgt wird. So berechtigt die Besorgtheit von Fall zu Fall sein mag, rührt ihr gegenwärtiges Ausmaß auch daher, dass mit dem
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Schwinden verbindlicher Formen des sozialen Austauschs aktuelle »Giftmeldungen« alte Wunsch- und Versagungsmotive besonders leicht ködern können. Auf ihnen basieren die Schreckensvorstellungen der Brunnenvergiftung, biochemischer Waffen und der Virenangriffe auf Körper wie auf Informationsnetze.
Phantasmen Mythen und Rituale gibt es auch in modernen Gesellschaften. Natürlich befassen sie sich hier ebenfalls mit Fragen der Gefährdung und der Rettung, des Unheils und des Heils. Gegenüber den ländlichen Gesellschaften des Mittelmeers (zumindest bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts) sind diese Mythen und Riten zerstückelt, erscheinen in vielfältigen Kombinationen, verändern von Saison zu Saison ihr Gewand – und sie treten vielfach als individuelle Mythen und als individuelle Rituale auf. Zu den letzteren gehören die privaten Zwangshandlungen der Neurotiker;37 die individuellen Mythen kann man auch als individuelle Phantasmen bezeichnen. Ein Phantasma ist Resultat eines ursprünglichen unbewussten Wunsches. Als solches bildet es wiederum eine Matrix der aktuellen bewussten und unbewussten Wünsche. Phantasmen entsprechen dem, was Freud den »Kern unseres Wesens« genannt hat. Sie wirken auf Erinnerungen und Wahrnehmungen und sind der Ursprung der Träume und Fehlleistungen. Sie liegen allen denkbaren Entscheidungen zugrunde. Zu ihren Inhalten gehört beispielsweise die Rolle, die man im Leben eines Anderen auszufüllen hat. Abgesehen von den Tagträumen sind sie im Subjekt nicht beliebig lenkbar und die »unbewußten Phantasmen sind überhaupt nicht als solche zugänglich. Der Zugang zu ihnen setzt die Aufhebung der Verdrängung voraus, also die analytische Arbeit und die Deutung. Es sind feste unbewußte Strukturen, die nichts mit dem Phantasieren im allgemeinen Sinne, d.h. Sich etwas Einbilden, zu tun haben«.38 Phantasmen entstehen im Subjekt selbst. Viele sind in kultureller Form schon seit längerem da und haben eine bestimmte Gemeinschaft geprägt, ja halten sie zusammen, oder sie sind neu entstanden bzw. importiert und haben sich in das bestehende Phantasiegefüge eingepasst oder etwas davon ersetzt oder beseitigt. Massenmedien und Aktualitätskulte greifen bei ihrem Spiel mit Idealvorstellungen und mit Angstsignalen auf bestimmte kollektive Phantas357
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men zurück. Sie melden etwas von einer aktuellen Bedrohung, aber auch von einer aktuellen Chance, einem Auftauchen von Glücksmöglichkeiten. Virtuelles kristallisiert sich zu Wirklichkeiten (virtuell/aktuell). Die modernen, historischen, ›heißen‹ Gesellschaften sind unablässige Aktualitätsgeneratoren und – Konsumenten (stete Veränderung der politischen Machtfelder, beschleunigte Verkehrsverhältnisse in den Metropolen, das Steigen und Fallen der Börsenkurse; über Massenmedien wird man mindestens im ›Stundentakt‹ auf dem Laufenden gehalten, Sondermeldungen durchbrechen diesen Rhythmus noch; Moden legen fest, wer ›auf der Höhe der Zeit‹, wer in ist und wer out, usw.). Man kann deshalb sagen, dass die Subjekte der Spätgesellschaften in gewissem Sinne einer permanenten Initiationsprozedur durch Aktualitäten unterliegen.
Teil II Deutschland Ende der 1970er Jahre: Das Umweltgift und die »Droge im Wohnzimmer« Machen wir einen Sprung: Ende der siebziger Jahre kehrte ich aus Süditalien nach Deutschland zurück und traf auf etwas namens »Alternativkultur«, das sich dort innerhalb weniger Jahre herausgebildet hatte. Im Allgemeinen erlebt jemand, der sich ein paar Jahre im Ausland aufgehalten hat, bei der Rückkehr eine Verfremdung des eigenen Blicks auf die Heimat. Allzu Bekanntes erscheint plötzlich auffällig; er kann diesen Moment nutzen, um Fragen an die eigene Kultur zu stellen bzw. um etwas an ihr herauszufinden. Das Besondere war nun, dass sich in der Zwischenzeit in Deutschland etwas verändert hatte und dass mir gerade dieses Neue aufgrund der Thematik meiner süditalienischen Studien bekannt vorkam. Es galt nun diese Phänomene zu untersuchen. Dabei wurde mir schnell klar, dass die »neuen« Phänomene nicht einfach als moderne Verlängerungen der »alten« Phänomene verstanden werden können, dass sie nicht einfach ein historisches ›Vorher‹/›Nachher‹ in einem einheitlichen Zivilisationsprozess bilden. Besonders in zwei Feldern – dem der Ernährung und dem der Kommunikation – konzentrierte sich die allgemeine Aufmerksamkeit auf Wirkungsfragen: eine Allgegenwart des Redens über Wirkstoffe (Öko358
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Bewegung), und ein gesteigertes Interesse für Fragen der Medienwirkung. Wichtige Dimensionen sind dabei Vertrauen und Misstrauen, Versicherungsinstanzen und Garanten, Macht und Ohnmacht. In dieser Konstellation interessierte mich, ob und wie diese unterschiedlichen Kontaminationsideen und die unterschiedlichen Heilshoffnungen und -praktiken zusammenhängen, die um das Thema »Giftwirkung« sich ansiedelten: Einerseits Liebeszauber (fattura) und Schädigung durch Tarantelbiss, andererseits Ideen der Umweltvergiftung und der Medienwirkung. Mein Ansinnen nach der Rückkehr aus Italien war also nicht, in Deutschland eine Entsprechung zur fattura und zum Tarentismus zu finden – etwa in bestimmten Formen des Aberglaubens oder okkulter Praktiken. Auch in den Metropolen erwartet man Erlösung durch allwissende und allmächtige Heiler; eine Position, die einige erfolgreich einnehmen: Neben dem Feld von bisweilen perversen Therapiepraktiken wirkt eine unüberschaubare Zahl von Magiern, Hand- und Kartenlesern, Wunderheilern und Horoskopstellern, deren Sprüche das Tun und Lassen ihrer Kunden unterfüttern und denen Dankbarkeit dafür zuteil wird, dass sie – in einer hoch industrialisierten und informatisierten Gesellschaft – ihre »übersinnlichen Kräfte« als Garanten anstehender Entscheidungen einsetzen. Walter Benjamin erwähnte schon in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts unter dem Gesichtspunkt einer Erfahrungsverarmung: Eine ganz neue Armseligkeit ist mit dieser ungeheuren Entfaltung der Technik über die Menschen gekommen. Und von dieser Armseligkeit ist der beklemmende Ideenreichtum, der mit der Wiederbelebung von Astrologie und Yogaweisheit, Christian Science und Chiromantie, Vegetarianismus und Gnosis, Scholastik und Spiritismus unter – oder vielmehr über – die Leute kam, die Kehrseite. Denn nicht echte Wiederbelebung findet hier statt, sondern eine Galvanisierung.39
