Wahn - Wissen - Institution II: Zum Problem einer Grenzziehung [1. Aufl.] 9783839405758

Die Frage nach dem Wahn ist wesentlich eine Frage nach der Grenze. Dies aber nicht nur in dem Sinne, dass eine Grenze au

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German Pages 182 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Dubuffet und Art Brut. Der Künstler und Theoretiker im Bann seiner Sammlung
Die Sprache der Hörner. Zur unbestimmten Transzendenz autoritativen Sprechens
Mode ›als rationaler Wahn‹. Die paradoxe Suche nach Originalität in der Nachahmung der Anderen
»Und natürlich kann geschossen werden.« Zum politischen Wahn der Roten Armee Fraktion
Bildung und Wahn. Konfigurationen von Wissen und Wahn in Bildungsprozessen
Wahn – Schreiben. Zu einem Fragment Nietzsches
Wahnhafte Momente im psychoanalytischen Setting
Wahn, Wissen und Gewissheit in Wittgensteins Spätwerk und die schizophrene Bodenlosigkeit
Autorinnen und Autoren
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Wahn - Wissen - Institution II: Zum Problem einer Grenzziehung [1. Aufl.]
 9783839405758

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Wahn – Wissen – Institution II Zum Problem einer Grenzziehung

»Psychoanalyse« Karl-Josef Pazzini, Claus-Dieter Rath, Marianne Schuller Editorial

»Aus praktischen Gründen haben wir, auch für unsere Publikationen, die

Gewohnheit angenommen, eine ärztliche Analyse von den Anwendungen der Analyse zu scheiden. Das ist nicht korrekt. In Wirklichkeit verläuft die Scheidungsgrenze zwischen der wissenschaftlichen Psychoanalyse und ihren Anwendungen auf medizinischem und nichtmedizinischem Gebiet.« (Sigmund Freud, Nachwort zur Laienanalyse, 1926, StA Erg.Bd., 348)

Die Reihe »Psychoanalyse« stellt Anwendungen der Psychoanalyse dar, d.h. Arbeiten, die sich mit den Bildungen des Unbewußten beschäftigen, denen wir in der analytischen Kur, in kulturellen und gesellschaftlichen Erscheinungen, aber auch in den Theorien und Forschungsmethoden der Wissenschaften sowie in den Erfahrungsweisen und Darstellungsformen der Künste begegnen. Psychoanalytische Praxis und Theoriebildung stützen sich nicht allein auf die Erfahrungen der analytischen Kur. Sobald ein Psychoanalytiker aber versucht, sein eigenes Tun zu begreifen, begibt er sich in andere Gegenstandsbereiche und befragt andere Disziplinen und Wissensgebiete und ist damit auf die Arbeiten von Wissenschaftlern und Künstlern angewiesen. Insofern exportieren die Anwendungen der Psychoanalyse nicht lediglich nach Art einer Einbahnstraße die Erkenntnisse einer ›fertigen‹ Psychoanalyse in andere Gebiete, Disziplinen und Bereiche, sondern sie wendet sich auch an diese und wendet diese auf sich zurück. Ohne den eingehenden Blick auf die Naturwissenschaften, Kulturwissenschaften, Sozialwissenschaften, Mythologien, Literatur und bildenden Künste konnte die Psychoanalyse weder erfunden noch von Freud und seinen Schülern ausgebaut werden. Ein Forum dafür war die 1912 gegründete Zeitschrift und Buchreihe »Imago«, die sich der Anwendung der Psychoanalyse auf die Natur und die Geisteswissenschaften gewidmet hat; später nannte sie sich allgemeiner »Zeitschrift für psychoanalytische Psychologie, ihre Grenzgebiete und Anwendungen«. Die dort erschienenen Arbeiten sollten andere Disziplinen befruchten, der psychoanalyti-

schen Forschung neue Gebiete erschließen, aber auch in jenen anderen Bereichen Modelle und Darstellungsmöglichkeiten für die psychoanalytische Forschung ausfindig machen. In der Hoffung auf ein ähnlich gelagertes Interesse von der anderen Seite her, also in der Hoffnung, daß »Kulturhistoriker, Religionspsychologen, Sprachforscher usw. sich dazu verstehen werden, das ihnen zur Verfügung gestellte neue Forschungsmittel selbst zu handhaben« (Freud, Frage der Laienanalyse, StA Erg. Bd., 339), wurde um 1920 sogar eine spezielle Art von Lehranalyse« eingerichtet, denn: »Wenn die Vertreter der verschiedenen Geisteswissenschaften die Psychoanalyse erlernen sollen, um deren Methoden und Gesichtspunkte auf ihr Material anzuwenden, so reicht es nicht aus, daß sie sich an die Ergebnisse halten, die in der analytischen Literatur niedergelegt sind. Sie werden die Analyse verstehen lernen müssen auf dem einzigen Weg, der dazu offensteht, indem sie sich selbst einer Analyse unterziehen.« (Freud, ebd.)

Für Freud war klar, daß die Erforschung des Einzelmenschen eine Frage der Sozialpsychologie ist, denn »im Seelenleben des Einzelnen kommt ganz regelmäßig der Andere als Vorbild, als Objekt, als Helfer und als Gegner in Betracht« (Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, 1921, GW Bd. XIII, 73). Ihn interessierte auch, auf welche Fragen überlieferte und zeitgenössische Kulturphänomene wohl eine Antwort darstellen und wie derartige Kultursymptome sich bilden, oder welcher Illusionen Menschenwesen fähig sind, und auch, welche organisierten (neuen und alten) Bedrohungs- und Heilsphantasmen ihnen von Religion und Massenmedien aufgedrängt werden. Er befaßte sich also einerseits mit den Mechanismen und Funktionen, vermittels derer Kulturelles im Psychismus wirkt, und andererseits mit dem inneren Funktionieren kultureller Gebilde und Prozesse. (Zu letzterem gehören die Motive, die Ökonomien und die Überlieferungswege kultureller Vorgänge, die ja auch Bildungen des Unbewußten sind: kulturelle Zensur, Reaktionsbildungen, Symptombildungen, Regressionen, Sublimierungen usw.) Zugleich erkannte er, daß »manche Äußerungen und Eigenschaften des Über-Ichs [...] leichter bei seinem Verhalten in der Kulturgemeinschaft als beim Einzelnen« zu erkennen sind. Aufgrund der zumeist unbewußten Natur der »Aggressionen des Über-Ichs« seien die zur Gewissensangst »gehörigen seelischen Vorgänge uns von der Seite der Masse vertrauter, dem Bewußtsein zugänglicher [...] als sie es beim Einzelmenschen werden können« (Freud, Das Unbehagen in der Kultur, 1930, GW

Bd. XIV, 502). Einige wesentliche Elemente seiner Theorie sind für Freud vorzugsweise als »Spiegelung« in kulturellen Erscheinungen beobachtbar. So zeigten manche »der dynamischen Konflikte zwischen Ich, Es und Über-Ich« sich viel deutlicher im Bereich der Religionen. Diese Strategie, etwas allein theoretisch Erschlossenes dort erkennbar zu machen, wo es sich wie »auf einer weiteren Bühne wiederholt« (Freud, Nachschrift 1935, GW Bd. XVI, 32), verfolgt Freud auch mit seinem Versuch, »einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker« (so der Untertitel von »Totem und Tabu«) herauszuarbeiten. Freuds wissenschaftliches Projekt einer Erschließung des ›unerkennbaren‹ Unbewußten – Vorgänge, Inhalte, psychische Gebiete und Strukturen − ist die Darstellung dessen, was er das »Reale« nennt. Diesem Realen, das »immer ›unerkennbar‹ bleiben« (Freud, Abriß der Psychoanalyse, 1940,GW Bd. XVII, 126) wird, begegnet der Psychoanalytiker in erster Linie in Gestalt des Symptoms. Er kann in seiner Forschung nicht auf Versuche anderer Wissenschaften und Künste verzichten, das unerkennbare Reale zu erfassen und darzustellen. Freud wird dabei notwendigerweise selbst zu einem psychoanalytischen Kulturforscher und zu einem wissenschaftlichen Dichter, der seine Theorie der Urhorde »unseren Mythus« und die Triebe »unsere Mythologie« nannte. Jacques Lacan hat sich u.a. von der surrealistischen Bewegung inspirieren lassen, und seine Lehre entsteht aus der Verbindung der klinischen Beobachtung, des Studiums des Freudschen Textes, der kritischen Würdigung der zeitgenössischen psychoanalytischen Literatur im Durchgang durch die Philosophie, linguistische Theorien, Ethnologie, Literatur und Mathematik (Topologie). Der Begegnung der Psychoanalyse mit anderen Wissenschaften und Künsten eignet ein Moment der Nicht-Verfügbarkeit, des Nicht-Verfügens, ein Moment, das Verschiebungen und Veränderungen mit sich bringt. Dadurch entstehen auch in der Psychoanalyse Spielräume für neue Konfigurierungen. In diesem Sinne geht es in der Schriftenreihe um den Stoffwechsel zwischen Psychoanalyse, den Wissenschaften und den Künsten. Nicht nur die psychoanalytische Forschung, sondern auch die psychoanalytische Kur ist von Sigmund Freud als »Kulturarbeit« verstanden worden: sie wirke der »Asozialität des Neurotikers«, der »Kulturfeindschaft« der Menschen und insofern der Barbarei entgegen.

Karl-Josef Pazzini, Marianne Schuller, Michael Wimmer (Hg.)

Wahn – Wissen – Institution II Zum Problem einer Grenzziehung

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2007 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Lektorat & Satz: Liselotte Hermes da Fonseca, Sönke Ahrens, Hamburg Layout: Sönke Ahrens, Hamburg Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlag: Zitat aus: Sigmund Freud: Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia, Frankfurt am Main: Fischer 1973 (Studienausgabe VII), S. 133-204, S. 200 Druck: Majuskel Medienproduktion, Wetzlar ISBN 978-3-89942-575-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Karl-Josef Pazzini | Marianne Schuller | Michael Wimmer Vorwort

9

Peter Gorsen Dubuffet und Art Brut. Der Künstler und Theoretiker im Bann seiner Sammlung

11

Alfred Schäfer Die Sprache der Hörner. Zur unbestimmten Transzendenz autoritativen Sprechens

29

Elena Esposito Mode ›als rationaler Wahn‹. Die paradoxe Suche nach Originalität in der Nachahmung der Anderen

51

Clemens Pornschlegel »Und natürlich kann geschossen werden.« Zum politischen Wahn der Roten Armee Fraktion

65

Michael Wimmer Bildung und Wahn. Konfigurationen von Wissen und Wahn in Bildungsprozessen

83

Marianne Schuller Wahn – Schreiben. Zu einem Fragment Nietzsches

113

Karl-Josef Pazzini Wahnhafte Momente im psychoanalytischen Setting

123

Erich Wulff Wahn, Wissen und Gewissheit in Wittgensteins Spätwerk und die schizophrene Bodenlosigkeit

165

Autorinnen und Autoren

179

Karl-Josef Pazzini | Marianne Schuller | Michael Wimmer

Vorwort

Die zweite Publikation im Rahmen des Forschungsprojektes »Wahn Wissen Institution« versammelt Beiträge, die im Umkreis einer diesem Thema gewidmeten Tagung entstanden sind. Wie der Untertitel »Zum Problem einer Grenzziehung« ankündigt, steht die Frage nach der Grenze, die Wahn und Wissen voneinander trennt, zur Debatte. Im Durchgang durch diverse Disziplinen – von der Kunstgeschichte über die Soziologie, Bildungstheorie, Philosophie, Psychiatrie, Psychoanalyse und Literaturwissenschaften – stellt sich heraus, dass die Frage der Grenze weder stichhaltig auszumachen, noch nicht nicht in Funktion ist. In dem Maße, wie man die Frage nach der Grenzziehung aufwirft, zeigt sich, dass die Schwierigkeit der Definition des Wahns nicht zuletzt das ist, was den Wahn definiert. Wenn das so ist, so gibt es allen Grund, den Wahn nicht nur als Gegenstand der unterschiedlichen Wissenschaften und Wissensformen zu behandeln, zu deuten und zu interpretieren. Vielmehr stellt sich das sehr viel beunruhigendere Problem, ob nicht im Prozess der Gegenstandskonstitution selbst schon ein wahnhaftes Moment wirksam ist, ob nicht der jeweilige Diskurs über den Wahn von dem affiziert ist, wovon er spricht. Unter diesem Gesichtspunkt ist der Wahn das, was Interpretation verlangt und sich zugleich gegenüber der Interpretation als irreduzibel resistent erweist. Dieser paradoxe Sachverhalt ist nicht nur für die verschiedenen Wissensformen und Wissenschaften, sondern auch für das Denken von Institutionen, zumal von Bildungsinstitutionen, folgenreich. Danach kann sich die Institution nicht einfach als ›wahnfreie Zone‹ darstellen, sondern muss die Frage der Unschärfe und der Übergänge in ihre Selbstreflexion einbeziehen. Sie muss, wie es Karl-Josef Pazzini einmal formuliert hat, den schwierigen, unmöglichen Akt eines Schutzes für den Wahn sowie den eines Schutzes vor dem Wahn in Szene setzen. Nur so 9

K.-J. Pazzini | M. Schuller | M. Wimmer

kann sie der Grenzziehung gerecht werden: als ein Problem, das nicht ein für alle Mal gelöst, sondern immer wieder und immer wieder zum ersten Mal aufgeworfen und traktiert werden muss. Die Beiträge zu diesem Band stehen darüber miteinander in Korrespondenz, dass sie, mehr oder weniger explizit, die Frage nach dem Ort stellen, von dem aus die eigene Rede über den Wahn ergeht. Sei es, dass einem diese Frage in der Auseinandersetzung über die ›art brut‹ auf den Pelz rückt (Peter Gorsen), sei es, dass in der Analyse eines afrikanischen Rituals Paradoxien des eigenen autoritativen Sprechens sich abzuzeichnen beginnen (Alfred Schäfer), sei es, dass wir im alltäglichen Kampf um Mode uns selbst in den kollektiven Wahn der Einzigkeit und einzigen Andersheit verstrickt sehen (Elena Esposito), sei es, dass im Versuch einer ebenso vorsichtigen wie theoretisch entschiedenen Dekonstruktion der RAF (Clemens Pornschlegel) die Frage nach der Relation zwischen dem Wahnhaften und dem Politischen auftaucht – stets fällt ein Schatten des Objekts auf die Darstellung seiner Analyse. Das gilt für die Frage nach dem Zusammenhang von Bildung und Wahn (Michael Wimmer), von Wahn und Schreiben (Marianne Schuller) ebenso wie für die radikale Selbstbefragung mit Blick auf wahnhafte Momente im psychoanalytischen Setting (Karl-Josef Pazzini) und der eindrucksvoll entfalteten Frage danach, wie es überhaupt möglich sein kann, im Rahmen der Psychiatrie eine Ebene der Kommunikation mit einem in den Wahn als Krankheit gestürzten Menschen herzustellen (Erich Wulff). Es scheint, dass die Verwicklung in das, was zur Debatte steht, die Notwendigkeit und die Kraft der Distinktion steigert und als Herausforderung für das eigene Tun weiter gibt.

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Peter Gorsen

Dubuffet und Art Brut Der Künstler und Theoretiker im Bann seiner Sammlung

Wir unterscheiden zwischen dem Sammler, Künstler und Theoretiker Jean Dubuffet. In dreierlei Hinsicht war er durch seine, Widerspruch und Simplifikation nicht fürchtende, kulturfeindliche Einstellung für die Moderne in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von großem Einfluss. Seine hauptsächliche, lebenslange Anregungsquelle war die von ihm so bezeichnete und gesammelte Art Brut, ein Schöpfungsreservat, das unberührt von kultureller Veredelung und menschlicher Vervollkommnung mehr einer sich selbst überlassenen, wild wachsenden Natur ähnlich sieht. Die Vorstellung einer Kunstschöpfung im Naturzustand prägte Dubuffet nach fehlschlagenden, unbefriedigenden akademischen Anfängen als Künstler schließlich so nachdrücklich, dass man sein Werk mit ihr identifizierte, ihn selbst als Art Brutisten apostrophierte oder ihm sogar künstlerische Bereicherung an seiner Art Brut-Sammlung vorwarf. Bekannt wurde der Buchtitel von Georges Limbour »Tableau bon levain, à vous de cuire la pâte, l’Art Brut de Jean Dubuffet« (1953), den der Verfasser ohne Einverständnis des befreundeten Künstlers kaum riskiert hätte. Hier wurde die von Dubuffet gesuchte Nähe und Wahlverwandtschaft mit Art Brut ein Schritt zu weit getrieben. »Es ist nicht von ungefähr«, schreibt Harald Szeemann 1979, »daß die Avant-Garde sich Verhaltensweisen der Geisteskranken zueigen macht: Arnulf Rainer (selber ein Sammler von Kunst der Geisteskranken) mit seinen Grimassenbildern, Vito Acconci mit seinen Masturbationsaktionen, Einkreisungsmanövern, PsychoTapes, Bedrohungsstimmen-Environments. Die Grenzen sind verwischt.«1

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Peter Gorsen

Szeemann hätte an das Entfremdungs-Szenario im Wiener Aktionismus bei Brus und Mühl oder historisch weiter zurück an Breton und Eluard erinnern können, die 1930 in ihrem gemeinsam geschriebenen Buch »L’Immaculée Conception« sich der sprachlichen Simulation psychopathologischer Ausdrucksformen verschrieben. »Ein klassisches Vulgärbeispiel« für die avantgardistischen Grenzüberschreitungen sei aber

Abb.1: Jean Dubuffet: L’homme à la

Abb.2: Heinrich Anton Müller:

rose, 1949

A ma Femme, ca. 1917/19

»Dubuffet selber, der die Werke in seinem Museum kompositionell schamlos ausnützte.«2 An diesem Vorwurf, der in der prinzipiell positiv bewerteten Annäherung von Kunst und Psychiatrie enthalten ist und mit der Nazi-Diffamierung »entarteter Kunst« nichts gemein hat, ist Dubuffet nicht ganz unschuldig. Er hat das faszinierende Vorbild der Art Brut für sein eigenes Bildwerk nie geleugnet, allerdings können Erfindung und Nachahmung formal, kompositorisch, atmosphärisch so vermischt sein, dass sich schon frühere Bearbeiter fragten, wie ein derart reflektiert und nicht naiv arbeitender Künstler wie Dubuffet seine Orientierung an der Art Brut rechtfertigen würde. Bekannt wurde der Vergleich von Dubuffets »L’homme à la rose« (1949) (Abb. 1) mit Heinrich Anton Müllers »A ma femme« (ca. 1917/19) (Abb. 2), den John MacGregor mit der vagen Feststellung kommentierte: »This is not more imitation, but it is a clear instance of a shared vision.«3 Dubuffet hat die »visionär« übernommene Eigenart der Vorlage, was immer dies heißen soll, weder zitathaft noch konzeptionell, wie dies in heutiger Reflexionsmalerei üblich

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Dubuffet und Art Brut

geworden ist, kenntlich gemacht. Das Übernommene und Eigene gehen bruchlos in die Bildkomposition ein. Sie hat im Grunde zwei Autoren, die sich, wie man zu sagen versucht wäre, zu einer »folie à deux« vereinigen. Leonhard Emmerling hat an diesem Beispiel das Fehlen einer »systematische[n] Untersuchung formaler Übereinstimmungen« moniert,4 die wir auch im Falle von Gaston Chaissac (Abb. 3), dessen einflussreiches von Dubuffet gesammeltes Werk (heute im Musée de l’art brut in Lausanne) noch nicht vollständig publiziert ist, benötigten, um die Teilhabe Dubuffets an seinen Art Brut-Vorlagen aufzuklären. Wo die Differenzen zu suchen wären, lässt sich erst heute abschätzen, nachdem Mechthild Haas durch erstmalige Auswertung der drei »Atelierhefte« Dubuffets von 1947 bis 1953 sein grundsätzlich neues Verhältnis zum Malmaterial und seiner technischen Bearbeitung analysiert hat.5 In der experimentell-artifiziellen Zurichtung Abb.3: Gaston Chaissac: Totem, 1961 und Kontrolle der Materialien, den neuen Bearbeitungstechniken und ungewöhnlichen Materialmischungen, erreicht der visionäre Partizipiant erst seine unverwechselbare individuelle Eigenart gegenüber der Ähnlichkeit der Art Brut-Vorlagen. Die Anziehungskraft der Kunstschöpfung im Roh- oder Naturzustand besteht für Dubuffet in deren Ungeschicklichkeit und Unprofessionalität, von keiner Schönheits- und Hässlichkeitsdoktrin berührten Ausdrucksweise, die ihn schon während seiner Studentenzeit in den zwanziger Jahren beeindruckte, als er erstmals der »Naiven Kunst« eines Henri Rousseau, der »Negerkunst«, der Kunst der Südsee und der Geisteskrankenkunst aus Prinzhorns »Bildnerei der Geisteskranken« (1922), aus Morgenthalers Studie über den geisteskranken Künstler Adolf Wölfli (1921) begegnete und von der Begeisterung Paul Klees und surrealistischer Künstler wie Max Ernst für diesen Komplex angesteckt wurde.6 Der Kreis der künstlerischen Anreger hat sich seit Mitte der vierziger Jahre, nachdem Dubuffet seine Krisen und Selbstzweifel überwunden hatte, ständig erweitert. Hinzu kamen vor allem Antonin Artaud7 und Gaston

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Peter Gorsen

Chaissac,8 die als artistische Grenzgänger zwischen Natur und Kultur anstatt als reine Art Brutisten erkannt und umworben wurden. In den vierziger Jahren wurden auch die Zeichnungen der Kinder und die anonymen Graffiti der Häuserwände unter die Lupe genommen. Gegenüber der kulturellen Assimilation und Lernfähigkeit der Kinder, die ihre unschuldige, infantile Kritzelphase rasch überwinden, verhielt sich Dubuffet reserviert. Der Überhang an kulturellen Faxen und Klischees in den Graffiti verwässerte allzu häufig ihre erfinderischen Impulse,9 womit er die magischen, primitivistischen Anteile im Graffito zurückhaltender und kritischer beurteilte als Brassai dies in den dreißiger Jahren tat. Am Beginn von Dubuffets Art Brut-Interesse als Sammler und Theoretiker stand ein Postulat und noch keine ausreichende Erfahrung. Er glaubte, Erfindung und Nachahmung voneinander trennen und konfrontieren zu müssen, um ein regulatives Prinzip oder methodisches Werkzeug zu gewinnen, das ihm erlaubt, das Naturgegebene und die kulturelle Kopie in der Kunst streng auseinander zu halten. Die Einrichtung einer reinen Art Brut-Sammlung, die sich zu einem separaten Fachmuseum auswuchs, machte dieses Postulat notwendig; es darüber hinaus als allgemeine ästhetische Wertordnung zu begründen, ist der wesentliche Inhalt von Dubuffets Kunsttheorie. In einem frühen, noch sehr persönlichen, bekenntnishaften Aufsatz an Schöngeister und Ästhetizisten, die »fin-lettrés«, den Dubuffet noch ohne Publikationsabsicht auf Anraten der Freunde 1945 schrieb,10 werden der Genialität, der Begabung, dem Perfektions- und Schönheitsstreben in der Kunst eine Absage erteilt. Diese traditionellen Erwartungen an den erfolgreichen Künstler werden ausgetauscht gegen die Liebeserklärung an »das Wenige [...], das Embryonale, das mangelhaft Gearbeitete, das Unvollkommene, das Gemischte. Ich bevorzuge die rohen Diamanten in ihrem Gestein. Und mit Fehlern.«11 Oder mit den Worten des ehemaligen Weinbauern und Weinhändlers: »Pour le vin de pays contre le Chateau-Lafitte.«12 Die Wertschätzung des »mal faconné« gipfelt in einem »Vive donc les peintres privés de dons«.13 Ein derart Partei ergreifender Appell für die Untalentierten, für uns alle, die wir von Natur her begabt seien, sich zeichnend und malend individuell auszudrücken, identifiziert in fast schon surrealistischer Emphase das »Wunderbare« (le merveillaux) mit dem unprofessionellen, naturbegabten Künstlertum eines jeden Menschen. Dieser gleichsam rousseauistische Ansatz und romantische Unterton einer Kritik an der kulturell institutionalisierten und instrumen-

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Dubuffet und Art Brut

talisierten Schöpfung, an Spezialisten, Experten und künstlerische Ausnahmemenschen, sucht und findet Rückhalt in der von Dubuffet so getauften Art Brut. Konkretere, argumentativ entfaltete Ausführungen für diesen Sammelbegriff, der erstmals in einem Brief vom August 1945 an René Auberjonois nachweisbar ist,14 und erst 1947 in einem mit provenzalischen Vulkanstein-Statuetten bebilderten Schriftchen »Die bärtigen Müller« (»Les Barbus Müller et autres pièces de la statuaire provincale«) publizistisch in Erscheinung tritt, finden sich 1949 im Begleittext zur öffentlichen Erstausstellung der Art Brut-Sammlung in der Galerie René Drouin unter dem Titel »L’art brut préféré aux arts culturels«, 1951 in dem im Arts Club of Chicago gehaltenen (1965 französisch veröffentlichten) Vortrag »Anticultural positions« (»Positions anticulturelles«) und im 1967 veröffentlichten Katalogbeitrag »Place à l’incivisme« (»Plädoyer für die Unangepaßtheit«) für die Ausstellung »L’art brut« im Musée des arts décoratifs in Paris. Dubuffets lang zurückreichende künstlerische Neugierde für alles unter kultureller Hegemonie Verworfene, Abgewertete, Ausgegrenzte wird im Verlauf von über zwanzig Jahren zu einer kulturpessimistischen Theorie entfaltet. Die Initialzündung, die gleichzeitig als Motivation für eine künftige Art Brut-Sammlung gesehen werden kann, gibt die 1945 mit den Schriftstellern Jean Paulhan und Paul Budry unternommene Reise in die Schweiz zu den psychiatrischen Anstalten nach Waldau bei Bern und Lausanne. Hier lernt er die Werke der an Schizophrenie erkrankten Patienten Heinrich Anton Müller, Adolf Wölfli und Aloise Corbaz im Original kennen. MacGregor versucht in seinem genau nachfragenden und kommentierten Interview mit Dubuffet von 1976 die Entstehung des um Art Brut zentrierten Denkens und Sammelns des Künstlers zu rekonstruieren. Er stellt fest, dass der Dubuffet während oder kurz nach der Schweizer Reise eingefallene Begriff »Art Brut« anfangs ausschließlich ein Verweis auf die Kunst der geistig schwer Erkrankten war. »At that time«, gibt Dubuffet zu Protokoll, »I hadn’t arrived fully at my anticultural position.«15 Die Einschränkung der »Art Brut« auf Geisteskrankenkunst wird alsbald fallen gelassen, weil der seit 1949 erweiterte Terminus einer kulturell unangepassten oder sogar subversiven Kunst, deren Urheber »alles (Themen, Auswahl der verwendeten Materialien, Mittel der Umsetzung, Rhythmik, zeichnerische Handschrift usw.) aus ihrem eigenen Inneren und nicht aus den Klischees der klassischen Kunst oder der gerade aktuellen Kunstströmung« beziehen,16

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Peter Gorsen

auch kreative Naive, Autodidakten, künstlerische Amateure und Sonderlinge (»singuliers«) ohne spezifisch psychiatrische Symptomatik umfasst. Diese Verallgemeinerung eines zunächst an geisteskranken Künstlern verifizierten Begriffs kündigte sich bereits in dem »Barbus Müller« gewidmeten Aufsatz von 1947 an, der lediglich die Unterscheidung der Kunst und Kunstgeschichte in zwei Klassen einführt: die »gewohnte, geschliffene oder vollkommene Kunst« (»l’art coutumier ou poli ou parfait«) unangesehen ihrer zeitgenössischen, klassischen, romantischen, barocken oder noch weiter zurückreichenden Herkunft, und »Art Brut, Kunst in der Rohform (die ungezähmt und flüchtig wie ein Reh)« sei,17 ein Bild, mit dem Dubuffet wiederum an die wilde Kunstschöpfung im Naturzustand gemahnt und womit er die vom kulturell ungezähmten »Künstler ganz und gar in allen Phasen aus eigenem Antrieb« zu schaffende Formerfindung18 einfordert. Der Kreis der Kunstamateure, die außerhalb der geistigen, kulturellen Auseinandersetzungen der Berufskünstler arbeiten, ist erheblich größer als die wenigen künstlerisch auffälligen Geisteskranken. Er reicht in das schier uferlose Gebiet der Volkskunst hinein. Zwischen Art Brut und den »peintres naïfs«, überhaupt jeder autodidaktischen unschuldsvollen Produktivität im kulturellen Niemandsland, sind die Grenzen schwer zu ziehen. Dubuffet wird sich dessen in dem Moment bewusst, wo er die Art Brut zur »antikulturellen Position« theoretisch zu verallgemeinern sucht und dafür die ästhetische, philosophische, künstlerische Vorgeschichte seines Standpunktes zur Kenntnis nehmen muss. Dem einst von Schiller als »sentimentalisch«, der Naivität beraubt, charakterisierten Kulturmenschen steht seit dem 19. Jahrhundert die Wunschvorstellung des ungebrochen, reflexionslos empfindenden, natürlichen Menschen gegenüber, das Ideal eines kindhaft, unverbildet, unbewusst handelnden Individuums. Es hat seine Unschuld und Unbewusstheit nicht durch kulturelles Bewusstsein und Selbstreflexion verloren. Auch dieses Denkmodell hat beim Art Brut-Konzept mitgewirkt. Der kulturell unbelastete, naive, in seiner Natürlichkeit zentrierte und aus ihr erfindende Außenseiter wurde im 19. und 20. Jahrhundert nicht mehr wegen seiner akademischen, kulturellen Defizite ins Abseits gestellt, sondern es entstand eine positiv bewertete Außenseitertradition neben der offiziellen Kultur- und Kunstgeschichte. Klassische Kunst ist seit Aristoteles als »Nachahmung der Natur« bestimmt. Die naive Kunstschöpfung im Roh- und Naturzu-

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Dubuffet und Art Brut

stand hält sich nicht daran, sondern erfindet wie alle prähistorische, vorklassisch-primitive Kunst aus eigenem inneren Empfinden heraus. Den Vorläufern der Art Brut begegnen wir bei den parallel zur Stil- und Hochkunst, wenn auch nicht immer in völliger Unabhängigkeit von ihr, sich artikulierenden Naiven. Kulturvergessene, naive Künstler im modernen positiven Wertverständnis wurden im 19. Jahrhundert ihrer Anonymität beraubt, 1879 der Facteur Ferdinand Cheval, 1886 der Zollangestellte Henri Rousseau, 1909 der Postbeamte Louis Vivin. Bekannt wurde 1927 in Paris das Engagement von Wilhelm Ude, der die Logik des Gefühls, Pascals »logique du coeur«, zum Anlaß für eine Ausstellung nahm, die unter dem Titel »Die Maler des Heiligen Herzens« Werke von Bauchant, Bombois, Séraphine, Vivin zusammenfasste. Sie und andere »Primitifs modernes« (1932) fanden Einlass in die großen Kunstmuseen der Welt wie dem Louvre und dem Museum of Modern Art in New York. Dieser Prozess der Entgrenzung ist bis heute im Gang und hat auch die einst durch Dubuffet von kulturellen Institutionen abgeschottete Art Brut erfasst. Sowohl die naive Kunst, die »art des fous« und die »art brut« begannen ihre Karriere als Gegenwelten und Alternativen zur Hegemonie der Kultur und des akademischen Professionalismus. Zwischen diesen Kunstarten gibt es zahlreiche Überschneidungen. Während naive Kunst als der historisch ältere Begriff für Beeinflussungen aus Kultur und Kunst mehr oder weniger offen ist, beharrt Dubuffets Terminus Art Brut zunächst auf der strengen Abgrenzung von jedem denkbaren kulturellen Einfluss. Warum? Die spätere Erfahrung als Sammler lehrte ihn doch, dass die simplifizierende Polarisierung zwischen einer Kunst im Naturzustand und einer im Kulturzustand eine unhaltbare begriffliche Abstraktion ist. Trotzdem hat Dubuffet den plakativen Art Brut-Begriff nicht aufgegeben und ihm lieber einen zweiten Begriff, die »Neuve Invention«, an die Seite gestellt, unter dem alles Material subsumiert wird, das weder der Art Brut noch der Art Culturel zugeordnet werden kann. Mit dieser starren Haltung hoffte Dubuffet, sich in der Öffentlichkeit und gegenüber der lebhaften wissenschaftlichen Diskussion über Geisteskrankenkunst einen eigenen, künstlerisch vertretenen Standort zu sichern. Dubuffet hatte sich in der Gründungsphase seiner Sammlung und der sie abstützenden Kulturtheorie mehrerer, vor allem zweier Konkurrenzen zu erwehren. Die erste drohte von den surrealistischen Vereinnahmungstendenzen vor allem durch Breton, die zweite von der Psychiatrie, die 1946

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Peter Gorsen

und 1950 in Sainte-Anne mit Ausstellungen von Werken Geisteskranker brillierte, die sie in bester Absicht mit zeitgenössischer Kunst in einen Vergleich stellten. Breton hatte gegenüber Dubuffets Aktivitäten einen ungeheuren Vorsprung, einerseits durch verschiedene literarische Arbeiten, den 1928 veröffentlichten Dokumentar-Roman »Nadja«, der die Liebe zu einem geistesverwirrten Mädchen aus der Perspektive ihrer authentischen Reden und Zeichnungen schildert, den 1937 erschienenen Text »L’amour fou«, der die Liaison von Liebe und Wahn thematisiert, andererseits durch Bretons 1929 einsetzende Sammelleidenschaft für psychotische Kunst und durch zwei 1936 in London und New York stattfindende surrealistische Ausstellungen, die auch Werke von psychotischen Künstlern zeigten. Als Breton 1948 von Amerika nach Paris zurückkommend Dubuffet kennenlernte und dessen im gleichen Jahr gegründeter »Societé de l’art brut« enthusiastisch beitrat, war er anstandslos bereit, Dubuffet beim Sammeln zu assistieren. Die Zusammenarbeit zerschlug sich. Breton sei in einem schlechten Sinne aktiv gewesen, bekundet Dubuffet in einem Interview mit MacGregor. »He wanted to pull me and l’Art Brut into Surrealism, and when he couldn’t, he was disappointed and angry.«19 Die Unverträglichkeit zwischen den beiden Kennern psychotischer Kunst lässt sich sachlich am ehesten im Hinblick auf Bretons 1948 verfassten Aufsatz »L’art des fous: la clé des champs« kommentieren.20 Zunächst sollte der Text in einem »Almanach de l’Art Brut« in der Redaktion von Dubuffet unter Mitarbeit von Breton und Jean Paulhan und mit Beiträgen Bretons über Joseph Crépin, Hector Hyppolite und Pascal Maisonneuve erscheinen. Dieser Almanach soll aus finanziellen Gründen vom Verlag Gallimard nicht verwirklicht worden sein. Wahrscheinlicher scheint das Scheitern des Projektes mit dem von Breton verwendeten Ausdruck »l’art des fous« zu tun zu haben, den Dubuffet angesichts der psychiatrischen Kunstausstellung 1946 in Sainte-Anne ablehnte und es infolge dessen zu der Begriffsregelung »art et aliénation« anstatt »art et folie« kam, die Dubuffet als ebenso unnütz und unsinnig bezeichnete wie den von Robert Volmat 1956 eingeführten Begriff »L’art psychopathologique«.21 Obwohl Breton in seinem Aufsatz eine zustimmende Stellungnahme zu Dubuffets Art Brut-Manifest von 1949, das er vor Erscheinen gelesen haben muss, abgab, hielt er am Begriff der »Kunst der Geisteskranken« fest, dessen Verwerfung gerade der Inhalt dieses Dubuffet-Manifestes ist. Dort heißt es klar und deutlich, »daß es

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Dubuffet und Art Brut

ebenso wenig eine Kunst der Geisteskranken (art des fous) gibt wie eine Kunst der Magenkranken und der Kniekranken (malades du genou).«22 Damit war die Terminologie der Psychiatrie keineswegs widerlegt, aber ins Lächerliche gezogen. Gleichwohl musste Dubuffet doch gleichzeitig feststellen, dass »fast die Hälfte der Objekte« in der zu Grunde liegenden Art Brut-Ausstellung »Werke von Insassen psychiatrischer Kliniken« waren.23 Die begriffliche Verwechslung von kranken Künstlern und kranker Kunst, die subjektive Überzeugung, dass zwischen Kunst und Krankheit kein Brückenschlag möglich sei, zieht sich wie ein roter Faden durch die kontroversielle Dubuffet-Rezeption, während bereits Prinzhorn plausibel machte und darin viele kunsttheoretische Nachfolger gefunden hat, dass »ungeübte Geisteskranke, besonders Schizophrene [...] nicht selten Bildwerke« schaffen, »die weit in den Bereich ernster Kunst ragen«, also eine Ähnlichkeit und »engste Verwandtschaft [...] zu der Kunst unserer Zeit« bestehen kann.24 Von einem Vergleich geisteskranker Bildwerke mit Kunst wollte Dubuffet nichts wissen und bezog sich ein für alle Mal auf ein unifizierendes Erklärungsmodell, wonach »die Mechanismen des künstlerischen Schaffens«, über die seine Künstler-Kollegen »mit der Schellenkappe« verfügen, »genau die gleichen sind wie bei jedem sogenannten Normalen«.25 Die Fähigkeit zu künstlerischer Tätigkeit sei »in allen Menschen reichlich vorhanden [...] jedoch durch das Bedürfnis nach sozialer Anpassung [...] gestört und entstellt.«26 Mit dieser auch von Prinzhorn vertretenen These glaubte Dubuffet sich von der lästigen psychopathologischen Differenzierung zwischen »normal« und »anormal« entledigt zu haben und für psychiatrisierte Künstler und Art Brutisten keinen eigenen Begriff, keine »spezielle Klassifizierung«, einführen zu müssen. Für eine differentiell abzuwägende Beteiligung der Psychose an der Kunst war Dubuffet blind. Eine schöne Replik auf diesen Fauxpas, den man auch nicht dem psychiatrisch studierten Breton unterstellen möchte, gibt Leo Navratil: »Man kann psychische Störungen, die die ganze Persönlichkeit nicht verändern, mit körperlichen Krankheiten nicht gleichsetzen. Wir kennen freilich keine Kunst der Magenkranken oder der am Knie Erkrankten; wir kennen aber eine Kunst der Schizophrenen, der Manisch-Depressiven, der Epileptiker und der zerebral Gestörten. Art Brut ist im großen und ganzen doch eine Kunst psychisch schwer gestörter Menschen.«27

Dubuffets Abwehr der psychiatrischen Nomenklatur ging so weit, dass er schon drei Jahre nach seinem Art Brut-Manifest in einem Brief vom

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Dezember 1952 an Robert Volmat, den späteren Begründer der internationalen Gesellschaft für »Psychopathologie des Ausdrucks« (SIPE), bekundete, alle von ihm zwischen 1945 und 1951 gesammelten, unter Art Brut rubrizierten Werke, also auch jene auf der Schweizer Reise aufgespürten wie die von Aloise, Müller und Wölfli, seien keine Kollektion von Werken Geisteskranker.28 Dubuffet bezifferte seine Sammlung zu diesem Zeitpunkt auf ungefähr eintausend Stück von ca. zweihundert Urhebern, die etwa zur Hälfte in psychiatrischen Anstalten versorgt wurden, während die anderen als normal galten.29 Vittorino Andreoli, der sich rühmt, 1966 als einziger Psychiater in der Compagnie de l’art Brut Mitglied sein zu dürfen, resümiert, dass 85% der von Dubuffet gesammelten Werke von psychisch Kranken stammen, womit dessen »Definition von ›art non culturel‹, eng an eine psychische Erkrankung gebunden« sei.30 Trotz dieses hohen Anteils hat Dubuffet, dem immer noch die angeblich »inhalts- und wertlose« Ausstellung im Hospital von Sainte-Anne31 erinnerlich war, keine terminologischen und theoretischen Anleihen bei der Psychiatrie gemacht. Im gleichen Brief an den Psychiater Volmat reklamiert er für seine Art Brut-Kollektion ein ausschließliches Interesse für Werke, die außerhalb aller Rhetorik »eine Art schöpferischen Deliriums« (»une espèce de délire inspirée«) aufweisen.32 Der Begriff des Délire oder Deliriums ist zwar psychiatrischer Herkunft und wurde häufig mit Psychose gleichgesetzt;33 in der Verbindung mit Inspiriertheit und Inspiration nimmt er allerdings mehr eine literarische, philosophische, poetische Bedeutung an, die Dubuffet auf den delirierten Gegenstand beschränkt wissen will. Der Begriff »délire« verliert, wie schon im surrealistischen Sprachgebrauch, seine diagnostisch-psychiatrische Kontur, so dass von Bewusstseinstrübung mit Sinnestäuschungen und Wahnideen nur in einem sehr verallgemeinerten Sinn die Rede ist. Für Dubuffet entscheidend ist die positive, poetische Inspiration des Deliriums. »Die Geisteskrankheit (la folie) entlastet den Menschen, gibt ihm Flügel und befördert offenbar seine seherischen Gaben« (aide à la voyance).34 Als inspiriertes Delirium wird es in die Nähe eines spiritistischen Sehertums gerückt, das von Gesichtern, Eingebungen, inneren Offenbarungen heimgesucht wird. Dubuffet zieht es auf eine Ebene, in die die Psychiatrie nicht mehr hineinreicht. Mit dieser Absicht erweist er sich als Nachfahre des Surrealismus, der bereits in seinem ersten von Breton 1924 formulierten »Manifest« die Geisteskranken (»les fous«) als »Opfer ihrer Einbildungskraft« (victimes de leur imagination«) apos-

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trophiert.35 Gleichzeitig assoziiert das Manifest die Opfer mit ihrer sozialen Ausgegrenztheit, die auch für Dubuffet zu einem Hauptmerkmal der Art Brutisten wird. Breton ergreift für die wegen ihrer gesetzeswidrigen Handlungen und »Nichtbeachtung gewisser Konventionen« eingesperrten Geisteskranken Partei. Er hebt ebenso hervor, dass »sie aus ihrer Imagination einen großen Trost schöpfen und ihr Delirium hinreichend auskosten, um zu ertragen, daß es nur für sie selbst Gültigkeit besitzt.« In der Tat seien »Halluzinationen, Illusionen usw., keine gering zu achtende Quelle des Genusses« (source de jouissance négligeable).36 Folie, Verrücktheit, geistige Verwirrung, Wahn werden damit auf die Positivseite der Imagination, des Möglichkeitssinns der Phantasie, gesetzt. Sie ist im surrealistischen Manifest eine Kriegserklärung an die »Herrschaft der Logik« und die eingefahrenen Denkgeleise des »absoluten Rationalismus« und Positivismus.37 Breton erklärt über zwanzig Jahre vor Dubuffets Plädoyer für die kulturelle Unangepasstheit die Imagination zum Ausweis unserer geistigen Freiheit. »Einzig die Imagination zeigt mir, was sein kann, und das genügt, [...] mich ihr ohne Furcht, mich zu täuschen, zu ergeben [...] Ist für den Geist die Möglichkeit, sich zu irren, nicht viel mehr die Zufälligkeit, richtig zu denken?«38

In der doppelten Charakterisierung der Verrücktheit als soziales Stigma und freie Imagination gebührt Breton die Vorläuferschaft für Dubuffets »antikulturelle Position« im Zeichen einer souveränen schöpferischen Phantasie, die dieser Art Brut taufte. Die Surrealisten haben in ihrem berühmten öffentlichen Brief an die Chefärzte der Irrenanstalten, dem in der Zeitschrift »La révolution Surréaliste« 1925 abgedruckten »Lettre aux médicins-chefs des asiles de fous«, nicht weniger erbittert gegen die Institution der Psychiatrie und ihre »hundert Klassifikationen, von denen die einzig brauchbaren noch die allerunbestimmtesten sind«,39 opponiert als Dubuffet. Der kulturelle Einfluss des psychiatrischen Krankheitsbegriffes und diagnostischen Terminologismus, der mit den vermehrten Kunstausstellungen und Kunstinterpretationen der Psychopathologie in den sechziger Jahren immer dominanter wurde, hat Dubuffet veranlasst, den Akzent auf die soziale Stigmatisierung der Geisteskranken zu verstärken und über einen akzeptablen Ersatz für die unbrauchbaren Termini »folie« und »maladie mentale« nachzudenken.40 Dies ist der Begriff »aliénation« – Entfremdung. Dubuffets zorniges »Plädoyer für die Unangepaßtheit« von 1968 mündete ein Jahr später in dem längeren

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pamphletistischen Essay »Asphyxiante culture« (»Erstickende Kultur«). Dubuffet gibt dem Begriff die Bedeutung eines individualistischen Protestes »gegen alles, was zur Gesellschaft gehört, und vor allem gegen ihre Kultur«.41 Dieser Protest werde häufig für krank gehalten, wenn er »die höchste gesteigerte Form des Individualismus« erreicht42 und eine »antisoziale« oder »asoziale« Funktion anstatt wie üblich eine soziale Funktion erfüllt.43 Dubuffet verschiebt den Entfremdungs-Begriff, soziologisch nicht ganz kongruent, in eine offene, freiwillige, absichtsvolle Handlung (aliénation volontaire), während er die unfreiwillige Entfremdung (aliénation involontaire) dem Leben im geschlossenen gesellschaftlichen und kulturellen System zuschreibt. Hier herrschen Zwang, Ordnung, Institutionalismus und intellektueller Konzeptionalismus, Qualitäten, denen beispielsweise die Psychiatrie frönt. In dieser Polarisierung erkennen wir den früheren Gegensatz von Art Brut und Art Culturell wieder und es unterliegt nun keinem Zweifel mehr, dass die anti- und asozialen Funktionen der Art Brut in der Vorstellung Dubuffets Kreativität besitzen und sich in der Destruktion von kulturellen Werten und gesellschaftlichen Normen, in Antihaltung und Subversion, verwirklichen sollen. Die Bandbreite der Dekultivierung und gesellschaftlichen Disfunktionalisierung signalisieren Stichworte wie Anti-Stil, Anti-Ästhetik, Lachen, Schock, Skandal, Antiprofessionalismus, Antiinstitutionalismus, konstruktiver Nihilismus bis hin zur absoluten sozialen Verweigerung in der autistischen, schizophrenen Geistesverfassung. An dieser »asozialen« Grenze wäre die antisoziale und antikulturelle Einstellung des Individuums ausgelöscht, seine Kommunikation durch völligen Realitätsverlust abgebrochen, der Nihilismus wirkungs- und sinnlos geworden, auch der extreme Individualismus des delirierenden Phantasten und Art Brutisten wäre zu einer autistischen Vereinzelung geschrumpft, wie sie die schizophrene Psychose kennt. Hier gäbe es »keinerlei Reaktion mehr; [...] nichts und niemanden mehr«.44 Hier würde Entfremdung total und erst dann wäre Dubuffet bereit, das Feld für die psychiatrische Diagnose zu räumen.

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Das Potential der antisozialen und antikulturellen Gesten hat Dubuffet in seine Bildwelt, so lange sie es im Gegenständlichen und Figürlichen aushielt, übernommen und gelegentlich über den Titel ikonographisch aus der Schule geplaudert. Sein Gemälde »Volonté de puissance« (»Wille zur Macht«) von 1946 (Abb. 4), wurde als programmatische Anlehnung an Nietzsches Zarathustra, den Zertrümmerer lebensunwerter, verbrauchter Konventionen erkannt, der antikulturelle Künstler als »peintre nietzschéen (Michel Thevoz) und Herold einer »Art Autre« (Michel Tapié) ausgerufen.45 Dubuffets Kulturfeindschaft enthält nicht zuletzt eine Abrechnung mit dem avantgardistischen Konformismus der Nachkriegszeit, wo sich dieser wie in der École de Paris einer peintureversessenen Schönheitlichkeit verpflichtete und der akademischen Manier keine wirklichen Neuerungen entgegen zu setzen vermochte. In der Abb. 4: Jean Dubuffet: Volonté de puisAnti-Peinture und ästhetischen Un- sance, 1946 fertigkeit der von ihm gesammelten Art Brut fand Dubuffet einen großen Teil der Anregungen, die dem epochalen Bedürfnis nach Wandlung und Erneuerung der Moderne entgegen kamen. Er ersehnte einen »Austausch mit kunstloser Dekoration, Anstreicherei, Verkehrsschildern, Plakaten, Absatzspuren im Boden«46 und fand diesen unorthodoxen Umgang mit so vielen Materialien und quer zu den akademischen Trennungen zwischen freier und angewandter Kunst am ehesten in der kulturell marginalisierten Art Brut. In der für »ungekonnt und plump« erachteten Art Brut47 sei er einem unverfälschteren Bild von den »Mechanismen des Denkens« begegnet als in der von Ideen angeleiteten, den Geist der Materie gewaltsam aufdrückenden Kunst aus dem Kopf. Malerei ist demnach ebenso vom Zufall, dem psychischen Automatismus und den halbmechanischen Herstellungsverfahren wie der Collage oder der von Dubuffet vor allem erprobten Grattage bestimmt. Der von Dubuffet so hoch gehaltene Erfindungsgeist ist zum größten Teil ein Findungsgeist, der sich der Entdeckung des Eigenlebens der Materie verdankt. Die sein Gesamtwerk beflügelnde Maxime lautet:

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»Die Kunst soll aus dem Material (le matériau) geboren werden. Das Geistige (la spiritualité) soll die Sprache des Materials annehmen.« Jedes Material habe seine Sprache, sei eine Sprache. Man brauche ihm nicht erst eine Sprache zu geben oder es in den Dienst einer Sprache zu stellen.48 Die Inspiration, der künstlerische Einfall, der Geistesblitz erscheinen umgekehrt als ein aus der materiellen Existenz des Menschen, dem Körper und seiner Lebenswelt, herrührendes Ereignis. Aus gewohnheitsmäßiger idealistischer Weltsicht liegt eine Perversion des Geistes vor. Sie ist aber der Dreh- und Angelpunkt der Avantgarde nach dem zweiten Weltkrieg, die ihre traumatischen Erfahrungen mit dem Versagen von Geist und Kultur vor der BarAbb. 5: Jean Dubuffet: Le reître (links); Vent arbarei mit einer Kehrtwendung rière (rechts), 1954 beantwortete. Das Vertrauen in das alte Herrschaftsverhältnis zwischen Geist und Materie war erschüttert. Die alten Prioritäten hatten enttäuscht. Daher bestand der naheliegende Schritt auch für Dubuffet einerseits in der Wiederaufnahme antiinstitutioneller Positionen, die schon den Dadaismus und Surrealismus nach dem Ersten Weltkrieg motivierten, und andererseits im Rückgang auf ein von Vernunftwahrheiten (vérites de raison) und vom logozentrischen Denken gereinigtes Erfahrungsfundament. In einem Brief an den deutschen Philosophen Wolfgang Welsch hat Dubuffet seine Arbeiten als ein ständiges Dekonditionieren (»déconditionnement«), als einen mit allen Mitteln geführten »Kampf gegen den Logos« bezeichnet.49 Vernunftglaube und Logozentrismus hatten bereits zu Beginn des Jahrhunderts und im Ersten Weltkrieg Risse bekommen. Die Bewusstseinskrise, die dissoziierte Persönlichkeit waren Themen in Literatur und Kunst. Ernst Mach hatte in seiner »Analyse der Empfindungen« (1885) alle Substanzbegriffe in Frage gestellt. Seine Formel »das Ich ist unrettbar« machte die Runde und war nur der Anfang einer Denkrichtung, die sich von der Leitfunktion des Ichbewusstseins und einer Erfahrung apriorisch konstituierenden Instanz befreite. Daher konnte Maurice Merleau-

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Ponty, ein Philosoph der vergangenen zweiten Jahrhunderthälfte, dekretieren: »Die Welt ist da, vor aller Analyse; jeder Versuch, sie herzuleiten [...] bleibt künstlich [...] Die Wirklichkeit ist zu beschreiben, nicht zu konstruieren oder zu konstituieren.«50 Was folgt daraus für den modernen Künstler? »Das Sehen des Malers ist nicht mehr ein Blick auf ein Äußeres, eine bloß ›physikalisch-optische‹ Beziehung zur Welt. Die Welt liegt nicht mehr durch Vorstellung vor ihm. Vielmehr ist es der Maler, der in den Dingen geboren wird wie durch eine Konzentration und ein Zu-sich-Kommen des Sichtbaren.«51

Denken wir dabei an Dubuffet, so scheinen sein Beharren auf der Eigensprache des Materials und der Geburt der Kunst aus dem Material in die gleiche Richtung zu weisen. Nicht dass Dubuffet Philosophie illustriert Abb. 6: Jean Dubuffet: Antonin Artaud hätte, aber zweifellos wirkt sein expeaux houppes, 1947 rimentelles Werk und alles, was er sich als Innovation zuschreibt, aus der Preisgabe geistiger Ordnungen und Prinzipien für ein materielles, körperliches, fleischliches Selbstbewusstsein. Die ihm immer mitgegebene Welt, denn »der Mensch ist zur Welt, er kennt sich allein in der Welt«,52 teilt sich ebenso in der Heterogenität der verwendeten Materialien, den schmutzigen Erden, Pasten, Schwämmen, Kohleschlacken (Abb. 5) seiner Plastik und Malerei mit, wie in der aperspektivischen, unkonstruierten, das Amorphe so wenig wie das Primitive fürchtenden Sicht auf die Wirklichkeit. So wollen seine »Portraits« (Abb. 6) flüchtige Eindrücke als ausgeführte Bildnisse sein. Ihre Gerade-nochÄhnlichkeit ist dem Materialfetischismus der Malerei und der Idée fixe des haptischen Sehens untergeordnet.53 Der Effekt der mit Streichputz, Asche, Kohlenstaub und Sand verdickten und teilweise wieder abgekratzten Malschichten ist eine Art Unmittelbarkeit, die kulturelle Konnotationen der Wirklichkeit wie in den Montagen der Pop Art ausschließt und sich auf das Rohmaterial, eine sozusagen unbearbeitete erste Natur, stützt. Von der zweiten Natur hat sich Dubuffet als Sammler

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und Theoretiker der Art Brut völlig distanziert. Als selbstverantwortlicher Künstler konnte er dem revolutionären Dogma kultureller Enthaltsamkeit nicht folgen, obwohl sein Werk viele Einflüsse, Nachahmungen und Bereicherungen aufweist. Es ist eine widerspruchsvolle Einheit von Eigenem und Fremdem, die zeigt, wie nahe und fern zugleich Dubuffet der Art Brut, die zum größten Teil von psychisch und geistig Kranken stammt, steht. Ihr technischer Aufwand und Materialeinsatz sind im Vergleich zu den »arts culturels« bescheiden oder geradezu ärmlich; ihre spirituelle Entfremdung von der kulturell geprägten Lebenswelt wirkt ungleich intensiver und authentischer im Ausdruck, als die von einer gesicherten, geistig ungefährdeten Warte vorgebrachte Kultursabotage des professionellen Künstlers. So hat Dubuffet recht, wenn er den Verdacht der Art Brut-Mimikry mit der Bemerkung abwehrt: »The artists-brut are people with no art education. That’s not my case. I never managed to rid myself completely of the influence of cultural art. I have tried to attain a spiritual position close to Art Brut, but by an act of will.«54 Art Brut ermangelt dieses Willensaktes. Ihre unfreiwillige Entfremdung, die Dubuffet sonst für das kulturelle Zwangssystem reserviert wissen möchte, will und kann er sich nicht anmaßen. Man kann ihrem künstlerischen Ausdruck nacheifern, dabei wird er zu etwas anderem.

Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9

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Szeemann, Harald: »Die krankhaften Prozesse zeigen uns oft und oft nur die vergrößerten Bilder normaler Verhältnisse«, in: ders.: Individuelle Mythologien, Berlin 1985, S. 84. Ebd. MacGregor, John: The Discovery of the Art of the Insane, Princeton/New Jersey 1989, S. 297, vgl. Abb. 17.5-17.7, S. 299. In: Kurzmayer, Roman: Heinrich Anton Müller 1869-1930. Katalog der Maschinen, Zeichnungen und Schriften, Basel/Frankfurt am Main 1994, S. 187. Haas, Mechthild: Jean Dubuffet. Materialien für eine »andere Kunst« nach 1945, Berlin 1997, S. 59-71. Vgl. das kommentierte Interview von John M. MacGregor mit Dubuffet am 21. August 1976 in der englischen Originalversion. In: Dubuffet, Jean: Prospectus et tous écrits suivants, Réunis et présentés par Hubert Damisch, Tome IV, Paris 1995, S. 41-42. Brief an Artaud vom 15.1.1945, in: Dubuffet, Jean: Prospectus et tous écrits suivants, Tome IV, a.a.O., S. 98. Brief an Chaissac vom 21.5.1947, in: Dubuffet, Jean: Prospectus et tous écrits suivants, Tome II, Paris 1967, S. 249. Haas, Mechthild: Jean Dubuffet. Materialien für eine »andere Kunst« nach 1945, a.a.O., S. 43f.

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Dubuffet, Jean: »Notes pour les fins-lettrés«, in: ders.: Prospectus et tous écrits suivants, Tome I, Paris 1967, S. 54, 464. Dubuffet, Jean: »Anmerkungen für die Schöngeister«, in: ders.: Die Malerei in der Falle, Antikulturelle Positionen, Schriften Band I, hrsg. von Andreas Franzke, Bern/Berlin 1991, S. 80 f. Dubuffet, Jean: Prospectus et tous écrits suivants, Réunis et présentés par Hubert Damisch, Tome IV, a.a.O., S. 87. Ebd., S. 85. Brief an René Auberjonois vom 28.8.1945, in: Dubuffet, Jean: Prospectus et tous écrits suivant, Tome II, a.a.O., S. 240. Das Interview in der englischen Originalversion ist abgedruckt in: Dubuffet, Jean: Prospectus et tous écrits suivants, Tome IV, a.a.O., S. 40-58, hier S. 47. Dubuffet, Jean: »Vorzüge gegenüber der kulturellen Kunst«, 1949, in: Dubuffet, Jean: Die Malerei in der Falle. Antikulturelle Positionen, a.a.O., S. 92f. Ebd., S. 82. Ebd. MacGregor, John: The Discovery of the Art of the Insane, a.a.O., S. 89, 288. Deutsche Ausgabe: »Die Kunst der Geisteskranken. Das Tor zur Freiheit« in: Breton, André: Der Surrealismus und die Malerei, Berlin 1967, S. 318-322. Volmat, Robert: L’art psychopathologique Paris, 1956. Dubuffet, Jean: Die Malerei in der Falle, a.a.O., S. 94. Ebd., S. 93. Prinzhorn, Hans: Bildnerei der Geisteskranken (1922), Neudruck Berlin/Heidelberg/New York 1968, S. 349. Dubuffet, Jean: Die Malerei in der Falle, a.a.O., S. 93. Ebd., S. 109. Navratil, Leo: »Bilder im Kopf«, in: NZZ Folio, Nr. 9, Sept. 1996, S. 54f. Dubuffet, Jean: Prospectus et tous écrits suivants, Tome IV, a.a.O., S. 512. Ebd. Andreaoli, Vittorino: »Die Geschichte der Beziehung zwischen Psychiatrie und Kreativität«, in: Psyche und Kunst, Psychiatrisch-kunsthistorische Anthologie, Kat. anlässlich des XI. Weltkongresses für Psychiatrie in Hamburg 1999, hrsg. von Hans-Otto Thomashoff u. Dieter Naber, Stuttgart/New York 1999, S. 6. Prinzhorn, Hans: Bildnerei der Geisteskranken, a.a.O., S 349. Ebd. Peters, Uwe Henrik: Wörterbuch der Psychiatrie u. medizinischen Psychologie, München/Wien/Baltimore 1977. Dubuffet, Jean: Die Malerei in der Falle, wie Anmerkung, S. 93; Dubuffet, Jean: Prospectus et tous écrits suivants, Tome I, a.a.O., S. 202. Breton, André: Die Manifeste des Surrealismus, Deutsch von Ruth Henry, Reinbek 1968, S. 12. Ebd. Ebd., S. 15. Ebd. Lettre aux Medecins-chefs des Asiles de fous, La Révolution Surréaliste, No 3, 15. Avril 1925, S. 29. Anonym verfasst, Artaud und Robert Desnos zuschreibbar, letzterer war mit Théodore Fraenkel beauftragt, die Erstfassung des Briefes zu realisieren. Der Entwurf von Desnos, mit der abgedruckten Fassung nicht identisch, in: Desnos, Robert: Oeuvre, Ed. établie par Marie-Claire Dumas, Paris 1999, S. 277. Vgl. die Briefe an Jean Benoiston (1963), Jean Revol (1968), Jacques Soisson (1969), Gaston Ferdière (1965) und in Dubuffet, Jean: Prospectus et tous écrits suivants, Tome IV, a.a.O., S. 186, S. 234, S. 195, S. 257. Dubuffet, Jean: Wider eine vergiftende Kultur, Schriften Band II, Berlin-Berlin 1992, S. 100. Ebd., S. 101. Dubuffet, Jean: Prospectus et tous écrits suivants, Tome III, Paris 1995, S. 15. Dubuffet, Jean: Wider eine vergiftende Kultur, a.a.O., S. 111.

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Vgl. die Ausführungen von Haas, Mechthild: Jean Dubuffet. Materialien für eine »andere Kunst« nach 1945, a.a.O., S. 139-144. Dubuffet, Jean: Die Malerei in der Falle, a.a.O., S. 22. Ebd., S. 84. Ebd., S. 27; Dubuffet, Jean: Prospectus et tous écrits suivants, Tome I, a.a.O., S. 57f. »Mes traveaux ont tousjours été conduit dans le sens d’une entreprise de déconditionnement, d’un combat contre le logos. Par tous les moyens«. In: Dubuffet, Jean: Prospectus et tous écrits suivants, Tome IV, a.a.O., S. 387. Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, übersetzt und eingeführt von Rudolf Boehm, Berlin 1966, S. 6. Merleau-Ponty, Maurice: Das Auge und der Geist, Philosophische Essays, Reinbek 1967, S. 34. Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 7. Mechthild Haas hat den komplizierten Herstellungsprozess, der die Desillusionierung und Verkörperlichung der Tableaus bewirkt, mit Hilfe der akribisch geführten Atelierhefte Dubuffets rekonstruiert. Haas, Mechthild: Jean Dubuffet. Materialien für eine »andere Kunst« nach 1945, a.a.O., S. 180f. Im Interview mit MacGregor, in: MacGregor, John: The Discovery of the Art of the Insane, a.a.O.; Dubuffet, Jean: Prospectus et tous écrits suivants, Tome IV, a.a.O., S. 58.

Abbildungen 1 2 3 4 5 6

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Dubuffet, Jean: L'homme à la rose, 1949, Foundation Jean Dubuffet Paris. Müller, Heinrich Anton: A ma Femme. / Jenvoi / ceventre / depuis / si longteng / qu'elle et / Privée de moi, um 1917/19, Bleistift, Kreide, Tusche auf Karton, Kunstmuseum Bern. Chaissac, Gaston: Totem 1961, Öl, Holz (recto), Musée de l'art brut Lausanne. Dubuffet, Jean: Volonté de puissance, 1946, Öl, Leinwand, Guggenheim Museum New York. Dubuffet, Jean: Le reître (links), Vent arrière (rechts), 1954, Schlacke, Schwamm, Collection Sonnabend. Dubuffet, Jean: Antonin Artaud aux houppes, 1947, Öl, Leinwand, Morton G. Neumann Family Collection.

Alfred Schäfer

Die Sprache der Hörner Zur unbestimmten Transzendenz autoritativen Sprechens

Autoritatives Sprechen scheint auf der Grenze der Ordnung situiert zu sein. Selbst noch Bestandteil der Ordnung scheint es von einem Ort her zu geschehen, der sich – vermittelt über eine die Ordnung selbst transzendierende Referenz – zu ihr noch einmal in ein abwägendes Verhältnis setzt. Die Geltung des Ordentlichen, des Richtigen, Vernünftigen, Wahren oder Akzeptierten, die autoritativ bekräftigt oder ausgelegt wird, verweist auf einen Grund, der diesem immer schon voraus liegt – und der dennoch von der Autorität in Anspruch genommen wird. Diese Figur, im Namen der Ordnung mit der Autorität eines ihr nicht unterliegenden Grundes zu sprechen, erscheint auf den ersten Blick als vormodern. Der Rückgriff auf transzendente Grundlagen scheint auf abergläubische und religiöse Vorstellungen zu verweisen, die durch eine neue Autorität, die des wahren Wissens abgelöst worden sind. Eben diese Autorität des wahren Wissens gilt dann als gewährleistet, wenn der Grund des Wissens im Wissen selbst gegeben ist. Es ist jedoch nicht schwer zu sehen, dass diese Selbstgründung des Wissens, die mit ihr behauptete Gleichsetzung von Immanenz und Transzendenz, selbst noch an einem (in Hinblick auf die immanenten Ordnungen der Welt) transzendenten (und/oder transzendentalen) Ort aufgehängt werden muss. Das sich wissende Wissen muss als Teil der menschlichen Ordnung zugleich deren Grenze bilden: Als bloßer Teil würde es sich – wie in der heutigen Wissenschaftskritik – als sozial, d.h. in Machtverhältnissen und Auseinandersetzungen hervorgebrachtes und damit nicht mehr in sich selbst gründendes zeigen. Nur wenn die Fiktion einer möglichen Selbstgründung des Wissens aufrechterhalten werden kann, scheint es eine un29

Alfred Schäfer

antastbare Autorität beanspruchen zu können. Dafür aber muss das Wissen selbst zum immanenten und zugleich der Immanenz entzogenen, auf sich selbst als transzendenten Ort bezogenen Faktor werden. Damit aber ist wiederum nichts anderes angegeben als jene scheinbar vormoderne Figur. Und es stellt sich die Frage, ob nicht die Autorität des (wissenschaftlich erzeugten) Wissens jenen Ort besetzt, der einmal dem Sprechen im Namen einer unbestimmten und unbestimmbaren Transzendenz vorbehalten war – einem Sprechen, das ›ohne Autorität‹ im Namen einer es immer schon überschreitenden Geltung statthat. Die Tendenz zu einer positiven Beantwortung dieser Frage würde nicht nur das Problem des Anderen aufwerfen, von dem her sich das Wissen als Wissen verstehen kann, sondern auch noch die Frage des (eigenen) Ortes, von dem her diese Problematik überhaupt aufgeworfen werden kann.

1 Mit Autorität sagen zu können, worum es sich handelt, was richtig oder falsch ist, was zu tun und was zu lassen ist – dies scheint (wohl nicht erst in der Moderne) auf eine begründbare und daher auch von anderen akzeptierbare Position zu verweisen.1 Anspruch auf Autorität scheint nur der zu haben, dessen Wissen oder auf Erfahrung gegründete Meinung akzeptiert wird. Autorität muss man sich verdienen. Ihre Akzeptanz durch den Adressaten wiederum scheint mit dem Eindruck zu tun zu haben, dass der Sprecher sein Wissen und seine Erfahrung nicht strategisch einsetzt, dass er sie nicht als Mittel zu anderen Zwecken gebraucht. Ein Arzt, der sein Wissen dazu verwendet, den Kranken möglichst lange im Zustand der Krankheit zu belassen, um an ihm zu verdienen, scheint seine Autorität ebenso zu verwirken wie derjenige, bei dem man nicht gesund wird. Jemand, der seine persönlichen Erfahrungen einsetzt, um andere in seinem und nicht in ihrem Sinne zu beeinflussen, wird seine Autorität gegenüber Ratsuchenden verlieren. Anspruch auf Autorität scheint also nicht nur der zu haben, der über ein überlegenes Wissen oder Lebenserfahrung verfügt, sondern der dieses Wissen und diese Erfahrung auch aufrichtig zum Wohle des Anderen oder der Gemeinschaft einsetzt. Jemand, der diese Bedingung nicht erfüllt, verliert nicht nur seine Autorität, sondern seine nun als Herrschaftsanspruch wahrgenommene Anweisung oder sein Rat werden zurückgewiesen. 30

Die Sprache der Hörner

Autoritatives Sprechen scheint demnach an mindestens zwei Akzeptanzbedingungen gebunden zu sein: an Kompetenz qua Wissen oder Erfahrung und an die Authentizität ihres nicht-egoistischen Gebrauchs. Das Problem dieser Akzeptanzbedingungen besteht nun darin, dass nicht nur ihre Erfüllung schwer zu überprüfen ist, da etwa ein Ratsuchender oder Abhängiger mit der Kompetenz nicht auch über deren Anwendungsbedingungen verfügen kann. Er kann nur ›glauben‹, dass der autoritative Sprecher kompetent und aufrichtig ist: Gefordert ist von ihm ein Vertrauen, das letztlich ›blind‹ bleibt. Sollte Misstrauen auftauchen, kann er häufig dessen Gründe nicht selbst benennen, sondern muss einen anderen Fachmann aufsuchen, dem er dann wiederum ›blind‹ vertrauen muss, damit sich seine vielleicht bleibende Skepsis beruhigt. Ist so von der Seite des Adressaten her gesehen, ohne dessen Akzeptanz es keine Autorität gibt, kaum überprüfbar, ob Kompetenz und Authentizität wirklich vorliegen, so erhält das Problem eine systematische Wendung vor allem dadurch, dass auch derjenige, der mit Autorität zu sprechen beansprucht, sich der Erfüllung eben dieser Bedingungen selbst nicht sicher sein kann. Niemand kann sich hundertprozentig sicher sein, dass seine Diagnose einer Situation richtig ist, dass die von ihm (im Sinne eines Regelwissens) vorgenommene Umgangsperspektive zum einen auf die richtige Regel zurückgreift und zum anderen eine adäquate Umsetzung bzw. Neuerfindung dieser Regel darstellt.2 Wissenschaftliches Wissen als Horizont neuzeitlich akzeptierten Regelwissens und damit auch autoritativen Sprechens scheint sich zudem immer mehr in perspektivische, plurale und kleinteilige Konzepte aufzulösen, deren Wahrheitsbehauptung sich irgendwo zwischen der Scylla von Wahrheitspolitiken (im Sinne Foucaults3) und der Charybdis einer mitlaufenden ›docta ignorantia‹ zu verlieren scheint. Darüber hinaus gilt: Wissenschaftlich erzeugtes Wissen ist abstraktes Wissen und bleibt bezogen auf den Einzelfall immer problematisch. Dessen Singularität mit Hilfe von Regelwissen gerecht werden zu wollen, verlangt paradoxerweise die Negation eben dieser konkreten Singularität. Und auch der Rückgriff auf eine so genannte Erfahrung scheitert. Zum einen muss jeder seine eigenen Erfahrungen machen; ihre subjektivierende Kraft, ihre Bedeutung für das eigene Selbstverständnis kann nicht übertragen werden. Dies liegt zum anderen daran, dass das Erfahrene niemals vollständig begriffen werden kann. Wer die Bedeutung, die ein Widerfahrnis für ihn hat, auszudrücken, zu fassen versucht, der verstrickt sich in einer Paradoxie des Ausdrucks, da die nachträgliche Be31

Alfred Schäfer

deutungsverleihung immer eine verschiebende Übersetzung darstellt, die als solche das Bedeutsame zugleich aufschließt und verfehlt.4 Man steht damit vor folgendem Problem: Die der autoritativen Mitteilung qua Wissen und Erfahrung zugrunde liegende Sicherheit muss also kommuniziert werden, ohne dass sie vom Sprechenden eingeholt werden könnte. Man könnte nun vermuten, dass ein Ausweg aus diesem Problem in der Aufrichtigkeit des Sprechers, seinem aufrichtigen Bekenntnis der Unsicherheit seines Wissens und der Relativität dessen, was er als seine Erfahrung versteht, liegen könnte. Die Autorität seines Sprechens könnte also auf genau diesem Eingeständnis der Unsicherheit hinsichtlich der Grundlagen seines Sprechens beruhen: Das kommunizierte Wissen um die Relativität seines Wissens und seiner Erfahrungen könnte zur Grundlage des Vertrauens beim Adressaten werden. Dies mag empirisch immer möglich sein. Will man jedoch einen Gültigkeitsanspruch für das autoritative Sprechen jenseits von Täuschung und blinder Akzeptanz behaupten, hilft auch ein solches Eingeständnis als Dokumentation seiner Authentizität dem Sprecher selbst kaum weiter. Auch ein solches Sprechen unterliegt – gerade dann, wenn es authentisch sein will – noch jener Paradoxie des Ausdrucks, der Übersetzung eines als für sich selbst bedeutsam eingeschätzten Sachverhalts in die Register der Sprache, in der es sich verfehlt und sich zugleich für den Anderen zur Disposition einer es verfehlenden Interpretation des Ausgesagten stellt. Für den mit einem zugemuteten Anspruch auf Autorität Sprechenden bedeutet dies, dass er sich auch der Aufrichtigkeit des von ihm Gesagten selbst nicht sicher sein kann. Er kann Aufrichtigkeit selbst nur kommunizieren, ohne sich sicher sein zu können, sie überhaupt zu haben. Die neuere Sozialphilosophie hat darauf hingewiesen, dass unsere Verständigung im Medium der Sprache Grenzen hat, die gerade dann deutlich werden, wenn wir etwas für uns Bedeutsames kundtun wollen. In solchen Fällen tritt eine Differenz in Erscheinung, die bei StandardKommunikationen latent bleibt: Wir sagen immer zu wenig, um die konkrete Bedeutung, die etwas für uns hat, (auch für uns selbst) ausdrücken zu können. Und wir sagen immer schon zuviel, weil der Hörer, an den wir uns wenden, aus dem Gesagten über die eigene Bedeutungszuweisung etwas verstehen wird, was in unserem Sagen nicht intendiert war. Zwischen unserem Sagen und dem Ausgesagten tut sich eine Kluft auf.5 Was autoritatives Sprechen meint, scheint kaum begründet vorstellbar zu sein, wenn man keine rationale Grundlage in Wissen und Erfahrung 32

Die Sprache der Hörner

zu finden vermag und wenn man über seine Rede und so über die Möglichkeit der Authentizität nicht verfügen kann. Wenn autoritatives Sprechen weder in einer ›objektiven‹ Abstützung des wissenschaftlichen wie des Erfahrungswissens noch in der subjektiven Authentizität gegründet sein kann, dann stellt sich die Frage nach dem Ort einer autoritativen Rede. Dieser Ort scheint ein Nicht-Ort zu sein, eine Differenz: diejenige von Sagen und Gesagtem, von Bedeuten und Bedeutung. Es ist die Unmöglichkeit, diese Differenz aufzuheben, die ein ›blindes‹ Vertrauen ebenso erforderlich macht wie sie die Hilflosigkeit anzeigt, Begriffe, die das Autoritative einzufangen versuchen, auf eine feste Grundlage zu stellen. Solche Begriffe wie etwa Charisma oder auch Kompetenz suggerieren nur die Einheit der Differenz, ihre Überbrückung und Auflösung und sie tun dies ohne jede Grundlage. Die Authentizität in der Proklamation eines vermeintlich bestimmten Wissens, die Authentizität, die diesem Wissen erst seine Bestimmtheit geben soll, ist genau in dieser Differenz angesiedelt: Mit ihr kann nicht viel mehr gemeint sein als eine unmögliche Verhältnisbestimmung (von Sagen und Gesagtem), zu der sich der autoritative Sprecher verhalten soll, ohne es begründen zu können. Eine solche Auffassung bricht mit dem aufklärerischen Modell eines weltbegreifenden, sich selbst transparenten und sich ›clare et distincte‹ ausdrückenden Sprechers, an das sich die Vorstellung der Möglichkeit einer direkten und transparenten Kommunikation anschließt.6 Diese aufklärerische Vorstellung geht immer schon davon aus, dass das Wissen, welches aufrichtig und transparent kommuniziert wird, als begründet und wahr angenommen werden kann, dass es nicht auf Fiktionen oder Einbildungen beruht. Sie postuliert eine klare Trennungslinie zwischen einem gewissen Wissen und bloßen Vermutungen, an deren Geltung nur ›blind‹ geglaubt oder bis hin zu wahnhafter Übersteigerung festgehalten werden kann. Eben diese Trennungslinie aber scheint im Fall des autoritativen Sprechens kaum aufrecht zu erhalten zu sein. Das aufklärerische Modell war allerdings schon von Kierkegaard in Frage gestellt worden. Kierkegaard ging davon aus, dass uns die Sprache nur erlaubt, im Modus der Möglichkeit über Sachverhalte zu sprechen. Der Modus der Möglichkeit bezeichnet für ihn ein abstraktes Sprechen – eine Rede, die einen begrifflichen Allgemeinheits- und Typisierungsgrad aufweist, der mit dem, was den konkreten Menschen existenziell betrifft, nichts zu tun hat.7 Kierkegaard zieht aus diesem Sachverhalt, der gerade auch das autoritative Sprechen mit Hilfe einer wissenschaftlichen Ter33

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minologie (und damit jede wissenschaftlich induzierte Beratung in schwierigen Lebenslagen) betrifft, den Schluss, dass eine direkte Kommunikation in existenziellen Dingen zwischen konkreten Menschen nicht möglich sei. Was bleibe, sei allein die indirekte Mitteilung, mit der man den Anderen darauf aufmerksam machen könne, dass er sich um seine eigenen Dinge kümmern solle, ohne dass ihm dabei verallgemeinerbares Wissen weiterhelfen könne. Orientiert an der sokratischen Elenktik, die durch Prüfung von Aussagen in eine Aporie führt, die als solche in Kierkegaards Augen gerade die abgründige Freiheit des Einzelnen offenbart, sich ohne verallgemeinerbaren Grund entscheiden zu müssen, verweist Kierkegaard darauf, dass auch derjenige, der den Einzelnen in diese Wahrheit hineintäuschen müsse, ›ohne Autorität‹ sei.8 Er hat hinsichtlich der konkret-singulären Entscheidung des Einzelnen keine inhaltlich begründbare Wahrheit mitzuteilen und sein Adressat kann auch eine solche Wahrheit nicht für sich entdecken. Was er mitteilen kann, ist, dass es eine solche Wahrheit (im Rahmen eines alltäglichen Orientierungswissens, aber auch eines wissenschaftlich beglaubigten Wissens) für den Anderen in dieser konkreten Situation nicht gibt und dass man sich gerade dazu verhalten muss. Kierkegaard radikalisiert (vor religiösem Hintergrund) gleichsam das Problem der Differenz von Aussage und Ausgesagtem, der Sprache und dem in ihr nicht Sagbaren, derart, dass eine Kommunikation über ›Persönliches‹, ›Existenzielles‹ nicht möglich erscheint. Aufklärung im Horizont vernünftigen Argumentierens, begründbare Beratung und pädagogisches Handeln kommen hier an eine Grenze.9 Kierkegaard bestreitet die Möglichkeit eines autoritativen Sprechens in Dingen, die die konkrete Lebenswirklichkeit eines Menschen betreffen – und zwar unabhängig davon, ob für ein solches Sprechen eine ›persönliche‹, eine ›wissenschaftliche‹ oder ›religiöse‹ Autorität in Anspruch genommen wird. Der Ort, von dem her gesprochen werden kann, bleibt letztlich ebenso unbestimmbar wie der Ort desjenigen, an den sich die indirekte Mitteilung richtet. Jeder Bestimmungsversuch wäre für Kierkegaard nur im Modus der Möglichkeit realisierbar, der eben die konkrete ›Unmittelbarkeit‹ nicht zu erreichen vermag bzw. diese zum bloßen Fall einer allgemeinen Regel oder Situation verfälschen muss. Wie ist also vor dem Hintergrund einer solchen Analyse überhaupt so etwas wie ein inhaltlicher Rat, eine Orientierungsgabe mit autoritativem Anspruch möglich? Man mag sich damit behelfen, dass man sagt, dass so etwas doch allenthalben stattfindet, dass dies sogar (mit wissenschaft34

Die Sprache der Hörner

licher Autorität) professionell geschieht und dass die Menschen sich doch auch daran halten. Wissenschaftlich abgestützte Beratung habe längst die religiös legitimierte Seelsorge ersetzt. Das mag so sein, doch teilt sich die wissenschaftlich legitimierte mit der religiös motivierten Lebenshilfe das Problem der stellvertretenden Autorität: Der Berater spricht im Namen einer Wissenschaft, die nicht eine ist, sondern sich aus unterschiedlichsten theoretischen Weltentwürfen zusammensetzt, zu denen ständig mit Hilfe des kritischen Prozedierens, das für Wissenschaft kennzeichnend ist, neue hinzu kommen: Er spiegelt eine Sicherheit vor, die durch Wissenschaft so nicht abgestützt werden kann. Man verweist gerade in diesem Zusammenhang darauf, dass Wissenschaft Religion und deren vermeintlich feste Orientierung nicht zu ersetzen vermag. Aber auch die Religion gibt es nur in der Differenz von unerkennbarem göttlichen Ratschluss und menschlicher Auslegung. Auch hier ist die Autorität nur eine geborgte und als solche auf eine ›Naivität‹ beim Adressaten angewiesen, der die typisierende Auslegung mit seiner eigenen singulären Stellung vor Gott kurzschließt. Unabhängig davon, dass in beiden Beratungsstrategien mehr Autorität beansprucht wird, als eingelöst werden kann, ergibt sich eben das von Kierkegaard behauptete Problem, dass die Singularität, die konkrete Einzelheit des Adressaten nicht erreicht werden kann. Das schließt nicht aus, dass sich dieser Adressat schließlich selbst als einen Fall versteht, der in einer typischen Situation steckt, in der wiederum bestimmte Regeln gelten. Diese Abstraktion von konkreten emotionalen Zuständen, von Gefühlen der Ausweglosigkeit usw. wird ermöglicht durch die Akzeptanz der ungedeckten Autorität des beratenden Sprechers. Das Vertrauen in seine Autorität ermöglicht die Selbstdefinition ›im Modus der Möglichkeit‹ und damit klare Wahlalternativen, wie mit der entstandenen Situation umzugehen sei. Und man wird dies akzeptieren müssen, ohne die existenzialistische Keule einer ›Uneigentlichkeit‹ oder den aufklärerischen Vorwurf einer Selbsttäuschung hervorholen zu müssen. Aber dennoch kann man die Frage stellen, inwieweit eine Beratung, eine Orientierungshilfe in ›existenziellen Fragen‹, vorstellbar ist, die die Unbestimmtheit der beratend-bestimmenden Autorität sowie deren unmögliche Authentizität transparent macht und so (im Sinne Kierkegaards) den singulären Einzelnen in Beziehung zu einer (unbestimmten) Autorität jenseits der sozialen Autorität bringt – eine Beziehung, die ihn auf sich selbst als grundlosen Grund der eigenen ›Wahl‹ zurückwirft. 35

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Eine solche Fragestellung verweist auf ein moralisches Problem, das – wie man ebenfalls bei Kierkegaard lernen kann – mit moralischem Regelwissen nicht lösbar ist. Mit einer ›geliehenen Autorität‹ zu sprechen, ohne dass dies als eigene Autorität beansprucht werden könnte – darin scheint das so bezeichnete Problem einer autoritativen Rede zu bestehen. Eine solche Figur ist etwa dann gegeben, wenn sich jemand als Sprachrohr einer Autorität – sei es die Wissenschaft oder Gott – darstellt: einer Autorität, die ihn überschreitet, der er nicht gerecht werden kann und deren Autorität gerade darin gründet, dass man ihr nicht gerecht werden kann. Eine solche Figur ist gefährlich: Sie lädt zur Ausnutzung geradezu ein, weil die Grenze zwischen Wissen und wahnhafter Übersteigerung nicht mit Gewissheit zu ziehen ist. Diese Grenzziehung unterliegt selbst wiederum dem Problem der autoritativen Rede. Sich als unvollkommenen Stellvertreter einer Autorität darzustellen, die als System des Wissens oder als göttliche Weisheit alles Einholbare übersteigt – das klingt nach der geforderten Unterwerfung des endlich-irdischen Menschen und damit nach Auflösung jeder Form möglicher Selbstbestimmung. Das ›Verschwinden des Menschen‹ durch seine funktionale Definition als Sprachrohr des Heiligen scheint deshalb gefährlich zu sein, weil aus einem solchen Verständnis das unumgängliche Verhältnis des Sprechers zum Heiligen ausgeschlossen wird. Genau in diesem Verhältnis aber entsteht jener Raum, in dem die Problematik der Autorität ihren Ort hat. Das Verhältnis zu den Bedingungen der eigenen Autorität müsste also als eines inszeniert werden, das einerseits als nicht-verfügbares nicht ein eigenes und andererseits gerade dadurch ein eigenes ist. Der Charakter des ›Inszenierens‹ scheint dabei wichtig zu sein, weil sich der Nicht-Ort der autoritativen Rede eben nicht selber durch den (epistemischen) Verweis auf Wissen und Erfahrung begründen lässt. Wie eine solche Inszenierung aussehen könnte, möchte ich nun an einem ethnographischen Beispiel vorführen. Dabei erscheint mir bedeutsam, dass die transzendente Instanz als Bezugspunkt des autoritativen Sprechens negativ, unbestimmbar bleibt und gleichzeitig (das ist wohl eine vormoderne Implikation) für den in ihrer Spur Sprechenden ebenso verbindlich ist wie für den Adressaten. Wenn ich (trotz der vormodernen Implikate, die sich möglicherweise mit Blick auf institutionelle Formen autoritativen Sprechens als gar nicht so vormodern erweisen könnten) auf ein ethnographisches Beispiel zurückgreife, so vor allem deshalb, weil dessen Interpretation auf jene Probleme zurückführt, die hier mit Verweis auf Kierkegaard und auf die Differenz von Sagen und Gesagtem angesprochen 36

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wurden: auf die Probleme eines autoritativen Sprechens, das zur Autorität, in deren Namen es spricht, immer schon in einem Versetzungs-, Verschiebungs- und damit unautorisierten Verhältnis steht.10 Genau diese systematisch bedeutsamen Probleme sollen deutlich werden, ohne dass damit eine universale Logik behauptet werden soll, nach der sich die Paradoxie des autoritativen Sprechens ›ohne Autorität‹ verstehen ließe.

2 Kirimo ist der Name der ›göttlichen Stimme‹, die sich bei den Batemi (Sonjo) in Nordtansania einmal im Jahr anlässlich des mase-Festes vernehmen lässt. Geschützt von Kriegern der ersten beiden Altersklassen erreicht diese ›Stimme‹, deren Klang durch das Blasen von Hörnern der großen Kudu-Antilope erzeugt wird, ohne dass diese Hörner von NichtInitiierten gesehen werden dürften, das Dorf. Dort gibt es eine uneinsehbare Umfriedung, in der sich die Bläser postieren. Ringsherum bilden die Krieger Schutzreihen, bis zu denen Nicht-Initiierte sich nähern können. Immer wieder wandelt sich das von getragenen Gesängen begleitete Geschehen in eine plötzlich einsetzende Jagd der Krieger auf nichtinitiierte Kinder und Frauen, denen bei einer nicht erfolgreichen Flucht Stockschläge drohen. Im Rahmen dieses Festes findet auch die Initiation der jungen Männer zu Kriegern einer neuen Altersklasse statt. Und auch hierbei ist Kirimo von zentraler Bedeutung. Die Konfrontation mit den Hörnern der großen Kudu-Antilope, mit deren Hilfe der Klang der ›göttlichen Stimme‹ hervorgebracht wird, bildet den entscheidenden Bestandteil dieser Initiation. Die Hörner sind eines der bedeutsamsten Geheimnisse der Batemi, das allein den Initiierten bekannt sein darf. ›Die göttliche Stimme‹11 wird von einem älteren Mann übersetzt sowohl im Prozess der Initiation wie auch in bestimmten Phasen des maseFestes, in denen sich Männer wie Frauen mit Problemen an Kirimo wenden können und die Stimme der Hörner ihnen dann eine Antwort wie eine Lösungsmöglichkeit ihres Problems in Form eines Opfers vorschlägt. Diese Übersetzung des Klangs wird von niemandem in Frage gestellt; sie erscheint den Beteiligten (sowohl den initiierten Männern wie auch den fragenden Männern und Frauen – wenn auch sicherlich aus unterschiedlicher Perspektive) als mit göttlicher Geltung ausgestattet. 37

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Bei der Übersetzung handelt es sich nicht um die einfache Weitergabe einer (vielleicht auch noch – wie im alten Testament – personifizierten) göttlichen Nachricht durch einen Auserwählten. Es handelt sich auch nicht um eine kodifizierte Übertragung einer Notenfolge in Worte: Dazu würde das Klangspektrum der niemals präzise zu blasenden Hörner nicht hinreichen. Das Interpretationsproblem scheint also unvermeidlich und mit ihm auch Zweifel an der Geltung der Übersetzung. Eine solche Vermutung scheint sich noch zu verstärken, wenn man hinzunimmt, dass Kirimo selbst für etwas Anderes steht: nämlich für eine plurale Welt transzendenter Wesen, und dass Kirimo zugleich in sich selbst (als unterschieden von dieser Pluralität) noch einmal plural strukturiert ist; Zur Frage der richtigen Interpretation des Gesagten kommt also noch die Frage nach der Identität des Sprechenden hinzu. In den folgenden Überlegungen möchte ich zu zeigen versuchen, dass es gerade die schwierige Identifikation des Anderen ist, wofür Kirimo steht, die hier weiter zu helfen vermag. Dies mag paradox klingen: Es soll mithin gerade die Unbestimmtheit der Transzendenz sein, die das Übersetzen ihrer Äußerungen nicht nur notwendig macht, sondern diese Übersetzungen auch noch in ihrer Geltung stützt. Ich werde diese These in zwei Schritten zu erläutern versuchen. Zunächst werde ich die Unbestimmtheitsthese explizieren und die Rolle der Übersetzung der Stimme Kirimos während der Initiation und anlässlich seiner Befragung durch die Frauen während des mase-Festes skizzieren. Dabei werde ich zu zeigen versuchen, dass die Initiation durchaus als Ermöglichungsbedingung der Übersetzung gesehen werden kann, insoweit jene verständlich macht, dass die Wahrheit der Hörner sich gleichsam kausal12 in die Interpretation hinein verlängert (3). Im Anschluss daran werde ich einen Interpretationsvorschlag unterbreiten, der gerade die Unbestimmtheit des in der Übersetzung Gesagten zur Grundlage seiner Geltung macht. Dieser Vorschlag, der sich auf das Konzept des Supplements bei Derrida13 stützt, erlaubt es, die Übersetzungsproblematik, die in der These einer ›kausalen Wahrheit‹14 neutralisiert erscheint, stärker zu berücksichtigen (4).

3 Die Batemi verfügen über ein Pantheon transzendenter Wesen. An zentraler Stelle stehen Ghambarishori, der Himmel und Erde trennte, Rioba, 38

Die Sprache der Hörner

die Sonne, die als ›Sohn‹ Ghambarishoris die menschliche Kultur (verstanden als Generationenfolge) auf die Erde brachte, sowie Ghambageu, ein Kulturheros als Nachfahre Riobas, dem die Einführung zahlreicher sozialer Einrichtungen zugerechnet wird.15 Auch wenn diese Aufzählung ergänzungsbedürftig ist, so stellt sich doch bereits hier die Frage, wessen Stimme denn nun Kirimo darstellt. Diese Frage stellt sich umso mehr, als schon die erwähnten drei Gestalten in den mythischen Selbstvergewisserungen der Batemi durchaus nicht immer am selben Strang ziehen. Die Hörner selbst werden nicht durch ein göttliches Wesen in die Kultur der Batemi eingeführt. Ihre Herkunft bleibt zufällig. Man habe früher auch solche Hörner als ›Grabstöcke‹ benutzt, bis ihre Spitze abgebrochen sei. Dann habe man sie weggeworfen. Als aber einmal der Wind durch ein solches Horn geblasen und Töne erzeugt habe, glaubten die Männer, die ›Stimme Gottes‹ gehört zu haben. Sie entdeckten schließlich die Quelle des Klangs und verbargen sie vor den Frauen. Eine Frau, Nankone, die die Hörner entdeckte, wurde darauf verpflichtet, das Geheimnis der Hörner nicht zu verraten. Dass die Stimme der Hörner ihre Herkunft nicht jenen Wesen verdankt, die in den Gebeten der Batemi angerufen werden, verweist auf ihre relative Unabhängigkeit. Diese wird noch dadurch verstärkt, dass sie als Kirimo noch einmal dezentriert wird: Die tiefen Töne werden mit einem männlichen Wesen namens Egantwalu identifiziert, das während der Initiation die Novizen verschlingt. Die hohen Töne bilden die Stimme jener Nankone, die als zuständig für die Wiedergeburt der Novizen als Krieger angesehen wird. Die leisen Töne werden mit Karawadeda, einem kindlichen Wesen verbunden, das geschlechtsneutral zu sein scheint. Außerdem wird noch Egansiligar als männliches Wesen genannt, das manchmal mit Egantwalu identifiziert wird. Die Hörner, selbst Sitz heiliger Wesen, bilden in ihrem Klang weder einfach das Sprachrohr einer zentralen göttlichen Instanz, die den Götterhimmel zur Einheit bringen würde; noch sind sie als eigenständig und unabhängig gegenüber den übrigen transzendenten Wesen zu begreifen. Die Verbindung bleibt unklar. Eine solche relative Eigenständigkeit der Stimme als göttlichem Wesen, also als etwas, das für sich selbst spricht, wird außerdem dadurch problematisch, dass sie sich selbst wiederum in eine Konstellation von Wesen auflöst, die durch unterschiedliche Funktionen sogar gegeneinander definiert sind. Man kann die Hörner daher wohl eher als einen materialisierten Verweisungszusammenhang begrei-

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fen, der als solcher offen bleibt, der die Transzendenz, auf die er verweist, unbestimmt lässt. Es ist die Stimme der Hörner, die von den Novizen im Rahmen der Initiation beschämende Dinge verlangt, die das bisher für selbstverständlich Gehaltene auf den Kopf stellen: Sie sollen Frauentätigkeiten ausführen oder ihren Vater beleidigen, vielleicht sogar schlagen. Die Transzendenz erweist sich so als das der sozialen Ordnung nicht Unterliegende, und die soziale Ordnung zeigt sich als kontingente gegenüber ihren Grundlagen. In einem anschließenden Schritt zeigen sich die Hörner als diesen Grundlagen verpflichtet: Die Initianden werden nach Verfehlungen gegenüber der sozialen Ordnung befragt. Nach einigen Inszenierungen, in denen man den Novizen drastisch androht, dass sie von ›Gott‹ verschlungen werden, werden diese dann zum ersten Mal die Hörner, die bis dahin verdeckt unter Lederumhängen geblasen wurden, zu Gesicht bekommen. Beim Anblick der Hörner brechen die bereits initiierten Krieger in Weinkrämpfe, Zittern und ekstatische Zuckungen aus: Sie werden von Kirimo ergriffen – ihr Innerstes, die Möglichkeitsbedingung ihres männlichen Daseins tritt ans Licht. Den Novizen wird nun die Herkunft der Hörner erklärt sowie ihre Bedeutung als Stimme Gottes. Das Horn in dieser Bedeutung habe die Kraft, aus Kindern Männer zu machen. Man erläutert ihnen die wichtigsten Aufgaben und Verhaltensweisen eines Kriegers. Die Hörner bilden anschließend jenen heiligen Gegenstand, über den ein Fluch über diejenigen ausgesprochen wird, die dessen Geheimnis verraten. Dieses Geheimnis haben die Novizen von nun an als ihr Innerstes zu betrachten, als etwas, das ebenso wie das Geschlecht der Frauen niemandem gezeigt werden darf. Durch Kirimo wird man als Kind zerstört wie als Mann geboren. Am Ursprung der männlichen Identität liegt die Differenz (wie sie sich in Egantwalu und Nankone ausdrückt, wie sie aber auch in der Konfrontation mit den – durch den zerstörerischen und aufbauenden Doppelcharakter einsichtigen – kontingenten Grundlagen der eigenen kulturellen Regeln gegeben ist). Kirimo bildet ebenso das Andere des eigenen Selbst wie auch das Andere der Batemi-Kultur.16 Nicht der Mann verfügt von nun an über das Geheimnis, sondern das Geheimnis verfügt von dem Moment seiner Mannwerdung an über ihn. Die Kindheit als naives Vertrauen in den kulturellen Regelzusammenhang ist nun vorbei, ohne dass die durch Kirimo konstituierte neue Identität als Bruch mit der gleichzeitigen sozialen Identität jemals eingeholt werden könnte.

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Während des mase-Festes, in dessen Rahmen auch alle sieben bis zehn Jahre die Initiation stattfindet, kommen die Hörner ins Dorf. Sie halten, umrahmt von Kriegern, Einzug in das Dorf, wobei sie zumeist von zwei Kriegern geblasen werden, die sie – verdeckt durch den üblichen Lederumhang – erklingen lassen: Sie sind nicht sichtbar. Jedes Dorf hat neben einem Haus, in dem die Hörner aufbewahrt werden, einen Platz für das mase-Fest, auf dem auch eine durch in die Erde gerammte Baumstämme geschaffene Umfriedung steht, innerhalb derer die Hörner geblasen werden. Im Rahmen des Festes, das sich über mehrere Tage erstreckt und durch eher getragene Gesänge und Tänze gekennzeichnet ist, besteht nun auch die Möglichkeit für Frauen,17 Kirimo aus Anlass von Problemen wie Krankheiten und Streitigkeiten in der Familie oder Missgeschicken zu befragen. Sie wenden sich hierbei nicht direkt an die Hörner, sondern an einen älteren Mann, der als Übersetzer der Stimme auftritt. Dieser wird sich dann – meist am folgenden Tage – an Kirimo wenden, ihn befragen und seine Antwort übersetzen. Bei dieser Befragung bilden die Krieger um die Behausung der Hörner mehrere dicht gestaffelte Ringe, wobei sie mit dem Gesicht zu den Hörern stehen und so einen drohenden Schutzwall verkörpern. Der Übersetzer steht außerhalb dieser Ringe, so dass er von den Frauen und Kindern, die in etwa 10-15 Metern Entfernung und außerhalb eines Schutzrings gegenüber Nicht-Initiierten stehen, gesehen werden kann. Er beginnt nun, Kirimo anzurufen und ihm den Fall zu schildern, der an ihn herangetragen wurde. Es entwickelt sich ein Wechselgespräch zwischen ihm und den Klängen der Hörner, das abschließend in ein Gebet übergeht, das vom Übersetzer intoniert wird und in das die Krieger interpunktierend und verstärkend einfallen. Anschließend geht der Übersetzer zu der wartenden Frau und teilt ihr mit, auf welche Gründe das Problem zurückzuführen ist und welches Opfer Kirimo verlangt, um das Problem zu lösen. Die Frau wird bald darauf das entsprechende Tier bringen, das von den Kriegern in Empfang genommen und meist innerhalb der Umfriedung erstickt wird. Dabei stampfen die übrigen Krieger mit den Füßen. Pascal Boyer hat (am Beispiel von Sehern) die Vermutung geäußert, dass als Garant für die Wahrheit übersetzter Erscheinungen natürlicher Art ein bestimmtes Arrangement der Situation anzusehen ist, das das in Worte Übersetzte als direkten ›kausalen‹ Ausfluss dieser Erscheinungen zu sehen erlaubt. Aussagen wie hier diejenige des Übersetzers werden als wahr angenommen »insofar as it can be represented as a picture influenced by the very entities described«18 – also in diesem Fall als etwas, 41

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das direkt von den Hörnern bewirkt wird. Dabei rückt für Boyer das Ereignis der Aussage als solches, unabhängig von seinem grammatikalisch übersetzten Sinn ins Zentrum:19 Entscheidend wäre demnach, dass die Hörner erklingen. Dieses Ereignis allein definiert die Situation und stattet die Aussagen des Übersetzers unabhängig von ihrem Inhalt mit Geltung aus. Deshalb geht Boyer davon aus, dass das Wahrheitskriterium kausal und nicht interpretatorisch ist: Die Geltung ist definiert durch das Ereignis und nicht durch eine Entscheidung der Frage, ob das Ereignis richtig interpretiert worden ist. Dennoch kann nicht jeder als Interpret auftreten. Auch diese Position ist an Voraussetzungen gebunden, die zum Arrangement der Situation gehören. Die mindeste Bedingung dürfte im Zugang zur Stimme bestehen – in der Initiation. Boyer fasst diese Bedeutungsdimension der Initiation auf folgende Weise: »Initiation rites, among other things, make it possible to represent the initiates as persons under direct influence, therefore as persons whose utterances are more likely to be caused by the agencies, entities or states of affairs they make statements about«.20

Der Initiierte erscheint also unter bestimmten Bedingungen als direktes, d.h. nicht durch die eigene Subjektivität gebrochenes Sprachrohr jener Mächte, mit denen er in der Initiation Verbindung aufgenommen hat. Weder erscheint so das, was er sagt, als Interpretation noch ergibt sich damit ein Bedarf der kritischen Exegese. Eben das meint Boyer mit dem Konzept einer kausal bewirkten Wahrheit. Diese Lösung des Übersetzungsproblems ist auch insofern elegant, als sie die Unbestimmtheit der Transzendenz und damit die Frage danach, wer da überhaupt spricht, unerheblich erscheinen lässt. Sie verschwindet gleichsam hinter der Betonung des Ereignisses der Aussage. Andererseits aber ist auch aus der Perspektive der Zuschauer schon aufgrund des szenischen Arrangements die Subjektivität des Übersetzers und dessen Differenz zu den Klängen augenscheinlich: Er steht außerhalb des von den Kriegern gebildeten Schutzwalls um die Unterkunft Kirimos und stellt seine Fragen, wobei er anschließend über das Gebet seinen Zugang wie auch seine Abhängigkeit gegenüber der Transzendenz dokumentiert. Dies ist noch kein Argument gegen die von Boyer angegebene Perspektive. Denn trotz der Differenz, die ja den Mann in seiner sozialen Identität von dem trennt, was ihn zum Mann macht und ihn gleichzeitig (ebenso wie jede soziale Norm) überschreitet, ist eben nicht auszuschließen, dass jenes (durch die Initiation konstituierte) Andere im Mann sich di42

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rekt zu äußern vermag, dass die Klänge des Horns in eine Korrespondenzbeziehung zu jenem Anderen seines Selbst treten, das sich so veranlasst sieht, sich über seine Stimme zu äußern. Zugleich aber erscheint eine solche mechanische Vorstellung zu einfach. Sie erklärt – um es an einem anderen Beispiel zu sagen – zwar, warum der Maskenträger in der Maske ein anderes Wesen ist, aber sie erklärt nicht, warum er etwa Schutzamulette tragen muss, die ihn vor der Maske schützen und wiederum seine Differenz zur Maske anzeigen. Auf das Beispiel der Hörner übertragen: Auch wenn der Übersetzer selbst die Geltung des von ihm Gesagten an das kausale Wahrheitskonzept binden mag, so bedeutet dies noch nicht, dass er sich als bloße Funktion der Hörner begreifen muss. Damit ist nicht gemeint, dass er vielleicht vorher mit den Hornbläsern und anderen Männern über die Hintergründe der von der Frau vorgetragenen Probleme gesprochen hat und dieses Wissen nun seine Interpretation leitet. Dies wäre zu einfach, weil man dann wiederum nur von einer einfachen Täuschung der Frau ausgehen müsste. Das hieße, nicht zu berücksichtigen, dass die Stimme der Hörner ebenfalls für die Männer – auch für diejenigen, die sie blasen – heilig ist. Sie zu manipulieren, ist nicht möglich. Es sind zwar Männer, die in das Horn blasen, aber das, was herauskommt, überschreitet immer schon ihre Intentionen. Dass sich der Übersetzer nicht als bloßes Sprachrohr begreifen muss, liegt vielmehr darin begründet, dass er selbst durch die Initiation in eine Beziehung zu den Hörnern gesetzt wird, die ihn zwar von sich als einem sozialen Wesen trennt, die ihn aber zugleich durch diese Trennung als souveränes Individuum konstituiert. Die Differenz bleibt für ihn gerade durch die Unbestimmtheit der Transzendenz bestehen, die es ihm unmöglich macht, sich zu sich selbst als einem (durch eine identifizierbare Transzendenz bestimmten) Anderen in Beziehung zu setzen. Vor diesem Hintergrund wird man annehmen können, dass auch seine Übersetzung (zumindest für ihn) durch diese Differenz gekennzeichnet ist. Für ihn, der nicht in Trance ist, sondern hier mit jener unbestimmten Transzendenz, die ihn als Differenz konstituiert, spricht, ist seine Rede zugleich eine Übersetzung und das, was Boyer eine kausale Wahrheit nennt. Als seine Rede wäre sie demnach zugleich intentional und ein kausales Ereignis. Diese differente Einheit vermag auch zu erklären, warum seine Übersetzung für ihn kein Problem darstellt, warum sie für ihn jenseits einer Opposition von Wahrheit und Täuschung steht.

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Doch auch auf der Seite des ›kausalen Ereignisses‹ ist Vorsicht angebracht – auch wenn man die dahinter stehende Vorstellung einer mechanischen, also nicht subjektiv vermittelten Wirkung teilt. Diese Vorsicht scheint insofern geboten, als Kausalität eine identifizierbare Ursache nahelegt. Wenn man demgegenüber von einer unbestimmten Transzendenz21 ausgeht, wird man die Mechanik und damit auch die Geltungsfrage noch einmal betrachten müssen. Dies möchte ich in den folgenden Erörterungen unter Rückgriff auf jene Logik des Supplements versuchen, die Derrida in seiner Grammatologie entwickelt hat.