Wiewohl sich die westdeutsche Gesellschaft nicht innerhalb der drei Jahre meiner Abwesenheit geändert hatte, konnte man nach diesem Zeitraum, also etwa 1980, einige Haltungsänderungen spüren. Sie betrafen die zwei prinzipiellen Zwecke der Kultur: nämlich den »Schutz des Menschen gegen die Natur« und die »Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander«40. Besonders auffällig an dieser Alternativkultur war das Interesse für alles, was mit Natur und Natürlichkeit konnotiert werden konnte: Naturprodukte, Naturkost, Naturreinheit, Reinheit der Natur, Naturheilmethoden, »natürliches Verhalten« etc. 359
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Mehr und mehr wurde das Schädliche der Zivilisation hervorgehoben, besonders der westlichen bzw. abendländischen Zivilisation, etwa in Gestalt der Umweltverschmutzung oder des Raubbaus an der Natur. Es verbreitete sich die Überzeugung, die Menschheit – besonders in den industrialisierten Ländern – habe sich gegen die Natur versündigt und bestimmte Naturkatastrophen seien eben die Rache der Malträtierten. Mit den kollektiven und subjektiven Krisen bezüglich der Ernährung und der Kommunikation bot sich mir einfach etwas an, das bestimmten süditalienischen Praktiken ähnelte, aber selbstverständlich nicht dasselbe war. Es ging hier um Heils- und Unheilserwartungen, die weniger an Personen gebunden sind – nicht an eine verliebte Frau, nicht an einen Magier, nicht an eine bestimmte Spinne und nicht an den Tanz zu einer ganz individuellen Musik. In dem, was ich Ende der siebziger Jahre in Deutschland als etwas Neuem antraf, dominierte der mächtige, große Andere als Unpersönlicher: Wissenschaft, Technik, Technologie, Medienkonzerne, Diskursadministratoren, etc. Und alles vermittelt und gesteuert über die Massenmedien als besonderen Relaisstationen der Ordnung des Diskurses. (Italien war damals, Ende der siebziger Jahre, noch nicht das europäische Modell einer Telekratie; bis etwa 1980 hatte das Staatsfernsehen RAI eine Monopolstellung inne.) Kurz gesagt entwickelt sich Folgendes: GEFÄHRDUNG: Als »ungute« Nahrung gilt nicht mehr einfach bloß die verdorbene (verfaulte usw.), sondern die durch Umweltgifte verseuchte. Die Bereiche des Unreinen und der Verderbnis erweiterten sich. Das Wissen darüber kommt aus der Wissenschaft und ist durch die Massenmedien vermittelt. Um mehr darüber zu wissen und um über die neuesten Gefährdungen unterrichtet zu sein, muss man noch mehr die massenmedialen Meldungen verfolgen. Diese Meldungen erzeugen Angst und Angstlust. Die Massenmedien werden als Bedrohung empfunden, sowohl ihre Inhalte und ihre Sprache als auch die suchtförmigen Rituale des Medienkonsums. HEILSUCHE: Man sucht nach »reiner Nahrung« im neu entdeckten »Althergebrachten« und im »Exotischen«, etwa in der »MittelmeerDiät«. Das Fehlen gesellschaftlicher Bindungen und geselliger Rituale – die auch mit der Differenz rein/unrein, zugehörig/fremd zu tun haben – führt zur Verbreitung von Vernetzungstechniken (Zusammensein beim Betrachten derselben Fernsehsendungen; in den neunziger Jahren treten 360
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interaktive Formen hinzu; vernetzt sein durch Internet, Chat Rooms, etc.). Wie im Falle der fattura und des Tarentismus kann man nun versuchen, auch bei den modernen Phänomenen jeweils zwei Begegnungsmomente zu unterscheiden. Ich tue das im Folgenden nur stichwortartig:
Gefahr und Rettung durch Nahrung Umweltvergiftung
Schon um 1980 wurde »Gift« als das Band dargestellt, das in unserer Zivilisation heute ganz selbstverständlich fast alle Vorstellungen von Essen und Trinken durchzieht: Umwelt-Gift, so liest man, »ätzt und verursacht Reizhusten, Brechreiz und Kopfschmerzen«, ist »gesundheitsgefährlich«, »kann Herzfunktionen beeinträchtigen«, »Gehirnschäden verursachen«, »hat betäubende Wirkung«, »verändert die Erbmasse, wirkt krebserregend«.41 »Mit jeder Mahlzeit vergiftet sich der Bundesbürger ein kleines bißchen mehr. Gänzlich einwandfreie Lebensmittel ohne Rückstände gibt es längst nicht mehr.«42 Sogar in der Muttermilch wurden nun Umwelt-Schadstoffe nachgewiesen. Der Giftverdacht weitet sich auf alles aus. Die Welt scheint immer weniger verfügbar, und immer größer wird der Katalog der Dinge, die man meiden muss. Forschung und Publizistik entdecken immer neue und immer weiterreichende Giftgefahren in unserer unmittelbaren Umgebung.43 Haushalt und Körper wurden nun für mehr und mehr Menschen zur Durchgangsstation eines Öko-Recycling, bei dem immer »etwas« haften bleiben kann. Der Esser muss sich nun gegen das Essen verteidigen; er fürchtet von ihm zersetzt und zerfressen zu werden. Der Blick des »bewussten« Zeitgenossen kehrt sich nach innen, um den Zustand der Synapsen, der Blutbahnen, der Organe, des inneren Systems zu diagnostizieren. Er wacht darüber, dass in seinem Körperbetrieb nichts sich unerlaubt ablagere, binde, nichts das Strömen innerer Vorgänge zum Stocken bringe.
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Moderne Vergiftungsvorstellungen
Die relative Freiheit, die die Informalisierung der kulturellen und gesellschaftlichen Ordnungen bedeutet, hat für die Einzelnen ein neues Unbehagen mit sich gebracht: Einerseits plagen sie übergroße Forderungen der Triebkontrolle (auf die sich Freud Anfang des Jahrhunderts im Hinblick auf die kulturelle Sexualmoral bezieht), andererseits macht ihnen eine größere Ungebundenheit derjenigen Triebstrebungen, deren Bindung nicht gelungen ist, zu schaffen. Je verschwommener die symbolischen Grenzen von »rein« und »unrein«, von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit sind, desto diffuser die Angst um die eigene Unbeschadetheit. Die vermehrte Produktion individueller Neurosen infolge des Wegfalls manch sozialer Bindungsform zeigt sich auch in Bezug auf die Nahrung als Ängste, Phobien und Zwangshandlungen. Massenhaft werden moderne Westeuropäer just in dem Moment zu Allergikern, in dem sie sich größter Offenheit gegen Unbekanntes befleißigen und jegliche Form der Fremdenfeindlichkeit von sich weisen. Unbekümmert verzehren sie exotische Nahrungsmittel und Gerichte, sofern Staat und Technologie dafür sorgen, dass ihnen nichts passieren kann. Zugleich aber scheint ihnen zu oft etwas Ungutes durch das Sicherheitsnetz zu schlüpfen; ständig neue, schlimmere Gefahrenherde entdecken sie in ihrer unmittelbaren Umgebung. Ihr Empfindlichkeitskult, die Abneigung gegen Fremdstoffe und die Emphase des Naturreinen, Selbstgemachten und Heimatlichen, sind Mikro-Varianten des Sicherheitsdenkens im Zeitalter der behaupteten Offenheit. Nun werden weitergehende Garantien dafür gefordert, dass keine »fremde« Hand im Spiel ist, und per Test lässt man sich bescheinigen, welche Fremdstoffe es sich fortan vom Leib zu halten gilt. Arsenale von Sicherungstechniken gegen vergiftetes Essen und Trinken haben sich in der Menschheitsgeschichte entwickelt. Was ist das Neue? Wie unterscheidet sich der Umgang mit dem »Umweltgift« von dem bei Hofe üblichen Umgang mit Giftgefahren, die in Folgendem bestanden: • Verschließen, Bedecken der Behälter. Absichern. Vorsicht bei der Auswahl des Personals. Trinkbecher mit Deckel. • Die »Giftprobe«: Ein Objekt zeigt – etwa durch seine Verfärbung – Gift an. Es ist zumeist ein organisches Objekt, z.B. ein Magenstein.44
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• Anwendung von Gegengift (Antidot). Ein bestimmtes Objekt entgiftet die Speise/das Getränk, wenn es in diese eingetaucht wird. • Objekt schützt eine Person vor Gift, wenn sie es vor dem Konsum berührt. Teilweise handelt es sich dabei um phallusartig aussehende Geräte.45 • Hinzu kommt eine Person als Schutz: Mundschenk und Vorschneider als Vorkoster. Sie müssen etwas davon essen bzw. trinken oder mit einem Stück Brot alle Speisen berühren und es dann essen. Gift ist eine Metapher für das Begehren – oder die Begierden – des Anderen. Tritt bei der Idee eines Giftanschlags oder beim Liebeszauber (Liebestrank, fattura d’amore) die Vergiftungsangst klar zutage, so nimmt sie im Zeitalter allgemeiner Vorbeugung die Form einer diffusen Allgegenwart an: Das Gift geht um; es gibt kein bedrohliches oder verführerisches Subjekt mehr »dahinter«, es wird kein fordernder oder begehrender benennbarer Täter mehr vorausgesetzt. Im Gegensatz zum fattura-Modell, das eine Intention ansetzt und das der Wirkung einen Urheber zuordnet, kennt die Umweltvergiftung keinen Sinn. Die Umweltgiftfigur arbeitet ohne Namen und ohne Täter. Während im System der fattura jeglichem Zauber prinzipiell durch einen Gegenzauber die Kraft genommen werden kann, ist man dem Umweltgift völlig ausgeliefert. Längst ist der Glaube an ein allseitiges Antidot verblasst. Gemeinsam ist beiden jedoch ein System von Vorsichtsmaßnahmen und von »Ergänzungsmitteln«, die eine vermutete oder befürchtete Schädigung ausbügeln sollen. Harmloses Beispiel ist ein Joghurt, das »abwehraktiv« sein soll (»L. Casei defensis« steht lateinisch auf Danones Actimel-Packungen). Mit der Angst vor dem »Gift« als allgegenwärtiger Gefahr in unserer Umwelt verbindet sich die Unzufriedenheit der kränkelnden Subjekte gegenüber Autoritäten, die doch eigentlich Garanten sein müssten. Man kann sich dem Gift nur prophylaktisch entziehen. Manche versuchen, sich durch die Fiktion eines autonomen, möglichst substanzlosen Lebens unter gewächshausartigen Bedingungen zu schützen – sich abzuschotten –, oder sie weigern sich, überhaupt noch etwas aufzunehmen. Mit dem Zerfall der sozialen Grammatiken des Nahrungskonsums konzentrieren sich Heilsideen und Unheilserwartungen auf die Inhaltsstoffe der Nahrung. Mit teils beträchtlichem Geld- und Zeitaufwand beschaffen sich die Esser von heute Speisen, die sie nicht krank zu machen versprechen. Vielen erscheint das Essen nun, da es eine völlig zwanglose 363