4 Derridas Theorem der differance steht quer zum Ansatz Boyers, der mit dem Ereignis des Sprechens jenseits des Sinnes des Gesprochenen eine Ursprungsfunktion verbindet. Das Ereignis des Sprechens, eingebettet in eine Situation, die selbst vom Heiligen gestaltet scheint, wird bei Boyer als nicht-hintergehbarer Ursprung der Rede genommen. In dieser zeigt sich die Präsenz des Heiligen als kausale Wahrheit. Die übersetzende Rede repräsentiert als unmittelbare Wirkung den Ursprung. Eben dies bezeichnet Derrida als Phonozentrismus: »absolute Nähe der Stimme zum Sein, der Stimme zum Sinn des Seins, der Stimme zur Idealität des Sinns«.22 Das Konzept einer kausalen Wahrheit erweist sich aus seiner Perspektive als ein Konzept unmittelbarer Präsenz, die Stimme der Hörner als ein transzendentales Signifikat, das in der Rede des Übersetzers seine unmittelbare Entsprechung findet. Nun bildet dies noch keinen Gegensatz zur Rede von der kausalen Wahrheit, sondern eher eine sprachtheoretische Umformulierung. Dem scheint entgegen zu kommen, dass Derrida selbst der Schrift eine zentrale Bedeutung für die Auflösung jener logozentrischen Metaphysik zuweist, die den Sinn des Seins als Präsenz deutet. Demnach wäre es durchaus vorstellbar, dass die Batemi als orale Kultur gerade im Bereich der Konfrontation mit der Transzendenz diese als transzendentales Signifikat, als Ursache der wahren Rede des Übersetzers ansehen. Ich habe aber darauf hingewiesen, dass einer solchen Sicht zwei Momente entgegenstehen, die sich nicht so einfach einordnen lassen: Dies ist zum einen die für den Übersetzer einsehbare Differenz zwischen seiner sozialen Identität und dem Anderen, das ihn in dieser ebenso konstituiert wie überschreitet. Und dies ist zum anderen die Pluralität, die hinter der 44

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Stimme steht und die deren Identität, also diejenige des Seins, des Ursprungs, des transzendentalen Signifikats immer schon vervielfältigt. Vor dem Hintergrund dieser beiden Gesichtspunkte erscheint eher die Annahme gerechtfertigt, dass es der Klang der Hörner ist, der als materialisierte Form die Vielfalt der hinter ihm stehenden Stimmen zur Einheit bringt. In diesem Klang scheint die Differenz, die schon Kirimo ausmacht ebenso wie diejenige zu und zwischen jenen anderen transzendenten Wesen, für die er steht, als eine zur Identität gebrachte. Das aber bedeutet, dass diese durch die Stimme der Hörner konstituierte Identität auf etwas verweist, das sich in ein differenziertes und nicht systematisierbares Spiel der Kräfte auflöst. Als solche steht sie also immer schon in Differenz zu dem, was sie verlautbart. Sie verweist nicht auf einen unhintergehbaren Ursprung, dessen unmittelbare Präsenz sie darstellt. Diese Präsenz ist vielmehr als eine zu begreifen, die die Einheit, die sie repräsentiert, in der Repräsentation erst konstituiert. Die Stimme ›Gottes‹, des zur Einheit gebrachten Pantheons, gibt es im Klang der Hörner, der sie repräsentiert. Dabei ist aber zugleich zu berücksichtigen, dass es das Pantheon transzendenter Wesen für die Batemi auch unabhängig von der Stimme Kirimos gibt. Würde man dies nicht berücksichtigen, so fiele dieses Pantheon mit seiner vereinheitlichenden Repräsentation zusammen und die Stimme der Hörner hätte ihren ›Ursprung‹ nur in sich selbst. So aber verweist sie als ›Spur‹ auf das von ihr Verschiedene, sie gleichzeitig Ermöglichende wie auch nur in der Repräsentation sich Zeigende. Sie verweist – um mit Derrida zu reden – auf eine »UrSpur«, auf eine Differenz am ›Ursprung‹, der diesen in der different bleibenden Einheit von Ermöglichungsbedingung der Repräsentation und dem nur in der Repräsentation Angebbaren belässt. Die Hörner bilden ein Supplement in jenem doppelten Sinne, den Derrida angibt: »Das Supplement fügt sich hinzu, es ist ein Surplus; Fülle, die eine andere Fülle bereichert, die Überfülle der Präsenz. Es kumuliert und akkumuliert die Präsenz [...]. Aber das Supplement supplementiert. Es gesellt sich nur bei, um zu ersetzen. Es kommt hinzu oder setzt sich unmerklich an-(die)-Stelle-von«.23

Der Klang der Hörner vergegenwärtigt die Fülle des Pantheons der Batemi und er steht gleichzeitig für das damit gegebene transzendentale Signifikat. Es handelt sich um eine Supplementierung, »welche den metaphysischen Gegensatz zwischen ursprünglicher Gegenwart und sekundärer Vergegenwärtigung, zwischen Wahrnehmung und Erinnerung, 45

Alfred Schäfer

zwischen Realität und Fiktion, zwischen Dingen und Worten ausstreicht«.24 Die Hörner bringen die nicht hintergehbare und daher ursprüngliche Stimme Gottes hervor, indem sie diese zugleich immer schon ersetzen. Die Interpretation des Übersetzers lässt sich dann gleichsam als eine Supplementierung zweiter Stufe verstehen. Er macht die Stimme Kirimos den Menschen dadurch präsent, dass er sie in ihre Sprache übersetzt, womit sie für die Klänge steht, deren Präsenz erhöht, aber gleichzeitig auch vertritt. Eine solche Vorstellung erlaubt es, der differenten Wahrnehmung des Interpreten gerecht zu werden. Er weiß, dass er ein Übersetzer ist, der sich einerseits (als Initiierter) im Medium ›kausaler Wahrheit‹ bewegt, der aber andererseits dies als sozial wahrnehmbare Person in einer Sprache tut, die die Stimme Kirimos vertritt. Anders formuliert: Er weiß um seinen aktiven Part in der Übersetzung, die dennoch eine Stellvertretung ist. Dies ist nun keine außergewöhnliche Wahrnehmung. Sie ist ebenso kennzeichnend für denjenigen, der etwa als Mitglied des Priesterclans Mythen erzählt. Auch dieser weiß darum, dass seine Darstellung nur eine Version ist, dass andere Experten davon abweichende Versionen erzählen. Er weiß ebenso – damit zusammenhängend – darum, dass die Geltung des von ihm Erzählten nicht davon abhängt, dass sie eine möglichst getreue Darstellung eines historischen Ereignisses ist. Ob sich die erzählten Ereignisse historisch so abgespielt haben, ist eine Frage, die den Erzähler nicht beschäftigt: Sie leben in seinen Erzählungen als einer Form der Vergewisserung des kulturellen Selbstverständnisses der Batemi. Mythen sind – worauf Blumenberg hingewiesen hat25 – immer in Arbeit: Sie verweisen auf einen Ursprung, der sich nur in der variierenden Repräsentation zeigt und sich jeder eindeutigen Identifikation immer schon entzieht. Die Erzählungen verweisen genealogisch (im nietzscheanischen, von Foucault aufgegriffenen Sinne26) auf Herkünfte, nicht auf den Ursprung; sie verweisen auf Spuren dieses Ursprungs, der als UrSpur sich nur in diesen Spuren zeigt und sich mit ihnen immer auch entzieht. Der nicht zu fassende Ursprung, der sich in der Erzählung von Mythen ebenso zeigt wie in der Konfrontation mit den kontingenten Grundlagen der eigenen Kultur in der Initiation, scheint auch konstitutiv zu sein für die Übersetzung der Stimme Kirimos. Die subjektunabhängige Geltung des von ihm Übersetzten resultiert dann gerade daraus, dass der Klang der Hörner seine Rede immer schon überschreitet, dass diese Rede mit46

Die Sprache der Hörner

hin nur eine Spur ist, die auf ein Signifikat verweist, das sich nur in ihr zeigt, aber von ihr nur vertreten werden kann. Gleichzeitig vertritt aber auch schon der Klang der Hörner jene transzendenten Wesen, die in ihm stellvertretend zur Einheit gebracht werden, in der sie jedoch niemals aufgehen. Die Geltung seiner Übersetzung beruht damit auf einem Verweisungszusammenhang, der einerseits als konstitutiv für das kulturelle Selbstverständnis der Batemi anzusehen ist, der sich aber andererseits jeder möglichen Vergewisserung immer schon entzieht. Die Transzendenz gewinnt also ihre ›grundlegende Bedeutung‹ nur als unbestimmbare; Sie gewinnt ihre verbindliche Geltung gerade nicht über Anordnungen des richtigen Lebens, die gleichsam ex cathedra gesprochen würden. Der Gesetzescharakter, die verbindliche Geltung des Gesagten, ist unabhängig von der jeweiligen Aussage. Er ist das Gesetz als Gesetz: etwas, das unhinterfragbar den Regeln Gültigkeit verleiht, das aber selbst keine inhaltlich angebbare Regel darstellt.27 Das Gesetz als Gesetz ist leer, es hat keinen Inhalt, und dennoch muss es für jemanden gelten. Diese paradoxale Grundlegungsstruktur der unbestimmten Transzendenz liegt sowohl der mythischen Vergewisserung wie eben auch der Übersetzung als Supplementierung zu Grunde, die über eine Supplementierung (die Stimme der Hörner) auf einen ›Ursprung‹ verweist, der sich immer schon entzieht. In dieser Sichtweise erscheint es von Bedeutung, dass die Stimme Kirimos nicht direkt als signifikanter Klang, als klare Tonfolge, der sprachliche Symbole zugeordnet werden könnten, wahrgenommen werden kann. Dies ist nicht nur von Bedeutung für die Frauen, denen gegenüber so der privilegierte Zugang der Männer zur Transzendenz demonstriert werden kann, sondern auch für die Männer und den Übersetzer, weil es jene fehlende Eindeutigkeit der Stimme Kirimos ist, für die es keine direkte Übersetzung gibt, die es dem Übersetzer erlaubt, sich in dieser Situation als Einheit von Selbst und Anderem, von sozialem Selbst und Sprachrohr der Transzendenz zu begreifen. Seine Übersetzung bleibt als Präsenz der Stimme Kirimos dennoch seine Rede. Das, was Kirimo sagt, ist etwas, das nicht nur seine Intentionalität als Übersetzer überschreitet, sondern auch noch die Identität Kirimos selbst, die als solche nur scheinbar im Klang seiner Stimme fassbar ist.

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Alfred Schäfer

5 Von wo aus nun wird all dies gesagt? Mit welcher Autorität beanspruche ich, der ich dies darstelle, zu sprechen? Man hat sich in der Ethnographie darauf berufen,28 dass man die eigene Sichtweise durch die Gespräche mit Experten, also mit lokalen Autoritäten, abzustützen versucht. Jedoch hatte man immer auch ein Bewusstsein für die Grenzen einer solchen Autorisierung durch das Wissen lokaler Autoritäten. Solche Grenzen liegen nicht nur darin, dass das abgefragte Wissen für den Ethnographen sich als wenig konsistent, lückenhaft oder widersprüchlich darstellt und also einer konstruktiven eigenen Überarbeitung zu bedürfen scheint. Solche Grenzen liegen vor allem wohl darin, dass das Wissen der Experten für sich nicht jenen definitiven Status zu beanspruchen scheint, der gewünscht ist. Experten sind ›Eingeweihte‹ in Geheimnisse, die ihnen zwar einerseits eine soziale Autorität über zusätzliche Faktoren wie etwa das Lebensalter sichern, die aber andererseits gerade um die Unverfügbarkeit dieses Wissens wissen, das sich letztlich auch den Eingeweihten entzieht. Ihre Autorität scheint etwas mit eben diesem Verhältnis zum Wissen zu tun zu haben, das als solches andere Autoritäten nicht ausschließt und verhindert, die eigene Unvollkommenheit zum Dogma erheben zu wollen. Was also kann man verstehen, wenn man sich auf solche Autoritäten ›ohne Autorität‹ (durchaus im Sinne Kierkegaards) stützt? Man kann versuchen, die lückenhaften Informationen zu einem in sich konsistenten Bild zu vervollständigen. Man kann versuchen, ein vollständiges Bild zu repräsentieren, das als solches – wie nicht zuletzt die Debatte um die Möglichkeit ethnographischer Repräsentation gezeigt hat29 – nicht das repräsentiert, was man erhoben hat und mithin ›ohne Autorität‹ ist. Und auch ein Versuch wie der vorstehende, die Autoritäten ›ohne Autorität‹ und damit ein anderes Verhältnis zum Wissen zum Gegenstand zu machen, liegt nicht jenseits der Repräsentationsproblematik. Er folgt den Regeln des institutionalisierten wissenschaftlichen Diskurses und bezieht seine Autorität letztlich von dort. Eine institutionell begründete Autorität aber ist – wie die Römer wussten – nicht mehr eine ›auctoritas‹, sondern eine ›potestas‹: eine Macht. Als Macht vermag sie darüber hinwegzugehen, dass der wissenschaftliche Diskurs eine Autorität beansprucht, die er nicht innehaben kann. Die Frage, was diesem wissenschaftlichen Diskurs seine Autorität verleiht, ist damit verschoben. Wenn die Selbstautorisierung der Wissenschaft letztlich auf Macht be48

Die Sprache der Hörner

ruht, wenn diese Selbstautorisierung etwas mit den Autoritätszumutungen einer auf Rat angewiesenen Öffentlichkeit zu tun hat – dann stellt sich auch hier nicht nur die sich im Anschluss an die Repräsentationsdebatte ergebende Frage nach dem Unterschied von science und fiction, sondern vor allem jene nach einer Autorität jenseits der institutionell definierten Macht als einem autoritativen Sprechen ›ohne Autorität‹. Vielleicht bildet ja ›die‹ Wissenschaft (als Abstraktum) so etwas wie eine unbestimmte Transzendenz, das Gesetz des Gesetzes, das eine Initiation voraussetzt, um in seinem Namen Übersetzungen zu fertigen, deren identifizierende Autorität auf der Stellvertretung des Unbestimmbaren beruht. Es könnte eine Illusion sein zu glauben, dass eine Bestimmung dieses Unbestimmbaren eine Grenzziehung zwischen Wissen und Wahn erlauben würde.

Anmerkungen 1

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Die Untersuchungen Lütckes (Lütcke, Karl-Heinrich: ›Auctoritas‹ bei Augustin, Stuttgart 1968) zum römischen Begriff der ›Auctoritas‹ und dessen Rezeption in der christlichen Vorstellungswelt des Augustinus verweisen auf ein ähnliches Verständnis zumindest hinsichtlich der römischen Konzeption. Es scheint eine vielleicht nicht ganz abwegige Hypothese zu sein, dass mit der religiösen Überhöhung und Bindung der menschlichen Autorität an die geoffenbarte göttliche Autorität eine Figur ins Spiel kommt, die dann in der Neuzeit auf die Wissenschaft übertragen wird: Vielleicht spricht man auch hier im Namen und mit der Autorität einer Instanz, die einen selbst überschreitet. Vgl. Ortmann, Günther: Regel und Ausnahme: Paradoxien sozialer Ordnung, Frankfurt am Main 2003. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1976a; Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1976b. Vgl. Waldenfels, Bernhard: Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, Frankfurt am Main 1997. Vgl. Lévinas, Emmanuel: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg/München 1998; Waldenfels, Bernhard: Topographie des Fremden, a.a.O. Diese Vorstellung ist wohl während der Aufklärung am deutlichsten von Rousseau (Rousseau, Jean-Jacques: Emile oder über die Erziehung, Stuttgart 1963) vertreten worden. Rousseau beabsichtigte, seinen Zögling aufgrund praktischer Erfahrungen eine ein-eindeutige Sprache lernen zu lassen, zu der dieser selbst kein strategisches Verhältnis aufbauen sollte, das zu Täuschungen befähigen würde: Meinen und Sagen fallen so zusammen und entsprechen der nicht-entfremdeten Natur eines Menschen, der für die Möglichkeit besserer menschlicher Verhältnisse steht (vgl. Schäfer, Alfred: Jean-Jacques Rousseau. Ein pädagogisches Porträt, Weinheim 2002). Vgl. Kierkegaard, Sören: Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken, 2. Teil, Gütersloh, 1994, S. 15f. Vgl. Kierkegaard, Sören: Die Schriften über sich selbst, Gütersloh 1998, S. 6. Vgl. Schaal, Helmut: Erziehung bei Kierkegaard. Das ›Aufmerksammachen auf das Religiöse‹ als pädagogische Kategorie, Heidelberg 1958; Schäfer, Alfred: Kierkegaard. Eine Grenzbestimmung des Pädagogischen, Wiesbaden 2004.

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Es dürfte einsichtig sein, dass dieses Problem autoritativen Sprechens im Bereich ›persönlicher‹ Verhältnisse, das hier an einem Beispiel aus der religiösen Sphäre erläutert wird, auch für das Sprechen ›im Namen der Wissenschaft‹ und erst recht für ›pädagogische Kommunikation‹ bedeutsam ist. Hier könnte man diese Fragestellung durchaus in Verbindung sehen zu neueren Professionalisierungstheorien (Vgl. Wimmer, Michael: »Zerfall des Allgemeinen – Wiederkehr des Singulären. Pädagogische Professionalität und der Wert des Wissens«, in: Combe, Arno/Helsper, Werner (Hg.): Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Wissens, Frankfurt am Main 1996, S. 404-447) oder zur Verwendungsforschung wissenschaftlichen Wissens (vgl. Drerup, Heiner/Terhart, Ewald (Hg.): Erkenntnis und Gestaltung. Vom Nutzen erziehungswissenschaftlicher Forschung in praktischen Verwendungskontexten, Weinheim 1990), wobei unter dem Akzent des autoritativen Sprechens gleichsam trotz der ›subjektiven Theorien‹ des pädagogisch oder beratend Tätigen der Geltungsbezug zu ›objektiven Theorien‹ behauptet wird. Um die Uneinlösbarkeit dieser Behauptung geht es. Die Anführungszeichen verweisen nicht auf eine despektierliche Haltung gegenüber den von den Batemi für heilig gehaltenen Hörnern. Vielmehr sollen sie nur anzeigen, dass die göttliche Stimme bei einer näheren Betrachtung in eine letztlich unbestimmbare Vielheit zerfällt, was im Folgenden gerade als bedeutsames Charakteristikum des Göttlichen dargelegt werden soll. Vgl. Boyer, Pascal: Tradition as Truth and Communication. A Cognitive Description of Traditional Discourse, Cambridge 1990. Derrida, Jacques: Grammatologie, Frankfurt am Main 1967. Boyer, Pascal: Tradition as Truth and Communication, a.a.O. Vgl. dazu Schäfer, Alfred: Unsagbare Identität. Das Andere als Grenze in der Selbstthematisierung der Batemi (Sonjo), Berlin 1999. Kirimo bildet die entscheidende Instanz während der hier nur angedeuteten Initiation. Dies schließt nicht aus, dass auch andere Momente eine Rolle spielen. So gibt es einen wichtigen Mythos, in dem Rioba Ghambageu zur Strafe die Gedärme herausreißt und ihn auf diese Weise tötet. Er erweckt ihn auf Geheiß Ghambarishoris wieder zum Leben, setzt ihm aber statt der Gedärme einen Stein ein. Diesem Initiations-Mythos wird in der Initiation soweit Rechnung getragen, als man den Novizen sagt, dass sie vor den Frauen von nun an behaupten müssen, keinen Stuhlgang mehr zu haben. Es gibt auch Maasai, die zu diesem Fest kommen und (im Status der Frauen) die Möglichkeit haben, Kirimo zu befragen. Für Nicht-Initiierte ist und bleibt dabei die Quelle des Klangs unbestimmbar: Sie wissen nicht, dass es sich um Hörner handelt. Boyer, Pascal: Tradition as Truth and Communication, a.a.O., S. 72. Vgl. ebd., S. 78. Ebd., S. 99. Vgl. Schäfer, Alfred: Unbestimmte Transzendenz. Bildungsethnologische Betrachtungen zum Anderen des Selbst, Opladen 1999a. Derrida, Jacques: Grammatologie, a.a.O., S. 25. Ebd., S. 250. Bernet, Rudolf: »Derrida – Husserl – Freud. Die Spur der Übertragung«, in: Gondek, Hans-Dieter/Waldenfels, Bernhard (Hg.): Einsätze des Denkens. Zur Philosophie von Jacques Derrida, Frankfurt am Main 1997, S. 99-123, hier S. 110. Vgl. Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main 1979. Vgl. Foucault, Michel: »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«, in: ders.: Von der Subversion des Wissens, München 1974, S. 69-90. Gasché, Rodolphe: »Eine sogenannte ›literarische‹ Erzählung: Derrida über Kafkas ›Vor dem Gesetz‹«, in: Gondek, Hans-Dieter/Waldenfels, Bernhard (Hg.): Einsätze des Denkens, a.a.O., S. 256-286, hier S. 278f. Vgl. Turner, Victor: The Forest of Symbols, Ithaka 1967. Vgl. Berg, Eberhard/Fuchs, Martin (Hg.): Kultur, Soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt am Main 1993; Schäfer, Alfred/Wimmer, Michael (Hg.): Identifikation und Repräsentation, Opladen 1999.

Elena Esposito

Mode ›als rationaler Wahn‹ Die paradoxe Suche nach Originalität in der Nachahmung der Anderen

1 Der Wahn, so wie wir ihn heute verstehen, ist eine Ansammlung von Merkwürdigkeiten und Abweichungen, von Eigentümlichkeiten und Überraschungen. Jenseits der Inhalte scheint mir jedoch aus soziologischer Sicht ein seltsamer Aspekt wichtig: die von ihm immer noch ausgeübte Faszination, ein Aspekt, von dem ich ausgehen möchte. Der Wahn ist zuallererst eine Pathologie und ist als eine solche negativ, deviant und in gewisser Weise falsch: Er muss verworfen und möglichst neutralisiert werden. Auf einer zweiten flüchtigen und unbestimmten Ebene wird er aber zugleich hofiert und aufgewertet, und das gerade in seiner Devianz: Von einer Person zu sagen, er sei »etwas verrückt«, wirkt eher als Kompliment denn als Kritik, und inzwischen ist es nicht sonderlich originell, für sich selbst eine Ader der Verrücktheit zu beanspruchen. Die »Weisheit« des Wahnsinnigen liegt allerdings nicht, wie in den antiken Formen des divinatorischen Wahns, im privilegierten Zugang zu den Mysterien des Seins, zu einem höheren sonst versperrten Bereich, sondern im Aspekt der Andersartigkeit, der Verschiedenheit, der Verwerfung dessen, was als akzeptabel und rational gilt. Es handelt sich nicht um eine höhere Weisheit, sondern um eine seltsame alternative Weisheit, die als solche fasziniert, wo die Züge der Andersartigkeit vor den negativen Zügen der Pathologie und des Fehlers vorwiegen. Wovon hängt aber diese Faszination ab und wo positioniert sie sich in der begrifflichen Landschaft der Vernunft und dessen Beschränkungen?

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Wir wissen nunmehr, dass das Verhältnis von Wahnsinn und Vernunft weder einfach noch linear ist. Der Wahn ist keine bloße Unvernünftigkeit; jeder von uns ist manchmal unvernünftig oder auch irrational, ohne deshalb für verrückt gehalten zu werden oder sich selbst dafür zu halten. Der Wahnsinnige aber verfolgt eine eigene Form von Rationalität. Auf seine Weise ist er absolut rational – aber verrückt. Die Behauptungen und Gedankenfolgen des Wahnsinnigen sind also offensichtlich inakzeptabel, aber nicht weil sie falsch oder einfache Fehler seien – wie bei denjenigen, die inkorrekt die laufende Logik oder Rationalität benutzen, den Passionen erliegen oder die Kontrolle verlieren. Der Wahn bewegt sich wie der Traum, wie die Illusion und einige fiktionalen Konstruktionen mit Sicherheit und Kompetenz in den Windungen einer alternativen Logik, die aber streng ist und korrekt verwendet wird – er bewegt sich also in einer anderen Welt mit eigenen Regeln und eigenen Kriterien, die keine bloße Negation der Welt der Weisen und deren Richtlinien ist. Es handelt sich um eine in gewisser Hinsicht alternative Welt – anders und nicht voll vergleichbar, inakzeptabel aber zugleich faszinierend. Der zu einer eindeutigen Welt gehörende Irrtum kann beseitigt werden; eine alternative Wahrheit ist dagegen viel schwieriger zu behandeln, vor allem unter den die moderne Gesellschaft kennzeichnenden Bedingungen der ontologischen Labilität. Mit den Worten der Logik könnte man sagen, dass der Irrtum sowie die Unvernünftigkeit der Wahrheit widersprechen und sie negieren (sie behaupten in der Tat etwas, was »nicht wahr ist«); durch ihre Negation kehrt man zur Anfangswahrheit zurück. Der Wahn beansprucht dagegen eine andere, durch Negation nicht kontrollierbare Wahrheit; negiert man sie, gewinnt man nicht das Wahre, sondern eine Falschheit in einer alternativen Dimension. Eine negierte Falschheit führt nicht zum Wahren, sondern eher zur für Paradoxien typischen unbestimmten Oszillation. Der Wahn ist in Foucaults Worten keine (relativ leicht zu behandelnde) Negation des Seins, sondern die »paradoxale Offenbarung des NichtSeins«1 – und übt wie alle Paradoxien eine unwiderstehliche Faszination auf die Semantik der modernen Gesellschaft aus. Foucault hat bekanntlich die Formen der Einschließung der Wahnsinnigen als Versuche der Verdrängung der Paradoxie untersucht. In diesem wie in allen anderen Fällen hat man aber festgestellt, dass der Ausschluss nicht gelingt; die Paradoxie tritt in einer anderen Form im Bereich wieder ein, den man »reinigen« wollte und wirft einen Schatten der Unbestimmtheit.2 Was wieder eintritt, ist nicht die Person des mehr oder 52

Mode als ›rationaler Wahn‹

weniger wirksam eingesperrten Wahnsinnigen, sondern eben die mehrdeutige Faszination des Wahns, der (obwohl ärztlich ausgeschlossen) semantisch und ästhetisch aufgewertet wird. Das geschieht in expliziter Form, zum Beispiel dann, wenn Schizophrenie als befreiende Äußerung und als Modell der Autonomie dargestellt wird3 – vor allem aber in indirekten Formen: in der Ästhetik der Provokation und der Devianz, in der Suche nach Originalität, in der Stilisierung der Irrationalität als Ausdruck von Kreativität. Der Wahn bleibt ein zu exkludierendes Übel, aber parallel dazu entsteht eine »Symbolisierung der Einheit von Inklusion und Exklusion«,4 die ihn als generelle Form der Transgression und der Überwindung der sozial angegebenen Grenzen bezeichnet (und aufwertet). Der Wahn wird zur »Sinnreserve«,5 aus der man in Anbetracht der Einschränkungen der laufenden Rationalität schöpfen kann. Es handelt sich dabei nicht um ein neues Phänomen. In Gegenteil: Es ist ein typisches Syndrom der Modernität, das sich gerade in ihren Anfängen offensichtlicher ausgedrückt hat. Wenn auch noch innerhalb der Formen der Rhetorik, stellt schon Erasmus' Lob den Wahn als flüchtige Weisheit für Eingeweihte dar; ein Motiv, das dann in barocker Zeit überhand nimmt und sich an den Reiz der Illusionen und Erscheinungen, an die Auflösung der Grenze zwischen Realität und Täuschung, zwischen Schlaf und Wachem, zwischen dem Gegebenen und dem Möglichen ankoppelt.6 Der Wahn wird immer schwieriger zu bestimmen und einzuschränken, gerade weil die Gegenseite immer labiler wird, die er sich entgegenstellen soll, bis er mit Pascal zum grundsätzlich und unvermeidlich humanem Zustand wird: »Les hommes sont si nécessairement fous que ce serait être fou par un autre tour de folie de n’être pas fou«.7 Die folgenden »aufgeklärten« Jahrhunderte haben in gewissem Maße die Verweisung auf den Wahn neutralisiert, der jedoch immer als Hintergrund, als den Weg der Rationalität begleitender Schatten geblieben ist – und sich in letzter Zeit erneut offen zeigt.

2 Was kann man aus soziologischer Sicht dazu sagen? Gibt es eine Verbindung zwischen den Strukturen der modernen Gesellschaft und diesem eigentümlichen, den früheren Gesellschaften unbekannten AusschlussEinschluss des Wahns? Bis zum Mittelalter übte der Wahn keinen besonderen Reiz aus und schien vor allem, keine spezifische Weisheit zu 53

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verbergen. Er war ein Laster unter anderen, zu bekämpfen mit den anerkannten Tugenden, vor allem der prudentia. Und wenn er sich wie in der Mystik oder der Divination der Weisheit annährte, handelte es sich um die hohe Form der vertrauten Weisheit und nicht um eine alternative Vernunft. In seiner positiven wie in seiner negativen Form verlangte er also keine spezifischen Techniken oder Verfahren des Umgangs. In der Renaissance wurde die Lage anders, in Übereinstimmung mit dem, was von den Soziologen als Übergang zu einer anderen Form der Gesellschaftsdifferenzierung beschrieben worden ist: von der Stratifizierung zur funktionalen Differenzierung.8 Früher war die Gesellschaft (und der Welt) in hierarchisch organisierten Bereichen aufgeteilt, was den sozialen Verhältnissen und der Semantik eine Ordnung gab: Die Zugehörigkeit zu einer Familie und einer sozialen Schicht implizierte eine bestimmte Perspektive und bestimmte Kommunikationsformen (unterschieden von denen anderer sozialer Schichten aber dazu komplementär) in einem allgemeinen Bild der Gesellschaft als organisiertes Ganzes von miteinander integrierter Teile einer gegebenen und eindeutigen Welt. In diesem Universum übte eine alternative Vernunft (oder Wahn) keinen Reiz aus, weil sie nicht einmal begreifbar war: Die Devianz konnte nur ein Fehler sein, und es ging einfach darum, sie zu bekämpfen und auf die richtige Ordnung der Dinge zurück zu führen. Das Mysterium war bloß Unerkennbarkeit, die auch unüberwindbar sein konnte (wie im religiösen Bereich), die aber auf keine alternative Logik verwies. Funktionale Differenzierung bedeutet dagegen, dass die Gesellschaft in verschiedene Teilsysteme wie Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Recht, Massenmedien und andere gegliedert ist, die eigenen Kriterien folgen, die nicht notwendigerweise mit den Kriterien der anderen Funktionssysteme kongruent oder kompatibel sind. Es ist dann bloß Zufall, wenn das, was wirtschaftlich günstig ist mit dem übereinstimmt, was politisch angebracht oder wissenschaftlich reizvoll oder interessant für die Massenmedien ist, und es gibt kein letztes Kriterium, das die Mehrheit auf eine eindeutige Ordnung zurückführen kann. Etwas bleibt immer draußen, ohne deshalb illegitim oder irrelevant zu sein. Es gibt immer eine alternative Vernunft (oder mehrere), die ausgeschlossen werden muss aber nicht abgeschafft werden kann, und das Bewusstsein davon begleitet die Operationen jedes Systems. Wie wirkt sich diese Situation auf die Bewertung des Wahns aus, der eine individuelle und des Kanons der Rationalität relative Form ist? Zu54

Mode als ›rationaler Wahn‹

erst in einer andersartigen Berücksichtigung der Individualität als solche. In der ganzen vormodernen Semantik (und in der Rhetorik, die dafür die Anlage bot) fand die individuelle Idiosynkrasie keinen Platz noch Begriffe, die sie berücksichtigen konnten. Obwohl die Besonderheit des Einzelnen (Name, Biographie, Aussehen) natürlich bekannt und anerkannt war, bildete sie keinen Grund für Interesse noch die Basis für ihre Definition; das Individuum bestimmte sich gleichsam nicht aufgrund seiner Individualität, sondern aufgrund seines sozialen Standes – nicht also aufgrund seiner Singularität, sondern aufgrund externer und allgemeinerer Elemente. Erst seit dem 17. Jahrhundert treten selbstreferentielle Komponenten auf: Selbstbeobachtung, Kontrolle der Passionen und Selbstkontrolle, Pflege des äußeren Aussehens und Praktik der Konversation.9 Die soziale Schicht wird allmählich zum bloßen Ausgangspunkt, von dem man im Aufbau einer Individualität fortschreitet, die sich über singuläre Elemente und eine eigene (beanspruchte) Einmaligkeit definiert, die aus dem Inneren stammt und nicht von Außen verliehen wird. Während in den traditionellen Gesellschaften die Pflege der eigenen Singularität als eine Form von Eitelkeit verworfen wurde, wird sie in der modernen Gesellschaft zur Grundlage der neuen Figur des selbstbezogenen Individuums, das sich gerade als anders als alle anderen beobachtet und erkennt – je »selbstrealiserter« desto origineller ist es. Aus der Sicht des Soziologen ist es kein Zufall, dass diese semantische Form in Übereinstimmung mit dem Übergang zur funktionalen Differenzierung entstanden ist, die dazu bestimmt war, die früheren Formen der Inklusion und der Bestimmung der Individuen aufgrund der sozialen Schicht (mit Ausschluss aller anderen), ungangbar zu machen. Jeder einzelne muss nunmehr fähig sein, an den Operationen aller Systeme teilzunehmen: Er gibt Geld aus und verdient es, hat eine Rechtspersönlichkeit, kann wählen, fernsehen und sich für Wissenschaft interessieren, und in all diesen Fällen können seine Entscheidungen und seine Kriterien nicht aus externen Faktoren wie die Herkunftsfamilie abgeleitet werden – auch weil sie von System zu System anders sind. Die Identität der Individuen kann nur selbstreferentiell begründet werden, in einem reflexiven Zirkel der Selbstbeobachtung, der von externen Umständen unabhängig ist – obwohl diese es ihm ermöglichen, sich zu verhalten und Informationen zu gewinnen. Daraus stammt die Entdeckung und Aufwertung der Idiosynkrasie, welche zur unverzichtbaren Grundlage nicht nur der Identität des Individuums, sondern auch seines Verhältnisses zur Gesellschaft und zur Welt wurde – eine Welt, die nunmehr Kor55

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relat seiner spezifischen Perspektive ist: »Ein Individuum ist also jetzt [...] die Welt, gesehen von einem Punkte aus«.10 Zurück zu unserem Thema: Was hat all das mit der Faszination des Wahns und mit der Unmöglichkeit, ihn zu beseitigen oder zu ignorieren zu tun? Ernst genommen, zwingt das Programm der Individualität dazu, jedes Subjekt auf seiner unwiederholbaren Einzigartigkeit zu begründen, also auf seine Originalität und Andersartigkeit. Die Einmaligkeit wird dann zum einzigen Zug, den das Subjekt mit den anderen Individuen gemeinsam hat: »Anders sein können, heißt dann eben: so sein können wie ein anderer«11 – eine Paradoxie, aus der man sich nur mit einer andersartigen Andersartigkeit entziehen kann, die mit der »NormalenAndersartigkeit« aller individuellen Idiosynkrasien unvergleichbar ist: eben mit der inkommensurablen Andersartigkeit des Wahns. Es ist dann unvermeidlich, dass der Wahn fasziniert – wenn auch auf nicht immer expliziter und bewusster Weise. Es ist als ob die in der Suche nach Individualität latente Paradoxie, aus der keiner sich entziehen kann, im Wahn manifest wird – konsequent und gleichsam sublim. Man ist nicht dazu verpflichtet, wahnsinnig zu sein – so wie man in den früheren Gesellschaften nicht dazu verpflichtet war, Heiliger oder Held zu sein –, aber der Wahn ist die Extremisierung einer Tendenz, in der jeder sich erkennt: die zur absoluten und unvergleichbaren Andersartigkeit gewordene Originalität. Ein echter Origineller sollte nämlich wie eine echte Neuheit unerkennbar und unverständlich sein – eine verstandene und vorausgesehene Neuheit verliert unvermeidlich den Aspekt der Überraschung, so wie eine von den anderen geschätzte Originalität nicht wirklich anders sein kann. Ein wahrer Origineller hat keine Modelle und kann für keinen als Modell dienen: Er kann nicht verstanden werden und kann keine Kriterien bieten, um die Welt zu verstehen – wie der Wahnsinnige. Der Wahn liefert also in seiner unverständlichen und radikalen Andersartigkeit die »Sinnreserve«, auf die die universelle Suche nach Individuation und Einmaligkeit verweist – der »Sündenbock«, der die normale Andersartigkeit aller Weisen rechtfertigt und ihnen erlaubt, Weise zu sein. Gelegentlich taucht aber unvermeidlich die logische Anlage der ganzen Konstruktion auf (oder, wenn man will, ihre grundlegende Paradoxie): Der Wahnsinnige ist endlich der echte Weise – so wie Don Quijote, der sich am Ende des Buches als gesünder als alle anderen erweist, die seinen Wahn ausgelacht haben. Wenn alle wahnsinnig sind, wie Pascal behauptet, ist der echte Weise derjenige, der sich als Wahnsinniger dar56

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stellt, und Wahnsinn ist eher der blinde Anspruch auf Normalität. Deshalb kann der Wahn nicht als einfache Pathologie oder Fehler beseitigt werden und übt eine Faszination aus, die (obwohl mehrdeutig) vorausgesetzt werden kann und von allen anerkannt wird. Als weise und ausgeglichen gilt nunmehr derjenige, der »in Analyse« ist. Er braucht sich nicht dafür zu schämen und sich wie für eine Schwäche zu rechtfertigen: Eine kontrollierte Pathologie entspricht der generellen umsichtigen Normalität.

3 Wie wird die Paradoxie des »weisen Wahnsinns« oder der »normalen Andersartigkeit« in der Praxis der Kommunikation behandelt? Ich möchte die Hypothese diskutieren, dass sich »mittlere« und kontrollierte Formen des Wahnsinns stabilisiert haben, die erlauben, Devianz zu akzeptieren und zugleich Voraussehbarkeit und Kontrolle zu ermöglichen. Was mich hier interessiert, sind nicht so sehr die typischen Ausnahmen, die die Regel bestätigen, wie Liebeswahn oder Künstlerwahn, die sich auf eine jahrhundertlange Tradition stützen und ohne besondere Schwierigkeiten behandelt werden können. Liebe wird bekanntlich als »Wahnsinn zu zweit« dargestellt, der üblicherweise auf die Intimsphäre beschränkt bleibt und in seiner virulenten Form eine begrenzte Zeit andauert: Eine Leidenschaft, die Zuverlässigkeit und Rationalität der involvierten Person unberührt lässt und worüber auf jedem Fall eine breite Ikonographie und viele Modelle verfügbar sind, um die eigene Devianz zu kanalisieren.12 Schon seit dem 17. Jahrhundert weiß man, dass man sich in die Liebe verliebt, bevor man sich in die geliebte Person verliebt13 – der Wahn wird vorbereitet und gesucht, bevor man hinein fällt. Auch der Künstlerwahn kann sich auf die lange Tradition der Mystik stützen, und die Kunst bewegt sich ohnehin auf der Grenze zwischen der verfestigten Welt und dem Experimentieren mit alternativen Möglichkeiten. Dass der Künstler endgültig in den Wahn fallen kann (Standardbeispiel: van Gogh), verlangt zudem nicht, dass der Bewunderer seiner Werke wahnsinnig sein muss – in Gegenteil: Auch in diesem Fall bestätigt die Rechtfertigung des Wahns die Normalität derjenigen, die fähig sind, ihm Raum zu geben, ohne ihn überhand nehmen zu lassen. Komplexer scheint mir eine andere Form des Wahns, typisch modern wie die gängige semantische Form des Wahns und auch der traditionel57

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len Semantik unbekannt, aber schwierig sozial und zeitlich einzugrenzen. Anders als der Wahn der Liebenden und der Künstler, handelt es sich um einen Wahn, der alle und in jedem Moment betrifft: Ich beziehe mich auf den Wahn der Mode – ein absolut irrationales und als solcher erkanntes Phänomen, das aber derart normalisiert ist, um als bloße Frivolität und Marginalität neutralisiert zu werden. Auch die Mode entsteht im 16. Jahrhundert:14 als Wort (das weibliche »la mode«, das sich ausgehend vom lateinischen »modus« vom männlichen »le mode« unterscheidet), als Bedeutung (eine vorher unbekannte Wendung an das Kontingente, an etwas, das gefällt und interessiert, obwohl man weiß, dass es vorläufig und nicht notwendig ist, oder gerade deshalb: die Moden vergehen aber binden und involvieren trotzdem) und als Reflexionsthema (die Debatte zur Mode war in den Schriften der Zeit sehr lebendig und verbreitet, viel weiter als der Bereich der Kleidung und der Darstellungsweise: die Mode betraf theoretische Orientierungen, Geschmack beim Essen, Redeweisen, medizinische Trends, Wünsche und sogar die Devotion). Von Anfang an ist die Mode vom Wahn oder jedenfalls von einer radikalen Irrationalität genährt worden. Schon Montaigne sprach vom Drang, die antiken Bräuche zu verwerfen und sich aktuellen Tendenzen und Meinungen zuzuwenden, die »sich jeden Monat ändern« als von »eine Art Manie, welche das Gehirn verwirrt«.15 La Bruyére spricht von der Mode als »folle et extravagante«, als das, was sich nicht für das interessiert, was schön und richtig ist, sondern eher das privilegiert, was bloß neu und aktuell ist – selbst in den wichtigsten Lebensgebieten. Das Phänomen scheint ihm zu extrem, um als reines »amusement« bezeichnet werden zu können, sondern sei eher eine Passion, die unsere »petitesse« und die Unfähigkeit zeige, authentische Werte zu erfassen.16 Der Abstand zwischen Mode und Vernunft wird zum Gemeinplatz, der in einer Zeitschrift aus dem 19. Jahrhundert als radikale Inkompatibilität dargestellt wird: In einem leichten Dialog weigert sich die Mode, der Vernunft zuzuhören mit der Behauptung, dass beide verloren gingen, wenn sie sich annähren würden.17 Die Mode erscheint als Wahn und Unvernünftigkeit, aber auch als eine merkwürdige zwingende Kraft. Die Mode ist Wahn, aber man kann nicht umhin, ihr zu folgen. Das behauptet schon Della Casa im Galateo, mit der Empfehlung, sich den Bräuchen anzupassen, selbst wenn sie mit der Zeit entstehen und vergehen und selbst wenn sie nicht immer dem Guten oder Richtigen entsprechen – aber »vuolsi più tosto errare con gli altri in questi sì fatti costumi che fare bene solo«.18 Obwohl die Mode sicher Wahn ist, muss 58

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derjenige, der ihr folgt, nicht deshalb für wahnsinnig gehalten werden. Wie Kant sagt: »Besser ist aber doch immer, ein Narr in der Mode als ein Narr außer der Mode zu sein«19 – eine scheinbar sehr plausible Behauptung, die sich aber bei näherer Betrachtung als inkonsistent erweist. Warum sollte es besser sein, zusammen mit den anderen und nicht allein wahnsinnig zu sein? Gäbe es einen echten Zustand der »Weisheit«, wären beide Arten des Wahns gleich, weil beide irrtümlich wären – oder vielleicht wäre es bei einem individuellen Fehler sogar wahrscheinlicher, bewusst und korrigiert zu werden. Den geteilten Wahn vorzuziehen, signalisiert implizit, dass ein notwendiger Bezug verloren gegangen und durch kontingente Bindungen an Kontingenz ersetzt worden ist: vor allem durch den Bezug auf die soziale Dimension – auf das, was die anderen tun. Ursprünglich bezog sich die Ablehnung der Mode in der Tat eben auf seinen Charakter der Kontingenz und Künstlichkeit. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts verurteilt Fitelieu vehement die Mode gerade als Principe de l’Artifice, als »vom Teufel kommenden Wahn« und als dem in der Natur (als Bild von Gott) ausgedrückten »être« gegenübergestellten Reich vom »parêtre«.20 Während die Schöpfung einheitlich und notwendig ist, vermehren sich in der Orientierung auf die Mode Kontingenzen und Andersartigkeiten, weil jeder auf seine Art seiner Laune folgen will. Aber dadurch trennt sich der Schein vom realen Sein und macht sich autonom: Der modische Mensch lebt auf der Ebene des Scheins, weshalb er wahnsinnig wird und verliert den authentischen Kontakt zu den Dingen – »der Mensch wird zum Bild der Mode und nicht mehr von Gott«.21 Zur gleichen Zeit behauptet allerdings Figuière genau das Gegenteil. Die Mode ist für ihn eine Tugend – sogar die vor allen anderen vorausgesetzte grundlegende Tugend. Die Orientierung auf die anderen ist zum zentralen Bezug geworden, und es ist aus dieser Sicht, dass »ce n’est jamais desplaire à la vertu que de plaire à tout le monde«.22 Die Mode rechtfertigt sich selbst – nicht so sehr als Prinzip der Veränderung, sondern im Gegenteil als Quelle einer gewissen Stabilität, die durch die Harmonie mit den anderen entsteht. Diesem Kriterium zufolge ist also die Lage genau umgekehrt: Wahnsinnig und gekünstelt ist nicht derjenige, der der Mode folgt, sondern derjenige, der ihr nicht folgt und die Gesellschaft stört: »La mode devient une règle que la raison contrôle et utilise dans l’intérêt de la vie en sociétè«.23 Es handelt sich jedoch nunmehr um eine Vernunft, die den stabilisierenden Bezug zur Natur verlassen hat und auf die soziale Dimension übergegangen ist: 59

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Es gibt nur den Schein, und in diesem Bereich der Kontingenzen bietet die Mode weniger kontingente oder andersartig kontingente Orientierungen – darauf beruht ihre Leistung als »äußere Erscheinung der Vernünftigkeit«,24 wie Hegel sie nennen wird. Kants Empfehlung, sich dem Wahn der Mode anzupassen, gewinnt in diesem Rahmen eine andere Bedeutung. Es ist ratsam, wie die anderen zu handeln, nicht weil man dann weniger wahnsinnig ist, sondern weil man ohnehin nicht anders kann, und darauf zu beharren, der Mode nicht zu folgen, ist viel anstrengender und problematischer – und zeigt unter anderem, dass man nicht verstanden hat, worum es geht. Wer die Mode ablehnt, ist nicht freier und autonomer, noch vom Schein befreit und fähig, sich dem wirklich schönen, oder bequemen oder sonst günstigen zuzuwenden – er holt die Vernunft nicht ein und wird den Wahn nicht los, weil es eben kein Schönes oder Richtiges mehr gibt und man innerhalb des Spiels der Erscheinungen bleibt. Keine »Subversion« der Mode ist möglich, weil ein sie widersprechender Referent fehlt.25 Die Negation führt nur zu einem anderen Schein, auch bereit, modisch zu werden – wegen seines negativen Charakters sogar besser geeignet. Eigenschaft der Mode ist nämlich die Negation, die Gegenübersetzung als Neuheit zum Vertrauten und Üblichen, aber so setzt sie sich der eigenen Negation aus (wie es die unzähligen Tendenzen der Straßenmode, der Bluejeans, Punks und alle Fälle der »Anti-Mode« zeigen.)26 Die Negation der modischen Trends ist also keine echte Alternative, wie der Weise schon seit dem 17. Jahrhundert weiß, und La Bruyére empfiehlt, sich von seinem Schneider anziehen zu lassen, weil »il ya autant de faiblesse à fuir la mode qu’a l’affecter«.27 Man gehorcht der Mode auch wenn man ihr entgegen steht, denn auch absichtlich außerhalb der Mode zu stehen, heißt, sich (obwohl im Negativen) auf die von ihr vorgeschlagenen Beispiele zu beziehen,28 und dazu auch die Last zu übernehmen, abzuweichen und sich auf anderen Wegen mit den anderen koordinieren zu müssen. Dem modernen Individuum mit seiner unmöglichen und unvermeidlichen Suche nach Originalität und ständig damit beschäftigt, vom anderen seine unverständliche Einmaligkeit anerkennen zu lassen, scheint die Mode eine Hilfe eher als eine Beschränkung anzubieten – trotzt der ständigen Klagen über seine zwingenden Aspekte und der Angst vor der Omologation. Die Konformität mit der Mode impliziert nämlich zugleich eine deviante Seite und in dieser Kombination liegt ihre wirkliche Kraft. Der Mode zu folgen, heißt nicht bloß, ein Modell nachzuah60

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men (im Sinne des traditionellen Verständnisses von Mimesis),29 sondern impliziert eine komplexe Kombination von Emulation und Differenzierung, Konformität und Abweichung: Wer der Mode folgt, tut das nicht, um so wie die anderen (die ihr auch folgen) zu sein, sondern um die eigene Originalität und Einzigartigkeit zu offenbaren.30 Man imitiert nicht um gleich, sondern um anders zu sein und erkennt dadurch implizit die Paradoxie der Individualität an: Wer sich auszeichnen will, muss etwas tun, was von den anderen anerkannt und geschätzt wird – also muss er sich in gewisser Weise integrieren.31 Die von der Mode angebotene Modalität ist dazu besonders flexibel: daraus folgt ihr Erfolg und ihre Verbreitung. Die Funktion der Mode besteht laut Luhmann wesentlich darin, »Sicherheit für Ungewöhnliches«32 anzubieten und dadurch die Möglichkeit, ohne allzu hohe und unberechenbare soziale Kosten zu experimentieren, zu riskieren und zu wagen – bis zum heute beobachteten Extrem, wo fast nichts (wie extravagant auch immer) überrascht und auffällt. Diese Fähigkeit der Mode beruht auf ihrem eigentümlichem Verhältnis zur Zeit: die Legitimation der Vorläufigkeit, welche die Beobachter im 17. Jahrhundert so beeindruckt hatte. In der Form der Mode kann jede Möglichkeit und jede Neuheit interpretiert werden, aufgrund dessen, dass sie vorläufig ist. Die Mode vergeht und man weiß es: Wer sich an sie bindet, bindet sich in der Tat an nichts, weil sie sich ohnehin ändert. Die Negation des aktuellen Trends negiert nur eine frühere Mode, also noch einmal nichts substantielles. In der Konformität zur Mode verzichtet man nicht auf den eigenen Anspruch auf Devianz, denn die Mode ist selbst deviant, sie verwirft ständig, was vorher galt und bietet den Individuen eine sozial anerkannte Form der Alterität. In der Mode ist man nur mit der Devianz konform: eine schwer zu negierende Konstellation. Dass alle anderen dasselbe tun, versichert die soziale Anerkennung und kann auch unbemerkt bleiben. Wenn die Mode so verbreitet ist, dass sie nicht mehr differenziert, ist sie schon vergangen und eine neue Mode zeichnet sich ab. In der Orientierung auf die Mode kann dann jeder Einzelne die eigene Originalität (Streben nach Neuheit) in »geschützter«, erkennbarer und für die anderen akzeptabler Form stilisieren – nur mit der Last, sie ständig verändern zu müssen, sonst taucht die dahinter steckende Paradoxie auf. Was verloren geht, sind zeitliche Stabilität und Anspruch auf Kohärenz der Ideen und der Überzeugungen des Individuums, die allerdings faktisch schon wegen der Notwendigkeiten der funktionalen Differenzierung obsolet geworden sind. Die moderne Ge61

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sellschaft erfordert nicht mehr absolute Verlässlichkeit und Voraussehbarkeit der Einzelnen – ohne sie deshalb sozial ungestützt zu lassen. Es handelt sich aber um bloß punktuelle und kontingente Orientierungen, eben wie die Tendenzen der Mode, welche sozial anerkannte Bezüge anbieten aber von jedem Kohärenzzwang absehen. Die Einmaligkeit des Individuums liegt im Grunde gerade in seiner Art und Weise, diese zahlreichen und wandelbaren Referenzen zu kombinieren und zu koordinieren: anscheinend ein zureichender Freiheitsraum, um den generalisierten Anspruch auf Originalität zu rechtfertigen.

4 Die Mode ist und bleibt schließlich wahnsinnig und hütet sich, auf diese Konnotation zu verzichten. Vom Wahnsinn behält sie nämlich die Aspekte der Originalität und Einmaligkeit, während dagegen die radikale Alterität neutralisiert wird, die den Wahn unverständlich und bedrohlich macht. Es ist als ob es der brechenden und heroischen Kraft des absolut Anderen, das aus der modernen Semantik ausgeschossen werden muss aber nicht ausgeschossen werden kann, gelingen würde, versteckt hinter der scheinbaren Frivolität und Nichtigkeit der Phänomene der Mode »wiedereinzutreten« und dadurch akzeptabel zu werden. Die moderne Form der Individualität bringt unvermeidlich die Unterscheidung von Weisheit und Wahnsinn mit sich, ohne die sie nicht gangbar wäre und ohne die sie keine Orientierungskriterien liefern könnte. Die Weisen müssen von den Wahnsinnigen unterschieden werden können – obwohl sich im Hintergrund ein Bewusstsein abzeichnet, dass es unmöglich ist, wirksam den Wahn auszuschließen, der fasziniert und in indirekten und meistens eingeschränkten Formen überhand nimmt. Der Wahn kann also bewundert werden, aber er muss ferngehalten werden; er kann beobachtet, muss aber nicht praktiziert werden, weil er in den unendlichen Wirbeln der Paradoxie und ihren Oszillationen mitreißen würde. Obwohl er alle fasziniert und Respekt einjagt, betrifft der Wahn nur wenige Leuten, deren Andersartigkeit die Normalität der anderen bestätigt. In der Form der Mode kann aber der Wahn seine Ubiquität nachholen – obgleich in frivoler und nicht ernst genommener Form (anders als in der Reflexion über Mode im 17. Jahrhundert): Alle sind davon betroffen, ob sie die Mode suchen oder nicht, ob sie davon wissen oder nicht, und sie können sie ohne Verzicht auf die Vorteile und Stütze der Normalität erfahren. In 62

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dieser normalisierten und neutralisierten Version erlaubt die Mode eine alltägliche Praktik der Extravaganz und der Originalität, der Andersartigkeit und der Einmaligkeit – des Wahns, anders sein zu müssen und die Devianz als Norm anzuerkennen. Dass dies wenig beachtet wird, ist nur ein weiterer Beweis der Wirksamkeit dieser Lösung.

Anmerkungen 1 2

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Foucault, Michel: Histoire de la folie à l’âge classique, Gallimard, Paris 1972 (italienische Übersetzung: Storia della follia nell’età classica, Rizzoli, Milano 1992). Hier S. 218, italienische Ausgabe. Niklas Luhmann hat ausführlich die gesellschaftlichen Folgen des logischen Problems der Paradoxien behandelt, vgl. zum Beispiel: Luhmann, Niklas: »Tautologie und Paradoxie in den Selbstbeschreibungen der modernen Gesellschaft«, in: Zeitschrift für Soziologie, 16 (1987), S. 161-174; Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1990, S. 93ff; Luhmann, Niklas: »Stenographie und Euryalistik«, in: Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, K. Ludwig (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche: Situationen offener Epistemologie, Frankfurt am Main 1991, S. 58-82. Siehe auch Esposito, Elena: »Die Paradoxien als Unterscheidungen von Unterscheidungen«, in: Gumbrecht, H.U./Pfeiffer, K.L. (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche, a.a.O., S. 35-57. Die diesbezüglich weit benutzte Figur des re-entry stammt aus Spencer Brown, George: Laws of Form, Julian Press, New York 1972 (Allen & Unwin, London 1969). Einen negativen Bezug stellen die verschiedenen Lösungen nach dem Modell der Typentheorie, welche die Paradoxie ausschließen, um sie dann auf einem anderen Niveau wieder auftauchen zu sehen; seit Gödel weiß man, das dies unvermeidlich ist. Eine vor allem in den siebziger Jahren verbreitete Tendenz: vgl. u.a. Laing, Ronald D.: The Divided Self, Tavistock Publications Limited, London 1959. Luhmann, Niklas: »Inklusion und Exklusion«, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 6, Opladen 1995, S. 237-264, hier S. 249. Foucault, Michel: Histoire de la folie à l’âge classique, a.a.O., S. 481, italienische Ausgabe. Vgl. u.a. Warnke, Frank J.: Versions of Baroque. European Literature in the Seventeenth Century, Yale U.P., New Haven-London 1972; Hocke, Gustav René: Die Welt als Labyrinth. Manier und Manie in der europäischen Kunst, Hamburg 1977 (italienische Übersetzung: Il mondo come labirinto. Maniera e mania nell’arte europea. Dal 1520 al 1650 e nel mondo d’oggi, Teoria, Roma-Napoli, 1989. Pascal, Blaise: »Pensées«, in: Lafond, Jean (Hg.): Moralistes du XVIIe Siècle, Laffont, Paris 1992 (1670), S. 321-604, hier N.31. Zu diesem für die Systemtheorie grundlegenden Übergang siehe u.a. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1997, Kap. 4. Vgl. Luhmann, Niklas: »Individuum, Individualität, Individualismus«, in: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd.3, 1989, S. 149-258, hier S. 181ff. Ebd., S. 214. Ebd., S. 221. Für eine komplexere Behandlung des amour-passion aus soziologischer Sicht vgl. Luhmann, Niklas: Liebe als Passion: Zur Codierung von Intimität, Frankfurt am Main 1982. »Il y a des gens qui n’auraient jamais ètè amoureux s’ils n’avaient entendu parler de l’amour«. La Rochefoucauld: »Réflexions ou sentences et maximes morales«, in: Lafond, Jean (Hg.): Moralistes du XVIIe Siècle, Laffont, Paris 1992 (1665), S. 134-193, hier N.136.

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Vgl. etwa Stichwort »Mode« in: Ritter, Joachim/Gründer, Karl Fried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel/Stuttgart 1984; Roche, Daniel: La culture des apparences, Fayard 1989, S. l; Luhmann, Niklas: »Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst«, in: Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, Karl Ludwig (Hg.): Stil: Geschichten und Funktionen eines Kulturwissenschaftlichen Diskurselements, Frankfurt am Main 1986, S. 620-672, hier S. 653. de Montaigne, Michel: Essais (1580-1588) (italienische Übersetztung: Saggi, herausgegeben von Virginio Enrico, Mondadori, Milano, 1986, hier I.XLIX). de La Bruyère, Jean: »Les Caractères ou les moeurs de ce siècle«, in: Lafond, Jean (Hg.): Moralistes du XVIIe Siècle, Laffont, Paris 1992 (1688), S. 693-968, hier XIII. »Dialogue entre la Mode et la Raison«, La Mode, 20 Mai 1807, S. 222-223, zitiert nach Kleinert, Annemarie: Le »Journal des Dames et des Modes« ou la conquête de l’Europe féminine, Thorbecke, Stuttgart 2001, 2001, S. 446. Della Casa, Giovanni: Galateo, Ed. Einaudi, Torino 1994 (1558), XXIX. Kant, Immanuel: »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«, in: ders.: Werkausgabe, Bd. XII, Frankfurt am Main 1988 (1798), §68. Vgl. Fitelieu: La Contre-Mode, Louys de Heuqueville, Paris 1642. Ebd., S. 16. Figuière: La Vertu à la Mode, Estienne David, Aix-en-Provence 1641, S. 30. Ebd. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Sämtliche Werke, Ed. H. Glockner, Stuttgart 19271940, Bd.17, S. 245; Bd.13, S. 415; Bd.18, S. 165. Vgl. Baudrillard, Jean: L’échange symbolique et la mort, Gallimard, Paris 1976, S. 112 (italienische Übersetzung: Lo scambio simbolico e la morte, Feltrinelli, Milano 1984). Zur Anti-Mode siehe Lipowetsky, Gilles: L’empire de l’éphémère. La mode et son destin dans les sociétés modernes, Gallimard, Paris 1987 (italienische Übersetzung: L’impero dell’effimero, Garzanti, Milano, 1989); Davis, Fred: Fashion, Culture and Identity, University of Chicago Press, Chicago 1992, Kap.VIII. de La Bruyère, Jean: »Les Caractères ou les moeurs de ce siècle«, in: Lafond, Jean (Hg.): Moralistes du XVIIe Siècle, Laffont, Paris 1992 (1688), XIII, 11. Diese Feststellung findet man auch bei Simmel, Georg: »Die Mode«, in: Philosophische Kultur. Gesammelte Essays, Leipzig 1911 (1905) (italienische Übersetzung: La moda e altri saggi di cultura filosofica, Longanesi, Milano, 1985, S. 40) – und bei vielen anderen Autoren. Zum Unterschied zwischen der vormodernen und der modernen Form der Orientierung an ein Modell siehe Esposito, Elena: »Vom Modell zur Mode. Formen und Medien der Nachahmung«, in: Soziale Systeme, 9, 1, 2003, S. 88-104. Das ist für Simmel 1905 a.a.O. und für viele andere (zum Beispiel Goblot, E.: La barriere et le niveau, PUF, Paris 1967, S. 41-50 (1. Ed. 1925), hier S. 149; italienisch: »I fenomeni di moda nelle società borghesi«, in: Ragone, Gerardo (Hg.): Sociologia dei fenomeni di moda, Angeli, Milano 1976, S. 143-150; Katz, D./Schanck, R.L.: Social Psychology, Wiley and Sons, New York 1938, S. 101 (italienisch: »I costumi e le mode«, in: G. Ragone (Hg.): Sociologia dei fenomeni di moda, a.a.O. S. 92-104); König, René: Macht und Reiz der Mode, Düsseldorf/Wien 1971, S. 54, italienische Ausgabe) die grundlegende Eigenschaft der Mode. Siehe dazu König, René: Macht und Reiz der Mode, a.a.O., Kap. XII, S. 113-118. Luhmann, Niklas: »Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst«, in: Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, Karl Ludwig (Hg.): Stil: Geschichten und Funktionen eines Kulturwissenschaftlichen Diskurselements, a.a.O., S. 655.