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und beliebige Angelegenheit geworden zu sein scheint, als eine Ansammlung von Fremdstoffen, gegen die sie Überempfindlichkeiten (Allergien) ausbilden.46 Dabei hat die Wissenschaft eine doppelte Funktion: zum einen hat sie im Kampf gegen die Unbilden der Natur und im Interesse der Produktionssteigerung durch die Entwicklung neuer Pestizide, Düngemittel und Wachstumshormone gefährliche Stoffe in die Nahrungskette eingebracht. Zum anderen bemächtigt sich der wissenschaftliche Diskurs – als ein Sicherheitsgarant – des Lebens der Subjekte: Sie unterwerfen sich den Imperativen der wissenschaftlichen Forschung und Publizistik, die in bislang nicht erhellten Bereichen neue Gefahrenquellen entdeckt, verschiedene Formen von »Ernährungsfehlverhalten« diagnostiziert (Magerkeit und Übergewicht gelten nun als pathologische Abweichungen von wissenschaftlich berechneten Normen) und aufgrund »objektiver Bedarfsermittlungen« Standards setzt. Der damit verbundene Glauben an eine vollständige Kontrollierbarkeit und Korrigierbarkeit des Körpers – genauer: der Triebe und des Verdrängten – (für den auch der Versuch steht, unmäßige Ansprüche mithilfe von »Appetitzüglern« zu bändigen) verbaut den Subjekten den Zugang zur Frage, welchen Anteil alte Wunsch- und Versagungsmotive an ihren Reaktionen auf aktuelle »Giftmeldungen« haben. Die Entdeckung der Unheimlichkeit des Vertrauten lässt sie in Bilderwelten und religiösen Systemen Zuflucht suchen, die ihnen Trost, Sinn und Illusionen liefern. Dazu gehören Mythen der Natürlichkeit, sektiererische »Nahrungsreligionen«, ein Subjektivismus des Sich-wohl-Fühlens,47 die Orientierung an Markennamen (auch im gesamten FoodSektor), die ein Höchstmaß an Kontrolle versprechen, und der Rekurs auf vermeintlich uralte Sitten und Bräuche des eigenen oder eines fremden Kulturkreises. Solcher Folklorismus und Exotismus bedeutet gerade das Umgehen einer Auseinandersetzung mit den Traditionen, auf denen – positiv oder als Vermeidungsversuch – die aktuelle Kultur beruht. Diese Phänomene sind allesamt Ausdruck einer neuen Suche nach Strenge: »Sage mir, was ich tun soll. Wie sollen wir uns ernähren? Was ist verboten, was ist erlaubt?« So ist nun die Welt zur fremden und bedrohlichen geworden. In der Gestalt der Umwelt-Vergiftung wird das gesamte Universum zugleich zum Zuhause als auch zum Ort des Unheimlichen. Alles ist herangeholt und fremd zugleich. Die zerstreute Präsenz des Giftes ist ein permanen364
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ter Schock, der Aufmerksamkeit schafft. Die ständige Herausforderung um ein Geheimnis – man weiß, es ist da, man weiß, es ist überall. So rational begründet die Besorgtheit im Einzelnen sein mag, rührt ihr gegenwärtiges Ausmaß auch daher, dass mit dem Schwinden verbindlicher Formen des sozialen Austauschs aktuelle »Giftmeldungen« alte Wunsch- und Versagungsmotive besonders leicht ködern können.
Gefahr und Rettung durch Massenkommunikationsmedien Es befremdet zunächst, bei der Medienkommunikation von Vergiftungserscheinungen zu sprechen, doch ist der Wirkungsforschung diese Metaphorik vertraut: Sie untersucht, wie das Publikum »beeinflusst« wird, was sich auf den Rezipienten »überträgt«, was beim anderen »überkommt« und »hängen bleibt«, wie welche Populationen sich »anstecken« lassen etc.48 Die Rede davon und die Kritik der medialen Macht- und Verwertungsmechanismen war schon längst formuliert worden, etwa von Vertretern der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule. Doch begegnet man seit Mitte der siebziger Jahre massenhaft medienkritischen Buch-, Zeitschriften- und Zeitungstiteln wie »Die Droge im Wohnzimmer«,49 die eine Verseuchung des Denkens und des Diskurses, ja des gesamten Lebens durch das Fernsehen anprangern. Das Fernsehen verdränge – stärker noch als das Kino und das Radio – die Ideale der Kultur zugunsten einer Massen- und Kommerzkultur. (Anfang der achtziger Jahre war die Zeit des aufkommenden Privatfernsehens in der BRD.) Das niedrige Kulturniveau und die Affekt-Dramaturgie der Sendungen (Aktualitätsdruck, Sensationen) befriedigen die Subjekte so sehr, dass sie an das Gerät gefesselt werden und ihre Bindungen an die Mitmenschen und an die Ideale aufgeben. Die Fernsehware sei ein Gift, verätze die kulturelle Identität der Subjekte und fülle die so entstehenden Strukturschäden mit minderwertigen und fremden Inhalten. Die Folgen: Manipulation. Verblödung. Ersatzrealität. Suchtobjekt. Gewöhnung an Gewalttätigkeit. Vorzeitige Begegnung der Jugendlichen mit bestimmten Formen des Sexuallebens. Und diese Einschätzung verbreitet sich massenhaft – auch bei der zunehmenden Zahl von Menschen, die ihr Leben nach den Botschaften und nach den Ritualen der Medienkommunikation ausrichten.50
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Bild der Ganzheit und Zerfall
Im Moment des Zerfalls der symbolischen Ordnung tritt an die Stelle einer Auseinandersetzung mit Norm und Gesetz die immer stärkere Forderung, sich mit einem Körper, Sozialkörper als Ungeschnittenem, Unteilbarem zu identifizieren und átomos, Individuum, zu werden. Dies bedeutet eine Vorherrschaft des Bildes, des Bildes eines geschlossenen Körpers, sowie des Codes und des Logo, der Marke und des Symbolismus gegenüber dem Symbolischen und der Arbeit mit und an der Sprache. Lacan sprach vom corporéfier;51 Ganzheitlichkeit. Der Imperativ der Identität gilt sowohl für das Starke Ich der Ego psychology als auch für die Corporate identity verschiedener Arten von Gesellschaften (ein Problem der industriellen und Marketing-Sozialpsychologie). Die images der visuellen Medien (Medienbilder) stellen eine Ordnung des Zerstückelten her, mithilfe narrativer Stereotype, mit der Garantie des Sendernamens, ihrer Richterfunktion (vierte Gewalt; Skandalaufdeckung) und der Experten (auch Psychoanalytiker können im Fernsehen den Meister spielen) – generell aufgrund der Illusion, ein Allwissen und einen Überblick zu repräsentieren: eine Weltausstellung, Ausstellung von Welt im privaten Heim. Das Fernsehen ist eine Form des allwissenden Meisters, der einem ein Genießen nahe legt, neue Phantasmen liefert, alle Arten von Familienromanen usw. Diese Medien sind Saugapparate, die das Begehren und die Angst absorbieren. Ihre Bilder haben etwas von der Droge, etwas, das die Kastration vergessen lässt. Sie nehmen einem die Arbeit der Einschreibung und die des Entzifferns des Begehrens ab, es genügt die Einschaltung in die Programme und damit in eine elektronische Gemeinschaft, die Sinn produziert: »Ich werde auch gesehen haben, was die anderen gesehen haben«.
Befreiung Die Auseinandersetzung um die neuen Medien bleibt meist bei der falschen Frage stehen, ob und wie sich das Subjekt jeglichem assujettissement, jeglicher Ordnung entziehen kann. Es gilt, sich mit den spezifischen (historischen und aktuellen) Formen der Subjektivierung und der Individualität zu befassen.52 Die Frage lautet: Inwiefern erlauben oder untersagen es einzelne Medien und Medienpraktiken dem Subjekt, durch die Einschreibung in eine Ordnung sein Begehren zu entwickeln, also 366
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Subjekt zu werden, ohne jemandes Subjekt zu sein, und sich mit den Ansprüchen derer auseinanderzusetzen, die ihm einen bestimmten Platz zuweisen? Bei solchen Untersuchungen wird von der Psychoanalyse her immer wieder die Verantwortlichkeit des Subjekts zu thematisieren sein: Verantwortung übernehmen und zugleich wissen, dass man nicht voll verantwortlich ist, dass aber dieses »Nicht-verantwortlich« nicht einem leibhaftigen Anderen, etwa dem Fremden und/oder dem Führer, geschuldet ist, dem es Opfer zu bringen gilt, sondern dem, was einem an sich selbst nicht völlig zugänglich bleibt: dem Unbewussten, dem Begehren. Es geht um unterschiedliche Versuche der Grenzbestimmung bzw. der Grenzziehung. Eigenes und Fremdes. Es geht damit in dieser Skizze nicht um die Suche nach Überresten archaischer Kulturpraktiken in der modernen Welt, auch nicht um einen Vergleich verschiedener Formen magischen Denkens. Untersuchungsperspektive ist vielmehr die Frage danach, was heutige Menschen – in leicht verschiedenen Kulturen – tun, wenn sie in eine Krise geraten. Diese Krise können körperliches Leid, psychisches Leiden, aber auch außergewöhnliche Härten der Not des Lebens sein.53 Ich gehe davon aus, dass Symptome der Einzelnen auch kulturell geprägt sind, und dass das, was wir als psychische oder körperliche Krankheit bezeichnen, immer schon der – oft misslingende – Versuch einer Selbstheilung ist, die aber einen Bezug zu gesellschaftlich virulenten, »anerkannten« Modellen des In-Beziehung-Setzens hat … Es geht um die Kombination der von den Menschen in Anspruch genommenen (vorgefundenen oder erfundenen) Techniken des Schutzes, der Vorbeugung, der Heilung oder Austreibung eines Übels. Aber auch um Erklärungsmuster, also um Formen, ein – zunächst unerklärliches – Übel durch seine Theoretisierung oder gar durch Sinngebung zu fassen und zu binden. Der seit den siebziger Jahren anwachsende Therapiemarkt (Körpertherapien wie Psychotherapien aller Art) und dessen zunehmende Präsenz in den Massenmedien wirft die Frage auf, ob die Publikationsflut in Sachen Diät und Lebensführung nicht auch eine den beiden mediterranen Modellen vergleichbare Heilssuche zum Ausdruck bringt. Wie steht es um äquivalente Bindungen in unseren heutigen »modernen« Gesellschaften? Es geht um immer anders auftretende Bindungsvorgänge: um bestimmte Arten der Fesselung und der Entfesselung. In gewisser Hinsicht kann man fragen: Wer ist heute wessen Opfer? 367