Clemens Pornschlegel

»Und natürlich kann geschossen werden.« Zum politischen Wahn der Roten Armee Fraktion

Im Reich der Embleme, die für die identifikatorischen Praktiken von entscheidender Bedeutung sind, hat auch der Wahnsinn seinen Platz. Ein Verrückter ist, allgemein gesprochen, jemand, der souverän über die Embleme verfügt. Er ist in seiner in sich geschlossenen, imaginären Welt der unumschränkte Herr der Embleme. 1 Pierre Legendre

1 Gerd Koenen hat in seinem 2003 erschienenen Buch Vesper, Ensslin, Baader das Phänomen RAF rückblickend als ein »gesamtgesellschaftliches Psychodrama« charakterisiert, bei dem es darum gegangen sei, »die Geister des 1945 katastrophisch und in Schande untergegangenen Nationalsozialismus unter den schrillen Klängen und Tänzen kulturrevolutionärer Riten mit Fratzen und Feuerwerk, Pech und Schwefel noch einmal auszutreiben«.2 Koenen begreift den sogenannten revolutionären Kampf im Nachhinein als eine Art wilder Gruppentherapie und unterzieht das Projekt der Weltrevolution aus Deutschland einer ebenso späten wie ernüchternden Realitätsprüfung. In seiner ironischen Selbstdistanzierung – Gerd Koenen war bis 1981 Redakteur der Kommunistischen Volkszeitung – unterschlägt der Satz 65

Clemens Pornschlegel

freilich einen entscheidenden Sachverhalt: dass nämlich das »gesamtgesellschaftliche Psychodrama« des deutschen ›Terrorismus‹ oder der revolutionären ›Stadtguerilla‹ von den Zeitgenossen zu keiner Sekunde als polit-therapeutisches Theater wahrgenommen worden ist, von niemandem. Historisch sind die Aktionen der RAF von sämtlichen Beteiligten – von den Militanten, den Sympathisanten, den Staatsanwälten, den Polizisten, den politischen Parteien, von der nationalen und der internationalen Öffentlichkeit – durchweg als reale politische Aktionen ernst genommen worden. Bitter ernst sogar. Etwas anderes war auch nur schwer möglich gewesen. Bis zum Jahr 1977 hatten die Anschläge der RAF siebenundvierzig Menschen das Leben gekostet. Die Tötung von Menschen, die als kriegerischer Akt ausgeführt und gerechtfertigt wird, ist kategorial etwas anderes als ein ›Psychodrama‹. Mit ironischspielerischem ›Als ob‹ und privat-therapeutischen Finalitäten hatten die Aktionen der RAF nichts zu tun. Dennoch macht Koenens Beschreibung auf einen wichtigen Sachverhalt aufmerksam. Sie setzt den Akzent nämlich auf die massiven Übertragungsphänomene, die sowohl den Kampf der RAF-Mitglieder gegen die politischen Strukturen der Bundesrepublik als auch den Kampf der staatlichen Institutionen gegen die RAF motiviert und zugleich intensiviert haben. Gespenstische Wiedergänger spielten auf beiden Seiten des Konflikts eine Rolle. Dass es um die ›Austreibung der Geister‹ des Nationalsozialismus ging, um das blutig ausagierte ›Nachspielen‹ unbewältigter, historischer Konstellationen, war ein offenes Geheimnis, das den ideologischen und emotionalen Kern der Auseinandersetzungen bildete. Alle Manifeste, Bekennerschreiben und Info-Briefe der RAF, wenn sie das ›Kontinuum‹ der Nazi-Herrschaft in der Gegenwart der ›BRD‹ und des ›US-Imperialismus‹ anprangern, legen Zeugnis davon ab. Und für die Gegenseite gilt, dass »die Bonner Sozialliberalen durch die Bank die RAF-Gewalt aus voller Überzeugung als Wiederkehr von Nazi-Gewalt angesehen haben« und »sich als Demokraten im Abwehrkampf gegen einen neuen Faschismus«3 fühlten. Beide Seiten sahen sich mithin den Gespenstern des untergegangenen Dritten Reiches gegenüber, den Vertretern einer verschwundenen Welt, deren Wiederkehr es mit allen Mitteln zu bekämpfen galt.

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»Und natürlich kann geschossen werden.«

2 Bereits der Name RAF schloss eine Wiederholung der NS-Vergangenheit und der Geschichte des Zweiten Weltkrieges in sich ein. Die Sigle RAF bezeichnet nicht nur eine Fraktion der Roten Armee, sondern RAF bezeichnet auch die britische Royal Air Force. Anders gesagt, im Namen RAF wurden auf der Ebene des signifikanten Materials zwei Siegerarmeen von 1945, Royal Air Force und Rote Armee, stillschweigend fusioniert und für die Neue Revolution aus Deutschland in Anspruch genommen. Die Kinder der nationalsozialistischen Elterngeneration beerben im Emblem RAF ganz offen die alliierten Siegermächte und machen deren Namen für ihren eigenen, nachholenden Kampf gegen das ›System‹ mobil. Dabei steht der Begriff ›System‹ im Polit-Diskurs der RAF für zwei, historisch gemeinhin unterschiedene Systeme: sowohl für den deutschen ›Faschismus‹ als auch für die westlichen, parlamentarischen Demokratien, und zwar im Sinne der seinerzeit gängigen Gleichungen ›Kapitalismus = Imperialismus = Faschismus‹ beziehungsweise ›US = SS‹. Verdrängt blieb dabei nur eines: dass nämlich das so genannte ›System‹ auch die historisch exakte Bezeichnung dessen gewesen war, was die Nazis in der Weimarer Republik bekämpft und was sie 1933 liquidiert hatten. Bezeichnenderweise gibt es keinen einzigen Text der RAF, der diese augenfällige Parallele je reflektiert hätte. Die Tatsache der Wiederaufnahme beziehungsweise die Weiterverwendung des alten Begriffs blieb trotz der Evidenz seiner Wiederholung unmarkiert. Für die RAF gab es offenbar keine Zäsur im politischen Diskurs, die der 8. Mai 1945 gesetzt hätte. Nicht auf der Ebene der Signifikate, wohl aber auf der Ebene der Signifikanten enthält das Emblem RAF jedenfalls eine ganze Serie identifikatorischer Bezüge, die die Aktionen der Revolutionäre symbolisch als ›Wiederholungen‹, wenn nicht als ›Wiedergutmachungstaten‹ ausweisen, als Taten zumindest, die durchgängig ambivalent codiert sind. Der Name RAF schließt erstens die Identifikation mit den beiden Siegermächten des Zweiten Weltkrieges in sich, er beinhaltet zweitens aber auch – auf einer impliziten Ebene, sofern es um die Wiederaufnahme oder genauer: um die Fortführung des Kampfes gegen das ›System‹ und gegen den ›zionistischen‹ Welt-Kapitalismus beziehungsweise gegen die ›israelischen Nazis‹ geht4 – eine unbewusste Identifikation mit der deutschen Elterngeneration. In ihren programmatischen Schriften begreift die RAF den Zweiten Weltkrieg zu keiner Sekunde als vergangenen 67

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oder beendeten Krieg, sondern sieht in ihm lediglich eine Episode unter anderen im kontinuierlich fortgeführten ›Klassenkampf‹, der erst mit dem Triumph des Proletariats, nach dem apokalyptischen ›letzten Gefecht‹, beendet wäre. In der Erklärung zur Aktion des »Schwarzen September« vom November 1972 heißt es in diesem Sinn: »Der Nationalsozialismus war nur die politische und militärische Vorwegnahme des imperialistischen Systems der multinationalen Konzerne.«5 Der Satz ist eindeutig. Erstens, der Nationalsozialismus ist nach wie vor nicht vergangen, und zweitens, er war und ist keine exklusiv deutsche Angelegenheit, sondern lediglich eine der terroristischen Masken des kosmopolitisch agierenden Kapitals und seiner Agenten, die das deutsche Volk beziehungsweise Proletariat 1933 zuerst unterjochten, um es nach 1945 dann ein zweites Mal zu ›kolonisieren‹. In der Geschichtsschreibung der RAF zur Bundesrepublik stellt sich der Zusammenhang wie folgt dar: »Die [amerikanische] Besatzungsmacht trat der deutschen Bevölkerung in den Reeducation-Kampagnen nicht anders gegenüber als kolonialistische Eroberer der autochthonen Bevölkerung eines besetzten Landes in der Dritten Welt. Die Kampagne beruhte auf der [...] rassistischen Behauptung einer ›spezifischen Charakterstruktur des deutschen Volkes‹. [...] Also ging es für die Besatzer darum, [...] die Kultur, das Geschichtsverständnis, das Bewußtsein der historischen Existenz und Identität [...] zu brechen«6

Die Doppelidentifikation der RAF mit den Siegern des Zweiten Weltkrieges und mit den deutschen Verlierern, die kurzerhand zu den kolonisierten Opfern des Imperialismus erklärt werden, ist deutlich. Die Rechtfertigungserklärung vom 24. Mai 1972, im Anschluss an das Bombenattentat auf das Hauptquartier der amerikanischen Streitkräfte in Heidelberg, macht die Ambivalenz nicht weniger explizit. Es heißt dort: »Die amerikanische Luftwaffe hat in den letzten 7 Wochen mehr Bomben über Vietnam abgeworfen als im 2. Weltkrieg über Deutschland und Japan zusammen. Von weiteren Millionen Sprengstoffen ist die Rede, die das Pentagon einsetzen will, um die nordvietnamesische Offensive zu stoppen. Das ist Genozid, Völkermord, das wäre die ›Endlösung‹, das ist Auschwitz. Die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland unterstützten die Sicherungskräfte bei der Fahndung nach den Bombenattentätern nicht, weil sie mit den Verbrechen des amerikanischen Imperialismus und ihrer Billigung durch die herrschende Klasse hier nichts zu tun haben wollen; weil sie Auschwitz, Dresden und Hamburg nicht vergessen haben; weil sie wissen, dass gegen die Massenmörder von Vietnam Bombenanschläge gerechtfertigt sind; weil sie die Erfahrung

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gemacht haben, dass Demonstrationen und Worte gegen die Verbrecher des Imperialismus nichts nützen.«7

Die polit-historische Konstruktion mitsamt ihrem Wunsch nach dem guten, ›anti-imperialistischen‹ Volk ist leicht nachvollziehbar. Die drei Namen ›Auschwitz‹, ›Dresden‹ und ›Hamburg‹ werden in ein und dieselbe Serie von Kriegsverbrechen eingeschrieben, die sich bruchlos bis in die Gegenwart fortschreibt. Die Eigennamen sind Symbole ein und desselben massenmörderischen Systems. Mit der Folge, dass diejenigen, die 1972 mit Bombenattentaten gegen den amerikanischen Imperialismus kämpfen, zugleich auch Widerstand leisten gegen ›Auschwitz‹ und sich darüber hinaus auch noch für ›Dresden‹ und ›Hamburg‹ revanchieren können. Die deutschen Massenmörder von einst, das heißt die Heydrichs, Hofmanns, Müllers, Eichmanns, Pohls, Höß' oder Kleins, verwandeln sich unter der Hand in die neuen »Massenmörder von Vietnam«, während die Begriffe ›Endlösung‹ und ›Auschwitz‹ – in einer Art neuer translatio imperii – auf Vietnam übertragen werden. Die Verbrechen werden aus ihrem historisch-geographischen Kontext gelöst, die Eigennamen der Orte der Verbrechen verlieren ihre differenzierte deiktische Funktion, um fortan als Chiffren eines ebenso tödlichen wie proteischen Kapitalismus überall endlos wiederkehren zu können. Gesagt ist damit vor allem freilich dies: dass die ›Endlösung‹ nicht allein von NaziDeutschland geplant und realisiert wurde, und dass die deutschen Monstrositäten lang schon in ein neues Herz der Finsternis weitergewandert sind. Die historischen Räume, Zeiten und Ereignisse fallen einem entdifferenzierten Global-Monster namens ›Imperialismus‹, ›Kapitalismus‹, ›System‹, ›Faschismus‹, ›Staat‹, ›Konterrevolution‹ anheim, dem einzig ein ebenso globaler wie endloser revolutionärer Krieg adäquat zu antworten versteht: »kämpfen, unterliegen, nochmals kämpfen, wieder unterliegen, erneut kämpfen und so weiter bis zum endgültigen sieg.«8

3 Der moralische Gewinn der doppelten, identifikatorischen Serie und der damit einhergehenden Übertragungen liegt auf der Hand. Es ist die Exkulpation. In den RAF-Texten geht es nirgendwo je um eine Entschuldigung, die an die Adresse der Opfer der Deutschen gerichtet würde,

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schon gar nicht an die jüdischen Opfer. Es geht auch nicht um Trauer. Stattdessen geht es um die Entschuldung der deutschen Bevölkerung, die zum Opfer des kapitalistisch-imperialistischen System-Terrors erklärt wird, und um die Entschuldung eines »Landes, das Auschwitz hat widerstandslos über sich ergehen lassen«.9 Die RAF macht den globalen Kapitalismus für den Faschismus verantwortlich, einschließlich des deutschen, und deswegen kann sie inmitten einer liberalen WoodstockGegenwart auch noch den Nationalsozialismus bekämpfen, indem sie gegen den Vietnam-Krieg und den US-Imperialismus kämpft. Man kann damit exakt das tun, was die Deutschen zwischen 1933 und 1945 mehrheitlich gerade nicht getan haben. Das heißt, mit dem eigenen Kampf lässt sich eine traumatisch nachwirkende historische Unterlassung an der Stelle der Elterngeneration rückgängig machen. Man handelt entschlossen dort, wo die Generation der Eltern nicht gehandelt und nicht gekämpft hat, und macht einen Fehler wieder gut. Und weil man den Nationalsozialismus in Gestalt der US-Armeen bekämpft, kann man sich zugleich auch mit der besiegten beziehungsweise ›kolonisierten‹ deutschen Bevölkerung identifizieren. Reimut Reiche hat das Motiv dieser konfusen Konstruktion treffend nachgezeichnet: »Die uns [die Studentenbewegung beziehungsweise den SDS] immer beschäftigende Frage nach dem ›revolutionären Subjekt‹ und nach den antikapitalistischen Potenzen im empirischen Proletariat war unbewußt wohl sehr stark von dem magischen Wunsch bestimmt: die Volksmassen, und damit die Massen unserer Eltern, seien im Innersten und in Wahrheit ›gut‹ und das nationalsozialistische ›Böse‹ […] sei ihnen äußerlich. «10

Es ist kaum zu übersehen, dass man es im historiographischen Konstrukt der RAF zur Geschichte der BRD mit permanenten Elternidentifikationen und Übertragungen im genauen psychoanalytischen Sinn zu tun hat, also mit Affektverschiebungen, in denen frühere emotionale Beziehungen in gegenwärtigen Konstellationen wiederholt werden. Die Identifikationen waren im übrigen auch für die damaligen Beteiligten nicht ganz unbekannt, wie Bernward Vespers Romanessay Die Reise und seine penetrante Vater-Hitler-Identifikation zeigt, wie umgekehrt aber auch die aggressive Ablehnung jeder Art von Psychoanalyse durch die RAFMitglieder nahelegt. Die Ablehnung der so genannten »kleinbürgerlichen Psycho-Kisten«11 lässt sich durchaus auch als narzisstischer Schutz vor unliebsamen Begegnungen mit den eigenen Identifikationsobjekten begreifen. Ulrike Meinhof formulierte in diesem Sinn: »Hör endlich mit der scheiss-psychoanalyse auf. Denn es gibt nur eine befreiung […] – 70

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das ist die gewalt gegen die schweine: knarre, bewusstsein und kollektiv.«12 Und: »Mit revolutionärer Moral befreit man sich von der Qual und den Schuldgefühlen der Bürgerlichen.«13 Das Motiv der Entscheidung für den revolutionären Kampf lässt sich kaum klarer ausdrücken. Der bewaffnete Kampf befreit von Schuld, er erlaubt es, Schluss zu machen mit falschen Gewissensqualen. Er stellt sich mithin als eine Art militanter Buße dar, die die Sünde leugnet, für die sie büßt beziehungsweise nicht büßt. Denn erstens ist ›das System‹ schuld, das sich des Nationalsozialismus konterrevolutionär bedient hat, gegen die besseren deutschen Volksmassen. Und zweitens ist ›Schuld‹ per definitionem nur eine ideologische, also ›falsche‹ Kategorie. In Wahrheit gibt es sie gar nicht, es ist nur ›falsches Bewusstsein‹, ›Gehirnwäsche‹, ›Konterrevolution‹. Der Sprung in den Negationismus liegt in der Tat nahe, und Horst Mahler hat ihn in der Zwischenzeit bekanntlich schamlos vollzogen.14

4 Die Evidenz der Übertragungen beantwortet freilich noch nicht die Frage nach den psychischen und politisch-institutionellen Voraussetzungen, die sie ermöglicht haben. Im Nachhinein zu konstatieren, dass in der Kulturrevolution der späten 60er und 70er Jahre Übertragungen stattgefunden haben, liefert noch keine Erklärung, was und wie dort genau übertragen worden ist. Es erklärt noch nicht das ›Zwingende‹ der historischen Überblendungen oder Konfusionen. Wie wird die Verwechslung von Gegenwart und Vergangenheit möglich? Warum tauchten in den Köpfen der Militanten unentwegt Bilder aus der Endzeit der Weimarer Republik und Bilder sozialistischer Revolutionen auf, die sich wie ein Schleier über die Gegenwartswahrnehmung legten? Warum sah man sich – und zwar nicht allein auf der Ebene politischer Theorien, sondern vor allem auch auf der Ebene der Affekte – so unmittelbar der Wiederkehr des ›Faschismus‹ ausgesetzt, der einen jetzt selbst genau so verfolgte, wie er nach 1933 die Juden verfolgt hatte?15 Und warum setzte umgekehrt die politische und intellektuelle Elite der Bundesrepublik, von Horkheimer über Habermas bis zu Schmidt, die militante Linke permanent mit der SA gleich?16 Es geht hier nicht nur um zweifelhafte historische Analogiebildungen und nicht allein um eine Wiederkehr des Verdrängten, das so verdrängt im Übrigen nicht war. Spätestens seit Mitte der 60er Jahre ist die Nazi71

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Vergangenheit in sämtlichen politischen Debatten präsent. Es geht nicht so sehr um ein überraschendes Wiederauftauchen der Nazi-Vergangenheit, um so mehr aber – das machen die Kriegserklärungen der RAF überdeutlich – um die Frage nach der ›richtigen Seite‹ im großen, unbeendeten Krieg, also um das Verlieren und das Siegen und, nicht zuletzt, das Endsiegen. Das heißt, es geht um die Lösung der Scham- und der Schuldfrage, die die Kinder von ›Tätern‹ heimsucht, um die Ablösung von den identifikatorischen Schreckensbildern, die mit der infamen deutschen Abstammung gegeben sind.17 Die Antwort der RAF ist in der Tat radikal: Sie leugnet die Pertinenz der Schuldfrage ganz einfach und verschiebt sie auf die amerikanische ›reeducation‹. ›Schuld‹ wird denunziert als Effekt einer ›Gehirnwäsche‹ des US-imperialistischen Kolonialherrn, der sich die ›guten‹ deutschen Massen unterworfen hat. »Die Psychologisierung der Politik durch die Besatzer in der Umerziehungskampagne als Mittel der Kolonisierung der Arbeiterklasse war eine Voraussetzung für die Institutionalisierung des Klassenkampfes.«18 ›Schuld‹ taucht mithin nur noch in Form ihrer aktiven Verleugnung auf, als das, womit ein für allemal Schluss zu machen ist und womit man genau dann Schluss machen kann, wenn man kämpft, und zwar auf der richtigen Seite dieses Mal. Wenn erst einmal der Neue Mensch oder der menschliche Mensch angekommen sein wird, wenn alle Unterdrückungen im und durch den finalen Kampf aufgehoben sein werden, am Ende der Zeiten, dann hört selbstverständlich auch die ›Schuld‹ und jede andere ›unmaterialistische Scheiße‹ auf. Die insistierende Frage nach den nationalen Filiationen, den entsprechenden Identifikationszwängen und Übertragungen wird dann ebenfalls überflüssig geworden sein. Die Konstruktion mutet abenteuerlich und einigermaßen realitätsfern an, an Willen zur Kohärenz mangelt es ihr nicht. Im Gegenteil. Die RAFTexte sind von nachgerade beängstigender Kohärenz, zumindest dann, wenn man die beiden Prämissen vom bösen globalen ›System‹ auf der einen und von den guten Massen – um nicht zu sagen: von den guten Eltern – auf der anderen Seite mitmacht, das heißt, wenn man sämtliche sozio-historischen Erkenntnisse zum NS-Regime und zu dessen Vorgeschichte fahren lässt. Nicht zufällig spielen historische Arbeiten zur Shoah, zum SS-Staat, zur totalen Herrschaft oder zur ›verspäteten Nation‹ in den Deutschland-Analysen der RAF keinerlei Rolle, ganz im Gegensatz zu Mao-Tse-Tungs Ausführungen zum chinesischen Partisanenkrieg beziehungsweise zu Lenins Revolutionsanweisungen, die unent72

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wegt zitiert und mit scholastischem Eifer kommentiert werden. Klaus Theweleit hat der RAF – der ›Radikalen Abstraktionsfraktion‹, wie er sie nennt – deswegen zu Recht ›Realitätsverlust‹ bescheinigt. »Verrückt erschien, was die RAF propagierte: ›die Guerilla als Fisch-im-Wasser unserer Städte‹ – das konnte mir keiner weismachen: da war kein Fischwasser um einen rum, in keiner Stadt in Deutschland, keinem Stadtteil. Im Höchstfall ein paar Leute, die einen (kurzfristig) versteckt hätten. Dafür Millionen Bildzeitungsspitzel. [...] Daraus [ergab sich] die Wahrnehmung: es stimmt nicht, was ›die Genossen‹ erzählen, was sie schreiben, was sie agitieren, was sie sich versprechen, wie sie die deutsche Geschichte revolutionieren wollen, nichts stimmt, es stimmt kein Wort. Dabei lag – das hatte ich die Jahre vorher gelernt – die Existenzberechtigung für das eigene Agieren darin, daß es stimmen mußte, was man schrieb. Daß es in irgendeiner Weise mit der Realität zusammenhängen mußte, nicht ersetzbar war durch Sätze wie ›Kill the pigs‹ und ›Sieg im revolutionären Volkskrieg‹.«19

Theweleits Beobachtung ist genau und lässt sich an den Texten der RAF problemlos verifizieren. Die Avantgarde der deutschen Stadtguerilla ersetzt jeden fragenden Realitätsbezug durch einen bei den ›Klassikern‹ abgeschriebenen Partisanenkriegsplan, dem die Wirklichkeit permanent nachgeordnet wird oder besser: der ihr unentwegt anbefohlen wird. ›Anleitungen zum Handeln, verdammt!‹ Und zwar deswegen, weil die Wirklichkeit genau das ist, was im und vom Kampf des so genannten Kollektivs überhaupt erst hergestellt wird. Die RAF stellt sich in die Tradition eines dogmatischen Marxismus-Leninismus, der sich, wie Iring Fetscher formulierte, vor allem dadurch auszeichnet, »den Sinn der historischen Entwicklung [im Ganzen] zu erkennen«.20 Die Avantgarde des welthistorischen Subjekts – und als solche versteht sich die RAF – handelt folglich nicht einfach wie eine politische Gruppe unter anderen, sondern ihr Handeln ist stets auch Enthüllung, Demaskierung, Entlarvung, anders gesagt: es ist Apokalypse des notwendigen Laufs der Geschichte, mit dem die Gruppe sich a priori in Einklang weiß. »Wir können die Herrschenden nicht zwingen, die Wahrheit zu sagen; aber wir können sie zwingen, immer unverschämter zu lügen.«21 Die Verrücktheit, die Theweleit an den RAF-Kommuniqués bemerkt, leitet sich aus dieser geschichtsphilosophisch fundierten Allmachtsposition beziehungsweise aus der Identifikation mit dem welthistorischen Absoluten ab, und sie führt unter anderem auch dazu, jeden einzelnen Kader, ganz wie in Brechts Maßnahme, je schon freizusprechen von jeder möglichen individuellen Schuld. Denn »nicht ihr spracht ihm sein 73

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[Todes]Urteil, sondern die Wirklichkeit.«22 Die Identifikation des Kampfkollektivs mit der Geschichtsbewegung im Ganzen zieht eine doppelte Entdifferenzierung nach sich. Zum einen wird die Differenz zwischen Sehen und Sagen zugunsten einer permanent dekretierenden Sprache einkassiert. Wo die einen nur falsches Bewusstsein haben, verfügen die anderen bereits über die Wahrheiten des Seins. Zu sehen gibt es deswegen genau das, was von der Gruppe verkündet wird, zum Beispiel, dass ab sofort »ein Ende der Bullenherrschaft abzusehen« sei, wie es in der Erklärung zur Befreiung Andreas Baaders vom 5. Juni 1970 vollmundig heißt.23 Wahrnehmungen, die aus der Differenz zwischen den Wörtern und dem Sichtbaren entstehen und womöglich zu einer differenzierteren Einschätzung der Lage führen könnten, fallen aus. Wie Theweleit sagt: »Die Welt schrumpfte zusammen auf ein paar Hauptzüge, die keiner Wahrnehmung mehr bedurften; alles wurde Setzung & Satzung, kaschiert mit Hyperaktivität.«24 Setzung & Satzung heißt aber: Man hat es mit einem Quasi-Gesetzgeber zu tun, mit einer regelrechten Gegen-Staatsgründung. Zum anderen wird damit die Differenz zwischen Sagen und Tun aufgehoben, die berühmt-berüchtigte Differenz zwischen ›Theorie und Praxis‹, die, wie Reimut Reiche formulierte, sich »immer und grundsätzlich in jedem einzelnen als Konflikt, sei es von DenkenWollen und Handeln-Sollen, sei es von Denken-Sollen und HandelnWollen niederschlug«.25 Die RAF löst den Konflikt durch Flucht nach vorne, nämlich durch den befreienden Sprung in die illegale, fortan durch die eigene Gesetzgebung legitimierte Aktion, in einen ›passage à l’acte‹, der die Selbstermächtigung zum Töten mit einschließt. Normative Konflikte zwischen Sagen und Handeln werden damit hinfällig. Man sagt, was man tut, und man tut, was man sagt, weil man sich vorab schon zum Herrn der Satzungen & Setzungen aufgeschwungen hat. Die zaudernden, kleinbürgerlichen Genossen bekommen entsprechend die Leviten gelesen: »Die Baader-Befreiungs-Aktion haben wir nicht den intellektuellen Schwätzern, den Hosenscheißern, den Alles-besserWissern zu erklären, sondern den potentiell revolutionären Teilen des Volkes«;26 »es genügt nicht, nur immer von der Kraft der Volksmassen zu reden, es kommt darauf an, sie endlich konkret zu entdecken«;27 »die Ismen-Krämerei überlassen wir gern den Schriftgelehrten [sic!], wenn wir nur der Revolution in Deutschland einen Schritt näher kommen«.28 Man versteht: Nicht umständlich interpretieren (wie verstockte Pharisäer), sondern verändern; Reden und Tun zur Einheit verschmelzen; Spaltungen und Widersprüche aufheben, indem man die Schweine killt und 74

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alle Verbrecher wegbombt, die einen am freien und guten menschlichen Leben hindern. Klaus Theweleit benutzt den Term ›verrückt‹ eher beiläufig, im Sinne von: ›der Wirklichkeit nicht angemessen‹, ›abgelöst von Erfahrungen‹. Hat man freilich die beiden Entdifferenzierungen im Blick – zwischen Sehen und Sagen, zwischen Sagen und Tun – und betrachtet man die Staats- oder Gesetzgebersprache der RAF-Kommuniqués, die in der Tat klingen, als entstammten sie dem ZK der Weltgeschichtsproduktion, so verliert der Term ›verrückt‹ seine Beiläufigkeit. Die Verrücktheit bezieht sich dann nämlich auf die fusionelle Aneignung der Instanz der politischen Souveränität, die die Spaltungen und normativen Gesetze gemeinhin begründet und das Allmacht-Delirium der Welt-Definition auf Distanz hält.29 Niemand kann als Subjekt-unter-anderen, das heißt als gewöhnlicher Nebenmensch dem Rest der Welt unter Gewaltandrohung befehlen, was ist und was zu tun ist. Niemand kann nach Belieben, das heißt ohne normative Legitimation, vom Denken respektive Sagen zum Tun übergehen, und erst recht nicht dann, wenn dieses Tun die Tötung von Menschen impliziert, das heißt einen Akt, der in sämtlichen Kulturen an mythische oder göttliche Instanzen delegiert ist, die über jedes einzelne sterbliche Subjekt hinausgehen. Genau diesen mythischen, göttlichen Bereich aber nimmt die RAF für sich in Anspruch, wenn sie sich, wie parodistisch auch immer, als Gegen-Staat und provisorische Regierung des Proletariats geriert – und zwar mit allem, was dazugehört: mit Emblem, Gründungsmanifest und Hymne30 – und wenn sie sich gleichzeitig das Recht zuspricht, Kriegserklärungen abzugeben und Erklärungen darüber, wer als Mensch gilt und wer nicht: »Der Typ in der Uniform ist ein Schwein, das ist kein Mensch, und so haben wir uns mit ihm auseinanderzusetzen. [...] Es ist falsch, überhaupt mit diesen Leuten zu reden, und natürlich kann geschossen werden.«31 Die fusionelle Aneignung der souveränen Instanz und der Aufbau eines neuen ›Staates‹ – im Sinne der Definition Gudrun Ensslins: »das kollektiv ist der politische kern der guerilla, sozusagen ihre seele; jeder einzelne kader ist die kleinste einheit des kollektivs«32 – bliebe natürlich unverständlich, bezöge man sie nicht auf die mit ihr verbundene, die Gegenstaats-Gründung und den bewaffneten Widerstand allererst rechtfertigende Identifikation der RAF-Kader mit den Ermordeten des Nationalsozialismus und bezöge man sie nicht gleichzeitig auf deren Vorstellung von der Fortdauer des NS-Regimes in der Gegenwart. Im ersten Manifest der RAF heißt es in diesem Sinn: »Was heißt: die Konflikte auf die 75

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Spitze treiben? Das heißt: sich nicht abschlachten lassen. Deshalb bauen wir die Rote Armee auf.«33 In der Haft formuliert Gudrun Ensslin: »Unterschied toter Trakt und Isolation: Auschwitz zu Buchenwald. [...] Wie wir drin uns ja nur darüber wundern können, daß wir nicht abgespritzt werden. Sonst über nichts.«34 Bommi Baumann schrieb: »Bevor ich nun wieder nach Auschwitz transportiert werde, schieß ich lieber vorher, das ist doch wohl klar.«35 Offensichtlich geht es hier um Schreckensbilder, um Vorstellungen vom so genannten Staat, dessen Wesen Vernichtung und Terror sind. Dabei handelt es sich allerdings um genau jenen Terror, der programmatisch nicht ins Grundgesetz der Bundesrepublik, sondern ins Dritte Reich eingelassen war. Hitler war es, der in Mein Kampf geschäumt hatte: »Terror bricht man nicht durch Geist, sondern durch Terror«;36 »Zwang bricht man nur durch Zwang und Terror durch Terror«.37 Was in diesen Sätzen auf der ganzen Linie ausfällt, ist die Figur des Staates als eines Dritten, der die Vernichtungslogik von Allmachtsphantasien unterbinden könnte.38 Stattdessen wird der so genannte Staat zur terroristischen Vernichtungsmaschine, die sich im paranoiden Duell mit dem Rest der Welt befindet: ›Sie oder Wir‹, ›Siegen oder Untergehen‹, ›der Stärkere setzt sich durch‹, ›Kampf auf Leben und Tod‹. Was in den Statements der RAF beziehungsweise in der affektiven Beziehung der Kader zur staatlichen Autorität und Institutionalität immer wiederkehrt, ist genau dieses Terror-Bild, das immer weiter mit Hitler schreit und im Gründungmanifest der ›Stadtguerilla‹ im Übrigen explizit zitiert wird: »Friß, Vogel, oder stirb«.39 Die »Schweine, auf die geschossen werden kann«, sind stets die Funktionäre und lebenden Schreckensbilder eines kriminellen Vernichtungs-Staates, dessen ›Norm‹ die Außerkraftsetzung jeder Norm und die Maßlosigkeit der Vernichtung ist. Die pervertierte normative Logik des totalen Bewegungsstaats, wie die Nazis ihn ins Werk gesetzt hatten, hat Hannah Arendt wie folgt beschrieben: »Das Gesetz deutet nicht mehr auf den Zaun des Gesetzes hin, dessen relative Stabilität den Raum der Freiheit schafft und behütet, in welchem menschliche Bewegungen und Handlungen stattfinden, sondern es bezeichnet [...] wesentlich eine Bewegung. [...] Es läuft auf ein Gesetz der Ausscheidung von ›Schädlichem‹ oder Überflüssigem zugunsten des reibungslosen Ablaufs der Bewegung [der Natur oder der Geschichte] hinaus, aus der schließlich gleich dem Phönix aus der Asche eine Art Menschheit entstehen soll. Würde das Bewegungsgesetz in positives Recht übersetzt, so könnte sein Gebot nur heißen: Du sollst töten! «40

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Die RAF begegnet diesem Gesetz der so genannten ›Bewegung‹ nicht nur: sie wiederholt es. »Im Verlauf der Nacht [im Februar 1970] entwickelte [Gudrun] Ensslin ein neues Glaubensbekenntnis. [...] Alle zehn Gebote müßten gebrochen werden. Aus dem biblischen Gebot ›Du sollst nicht töten‹ müsse in dieser Welt der Gewalt werden: ›Du mußt töten‹.«41 Die RAF wiederholt das tödliche Un-Gesetz der totalen Bewegung gerade auch dann, wenn sie sich mit den Opfern des NS-Regimes identifiziert – und dann doch nicht identifiziert. Denn im Unterschied zu den unheroischen Opfern geht es gerade darum, sich »nicht abschlachten zu lassen« und »nicht so einfältig«42 zu sein, wie es im Konzept Stadtguerilla heißt, nicht so einfältig jedenfalls wie die ahnungslosen Idioten, die »wie Schlachtschafe in den Tod gegangen sind«.43 Die ebenso paranoide wie heldische Nicht-Einfalt führt folglich wieder in den NaziTerror zurück, den man gerade hatte fliehen wollen. Anders gesagt, die RAF wiederholt die delirant paranoide Position des Nazi-Vernichtungsstaates, und zwar bis hinein in den politisch instrumentalisierten Suizid. Holger Meins schrieb: »kämpfen bis zum endgültigen sieg. [...] also wenn du nicht weiter mithungerst – sagste besser, ehrlicher (wenn du noch weisst, was das ist: ehre): ›nieder mit der raf.‹ [...] entweder mensch oder schwein; entweder überleben um jeden preis oder kampf bis zum tod.«44 Klaus Theweleit hat dazu treffend angemerkt: »Als wäre der Geist ihrer Elterngeneration, dem sie hatten entkommen wollen, gebündelt in sie zurückgeschlüpft [...], als wären ihre Körper [...] nicht mehr in der Lage gewesen, dem deutschen Horror, der am Grund ihres Wesens abgespeichert lag, länger einen Widerstand entgegenzusetzen.«45

›Kampf bis zum letzten Atemzug‹, ›Endsieg‹, ›Ehre‹, ›Disziplin‹, ›tief empfundene Freiwilligkeit‹, ›wer abweicht, ist eine Ratte‹ – das sind die Wendungen, die in der RAF-Kommunikation ständig wiederkehren und ihre Subjekte zu den besessenen Wiedergängern eines untergegangenen Reichs machen, man könnte auch sagen: zu Alienierten, zu den Gefangenen einer imaginären Welt, in der sie den ›Weißen Wal‹ des ›Systems‹ ohne Rücksicht auf Verluste jagen.46

5 Entscheidenden Anteil an der Gefangenschaft der RAF in der Logik eines ausweglosen, suizidären Duells47 haben freilich nicht allein die ›Re77

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volutionäre‹, die identifikatorisch in den Nazi-Terror verstrickt sind, sondern auch die staatlichen und öffentlichen Autoritäten – Polizei, Richter, Lehrer, Theologen, Medien –, die auf die Herausforderung zum Duell mit dessen zugleich ängstlicher, aber auch zynischer Annahme reagiert haben, nämlich mit polizeilicher Gegengewalt, die jede politische und historische Diskussion von vornherein ausschloss. Auf die politischen und historischen Fragen, die die RAF mit jedem ihrer Manifeste und Bekennerschreiben stellte, antworteten sie mit Strafverfolgung, mit Polizei- und Pressekampagnen.48 Anstelle in den Aktionen der RAF die Frage nach der Schuld zwischen den Generationen und die politische Frage nach dem unmöglichen Erbe des ›Dritten Reichs‹ und seines maßlosen Terrorismus anzuerkennen, beschwor man unverzüglich das Gespenst des deutschen Terrors und sah eine Nazi-Bande dort, wo es um rebellische Jugendliche der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft ging, um »junge Leute der mittleren und oberen Mittelschicht«, wie Margarete Mitscherlich mit genauem soziologischem Blick schrieb.49 Nicht nur blieb man den in Identifikationskonflikte verstrickten ›jungen Leuten‹ eine Antwort schuldig, und zwar auf die Frage nach den Verbrechen der Elterngeneration und nach den ›deutschen Kontinuitäten‹, sondern man verleugnete vorab bereits die Frage, die man gleichwohl gehört hatte. So verkündete der seinerzeitige Bundeskanzler in der Regierungserklärung vom 13. März 1975: »Dies muß auch denjenigen gesagt werden, die es ja auch gibt – es sind nicht so ganz viele Menschen in unserem Lande –, die immer noch glauben, daß die Terroristen eigentlich einen politischen Anspruch erheben können, daß sie leider nur die falschen Mittel wählen. Es muß Schluß sein mit solcher Art von versteckter Sympathie. Wer da liebäugelt, macht sich mitschuldig.«50 Man kann in diesem ex officio gesprochenen Satz mitsamt seiner juristisch waghalsigen Schuldkonstruktion ›versteckter Sympathien‹ und privater ›Liebäugeleien‹ kaum etwas anderes lesen als die politische Institutionalisierung des Duells, in dem die Opfer, ganz einfach aufgrund der polizeilichen und militärischen Kräfteverhältnisse, von vornherein feststehen. »Der BRD-Staat ließ keinen Zweifel, daß man in puncto RAF bis zur völligen Vernichtung gehen würde.«51 Die Grauzone der Ereignisse aus der Stammheimer Nacht vom 17. auf den 18. Oktober 1977 folgte notwendig daraus.

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Legendre, Pierre: Das Verbrechen des Gefreiten Lortie, Freiburg 1998, S. 71. Koenen, Gerd: Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus, Köln 2003, S. 322. Theweleit, Klaus: Ghosts. Drei leicht inkorrekte Vorträge, Frankfurt am Main 1998, S. 37. Vgl. dazu das Programmpapier der RAF vom November 1972 »Die Aktion des ›Schwarzen September‹ in München. Zur Strategie des antiimperialistischen Kampfes«, in: Rote Armee Fraktion: Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, Berlin 1997, S. 151-177, hier S. 17: »Israel vergießt Krokodilstränen. Es hat seine Sportler verheizt wie die Nazis die Juden – Brennmaterial für die imperialistische Ausrottungspolitik. Sie benutzt München eben gerade nicht als Vorwand, wenn es jetzt palästinensische Dörfer bombt – es tut, was es sowieso tut als imperialistisches System: Es bombt gegen die Befreiungsbewegung.« – Zum Antisemitismus der ›Stadtguerilla‹ vgl. auch Koenen, Gerd: Vesper, Ensslin, Baader, a.a.O., S. 258. Rote Armee Fraktion: Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, a.a.O., S. 168. Rote Armee Fraktion: »Erklärung vom 13. Januar 1976«, in: Rote Armee Fraktion: Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, a.a.O., S. 211. RAF: »Erklärung vom 25. Mai 1972«, in: Rote Armee Fraktion: Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, a.a.O., S. 148. Meins, Holger: »Brief vom 1. 11. 1974«, in: Bakker Schut, Pieter (Hg.): Das Info. Briefe von Gefangenen aus der Raf. Aus der Diskussion 1973-1977. Dokumente, Hamburg 1987, S. 183. RAF: »Dem Volke dienen. Stadtguerilla und Klassenkampf«, in : Rote Armee Fraktion: Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, a.a.O., S. 128. Reiche, Reimut: »Sexuelle Revolution – Erinnerung an einen Mythos«, in: Baier, Lothar et al.: Die Früchte der Revolte. Über die Veränderung der politischen Kultur durch die Studentenbewegung, Berlin 1988, S. 45-71, hier S. 50-51. Meinhof, Ulrike: »Brief vom 22. August 1974«, in: Bakker Schut, Pieter (Hg.): Das Info, a.a.O., S. 144. Meinhof, Ulrike: »Brief vom 20. Mai 1973«, in: Bakker Schut, Pieter (Hg.): Das Info, a.a.O., S. 24. Ebd., S. 144. Vgl. die Texte, die Mahler über die Webside: www.deutsches-kolleg.org/hm beziehungsweise www.deutsches-reich.de propagiert. Vgl. Koenen, Gerd: Vesper, Ensslin, Baader, a.a.O., S. 124. Vgl. dazu auch: Aust, Stefan: Der Baader-Meinhof-Komplex, Hamburg 1989, S. 54. – Laut SDS-Legende soll Gudrun Ensslin nach der Ermordung Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967 im Republikanischen Club in Berlin heulend geschrieen haben: »Sie werden uns alle umbringen – ihr wisst doch, mit was für Schweinen wir es zu tun haben – das ist die Generation von Auschwitz, mit der wir es zu tun haben – man kann mit Leuten, die Auschwitz gemacht haben, nicht diskutieren. Die haben Waffen und wir haben keine. Wir müssen uns auch bewaffnen.« Vgl. Behrmann, Günter C.: »Kulturrevolution: Zwei Monate im Sommer 1967«, in: Albrecht, Clemens et. al.: Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt am Main, New York 1999, S. 312386, hier 320ff. Vgl. etwa die Sätze Bernward Vespers: »›Ich werde ein Buch schreiben‹, sagte ich zu Burton. (…) ›The title of the book will be HATE‹. Ich hasse Split. Ich hasse Deutschland. Ich hasse diese Deutschen, dieses auf den Straßen herumrollende Gemüse (vegetables).« Vesper, Bernward: Die Reise. Romanessay. Ausgabe letzter Hand, Reinbek 1983, S. 18. – Pierre Legendre schreibt in diesem Zusammenhang: »Wir haben gelernt, insbesondere durch die Erfahrung des Nazi-Regimes, dass auch ein Staat Selbstmord begehen kann. 1945, am Endpunkt des Desasters, schien Deutschland sich selbst umgebracht zu haben. Dann sterben die Symbole, und das Universum der deutschen Refe-

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renz war für alle mit Infamie geschlagen.« Legendre, Pierre: La fabrique de l’homme occidental, Paris 1996, S. 17. RAF: »Erklärung vom 13. Januar 1976«, in: Rote Armee Fraktion: Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, a.a.O., S. 212. Theweleit, Klaus: Ghosts, a.a.O., S. 40-41. Fetscher, Iring: »Revolution und Selbsthaß«, in: Die Tageszeitung, 23./24. März 1996, S. 19. Zit. nach: Vesper, Bernward: Die Reise, a.a.O., S. 9. Brecht, Bertolt: »Die Maßnahme«, in: ders.: Die Stücke von Bertolt Brecht in einem Band, Frankfurt am Main 1978, S. 267 (Szene 8) – Die Logik dieser Konfusion habe ich ausführlicher analysiert in: »Traverser le miroir. Présence et représentation dans le théâtre didactique de Brecht«, in: Gilbert, Jacques A./el Moncef, Salah (Hg.): Présence et représentation. Colloque du Centre de recherche sur les Conflits d’Interprétation, Université de Nantes, 2001, Bern, Berlin, Bruxelles et al. 2005, S. 315-328. RAF: »Die Rote Armee aufbauen: Erklärung zur Befreiung Andreas Baaders vom 5. Juni 1970«, in: Rote Armee Fraktion: Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, a.a.O., S. 24. Theweleit, Klaus: Ghosts, a.a.O., S. 30. Reiche, Reimut: »Sexuelle Revolution«, a.a.O., S. 48. RAF: »Die Rote Armee aufbauen!«, in: Rote Armee Fraktion: Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, a.a.O., S. 24. RAF: »Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa«, in: Rote Armee Fraktion: Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, a.a.O., S. 85. Ebd., S. 101. Zum Begriff der »fusionellen Aneignung« vgl. Legendre, Pierre: Leçons VII. Le désir politique de Dieu. Etudes sur les montages de l’Etat et du Droit, Paris 1988, S. 358: »Einen Schlüssel zum Verständnis des Gehorsams der Funktionäre einer Tyrannei liefert die scholastische Theorie des Gehorsams, in der das ›Gelübde‹ beziehungsweise das ›Gelöbnis‹ eine zentrale Rolle spielt. Die Bürokratien mobilisieren Funktionäre, die sich mit Leib und Seele der ›Sache‹ geweiht haben und eine fusionelle Verbindung mit ihr eingehen. [...] Gratian definiert den Gehorsam mit der Formel: ›der Eigenwille wird als Opfer dargebracht (mactatur)‹. Es geht darum, die Referenz auf göttliche Weise zu verehren (worauf das ›mactatur‹ verweist). Der Gewinn dieses Handels mit der Referenz ist genau das, wonach alle Menschen streben: im voraus von jeder Schuld befreit zu sein.« Vgl. Koenen, Gerd: Vesper, Ensslin, Baader, a.a.O., S. 314. Aust, Stefan: Der Baader-Meinhof-Komplex, a.a.O., S. 24. Ensslin: »Brief, Sommer 1973«, in: Bakker Schut, Pieter (Hg.): Das Info. Briefe von Gefangenen aus der Raf, a.a.O., S. 34. RAF: »Die Rote Armee aufbauen«, in: Rote Armee Fraktion: Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, a.a.O., S. 25. Gudrun Ensslin, zit. nach Koenen, Gerd: Vesper, Ensslin, Baader, a.a.O., S. 325. Baumann, Bommi: Wie alles anfing, Frankfurt am Main 1977, S. 40. Hitler, Adolf: Mein Kampf, München 1933, S. 393. Ebd., S. 507. Vgl. Legendre, Pierre: Leçons VII. Le désir politique de Dieu. Etudes sur les montages de l’Etat et du Droit, Paris 1988, S. 247ff; zur psychologischen Genese des Hitlerschen ›Terrorismus‹ vgl. Stierlin, Helm: Adolf Hitler. Familienperspektiven, Frankfurt am Main 1975. RAF: »Das Konzept Stadtguerilla«, in: Rote Armee Fraktion: Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, a.a.O., S. 45. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1989, S. 705708. Aust, Stefan: Der Baader-Meinhof-Komplex, a.a.O., S. 88. RAF: »Das Konzept Stadtguerilla«, in: Rote Armee Fraktion: Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, a.a.O., S. 45. Taubes, Jacob: Die Politische Theologie des Paulus, München 1993, S. 41.

»Und natürlich kann geschossen werden.« 44 45 46 47

48 49 50 51

Meins, Holger: »Brief vom 1. 11. 1974«, in: Bakker Schut, Pieter (Hg.): Das Info. Briefe von Gefangenen aus der Raf, a.a.O., S. 183-184. Theweleit, Klaus: Ghosts, a.a.O., S. 57. Zur Beziehung der RAF zu Melvilles Moby Dick vgl. Aust, Stefan: Der BaaderMeinhof-Komplex, a.a.O., S. 274f. Karl-Heinz Dellwo formulierte dessen Logik wie folgt: »Wir hatten eine bestimmte Kampfmoral. [...] Von Andreas Baader stammt der Satz, der zusammenfaßt, was wir gedacht haben: ›Das Projektil sind wir.‹ Das war unsere Mentalität.« Zit. nach: Theweleit, Klaus: Ghosts, a.a.O., S. 94. Vgl. dazu die systematische Darstellung von Bakker Schut, Pieter: Stammheim. Die notwendige Korrektur der herrschenden Meinung, Kiel 1986, passim. Mitscherlich, Margarete: »Nachwort 1977«, in: Mitscherlich, Alexander/Mitscherlich, Margarete: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 1977, S. 366. Schmidt, Helmut: »Regierungserklärung vom 13. März 1975«, in : Deutscher Bundestag: Stenographischer Bericht, 155. Sitzung, 13. März 1975, S. 10737. Theweleit, Klaus: Ghosts, a.a.O., S. 61.

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Bildung und Wahn Konfigurationen von Wissen und Wahn in Bildungsprozessen

Vorbemerkung Dem Versuch, das Verhältnis zwischen Bildung und Wahn auszuleuchten, stehen erhebliche Hindernisse im Wege. Beide Begriffe entziehen sich einer allgemeinen Definition und gewinnen nur in sozial-, ideenund diskursgeschichtlichen Kontexten eine je spezifische Bedeutung. Ihre historische Semantik erschöpft sich nicht in einzelnen Diskursen wie z.B. dem der Wissenschaft, sondern sie ist eingelagert in komplexe Geflechte kommunikativer Praktiken und Verfahren,1 deren Verbindungen kaum erforscht sind.2 Dennoch soll hier versucht werden, punktuell einige Zusammenhänge deutlich zu machen. Dies geschieht weniger aus rein kulturgeschichtlichem, sondern eher aus systematischem Interesse. Motiviert sind die folgenden Überlegungen durch die Frage, wie die gegenwärtig sich vollziehenden Transformationen im Diskurs um und über die Bildung sowie ihre Wirkungen kritisch reflektiert werden können, nachdem der neuhumanistische Bildungsbegriff und seine Kriterien als Folie der Kritik delegitimiert worden sind. Die Vermutung, die diesen Ausführungen zugrunde liegt, besteht darin, dass sowohl der Diskurs über Bildung als auch sie selbst auf mehrfache Weise mit Wahnelementen durchsetzt sind, und zwar sowohl mit solchen, die eher pathologischen Charakter haben und als problematisch zu beurteilen wären, als auch mit solchen, die konstitutiv sind, indem ihnen als Elementen bildender Erfahrungen schützende oder orientierende Bedeutung zukommt. Meine Ausführungen werden folgende Aspekte des Themas ansprechen: Im Unterschied zum Bildungswahn, wie Nietzsche ihn diagnostizierte 83

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(1), wird heute Bildung als funktionale Antwort auf reale gesellschaftliche Herausforderungen verstanden, wodurch sich ihr Verständnis grundlegend wandelt. Damit allerdings Bildung diese Funktion als Problemlösung erfüllen kann, ist ein neues Selbst- und Weltverhältnis der Individuen Voraussetzung, das vermittels einer alle Lebensbereiche durchdringenden Wahnbildungspolitik implementiert wird (2). Gegen diese ökonomischen Imperativen gehorchenden Interpellationen, die in der Sprache der Selbstverwirklichung und Autonomie neue Formen der Selbststeuerung durchsetzen, ist eine Kritik machtlos, die sich auf das humanistische Bildungsideal beruft, da die selbstzweckhaften individuellen Potenzen selbst als profitable Ressourcen des Humankapitals in die neuen Formen der Arbeit eingespannt werden. Dass dieses neue Selbstverständnis des unternehmerischen Selbst, das im gegenwärtig dominierenden Bildungsdiskurs vermittelt wird, jedoch durchaus brüchig ist, kann im Rekurs auf vergessene Strömungen und brach liegende Momente des Bildungsbegriffs gezeigt werden (3). Dabei kann deutlich werden, dass das neue Bildungsverständnis gerade dadurch wahnhaft wird, dass es diejenigen Momente der Negativität und des Wahns verleugnen muss, die jedem Lern- und Bildungsprozess inhärent sind (4) und möglicherweise seine Richtung und praktische Orientierung bestimmen (5).