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Insgesamt geht es in der Betrachtung dieser physischen und psychischen Phänomene darum, ob und wie in den kollektiven Vorstellungen das Begehren des Subjekts mit dem Begehren des Mitmenschen und mit dem Begehren einer mächtigen begehrenden Instanz verknüpft wird, die Jacques Lacan »den großen Anderen« nennt. Zunächst scheint ein eigenes Begehren in den Vergiftungsvorstellungen überhaupt nicht zu existieren; es ist so, als manifestierte es sich nur auf dem Umweg über den Willen des Anderen. »Das Begehren ist das Begehren des Anderen« wird von Lacan nicht in einzelnen Gliedern definiert. Es muss ineinander verschachtelt oder verknotet bleiben. (Man kann ihm das nicht vorwerfen, es sei denn es gelänge einem, diese Relationen einfacher und eleganter darzustellen. Der viel beschworene Begriff »Beziehung« ist wesentlich unklarer.) Bei Lacan kommt noch eine weitere Klärung hinzu, wenn er unterschiedliche Arten der Bindung, des sozialen Bandes psychoanalytisch unterscheidet: Es sind die vier bzw. fünf Diskurse. Etwas an ihnen erinnert entfernt an Karl Abrahams Aufstellungen zum »Charakter« als der »Gesamtheit der triebhaften Reaktionen des einzelnen auf das Gemeinschaftsleben«.54 Besondere Aufmerksamkeit verdienen zwei Phänomene, die die zunehmende Auflösung verbindlicher, symbolischer Strukturen mit sich bringt: • Neue Heilsversprechungen (und deren Inszenierung einer Ganzheit), als auch Heilserwartungen und Formen der Unterwerfung unter ein Heilsbringern unterstelltes Begehren; der Wunsch nach einer Fülle der Staatsgewalt, nach Despotismus, nach Vernichtung des Subjekts, d.h. dessen, was das Subjekt auszeichnet: des Sprechens. • Die Ideologien einer gleichsam naturwüchsigen Gemeinschaft, die Herstellung von Konsens durch »herrschaftsfreies« Kommunizieren,55 sowie das Auftreten politischer Führer als »großer Kommunikatoren« und die Formen der »Telekratie«. Es wird hier notwendig sein, die Funktionen der Sprache und des Sprechens in der Massenbildung hervorzuheben und verschiedene Arten der »Kommunikation« zu unterscheiden; eine davon ist die des Codes einer Hassgemeinschaft. Übrigens war in das Untersuchungsinteresse des süditalienischen Religionsethnologen Ernesto De Martino (Neapel 1908 – Rom 1965), der sich mit fattura und Tarentismus beschäftigt hat, auch die Erfahrung der gleichsam »magischen« Massenwirkung Hitlers eingegangen.
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Wer also auf die Bilder der eigenen Vollkommenheit und der wohlgeordneten Ganzheitlichkeit zu verzichten vermag, könnte sich auf die Überraschungen einlassen, die das Subjektsein – die Begegnung mit dem eigenen unbewussten Begehren – mit sich bringt.
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Und es können auch zwei ähnliche Symptomäußerungen unterschiedlichen Symptomstrukturen angehören. Die fattura a morte hingegen, der Todeszauber, ist normalerweise nicht über eine orale Einverleibung vermittelt. Ebenso wenig – der Name sagt es schon – der böse Blick, malocchio. Vgl. Risso, Michele/Böker, Wolfgang: Verhexungswahn. Ein Beitrag zum Verständnis von Wahnerkrankungen süditalienischer Arbeiter in der Schweiz, Basel/New York 1964, S.13. Ebd., S.26. Vgl. die Schilderung aus dem Lukanien der dreißiger Jahre bei Levi, Carlo: Christus kam nur bis Eboli, Zürich 1973, S.17. Vgl. die Circe in der Odyssee. Vgl. Rath, Claus-Dieter: »Zur Problematik der Eß-Forschung am Beispiel eines Forschungsprojekts (Il ricercatore ricercato)«, in: Zeitschrift für Volkskunde, Heft II (1980), S.189-210. Der Psychoanalytiker und Psychiater hatte um 1960 mehrere Jahre in Bern gearbeitet und zusammen mit Wolfgang Böker von der Psychiatrischen Universitätsklinik (Burghölzli) dieses Buch veröffentlicht (Angabe siehe Fußnote 2). Paul Parin hatte mich seinerzeit auf diese Arbeit hingewiesen. Martino, Ernesto de: La terra del rimorso. Contributo a una storia religiosa del Sud, Milano 1976. Eine Zusammenfassung dieser Arbeit gab de Martino in dem Artikel »Land der Gewissenspein«, in: ANTAIOS, Jg. III (1962), S.105-124. [Ri]Morso wird dort mit »Pein« übersetzt und verliert dadurch seinen Bezug zum aggressiven Akt der Tarantel; man übersetzt rimorso treffender mit »Gewissensbiss«. Risso, Michele/Böker, Wolfgang: Verhexungswahn, a.a.O., S.11. Ebd., S.17. Ebd., S.2. Ebd., S.63. Ebd., S.74. Ebd., S.74. Zit. nach Martino, Ernesto de: La terra del rimorso, a.a.O., S.230. Martino, Ernesto de: »Land der Gewissenspein«, a.a.O., S.112f. Ebd., S.106. Ebd., S.114. Ebd., S.115f. Vgl. Martino, Ernesto de: La terra del rimorso, a.a.O., S.232. Vgl. Fantini, Bernardino: »La tarantola e il moto perpetuo: empirismo e teoria in Giorgio Baglivi«, in: Quarant’anni dopo De Martino. Il tarantismo. Atti del convegno Galatina 24-25 ottobre 1998, Bd. I, Besa o.J., S.63-67. Martino, Ernesto de: »Land der Gewissenspein«, a.a.O., S.122. Ebd.
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Z.B. Jervis, Giovanni: »Considerazioni neuropsichiatriche sul tarantismo«, in: Martino, Ernesto de, La terra del rimorso, a.a.O., S.287-306. Freud, Sigmund: »Massenpsychologie und Ich-Analyse« [1921], in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 13, Frankfurt/M.1999, S.73. Vgl. die kritischen Äußerungen von Clara Gallini über die heutige Verwertung des Tarantella-Rituals: »Intervista a Clara Gallini«, in: Santoro, V./Torsello, S. (Hg.), Il ritmo meridiano. La pizzica e le identità danzanti del Salento, Lecce 2002, bes.S.161f. Sigmund Freud erkannte schon Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts bezüglich der schwindenden Bindungskraft von Ideen und Praktiken der Religion, dass bis dahin die religiösen Illusionen »den durch sie Gebundenen den stärksten Schutz gegen die Gefahr der Neurose« hatten bieten können (Freud, Sigmund: »Massenpsychologie und Ich-Analyse«, in: ders., Studienausgabe, Bd. 9, Frankfurt/M. 1969, S.132) und dass ihr Wegfall eine neue Individualisierungsform hervorbrachte. Hauschild, Thomas: Magie und Macht in Italien. Über Frauenzauber, Kirche und Politik, Vastorf 2002, S.201f. Kommentar in eckigen Klammern von mir, CDR. Vgl. de Martinos oben erwähnte Arbeiten La terra del rimorso bzw. »Land der Gewissenspein«. Martino, Ernesto de: »Land der Gewissenspein«, a.a.O., S.122. Hauschild (Magie und Macht in Italien, a.a.O., S.358f.) sieht allgemeine kulturelle Äquivalente der Tarantelbesessenheit im »korrekten« Exorzismus der katholischen Kirche und in modernen Tanzritualen der Jugendkultur mit Momenten der Trance usw. Vgl. etwa Zimmermann, Emil: Kulturelle Mißverständnisse in der Medizin. Ausländische Patienten besser versorgen, Bern/Göttingen/Toronto 2000, bes. S.31-45, S.54-82. Es gibt ethnopsychiatrische Arbeiten zu diesem Thema, etwa von dem französischen Therapeuten Tobie Nathan. So steht es auf dem Reklamezettel eines Heilers in Paris (etwa 1992). Vgl. Mauss, Marcel : »gift – gift«, in : ders., Oevre, Vol.III, Paris 1969, S.46. Freud, Sigmund: »Vorlesungen« [1917], in: ders., Studienausgabe, Bd. 1, a.a.O., S.553. Ebd., S.376. Hervorhebungen von mir, CDR. Ich habe einiges dazu entwickelt in: »Private und kollektive Rituale«, in: Paragrana, Internationale Zeitschrift f. Historische Anthropologie, Bd. 12 (2003), S.405-422. Ritter, Marcel: »Auf der Spur des nicht-spekulären Imaginären oder Hinführung zur Theorie des Phantasmas bei Lacan«, in: Brief der Psychoanalytischen Assoziation. Die Zeit zum Begreifen, Nr.17 (1996), S.6-27. Benjamin, Walter: »Erfahrung und Armut«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II.1, Frankfurt/M. 1977, S.214f. Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur, StA. Bd. 9, S.448 f.. Vgl. DM, Heft 3 (1982), S.25f. DM, Heft 3 (1981), S.18. Ich habe dies im Kapitel »Gift – die unmäßige Gabe« in meinem Buch Reste der Tafelrunde (Reinbek 1984) ausgeführt. Ottomeyer, Hans/Völkel, Michaela (Hg.): Tafelzeremoniell in Europa 1300-1900, Ausstellungskatalog, Wolfratshausen 2002, S.188-193. Vgl. den Bezoar des Herzogs von Alba (1507-1582): »Bezoare sind hart gewordene Gemenge aus Haaren oder Pflanzenfasern, die im Magen von Wiederkäuern gefunden werden. Die Bezeichnung ist vom persischen padzahr, Gegengift, abgeleitet. Bereits der Name weist auf die sagenhafte Wirkung hin, die man dieser Substanz zusprach: Man hielt sie für eines der verläßlichsten Antidote. Mit einer Öse versehen, ließ sich dieser Bezoar an einer Kette tragen und in Flüssigkeiten eintauchen.« (Ebd., S.191) Ob etwas als »Gift« wirkt, ist eine Frage der Dosis: des Maßes und der Unmäßigkeit; vgl. Rath, Claus-Dieter: Reste der Tafelrunde, a.a.O., Kap. »Gift – die unmäßige Gabe«. Vgl. die Werbung für den »Genuss ohne Reue«. Weiteres dazu habe ich entwickelt in: Rath, Claus-Dieter: »Übertragungsgefahr. Herausforderungen psychoanalytischer Kulturtheorie heute«, in: Tholen, G.C./Riepe, M./Schmitz, G. (Hrg.): Übertragung – Übersetzung – Überlieferung, Bielefeld 2001, S.395-432.
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Vgl. z.B. Winn, Marie: Die Droge im Wohnzimmer. Für die kindliche Psyche ist Fernsehen Gift. Wie wirkt es? Was hat es für Folgen? Und warum es nur ein Gegenmittel gibt: Abschalten!, Reinbek 1979. Dies ist der Titel der deutschen Ausgabe ihres Buches The plug-in-drug. Vgl. Pross, Harry/Rath, Claus-Dieter (Hg.): Rituale der Medienkommunikation. Gänge durch den Medienalltag, Berlin 1983. Lacan, Jacques : »La troisiémme«, in : Lettres de l’Ecole Freudienne, Nr. 16 (1975), Abdruck eines Vortrages in Rom 1974. Vgl. Foucault, Michel: »Warum ich Macht untersuche. Die Frage des Subjekts«, in: Dreyfus, H.L./ Rabinow, P., Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt/M. 1987, S.243-250. Darauf machen besonders Chiara und Nico Staiti aufmerksam in: »Magie, Tod und Tarantelbiß. Die süditalienischen Forschungen von Ernesto de Martino«, in: Zeitschrift f. Literaturwissenschaft und Linguistik, Heft 130 (2003), Stuttgart/Weimar 2003, S.88109, hier bes. S.97-100. Abraham, Karl: »Psychoanalytische Studien zur Charakterbildung« [1925], in: ders., Psychoanalytische Studien, Bd. 1. Frankfurt/M. 1971, S.218. Vgl. Nägele, Rainer: »Freud, Habermas und die Dialektik der Aufklärung«, in: Wunderblock, Nr.9 (1982), S.35-60.