1. Humanistische Bildung als kultureller Wahn Im zweiten Stück der »Unzeitgemäßen Betrachtungen«: »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben« von 1874 unterzieht Nietzsche die Vorstellungen einer allgemeinen und historischen Bildung, ihre durch das staatliche Pflichtschulwesen und ihre Instrumentalisierung durch Staat und Wirtschaft hervorgerufenen Wirkungen auf das individuelle wie kulturelle Selbstverständnis einer schonungslosen Kritik. Bildung werde auf bloßes Wissen reduziert und wirke daher »nicht mehr als umgestaltendes, nach aussen treibendes Motiv«.3 In der Innerlichkeit verbleibend, forciere dieses Wissen vielmehr die Spaltung des »modernen Menschen«, d.h. den Gegensatz »eines Inneren, dem kein Aeusseres, eines Aeusseren, dem kein Inneres entspricht«,4 weshalb Bildung »nichts Lebendiges« mehr wäre: »sie ist gar keine wirkliche Bildung; sondern nur eine Art Wissen um die Bildung, es bleibt in ihr bei dem Bildungs-Gedanken, bei dem Bildungs-Gefühl, es wird kein BildungsEntschluss daraus.«5 Und da der »innere Prozess« als das Eigentliche, 84

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die äußere Form dagegen als bloße »Convention« und »Verstellung«6 gelte, bleibe der innerlich Gebildete zum einen äußerlich »barbarischer«,7 als er sein müsste, und zum anderen bestehe die Gefahr, dass es sich bei einer Bildung, die nicht sichtbar Form gebend wirke, um schlichte Einbildung handeln könne.8 Als Folge dieser Einbildung verliere das Individuum den Glauben an sich selbst und versinke »in den zusammengehäuften Wust des Erlernten, das nicht nach außen wirkt, der Belehrung, die nicht Leben wird«, was, statt die Entwicklung freier Persönlichkeiten, »lauter ängstlich verhüllte Universal-Menschen« zum Resultat hätte,9 für die selbst die philosophischen Lebensprobleme ihre Bedeutung verlören und zum »ungefährlichen Geschwätz zwischen akademischen Greisen und Kindern« würden.10 Kurz: statt der Bildung, wie sie der Neuhumanismus als Antwort auf die Zerrissenheit der Zeit begriffen hatte, hat sich in Nietzsches Augen »nur eine Art Wissen um die Bildung« verwirklicht. Nach der ersten Konsolidierung des staatlichen Schulwesens nach seiner Einführung konstatiert er, dass das Ziel der Jugenderziehung »nicht der freie Gebildete, sondern der Gelehrte« wäre, »der wissenschaftliche Mensch, und zwar der möglichst früh nutzbare wissenschaftliche Mensch, der sich abseits von dem Leben stellt, um es recht deutlich zu erkennen; ihr Resultat [...] ist der historisch-aesthetische Bildungsphilister, der altkluge und neuweise Schwätzer über Staat, Kirche und Kunst«.11 Was Nietzsche zu seiner Zeit diagnostiziert, ist also eine grundlegende Verkehrung der Ansprüche der Bildungsidee, die auf die Freiheit, Entfaltung und Selbstaufklärung des Menschen in seinem Denken und Handeln zielte. Für Wilhelm von Humboldt war Bildung deshalb der »wahre Zwek des Menschen«,12 und ihr Grundsatz bestand für ihn darin, »dass die wahre Vernunft dem Menschen keinen anderen Zustand, als einen solchen wünschen kann, in welchem nicht nur jeder einzelne der ungebundensten Freiheit geniesst, sich aus sich selbst, in seiner Eigenthümlichkeit, zu entwikkeln, sondern in welchem auch die physische Natur keine andre Gestalt von Menschenhänden empfängt, als ihr jeder Einzelne, nach dem Maasse seines Bedürfnisses und seiner Neigung, nur beschränkt durch die Gränzen seiner Kraft und seines Rechts, selbst und willkürlich giebt.«13

Die Hoffnungen Humboldts, das staatliche Bildungssystem könne eine nach diesem Grundsatz organisierte Bildung ermöglichen, obwohl sie den staatlichen Interessen widerstreite, hatten sich schon zur Zeit Nietzsches erkennbar nicht erfüllt. Dem Staat und der Nationalökonomie ging 85

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es ihm zufolge nicht um freie, reife und harmonische Persönlichkeiten, sondern um deren gesellschaftliche Brauchbarkeit: »die Menschen sollen zu den Zwecken der Zeit abgerichtet werden, um so zeitig als möglich mit Hand anzulegen: sie sollen in der Fabrik der allgemeinen Utilitäten arbeiten, bevor sie reif sind, ja damit sie gar nicht mehr reif werden – weil dies ein Luxus wäre, der ›dem Arbeitsmarkte‹ eine Menge von Kraft entziehen würde.«14

Und schon damals konstatierte er hellsichtig eine Ökonomisierung von Wissenschaft und Bildung, als er schrieb: »Glaubt es mir: wenn die Menschen in der wissenschaftlichen Fabrik arbeiten und nutzbar werden sollen, bevor sie reif sind, so ist in Kurzem die Wissenschaft ebenso ruinirt wie die allzuzeitig in dieser Fabrik verwendeten Sclaven.«15 Im Unterschied zu heute aber, wo der ökonomische Diskurs und das Vokabular des Managements zur offiziellen Sprache auch im Bildungsbereich geworden sind, meinte Nietzsche noch, sich dafür entschuldigen zu müssen, »dass man schon nöthig hat, sich des sprachlichen Jargons der Sclavenhalter und Arbeitgeber zur Bezeichnung solcher Verhältnisse zu bedienen, die an sich frei von Utilitäten, enthoben der Lebensnoth gedacht werden sollten; aber unwillkürlich drängen sich die Worte ›Fabrik, Arbeitsmarkt, Angebot, Nutzbarmachung‹ – und wie all die Hülfszeitwörter des Egoismus lauten – auf die Lippen, wenn man die jüngste Generation der Gelehrten schildern will. Die gediegene Mittelmässigkeit wird immer mittelmässiger, die Wissenschaft im ökonomischen Sinne immer nutzbarer.«16 Im Kern läuft Nietzsches Kritik am Bildungsverständnis seiner Zeit darauf hinaus, dass die postulierte Selbstermächtigung und Freiheit des Individuums an inhaltliche Bestimmungen und einen Wissenskanon zurückgebunden werde, wodurch sich die angebliche Autonomie zum Mittel der Normierung und funktionalen Eingliederung in die Reproduktionslogik der Gesellschaft verkehre.17 Freiheit, Individualität und die verheißene Selbstbestimmung werde neutralisiert und pervertiert durch die einseitig rationalistische Ausrichtung des Erziehungssystems, wodurch sie sich nur innerlich, nicht aber äußerlich realisieren könne. Dadurch, dass individuelle Bildungsprozesse von der lebensweltlichen Zufälligkeit dessen, was in Ich-Welt-Verhältnissen erfahren werden kann, auf standardisierte Wissensbildungsprozesse umgestellt worden sei, fielen Individuierung und Normalisierung zusammen. Bildung als die eines Individuums, das sich auch gegen die normativen Zumutungen der Gesellschaft und des Geistes der Zeit behaupten kann, werde dadurch nicht 86

Bildung und Wahn

nur verunmöglicht, sondern an ihre Stelle trete eine Pseudo-Bildung in Form eines bloß illusorischen Selbstverständnisses, in dem die reale Unfreiheit und die Unterwerfung unter die herrschenden Verhältnisse verkannt bleibe. Die vermeintliche »innere Bildung« ist für Nietzsche nichts anderes als eine wahnhafte Einbildung, der außen nichts entspricht. Bildung, auf Wissen reduziert, das akkumuliert wird, aber den Wissenden nicht verändert und formt, bildet nicht, manifestiert sich nicht in Reifungsprozessen oder in sich wandelnden Selbst- und Weltverhältnissen. Der Wahn besteht darin zu glauben, Bildung als ein Gut, als »symbolisches Kapital« (Bourdieu) besitzen zu können, ohne von ihr im Sprechen, Urteilen und Handeln ergriffen zu werden. Sich für einen Gebildeten zu halten, ist so gesehen per se ein Wahn, nicht nur in Zeiten der »Halbbildung«18 oder der »Unbildung«.19 Dieser von Nietzsche diagnostizierte Bildungswahn ist allerdings keine Pathologie einzelner Individuen, sondern ein kulturelles Phänomen und als Wahn kaum zu erkennen. Vielmehr hängt er für ihn mit der Verwissenschaftlichung des Lebens zusammen, d.h. damit, dass das Wissen und die Wissenschaft mit ihrem Objektivitätsideal sich von lebenspraktischen Handlungsvollzügen und Erfahrungen getrennt und dadurch ihre Verbindlichkeit verloren haben.20 Als zentrales Beispiel für diese Abstraktion fungiert die »historisierende Behandlung« des Christentums, das »in reines Wissen um das Christenthum aufgelöst und dadurch vernichtet« worden sei. Diese Negationsbewegung könne man »an allem, was Leben hat, studiren: dass es aufhört zu leben, wenn es zu Ende secirt ist und schmerzlich krankhaft lebt, wenn man anfängt, an ihm die historischen Secirübungen zu machen.«21 So verdrängt und ersetzt das Wissen das Leben, die wissenschaftliche die lebenspraktische Vernunft und die historische Bildung die Bedeutung und Wirkung von Erfahrungen. Was Nietzsche im Symptom des Bildungswahns zu erkennen glaubt, ist folglich eine grundlegende kulturelle Transformation des allgemeinen Selbst- und Weltverhältnisses, die einem »Weltuntergang« gleichkommt, sich aber im Selbstverständnis als historische Bildung manifestiert und damit den Weltverlust maskiert. Sowohl die Hoffnungen der Aufklärung, individuelle Autonomie und gesellschaftliche Integration harmonisch vereinen zu können, wie auch der Glaube der neuhumanistischen Bildungsidee, dass sich die Selbstermächtigung des Individuums notwendig als humane Selbstvervollkommnung im Rahmen eines allgemeingültigen Ideals der Menschheit vollziehen würde, erscheinen aus Nietzsches Perspektive als Täuschungen mit katastrophalen Folgen. 87

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Fraglich ist sicher, ob es legitim ist, hier von einem Wahn zu sprechen. Im Falle des individuellen Bildungs-Philisters, der sich für gebildet hält, wäre es vielleicht nahe liegender, von einer Illusion oder einer Einbildung zu sprechen, und dies auch nur aus einer Perspektive jenseits der geltenden intersubjektiven Anerkennungsverhältnisse, in denen eine solche »Bildung« im Sinne eines kulturellen »Deutungsmusters«22 eben als Bildung gilt. Kann man aber ein kulturelles Deutungsmuster als wahnhaft, ein kollektives Selbst- und Weltverständnis in toto als Wahn bezeichnen? Möglich wäre dies mit Blick auf den Begriff »Bildung« m.E. hinsichtlich seines strukturellen Status, insofern sich in ihm ein kollektives Wirklichkeitsbewusstsein nicht nur artikuliert, sondern vor allem konstituiert, wobei vor- und nachwissenschaftliches »Weltwissen«23 sich kommunikativ mit Handlungsoptionen verbindet.24 Ebenfalls wäre es m.E. legitim, ein kulturelles Selbstverständnis auch mit Blick auf seine Genese als wahnhaft zu charakterisieren, insofern ihm die Funktion einer Lebensdienlichkeit nicht abgesprochen werden kann. Denn der Wahn ist, folgt man Freuds Analyse der »Denkwürdigkeiten eine Nervenkranken« von Daniel Paul Schreber, selbst nicht eine destruktive und weltnegierende Erscheinung, sondern eine (Re-)Konstruktion der Welt nach ihrem Verlust, der sich stumm und unbemerkt vollzieht. Und seine Funktion liegt darin, wieder in der Welt leben zu können. »Was wir für die Krankheitsproduktion halten, die Wahnbildung, ist in Wirklichkeit der Heilungsversuch, die Rekonstruktion.«25 Diese Rekonstruktion gelingt im Falle eines pathologischen individuellen Wahns nur unzureichend. Und umgekehrt bleiben Spuren des Wahns auch nach einer Heilung zurück. So muss Schreber nach seiner Rückkehr in die menschliche Gemeinschaft rückblickend zwar anerkennen, dass sich der Weltuntergang real gar nicht ereignet hat, »dass äußerlich betrachtet alles beim alten geblieben ist«, sich für ihn aber »gleichwohl eine tiefgreifende innere Veränderung [...] vollzogen hat«.26 Im Falle einer kulturellen Transformation gibt es allerdings nicht die Möglichkeit einer Heilung im Sinne einer Rückkehr aus dem neuen Selbst- und Weltverständnis in das ihm vorausgehende, um dieses von jenem aus beurteilen zu können. Und so muss Nietzsche aus den Spuren des neuen das alte rekonstruieren, das noch nicht ganz verschwunden ist, das vielleicht nie den Charakter des Selbstverständlichen hatte, das aber nun auch seine Geltung als Ideal verloren hat, so dass das Bild eines unverstellten Lebens und einer kraftvollen Kultur, das er in seiner »Unzeitgemäßen Betrachtung« als Kon-

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Bildung und Wahn

trast zum Zeitalter der historischen Bildung entwirft, selbst nicht frei ist vom Verdacht, seinerseits wahnhafte Züge zu tragen. Sieben Jahre später, 1881, glaubte Nietzsche nicht mehr daran, dass die von ihm konstatierte Perversion der Bildung heilbar wäre. In der »Morgenröte« schreibt er, dass die Deutschen die Bildung »jetzt nicht mehr besitzen«, dass sie sie »mit einem blinden Eifer abgeschüttelt haben, wie als ob sie eine Krankheit gewesen sei: und doch wussten sie nichts Besseres dagegen einzutauschen als den politischen und nationalen Wahnsinn«.27 Bildung sei eine pure Illusion gewesen, verführerisch durch »jene[n] matte[n] Glanz, jenes räthselhafte Milchstrassen-Licht, welches um diese Bildung leuchtet«.28 In der zweiten »Unzeitgemäßen Betrachtung« hatte er dagegen noch die Hoffnung auf eine Rettung, die durch eine grundsätzliche Korrektur der Voraussetzungen und Ziele des Erziehungssystems bewerkstelligt werden könnte. Die bislang geltende Bildungsvorstellung sollte aufgegeben, der »Aberglauben [...] an die Nothwendigkeit jener Erziehungs-Operation«29 zerstört werden, die den »Instinkt der Jugend«, die noch die Widernatürlichkeit und Zwanghaftigkeit dieser Erziehung empfinde, »künstlich und gewaltsam durch jene Erziehung« breche. Statt »mit dem Leben und Erleben selbst zu beginnen«,30 werde der junge Mensch mit einem »Wissen um die Bildung« abgespeist. »Seine Begierde, selbst etwas zu erfahren und ein zusammenhängend lebendiges System von eignen Erfahrungen in sich wachsen zu fühlen – eine solche Begierde wird betäubt«31 durch die Vorspiegelung der Möglichkeit, in kurzer Zeit die Erfahrungen aller Zeiten in sich summieren zu können. So werde nur »das leere ›Sein‹, nicht das volle und grüne ›Leben‹«32 gewährleistet, worüber das Leben selbst krank werde.33 Diese in der Reformpädagogik wirkungsmächtig gewordene Kritik, die noch in der Antipädagogik der 70er Jahre nachhallt und ihrerseits vehemente Kritiken hervorgerufen hat, soll hier nicht weiter diskutiert werden. Interessanter ist der Hinweis Nietzsches auf eine positive Bedingung für Bildungsprozesse, die nicht der gesellschaftlichen Brauchbarkeit dienen und daher auch nicht als normierte Lernprozesse, Wissensakkumulation oder Kompetenzaufbau und -steigerung entlang vorgegebener Bildungsstandards verstanden werden können. Diese Bedingung ist nicht herstellbar, aber in ihrer Unverfügbarkeit eine unverzichtbare Möglichkeitsbedingung für Bildungsprozesse, die gerade, weil sie nicht teleologisch auf Nützlichkeit und Überlebensnotwendigkeit ausgerichtet

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sind, den Raum für die Bildung eines souveränen Selbst erst eröffnen. Nietzsche schreibt: »Alles Lebendige braucht um sich eine Atmosphäre, einen geheimnisvollen Dunstkreis; wenn man ihm diese Hülle nimmt, wenn man eine Religion, eine Kunst, ein Genie verurtheilt, als Gestirn ohne Atmosphäre zu kreisen: so soll man sich über das schnelle Verdorren, Hart- und Unfruchtbarwerden nicht mehr wundern. So ist es nun einmal mit allen grossen Dingen, ›die nie ohn’ ein’gen Wahn gelingen‹, wie Hans Sachs in den Meistersingern sagt. Aber jedes Volk, ja jeder Mensch, der reif werden will, braucht einen solchen umhüllenden Wahn, eine solche schützende und umschleiernde Wolke«.34

Der Wahn wird hier nicht dem Wissen entgegengesetzt, sondern als Schutz und Umhüllung des Bildungsprozesses schließt er auch das Wissen ein, das sich in ihm aufgrund von Erfahrungen herausbildet. Worin der Wahn genau besteht, wie sich in ihm Reifungsprozesse vollziehen und welches Verhältnis zwischen der »umschleiernden Wolke« und dem besteht, was sich unter dem Schleier oder in der Wolke ereignet, bleibt an dieser Stelle selbst nebulös. Zieht man die Passage aus der »Morgenröte« zu Rate, wo neben der Metapher »rätselhaftes Milchstassen-Licht« ebenfalls wieder die Metapher der »Wolke« auftaucht, wird das, was früher von ihm positiv als schützender Wahn bezeichnet wurde, rückblickend ununterscheidbar vom neuhumanistischen Bildungsideal selbst, das nun beschrieben wird als »ein weicher, gutartiger, silbern glitzernder Idealismus, welcher vor Allem edel verstellte Gebärden und edel verstellte Stimmen haben will, [...] beseelt vom herzlichsten Widerwillen gegen die ›kalte‹ oder ›trockene‹ Wirklichkeit, [...] gegen jede Art philosophischer Enthaltsamkeit und Skepsis«.35

Diente dieser früher positiv als Möglichkeitsbedingung für eigentliche Bildungsprozesse eingeschätzte Wahn noch als Folie der Kritik an der Verkehrung der Bildung und an ihrer Reduktion auf Wissen, spricht Nietzsche nun von ihm als purem Trug, von dem sich die Deutschen selbst abgewendet hätten: »sie wussten zu gut, dass sie nicht im Himmel gewesen waren, – sondern in einer Wolke!«36 Damit verabschiedet sich auch Nietzsche selbst von dieser Idee des freien Gebildeten und beginnt einen neuen Diskurs, in dem er den Stachel des Wissens gegen sich selbst kehrt37 und »das Frohlocken der wiederkehrenden Kraft, des neu erwachten Glaubens an ein Morgen und Uebermorgen«38 wiederfindet.

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In Nietzsches Diskurs über Bildung wird unentscheidbar, wo die Grenze zwischen Wahn und Wissen, Wahn und Wirklichkeit verläuft, ob – in Anlehnung an Freuds abschließende Bemerkung zum Fall Schreber39 – in seiner Betrachtung der historischen Bildung mehr Wahn enthalten ist, als er möchte, oder in dem von ihm diagnostizierten Bildungswahn mehr Wahrheit, als er sich vorstellen konnte. Freud glaubte, dass dies zu entscheiden nur der Zukunft überlassen werden könne. Doch blickt man von heute auf Nietzsches Ausführungen zurück, dann ergibt sich ebenfalls kein eindeutiges Bild, denn einerseits hat sich die Ökonomisierung aller Verhältnisse weiter verallgemeinert, so dass der »sprachliche Jargon der Sclavenhalter und Arbeitgeber zur Bezeichnung solcher Verhältnisse« und das entsprechende Bildungsverständnis als realitätsangemessen erscheinen. Andererseits kann auch der gegenwärtig grassierende Bildungswahn, der sich kaum treffender als im Konzept des »lebenslangen Lernens«, dem bildungspolitischen Reformaktionismus und der Feier des Selbst, der Selbsttätigkeit, Selbststeuerung und Selbstwirksamkeit manifestiert, nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich diese Positivitäten über eine Negation dessen erheben, was Nietzsche »das Leben« nannte und Humboldt den »wahren Zweck des Menschen«. Allerdings vollzieht sich heute diese Negation nicht als Ausschluss, sondern als Vereinnahmung oder Funktionalisierung individueller Subjektivität, wobei die Entfremdung des Menschen als Produktivkraft eingesetzt wird. Deshalb ist es heute kaum noch möglich, die Kritik an den Verhältnissen in einem letzten Grund oder in der neuhumanistischen Bildungsidee zu verankern, weil diese selbst mit ihren metaphysischen Implikationen der Verschmelzung von Individualisierung und Normalisierung Vorschub geleistet hat40 und fragwürdig geworden ist, und weil jener vermeintlich letzte Grund sich zum einen selbst als abgründig und nur als ein Wort herausgestellt hat, zum anderen aber gerade die Biooder Lebenswissenschaften dem individuellen Leben selbst dieses Streben nach Nützlichkeit, Passung und Viabilität um des Überlebens willen als allen Lebensäußerungen zugrunde liegende Kraft attestieren.

2. Bildung des Humankapitals durch performative Wahnbildungspolitik Auf den ersten Blick scheint der gegenwärtige Diskurs um die große Bedeutung der Bildung für die Zukunft der Gesellschaft von nichts wei91

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ter entfernt zu sein als von dem Verdacht, illusionär oder gar wahnhaft zu sein. Vielmehr werden in ihm die gegenwärtigen Realitäten, die alle Lebensbereiche durchdringenden Wandlungsprozesse und die prognostizierbaren Anforderungen einer sich globalisierenden Welt klar und schonungslos ins Auge gefasst, denen die Individuen und die Gesellschaft genügen müssen, um den Lebensstandard erhalten und am Arbeits- wie am Weltmarkt überleben zu können. Seit der Berliner Rede des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog »Aufbruch ins 21. Jahrhundert« vom 26.04.1997, in der er forderte: »Bildung muß das Megathema unserer Gesellschaft werden. Wir brauchen einen neuen Aufbruch in der Bildungspolitik, um in der kommenden Wissensgesellschaft bestehen zu können«, und forciert seit den PISA-Studien ist das Thema Bildung so aktuell wie selten zuvor, gilt es doch, den Herausforderungen der diagnostizierten Entwicklung nicht nur nachzukommen, sondern sich von ihnen nicht das Gesetz des Handelns diktieren zu lassen. Denn es geht schließlich darum, sowohl in der internationalen Politik als auch auf dem Weltmarkt die errungenen Machtstellungen zu erhalten und auszubauen. Unter den Bedingungen nationaler wie globaler Transformationsprozesse und im Kontext des Diskurses um die sich formierende Wissensgesellschaft werden Vorstellungen ökonomischer Rationalität in Bereiche übertragen, die bisher über eine relative Autonomie in ihren Entwicklungen verfügten und maßgeblich nach eigenlogischen Prinzipien funktionierten. Dies gilt auch und in besonderer Weise für das Bildungssystem, dessen an eigenen Kriterien und Maßstäben orientierte Leistungen dadurch eine öffentliche Delegitimierung erfahren haben. Davon zeugt insbesondere das neue Verständnis von Bildung, das sich im bildungspolitischen und auch in Teilen des erziehungswissenschaftlichen Diskurses artikuliert. Als Aufgabe der Bildungsinstitutionen wird nun in erster Linie die Entwicklung und Optimierung von Humanressourcen angesehen, die einher geht mit einer kompetenztheoretischen Reformulierung des Bildungsbegriffs41, neuen Steuerungsvorstellungen und dem Modell eines unternehmerischen Selbst, das seine Ressourcen selbst so bewirtschaftet, dass es seine Qualifikationen vorausschauend den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes anpasst. Gefordert werden Kompetenzen, mit Wissen umzugehen, es sich den wechselnden Erfordernissen entsprechend anzueignen, in ihrer Bedeutung einzuschätzen, neues Wissen zu entwickeln, zu verknüpfen und anzuwenden,42 da Wissen in allen gesellschaftlichen Bereichen ein überlebenswichtiger Rohstoff von höchster Rele92

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vanz geworden sei, weshalb der Bildung eine kaum zu überschätzende strategische Bedeutung zukomme. Zugleich wird ein Strukturwandel des Wissens und seines Begriffs konstatiert, da Wissen zunehmend mehrdeutig, relational, kontextgebunden, reflexiv, überholbar, kategorial unscharf und unsicher wird.43 Die Kontingenzsteigerung moderner Gesellschaften44 führe zu einem verstärkten Gewissheitsverlust, der auch das Wissen selbst betrifft45 und auf allen Ebenen Risiken, Unsicherheiten und Unentscheidbarkeiten zur Folge habe.46 Beiden Prozessen, dem erhöhten Bedarf an Wissen und seiner gesteigerten Relevanz einerseits, andererseits der Kontingenzsteigerung in modernen Gesellschaften und ihren Effekten auf das Wissen soll Bildung gerecht werden, damit die Individuen am Markt bestehen können. Deshalb müssten sich Individuen, Organisationen, Institutionen und die Gesellschaft selbst als lernende Systeme begreifen lernen und ständig bereit sein umzulernen und Neues zu lernen, um mit den sich immer schneller wandelnden Bedingungen Schritt halten und sich auf heute noch unvorhersehbare Anforderungen einstellen zu können.47 Um dies zu gewährleisten, erfahren die Bildungsinstitutionen eine technologische Reformierung nach Maßgabe internationaler Absprachen48 und Standards,49 damit der Output an Bildung in Form messbarer, steigerbarer, zukunftsfähiger und problemoffener Kompetenzen effizienter organisiert, quantitativ gesteigert und qualitativ optimiert werden kann. Deshalb werden die Institutionen, Professionen und Qualifikationen vom Kindergarten bis zu Einrichtungen der Erwachsenenbildung, von der vorschulischen Erziehung bis zur Lehrerausbildung einer Modernisierung und permanenten Qualitätskontrolle unterzogen. Problematisch erscheint die kompetenztheoretische Transformation des Bildungsbegriffs nicht nur aufgrund der Unbestimmtheit des Wissensbegriffs bei gleichzeitiger Behauptung zunehmender Relevanz von Wissen oder der Unklarheit hinsichtlich so genannter problem- und zukunftsoffener Kompetenzen, sondern auch deshalb, weil Bildung von einem zukunftsoffenen Möglichkeitsbegriff wandelbarer und weder antizipierbarer noch identifizierbarer Selbst- und Weltverhältnisse auf Wissen, Lernen und standardisierbare, empirisch überprüfbare und vereinheitlichte Kompetenzen reduziert und festgeschrieben wird. Indem eine so verstandene Bildung als eine entscheidende Variable für die gesellschaftliche Entwicklung und das Überleben im internationalen Konkurrenzkampf angesehen wird, kehrt nicht nur die illusorische Vorstellung wieder, die gesellschaftliche Entwicklung wäre wesentlich eine 93

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Funktion von Erziehung und Bildung, sondern auch das die pädagogischen Aspirationen seit der Aufklärung leitende Phantasma der Machbarkeit bricht sich nicht nur in der Bildungspolitik, sondern auch in Teilen des pädagogischen Diskurses wieder Bahn. Die Strukturierung und Lenkung von Prozessen in intransparenten und selbstreferentiellen Systemen, die ein Ziel anstreben, welches nur vom Adressaten – sei es ein Individuum, eine Organisation oder eine Institution – erreicht werden kann, erscheint nämlich dann nicht als unmöglich, wenn die Adressaten dazu gebracht werden können, von selbst zu wollen, was sie sollen, wenn sie also als eigene Ziele handlungswirksam anerkennen, womit sie als Erwartung konfrontiert sind, d.h. wenn sie die Forderungen des Marktes in ihre Selbstdefinition übernehmen und davon überzeugt werden können, dass in der Selbststeuerung ihr eigentliches Wesen und ihre Freiheit besteht. Appelliert wird deshalb an die Selbsterhaltungsmotive, den Überlebenswillen und die Selbstbehauptungskompetenz im schärfer werdenden Konkurrenzkampf. Die Individuen werden daher mit der performativen Kraft einer über alle Medienkanäle verbreiteten Sprachmagie dazu aufgefordert, sich als Manager ihrer selbst zu begreifen, die sich selbst kontrollieren und steuern, die ihr Leben selbst in der Hand haben und für sich selbst, ihr Lernen, ihre Ausbildung, ihre Ressourcen, die Aktivierung und Optimierung ihrer Potentiale und die Wahrnehmung ihrer Chancen verantwortlich sind, aber eben auch für die nicht wahrgenommenen Chancen und Lernmöglichkeiten. Dieser Diskurs fungiert vermittels seiner Performativität und »Interpellationen«50 selbst bereits als Konstitutionsmedium derjenigen Wirklichkeit, die er bloß zu beschreiben vorgibt. Seine Wirksamkeit besteht nicht zuletzt darin, die Imperative des Marktes in die Selbstdefinition der Individuen zu implementieren.51 In dem Maße, wie das Vokabular dieses Sprachspiels in den institutionellen Diskursen und in den Selbstbeschreibungen der Individuen selbstverständlich wird, hat dieser Diskurs bereits seine vielleicht wichtigste Funktion erfüllt, und zwar auch dann, wenn die geforderten Reformen noch gar nicht realisiert wurden, nämlich Wirklichkeits- und Selbstdefinitionen durchzusetzen, die die Antinomien in den Sozial- und Selbstverhältnissen invisibilisieren und ihre als negativ beurteilten kontingenten Effekte durch die Lösbarkeitsunterstellung zu individualisieren, so dass ein Nachlassen in den Problemlösungs- und Selbstoptimierungsversuchen oder gar ein Scheitern als individuelles Versagen erscheinen muss.

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Kurz: Der Topos »Bildung« und mit ihm die pädagogischen Professionen erfahren im bildungspolitischen Diskurs eine ernorme Aufwertung, die die Serie der seit Mitte des 18. Jahrhunderts immer wiederkehrenden Erwartungsschübe fortsetzt, mit Pädagogik könnten gesellschaftliche Entwicklungen gesteuert und Fehlentwicklungen kompensiert werden. Zugleich werden jedoch Ansprüche und Aufgaben, wie sie im pädagogischen Diskurs der Moderne elaboriert wurden, einer radikalen Revision unterzogen. Grundbegriffe und -prinzipien pädagogischen Denkens und Handelns werden zwar nicht abgeschafft, doch sie erfahren eine technologische Umschrift. Mit der Absage an die so genannte Kuschelpädagogik und die Schonräume einer »reformpädagogischen Spätkultur«52 formiert sich eine radikale Wende gegen die ethischen Grundlagen moderner Pädagogik, wie sie in der Tradition von Rousseau über Kant, Schleiermacher und Humboldt bis hin zur Reformpädagogik formuliert wurden und noch in den Ansätzen emanzipatorischer Pädagogik und kritischer Erziehungswissenschaft maßgeblich sind. Die Widersprüche zwischen Mensch und Bürger, Autonomisierung und sozialer Integration, individueller Bildung und gesellschaftlicher Brauchbarkeit, die als Matrix den erziehungs- und bildungstheoretischen Diskurs der Moderne bestimmt haben, erscheinen nach der bildungspolitischen Blickwende nämlich auch in Teilen des erziehungswissenschaftlichen Diskurses als lösbar, weil aus neoliberaler Marktperspektive und in der Semantik ökonomischer Rationalität die Freiheit und Autonomie der Subjekte bereits in ihrem Selbstverständnis funktional auf die Imperative des Überlebens bezogen sind.53 Von allen Illusionen von Autonomie und humanistischer Bildung scheinbar befreit, hat Bildung für die Individuen hier nur noch den Zweck, in der Konkurrenz um Arbeit ihren Markwert zu erhöhen, ihre »Employability« zu sichern und ihr gesellschaftliches Fortkommen zu fördern. Als »Arbeitskraftunternehmer«54 sind sie selbst verantwortlich für ihre Qualifikation, und deshalb, so wird unterstellt, müssten ihre Bildungsinteressen apriori markt- und abnehmerorientiert sein. Aus der Perspektive des Marktes und in den Zielbestimmungen des Bildungssystems geht es bei Bildung dann nur noch um gesellschaftliche Brauchbarkeit, um funktionale Passungen und um die optimale Entwicklung, Profilierung und Ausschöpfung von Humanressourcen. Die seit dem Neuhumanismus virulente Frage, wie individuelle Bildung angesichts ihr entgegenstehender gesellschaftlicher Bedingungen möglich sein kann, scheint belanglos geworden zu sein. Wie aber die Pädagogik ihrer doppelten Aufgabe gerecht werden kann, sowohl individuel95

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le Bildung als auch soziale Integration so zu ermöglichen, dass ein Zusammenleben in Freiheit und Gerechtigkeit wahrscheinlicher wird, kann kaum noch beantwortet werden, wenn Bildung auf eine funktionale Überlebenskompetenz reduziert wird. Doch lassen sich ungelöste und eventuell unlösbare Probleme bekanntlich nicht dadurch aus der Welt schaffen, dass man sie verdrängt oder ausschließt, ohne dass sie Spuren hinterlassen, die ihrerseits Wirkungen in Form von Symptomen evozieren, die bis zum Wahn reichen können. Vielleicht ist diese neue Sprache, die ökonomische Marktrationalität und manageriale Menschenführungstechniken amalgamiert und die auch dem pädagogischen Diskurs aufgedrängt wird, selbst ein Symptom, das im Bildungssystem und in Teilen des pädagogischen Diskurses einen Rückfall in den überwunden geglaubten Steuerungs-, Kontroll- und Herstellungswahn auslöst. Die Verrücktheit, ja der Wahnsinn wohnt auch im Herzen der Muttersprache selbst, wie Derrida geschrieben hat.55 Es wäre also möglich, dass nicht nur die Menschen selbst, die Subjekte der Sprache, den Verstand verlieren können. Letzteres war die Ansicht Hannah Arendts im berühmten Fernsehinterview mit Günter Gaus von 1964: »Es ist ja nicht die deutsche Sprache gewesen, die verrückt geworden ist.« Und wenn doch? Wenn die sprechenden Bürger in einer verrückten Sprache verrückt geworden sind, einer Sprache, »in der die gleichen Wörter ihren vermeintlich gemeinsamen Sinn verlieren und pervertieren«?56 Vielleicht passiert ähnliches heute wieder, indem uns eine Sprache aufgedrängt wird, in der wir uns selbst identifizieren sollen, die ein ganzes Vokabular für die individuelle Selbstsorge bereitstellt, die als eine vom Anderen auferlegte Einsprachigkeit so daherkommt, als ob wir sie uns selbst gegeben hätten. Hat diese Sprache nicht bereits bis hinein in den so genannten interkulturellen Diskurs damit begonnen, sich in das einzuschleichen, was man die »Beziehung zum andern« oder die »Offenheit für das Fremde« nennt? Um diesem Wahn nicht zu verfallen und in dieser verrückten Sprache, in der die bekannten Wörter – wie z.B. »Autonomie«, »Freiheit«, »Verantwortung« – ihren vermeintlich gemeinsamen Sinn einbüßen und umkehren, nicht selbst verrückt zu werden, kann möglicherweise die Erinnerung an brachliegende Potentiale des Bildungsbegriffs hilfreich sein. Denn diese könnten die Verkürzungen des gegenwärtig herrschenden Bildungsverständnisses deutlich machen und die mit allgemeinem Geltungsanspruch vorgetragene Behauptung, es handele sich um eine natürliche, da im Überlebensimperativ selbst gründende Notwendigkeit, frag96

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lich erscheinen lassen. Diese vom Konstruktivismus und den Lebens-, insbesondere den Neurowissenschaften forcierte Naturalisierung und Biologisierung des Geistes, des Lernens, der Bildung, des Sozialen und der kulturellen Entwicklung57 lässt vergessen, dass es sich um eine perspektivgebundene Interpretation handelt, nicht um die Natur oder das Leben selbst. Problematisch daran ist aber nicht, dass es sich um Interpretationen handelt. Denn nicht, dass Selbst- und Weltverständnisse historisch und kulturell kontingent, d.h. grundlos sind, macht ihren Wahncharakter aus, sondern die Verleugnung, dass es sich um Konstruktionen oder Interpretationen handelt. Der Wahn besteht daher weniger in falschen Vorstellungen von der Wirklichkeit, als vielmehr in der Verkennung, dass es sich um Vorstellungen handelt. Und da sich Vorstellungen, Wissen und Bilder von der Wirklichkeit nicht mehr dieser selbst in ihrer vorgängigen Präsenz als Geltungsgrund versichern können, ist die Grenze zwischen Wissen und Wahn, Vorstellungen und Einbildungen nicht mehr gesichert. Der Wahn besteht so gesehen in seiner Verleugnung, oder genauer: in der Verkennung, dass es keine klare und eindeutige Grenze zwischen Wahn und Wissen gibt. Er besteht daher wesentlich in der Gewissheit, keiner zu sein.

3. Wahn als Gefahr an den Grenzen von Bildungsprozessen Das Verständnis von Bildung als eines kontinuierlichen Akkumulationsprozesses von Wissen, eines Aufbaus oder eines Erwerbs von Kompetenzen und der Aktivierung und Optimierung individueller Ressourcen schließt z.T. an eine organologische Anthropologie an, deren Grundidee in der Aktualisierung bereits angelegter Potenzen besteht. Dieses »Prinzip der Entelechie beherrscht [...] die Bildungstheorie mit der Gewalt eines Vorurteils«,58 schrieb Buck noch 1984. Gewiss, diese wirkungsmächtige Vorstellung einer »zielstrebigen Realisierung eines keimhaften Vorentwurfs«, der »Entfaltung einer Praeformation«59 ist heute in dieser teleologischen Schlichtheit kaum noch anzutreffen. Sie ist aber auch nicht ganz verschwunden, sondern hat den Telosschwund der Moderne und die damit zusammenhängende Unbestimmtheitsproblematik60 im Evolutionsgedanken positiviert. Doch auch, wenn die Entwicklung nun nicht mehr als bloße Ausfaltung vorgegebener Möglichkeiten begriffen wird, wenn die organologische Metaphysik einer System-Umwelt97

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Interaktion gewichen ist und die Teleologie von einer funktional argumentierenden Theorie teleonomer Evolution abgelöst wurde, die es gestattet, im Begriff der »Viabilität« Autopoiese und Determination zusammen zu denken61 – trotz dieser Komplexitätssteigerung der Theorien wird die menschliche Ontogenese von ihnen durchweg als kontinuierlicher Lernprozess gefasst, der als Kumulation von strukturgenerierenden Lernereignissen angesehen wird, die die Passung zwischen System und Umwelt auf immer höherem Komplexitätsniveau ermöglichen. Gegen diese Bildungsvorstellung bringt Buck die »verschüttete Tradition des ateleologischen identitätstheoretischen Bildungsbegriffs – des eigentlich neuzeitlichen Begriffs der Bildung«62 in Erinnerung, die auf geschichtlichen Negativerfahrungen der Entfremdung und des Identitätsverlusts antwortete. Statt als »Ausfaltung und Darstellung einer verborgenen anfänglichen Fülle« habe der moderne Bildungsbegriff einen pessimistischen Ursprung, der in der Gegenwart verdrängt und vergessen worden sei. Diesen Ursprung rekonstruiert Buck entlang der Interpretation von Rousseaus These der Geschichte als »Geschichte der menschlichen Selbstentfremdung« über Schillers und Humboldts bildungstheoretische Schriften bis hin zu Hegels These der notwendigen Entfremdung als »generelles Moment aller Bildung, sofern Bildung ein geschichtliches Werden mit dem Richtungssinn der Rückkehr ist«,63 und Marxens Ersetzung des Begriffs der Bildung durch den der Arbeit.64 Zentral ist dabei die Idee einer Rückkehr aus der Entfremdung und der Rückgewinnung der verlorenen Identität als »lebenspraktische[r] Norm«65 und als Ziel der Bildung. Bildung, die »den Prozeß der menschlichen Selbstentfremdung gegenläufig zurücknimmt und die verlorene Identität wiedergewinnt«,66 wird dabei von der von Hegel explizierten Struktur der Arbeit her als Erfahrungsprozess konzipiert, der sich in lebenspraktischen Vollzügen realisiert und keineswegs ein exklusives Phänomen ist.67 Dieser Erfahrungsprozess ist kreisförmig und negativ. Kreisförmig, weil das Ich sich die Gegenstände der Welt nur aneignen kann, wenn es aus sich herausgeht, sich mit anderem auseinandersetzt, sich Fremdem und Neuem aussetzt, sich also von sich entfremdet und sich an die Welt verliert, dabei aber seiner selbst bewusst wird und so zu sich zurückkehrt, jedoch verändert, nicht nur reicher an Erfahrungen und Wissen, sondern mit einem anderen Bewusstsein seiner selbst. Die Rückkehr aus der Entfremdung verändert das Verhältnis zur Welt und zugleich zu sich selbst. Negativ, weil der Welt eine Widerständigkeit eignet und der Bewusstseinsprozess vor allem dann in Bewegung gerät, 98

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wenn seinen gewohnten Sichtweisen negierende Ereignisse zustoßen. »Die negative Erfahrung, daß es sich anders verhält, als wir erwartet haben, diese Enttäuschung unserer naiven Antizipation, diese Entfremdung von unserem ursprünglichen Wähnen, sie ist es, die uns mit uns selbst konfrontiert und uns ineins mit einer Belehrung über die Dinge über uns selbst belehrt. Die Arbeit als Erfahrung der Widerständigkeit des Wirklichen und als Disziplinierung unserer eigenen Wunschbefangenheit hat diesen doppelten Erfahrungscharakter, durch den sich die Erkenntnis und mit ihr die Haltung des Erkennenden selbst wandeln, d.h. im Prozeß einer Bildung begriffen sind.«68 Nicht die Fülle, sondern Versagungen, Entfremdung und Negativität sind hier konstitutive Bedingungen von Bildung, allerdings nur als Passagen, nach denen sich eine neue und stabile Selbst- und Weltsicht etabliert.69 In dieser Perspektive gleitet Bildung vor allem dort in Wahn ab, wo das Subjekt nur bei und in sich selbst bleibt, unberührt vom Anderen, oder wo es sich an die Fremdheit der Welt verliert und den Rückweg nicht mehr findet.70 Die durch Andere, die Fremdheit der Welt und Erwartungsenttäuschungen ausgelösten Erfahrungen selbst sind in dieser Sicht wahnfrei, sie verleihen vielmehr dem ihm vorhergehenden Bewusstseinszustand des Ich nachträglich den Charakter des »ursprünglichen Wähnens«, aus dem es durch die Fremderfahrung herausgerissen, mit sich selbst konfrontiert und zu einer Veränderung seiner Ansichten über die Welt und sich selbst veranlasst wird. So erscheint der Bildungsprozess als eine zunehmende Distanzierung von einer wahnhaften, narzisstischen Selbst- und Weltauffassung hin zu einem Weltwissen, einer Anerkennung der Anderen und einer »Befreundung mit uns selbst«,71 d.h. als ein Prozess, in dem an die Stelle eines ursprünglich eher wahnhaften Selbst- und Weltbildes ein der Realität angemessenes tritt. Aus einer anderen Perspektive könnte man auch von einem Anpassungsprozess sprechen. Fraglich bleibt aber, ob nicht diese Vorstellung einer gelingenden Identitätsfindung selbst illusorisch ist und ob der Bildungsprozess sich als kontinuierlicher Erfahrungsprozess verstehen lässt, in dem die Fremdheit des Außen durch Horizonterweiterung bruchlos in einem neuen IchWelt-Verhältnis aufgehoben wird. Dieses Konzept schließt den Wahn aus dem Bildungsprozess aus. Er lauert nur an seinen Grenzen: Wenn das Ich gar nicht in das Wechselverhältnis mit der Welt eintritt oder sich rückkehrlos in ihr verliert, d.h. wenn man gar nicht von einem Bildungsprozess sprechen kann, der nach Humboldt nur als Wechselverhältnis 99

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begreifbar ist. Im Bildungsprozess ist das Subjekt scheinbar vor dem Wahn sicher. Die Negativität der Erfahrung, die Alterität des Anderen, die Widerfahrnis des Fremden werden zwar als Anlässe zur Selbsttransformation erkannt, aber eben nur als Anlässe. Ihr Eigengewicht, die von ihnen ausgehende Bewegung und die mit ihnen selbst verbundene entsubjektivierende Wirkung wird ihrer Radikalität beraubt und auf das Maß der Erschütterung reduziert, das dem Subjekt die aktive Bewältigung erlaubt und einen friedlichen und bruchlosen Übergang vom früheren Zustand zu einem neuen ermöglicht. Bei Buck zeigt sich diese Verharmlosung der Fremderfahrung darin, dass er zwar den vulgären Entfremdungsdiskurs zu Hegels Zeit dahingehend abqualifiziert, dass jener Entfremdung nur als »triviales lernpsychologisches Phänomen«72 thematisiere, Buck seinerseits aber die Irritationskraft des Fremden in seinem Erfahrungsbegriff ebenfalls radikal unterschätzt. Erfahrung wird nämlich im Anschluss an Husserls Konzept der Horizontstruktur aller Erfahrung,73 das wiederum von Gadamer im Begriff hermeneutischer Erfahrung aufgegriffen wird,74 als ein Kontinuum begriffen, das dadurch zustande kommt, dass alte Erwartungen und Erfahrungen von Fremdem und Neuem einer »bestimmten Negation« im Sinne Hegels ausgesetzt werden, die sodann in einer zweiten, sie aufhebenden Negation in einem erweiterten Horizont interpretiert werden. Wie Dietrich Benner bemerkt, kennt diese Antwort auf die Frage, »wie die verschiedenen Subjekt- und Weltzustände untereinander verbunden sind [...] keinen unbestimmten Zwischenraum zwischen negativen Erfahrungen und ihrer bestimmten Negation«.75 Versteht man Bildung als einen durch negative oder Fremderfahrungen ausgelösten Transformationsprozess, dann erscheint in dem Konzept des hermeneutischen Erfahrungsbegriffs das Andere, Fremde, Neue immer schon in Form einer Bestimmtheit, durch die es sich vom Alten, Bekannten, Eigenen klar abgrenzt und unterscheidet, und zwar noch bevor sich im zweiten Schritt das Alte in eine neue Form verwandelt. Wie eine Reihe sich nacheinander negierender Positivitäten stehen diese Stationen der Bildung dann in der Erinnerung in Form bestimmter Negationen friedlich nebeneinander und ermöglichen dem Subjekt den identitätsstiftenden vergleichenden Rückblick auf seine versammelten Erfahrungen. Diese Vorstellung, über seine Geschichte in der Erinnerung als ein Kontinuum verfügen zu können, negiert die Brüche in der Erfahrung und die irreduzible Unbestimmtheit und Fremdheit der Transformationsanlässe umwillen eines

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kohärenten Entfaltungsprozesses, der in einer neuen Ordnung und transformierten Identität mündet.

4. Wahn als transitorisches Moment in Bildungsprozessen An der Möglichkeit kontinuierlicher Übergänge zwischen Negativitätserfahrungen und Transformation zweifelnd, fragt Dietrich Benner: »Wie aber verhält es sich im Raum zwischen der Erfahrung der Negativität und der bestimmten Negation, in dem die Enttäuschungen eines Vorwissens manifest, die Umstrukturierung des Wissens und seines Gegenstandes aber noch nicht abgeschlossen, die Negativität einer Irritation erlitten, die Not, in welche diese führt, aber noch nicht gewendet, das Alte zwar als das Falsche erkannt, die Lösung aber noch nicht gefunden ist?«76

In diesem Spalt zwischen dem Widerfahrnis und seiner identifizierenden Integration in einem erweiterten Horizont ist das seiner Welt und seines Selbst gewisse Subjekt suspendiert, und die Welt verliert ihre vertraute Gestalt. Es ist dieser Moment des Weltverlusts und des Entzugs der Selbstsicherheit und -mächtigkeit, der sich durch die Konfrontation mit einer Möglichkeit ereignet, die sich in keiner Weise angekündigt hatte und im bisherigen Vorstellungskreis nicht vorgezeichnet war, und die sowohl das Ich entsichert als auch seine Welt destabilisiert. So kann man sagen, dass der Wahn nicht nur an den Grenzen des IchWelt-Verhältnisses droht, sondern dass er ein integraler Bestandteil von Bildungsprozessen ist, die ohne ihn gar nicht möglich wären. Meine These ist daher, dass Bildungsprozesse eine Phase des Wahns durchlaufen müssen, in der die bekannte Welt in ihrer Selbstverständlichkeit suspendiert und in ihrer natürlichen Geltung außer Kraft gesetzt wird, bevor eine Neuordnung begonnen hat, ja, damit diese als Neu-Ordnung überhaupt beginnen kann. Diese Erschütterung eines eingespielten Selbstund Weltverhältnisses vollzieht sich durch unvorhersehbare Ereignisse,77 als eine »heteronome Erfahrung« des Anderen,78 des Fremden,79 des »Unmöglichen«,80 wobei die Transformationsprozesse schockhaft-traumatisch, plötzlich81 oder schleichend82 in Gang gesetzt werden können und einen ungewissen Ausgang haben, da die Neu- oder Reorganisation sich aufgrund der irreduziblen Andersheit, der bestehen bleibenden Unzugänglichkeit des Fremden und der unaufhebbaren Unbestimmtheit nicht auf eine bestimmte Negation stützen können, und die neue Erfah101

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rung bzw. das Neue in der Erfahrung sich gegen eine abschließende Identifizierung sperrt. Dieser Prozess lässt sich nicht nur als »Bewusstseinsprozess« beschreiben, da er weitgehend unbewusst verläuft. Zudem spielen in negativen Erfahrungen auf vielfältige Weise ebenso Widerstände eine Rolle wie auch das Vergessen,83 so dass ein vorher-nachherVergleich nicht oder nur als nachträgliche Erfindung oder narrative Konstruktion möglich ist. Auch ist keinesfalls garantiert, dass negative Erfahrungen in jedem Fall Bildungsprozesse auslösen.84 Auf all diese Aspekte kann ich hier nicht angemessen eingehen. Stattdessen möchte ich noch einmal auf den Status negativer Erfahrungen und des transitorischen Wahns zurückkommen. Das Verhältnis von Bildung und Wahn ist von der Qualität und Intensität der negativen Erfahrungen abhängig. Je nachdem, wie sie das Subjekt affizieren und es entsichern, ergibt sich ein jeweils anderes Verständnis nicht nur vom Transformationsprozess, sondern auch von Bildung selbst. Nicht jede Irritation und Enttäuschung löst Lern- und Bildungsprozesse aus, und nicht jede Erschütterung des Selbst- und Weltverhältnisses ermöglicht einer »Rückkehr aus der Entfremdung«. Die Frage, die hier zunächst interessiert, ist nicht die nach dem Unterschied zwischen Lernen und Bildung,85 sondern vorerst nach dem von Benner angesprochenen Zwischenraum, der Form des Nicht-Wissens und der Radikalität der Wirkung der Fremderfahrung. Grob vereinfacht, da als Gegensatz formuliert, geht es um die Frage, ob die Negativität der Erfahrung die Grund gebenden Basisgewissheiten selbst erreichen muss, um einen Transformationsprozess zu ermöglichen,86 oder ob dies gerade nicht passieren darf, weil ein Verlust dieses Bodens fundamentaler Gewissheiten direkt in den Wahnsinn führt.87 Wie tief liegt also der Boden in dem Zwischenraum und gibt es ihn überhaupt? In Bezug auf die Formen des Nicht-Wissens, die diese Erfahrung zu Bewusstsein bringt, lautet die Frage, ob es sich einfach um den Mangel an positivem Wissen handelt oder um das Fehlen relevanten Kontextwissens oder um die Inkommensurabilität perspektivischen Wissens, oder ob es sich um ein prinzipielles Nicht-Wissen und NichtWissen-Können handelt. Die ersten drei Formen würden durch Ergänzung, Erweiterung oder Perspektivverschiebung eine Reorganisation des Wissens erlauben, wobei die grundlegenden Sicherheiten zwar in unterschiedlicher Weise betroffen wären, aber nicht radikal in Zweifel stünden, wohingegen genau dies in der vierten Form der Fall wäre. In Bezug auf die Qualität der Fremderfahrung lautet die Frage, ob es sich um et102

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was Anderes, Fremdes, Neues im Sinne des noch nicht Bekannten handelt, d.h. um ein nur relativ zum Bekannten und Vertrauten fremd, anders und neu Erscheinendes, oder ob es als etwas radikal Fremdes, ganz Anderes und absolut Neues zu verstehen ist, das den Erwartungshorizont uneinholbar transzendiert, den Rahmen sprengt und den Kontext verflüssigt. Auch hier wäre im ersten Fall des relationalen Fremden die Integration des Begegnenden in Form einer erweiterten Neuordnung gut denkbar, wohingegen die Anschlussfähigkeit des radikal Fremden und ganz Anderen problematisch bleibt, weil sich kein Horizont über ihnen schließen kann, ohne dass ein Loch in der Welt bliebe. Die Wahnanfälligkeit von Bildung hängt daher zum einen mit der Form des NichtWissens zusammen, das durch die Erfahrung des Negativen evoziert wird, und zum anderen damit, wie das Fremde oder der Andere erfahren wird, d.h. ob es/er überhaupt erfahrbar ist im Sinne einer bestimmbaren und wahrnehmbaren Präsenz. Soll eine Transformation im Selbst- und Weltverhältnis über eine bloße Integration des Widerfahrnisses oder eine Anpassung an neue Weltgegebenheiten hinausgehen, wobei das Fremde zum Vertrauten gemacht und die Andersheit des Anderen vereinnahmt wird, dann müsste nach Levinas die Identitätsformation des Ich mit ihrer Bodenlosigkeit und seiner eigenen Grundlosigkeit konfrontiert und das Subjekt in diesem »Zwischen« ent-setzt werden, wobei das »Zwischen« eher als temporale Entsubjektivierung und weniger als Aufenthaltsraum eines reflektierenden Ich zu verstehen wäre, das im Kontext seiner noch wohnlichen Einrichtung die bestimmte Negation sucht. Levinas beschreibt diese heteronome Erfahrung als eine Erfahrung ohne Begriff, als »reine« Erfahrung, denn die »Konzeption, die die Aufnahme der Sinnesdaten im Ich vermittelt, endet vor dem Anderen als De-Zeption [Enttäuschung], als Gelassenheit, als Entwaffnung, die alle unsere Versuche, dieses Reale zu erfassen, kennzeichnen«.88 Diese Erfahrung lässt sich nicht in begriffliches Wissen auflösen, da der Andere anders als Wissen ist. Ohne hier diese Erfahrung genauer beschreiben zu können,89 macht Levinas die Notwendigkeit deutlich, dass die Basisgewissheiten des Subjekts, Zentrum und Ausgangpunkt aller Erfahrung zu sein, außer Kraft gesetzt werden müssen, damit überhaupt eine Erfahrung des Anderen möglich wird.90 Das System des Alltagsbewusstseins, die »natürliche« Selbst- und Welteinstellung im Sinne Husserls, hat nämlich in seiner Geschlossenheit selbst wahnhaften Charakter. Es verhindert die Erfahrung des Anderen und Fremden, wehrt sie ab und negiert andere Konstellationen von 103

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Wirklichkeitsverständnissen. Erst ihre Unterbrechung und Öffnung durch den Einbruch des absolut Äußerlichen ermöglicht einen Transformationsprozess. Diese Erfahrung kann jedoch im Kontext geltender Grundgewissheiten einer intersubjektiv geteilten Welt nur als psychotische Erfahrung beschrieben werden – Levinas spricht von »Heimsuchung«, »Verfolgung«, »Geiselstruktur« –, als Bruch der geltenden Ordnung, als Aus-Setzung des Subjekts, als Erfahrung des Unmöglichen und als unmögliche Erfahrung. Das Zwischen als solches kann nämlich nicht als solches »erfahren« werden im Sinne eines bewussten Erlebens,91 so wenig wie man von einer »Erfahrung« des Wahnsinns sprechen kann, der als absolute Negativität, als »Nacht der Welt« (Hegel) und Weltverlust, als präontologische »Null-Ebene der reinen Mannigfaltigkeit«92 dem Subjekt innewohnt93 und erst »den Raum für ihre [der Realität] symbolische (Re-) Konstruktion eröffnet.«94 Aber das »Zwischen« ist als Ort und Phase des Wahnsinns nicht nur selbst unbestimmbar, sondern es verleiht auch dem vermittels der synthetischen Aktivität des Subjekts (wieder-)hergestellten Selbst- und Weltverhältnis eine Rissigkeit und Exzentrizität, durch die es sich nicht mehr schließen kann. Begreift man diese Erfahrung also nicht in identitätslogischen Termini »bestimmter Negation«, sondern ausgehend von einem radikalen Begriff des Anderen und Fremden, wäre eine Rückkehr in eine geschlossene Formation die Negation des in der Erfahrung Widerfahrenen selbst. Statt einer Restitution einer Identität gilt es aber, die Dezentrierung des Subjekts zu denken, die nicht zu einer Rezentrierung führt, sondern zu einer fortwirkenden Selbstfremdheit und einem Differenzbewusstsein auch im Selbstverhältnis. Dass dem Subjekt seine Singularität keineswegs zugänglich und verfügbar ist, sondern sich ihm gerade entzieht und nur die intersubjektive Relation zum Anderen eine gewisse Zugänglichkeit zu ihr ermöglicht, hat nach Levinas auch Lacan deutlich gemacht.95 Ein von jedem Wahn reines Selbst- und Weltverständnis, eine absolut realitätsangepasste und wahnfreie Bildungsformation ist daher selbst ein Wahn, weshalb bei der »Rückkehr aus der Entfremdung« durch Reformierung einer Identität als einheitliche Ganzheit ebenfalls der Wahn lauert. Eine wahnfreie Bildung ist so gesehen nicht zu haben, aber auch eine wahnkontaminierte Bildung ist nicht garantiert, denn die »Wendung der Not«, die (Re-) Konstruktion der Welt und Restitution der Identität kann scheitern und in der Psychose münden, dem Wahnsinn in seiner pathologischen Form.

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Davor schützen die jedes Wissen fundierenden Gewissheiten, nach Descartes die Selbstgewissheit als letzter unbezweifelbarer Grund, nach Husserl die Natürlichkeit der intersubjektiv geteilten Bedeutungswelt oder nach Wittgenstein die in jedem Sprachspiel implizierten und stillschweigend anerkannten Gewissheiten, die als Grund des Wissens selbst nicht begründbar und erfahrbar sind. Sie zu thematisieren und in Frage zu stellen ist gleichbedeutend damit, ihnen die Anerkennung zu entziehen, den Glauben an sie zu zerstören und das intersubjektive Band zu Anderen, zur gemeinsamen Bedeutungswelt und zum eigenen Wissen zu unterbrechen.96 Ohne diese Gewissheiten in ihrer fraglosen Gültigkeit des Selbstverständlichen zerfällt die Welt, und das Ich stürzt ins Bodenlose, die symbolische Ordnung entstrukturiert sich, Wirklichkeit und Täuschung werden ununterscheidbar. Dies wäre das »Zwischen« als erfahrbarer Zustand mit all seinen Affekten der Angst, des Grauens, des Entsetzens und Schreckens. Der Ausgang aus diesem Selbst- und Weltverlust ist dann nur als pathologischer Wahn vorstellbar, wie Freud ihn verstand oder als »narzisstische Gewissheitsprothese«, wie Erich Wulff ihn nennt.97 Die Alternative, ob die Basisgewissheiten im »Zwischen« keinesfalls in Frage gestellt werden dürfen, weil dies den Wahnsinn als Zustand zur Folge hätte, oder ob sie erschüttert werden müssen, damit eine Fremderfahrung überhaupt statthaben und wirksam werden kann, ist kaum endgültig entscheidbar. Ein Bildungsprozess, der über adaptive Anpassungsleistungen hinausgeht, muss m.E. allerdings eine solche Phase des Wahnsinns passieren, damit eine grundlegende Umschrift erfolgen und die symbolische Ordnung sich überhaupt transformieren kann. Ob und wie dieses »Zwischen« begriffen werden kann, in welcher Sprache seine Sprachlosigkeit darstellbar sein könnte, dafür stehen neben Levinas bei aller Unterschiedlichkeit z.B. auch die Diskurse von Lacan und Derrida. Auf jeden Fall ist dieses Zwischen nur als Aporie, Weglosigkeit, Unmöglichkeit oder als Paradoxie darstellbar. Und als Bedingung von Bildungsprozessen eröffnet das Zwischen zugleich ihre Möglichkeit wie auch ihr mögliches Scheitern, garantiert aber keinesfalls ihre Wahnfreiheit.

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5. Der Wahn als Wächter über und im Bildungsprozess Ich habe mit Blick auf Bildung vom Wahn als trügerischer Illusion (1) oder als einer perfiden Selbsttäuschung gesprochen (2), vom pathologischen Wahn an den Grenzen von Bildungsprozessen (3) und vom Wahn als konstitutive Passage (4). Abschließend möchte ich wenigstens kurz und nur als Hinweis noch einmal auf den »umhüllenden Wahn« zurückkommen, von dem Nietzsche sprach und dem er für Bildungsprozesse eine Schutzfunktion zuerkannte. Eine der grundlegenden negativen Erfahrungen ist die Erfahrung von Ungerechtigkeit.98 Negativ ist diese Erfahrung nicht nur, weil sie Entrüstung hervorruft, wenn man sie erleidet, und ein schlechtes Gewissen, wenn man selbst glaubt, Unrecht getan zu haben, sondern weil sie eine unbestimmte Erwartung negiert und positiv das Begehren nach Gerechtigkeit weckt. Denn was Gerechtigkeit ist, ist nicht allgemein definierbar. So ist auch die Erwartung, selbst gerecht behandelt zu werden, wie auch die Intention, Anderen gerecht zu werden, nicht konkret bestimmbar. Man weiß nicht, was man erwartet oder was man tun soll. Was Gerechtigkeit positiv ist, kann man vorher nie wissen, denn sie ist kein dem Wissen vorab gegebener Maßstab.99 Weder das Gesetz noch das Recht sind mit Gerechtigkeit identisch, denn was für alle gilt, wird niemandem gerecht. Zwar gibt es bis in die Anfänge der Philosophie zurückreichende Bestimmungsversuche von Gerechtigkeit und eine Vielzahl von Gerechtigkeitstheorien,100 und auch im aktuellen Diskurs der politischen Philosophie und der Sozialphilosophie um die Verhältnisse zwischen Freiheit, Gleichheit, Anerkennung, Bildung und Gerechtigkeit herrscht eine lebhafte Diskussion um das Problem der Gerechtigkeit mit einer Vielzahl von sehr heterogenen Ansätzen. Doch eine allgemein verbindliche und zustimmungsfähige Definition ist nicht erkennbar. Gerechtigkeit als Begriff besteht so gesehen vor allem im Streit widerstreitender Kriterien, Maßstäbe und Perspektiven in Bezug auf Gerechtigkeit selbst. Kurz, die Frage nach der Gerechtigkeit ergibt sich erst aus der Erfahrung ihres Ausbleibens, das weniger als ihre Negation sondern eher als ihr Anderes verstanden werden kann,101 und durch das die unabschließbare Suche nach ihrer begrifflichen Bestimmung in Gang gesetzt wird. Auch das Recht ist bekanntlich nicht mit Gerechtigkeit identisch, wenn diese auch nicht jenseits des Rechts zu suchen ist, z.B. in einem prinzipiell unerfüllbaren Ideal oder der Vorstellung eines souveränen, über dem Recht stehenden gerechten Herrschers oder der Utopie einer ge106

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rechten Gemeinschaft ohne Herrschaft. Diese Vorstellungen haben, wie Menke betont, politisch offene oder verdeckte autoritäre Konsequenzen, durch die Gerechtigkeit sich in Ungerechtigkeit verkehrt. »Denn beide Utopien, die der Herrschaft des Guten und die des Guten ohne Herrschaft, entwerfen Zustände einer absoluten Gerechtigkeit jenseits der relativen und beschränkten von Recht und Gesetz.«102 Nach dem Zerfall dieser politischen Utopien das Verhältnis zwischen Recht und Gerechtigkeit neu gedacht zu haben, ist das Verdienst von Jacques Derrida.103 In seiner dekonstruktiven Entfaltung der aporetischen Verhältnisse zwischen Recht und Gerechtigkeit104 trägt er eine Kritik des Rechts vor, die es nicht negiert, sondern es in die »Forderung nach unendlicher Gerechtigkeit, die unendliche Forderung nach Gerechtigkeit, die die von mir erwähnte Gestalt der ‹Mystik‹ annehmen kann«,105 einbezieht. Diese unendliche Forderung ist die der Gerechtigkeit selber, weil sie nicht auf Kriterien reduzierbar, »übermäßig« und »undarstellbar« ist,106 und »weil sie dem Anderen gebührt, dem Andern sich verdankt; dem Anderen verdankt sie sich, gebührt sie vor jedem Vertragsabschluß, da sie vom Anderen aus, vom Anderen hergekommen, da sie das Kommen des Anderen ist, dieses immer anderen Besonderen.«107 Die Erfahrung der Ungerechtigkeit provoziert die Forderung nach Gerechtigkeit und sieht sich mit der Erfahrung einer Aporie konfrontiert, einer undarstellbaren und unbestimmbaren Andersheit,108 einer Unentscheidbarkeit bei gleichzeitig bestehender Dringlichkeit einer Entscheidung,109 wie auch mit der Paradoxie, dass sie dem Anderen gebührt und sich ihm zugleich verdankt. Das sind für die planende Rationalität unmöglich zu erfüllende Forderungen und Ansprüche, so dass man nie in der Gegenwart wissen und sagen kann, ob eine Entscheidung oder jemand gerecht ist; »und noch weniger: ›ich bin gerecht‹.«110 Erst die Zukunft kann erweisen, ob etwas gerecht gewesen ist, weswegen Gerechtigkeit sich zwar ereignen kann (und eben nicht nur eine Idee bleibt), aber dennoch immer im Kommen bleibt.111 Deshalb spricht Derrida auch von einem Wahn, der die Idee der Gerechtigkeit umkreist: »In meinen Augen ist diese ›Idee der Gerechtigkeit‹ aufgrund ihres bejahenden Wesens irreduktibel, aufgrund ihrer Forderung nach einer Gabe ohne Austausch, ohne Zirkulation, ohne Rekognition, ohne ökonomischen Kreis, ohne Kalkül und ohne Regel, ohne Vernunft oder ohne Rationalität im Sinne des ordnenden, regelnden, regulierenden Beherrschens. Man kann darin also einen Wahn erkennen, ja sie des Wahns anklagen.

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[...] Die Dekonstruktion ist verrückt nach dieser Gerechtigkeit, wegen dieser Gerechtigkeit ist sie wahnsinnig. Dieses Gerechtigkeitsverlangen macht sie verrückt.«112

Dieser Wahn, der die Wachsamkeit hinsichtlich der Wahrnehmung von Ungerechtigkeit schärft, die andere erleiden, aber auch der Ungerechtigkeit, die man selbst erleidet und begeht, dieses Verlangen nach Gerechtigkeit könnte vielleicht als ein »umhüllender Wahn« verstanden werden, der den Bildungsprozess bewacht und vor Verbildungen schützt, der ihm aber als Wahn immanent ist, so dass ohne ihn kein Bildungsprozess als Bildungsprozess bezeichnet werden kann.

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Vgl. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1973. So haben zwar z.B. Michael Foucault die Geschichte des Wahnsinns (vgl. Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt am Main 1969) und Georg Bollenbeck Bildung und Kultur (Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt am Main 1994) als Deutungsmuster erforscht, aber die Frage nach einer Bildung und Wahn verbindenden Textur ist meines Wissens bisher nicht explizit Gegenstand der Forschung geworden. Nietzsche, Friedrich: »Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben«, in: Colli, Giorgio/Montinari, Mazzino (Hg.): Kritische Studienausgabe in 15 Bänden [KSA], Neuausgabe, München/Berlin/New York 1988, Bd., 1, S. 243-334; hier S. 272. Ebd. Ebd., S. 273. Ebd., S. 275. Ebd., S. 274. Ebd., S. 276. Ebd., S. 281. Ebd., S. 282. Ebd., S. 326. Humboldt, Wilhelm von: »Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen«, in: Flitner, Andreas/Giel, Klaus (Hg.): Werke in fünf Bänden, Bd. I, Darmstadt 1980, S. 56-233, hier S. 64. Ebd., S. 69. Nietzsche, Friedrich: »Unzeitgemäße Betrachtungen«, in: KSA, Bd. 1, S. 299. Ebd., S. 300. Ebd., S. 300f. Vgl. dazu Schäfer, Alfred: »Individuelle Bildung – zwischen Vernunft, Negativität und Tragik«, in: Koch, Lutz/Marotzki, Winfried/Schäfer, Alfred (Hg.): Die Zukunft des Bildungsgedankens, Weinheim 1997, S. 29-44. Adorno, Theodor W.: »Theorie der Halbbildung«, in: ders.: Gesellschaftstheorie und Kulturkritik, Frankfurt am Main 1975, S. 66-94. Liessmann, Konrad Paul: Theorie der Unbildung, Wien 2006. Nietzsche, Friedrich: »Unzeitgemäße Betrachtungen«, in: KSA, Bd. 1, S. 285ff. Ebd., S. 297. Mit Bollenbeck verstehe ich darunter ein kollektives »Wirklichkeitsbewußtsein, welches an sprachlichen Strukturen festgemacht werden« kann. Vgl. Bollenbeck, Georg: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt am Main 1996, S. 16. Ebd., S. 17.

Bildung und Wahn 24 »Bildung« wird hier mit Bollenbeck aus »einer umfassenden Perspektive symbolischer Vergesellschaftung« verstanden als Element der »Weltdeutung mit möglicher Handlungsanbindung. [...] Ein Deutungsmuster verfestigt sich kollektiv, ist ein Typus vorangegangener Erfahrung, dient als Bestimmungsrelation zur gegenwärtigen Zeit und kann mit seinen programmatischen Überschüssen auf zukünftige Möglichkeiten verweisen.« Ebd., S. 19. 25 Freud, Sigmund: »Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia«, in: Studienausgabe, Bd. VII, Frankfurt am Main 1973, S. 133-204, hier S. 193. 26 Schreber, Daniel Paul: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken. Zit. nach Freud, Sigmund: »Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia«, a.a.O., S. 192. 27 Nietzsche, Friedrich: »Morgenröte«, in: KSA, Bd. 3, S. 9-323, hier Nr. 190, S. 163. 28 Ebd., S. 164. 29 Nietzsche, Friedrich: »Unzeitgemäße Betrachtungen«, in: KSA, Bd. 1, S. 326. 30 Ebd., S. 327. 31 Ebd. 32 Ebd., S. 329. 33 Ebd. 34 Ebd., S. 298. 35 Nietzsche, Friedrich: »Morgeröte«, in: KSA, Bd. 3, S. 163. 36 Ebd., S. 164. 37 Nietzsche, Friedrich: »Unzeitgemäße Betrachtungen«, in: KSA, Bd. 1, S. 306. 38 Nietzsche, Friedrich: »Die fröhliche Wissenschaft«, in: KSA, Bd. 2, S. 343-652, hier S. 346. 39 Vgl. Freud, Sigmund: »Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia«, a.a.O., S. 200. 40 Vgl. z.B. Masschelein, Jan/Ricken, Norbert: »Do We (Still) Need the Concept of Bildung?”, in: Educational Philosophy and Theory, Special Issue »Bildung«, Vol. 35, 2003, No. 2, S. 139-154. 41 Vgl. kritisch dazu Pongratz, Ludwig/Reichenbach, Roland/Wimmer, Michael (Hg.): Bildung – Wissen – Kompetenz. Bildungsphilosophie in der Wissensgesellschaft, Bielefeld 2007 http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DocumentServlet?id=14819. 42 Vgl. z.B. Rosenbladt, Bernhard von (Hg.): Bildung in der Wissensgesellschaft. Ein Werkstattbericht zum Reformbedarf im Bildungssystem, Münster 1999; Hubig, Christoph (Hg.): Unterwegs zur Wissensgesellschaft, Berlin 2000. 43 Vgl. Höhne, Thomas: Pädagogik der Wissensgesellschaft, Bielefeld 2003, S. 67ff. 44 Vgl. Makropoulos, Michael: Modernität und Kontingenz, München 1997. 45 Vgl. Helsper, Werner/Hörster, Reinhard/Kade, Jochen (Hg.): Ungewissheit. Pädagogische Felder im Modernisierungsprozess, Weilerswist 2003. 46 Vgl. Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main 1986. 47 Nachzulesen in: Bildungskommission NRW: Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft, Neuwied/Kriftel/Berlin 1995; BMBF: Heute die Zukunft gestalten, Berlin/Bonn 2005; oder in: Forum Bildung: Empfehlungen des Forum Bildung II, Geschäftsstelle der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung, Bonn 2002. 48 Lohmann, Ingrid: »Bildungspläne der Marktideologen«, in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik 2002. 49 Gogolin, Ingrid/Krüger, Heinz-Hermann/Lenzen, Dieter/Rauschenbach, Thomas (Hg.): »Standards und Standardisierungen in der Erziehungswissenschaft«, Beiheft 4 der Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 2005. 50 Althusser, Louis: Marxismus und Ideologie, Westberlin 1973, S. 156ff. 51 Vgl. Masschelein, Jan/Simons, Maarten (2002): »An Adequate Education in a Globalised World? A Note on Immunisation Against Being-Together”, in: Journal of Philosophy of Education, Vol. 36, 2002, No.4, S. 589-608; dies.: Globale Immunität oder eine kleine Kartographie des europäischen Bildungsraums, Zürich/Berlin 2005. 52 Lenzen, Dieter: »Veränderung als Pflicht. Bildungsqualität und Qualitätsbildung«, in: Erziehung und Wissenschaft, 2001, H. 3, S. 2. 53 Dies zeigt Masschelein, Jan: »The Discourse of the Learning Society and the Loss of Childhood”, in: Journal of Philosophy of Education, Vol. 35, 2001, No. 1, S. 1-20.

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Michael Wimmer 54 Vgl. dazu Pongratz, Hans J./Voß, Günter G.: Arbeitskraftunternehmer. Erwerbsorientierungen in entgrenzten Arbeitsformen, Berlin 2003; Elster, Frank: Bildung des Arbeitskraftunternehmers. Zur erziehungswissenschaftlichen Sicht auf einige Paradoxien subjektivierter Arbeit, Dissertation am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg 2007. 55 Derrida, Jacques: Einsprachigkeit, München 2003, insbesondere in der Fußnote S. 100108. 56 Ebd., S. 104. 57 Vgl. z.B. Edelman, Gerald M.: Das Licht des Geistes. Wie Bewusstsein entsteht, Düsseldorf/Zürich 2004; Kandel, Eric R./Schwartz, James H./Jessell, Thomas M. (Hg.): Neurowissenschaften, Heidelberg/Berlin/Oxford 1996; Roth, Gerhard: Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert, Frankfurt am Main 2003; Singer, Wolf: Der Beobachter im Gehirn, Frankfurt am Main 2002; Spitzer, Manfred: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens, Heidelberg/Berlin 2002; Sturma, Dieter (Hg.): Philosophie und Neurowissenschaften, Frankfurt am Main 2006 und die Beiträge im 5. Beiheft der Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 2006. 58 Buck, Günther: Rückwege aus der Entfremdung, Paderborn/München 1984, S. 14. 59 Ebd., S. 155. 60 Vgl. Gamm, Gerhard: Flucht aus der Kategorie. Die Positivierung des Unbestimmten als Ausgang aus der Moderne, Frankfurt am Main 1994. 61 Vgl. z.B. Varela, Francisco J.: Kognitionswissenschaft – Kognitionstechnik, Frankfurt am Main 1990. 62 Buck, Günther: Rückwege aus der Entfremdung, a.a.O., S. 18. 63 Ebd., S. 178. 64 Vgl. ebd., S. 197. 65 Ebd., S. 156. 66 Ebd. 67 Vgl. ebd., S. 188ff. 68 Ebd., S. 189. 69 Alfred Schäfer interpretiert diese Erfahrungsstruktur daher auch als erweiterte Selbstermächtigung: »Die zeitweise Unterwerfung unter die Fremdheit der Welt dient in diesem Modell dazu, die eigene Autonomie zu steigern. Die Souveränität des Subjekts liegt hier gerade darin, sich selbst aufs Spiel setzen zu können, ohne sich zu verlieren: Es opfert sich selbst, um sich umso souveräner zurückzugewinnen.« Einführung in die Erziehungsphilosophie, Weinheim/Basel 2005, S. 161. 70 Seine eigene Natur drängt den Menschen »beständig von sich aus zu den Gegenständen ausser ihm überzugehen, und hier kommt es nun darauf an, dass er in dieser Entfremdung nicht sich selbst verliere«, schreibt z.B. Wilhelm von Humboldt: »Theorie der Bildung des Menschen«, in: Flitner, Andreas/Giel, Klaus (Hg.): Werke in fünf Bänden, Bd. I, Darmstadt 1980, S. 234-240, hier S. 237 71 Buck, Günther: Rückwege aus der Entfremdung, a.a.O., S. 189. 72 Ebd., S. 179. 73 Damit ist der Funktionskreis von den Antizipationen (die immer in einem bestimmten Horizont situiert sind) über deren Erfüllung bzw. Enttäuschung bis hin zum Horizontwandel gemeint, wodurch Fremdes in einem erweiterten Horizont verständlich wird. Vgl. Buck, Günther: Hermeneutik und Bildung, München 1981, S. 50. 74 Vgl. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, Tübingen 1960, S. 329-343. 75 Benner, Dietrich: »Einleitung. Über pädagogisch relevante und erziehungswissenschaftlich fruchtbare Aspekte der Negativität menschlicher Erfahrung«, in: Zeitschrift für Pädagogik, 49. Beiheft: Erziehung – Bildung – Negativität, April 2005, S. 7-23, hier S. 11. 76 Benner, Dietrich: »Kritik und Negativität. Ein Versuch zur Pluralisierung von Kritik in Erziehung, Pädagogik und Erziehungswissenschaft«, in: Zeitschrift für Pädagogik, 46. Beiheft: Kritik in der Pädagogik, April 2003, S. 96-110, hier S. 100. 77 Zu Zeiterfahrung des Ereignisses vgl. Müller-Schöll, Nikolaus (Hg.): Ereignis. Eine fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung. Anspruch und Aporien, Bielefeld 2003. 78 Vgl. Levinas, Emmanuel: Die Spur des Anderen, Freiburg/München 1983, S. 209ff, explizit S. 214. 79 Vgl. von Bernhard Waldenfels z.B.: Topographie des Fremden, Frankfurt am Main 1997.

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Bildung und Wahn 80 Zum Begriff des »Unmöglichen« im Denken von Jacques Derridas vgl. z.B.: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Berlin 2003. 81 Vgl. Bohrer, Karl Heinz: Plötzlichkeit. Zum Augenblick ästhetischen Scheins, Frankfurt am Main 1981. 82 Vgl. dazu Freud, Sigmund: »Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia«, a.a.O., S. 195. In einer Passage aus dem Roman Nachtzug nach Lissabon wird diese Lautlosigkeit einer fast unbemerkten Erfahrung und ihre erst nachträglich einsetzende Wirkung treffend beschrieben: »Es ist ein Irrtum zu glauben, die entscheidenden Momente eines Lebens, in denen sich seine gewohnte Richtung für immer ändert, müßten von lauter und greller Dramatik sein, unterspült von heftigen inneren Aufwallungen. Das ist ein kitschiges Märchen, das saufende Journalisten, blitzlichtsüchtige Filmemacher und Schriftsteller, in deren Köpfen es aussieht wie in einem Boulevardblatt, in die Welt gesetzt haben. In Wahrheit ist die Dramatik einer lebensbestimmenden Erfahrung oft von unglaublich leiser Art. Sie ist dem Knall, der Stichflamme und dem Vulkanausbruch so wenig verwandt, daß die Erfahrung im Augenblick, wo sie gemacht wird, oft gar nicht bemerkt wird. Wenn sie ihre revolutionäre Wirkung entfaltet und dafür sorgt, daß ein Leben in ein ganz neues Licht getaucht wird und eine vollkommen neue Melodie bekommt, so tut sie das lautlos, und in dieser wundervollen Lautlosigkeit liegt ihr besonderer Adel.« Pascal Mercier: Nachtzug nach Lissabon, München/Wien 2004, S. 53f. 83 Vgl. Benner, Dietrich: »Einleitung. Über pädagogisch relevante und erziehungswissenschaftlich fruchtbare Aspekte der Negativität menschlicher Erfahrung«, a.a.O., S. 10. 84 Vgl. dazu Koller, Hans-Christoph: »Negativität und Bildung. Eine bildungstheoretisch inspirierte Lektüre von Kafkas ›Brief an den Vater‹«, in: Zeitschrift für Pädagogik, 49. Beiheft: Erziehung – Bildung – Negativität, April 2005, S. 136-149, hier S. 147f. 85 Dieser Unterschied ist in der Theorie transformatorischer Bildungsprozesse, die in unterschiedlicher Weise vor allem von Rainer Kokemohr, Winfried Marotzki und HansChristoph Koller elaboriert wird und u.a. in der Biographieforschung als ein wichtiger Interpretationsrahmen gilt, von nicht unerheblicher Bedeutung. So unterscheidet z.B. Marotzki, sich auf die Schriften Batesons stützend, Lernen und Bildung nach dem Modell von Text und Kontext, Wissen und Rahmung: »Lernen innerhalb eines Rahmens hat akkumulierende Funktion: es vermehrt in quantitativer Weise das Wissen. Umgekehrt betrachtet: Dieses Wissen hat nur innerhalb des Rahmens einen bedeutungsmäßigen und sinnhaften Gehalt. Diese Rahmen legen die Interpunktionsweise von Weltund Selbstauslegung fest. Sie sind in gewisser Weise falsifikationsresistent, haben einen Selbstbestätigungscharakter, können nur qualitativ überwunden werden. Lernprozesse, die diese Rahmen transformieren, habe ich Bildungsprozesse genannt. Sie stellen jene Prozesse dar, durch die sich Welt- und Selbstreferenzen qualitativ ändern.« Ders.: Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie. Biographietheoretische Auslegung von Bildungsprozessen in hochkomplexen Gesellschaften, Weinheim 1990, S. 52. Ohne dies hier diskutieren zu können, scheint diese Unterscheidung als sehr problematisch, insofern sie von einer klaren Abgrenzbarkeit zwischen Text und Kontext, Rahmen und Inhalt ausgeht. Dagegen hat z.B. Derrida die Paradoxie dieses Verhältnisses deutlich gemacht, dass nämlich 1. der Kontext im Text wiederkehrt, ihn nicht nur supplementiert, sondern sich in ihm einnistet, und dass 2. der Kontext nicht endlich und geschlossen, sondern offen und unabschließbar ist. Vgl. Derrida, Jacques: Die Wahrheit der Malerei, Wien 1992, S. 56-175, bes. S. 72-104; vgl. dazu auch Dünkelsbühler, Ulrike: »Rahmen-Gesetz und Parergon-Paradox. Eine Übersetzungsaufgabe«, in: Gumbrecht, Hans U./Pfeiffer, K. Ludwig (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt am Main 1991, S. 207-223. 86 Anhaltspunkte für diese Auffassung kann man im philosophischen Diskurs bei verschiedenen Autoren finden, z.B. bei Schelling, Kierkegaard, Nietzsche, Heidegger, Levinas und Derrida. 87 Für diese Auffassung könnte man sich stützen auf Descartes, Kant, Husserl oder Wittgenstein. 88 Levinas, Emmanuel: Die Spur des Anderen, a.a.O., S. 206. 89 Vgl. dazu z.B. vom Verf.: Der Andere und die Sprache, Berlin 1988; Dekonstruktion und Erziehung, Bielefeld 2006, S. 289ff. 90 In Waldenfels Philosophie des Fremden stellt sich die Fremderfahrung etwas anders dar, insofern von einer irreduziblen Verschränktheit von Eigenem und Fremdem aus-

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gegangen wird, nicht von einem absolut Fremden. Auf die Konsequenzen dieser Sichtweise kann in dieser Skizze jedoch nicht eingegangen werden. Vgl. dazu Žižek, Slavoj: Die Tücke des Subjekts, Frankfurt am Main 2001, S. 49. Ebd.; zur »Nacht der Welt« vgl. die von Žižek aus der Jenaer Realphilosophie stammende Passage von Hegel auf S. 44. Der Wahnsinn ist, wie Žižek zeigt, für Hegel der Struktur von Subjektivität immanent, er stößt ihm nicht von außen zu, sondern ist notwendiger Anfangs- und Durchgangpunkt einer Rückkehr zum Sein. Auch Schelling begreift Wahnsinn als »Basis des Verstandes« und als »nothwendiges Element«, weshalb Verstand für ihn »eigentlich nichts als geregelter Wahnsinn« ist. »Die Menschen, die keinen Wahnsinn in sich haben, sind Menschen von leerem, unfruchtbarem Verstand.« Zit. nach Gamm, Gerhard: Der Deutsche Idealismus, Stuttgart 1997, S. 242. Nach Gamm artikuliert Schelling damit als einer der ersten die »Erfahrung von der Grundlosigkeit der Freiheit, vermittels der sich das Ich mit dem ganz Anderen im Ich konfrontiert sieht.« Ebd. S. 243. Žižek, Slavoj: Die Tücke des Subjekts, a.a.O., S. 51. Vgl. auch Visker, Rudi: »Von Foucault zu Levinas? Eine Zwischenbetrachtung«, in: Marotzki, Winfried/Masschelein, Jan/Schäfer, Alfred (Hg.): Anthropologische Markierungen. Herausforderungen pädagogischen Denkens, Weinheim 1998, S. 131-152; ders.: »Zum Unbegriff des Politischen. Pluralismus und Mè-Ontologie«, in: Schäfer, Alfred/Wimmer, Michael (Hg.): Selbstauslegung im Anderen, Münster/New York/ München/Berlin 2006, S. 115-128. Vgl. Wittgenstein, Ludwig: Über Gewissheit, Frankfurt am Main 1990. Vgl. den Beitrag von Erich Wulff in diesem Band. Vgl. Shklar, Judith N.: Über Ungerechtigkeit. Erkundungen zu einem moralischen Gefühl, Frankfurt am Main 1997. Fritz Oser billigt daher dem »negativen moralischen Wissen« eine konstitutive, orientierende und stabilisierende Funktion zu. Vgl. ders.: »Negatives Wissen und Moral«, in: Zeitschrift für Pädagogik, 49. Beiheft: Erziehung – Bildung – Negativität, April 2005, S. 171-181. Vgl. z.B. die umfangreiche, aber keineswegs vollständige Sammlung von Horn, Christoph/Scarano, Nico (Hg.): Philosophie der Gerechtigkeit. Texte von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main 2002. Vgl. dazu Weiß, Gabriele: »Ungerechtigkeit vor des Anderen Angesicht: Über die begrenzte Möglichkeit einer Bildung des Sinns für Ungerechtigkeit«, Vortrag auf der Herbsttagung der Kommission Bildungs- und Erziehungsphilosophie 2006. Erscheint demnächst in: Wimmer, Michael/Reichenbach, Roland/Pongratz, Ludwig (Hg.): Gerechtigkeit und Bildung, Paderborn 2007 (im Erscheinen). Vgl. Menke, Christoph: »Für eine Politik der Dekonstruktion. Jacques Derrida über Gewalt und Gerechtigkeit«, in: Haverkamp, Anselm (Hg.): Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida – Benjamin, Frankfurt am Main 1994, S. 279-287, hier S. 280. Derrida, Jacques: Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, Frankfurt am Main 1991. Vgl. Ebd., S. 46ff. Ebd., S. 40. Ebd., S. 57. Ebd., S. 51. Ebd., S. 57. Ebd., S. 49f., S. 53f. Ebd., S. 48. Ebd., S. 56f. Ebd., S. 51f. Kursiv von M.W.

Marianne Schuller

Wahn – Schreiben Zu einem Fragment Nietzsches

In Friedrich Nietzsches Nachgelassenen Fragmenten aus dem Sommer 1872, also ungefähr ein halbes Jahr nach Erscheinen der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, findet sich eine kurze, singulär da stehende Eintragung. In diesem Notat erscheint ein Text-Ich, das sich und sein Schreiben als Wirkung einer Stimme darstellt, von der es sich angegangen und getroffen meint. Haftet dieser Begegnung etwas Wahnhaftes an, so erweist sich, der Logik des kleinen Textes zufolge, der Wahn nicht als etwas Äußerliches, sondern als ein dem Schreiben zugehörendes Moment. Ein Moment, welches das schreibende (und lesende) Ich nicht kennt, mit dem es aber arbeitet, weil es arbeitet. Der kleine durch Sinnfülle und Verstehensnot ausgezeichnete Text lautet: Oedipus. Reden Des letzten Philosophen mit sich selbst. Ein Fragment aus der Geschichte der Nachwelt. Den letzten Philosophen nenne ich mich, denn ich bin der letzte Mensch. Niemand redet mit mir als ich selbst, und meine Stimme kommt wie die eines Sterbenden zu mir. Mit dir, geliebte Stimme, mit dir, dem letzten Erinnerungshauch alles Menschenglücks, laß mich nur eine Stunde noch verkehren, durch dich täusche ich mir die Einsamkeit hinweg und lüge mich in die Vielheit und die Liebe hinein, denn mein Herz sträubt sich zu glauben, daß die Liebe todt sei, es erträgt den Schauder der einsamsten Einsamkeit nicht und zwingt mich zu reden, als ob ich zwei wäre.

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Höre ich dich noch, meine Stimme? Du flüsterst, indem du fluchst? Und doch sollte dein Fluch die Eingeweide dieser Welt zerbersten machen! Aber sie lebt noch und schaut mich nur noch glänzender und kälter mit ihren mitleidslosen Sternen an, sie lebt, so dumm und blind wie je vorher, und nur Eines stirbt – der Mensch. – Und doch! Ich höre dich noch, geliebte Stimme! Es stirbt noch einer außer mir, dem letzten Menschen in diesem Weltall: der letzte Seufzer, d e i n Seufzer, stirbt mit mir, das hingezogene Wehe! Wehe! Geseufzt um mich, der Wehemenschen letzten, Oedipus.«1

Der Text präsentiert sich unter einem dreiteiligen, typographisch wohl gegliederten, mittig gesetzten Titel. An oberster Stelle steht der fett gedruckte Name ›Ödipus‹, dem der wiederum mittig gesetzte Untertitel ›Reden / des letzten Philosophen / mit sich selbst‹ folgt. Am Platz der Gattungsangabe findet sich die Bestimmung ›Ein Fragment‹, die durch eine Zeitangabe ergänzt wird: Typographisch abgesetzt, doch durch kein Satzzeichen getrennt, heißt es: ›aus der Geschichte der Nachwelt‹. Durch diese Ergänzung wird die Bestimmung des Textes als ›Ein Fragment‹ mehrdeutig: Handelt es sich, ähnlich wie bei den ›Fragmenten der Vorsokratiker‹ um eine bruchstückhafte Überlieferung? Handelt es sich um ein Fundstück aus späterer Zeit oder um das Fragment als Textverfahren? Die Verwirrung nimmt zu angesichts der Zeitangabe. Während ›Geschichte‹ auf Vergangenes verweist, ist der Signifikant ›Nachwelt‹ auf eine Zukünftigkeit gerichtet: auf eine »in zukünftiger zeit lebende menschheit, überhaupt ein kommendes geschlecht und zeitalter«?2 Die sich keiner Chrono-Logie fügende Verschränktheit von Vergangenheit und Zukünftigkeit kehrt in der Rede vom »letzten Philosophen« wieder, die sich im Titel sowie zu Beginn des Textes findet. Erzeugt die Positionierung des Wortes ›letzten‹ am Anfang des Textes eine Spannung, so wird diese semantisch bis zur Unstimmigkeit getrieben. Der Name Ödipus wird konstelliert mit ›Philosoph‹, eine Bezeichnung, die dann auf das Ich des Textes übergeht: Das Ich nennt sich den letzten Philosophen, weil es, so die Worte, der letzte Mensch ist. Damit wird das Ich zum Ort eines Zusammentreffens figuriert, als Ödipus und als der letzten Philosophen. Gemäß einer herrschenden Konvention, die dazu tendiert, Text-Ich und Autornamen zu verketten, kommt ein weiterer Name ins Spiel: Nietzsche. Diese Anordnung jedoch ist nicht stabil. Die Konfiguration von ›Philosoph‹ und ›Reden‹ ruft nicht nur die ›Rhetorik‹ als Redekunst auf, der sich der Philologe und Philosoph Nietzsche an der Universität Basel auf spektakulär neue Weise gewidmet hat,3 vielmehr verweist sie auf Sokrates. Nicht nur bevölkert Sokrates die frühen

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Fragmente Nietzsches sowie seine Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, sondern er wird von Nietzsche immer wieder ausdrücklich als »Nichtschreiber«4 bezeichnet. Treten damit Ödipus, Sokrates und Nietzsche zusammen, so bleibt die Relation zwischen den Namen unklar: Ist Ödipus Objekt der Rede oder ist er derjenige, der die Reden führt? In dem Maße, wie aufgrund der syntaktischen Position der Namen diese Frage nicht eindeutig beantwortet werden kann, hat das Auswirkungen auf die Konstituierung des Text-Ich: Es konstituiert sich als der Ort, an dem sich diverse und divergente Zeiten, Namen, Figuren und Genres mit ihren Reden einstellen. Niemand redet mit mir als ich selbst, ein Selbst das, so wäre fortzusetzen, die Resonanz aller dieser ist. Alle diese Namen, Figuren und Genres aber werden nicht dem Ich im Sinne paranoischer »Ichvergrößerung«5 zugeschlagen, vielmehr erfährt es sich als von einer anderen Instanz, von einer Instanz des Anderen getroffen: von einer Stimme. Wessen Stimme? Von wo kommt sie? Sie ist fremd, kommt von woanders, spricht aus dem off6 und gehört doch dem Ich zu. »Niemand redet mit mir als ich selbst, und meine Stimme kommt wie die eines Sterbenden zu mir. Mit dir, geliebte Stimme, mit dir, dem letzten Erinnerungshauch alles Menschenglücks, laß mich nur eine Stunde noch verkehren«. Und spricht sie denn, die geliebte Stimme? Sagt sie etwas? Nicht als das, was die Sprache trägt, ist die Stimme angerufen und ruft die Stimme das Text-Ich Nietzsches an, sondern als Klang in seiner organhaften Materialität: als Objekt. Im Register der Psychoanalyse Lacans ist die Stimme (neben dem Blick, der Brust und der Fäzes) als eines der vier primordialen Objekte verzeichnet, die dem Objekt a am ehesten entsprechen.7 Danach gibt es Objekte, an die sich ein nicht im historisch-chronologischen, sondern im logischen Sinne ursprüngliches Befriedigungserlebnis bindet, das nach Freud durch eine Erinnerungsspur repräsentiert und damit in seiner realen Präsenz immer schon verloren ist. Als verlorenes Objekt wird es zur Ursache des Begehrens in seiner Rätselhaftigkeit. In dem Maße, wie die Lacan’sche Konstruktion des Objekts a mit der Stimme als Objekt bei Nietzsche korrespondiert, wird die Passage lesbar als Imagination eines als verloren gesetzten Zustandes vor der symbolischen Separation. Das Text-Ich wähnt sich umgeben von der objektal gesetzten Stimme, die als ein immer schon verlorenes Objekt nur im Modus eines ›Erinnerungshauchs‹ auftauchen kann. Wie jenes Freud’sche Kind, das im Dunkeln nach einer objekthaft zu vernehmenden Stimme verlangt,8 will auch das Ich des Textes ein bisschen Ruhe haben vor der Sprache, um den Erin115

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nerungshauch an einen Zustand vor dem Eintritt in die Welt des Symbolischen und der Sprache zu kosten. Kann sich dieses Vor als logische, der Nachträglichkeit geschuldete Kategorie nur im Modus des Wähnens ereignen, so fundiert es noch das, was wir Sprechen und Dialog nennen. In einer Verkehrung wird das Sprechen im Sinne von Dialogizität, Sinntransport und Verstehen ihrerseits als Täuschung – als notwendige Täuschung – aufgeführt. Täuschung insofern, als das Sprechen, wenn es die Stimme zum Träger der Sprache macht, das Objektale vergisst, notwendige Täuschung insofern, als dieses Vergessen die Voraussetzung für das an die Person gebundene, bzw. die Identität der Person bindende Sprechen als Sinntransport und Verstehen ist: Menschenglück, Rede als Liebesgabe, Dia-Log nicht als Prozessieren von Wissen und Wahrheit, sondern als das, was über den Schauder eines unerträglichen, unassimilierbaren Objektalen hinweg trägt. Die evokativ wähnende Anrufung des Objekts Stimme sowie das ersehnte darüber Hinweg-Täuschen sind nicht nur Motiv, sondern Selbstbeschreibung der Textproduktion: Schreiben als das, was die (gefährliche) Nähe zum Objektalen ebenso wie deren Unterbrechung erfordert. Spielte schon der Untertitel ›Reden / Des letzten Philosophen / mit sich selbst‹ auf Sokrates an, so kommen dessen Reden, die Platon angeblich aufschreibt, auch von einer Stimme her: von seinem Daimonion, das ihn als fremde Stimme anruft und zum Dialog auffordert. Der sokratische Dialog ist durch die Stimme des Anderen, durch die göttliche Stimme inspiriert. Sie ist es, die den Sokratischen Diskurs als Bezug zum Wissen und zum anderen Menschen ausrichtet. Danach hat der sokratische Dialog die ungeheure und unmögliche Aufgabe, das unbegreifbare Andere in die Welt des Sinns und des Wissens zu überführen. So heißt es in der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik: »Einen Schlüssel zu dem Wesen des Sokrates bietet uns jene wunderbare Erscheinung, die als ›Dämonion des Sokrates‹ bezeichnet wird. In besonderen Lagen, in denen sein ungeheurer Verstand in´s Schwanken gerieth, gewann er einen festen Anhalt durch eine in solchen Momenten sich äussernde göttliche Stimme. Diese Stimme m a h n t, wenn sie kommt, immer a b.«9

Für Nietzsche stellt die Art der Unterwerfung unter die göttliche Stimme als vox interna des Sokrates eine Verkehrung oder Verrücktheit dar:

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Wahn – Schreiben

»Die instinctive Weisheit zeigt sich bei dieser gänzlich abnormen Natur [des Sokrates] nur, um dem bewussten Erkennen hier und da h i n d e r n d entgegenzutreten. Während doch bei allen productiven Menschen der Instinct gerade die schöpferischaffirmative Kraft ist, und das Bewusstsein kritisch und abmahnend sich gebärdet: wird bei Sokrates der Instinct zum Kritiker, das Bewusstsein zum Schöpfer – eine wahre Monstrosität per defectum!«10

Prägnant stellt ein Fragment aus dem Nachlass von 1869 die ›monströse‹ Rückbindung der dämonischen Stimme an die kritische, gleichsam an die Über-Ich-Funktion heraus und rückt sie in den Zusammenhang der sokratischen Wissensproduktion. In einer fast unheimlichen Nähe zur späteren Psychoanalyse Freuds, ist hier nicht von ›Instinkt‹, sondern vom ›Unbewussten‹ die Rede: »Das Unbewußte ist größer als das Nichtwissen des Sokrates. Das Dämonion ist das Unbewußte, das aber nur h i n d e r n d dem Bewussten hier und da entgegentritt: das wirkt aber nicht p r o d u k t i v, sondern nur k r i t i s c h. Sonderbarste verkehrte Welt! Sonst ist das Unbewußte immer das Produktive, das Bewußte das Kritische.«11

Nach Nietzsche also stellt der sokratische Dialog jene großartige Täuschung dar, die sich der objektalen Stimme zu entledigen sucht. Unter der Perspektive Nietzsches vergisst der sokratische Dialog über dem Sprechen und seinen Aussagen die Stimme in ihrer Unzugänglichkeit. Aber noch dieses, der sokratischen Wissensproduktion inhärente Vergessen ruft der Ödipus-Text als ein notwendiges auf: Notwendig, um der Liebe zum Wissen, um einem Symposion mit Nietzsche und Sokrates eine Statt zu geben. Nietzsche und Sokrates: als ob ich Zwei wäre. Zum Schluss gibt sich das schreibende Ich den Namen Ödipus, in dem sich Vorstellungen des Endes resümieren. Denn nicht nur bezeichnet sich das Ich als den letzten Menschen, sondern auch als den letzten Menschen, der ans Sterben kommt. In diesem Moment hört das Ich noch immer oder wieder die Stimme, die nicht spricht. Aber es gibt etwas zu hören: Laute, Seufzer, Wehe! Wehe! Wird Ödipus immer wieder der ›Wehemensch‹ genannt, so bezieht sich diese Wendung auf den Ödipus Rex als demjenigen, der das von der Sphinx aufgegebene Rätsel löst. Entsprechend heißt es in einem nachgelassenen Fragment von 1873: »O e d i p u s der ›Weh-mensch‹ löst das M e n s c h e n räthsel.«12 In Nietzsches Ödipus-Text aber wird auch auf den sterbenden Ödipus angespielt, wie ihn die letzte Tragödie des Sophokles Ödipus auf Kolonos zeigt. Diese Anspielung wird lesbar nicht nur über das Todesmotiv, son-

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dern auch darüber, dass sich ein Zusammenhang von Tod und Sprechen anbahnt. Was für Laute sind es, die im Text memoriert werden? Nicht das wohl geformte Klagelied, sondern Klagelaute, Laute des Schmerzes und des Leides.13 Zugleich aber bezeichnet ›Wehen‹ etwas, das die Geburt, also neues Leben, ankündigt wie es im Wort ›Wehmutter‹ für Hebamme erhalten ist: Wehmutter, Wehmensch. Nicht etymologisch, wohl aber vom Klang her erinnert das Wort ›Wehe‹ überdies an das Wehen, an den Wind, den Hauch und damit an den Atem. Im Klang vermischen sich Wehklage über das Ende und der Schmerz am Anfang des Lebens, wie ›Wehen‹ den Bedeutungshorizont von »Erinnerungshauch«, das als Wort durch die Doppeltheit von ›Leben aushauchen‹ sowie ›Leben einhauchen‹ ausgezeichnet ist, wieder aufnimmt. Tod und Leben also durchmischen sich im Klangbild des ›Wehe‹. In dem Maße, wie das Text-Ich als Ödipus die Konjunktion von Leben und Tod ausstellt, wird der Bezug zum Ödipus auf Kolonos gestiftet. Während die sophokleische Tragödie vom König Ödipus die Subversion des Imaginären – Ich, Rätsellöser, König, Besitzer der Königin, meiner Selbst, Herr im eigenen Haus – durch die Einführung einer Differenz in der Position des Dritten – Vater, Gesetz, Sprache – dramatisiert, dramatisiert Ödipus auf Kolonos die Geburt von Ödipus als symbolisches Wesen, das im Sprechen weiterlebt. So sagt Ödipus gegenüber Theseus, der ihm das Asyl zum Sterben gewährt: Ödipus Theseus! Mit einem kurzen Worte hat dein Edelsinn Verstattet, daß ich wenig nur zu sagen brauchte. Denn wer ich bin, welch eines Vaters Sohn, Und auch aus welchem Land ich bin gekommen: Du hast es recht gesagt, so daß mir selbst Nichts weiter mehr zu sagen bleibt als das, Was ich begehre, und die Rede ist am Ende.14 Theseus Und wann wird Dein Geschenk [der Rede] sich offenbaren? Ödipus Wenn ich gestorben bin und du das Grab mir schaffst.15

Ist diese Sequenz als Allegorie des Symbolischen der Sprache zu lesen, so heißt es bei Jacques Lacan: 118

Wahn – Schreiben

»Das erste Symbol, in dem wir Humanität in ihren Überresten erkennen, ist das Begräbnis, und die Vermittlung des Todes ist in jeder Beziehung zu erkennen, in der der Mensch zum Leben seiner Geschichte gelangt.«16

Wenn mit Lacan die Dialektik des Todes in das psychoanalytische Projekt einzieht, so scheint der Text Nietzsches diese Bewegung aufzunehmen und zu unterbrechen. Der Schreibort, den der Text installiert und an dem sich der Text installiert, kann als Schwelle zum Symbolischen gekennzeichnet werden: Einerseits hat sich eine erinnerbare Ordnung – die Welt der identifizierbaren Objekte, der Namen und Diskurse, die übervolle Welt des Wissens – schon herausgebildet, andererseits zeigt sich das Schreib-Ich aber noch empfänglich für die Klang- und Schattenwirkungen des primordialen Objekts in seiner Fremdheit, die den Wunsch nach Überwindung erzeugt. Auch wenn die objektale, vor dem Sinn ertönende Stimme zwischenzeitlich einen strafenden Diskurs zu führen scheint,17 zieht sie sich am Ende wieder aus der Welt der menschlichen Signifikanz zurück. Der Moment jedoch, wo sie wieder ›da‹ ist, eine Rede ohne Worte spricht, ist der Moment, in dem das Ich vergeht. Anders gesagt: Im Stimmenklang konstituiert sich eine Räumlichkeit, in der sich das Ich als Empfangendes herstellt und in derselben Geste an der Empfänglichkeit, der es nicht Stand halten kann, vergeht. In dem Maße, wie Rhythmik und Klangfülle der Schlusspassage an musikalischer Kraft zunehmen, wird zugleich der Endpunkt des Ich gesetzt: »[D]er letzte Seufzer, d e i n Seufzer, stirbt mit mir, das hingezogene Wehe! Wehe! Geseufzt um mich, der Wehemenschen letzten, Oedipus.«18 Buchstäblich ist der Endpunkt des Textes sowie der des Schreib-Ichs erreicht. Aber ist dieser Tod wirklich das Ende? Schließlich steht der Name ›Ödipus‹ auch im Titel, also an der Markierung des Anfangs des Textes. Wenn sich das Ende des Textes auf seinen Anfang rückbiegt, entsteht eine Reflexionsfigur, welche als Selbstbeschreibung des Schreibens entzifferbar ist: Im Schreiben verhält sich das Ich durch die Empfänglichkeit und das Empfangen der Fremdheit der Stimme, die nicht spricht, zu seinem eigenen Tod, den es als symbolisch-sprachliche Figur enthält. Von einer späten Schrift Sigmund Freuds mit dem Titel Konstruktionen in der Analyse fällt, bezogen auf die Frage nach der Relation von Schreiben und Wahn, ein neues Licht auf das Fragment Nietzsches. In dieser Schrift reflektiert Freud ein spezifisches Verfahren des Hörens

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Marianne Schuller

der Reden des Analysanten durch den Analytiker. Aus den diversen Reden und Redebruchstücken soll der Analytiker, so Freud, einen Text erraten oder »konstruieren«. Was, so fragt er, ist die Aufgabe des Analytikers? »Er hat das Vergessene aus den Anzeichen, die es hinterlassen, zu erraten oder, richtiger ausgedrückt, zu k o n s t r u i e r e n.«19 Gibt Freud dem Begriff der ›Konstruktion‹ den Vorzug gegenüber dem geläufigeren der ›Deutung‹, so deswegen, weil die Konstruktion »dem Analysierten ein Stück seiner vergessenen Vorgeschichte« vorführt.20 Unverzüglich jedoch stellt sich die Frage nach der Wahrheit oder Richtigkeit eben jener Konstruktion, welche der Analytiker den Reden des Analysanten nachträglich hinzufügt. Freud: »Und da erhebt sich zu allererst die Frage, welche Garantien haben wir während der Arbeit an den Konstruktionen, daß wir nicht irre gehen und den Erfolg der Behandlung durch die Vertretung einer unrichtigen Konstruktion aufs Spiel setzen?«21

Eine Garantie im Sinne der Wirklichkeitsprüfung gibt es nach Freud nicht; vielmehr muss ein non liquet in Anschlag gebracht werden. Es ist weder klar das eine, ein realitätsabgewandtes Gespinst, noch klar das andere,22 eine realitätsgetreue Nachbildung. Nicht die Realitätsprüfung, sondern ein anderes Kriterium ist für eine theoretische und praktische Bewertung der Konstruktion entscheidend: Ob sie die Rede des Analysanten in der Weise trifft, dass diese sich aus ihren Fixierungen lösen und verschieben kann. Jenseits der Frage ob realitätsgetreu oder nicht wird die Konstruktion wirksam, sofern sie unter dem Zeichen der Nachträglichkeit eine Vorgeschichte konstruiert, die erzeugt, wovon sie zeugt: Zugang zur Rede des Symptoms. Wird der Ort des historisch Späteren als konstitutiv für das Auftauchen und die Interpretation vorgängiger Sachverhalte ins Spiel gebracht,23 so hat Freud diese der Konstruktion inhärente Zeitlichkeit als Darstellung der »historischen Wahrheit«24 gekennzeichnet. Es ist die so gefasste »historische Wahrheit«, die von Freud gegen Ende seiner Abhandlung in Analogie zur Wahnbildung gebracht wird: »Ich bin dabei der Verlockung einer Analogie gefolgt. Die Wahnbildungen der Kranken erscheinen mir als Äquivalente der Konstruktionen, die wir in der analytischen Behandlung aufbauen, Versuche zur Erklärung und Wiederherstellung [...] Wie unsere Konstruktion nur dadurch wirkt, daß sie ein Stück verlorengegangener Lebensgeschichte wiederbringt, so dankt auch der Wahn seine überzeugende Kraft dem Anteil historischer Wahrheit, den er an die Stelle der abgewiesenen Realität einsetzt.«25

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Wahn – Schreiben

Nicht genug damit, dass Freud das Verfahren der Konstruktion als Teil der psychoanalytischen Technik mit der Wahnbildung analogisiert, sondern die Berührung oder Ineinanderblendung von Wahn und historischer Wahrheit erweist sich nach Freuds Konstruktion auch als geschichtsund kulturprägendes Moment. Am Ende der kleinen Abhandlung, die sich schon mit dem Anfang der großen Geschichtskonstruktion Der Mann Moses und die monotheistische Religion zu verschränken scheint, heißt es: »Erfaßt man die Menschheit als ein Ganzes und setzt sie an die Stelle des einzelnen menschlichen Individuums, so findet man, daß auch sie Wahnbildungen entwickelt hat, die der logischen Kritik unzugänglich sind und der Wirklichkeit widersprechen. Wenn sie trotzdem eine außerordentliche Gewalt über die Menschen äußern können, so führt die Untersuchung zum gleichen Schluß wie beim einzelnen Individuum. Sie danken ihre Macht dem Gehalt an h i s t o r i s c h e r W a h r h e i t, die sie aus der Verdrängung vergessener Urzeiten heraufgeholt haben.«26

Von hier aus, also nachträglich, wird der kleine einsame Text Nietzsches als Denkmal der historischen Wahrheit/Wahnheit des Schreibens lesbar, das sich auf das notwendig abwesende vorsymbolische Objekt der Stimme, die nicht spricht, öffnet. Denkmal auch deswegen, weil schon das Schriftbild des langen Titels an einen Grabstein erinnert.27

Anmerkungen 1

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Nietzsche, Friedrich: »Nachgelassene Fragmente 1869-1874«, in: Colli, Giorgio/ Montinari, Mazzino (Hg.): Kritische Studienausgabe in 15 Bänden [KSA], München 1980, Bd. 7, S. 460-461. Vgl. zum Text grundsätzlich Schuller, Marianne: »Versuch zum Abschied«, in: dies.: Moderne. Verluste. Literarischer Prozeß und Wissen, Frankfurt am Main 1997, S. 75-89. Grimmsches Wörterbuch, Leipzig 1889, Bd.13, Sp. 230. Vgl. hierzu grundlegend Groddeck, Wolfram: Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens, Frankfurt am Main 1995. Nietzsche, Friedrich: »Nachgelassene Fragmente 1869-1874«, KSA, Bd. 7, S. 17. Vgl. auch Jacques Derrida, der die Eintragung Nietzsches »Sokrates, derjenige, der nicht schreibt« als Motto über das erste Kapitel der Grammatologie (1974) setzt. Freud, Sigmund: »Über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia«, in: ders.: Gesammelte Werke [GW], Bd. VIII, 1978, S. 309. Vgl. hierzu Schmidt, Gunnar: Die Geschwindelten, Wien 1990, S. 71-96. Vgl. Jacques Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Olten 1978. In den »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« erzählt Freud von einem Kind, das aus dem Dunkel seines Zimmers um die Anwesenheit einer Stimme von nebenan bittet mit der Begründung: »Wenn jemand spricht, wird es hell«. In: GW, Bd. V, S. 126; In leicht variierter Form kommt Freud in der 25. Vorlesung »Zur Einführung in die Psychoanalyse« auf diese Situation zurück; anstatt »hell« ist hier von »heller« die Rede (GW, Bd.