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Autorinnen und Autoren
Gottfried Fliedl (Dr. phil.) ist als interdisziplinär forschender Museologe
und Kunsthistoriker tätig und Projektleiter der »Museumsakademie Joanneum«. Konzeption/Kuratierung mehrerer Ausstellungen. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Museumsgeschichte, u.a. zum Museum als soziales Gedächtnis oder zur symbolischen Zirkulation von Kulturobjekten. Thomas Gann (M.A.) arbeitet derzeit an einer Promotion unter dem Titel »Gehirn und Züchtung. Gottfried Benns psychiatrische Poetik 19101933/34«, die voraussichtlich 2005 erscheint. Birgit Griesecke (Dr. phil.) arbeitet in der Emmy-Noether-Forschungsgruppe »Kulturgeschichte des Menschenversuchs« (Bonn/Berlin). Sie forscht zu Wissenschaftstheorie, Phänomenologie sowie den Schriften Wittgensteins in interkultureller Perspektive. Insa Härtel (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Assistentin an der Universität Bremen. Sie forscht zu Autorschaft, Autorität, Raum und Geschlecht sowie zu psychoanalytischer Kunst- und Kulturtheorie. Werner Kogge (Dr. phil.) arbeitet am »Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik« (Berlin) zum Thema »Genetische ›Schrift‹«. Publikationen außerdem zu Hermeneutik und Philosophie der Technik(en). Torsten Meyer (Dr. phil.) ist Juniorprofessor für »Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Forschung und Lehre im Bereich Multimedia mit einem Schwerpunkt in der Didaktik der Bildenden Kunst« an der Universität Hamburg. André Michels (Dr. med.) ist Psychiater und Psychoanalytiker in Luxemburg und Paris, Mitbegründer der »AFP«, des »Psychoanalytischen Kollegs« und Mitherausgeber des Jahrbuchs für klinische Psychoanalyse. Zahlreiche Veröffentlichungen zu klinischen und kulturtheoretischen Themen. 373
Autorinnen und Autoren
Karl-Josef Pazzini (Dr. phil.) ist Professor für »Erziehungswissenschaft. Didaktik der Bildenden Kunst« an der Universität Hamburg und Psychoanalytiker. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Psychoanalyse, Erziehungswissenschaft, Ästhetischer Bildung, Bildender Kunst, Medien und Museen. Website: http://kunst.erzwiss.uni-hamburg.de/Pazzini Claus-Dieter Rath (Dr. soc.) ist Psychoanalytiker in Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen über Fragen der psychoanalytischen Praxis, der Geschichte der Psychoanalyse und über die Massenpsychologie des Alltagslebens. Kirsten Scheffler (M.A.) promoviert derzeit an der Universität Hamburg mit einer Arbeit zu Robert Walsers Mikrogrammschrift. Ihre Forschungsgebiete sind Schrift und Bild, »kleine Literaturen« sowie Art brut. Jann Schlimme (Dr. med., M.A.) arbeitet in der Abteilung »Klinische Psychiatrie und Psychotherapie« der Medizinischen Hochschule Hannover. Forschungen zur psychiatrischen Anthropologie und Philosophie der Psychiatrie. Gunnar Schmidt (Dr. phil.) ist Privatdozent und zurzeit in der Internetwirtschaft tätig. Arbeitet im interdisziplinären Kontext von Medien-, Kultur- und Literaturwissenschaft. Website: www.medienaesthetik.de Marianne Schuller (Dr. phil.) ist Professorin für Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg. Neben Kerngebieten der Literaturwissenschaft forscht und publiziert sie zum Grenzgebiet von Literatur und Wissen (Medizin, Psychiatrie, Anthropologie, Psychoanalyse), zu Geschlecht und zur Theorie des »Ortes« in der Moderne. Thomas Weitin (Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Assistent am Germanistischen Institut der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Habilitationsprojekt zur Literatur- und Rechtsgeschichte der Zeugenschaft. Peter Widmer (Dr. phil.) ist Psychoanalytiker in Zürich und Ennetbaden. Neben verschiedenen Lehraufträgen an Universitäten und Fachhochschulen ist er Gastprofessor an der Universität Kyoto. Er initiiere die Zeitschrift RISS und gab sie bis 1997 heraus. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt Angst. Erläuterungen zu Lacans Seminar X. Michael Wimmer (Dr. phil.) ist Professor für »Systematische Erziehungswissenschaft« an der Universität Hamburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Erziehungs- und Bildungsphilosophie im Kontext gesellschaftlicher Transformationsprozesse, Dekonstruktion und Pädagogik, Erziehungswissenschaft und die Frage des Anderen.
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Weitere Titel zur Psychoanalyse:
Karl-Josef Pazzini, Susanne Gottlob (Hg.) Einführungen in die Psychoanalyse Einfühlen, Unbewusstes, Symptom, Hysterie, Sexualität, Übertragung, Perversion April 2005, ca. 150 Seiten, kart., ca. 15,80 €, ISBN: 3-89942-348-8
Jutta Prasse Sprache und Fremdsprache Psychoanalytische Aufsätze (herausgegeben von Claus-Dieter Rath) Januar 2005, 212 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN: 3-89942-322-4
Manfred Riepe Intensivstation Sehnsucht Blühende Geheimnisse im Kino Pedro Almodóvars. Psychoanalytische Streifzüge am Rande des Nervenzusammenbruchs 2004, 260 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN: 3-89942-269-4
Peter Widmer Angst Erläuterungen zu Lacans Seminar X April 2004, 176 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN: 3-89942-214-7
Nikolaus Müller-Schöll, Marianne Schuller (Hg.) Kleist lesen 2003, 274 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-105-1
Marianne Schuller, Gunnar Schmidt Mikrologien Literarische und philosophische Figuren des Kleinen 2003, 182 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 3-89942-168-X
Manfred Riepe Bildgeschwüre Körper und Fremdkörper im Kino David Cronenbergs. Psychoanalytische Filmlektüren nach Freud und Lacan 2002, 224 Seiten, kart., zahlr. SW-Abb., 24,80 €, ISBN: 3-89942-104-3
Georg Christoph Tholen, Gerhard Schmitz, Manfred Riepe (Hg.) Übertragung – Übersetzung – Überlieferung Episteme und Sprache in der Psychoanalyse Lacans 2001, 442 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-933127-74-2
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de