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XI, S. 407-426. Hier S. 422). – Zur Deutung vgl. Prasse, Jutta: »Wenn jemand spricht, wird es heller«, in: FRAG.MENTE, Bd. 35/36, Juni 1991, S. 23-30. Nietzsche, Friedrich: »Geburt der Tragödie«, in: KSA, Bd. 1, S. 90. – Vgl. etwa die Passage aus Platon: Phaidros, nach der Übertragung von Friedrich Schleiermacher, herausgegeben von Otto, Walter F./Grassi, Ernesto/Plamböck, Gert, Hamburg 1958, S. 242 b8-c4. Nietzsche, Friedrich: »Geburt der Tragödie«, in: KSA, Bd. 1, S. 90. Nietzsche, Friedrich: »Nachgelassene Fragmente 1869-1874«, in: KSA, Bd. 7, S. 21. – Vgl. auch: »Missachtung des Unbewußten im Menschen (in der Disputation) und im Künstler (Apologie)« Und: »In Socrates dringt das Prinzip der Wissenschaft ein: damit Kampf und Vernichtung des Unbewußten.« (Ebd., S.17). Nietzsche, Friedrich: »Nachgelassene Fragmente 1869-1874«, in: KSA, Bd. 7, S. 572. Vgl. Duden, Bd.7, 1989, Spalte 803. Sophokles: Ödipus auf Kolonos, übertragen von Wolfgang Schadewaldt, Frankfurt am Main 1996, S. 39, Z. 581-584. Ebd., Z. 569-574. Lacan, Jacques: »Funktion und Feld des Sprechens«, in: Schriften I, Olten/Freiburg i.Br. 1978, S. 166. »Höre ich dich noch meine Stimme? Du flüsterst, indem du fluchst?«, Nietzsche, Friedrich: »Nachgelassene Fragmente 1869-1874«, in: KSA, Bd.7, S. 461. Nitzsche, Friedrich: »Nachgelassene Fragmente 1869-1874«, in: KSA, Bd. 7, S. 461. Freud, Sigmund: »Konstruktionen in der Analyse«, in: GW, Bd. XVI, , S. 45. Ebd., S.47. Ebd., S.48. Freud, Sigmund: »Aus der Geschichte einer infantilen Neurose«, in: GW, Bd. XII, S. 90: »Ich gestehe dafür etwas anderes ein: daß ich die Absicht habe, die Diskussion über den Realwert der Urszene diesmal mit einem non liquet zu beschließen.« Vgl. Haas, Norbert: »Unter dem Titel der Realität«, in: Hörisch, Jochen/Tholen, Christoph (Hg.): Eingebildete Texte. Affairen zwischen Psychoanalyse und Literaturwissenschaft, München 1985, S. 54; vgl. auch Schuller, Marianne: »Erzählen Machen. Narrative Wendungen in der Psychoanalyse nach Freud«, in: Höcker, Arne/Moser, Jeannie/Weber, Philippe (Hg.): Wissen. Erzählen. Narrative der Humanwissenschaften, Bielefeld 2006, S.209. Vgl. auch Freud, Sigmund: »Notiz über den Wunderblock«, in: GW, Bd. 14, Frankfurt am Main 1999, S. 1-8; Derrida, Jacques: »Freud und der Schauplatz der Schrift«, in: ders.: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main 1976, S. 302-350. Vgl. Freud, Sigmund: »Konstruktionen in der Analyse«, in: GW, Bd. XVI, S. 54 u.ö.; Vgl. hierzu auch Freuds späte große Abhandlung »Der Mann Moses und die monotheistische Religion«, in: GW, Bd. XVI, S. 192-246. Freud, Sigmund: »Konstruktionen in der Analyse«, in: GW, Bd. XVI, S. 55-56. Ebd., S. 56. Die Beobachtung des Zusammenhanges von Grabstein und Titel verdanke ich einem Studenten aus meinem Seminar »Literarische Figuren des Abschieds« (SoSe 2007).

Karl-Josef Pazzini

Wahnhafte Momente im psychoanalytischen Setting

»Psychoanalyse ist jene Geisteskrankheit, für deren Therapie sie sich hält!«,1 schrieb Karl Kraus, ein Theoretiker der paranoischen Vernunft.2 Unzählige Mal wurde dieser Satz zitiert, aber immer noch nicht abgearbeitet. Google zählt je nach Form, in der man das Statement eingibt, allein ca. 62800 Seiten der Erwähnung. Offenbar verfolgt der Satz Kritiker der Psychoanalyse, aber ebenso auch Psychoanalytiker. Der Satz spricht von einer Immunisierungsstrategie, die – wider Willen oder ohne es zu bemerken – Eindeutigkeit und Gewissheit produziert, einen Wahn. Kant bezeichnet den Wahnsinn (dementia) als »falsch dichtende Einbildungskraft«, als »rasende Vernunft«. Wahnsinnige, aus der Beschreibung ist ersichtlich, dass er Paranoiker meint, »sind in ihrem Wahn oft so scharfsinnig in Auslegung dessen, was andere unbefangen tun, um es als auf sich angelegt auszudeuten, daß, wenn die Data nur wahr wären, man ihrem Verstande alle Ehre müsste widerfahren lassen«.3 Im Folgenden möchte ich der Gefahr der wahnhaften Zirkularität in der Psychoanalyse nachgehen. Ich werde zu Bedenken geben, dass wegen des versuchten Wahnausschlusses in den Wissenschaften, dieser in der Befassung mit den daraus resultierenden Leiden wiederkehrt. So wird er unheilbar. Artikulierbar wird er in der Psychoanalyse. Artikulation erzeugt die Spannung, die ihn bezähmen könnte. Freud versucht die Äußerungen des paranoischen Wahns auf seine Struktur hin zu verstehen.4 Dabei gelangt er abermals – die erste Feststellung dieser Art findet sich in der Reflexion über die Arbeit mit Hysterikern – an die Grenzen einer nach bekannten Methodologien wissenschaftlich zu gewinnenden Gewissheit und überschreitet sie. Die Grenze zwischen Wahn und Theorie, die definitorische Sicherheit einer Ausschließung und gegenseitigen Abschottung ist zumal durch Freuds Theo123

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rie des Unbewussten verloren gegangen.5 Es gibt kein Realitätszeichen im Unbewussten, »so daß man die Wahrheit und die mit Affekt besetzte Fiktion nicht unterscheiden kann«.6 In Anerkenntnis der »psychischen Realität« stellt Freud bestürzt fest: »Man hatte also den Boden der Realität verloren«.7 Jedes Wissen erzeugt immer wieder etwas, das man nicht weiß, erzeugt Unschärfen, lässt neu Wünsche entstehen, die in ihm selber nicht gleichzeitig voll und ganz mitformuliert sein können. Gewusstes erzeugt Vergessen, Vergessenes verschwindet aber nicht einfach, sondern heftet sich in Spuren an das, was man mit Bewusstsein sagen und schreiben kann, wird durch Signifikanten angespielt und formt Rezeption und Performanz, z.B. durch Versprecher oder Fehlleistungen. Psychoanalyse ist Symptom für zunächst nicht erkannte Mängel von Wissenschaft. Diese Mängel können sich auch in einem Zuviel an Wissenschaft äußern: Das methodisch Geglättete, das konturiert Erscheinende, das Klare könnte man auch in der Nähe eines reparativen Wahns sehen, reparativ gegenüber der vielfältigen und uneindeutigen Realität. Psychoanalyse wird – und auf andere Weise Kunst – symptomatisch für die Ausschlüsse, die die neuzeitliche Wissenschaft hat auf sich nehmen müssen, um erfolgreich sein zu können. In der Folge findet sich die Psychoanalyse in einer unsicheren Abgrenzung zum Wahn, weil sie die wahnhaften Momente nicht leugnet – und vielleicht auch deshalb in einem fast durchgehenden Ausschluss aus der Universität, es sei denn als Wissensbestand.8 * Eine Analysantin fühlt sich permanent beobachtet, beeinträchtigt, fast vernichtet, weil die anderen besser sind. Sie ist nicht in der Lage, sich auf die Couch zu legen, möchte aber auch nicht, dass ich sie ansehe. Sie will lieber an mir vorbeisehen und ich soll das auch tun. Sie war zur Anfang ihrer Analyse (jedenfalls sollte es das sein) immer darauf aus zu beweisen, dass ich kein Lacanianer sei. Zu wissen, was ein Lacanianer ist, war ihre Gewissheit. Sie hatte schon Jahre Analyse bei jemand, der für sie ein Lacanianer war, gemacht. Sie weiß also, wie Analyse richtig geht. Dieses Wissen schützte sie eine Zeit lang immer wieder vor der Analyse. – Sie sagt auch: »Bei diesem Ausflug kann ich nicht mitfahren, alle in einem Bus, die wollen mich mit Wissen fressen«. – Sie gleitet durch die Wohnungstür, ohne sie zu schließen, sie gleitet ins Sprech124

Wahnhafte Momente im psychoanalytischen Setting

zimmer, ohne es zu schließen und umgekehrt. Das bleibt mir zu tun. Sie ist scheu und äugt, auch manchmal durchbohrend wütend, kalt lächelnd. – Sie sitzt an einem Referat, das sie schreiben muss. Sie hat viele Einfälle, kann sich aber nicht festlegen, bzw. hält alles, was sie schreiben könnte, für unzureichend, ist der Überzeugung, dass andere dasselbe schon besser geschrieben haben und, wenn das Referat gut würde, dann würde jemand anders die darin enthaltenen Gedanken viel besser verwerten oder entdecken, dass sie vielleicht nicht von der Autorin stammen. … Ihr fällt ein: »Ein beherrschender Spruch in meiner Kindheit war: ›Bevor Du noch angefangen hast, willst Du schon fertig sein.‹« – Sie schweigt minutenlang, die entstehende Spannung gibt etwas wieder von der unmöglichen Zeitverschränkung, die in der Kindheitserinnerung auftaucht. Sie sieht haarscharf an mir vorbei. Ich sage: »Es ist ja auch eine Kränkung, dass zwischen der Vorstellung, dem Wunsch und der Realisierung noch soviel zu tun ist«. Schweigen. Das Schweigen steht wie eine Drohung im Raum, sie zerpflückt ein Papiertaschentuch, noch kleiner und schneller einen Fahrschein, rupft am Bezug des Sessels und als sie die Glasplatte des kleinen Beistelltisches greift, gebe ich Gelegenheit zu ihrer Gewissheit zurückzukehren: »Ich kenne das: ein Vortrag ist mir so klar im Kopf und dann soll ich ihn auch noch niederschreiben«. – Schallendes Lachen. Das und die folgende Äußerung trafen mich nicht unvorbereitet: »Sie sind kein Lacanianer. Ein Lacanianer redet nie über sich! Sie sind kein Psychoanalytiker!« – »Was wissen Sie, wenn Sie das wissen? Hören wir jetzt mit der Analyse auf?« – »Nein, ein Psychoanalytiker redet nicht über sich!« – »Habe ich über mich geredet? Oder zu Ihnen?« – »Es ist schon gut.« – »Was steht denn sonst noch im Katechismus?« – Langes, versonnenes Schweigen. »Nichts!« Wir vereinbaren eine weitere Sitzung. Sie geht und schließt die Tür zum ersten Mal. Das Wissen der Analysantin hat nichts zu tun mit dem konkreten Ort und Zeitpunkt, an dem es ausgesprochen wurde. »Ich weiß, dass in meiner Kindheit gesagt wurde ... immer wieder ...«. Erwidert habe ich ebenso abstrakt. Sie äußert, dass ich nicht der sei, den sie schon kenne: »Sie sind kein ...«. Sie ist nicht fertig mit dem, der da sitzt. Sie versucht der Unterstellung des Wissens Herr zu werden. Man könnte das so ausschreiben: »Sie wissen, was ein Analytiker ist, ich weiß, dass sie Analytiker sind, sie sind aber nicht der für mich geeignete, nicht nur für mich Analytiker, kein richtiger Analytiker«. Sehnsucht nach und gleichzeitig Angst vor Einzigartigkeit und Eifersucht auf andere Analysanten spre125

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chen hier mit. Das fiktive Moment der Unterstellung, Moment jeder Übertragung, steigert ihren Zweifel, ihre Ambivalenz. Sie appelliert verzweifelt an einen gemeinsamen Wissensbestand. Ihr Wissen und ihr Sprechen wurden als ein Perfekt deutlich, Gewissheit eben. Weil ich ihr von mir etwas ziemlich Belangloses mitgeteilt hatte, hatte sie Gelegenheit plötzlich nicht mehr zu wissen, wer ich bin für sie. Sie hatte mich die ganze Zeit als Psychoanalytiker verbucht, von dem sie wusste, dass er sie mit seinem Wissen verschlingen würde. Sie entdeckte, dass man die Tür zu machen kann und das übersteht. – Spannend ist auch die Verneinung, die sie nutzt.9 Ich werde nie wissen, wie sich diese Struktur außerhalb der Situation darstellt. So wie sie hier in Erscheinung trat, war sie vom Setting induziert. Letzteres wird zunächst einmal daran deutlich, dass die Analysantin dadurch destabilisiert war, dass sie von der Annahme ausging, dass man sich in einer »richtigen« Analyse auf die Couch legt. Sie meinte aber, das nicht aushalten zu können, weil sie sehen wollte, wer der Analytiker ist, wie er reagiert, und wollte gesehen werden, zugleich aber auch nicht. Danach gab es keinen regulären Ort mehr, weder für die Analysantin noch für den Analytiker. Es entstand eine Situation von gegenseitiger »Verfolgung«. Wir gaben Acht, dass sich die Blicke nicht trafen. Das machte ein dauerndes Ausweichen erforderlich. Manchmal gab es dennoch erschrockene Treffer. Spätestens wenn ich bemerkte, dass sie unruhig wurde, beobachtete ich sogar prospektiv sehr aufmerksam, was sie tun könnte. Imagination wurde zum Handwerkszeug, »falsch dichtende Einbildungskraft«, die immer wieder zur Artikulation kommen musste, die weder den Anderen ausschloss, noch einschloss. Jedenfalls im Setting wurde ich als der, der am Platz des Analytikers saß, zum Verfolger. Zunächst als Analytiker und dann eben als einer, der keiner ist, der ihr nicht helfen will oder kann. Nicht nur in dieser Situation war es unmöglich und es wäre auch ein Fehler gewesen, irgendetwas richtig stellen zu wollen. Es blieb nur der Schnitt als Moment der Wahrheit.10 Im Schnitt nimmt der Analytiker keine Metaperspektive ein, aus der heraus er deuten oder richtig stellen könnte. Ich wählte als Schnitt den Satz: »Ich kenne das: ein Vortrag ist mir so klar im Kopf und dann soll ich ihn auch noch niederschreiben«. Der Satz, so harmlos er klingt, war Spiegelung, Unterbrechung, Verlassen des Platzes des Analytikers. Er sagt nur noch einmal das, was sie gesagt hatte, aber eben nicht aus der Perspektive eines Beobachters: »Sie haben eben gesagt ...«, sondern ich spreche von mir, so wie sie von sich gesprochen hat, nur in der Wie126

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derholung. Das ist jedenfalls keine Deutung im klassischen Sinne. Es ist eher das Ansetzen eines chirurgischen Skalpells,11 das die Verfolgung durchschnitt, quittiert von einem schmerzhaften, explodierenden Lachen. Erleichterung und Verlassenheit. Ich vermutete, dass durch das Schließen der Türen ein wenig Trauerarbeit in Szene gesetzt wurde. Diese Annahme gründete eine Art Gewissheit fürs weitere Arbeiten. Wie weitgehend das wahnhaft war, kann man vielleicht in Zukunft irgendwann festlegen. * Lacan arbeitet heraus, dass die Übertragung in Gang gesetzt wird durch ein Subjekt, dem Wissen unterstellt ist.12 Da aber nun derjenige, der im Setting am Platz des Analytikers sitzt, »schweigt«, jedenfalls indem er von dem unterstellten Wissen nichts preisgibt, weil er es auch in Bezug auf den je einzigartigen Analysanten nicht hat, entsteht die Versuchung, die Lücke mit einer wähnenden Gewissheit zu schließen. Der Analytiker hat dabei tatsächlich keine Ahnung, ob er diese Schließung, auch Übertragungswiderstand genannt, je wieder öffnen kann. Vielleicht ist Übertragung vom Wähnen getragen, vom Zwang sortiert oder storniert (folie du doubt) und von der Hysterie her unabschließbar? Und so Hindernis und Produktion in der Analyse. * Ein Anlass für das hier Erörterte ist auch, dass mich immer wieder und immer mehr Analysanten aufsuchen, deren Sprechen oder das, was ich davon höre, paranoische Züge trägt. Wir finden strukturelle Ähnlichkeiten dieser paranoiden oder paranoischen Struktur in den Bestsellern, die vom Geheimnis der Übertragung und des Lehrens handeln, von den damit verbundenen Phantasien, z.B. in Rowlings Harry Potter. Die Rückkehr des Ausgeblendeten als Wahn, das Unheimliche des Pädagogischen, Phantasien über Gewalt und das Genießen der Erwachsenen (als Mord und Totschlag) und der Lehrer, das Unheimliche des Wissens (hier als Zauber). Das Unheimliche wird durch Wahnhaftes bezähmt. Dumbledore verkörpert das Wissen in seiner für die Muggles unheimlichen Undurchschaubarkeit und auch Macht. Dazu Sadismen (Snape, alle möglichen Quälzauber), das Dreckige, all das, was in einer rationalen modernen Schule nicht sein darf, ist hier möglich. In der unheimlichen 127

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Zauberphantasie, einer offenbar leicht lesbaren, wahnhaften Ergänzung der schulischen Wirklichkeit kehrt wieder, was dort geleugnet wird. Harry Potter ist die andere Medaillenseite von PISA. Das muss man zusammenlesen, dann erfährt man etwas über Schule, wahrscheinlich über alle Institutionen, die sich der Ausbildung verschrieben haben. Dazu passend ist manifeste Sexualität bisher fast ausgeschlossen auf der Oberfläche der Erzählung (Institutionen sind der Struktur nach wahrscheinlich »homosexuell«).13 Spannend an diesem Unternehmen ist, ob es gelingen kann – und dass es auftaucht wäre bei der erwartbaren Entwicklung von Harry fast unvermeidlich –, dass eine weitere Folge manifeste Sexualität zum Thema macht.14 Ein weiterer Hinweis auf die Virulenz des Wahnthemas: In einer einflussreichen Trilogie zu den neuen medialen Möglichkeiten, zum so genannten »Cyberspace«, in William Gibsons Neuromancer (New York 1986 - 1988), kommt Wahn vor als »A consensual hallucination experienced daily by billions of legitimate operators ...«. Die konsensuelle Halluzination hat Konjunktur, so müssen sich auch Ausbildungsinstitutionen qualifizieren als diejenigen, die Gewissheit produzieren gegen die Risiken des Lebens, zertifiziert. Dies sind nur Hinweise auf etwas, das ich hier im Detail nicht ausführen werde: wahnhafte, paranoide Konstruktionen sind in der Lage, orientierend, spannend und dabei beruhigend zu wirken. Sie können für Individuen wie für Gesellschaften gefährlich werden, weil sie in den Schließungsbewegungen ein gehöriges Maß von Aggressivität in Aggression umwandeln können. Spannend sind sie durch die aufwendige Forderung, komplizierte Systematiken mit immensem rituellem Aufwand und Ermächtigungsmechanismen am Laufen zu halten. Es zieht sich auch, seit Freud die konventionellen Methoden einer naturwissenschaftlich inspirierten Medizin, seiner Auffassung nach vorläufig, zu verlassen sich gezwungen sah, eine Spur der Auseinandersetzung mit und des Agierens von paranoiden und paranoischen Momenten und ihrer Abwehr durch die Psychoanalyse. Es finden sich im psychoanalytischen Diskurs immer wieder Versuche der Auseinandersetzung mit diesem Phänomen. Notwendigerweise resultiert daraus keine operationalisierbare Definition des Wahns und des Wahnhaften, wohl aber ein Bewusstsein von der Gefährlichkeit und der Notwendigkeit der Arbeit an diesem Problem, so in der Arbeiten von Jacques Lacan seit seiner Dissertation.15 Vielleicht zeichnen sich gerade die produktiven Strömungen in der Psychoanalyse dadurch aus, dass sie dieses Problem wach halten. 128

Wahnhafte Momente im psychoanalytischen Setting

Vielleicht sind die eher bürokratisierten Richtungen in der Psychoanalyse mit der staatlichen oder halbstaatlichen Anerkennung diejenigen, die vor dem Problem resigniert haben, bzw. in einen Strom geraten sind, der das Risiko einer nicht sicheren Definition und damit Abgrenzung des Wahns mit Mechanismen bekämpft, die der Struktur des Zwangs ähnlicher sind. Die Verleugnung der Unverfügbarkeit des Subjektes – unverfügbar von Seiten des jeweiligen Individuums, aber auch von »außen« – produziert den festgefahrenen Wahn als Symptom. Die Mühen der Bemeisterung und Rationalisierung wollen es in die Sichtbarkeit, die Identifizierbarkeit und damit die Identität treiben. So entstand auf der Ebene der Diagnostik der ICD-10.16 Diese merkwürdige Selbstsicherheit wissenschaftlicher Definitionsmacht zeigt sich in geläufigen Formen der Wahndefinitionen, die schon nach kurzem Nachdenken als nicht schlüssig erscheinen: So schreibt J. Schöpf17 in Erläuterung zu ICD-10. F22.0 »Wahnhafte Störungen: Pathogenese, Ätiologie Zur Entstehung von wahnhaften Störungen ist wenig bekannt. Die einzelnen Wahnformen sind nosologisch heterogen. Bei der Genese des Verfolgungswahns wurden psychische Faktoren als mitbeteiligt angesehen. So ist nach E. Kretschmer die Person mit sensitivem Beziehungswahn eine empfindsame, übergewissenhafte, zu Selbstzweifeln neigende Persönlichkeit. Sie erlebte wiederholt kränkende Erlebnisse, bis das sog. Schlüsselerlebnis einer erneuten Kränkung die Krankheit zum Ausbruch brachte. Paranoide wahnhafte Störungen treten vermehrt bei Schwerhörigen und Ausgewanderten auf. Andererseits besteht bei Verfolgungswahn oft eine vermehrte Häufung paranoider Züge, was auf eine genetische Komponente hindeutet.«

Zur wahnhaften Störung schreibt Schöpf: »Hauptmerkmal ist Wahn, ohne dass die Kriterien einer Schizophrenie oder einer psychotischen affektiven Krankheit erfüllt sind. Der Wahn ist systematisiert und nicht bizarr, d.h. er widerspricht nicht von vornherein jeglicher Wirklichkeit. Es können mehrere Wahnideen vorliegen, die aufeinander bezogen sind. Halluzinationen sind mit der Diagnose vereinbar, wenn sie nicht konstant vorliegen. Depressive Symptome dürfen zeitweise vorliegen, jedoch muss der Wahn auch außerhalb der Depression bestehen.

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Wahnhafte Störungen können nach dem Inhalt der Wahnideen unterteilt werden. [...]«.18

* In der Psychoanalyse geht es um Wahrheit, nicht um Gewissheit, Richtigkeit oder Anpassung an die Realität. – Wessen oder welche Realität sollte man da zum Vorbild nehmen? – Das Streben danach, die Konstruktion einer je individuellen Wahrheit, die nur dadurch allen gemein ist, dass es sie gibt, findet ganz wesentlich in der Kur statt. Wahrheit hat aber dennoch keinen empirischen Ort. Wahrheit bezeichnet ein Verhältnis, ein notwendiges Streben.19 Insofern dieses Streben auf Gewissheit aus ist, auf unbezweifelbare Wahrheit, ist sie auf dem Wege zum Wahn und erstarrt.20 Wahrheit ist etwas Überschießendes. Man kann es auch als Begehren bezeichnen. Wahrheit hat nur einen logischen Ort.21 Immer wieder ist man in der Versuchung, diesen logischen Ort zu einem real existierenden zu machen, den logischen mit einem sozialen Ort in Zeit und Raum zu verwechseln. Man hätte dann benennbare Verfahren, die absichern, wie Gewissheit zu produzieren sei. Die Vergangenheit der Gewissheit könnte man so über die Gegenwart in die Zukunft schleppen. Das entbehrt nicht einer terroristischen Komponente. Die Fixierung des logischen Ortes im Empirischen führt fast notwendig zu wahnhaften Zügen im heutigen psychiatrischen Sinn, zu einem systematisierten und weiter zu systematisierenden Wahn, der sich Realität vom Leibe hält. Denn diese wirkt nur als dauernde Neukonfiguration des Zueinanders von Symbolischem, Imaginären und Realen. Bei der Fixierung wird stattdessen das Imaginäre über magische Worte mit dem Realen verschweißt. Effekte von Neuzeit und Moderne tauchen in der psychoanalytischen Kur auf; das ist nicht weiter verwunderlich, weil diese Effekte ja gerade die Herausforderung für diejenigen waren, die die Psychoanalyse entwickelt haben. Dies wirkt weiter als Unsicherheit derjenigen, die sie praktizieren. Dagegen hülfe nur eine rationalistische Rückführung der Psychoanalyse in die herkömmlichen wissenschaftlichen Diskurse und ihrer Ausbildungsinstitutionen in fachhochschulartige Ausbildungsstätten. Nicht nur in Bezug auf Psychoanalyse, sondern auf Wissenschaft und Kunst wird eine solche Zähmung des Strebens nach Wahrheit derzeit über Evaluation, Qualitätsmanagement und Zertifizierung an Universitäten versucht. Bei diesen Versuchen sollen wie im Wahn Gewissheiten

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hergestellt werden, die gar in die Zukunft reichen. Solche Strebungen reagieren darauf, dass jede Begrenzung der Vernunft anfechtbar geworden ist und aufgehoben werden kann, also Unsicherheit produziert. Grenzen der Vernunft lassen sich nur mit Gewalt verordnen. Kultiviert werden sie als notwendige Stützen spürbar durch die Aggressivität der Artikulation im Diskurs mit taktvoller Rücksichtslosigkeit. Die Begrenzung der Vernunft und damit ihre Grenze besteht darin, dass sie keine »natürliche« Grenze kennt.22 In ihrem Selbstlauf befragt sie Grenzen und macht so mit vielfältigen Optionen bekannt. Sie zeigt, wie es sein könnte, vor allem, dass es anders sein könnte, aber um den Preis von Entscheidungen, von Verlust von Optionen. Wird diese Bewegung zum Stillstand gebracht, um Optionen zu behalten, landet man beim Größenwahn; findet man keine Grenze am Fremden, entstehen Liebeswahn oder autistische Strebungen; sieht man den privilegierten Zugang zum Genießen nur beim anderen, entsteht der Eifersuchtswahn; erlebt man die Offenheit als Bedrohung, entsteht Verfolgungswahn. Alle diese Möglichkeiten kann man auch sehen als Freiheit, als Effekt der Etablierung von Grenzen. »Und das Sein des Menschen kann nicht nur nicht ohne den Wahnsinn begriffen werden, sondern es wäre nicht das Sein des Menschen, trüge es nicht den Wahnsinn als Grenze seiner Freiheit«.23

Das Abgleiten in den zementierten Wahnsinn ist das Risiko, Gewissheit dann der Gewinn. Dagegen: Den vorübergehenden Einschluss von Wahnmomenten könnte man als Teil der Anforderung der Aufklärung sehen, wenn sie praktisch wird. Eine Fixierung und damit auch Fiktion ist für den Moment notwendig, weil ansonsten Handlungsfähigkeit untergraben würde. Oder anders: Unter den Vorzeichen der Moderne wird jede symbolische Konstruktion anfechtbar. Das muss man wahrnehmen können dürfen. Daraus entsteht eine Herausforderung für eine ethische Handlungsfähigkeit. Im Versuch der Bemächtigung wirkt Aggressivität und kann zur Gewalt werden, wenn sich das Bild von sich und der Welt nicht in geschlossener Gestalt zur Ruhe bringen lässt oder plötzlich vom methodisch Erwartbaren abweicht. Nur die Wahrnehmung (verstanden als Rezeption und als »für wahr« nehmen) dieses Risikos lässt ein handlungsfähiges Subjekt24 auftauchen, ermöglicht das Wähnen auf der einen und limitiert den pathologischen Wahn auf der anderen Seite.25Psychoanalyse kann z.B. in Form einer in der westlichen Neuzeit abgebrochenen Tradition der Deu131

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tung, die Ungewissheit balancieren helfen. Freud und Lacan verstehen Deutung als ein Zeigen, das aus einer unerwarteten Richtung kommt und auf etwas aufmerksam macht, das man so noch nicht gesehen hatte und keine Fortsetzungs- und Erfüllungsgeschichte der jeweiligen Ansprüche ist. Das Deuten ist ein performativer Akt, der Grenzen, Ausrichtungen und rationalisierte Verknüpfungen wahrnehmen lässt schon als Unterbrechung noch jenseits aller Inhaltlichkeit. Im Setting greift so eine Ungewissheit um sich, die im Sprechen zu jemanden ein wenig orientiert ist, durch ein Sprechen, das eine Verbindung herstellt ohne genau definierte Erwartung, bzw. es aushalten kann, wenn der Erwartung inhaltlich nicht entsprochen werden kann. Was hält, ist, anders ausgedrückt, die Übertragung. Diese Art von Ungewissheit entsteht nicht aus Unkenntnis, sondern mit Intelligenz, wörtlich der Fähigkeit des Dazwischenlesens. Sie ergibt sich nicht erst aus einer Außenperspektive und wegen des verwehrten Einblicks in die laufende Kur, sie ist das, was auszuhalten ist in der Kur, vom Analytiker und vom Analysanten. Jeder tatsächlich anwesende Dritte würde genau den Aufbau dieses Spannungsfeldes stören, weil es dann durch irgendeine Aufnahme, Aufzeichnung die Illusion der Wiederholbarkeit und Kontrolle gäbe. Damit wäre die Trauer über den Verlust von Optionen und das daraus erst resultierende Begehren blockiert. – Manche Analytiker, nicht wenige, zeigen, indem sie während der Sitzung mitschreiben, dass sie diesen elementaren Prozess nicht verstanden zu haben scheinen. Allerdings birgt das Draußenhalten eines faktischen Dritten die Gefahr, dass sich die Kur zu einer folie à deux entwickelt. Dennoch ist es wichtig für beide Beteiligte Ungewissheit aufrecht zu erhalten, um dem Leiden verursachenden Wahn auf die Spur zu kommen. So ist man sich nah und keiner weiß, was der andere tut, geschweige denn denkt oder fühlt. Im Wesentlichen sind Worte zu vernehmen, oder eben Schweigen.26 Zur Bezähmung dieser Ungewissheit werden Annahmen, Vermutungen, Bilder produziert, also Imaginäres, dessen unabschließbare Artikulation treibendes Moment der psychoanalytischen Arbeit bleibt, für den Analysanten in der Kur, für den Analytiker im kollegialen Gespräch, im Schreiben und im Durchgang durch andere, beispielsweise wissenschaftliche oder künstlerische Diskurse. Versuchte Freud zunächst noch, den an Reminiszenzen leidenden Patienten zu einer objektiven Erkenntnis vergangener Ereignisse zu verhelfen, so schrieb er dann an Wilhelm Fließ wie schon erwähnt von der »sichere[n] Einsicht, dass es im Unbewußten ein Realitätszeichen nicht 132

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gibt, so daß man die Wahrheit und die mit Affekt besetzte Fiktion nicht unterscheiden kann«.27 Er sah also keine Möglichkeit einer positivistischen Feststellung der Wahrheit. »Immerhin«, so schreibt Peter Widmer, »war damit die Tür zu einer Auffassung von Wahrheit aufgestoßen, die sich nicht an der Übereinstimmung eines Urteils mit einer Sache orientiert, sondern den Wahrheitsbegriff von der Beziehung des Subjekts zum Mangel her auffasst, ...«.28

Freud gab damit die Verführungstheorie auf und führte das ein, was er die »psychische Realität« nannte. Das genau ist der von Freud ziemlich deutlich gespürte, im Brief nachvollziehbare Abschied von bekannten und anerkannten Denk- und dementsprechenden Arbeitsweisen. Wenn es diese Realitätszeichen nicht gibt, wenn man mit dem Unbewussten rechnet, dann ist eine sichere Abgrenzung im Sinne einer tastenden oder sehenden Übereinstimmungsprüfung nicht möglich. Es lassen sich dann keine isomorphen Strukturen aufbauen, die einen Abgleich ermöglichen.29 Die Kooperation zwischen Fließ und Freud war in mehrfacher Hinsicht konstitutiv für die Psychoanalyse. Ein Moment daran ist die wohl rekonstruierbare Paranoia Fließ’. Er hielt sie im Zaum durch die Überzeugung, dass seine Theorie eine Art Abpause der Natur sei30 und sein eigenes fehlbares Aussagen dadurch ausgelöscht werde, er also auf der sicheren Seite sei. Er beschäftigte sich permanent mit Rechnungen auf der Basis der Ziffern 23 und 28. Er installierte ein System von paranoia scientifica. »Die Paranoia, von der Freud sagen wird, dass er alles über sie von Fließ gelernt hat, wirft – unter der Gestalt der Verfolgung, welche Fließ gegen Freud kehrt31 – ihr Licht und ihre Forderung nach Durchsichtigkeit ins Herz der Gemeinschaft«.32

Porge stellt die Frage »Wo also genau verläuft diese subtile und beinahe unmerkliche Linie, die Fließ’ Wahn trennt vom Wissen Freuds?«.33 Porge kommt nach sorgfältigen Untersuchungen der Archivbestände zu Wilhelm Fließ, der erhaltenen Briefe von Freud an Fließ und der Verarbeitung des Konfliktes durch Freud in seinen Schriften zu dem Schlusssatz seiner Untersuchung: »Die Psychoanalyse gelingt als Fehlleistung eines totalisierenden wissenschaftlichen Denkens. Freuds Gelingen war das einer Fehlleistung, insofern es sich nicht einem Scheitern, demjenigen von Fließ, entgegenstellt, sondern indem es dieses Scheitern in

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sein Innerstes hineinnimmt als eine Kehrseite, die immer bereit ist wieder aufzutauchen«.34

* Der Analysant dreht sich nach langem Schweigen um auf der Couch, um den Analytiker zu sehen: »Ich wollte mal sehen, ob sie noch da sind.« – »Und bin ich noch da?« – Lachen / Anzeichen, dass Ungewissheit aushaltbar ist. – Der Analytiker fragte weiter: »Wissen Sie jetzt mehr als vorher?« – »Ich weiß jetzt, dass Sie nicht schlafen. Und ich bin auch noch da!« Er schlief also nicht. Der Wächter des Schlafes, der Traum, hatte frei. Es bestand Anschluss ans Symbolisieren, ans Sprechen. Dabei bemerkte der Analysant sich und den Analytiker auch. Der Analysant erinnerte sich seiner Existenz, indem er gegen eine Regel verstößt und spricht. – Es ist schon verrückt: Wie hätte der Analytiker unbemerkt verschwinden können? Aber der Analysant traut seiner Wahrnehmung nicht und sieht nach. Die Möglichkeit zur Befragung der Wahrnehmung, auch der eigenen Präsenz, ergibt sich aus der Konstellation des Settings. Er konnte den Analytiker nicht sehen, verlor sich, musste sich »verbotener Weise« umdrehen und nachgucken; und es lag nahe, dass er dazu etwas sagen musste. Er war unter anderem gekommen, weil er eine Art Tarnkappensyndrom hatte: Er wird nicht gesehen. Er ist da, auf einer Fête, im Geschäft, er versucht Kontakt aufzunehmen, aber niemand sieht ihn. Außerdem war er davon überzeugt, so zu stinken, dass niemand etwas mit ihm zu tun haben will. Die anderen sagen das nur nicht, er stinkt so, dass sie ihn nicht sehen. Er kann dann auch nichts sagen und geht unverrichteter Dinge, ohne Wünsche formulieren oder gar realisieren zu können nach Hause. Er hatte sich also umgedreht: Hier passierte wörtlich eine Rückwendung der Aussage auf den Ort ihres eigenen Aussagens. Er wollte ja ebenso, wie er nach dem Analytiker sah, sehen, wo er eigentlich ist. – Das erinnert an das Spiegelstadium, an den Blick, der notwendig ist, um sich der Existenz zu versichern. – Davor hatte er sich fast vergessen. Er drohte wieder zu verschwinden, nahm ich nachher an. Er warf die Kappe ab, tauchte auf und befürchtete, dass ich jetzt unter der Kappe und weg war. Nach dem Muster: Entweder – oder. Das wurde ihm klar durch den Akt, durch den Verstoß. M.E. hätte es nicht gereicht, wenn er nur nachgese-

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hen hätte. Sein Sprechen entspricht einer Bewegung an einen anderen Ort, der direkt nichts mit der empirischen Realität zu hat, nur durch diese gestützt wird. Dabei enträt etwas seiner Kontrolle. Vorher hatte er immer »vergessen« zu artikulieren. Jetzt wird er sichtbar. Für den Analysanten, von dem hier die Rede ist, war das Vergessen des Sagens verknüpft mit seinem eigenen Verschwinden. So wurde er aufmerksam auf die nur vermeintlich ausgesprochenen, von ihm als andere zwingend erlebten Wünsche, die diese aber nicht »sehen« konnten. Auch in der hier kurz geschilderten Sitzung hatte er lange nichts gesagt. Wer weiß, welchen Phantasien er nachhing? Auf Befragen wusste er es selber nicht. Er war nur auf einmal erschrocken. Erst als er innewurde, dass da noch jemand anders im Raum sein müsste, drehte er sich fragend um. Er hätte dafür keinen Anlass gehabt, wäre ich in seinem Gesichtsfeld gewesen. Durch diese Zuspitzung wurde er aus der (Wahn-)Vorstellung gerissen, dass er annahm, die anderen verstehen immer schon, was er will, weil sie ihn ja sehen. Er hatte einfach vergessen zu sprechen. Wenn dann keine Reaktion erfolgte, so hatte er geschlossen, dann sehe ihn niemand. Aus dem Verlauf der Arbeit schloss ich auf ein Phantasma: Er war nicht getrennt von der »Mutter«. Wenn dieses angegriffen wurde, wurde Angst frei. Er phantasierte die Trennung, er konnte sich ja überall hinbewegen. Er hatte nicht eigentlich Angst irgendwo hin zu gehen, sondern davor wieder einmal nicht gesehen zu werden. Gleichzeitig tat er alles dafür, wie er nachträglich erkannte. Er entwickelte ein Geschick darin, nicht aufzufallen, indem er z.B. nichts von Belang sagte. – Es hatte sich bis zu seiner Analyse keine Chance ergeben, dass ihn jemand in das Risiko des Sprechens begleitete. Er sah alles, wurde gesehen, aber nicht wahrgenommen. Er meinte präsent zu sein. Ein über einen notwendigen, orientierenden Informationsaustausch hinausgehendes Sprechen war ihm fremd, weil er die Effekte an sich und an anderen nicht absehen, nicht verfolgen konnte. Die alternierende Bewegung des Fort und Da konnte er nicht überbrücken. Nur durch das nächste Wort ist es möglich, sich der Bewegung des Sagens, dessen, was gesagt worden ist (Perfekt), wieder zu erinnern. »Die Bewegung des Sagens kommt also auf sich selbst zurück, aber gewissermaßen auf die andere Seite seiner selbst, auf sein Produkt, sein Faktum, sein Perfekt – und nur von der Seite des Produkts aus, des Gesagten, ist es möglich, zum Akt des Sagens zurückzufinden«.35

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Das ist die Freudsche Nachträglichkeit, eine verrückte Zeitform des Erlebens. Psychoanalyse, die nur ein Austausch von Worten ist, hat so die Möglichkeit den Wahn auszuhalten, als Wähnen sogar zu fördern, die Bewegung des Sagens als Form der Gewissheit, die sich selber dauernd produziert, aufrecht zu erhalten, aber auch festgefahrene Gewissheiten, metaphorisierte zu lockern. * Die unsicher gewordene Grenze zwischen Wahn und Nicht-Wahn wird nicht in Form einer neuen Befestigung gezogen, sondern die Ungewissheit wird ins Setting selber als Produktionsmoment aufgenommen, durch die Grundregel eingeschlossen als Produktions- und Dekonstruktionsmittel genutzt. Im Setting wird eine »künstliche« Psychose,36 nämlich in Form einer gelenkten Paranoia inszeniert.37 Diese Paranoia »entdeckt« Lacan in der Relektüre Freuds nicht ohne Mithilfe der Surrealisten, insbesondere Dalís Konzept des »Kritischen Paranoikers«.38 Die Paranoia ist in diesem Kontext gleichzusetzen mit dem Entwurf eines verantwortlichen und vernünftigen Subjektes,39 das z.B. den Positivismus des einfach so Gegebenen (Daten) mit einer auf Wünsche orientierten Wahrnehmung konfrontieren und umbauen kann. Ein einfacher Positivist erliegt der wahnhaften Annahme, dass es schon so sei, wie man es sieht und sich eventuell daran stößt. Er ist wunschlos glücklich; nur glücklich, wenn er keine Wünsche spürt. Wünsche werden einer nicht objektivierbaren Zone zugewiesen; sie können demnach in der Wissenschaft nur als eingeschlossene indirekte Rede, als Bericht von etwas vorkommen. Sie werden durch diesen Einschluss zu Daten, zu so genanntem empirischen Material. Es ist aber Illusion zu glauben, dass damit das Produktionsmoment »Wunsch« in seiner virtuellen Wirksamkeit neutralisiert sei. Gerade die Behauptung dieser Möglichkeit transportiert den Wahn, das dem Wünschen benachbarte Wähnen unbemerkt in die Wissenschaft. Dies aber nicht nur auf der inhaltlichen Seite, sondern auch auf der der Entstehung von Forschungsfragen, von Neugierde, der Genesis von Forschung und ihren Ergebnissen, die nur idealiter von ihrer Geltung getrennt werden kann. Die nachträgliche Zustimmung zu Forschungsergebnissen in der Scientific Community ist ein Akt der Erzeugung von Wirksamkeit durch Sprechen und Schreiben im Diskurs. Wie die Wissenschaftsgeschichte zeigt, 136

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z.B. bei der schon erwähnten Anerkennung der Forschung zum blinden Fleck, spielen hierbei Wünsche, Widerstände und Verkennungen eine große Rolle. Die als Kriterium dienende Gewissheit bei der Verteidigung bekannter Positionen oder bei deren Aufgabe ist Element des Wahns. Dieser wird durch eine neuerliche auftretende Ungewissheit im Verlauf der Forschung und des Umsetzens der Forschungsergebnisse möglicherweise wieder gemildert. Tatsächlich wahnhaft werden Ergebnisse der Forschung, wenn direkt oder indirekt eine Gewissheitsgarantie aus der Vorstellung eines »Abpausens« einer schon vorgefundenen Wirklichkeit bezogen wird. Dieses »Abpausen« vollzieht sich heute oft als Berufung auf Empirie, auf Daten. Zu kritisieren ist weniger die Berufung auf Daten, sondern dass dabei häufig deren Konstruktion und damit Fiktionalität übersehen wird. Nur dieses Übersehen macht es nämlich möglich anzunehmen, man könne sicher unterscheiden, wo die Grenze zwischen Wahn und Wirklichkeit verlaufe, und in der Folge zu behaupten, nur der, der sich nicht an diese Verfahrensweisen hält, könne wahnsinnig sein. Eine weiteres Leck für das Einsickern von Wahn in Wissenschaft sind die notwendigen Verallgemeinerungen durch die Methode der Gewinnung wie der Geltung der Ergebnisse. Wenn dabei nicht zumindest manchmal die Indikatoren einer daneben liegenden und darin eingeschlossenen, aber nicht immer artikulierbaren Einzigartigkeit auftauchen, dann handelt es sich schlicht um einen von allen geteilten Wahn, der seine Gewissheit daraus zieht, dass er vorschreiben zu können glaubt, wie einzelne Schlussfolgerungen falsifiziert werden können. Dazu muss man im selben System bleiben. Änderungen eines wissenschaftlichen Paradigmas von außerhalb des Systems erscheinen aus der Perspektive der möglichen Falsifikation innerhalb der im System gewonnenen Aussagen als wahnhaft. * Das Setting entzieht viele eingeübte Orientierungsmöglichkeiten. Es reizt dazu den Sinnbildungsprozess hier und da selber beobachten zu können. Ein Zug dessen, was dann passiert, ist die Induktion einer künstlichen Paranoia. Sie aktiviert den paranoischen Kern jeder Ichformation und den sehr unterschiedlich ausgeformten Anteil des jeweiligen Subjektes an der klinischen Struktur der Psychose.40 Die Künstlichkeit, die wirkliche Fiktionalität des je individuellen Bezuges zur Umgebung wird 137

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hervorgetrieben. Erfahrbar wird, dass die Art und Weise dieses Bezuges nicht unbedingt dem bewussten Willen unterliegt. So werden fast unausweichlich zwei Annahmen beim Analysanten virulent: Wenn da jemand ist, der mich in diese Situation bringt, dann wird er wohl wissen, wohin das führt (Unnötig zu sagen, dass er das nicht weiß, sondern dass er nur darum weiß). Der Analytiker wird schon allem eine Bedeutung geben, so dass die Ungereimtheiten aus der freien Assoziation zumindest nachträglich einen Sinn ergeben. Oder: Da sitzt jemand, eben der Analytiker, der will mir meine Sicht der Welt oder meinen Genuss41 nehmen. (Das ist in der Tat so. Es sollte nur ohne feste Intention sein und ohne bestimmte inhaltliche Ausrichtung. Die passiert dann, wenn der Analytiker vom furor sanandi ergriffen ist.) Leicht erlebt sich der Analysant als verfolgt und er befürchtet, um seines Genusses beraubt zu werden. Günstig für den Verlauf der Kur ist es, wenn diese beiden Richtungen in Fluss gehalten werden können, wechseln, sich durchdringen und auf dem jeweiligen individuell strukturierten Hintergrund zu Erinnerungen führen.42 Das kann gelingen, wenn beide ihre Gewissheiten durch ein Begehren dauernd unterminieren, dadurch aber auch stützen lassen. – Zu verlangen ist das vom Analytiker. – Begehren löst im je anderen eine spürbare Veränderung aus (sozusagen eine im Symbolischen und Imaginären gehaltene, gestützte Anschwellung, Bereitschaft zur Aufnahme, zum Außersichsein).43 Das ist die notwendige Stütze, um sich von etwas zu trennen, sein bisheriges Territorium mit den bekannten Standorten44 zu verlassen. Dabei entsteht Sehnsucht. Die Erfüllung dieses Sehnens ist untersagt. An dessen Stelle sollte ein Sagen treten. Sonst landete man bei einer tatsächlichen Bindung. Der Schmerz der Trennung könnte nicht Marke oder Merkmal der Öffnung werden, sondern führte zu einer gemeinsamen Schließung (Conclusio). Dabei ist vor allem der Analytiker aufgrund seiner Erfahrung mit der Analyse, dem durchaus lustvollen Überleben von Trennungen (Trauer) gefordert. Man kann das, was da erfordert ist, nicht viel präziser als mit Takt und mit Stil andeuten. Kommt nun ein im klinischen Sinne paranoisches Individuum zum Analytiker, verdoppelt und verdreifacht sich das Paranoische.45 Das bringt enorme Schwierigkeiten. Aus dieser Einsicht wird oft gefolgert, dass Psychoanalyse hier nichts ausrichten könne.

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Zunächst einmal laufen die oben kurz skizzierten paranoiden Prozesse ab. Beim Analysanten sind sie in geronnener Form bereit zur Abwehr vorhanden. Sie liefern blitzschnell, situationsunabhängige Erklärungsmuster. Daran kann nur der Leidensdruck des Analysanten kombiniert mit Gewitztheit, Ausdauer und Geduld des Analytikers etwas ändern. Zweifellos besteht die Gefahr der Blockade zumal deshalb, da sich der Analytiker leicht in die Position gedrängt sieht zu sagen oder zu demonstrieren, dass er keineswegs ein Verfolger, ein Verführer, ein Gott oder Meister, ein Ausbeuter oder dergleichen sei. Vorab gibt es da kein gemeinsames oder neutrales Gebiet, das wahnfrei wäre, wohin man Zuflucht nehmen könnte. Das zeigt eindrücklich ein von Sartre publiziertes Dokument.46 So lässt sich auch kein Weg dorthin, keine Methode beschreiben, wie hier zu verfahren sei. Nirgendwo anders ist die Kur so wie hier auf einen glücklichen Moment angewiesen. Unter folgenden, nicht sehr konkret, eher formal beschriebenen Bedingungen hat die Kur eine Chance: • • •



An der Verfolgung kann die Beachtung, die Obacht, die Sorgfalt, die Hinwendung aufscheinen; in der Erotomanie wird so etwas wie die Bereitschaft, etwas zu geben, was man nicht hat, was erst entstehen könnte, ahnbar; im Eifersuchtswahn kann aufscheinen, dass es tatsächlich auch woanders Möglichkeiten sehr verschiedener Inhalte und Formen des Genießens gibt, ohne dass man dadurch für den anderen verloren geht;47 der Größenwahn kann sich dahingehend etwas mildern, dass die Möglichkeit erscheint, dass es zur wahren Größe gehören kann, dass man auf manches verzichtet, was man sowieso nicht tut.

Man könnte auch sagen, dass die Arbeit mit Paranoikern die Probe auf die Psychoanalyse ist. In dieser Arbeit muss sich erweisen, ob sie die eigene Wahnhaftigkeit in die Produktionsform einer kritischen Paranoia umgewandelt werden kann. Sie versucht auch in der Krise, der Notwendigkeit einer Entscheidung, vor der Gewissheit zu schützen. Das würde auch heißen, eine Kultur des Aushaltens von Ungewissheit in einem sozialen Band zu entwickeln, nicht per definitionem zu dekretieren. Aus der Ohnmacht folgern Ratmoko und andere die Unmöglichkeit der Behandlung der Paranoia. Andersherum: Die Behandlung wird erst möglich durch das Aushalten der Ohnmacht, jedenfalls durch den Ver139

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zicht, eine richtige Sichtweise zu installieren; sie geht weiter, nur indem der Analytiker in die Situation kommt, die eigenen paranoischen und die theorieinduzierten paranoiden Gewissheiten fahren zu lassen und sich dem auszusetzen, was dann möglich wird. Ohnmacht des Analytikers will dabei aber nicht besagen, dass sich zwischen ihm und dem Paranoiker nichts ändern kann, Ohnmacht ist vielmehr die Unmöglichkeit der Vorhersage, eines gerichteten Plans, einer Heilung, was für alle Kuren gilt – in Kuren mit Paranoikern nur in zugespitzter Weise. Es geht um eine Grenzsetzung im oder als Prozess. Das geschieht oft durch eine Überraschung, also etwas, was schneller ist, als dass die Abwehrkräfte des Wahns wirksam würden. Durch die Überraschung ist die Kombination von Ort und Zeit gestört. Dadurch entsteht die Chance in eine andere als die erwartete Zeitform48 zu geraten, in der die einzelnen Elemente diesseits und jenseits der Grenze sich neu sortieren können. Es käme also zu einer Vermischung und zur Erforschung der jeweiligen Struktur der Psychose, wie sie Anteil an jedem Subjekt hat. Das ist eine Umschreibung für das Zustandekommen einer Übertragung. Weil vom Analytiker in der Kur Deutung erwartet wird (auch wenn er nicht tatsächlich deutet), wird der Analytiker zum Verfolger, »dessen Existenz die Psychiatrie immer verleugnet hat ... Denn das Subjekt, dem Wissen unterstellt wird (gerade hier wäre die wörtlichere Übersetzung angebracht: dem Wissen unterstellt ist, KJP), sichert dem Analysanden Bedeutung zu und bedroht gleichzeitig/mit derselben Geste sein Genießen«.49 Man könnte sagen, dass das psychoanalytische Setting der Aufführungsort dafür ist, dass das Subjekt die notwendige Decke, Couverture über dem bedrohlichen Realen einigermaßen geschützt untersuchen kann. Das Subjekt ist dabei nicht aufgefasst als Schöpfer, Hersteller, sondern taucht auf aus »der Nacht der Welt« (Hegel)50 aus dem Wahnsinn. Das Subjekt entsteht erst relational in einem Hiatus, einem Aufatmen und Zusammenschrecken nach der überwundenen Gefahr, die danach erahnt wird. Das Setting ist ein Ort seines Studiums. Die Psychoanalyse rührt an diese Relation. * Dass Freud schreibt: »Die ›analytische Situation‹ verträgt keinen Dritten«, macht argwöhnisch. Er fährt fort:

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»Auch sind die einzelnen Behandlungsstunden sehr ungleichwertig, ein solch – unbefugter – Zuhörer, der in eine beliebige Situation geriete, würde zumeist keinen verwertbaren Eindruck gewinnen, er käme in Gefahr, nicht zu verstehen, was zwischen dem Analytiker und dem Patienten verhandelt wird, oder er würde sich langweilen. Er muß sich also wohl oder übel mit unserer Information begnügen, die wir möglichst vertrauenswürdig abfassen wollen«.51

Man kann das auch lesen – und so geschieht es zuweilen – als eine Immunisierungsstrategie, als Verweigerung einer Evaluation, als Ausdruck der Angst vor Beobachtung, als Abschirmung vor der Öffentlichkeit, weil in der Kur etwas geschieht, was moralisch, juridisch oder sonst wie anstößig sei, oder weil überhaupt nichts passiert, was irgendwie bemerkenswert wäre. Aber: Auch wenn die analytische Situation keinen Dritten verträgt, so ist er (hoffentlich) zweifellos da. Allerdings nicht in Person eines Menschen, der etwa zuschaut, Acht gibt, kommentiert oder in Gestalt eines Aufzeichnungsgerätes, sondern als Sprache und Sprechen. Ein wie auch immer geartetes Aufzeichnungsgerät würde die Paranoia, die es zu bearbeiten gilt, nach dem oben Ausgeführten lediglich wie mit einem starken Narkotikum still stellen. Aber auch das gelingt manchmal nicht. Es gibt das Transkript einer Tonbandaufzeichnung.52 Sie entstand nicht mit wissenschaftlicher Absicht, sondern offenbar aus einer Situation heraus, die aus Sicht eines Analysanten als Notwehr verstanden wurde und Züge einer Rache nicht entbehrt. Die Publikation wurde durch Sartre ermöglicht und eingeleitet. Er hatte die Aufzeichnung von einem 33-jährigen Mann bekommen, der 14 Jahre zuvor eine Analyse begonnen hatte. Nach mehrmaliger Unterbrechung hatte er, fünf Jahre bevor er seinen Analytiker noch einmal aufsuchte (mit Tonbandgerät), gegen seinen Rat die Analyse abgebrochen. Jenseits genauerer Informationen über vielleicht tatsächliche Versäumnisse, Fehler in der Durchführung der Kur, ist die Einleitung Sartres zu diesem Dokument enttäuschend. Er wolle die Psychoanalyse nicht lächerlich machen, er sei ihr »kritischer Weggefährte« und in diesem Sinne mahnt er an, dass nie ein Mensch zum Objekt gemacht werden dürfe und dass das Subjekt, in diesem Fall der 33jährige Mann, »als verletztes fehlgeleitetes Subjekt verstanden werden« wolle. Und das gehe nur in »der Begegnung von Mensch zu Mensch«; die »Heilung des Kranken [müsse] damit beginnen, sich gegenseitig ins Gesicht zu sehen«. Fragend schlägt Sartre als

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Antwort auf das hier aufscheinende Problem vor, »daß die Heilung ein gemeinsames Werk sein muß, bei dem jeder, Patient wie Arzt, Gefahr und Verantwortung übernimmt«. Sartre verkennt unter dem Druck dieses eklatanten Falles, dass Psychoanalyse kaum als systematisch angehbare Einigung zweier Positionen zu haben ist. Das, was hier als Farce erscheint, ist nur Zuspitzung dessen, worum es wahrscheinlich in jeder Analyse geht, nämlich um einen Engpass mit Tendenz zur Sackgasse. Solche Krisen, Umschläge in ein Agieren auf anderen Feldern können nur mit Glück und Wissen um das, was man wissen kann, Fingerspitzengefühl, Takt, Stil,53 Mut, Unterstellung, Witz und Humor, Geduld und Sturheit vor allem auf Seiten des Analytikers, kombiniert mit der »Fähigkeit«, damit ansteckend zu wirken, passiert werden. (Es müssen nicht alle Qualifikationen gleichzeitig vorliegen!) Das ist wohl der oben angedeutete Zusammenhang von Wahnsinn und Freiheit.54 Man könnte Sartre und ihm stellvertretend für andere ein Missverständnis der Psychoanalyse vorhalten, z.B. eine unzutreffende Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt der Analyse, die kaum das, was Übertragung ist, in Rechnung stellt. Das interessiert aber hier nicht. Das Transkript mit Sartres Vorwort macht darauf aufmerksam, woraus sich viele der Verkennungen der Herausforderungen der Psychoanalyse auch unter Psychoanalytikern, nicht nur prinzipiell, sondern auch situativ (ich schließe mich in diese Aussage ein) speisen. Sie resultieren meines Erachtens aus dem engen Spielraum in einer analytischen Situation, im Setting, der, wenn er nicht gehalten werden kann, unversehens gewaltsam wird. Den Grund sehe ich in der im Setting immer latent offen gelegten Paranoia. »Latent«, weil es nicht primär um deren inhaltliche Thematisierung und um manifeste paranoische Leiden gehen kann; »offen gelegt« besagt, dass das Arrangement des Settings selber dazu einlädt, Paranoides und Paranoisches zu thematisieren, insofern es um die radikale Befragung des Ich und des Wissens geht. Das Verständnis dieser grundgelegten Paranoia kann man aus dem Spiegelstadium55 entwickeln, das ja auch die Situation im hier thematisierten Transkript zuspitzt und unauflösbar macht, weil nichts Drittes zunächst zur Verfügung steht. Dieses Dritte muss auf zwei, mindestens zwei Ebenen tatsächlich, also agierend eingeschaltet werden: zunächst über die Polizei und dann über Sartre. Mit einem etwas längeren Zitat möchte ich den Zusammenhang plausibel machen:

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»Der Augenblick, in dem sich das Spiegelstadium vollendet, begründet durch die Identifikation mit der Imago des Nächsten und das Drama der Ur-Eifersucht (dessen Wichtigkeit die Schule von Charlotte Bühler bei der Beobachtung des kindlichen Transiti-

vismus erkannt hat) - die Dialektik, welche von nun an das Ich (je) mit sozial erarbeiteten Situationen verbindet. Dieser Augenblick läßt auf entscheidende Weise das ganze menschliche Wissen in die Vermittlung durch das Begehren des andern umkippen, konstituiert seine Objekte in abstrakter Gleichwertigkeit durch die Konkurrenz der andern und macht aus dem Ich (je) jenen Apparat, für den jede instinktive Regung auch dann eine Gefahr bedeutet, wenn sie einem natürlichen Reifeprozeß entspricht - wobei selbst die Normalisierung dieses Reifens von nun an beim Menschen von einer kulturellen Umsetzung abhängt: wie beim Sexualobjekt im Ödipuskomplex zu sehen ist«.56

Die Tendenz zur Offenlegung des paranoischen Kerns des Analysanten (wie des Psychoanalytikers) im Setting wird erleichtert gerade durch den Ausschluss des Blickes während der meisten Zeit der Analyse aufgrund der Zuordnung von Couch und Sessel. Die Zuordnung verschärft die nie vollständig und gewiss beantwortbare Frage: »Was willst Du, dass ich für Dich bin?« Ohne phantasmatischen Schutz ist diese Frage nicht aushaltbar. Der phantasmatische Schutz ist unbewusst, wird aber in alltäglichen Situationen, besonders in Gesprächen, oft in Szene gesetzt, indem präsentiert wird, wer man sein möchte. Das geschieht mit blitzschnellen Korrekturen in Abhängigkeit vom Blick des anderen, abgelesen von der Mimik, von der Gestik des Gegenübers. Diese Justierungsprozesse überkreuzen sich. Das aber ist im Setting durch den Ausfall des Sehens erschwert, die phantasmatischen Konstruktionen werden angegriffen; sie müssen angegriffen werden. Und genau hier ist Takt erfordert, etwas, auf das man sich nicht vorbereiten kann, auf das man sich nur im Prinzip und in dauernder Schulung einstimmen kann mit Risikobereitschaft und dem Wissen darum, woraus sich solche Risiken ergeben. Deshalb liegt Sartre falsch oder vielleicht in der Einschätzung von misslingenden Kuren auch richtig, wenn er schreibt: »Diese ›endlose psychoanalytische Beziehung‹, diese Abhängigkeit, dieses lange Liegen auf einer Couch, wo der Mensch quasi nackt ist und in das Gestammel der Kindheit zurückfällt, ist das nicht die primäre Gewalt?«57

Zutreffend ist die Aussage, wenn man sie als die Einschätzung eines Risikos liest. Die hier angesprochene Gewalt, die bei unsachgemäßer Handhabung in der Tat in Aktion umschlagen kann, ist gleichsam Maß-

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stab für die Härte der Gewissheit, die in einer der alternativen Bewältigungen dieser Bedrohung sich ausbildet, im systematisierten Wahn. – Im publizierten Fall kommt es zum Duell, weil es nicht gelang, die Fiktion des Dritten durch die Herstellung der Möglichkeit, gehaltvoll zu sprechen, zu inszenieren. Wie immer gehören dazu mindestens zwei. Stattdessen wird ein Aufzeichnungsgerät als Waffe eingeführt, vielleicht in Notwehr, die Inszenierung des nicht Beherrschbaren, des unbewussten Subjekts und der Sprache wird unterbrochen. Sie kommt erst mühsam über die Publikation Sartres vielleicht wieder in Gang. Es ging in dieser Notwehr um den Versuch, es einfach dingfest zu machen, das nicht materialisierbare Dritte, es ging um die Suspension allen Wähnens – wahrscheinlich hatte im vorliegenden Fall der Analytiker dazu eine Menge beigetragen. Vielleicht hatte er, gewollt oder nicht, das Dritte personifiziert. * Das Dritte ist die symbolische Ordnung im Vollzug der Analyse, die von keinem der beiden Beteiligten beherrscht werden kann. Sie kann allerdings geachtet, ins Werk gesetzt, missachtet, verdrängt, verschoben, entstellt, verbogen werden. Dadurch manifestiert sie sich. Es geht also um eine ganze Menge an Unwägbarkeiten oder noch allgemeiner um Inkommensurabilitäten.58 Das hängt mit der zentralen Bedeutung der Übertragung für die psychoanalytische Kur zusammen, die wie Freud betont, Ähnlichkeiten mit der Liebe aufweist.59 * Freuds apodiktisch klingende Behauptung von der Unverträglichkeit des Dritten für die Kur hat »handwerkliche« Hintergründe: Es lässt sich verlässlich mit kaum einem Aufzeichnungsmedium festhalten, was hinter der Tür des Kabinetts Wirksames geschieht. Übertragungsprozesse lassen sich nicht beobachten. Es mag vielleicht dafür physiologische Indikatoren geben. Aber um die physiologischen Spuren zu erheben, müssten sich wahrscheinlich beide handelnden Personen in einen Kernspintomographen begeben. Das wäre eine einschneidende Änderung des Settings60 und würde dieses ins Feld des Blickes zurückholen. Freuds Behauptung hat zweifellos auch ethische Gründe wegen der unabweisbaren Notwendigkeit einer Verschwiegenheit nach außen. Den144

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noch muss über das, was in der Kur geschieht, gesprochen und geschrieben werden – zu anderer Zeit am anderen Ort. Dies ist nur mit großer Anstrengung zu gewährleisten durch die fiktionale Kompetenz eines erzählenden oder schreibenden Analytikers, der sich zu anderen gesellt. Er bringt dabei durch einen hochgradigen Übersetzungsprozess etwas zur Darstellung, was aber nie ein abgebildeter Verlauf sein kann, höchstens eine getreuliche Weitergabe, die aber den Analysanten nicht identifizierbar machen darf. Nur so kann die Verfolgung, die Rückverfolgung und prinzipielle Wiederholbarkeit gestoppt werden. Auch ein Analytiker hat in der Regel nur Kenntnis von der oder den Analysen, in denen er selber Analysant gewesen ist oder deren Kur er leitet. Diese grundlegenden Erfahrungen sind Bedingungen der psychoanalytischen Forschung, die u.a. auf der Basis des kollegialen Gesprächs weitergetrieben werden, also mit Unterstützung von Erfahrungen im Status des Analysanten oder Analytikers. Auch diese Basis ist notwendig fiktional. Die Folge ist: Viele wollen wissen, wie es im Kabinett zugeht, wie es die anderen Analytiker machen – auch wenn das nicht immer ausgesprochen ist. Diese Neugier entsteht, weil die Tür geschlossen ist.61 Nur das Schließen der Tür macht erträglich, dass man sowieso nicht weiß, wie’s beim Anderen geht – und das nicht nur im Rahmen der Psychoanalyse. Macht man die Tür zu, dann weiß man zumindest, dass man nicht sehen kann, was auf der anderen Seite der Tür geschieht. Man kann dann die Schuld der Tür zuschieben. Neben dem Belauschen gibt es dann nur noch die Möglichkeit, sich etwas erzählen zu lassen, etwas zu lesen. Erst durch die geschlossene Tür entsteht der Zwischenraum, den man Öffentlichkeit nennt, in dem die Debatten über die Psychoanalyse geführt werden können. Dieser öffentliche Raum wird strukturiert durch unterschiedliche Institutionen, die von vornherein gerade in der Psychoanalyse oder nach der Erfindung der Psychoanalyse daran kranken, dass bewusst wird, dass sie das Einzigartige nie fassen. * Neben der Neugier, seien noch kurz zwei andere Momente erwähnt, die von Seiten der Psychoanalyse auf eine nachvollziehbare Verallgemeinerung zielen, sie notwendig machen, also manchmal den Wunsch entstehen lassen nach irgendeiner Form der (kontrollierenden) Präsenz des Dritten: Das ist einmal die pragmatisch nicht durchgehaltene, tatsächlich 145

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aufgegebene naturwissenschaftliche Orientierung Freuds – Trotz, Hoffnung und Selbstmissverständnis zugleich – zum anderen die Orientierung Freuds an der menschlichen Art, der Gattung. Denn Freud ist trotz seiner Aufmerksamkeit für das Singuläre, das subjektiv Individuelle kein Subjektivist oder Individualist in dem Sinne, dass er die Gattung aus dem Auge verlöre. In diesem Sinne ist das von ihm erfundene Setting in der Tat ein Raum des Experimentierens62 mit Blick auf Verallgemeinerung nicht nur der daraus erlangten Kenntnisse, sondern auch im Blick auf die Vermittlung des je Einzelnen in seinem Leben mit der Gattung. Psychoanalytische Forschung zielt also nicht nur auf Änderungen der Arbeit in der Kur selber. Vielleicht ist das am pointiertesten zu lesen aus der Freudschen Äußerung in »Zur Einführung des Narzissmus«. Hier kommen beide Motive zusammen, die naturwissenschaftliche Hoffnung, die anderen Ausarbeitungen zuwiderläuft, und die Berücksichtigung der Gattung: »Drittens muss man sich daran erinnern, daß alle unsere psychologischen Vorläufigkeiten einmal auf den Boden organischer Träger gestellt werden sollen. Es wird dann wahrscheinlich, daß es besondere Stoffe und chemische Prozesse sind, welche die Wirkungen der Sexualität ausüben, und die Fortsetzung des individuellen Lebens in der Art vermitteln«.63

Dieses Spannungsfeld zwischen Einzelnem und Allgemeinen, »die Fortsetzung des individuellen Lebens in der Art«, zwischen psychologischen Vorläufigkeiten und Naturwissenschaft, richtet die Kur aus und ist von den Anfängen an zu einer Herausforderung für den psychoanalytischen Diskurs in seiner Realisierung als sozialem Band geworden. Dessen Bildung weicht deshalb auch in vielen Facetten von dem bisher in wissenschaftlichen Diskursen Bekannten ab, hat mit anderen Schwierigkeiten zu kämpfen. So ist das Setting nur in einem Netz unterschiedlicher Veranstaltungen möglich. Sie ist dabei keineswegs das Feld der Umsetzung von Vorstellungen, die woanders deduktiv oder induktiv gewonnen wurden. Sie steht insofern nicht unter kontrollierender Vorschrift, weil dies den paranoischen Effekt nur noch verstärken würde. Situativ beschrieben: Psychoanalytische Praxis findet unteilbar statt – so lese ich Freud und die Geschichte der Erfindung der Psychoanalyse – in der Kur (ohne Aufzeichnung), basierend auf Hören und Sprechen, im nachträglichen Schreiben, in Briefwechseln Freuds, in der Mittwochsgesellschaft, in Vorlesungen (auch fiktiven) und Seminaren, in der psychoanalytischen Vereinigung, in der Strukturierung der Ausbildung (Weitergabe 146

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des psychoanalytischen Wissens), im kollegialen Gespräch, beim Reisen und vor Michelangelos Moses ... Das Setting und die in ihm stattfindende Kur ist das entscheidende Erfahrungsfeld gerade wegen der Absenz eines personalisierten oder in strikten Methoden objektivierten Dritten. Es geht um eine Vielzahl von Praktiken, weniger um das Sehen in seiner Transformation aus dem Tasten, eher zentriert um das Sprechen, Hören, Lesen und Schreiben. Die notwendige Öffnung der Psychoanalyse auf das Hören hin, die Entdeckung und Reflexion der Übertragung lassen den im Dispositiv des Sehens bis dahin notdürftig eingeschlossenen paranoiden Kern der neuzeitlichen Wissensproduktion64 deutlich werden, ja lassen ihn geradezu aufblühen. Dieses Wagnis wird für alle gefährlich, die in die Psychoanalyse involviert sind. Dabei ist »paranoisch« nicht denunziatorisch gemeint, sondern die Beschreibung einer verwirrenden und gefährlichen Struktur, deren Leugnung, Ausgrenzung oder (wahnhafte) Befriedung noch gefährlicher ist. Das lässt sich ablesen aus der Arbeitsübertragung zwischen Freud und Fließ, am Briefwechsel zwischen Freud und Ferenczi, zwischen Freud und Jung, Spuren davon finden sich in der Beziehung von Jung, Spielrein und Freud, schon die Gründungen der ersten psychoanalytischen Institutionen sind davon affiziert, die Ich-Psychologie scheint mir ein Reflex darauf zu sein. Aber auch in der Theoriebildung selber lassen sich die Spuren davon finden. Nachträglich könnte man auch behaupten, dass im Netzwerk der Psychoanalyse schon frühzeitig die Problematik der Paranoia erkannt wurde, die schwierige Abgrenzbarkeit, die unmögliche Definition im Sinne konventioneller Diagnostik. Es kann auch hier nicht gelingen, die Paranoia zu definieren. – Man muss sich darüber im Klaren sein, dass jede nicht im selben Zug wieder dekonstruierte Definition der Paranoia auf den Weg zu einem systematisierten Wahn bringt. – Paranoia ist wohl das, was aufbricht, wenn eine extreme Desorientierung geschieht und damit einhergehende Angst ausbricht, unaushaltbar wird und damit radikal vereinzelt. Paranoia beruhigt den Mangel an Verankerung. In diesem Sinne ist Paranoia etwas, das danebengeht, in der Not einen anderen Weg geht und eben auch das dazutut, was anderen nicht unbedingt zugänglich ist, aber wieder einen Zusammenhang herstellt. Paranoia ist ein Prozess des Zerfalls von Kohäsion im Konventionellen einerseits, und andererseits der einer (Wieder-) Herstellung einer Ahnung, wie man von einem zum Anderen kommt, wie Wahrnehmungen und Affektionen verarbeitet werden können und 147

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sich von daher Übergänge zum Handeln bewerkstelligen lassen. Diese Gleichzeitigkeit ist aufgrund der großen Not, die jeden ergreift, dem der Boden unter den Füßen schwindet, wie eine Art Reißverschlussverfahren vorzustellen. Dieses Bild hat den Vorteil, dass es eine Passung wie von selbst suggeriert, gleichzeitig eine Schließung andeutet und damit einen Schutz, vielleicht noch mehr: Beim Reißverschluss ist die Voraussetzung des Funktionieren damit gegeben, dass die einzelnen Häkchen alle gleich sind und in der Reihe fest verankert. Vielleicht kann man sich den Prozess paranoischer Abwehr so vorstellen, dass blitzschnell genau diese Reihung und Passung der einzelnen Elemente oder Module hergestellt wird. Nur wenn etwas dazwischen kommt, etwa ein darunter liegendes Kleidungsstück, fällt der Mechanismus auf und damit zugleich aus. Die verschiedenen von den Inhalten her unterscheidbaren Wahnformen haben nach Freuds Erkenntnis gemein, dass sie als Abwehr gegenüber der Homosexualität entstehen.65 Diese Abwehr geschieht unbewusst und musste psychologisch und soziologisch betrachtet zu Freuds Zeiten verborgen werden wegen der sozialen Verpönung der Homosexualität. Um den Abwehrcharakter der Paranoia etwas präziser zu verstehen, auch in den paranoiden Ausprägungen oder als generelles Moment der Konstitution von Individualität und ihren Entsprechungen in den Wissenschaften und der Kultur, möchte ich versuchen unter Bezugnahme auf Lacan, dies strukturell zu umschreiben. In der Abwehr steckt der Wunsch nach »Homosexualität«, einer Selbstüberschreitung, ohne die Erfahrung fundamentaler Fremdheit machen zu müssen: Also wenn schon etwas anderes, dann bitte vom Gleichen wie beim Reißverschluss. Nach psychoanalytischer Erkenntnis steht Sexualität auch für die Überschreitung des Individuums auf die Gattung hin und damit auch in eine andere zeitliche Logik. In der Sexualität ist also verlangt, jeweils die Grenzen zwischen Innen und Außen, zwischen Eigen und Fremd im Hinblick auf etwas Drittes, die Gegenwart Übersteigendes zu überschreiten und diese Transgression in ihrer Widerständigkeit, Unstimmigkeit, Ambivalenz, Ungewissheit auszuhalten. Dies ist strukturell zu verstehen. Die Möglichkeit einer strukturell homosexuellen Überschreitung ist eine kulturelle Errungenschaft als eine besondere Form einer ermäßigten Überschreitung des ansonsten isolierten, in sich abgeschlossenen Individuums. Diese Form scheint ermäßigt um die Konfrontation mit einem Realen als etwas Unheimlichen, etwas Fremdem, das unerwartet im Vertrauten auftaucht. Homosexualität, so 148

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gefasst, ist nicht gebunden an anatomisch beschreibbare körperliche Unterschiede, sondern aufgrund der Plastizität des Triebgeschehens kann eine strukturell homosexuelle Beziehung auch in phänographisch heterosexuellen Beziehungen gelingen. Im übertragenen Sinne gilt das nicht nur für Beziehungen zu menschlichen Objekten, sondern ebenso in der Beziehungsaufnahme zur gesamten Umwelt. Man verliert sich dabei nicht so sehr, die Effekte werden kontrollierbarer, es besteht vor allem nicht die Gefahr der Generierung von etwas Dritten in der Form von Nachwuchs oder der Verunreinigung etwa des »objektiv« Beobachteten durch etwas, was nun dort heranwächst. Das hat z.B. für die Konzeption einer objektiven Wissenschaft ungeheure Vorteile, bedingt aber disziplinierte Kontrolle. Eine etablierte Ordnung mit definierten Grenzen hat immer mit der Zurichtung von Zusammengehörigem, mit unterstellter oder hergestellter Gleichheit zu tun. Das mag mal sanfter, mal brutaler sein. Die Beruhigung durch Ordnung, ohne die wir nicht auskommen, liegt darin, dass durch ein wie auch immer vorgängig etabliertes Drittes Macht so kanalisiert wird, dass wir in weiten Bereichen der Wahrnehmung, des Handelns, des Denkens, des Fühlens auf Gleiches oder Gleichgemachtes, jedenfalls leicht Identifizierbares treffen. Traut man sich nun wahrzunehmen, dass dieses garantierende Dritte nicht mehr komplikationslos gegeben ist, dass es selber nur eine Konstruktion ist, dass es als wirkmächtige Fiktion nur durch Zufuhr von Macht (als Relation) am Leben erhalten werden kann, dann werden die ganzen stillgelegten Ängste im »Inneren« wieder frei, die bis dahin als von außen drohend imponierten. Genau an dieser Stelle setzt die Wahnkonstruktion als Versuch einer Heilung ein, also als Versuch wieder etwas ganz zu machen. Daran ist zu ersehen, dass Theorie und das, was als Wahn bezeichnet wird, eine unheimliche Allianz eingehen und eine Ähnlichkeit haben; unheimlich insofern, als man nie genau wissen kann, wo die Unterscheidungsmerkmale liegen. Wahn und Theorie kleben aneinander. Das äußert sich immer wieder in Versuchen einer scharfen Abgrenzung. Einige der bekanntesten Ausformungen abgeschlossenen Wahns sind dadurch gekennzeichnet, dass sie am Gegenspieler kleben: in der Verfolgung, im Hingezogensein (Erotomanie), in der Eifersucht und Rivalität und durch die fehlende sichere Dimensionierung der Ausdehnung als Größenwahn, der alles einschließen kann.

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Alle diese Formen sind gefärbt von Angst, wenn es schlecht geht, durch Überflutung von Angst,66 durch Panik, durch Gewaltausbrüche. So braucht es institutioneller Eingrenzungen. Sie versuchen, Angst durch erwartbare Konstellationen und künstliche Trennungen zu reduzieren, schaffen einen möglichst vo Ungewissheiten entlastenden Raum. Dies ist nicht anders vorstellbar als über Homogenisierung und Konstanz. Das gilt auch für das Setting als Institution. So hat jede Institution Anteil an der Abwehr von Homosexualität, aber merkwürdiger Weise indem sie sie im Sinne einer »homosexuellen Struktur« herstellt. Das Setting versucht auf die Fiktionalität aufmerksam zu machen, den Wahn am Abschluss zu hindern. Kern dieses Versuchs ist eine handelnde Kritik am Dispositiv der Sichtbarkeit. * Einige Stationen der Entwicklung dieses Dispositivs sollen hier erwähnt sein, auch wenn dies schon häufig, auch in Bezug zur Psychoanalyse, viel differenzierter als hier möglich, kritisch befragt wurde. Ich versuche dabei auf noch weiter auszuführende Bezüge zum psychoanalytischen Setting und zur Wahnthematik aufmerksam zu machen. Das Dispositiv der Sichtbarkeit, das in der Renaissance entwickelt wurde, verdiente seine Vertrauenswürdigkeit durch einen Bezug auf Ähnlichkeit, auf eine erkennbare Nachahmung. Modell hierfür war die zentralperspektivische Darstellung der Welt. Sie rekurrierte für ihre Überzeugungskraft auf Vergleichbarkeit. So war das Experiment von Brunnelleschi67 angelegt. Im inneren dieser Struktur schlummerte aber schon auf der Basis der Mathematisierung die Repräsentation als Modell. Hier war bestenfalls noch über logische Operationen so etwas wie Ähnlichkeit zu rekonstruieren, diese entzog sich aber der Anknüpfung an sinnliche Wahrnehmungsmöglichkeiten immer mehr. – Die sich daraus ergebenden »Lücken« in der Zuordnung von Signifikant und Signifikat haben sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts vergrößert. Daraus resultiert für die individuellen Subjekte Ungewissheit, in der Wissenschaft, so z.B. in der Medizin gerät die Abbildbarkeit von Phänomenen auf bisher bekannte Ursachen in eine Krise, so bei den Hysterischen. Ein Effekt des Bezugs auf Ähnlichkeit war die Kritik an all dem, was sich nicht im dreidimensionalen Raum und einer linear gedachten Zeit darstellen ließ, dort keine Äquivalente fand. Mit diesem Problem konfrontiert schon das erste erhaltene perspektivische Bild, die Trinität von 150

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Masaccio (ca. 1427).68 Hier wird ein übersinnlicher Inhalt (Trinität) im dreidimensionalen Raum verortet. Indirekt forderten solche Abbildungen zur Überprüfung auf in dem Sinne, ob das im Bild Gesehene mit den Erfahrungen des Sehens in Raum und Zeit kompatibel war. Diese Lücke in der Überführung des im Bild Sichtbaren in die außerbildliche Realität und umgekehrt, war nur gegen Widerstände zu bemerken, da sich beide Sichtweisen gegenseitig ausgebildet hatten. Die dann möglich gewordene Kritik hatte Folgen für viele Verfahren der Orientierung in der Welt (z.B. Religionskritik). Verfahren der Zeugenschaft fanden keinen Anschluss mehr an die Möglichkeiten zur konsensuell, nach anerkannten Verfahren überprüfbaren Richtigkeit oder zumindest Glaubwürdigkeit. Ein Sehen, das nicht in einem überprüfbaren Abbildungsmodus überführt werden konnte, setzte sich dem Verdacht der Halluzination aus.

Caravaggio: Der ungläubige Thomas, 1602

Ich kann nicht entscheiden, ob beispielsweise Caravaggios beeindruckendes und in der Tat berührendes Gemälde »Der ungläubige Thomas« (1602) eine auch ironische Kritik an dieser Überprüfung durch Sehen, das sich vom Berühren ableitet, darstellt.69 Caravaggio zeigt den Moment, der bei Johannes (20, 25-28) im Text ausgespart ist. Thomas zweifelt an der Auferstehung Jesus und dementsprechend, dass dieser dort vor ihm steht. Er verlangt, seine Finger in die Wundmale legen zu dür151

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fen. Jesus fordert ihn dazu auf. Es folgt unmittelbar darauf im Text das Bekenntnis des Thomas zu Jesus. Und der Satz: »Selig, die nicht sehen und doch glauben!«. In der Folge der Aufklärung konnte nicht mehr bestimmt werden, was die Wahrheit sei, nur mehr eine prozessuale oder viable Richtigkeit, deren Rekursivität nach externen, vermeintlich personen- und zeugnisunabhängigen Kriterien der Gewissheit verlangt.70 Gewissheit stellte sich nach diesen Vorgaben nicht ein, wenn man Alternativen ahnt, also etwas, was von woanders herstammt, kaum formulierbar ist, dennoch aber Wirkmacht zu haben scheint. Das daraus resultierende Risiko der Ungewissheit bleibt dem Individuum aufgebürdet, ohne dass es eine Stütze in einem von der Allgemeinheit anerkannten Referenzsystem wie Religion oder Wissenschaft hat. Auch im Modus der Repräsentation war die Basis immer noch die geforderte Möglichkeit, die Ergebnisse und Zwischenstadien der Forschung sichtbar zu machen oder wenigstens zu veranschaulichen. Zu relativer Gewissheit kommt man nur über das Experiment und dessen nachvollziehbarer Beschreibung, so dass orts- und zeitunabhängig die gleiche Erfahrung wiederholbar hergestellt werden kann von Individuen, die in der Lage sind die theoretischen Voraussetzungen zu teilen, also von gleicher Struktur sind. Aber auch hier bleibt es im Prinzip dabei, das wird oft wegen der erlernten Gleichschaltung der Individuen verkannt, dass ein Zeugnis der Übereinstimmung gegeben werden muss. – Ein solches Zeugnis wird über Deutungen in der psychoanalytischen Kur gewagt. Im Hinblick auf die hier zu diskutierenden Schwierigkeiten,71 die zur Entwicklung der Psychoanalyse führten, die aber dieses Problem nicht lösen konnte, bestenfalls leben kann, ist noch, wie von Foucault72 ausgearbeitet, zu erwähnen, dass der Wissensmodus der Ähnlichkeit (convenientia, aemulatio, Analogie, Sympathie) eine ternäres Zeichensystem nutzt, die Repräsentation aber auf ein binäres reduziert wird. Das ternäre Zeichensystem hatte einen Bezugspunkt außerhalb des Zeichensystems. Das war eine Referenz wie etwa die Natur. Diese konnte als das aufgeschlagene Buch der göttlichen Offenbarung Gewissheit erzeugen. Durch die Arbitrarität eines binären Systems, das erst per Konstruktion auf Sichtbarkeit zurückgeführt werden muss, entsteht paradoxerweise für lebensweltliche Bezüge eine größere Unanschaulichkeit und gleichzeitig mehr und mehr ein Ausschluss aller Wissensmodi und der Generierung von Wissen, die darauf nicht zurückgeführt werden 152

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können. Dennoch bleiben sie im Alltag und in einigen Nischen von Traditionen erhalten, die auf das Sprechen in seiner performativen Wirksamkeit setzen. Das daraus entstehende Problem wird auch in den Künsten bearbeitet, als sie im Zuge einer binären Codierung von ihren ehemaligen Funktionen freigestellt werden. Die Wissenschaft reagiert auf diesen Ausfall durch Messung. Messung ist, worauf Lacan im Psychosenseminar hinweist, der materialisierte Zeuge der ehemaligen Idee der Garantie durch ein höheres Wesen, bzw. der Orientierung an den himmlischen Sphären, »die Messung ist der Zeuge dessen, was nicht täuscht«.73 Die residualen Wissensmodi waren im Sinne der Orientierung an der Wissenschaft immer unter Verdacht der Irrationalität. Genau in dieses Feld gerät Freud bei der Entwicklung der Psychoanalyse, als er auf die Hysterikerinnen hört. Er geht das Risiko ein, nicht mehr nur gemäß naturwissenschaftlicher Kriterien nach Richtigkeit zu streben, sondern nach Wahrheit, auch einer möglicherweise singulären, die immer mit Täuschung und Lüge einhergeht. An die Stelle der Versicherung durch höhere Sphären oder die von ihr noch zeugenden Messung tritt in der Genese der Psychoanalyse mehr und mehr das Einstehen des Analytikers in der Kur und in der daraus sich ergebenden Forschung, sowie des Analysanten mit seiner Person, d.h. als Zeuge, d. h. auch mit der je eigenen Lebenszeit, Glaubwürdigkeit, Existenz. Genau das aber macht die Konstruktion äußerst empfindlich im Positiven wie im Negativen. Sie macht aufmerksam und konfrontiert jederzeit mit dem »Pfund Fleisch«74 als Einsatz, der auf dem Spiel steht. Nach Wahrheit zu streben, gilt aber im gegenwärtigen gesellschaftlichen Umfeld als hoffnungslos veraltet, idealistisch, sentimental und realitätsfremd, vielleicht gar etwas wahnhaft; denn das Begehren, das hinter der Suche nach der Wahrheit steckt, wissend um deren Unabschließbarkeit, Unüberprüfbarkeit und damit Unkontrollierbarkeit wird aus der Perspektive konventioneller Überprüfbarkeit leicht auf eine Wahngewissheit zurückgeführt. In der Tat bereitet die Heraushebung eines emphatischen Wahrheitsbegriffs Schwierigkeiten. Es bleiben dabei Geheimnisse. Das ist ein Ausdruck für die Freudsche Rede vom unmöglichen Beruf. Und er signalisiert noch mit Bezug auf das Sprechen, dass er sich durchaus darüber im Klaren ist, welche Risiken er eingeht: »Worte waren ursprünglich Zauber, und das Wort hat noch heute viel von seiner alten Zauberkraft bewahrt«, schreibt Freud.75 Lacan bezeichnet die Psychoanalyse ironisch 153

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als moterialistisch. Trotz und wegen dieser Anspielung auf den Materialismus, auf etwas Handfestes, wird etwas Unsichtbares als wirksam entdeckt, die Übertragung. Sie ist zwar bemerkbar, aber nur in der Form der Ungleichzeitigkeit (der Analysant bemerkt etwas anderes als der Analytiker im gleichen Moment) oder der Nachträglichkeit, ein Bemerken, das durch eine Intervention angeregt wird. Alles Unsichtbare steht zunächst unter Verdacht, nicht exakt zu sein, nicht klar und distinkt, potentiell wahnhaft zu sein. Freud markiert das an der Figur des Lehrers in der Medizin und in der Psychoanalyse: »So spielt der medizinische Lehrer vorwiegend die Rolle eines Führers und Erklärers, der Sie durch ein Museum begleitet, während Sie eine unmittelbare Beziehung zu den Objekten gewinnen und sich durch die eigene Wahrnehmung von der Existenz der neuen Tatsachen überzeugt zu haben glauben. – Das ist leider alles anders in der Psychoanalyse«.76

Unsichtbar sind aber zunächst einmal das Denken, Fühlen, Imaginieren der anderen, der Bezug zwischen Signifikant und Signifikat, der Signifikanten untereinander, das Subjekt. Ist nicht auch Lesen eine halluzinatorische Praxis, ebenso das Schreiben, das Sprechen, das Hören immer wieder geht es um Signifikate, die nicht da sind, die evoziert werden, weil man ohne diese Effekte der verketteten Signifikanten überhaupt nichts versteht? Mehr und mehr in ihrer Entwicklung beharrt die Psychoanalyse darauf zu erforschen, was nicht sichtbar wird, was gesehen, gehört, gesprochen wird, was den zentraleuropäisch historisch ausgebildeten Sinnen und den an sie anknüpfenden Formen des Wissens nicht zugänglich ist. So trifft Freud auf die grundsätzlich halluzinatorische Struktur der Wahrnehmung: »Ein wesentlicher Bestandteil dieses Erlebnisses (gemeint ist das Befriedigungserlebnis, das den inneren Reiz aufhebt, die Unruhe nimmt, Gewissheit, bzw. Befriedigung verspricht, KJP) ist das Erscheinen einer gewissen Wahrnehmung (der Nahrung im Beispiel), deren Erinnerungsbild von jetzt an mit der Gedächtnisspur der Bedürfniserregung assoziiert bleibt. Sobald dies Bedürfnis ein Nächstesmal auftritt, wird sich, dank der hergestellten Verknüpfung, eine psychische Regung ergeben, welche das Erinnerungsbild jener Wahrnehmung wieder besetzen und die Wahrnehmung selbst wieder hervorrufen, also eigentlich die Situation der ersten Befriedigung wiederherstellen will (Gewissheit ergibt sich hier aus Erinnerung, Gewissheit ist Wissen im Perfekt, KJP). Eine solche Regung ist das, was wir einen Wunsch heißen das Wiedererscheinen der

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Wahrnehmung ist die Wunscherfüllung, [...] . Es hindert uns nichts, einen primitiven Zustand des psychischen Apparats anzunehmen, in dem dieser Weg wirklich so begangen wird, das Wünschen also in Halluzinieren ausläuft. Diese erste psychische Tätigkeit zielt also auf eine Wahrnehmungsidentität, nämlich auf die Wiederholung jener Wahrnehmung, welche mit der Befriedigung des Bedürfnisses verknüpft ist«.77

Das Sehen sehen zu wollen (wie das in der Wissenschaft präferiert wird) hat demnach zumindest regressive Züge, einen Wunsch nach Unmittelbarkeit gemischt mit einer Furcht davor. Denn es geht um eine Annäherung an das Reale dabei, etwas, das weder mit Imaginationen noch Symbolischem verbunden ist. Bezogen auf die Wahrnehmung ist das ihr Kern, auch ihr Ausgangspunkt. Dieser Kern äußert sich als Widerstand, produktiv und hinderlich zugleich. Vielleicht geht dieser Kern auf etwas Traumatisches zurück, einen Einfall, etwas Eindringendes. Es hinterließ eine Narbe, eine Spur, eine Differenz, eine zu schließende Öffnung. Lacan legt die Vermutung nahe, dass das Trauma erst eine Ahnung aufkommen lasse davon, dass es eine Gestalt gebe, etwas wie vorläufig auch immer Geschlossenes. Dieser Einfall – nennen wir es so, es könnte aber auch ein Unfall sein, irgendetwas dazwischen –, erzeugt einen Widerstand, setzt eine Grenze, eine Empfindlichkeit stammend aus der »Vorzeit«.78 Als Freud beginnt, das aufzunehmen, was mit vorhandenen wissenschaftlichen Mitteln nicht zu formulieren ist, ohne deren Errungenschaften zu verleugnen, wird er damit konfrontiert, was Lacan 1955 so formulieren kann: »Jegliche menschliche Erkenntnis hat ihre Quelle in der Dialektik der Eifersucht, die eine ursprüngliche Manifestation der Kommunikation ist«.79

Die »Quelle« liegt in einer Relation, kommt nicht aus der Sichtbarkeit, sondern geradezu aus dem Ungesehenen (invidia). Lacan bringt das im Zusammenhang mit einem »grundlegenden Transitivismus, der sich in der Tatsache ausdrückt, daß ein Kind, das ein anderes geschlagen hat, sagen kann – der andere hat mich geschlagen. Nicht das es lügen würde – es ist der andere, buchstäblich«.80

Das hat etwas zu tun mit der Eigentümlichkeit eines menschlichen Objektes. Das menschliche Objekt ist in gewisser Weise neutral. Es ist nicht eindeutig zugeordnet zu einem Subjekt etwa durch eine chemische Gesetzmäßigkeit. Ein Objekt wird für einen Menschen zum Objekt, wird

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ein menschliches Subjekt, dadurch, dass es Objekt des Begehrens des Anderen ist. Dadurch ist im Objekt eine ursprüngliche Andersheit eingeschlossen, es ist für jemand Anderes. Das ist das, was das menschliche Subjekt erkennen muss. Eine für die meisten wissenschaftlichen Verfahren unformulierbare Einsicht. Diese Erkenntnis verletzt auch eindeutige Abgrenzungsmöglichkeiten, so wie sie etwa in Eigentumsvorstellungen Voraussetzungen sind. So ist es m.E. kein Zufall, sind diese Schleusen einmal geöffnet, zwischen den Protagonisten in der Entwicklung solcher Gedanken zu Plagiatsvorwürfen kommt. »Die sogenannte paranoische Erkenntnis ist eine in der Rivalität der Eifersucht begründete Erkenntnis, im Laufe dieser ersten Identifizierung, die ich vom Spiegelstadium her zu definieren versucht habe. Diese rivalitätshafte und konkurrenzhafte Basis am Grund des Objekts ist genau das, was im Sprechen überwunden wird, sofern es den Dritten angeht. Das Sprechen ist immer Pakt, Einverständnis, man versteht sich, man ist einverstanden – das gehört dir, das gehört mir, das ist dies, das ist jenes. Aber der aggressive Charakter der ursprünglichen Konkurrenz hinterläßt seine Marke in jeglicher Art von Diskurs über den kleinen Anderen, über den Anderen als Dritten, über das Objekt. Nicht umsonst heißt das Zeugnis im Lateinischen testis, legt man immer bei seinen Hoden schwörend Zeugnis ab. In allem, was der Ortung des Zeugnisses angehört, gibt es immer Verpflichtung des Subjekts und virtuellen Kampf, in Bezug auf den der Organismus immer latent ist«.81

Sieht man auf die Entwicklung der Psychoanalyse so wird im Sozialen, also in ihrer Existenz als psychoanalytische Vereinigung in sich wandelnden Gesellschaften, in den Kontakten der Analytiker untereinander, in der Theoriebildung und in jeder einzelnen psychoanalytischen Sitzung das Paranoische sich durchziehen. Umso deutlicher werden die umgebende Wissenschaft und ihre Institutionen erkennbar als solche, die scheinbar Mittel und Wege gefunden haben, den Wahn auszuschließen. Es werden aber auch die Kosten deutlich: Die Nicht-Erkennbarkeit des Wahns im Innersten der Wissenschaft selber. Freud bemerkt 1911 in seiner Analyse der Paranoia,82 dass ihn der Umgang mit dem Wahn als Autor, als identifizierbare Ursache in Zweifel zieht. Er befürchtet den Vorwurf des Plagiats, es verschwimmen die Grenzen. Nur ein Freund könne bezeugen, dass er der wahre Autor sei. Dessen Name wird nicht genannt, aber dass er ein Fachmann sei.83 Das muss man glauben. In ein paar Zeilen wirbelt Freud hin und her durch mehrere (grammatischen) Zeiten. Es gibt eine Zeit vor dem Wahn, jedenfalls könne das jemand bezeugen. Im Moment des Schreibens sehe er 156

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sich beim zukünftigen Leser dem Verdacht des Wahns ausgesetzt, wo er doch gerade versuche, diesen am schriftlich vorliegenden Fall zu analysieren.84 In Frage stehen sichere Abgrenzungen. Ersetzt wird diese durch ein Angebot anonymer Zeugenschaft. Der Zeuge ist ein Freund, jemand mit dem er sich versteht, der ihm zugewandt ist. Mit diesem »Freund« ist wahrscheinlich Jung gemeint, der ihm das Werk Schrebers hat zukommen lassen. Die Herausgeber der Studienausgabe weisen aber auch daraufhin, dass Freud auf einer Sizilienreise mit Ferenczi darüber gesprochen hat. Jung wird bald nicht mehr der Freund sein und Gewissheit in der Leugnung der Bedeutung des Geschlechts oder wie Jung sagt, der Sexualität, erlangt haben. – »Geschlecht« ist Anzeichen der Unmöglichkeit, sprachlich etwas genau und sicher zu fassen und deshalb ganz real beunruhigend. – Ferenczi steht immer wieder im Verdacht, sich mit hoffnungslosen Fällen abzugeben, Psychosenbehandlung durchzuführen, obwohl das nicht geht, nach Meinung Freuds, er steht im Verdacht des Größenwahns, korrespondiert aber immer weiter über dieses Problem als Problem, über das Risiko verrückt zu werden als Merkmal der Psychoanalyse. Die Entzweiung zwischen Freud und Jung hat als wichtiges Moment einen Streit um die Autorschaft. Jones beschreibt das so: Im November 1912 trafen sich Freud und Jung in München, um über fachliche und persönliche Unstimmigkeiten zu reden. Jones berichtet, dass Freud Jung und anderen Schweizern vorwarf, Artikel über Psychoanalyse zu schreiben, ohne ihn zu erwähnen. »Jung erwiderte, sie hätten es für unnötig gehalten, da dieser so bekannt sei; aber Freud sah darin die ersten Vorboten der Entzweiung, die ein Jahr später folgen sollte. Er beharrte auf seinem Standpunkt und nahm die Sache persönlich. Plötzlich stürzte er zum Schrecken seiner Freunde ohnmächtig zu Boden. Der kräftige Jung trug ihn schnell zu einer Couch in der Halle, wo er bald wieder zu sich kam. Als er das Bewußtsein wieder erlangte, waren seine ersten Worte: ›Es muß süß sein zu sterben‹ ... «.85

Entzweiung deutet sich an. Freud schreibt zu diesem Vorfall an Jones einen Monat später, u.a. dass die Ohnmacht mit der Aktualisierung seiner Trennung von Fließ zusammenhänge, und »Am Grunde steckt ein Stück eines unbeherrschten homosexuellen Gefühls dahinter«.86 Der stärkere, der sich seiner selbst gewissere Jung trägt Freud, den zwanghaften Hysteriker, auf die Couch als Heilmittel.

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Bis in die letzten Briefe, die Freud und Ferenczi miteinander austauschen, geht es um die Aufrechterhaltung von Grenzen im Streit um die sogenannte »Kußtechnik«, Freud versucht Ferenczi zur Präsidentschaft zu verführen, wirft ihm »trotzige Selbstbehauptung«87 vor und reklamiert für sich die Funktion des Vaters. Im Brief vom 12.5.1932 fordert Freud Ferenczi auf: »Sie aber sollen die Trauminsel, auf der Sie mit Ihren Phantasiekindern hausen, verlassen und sich wieder in den Kampf der Männer mengen«.88 Der Verdacht des Wahnhaften auch hier.

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Die Fackel, Nr. 376/77 vom 30. Mai 1913, S. 21. Schneider, Manfred: »Kritik der Paranoia. Elias Canetti und Karl Kraus«, in: literaturkritik.de, 7.7.2005. www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=8320 vom 12.12.2005. Den Hinweis verdanke ich den genannten fragmentarischen Bemerkungen von Manfred Schneider. Kant, Immanuel: »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«, BA 145, 1798. Z.B. Freud, Sigmund: »Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides)« [1911], in: ders.: Gesammelte Werke [GW], Bd. VII, S. 315-320. Die Korrespondenz mit Ferenczi zeigt, dass dies auch ein Problem in der Kur wird und geblieben ist. Die genaueren Untersuchungen hierzu sind in Arbeit. – Der vorliegende Beitrag steht in einer Reihe von Untersuchungen des Autors zum Setting einerseits und zum Wahn andererseits: Pazzini, Karl-Josef: »Couch und Sessel. Entstehung und subversive Kraft des Setting«, in: ders./Gottlob, Susanne (Hg): Einführungen in die Psychoanalyse II. Setting, Traumdeutung, Sublimierung, Angst, Lehren, Norm, Wirksamkeit, Bielefeld 2006, S. 15-34; ders.: »Die fehlende Couch. Museum, Blick, Psychoanalyse«, in: Kugelmann, Cilly/Lepp, Nicola/Tyradellis, Daniel (Hg.): Psychoanalyse. Sigmund Freud zum 150. Geburtstag, Jüdisches Museum Berlin 2006, S. 49-66; ders.: »Das Undarstellbare des psychoanalytischen Prozesses macht erfinderisch – möglicherweise«, in: ders./Jankowiak, Tanja/Rath, Claus-Dieter (Hg.): Von Freud und Lacan aus: Literatur, Medien, Übersetzen. Zur »Rücksicht auf Darstellbarkeit« in der Psychoanalyse, Bielefeld 2006. S. 227-244; ders.: »Auslegung vor einem Anderen. Zur Erfindung des psychoanalytischen Settings«, in: Schäfer, Alfred/Wimmer, Michael (Hg.): Selbstauslegung im Anderen, Münster/New York/München/Berlin, 2006, S. 6180; ders.: »Aggressivität im Rahmen der psychoanalytischen Kur und der BildKünste«, in: Michels, André/Müller, Peter/Perner, Achim/Rath, Claus-Dieter (Hg.): Jahrbuch für klinische Psychoanalyse 6. Aggressivität, Tübingen, S. 241-280; ders.: »Zur Konstellation von Wahn, Wissen und Institution im psychoanalytischen Setting«, in: ders./Schuller, Marianne/Wimmer, Michael (Hg.): Wahn, Wissen, Institution. Undisziplinierbare Näherungen, Bielefeld 2005, S. 293-331; ders.: »Die Universität als Schutz für den Wahn«, in: Liesner, Andrea/Sanders, Olaf (Hg.): Bildung der Universität. Beiträge zum Reformdiskurs, Bielefeld 2005, S. 137-158. Freud, Sigmund: Briefe an Wilhelm Fließ. 1887-1904, hg. von Masson, Jeffrey M., Frankfurt am Main 1986, Brief 139, 21.09.1897, S. 284. Freud, Sigmund: »Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung« [1914], in: GW, Bd. X, S. 43-113, hier S.55. Auch aus diesem Grund hätte man das Freud-Jahr 2006, die Feier seines 150. Geburtstages, unter das Motto stellen können: »Freud Ja(hr), Psychoanalyse nein!«. Diesen Kalauer verdanke ich Claus-Dieter Rath. Freud wurde als Genie und Schriftsteller

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geehrt. Die Psychoanalyse historisch, verstanden als vergangen, als eine Errungenschaft apostrophiert. Nachtragen möchte ich, dass die Analysantin von einem anderen Analytiker als »psychotisch« diagnostiziert war, sie brachte das schriftlich mit. »[...]: das Wahre liegt ›im Schnitt‹ / ›dans le coup‹, aber an welchem Punkt?« Lacan, Jacques: »Vortrag über die psychische Kausalität« [1946], in: Schriften III, Olten 1980, S. 123-171, hier S. 138. In Anlehnung an Freuds Empfehlung: »Ich kann den Kollegen nicht dringend genug empfehlen, sich während der psychoanalytischen Behandlung den Chirurgen zum Vorbild zu nehmen, der alle seine Affekte und selbst sein menschliches Mitleid bei Seite drängt und seinen geistigen Kräften ein einziges Ziel setzt: Die Operation so kunstgerecht als möglich zu vollziehen. Für den Psychoanalytiker wird unter den heute waltenden Umständen eine Affektstrebung am gefährlichsten, der therapeutische Ehrgeiz, mit seinem neuen und viel angefochtenem Mittel etwas zu leisten, was überzeugend auf andere wirken kann. Damit bringt er nicht nur sich selbst in eine für die Arbeit ungünstige Verfassung, er setzt sich auch wehrlos gewissen Widerständen des Patienten aus, von dessen Kräftespiel die Genesung in erster Linie abhängt. […]«.Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung. In: GW, Bd. VIII, S. 380f. Vgl. hierzu: Lacan, Jacques: Vorschlag vom 9. Oktober 1967, Erste Fassung (Auszug). Übers. v. Norbert Haas. In: Der Wunderblock 14, 1986, S. 3-5. – Mai Wegener gibt als Übersetzerin von Eric Porge (Schöne Paranoia. Wilhelm Fließ, sein Plagiat und Freud gefolgt von »In eigener Sache« von Wilhelm Fließ, Wien 2005, S. 187 Anm 4) die verschiedenen Übersetzungsmöglichkeiten für das Französische »sujet supposé savoir« an: »Subjekt, das wissen soll oder wörtlicher: Subjekt, dem Wissen unterstellt ist, Auch die Lesung, dass sowohl Subjekt als auch Wissen unterstellt sind, ist möglich«. Siehe dazu weiter unten. Idee aus dem gemeinsamen Seminar mit Hinrich Lühmann über das Lehren (Hamburg Oktober 2003). Lacan, Jacques: Über die paranoische Psychose in ihren Beziehungen zur Persönlichkeit und Frühe Schriften über die Paranoia [1932], übers. von Gondek, Hans-Dieter, hg. von Engelmann, Peter, Wien 2001. International Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD) ist von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben. Schöpf, Josef: Psychiatrie für die Praxis. ICD-10-Diagnostik [1996], Berlin/Heidelberg, 2. Aufl. 2003, S. 131. Ebd., S. 130. »Pour l’usage critique que j’en ferai à l’instant je resterai près de Descartes en posant la notion du vrai sous la forme célèbre que lui a donné Spinoza: Idea vera debet cum suo ideato convenire.« Lacan, Jacques: »Propos sur la causalité psychique«, in: ders. Écrits, Paris 1966, S. 151-193, hier S. 154. Vgl. hierzu ebd., S. 154f. Oder auch Lacan, Jacques: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Seminar XI, übers. von Haas, Norbert, Olten 1978, S. 144ff. Vgl. Kleiner, Max: »Der borromäische Knoten und andere Figuren des Realen«, in: Riss. Zeitschrift für Psychoanalyse. Freud Lacan. Psychosen 53, 17. Jg., H. 1, 2002, S. 87-106, hier S. 96. »Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: dass sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann; denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft« Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Vorrede, 1781, A VII, xxx. Lacan, Jacques: Vortrag über die psychische Kausalität. Übers. v. Hans-Joachim Metzger, in: Schriften III, 1946, S. 123-171, hier S. 153. Dieses taucht im alltäglichen Reden oft unter der Chiffre »menschliches Versagen« auf, das zu verdinglichten, technischen Lösungen Anlass gibt. Für die schwierige Unterscheidbarkeit von Paranoia und wissenschaftlichem Experiment gibt es einen strukturellen Beleg zumindest in der Wissenschafts- und Wahngeschichte, dafür geben Hahn, Person und Pethes zahlreiche Belege. Z.B. : »Staudenmaiers Selbstversuche stellen den letzten Schritt in der hier dokumentierten Koevolution

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zwischen Experiment und Paranoia dar. Vgl. Hahn, Torsten/Person, Jutta/Pethes, Nicolas (Hg.): Grenzgänge zwischen Wahn und Wissen. Zur Koevolution von Experiment und Paranoia 1850-1910, Frankfurt am Main/New York 2002, S. 12. »Zuhören anstatt fasziniert oder auch mit wissenschaftlich gewappnetem Auge hinzusehen bedeutet auch, sich vom direkten Kontakt mit dem Körper des Anderen zu distanzieren und der somatischen Ausdrucksweise des Patienten eine andere, sprachliche, zu unterstellen. Die Pfadfinderinnen der ›talking cure‹, die inzwischen beinahe zu Romanfiguren erkorenen ersten hysterischen Patientinnen, wie Elisabeth von R. und Berta Papenheim, erwiesen ihm (Freud, KJP) dabei teure Dienste, die er mit seiner lebenslangen Arbeit zurückgezahlt hat« (Hamad, Annemarie: »›Sag mir, was soll das bedeuten?‹ Das Symptom: Maske des Begehrens«, in: Jahrbuch für klinische Psychoanalyse 2. Das Symptom, 2000, S. 19-34, hier S. 19). Freud, Sigmund: Briefe an Wilhelm Fließ. 1887-1904, a.a.O., Brief. 139 vom 21.9.1897, S. 284. Widmer, Peter: Subversion des Begehrens. Jacques Lacan oder Die zweite Revolution der Psychoanalyse, Wien, 2. erw. Aufl. 1997, S.135. Ähnliches war in Bezug auf das die Wissenschaft fundierende Sehen 1668 mit der Entdeckung des blinden Flecks durch Edmé Mariotte geschehen. Es hat an die 200 Jahre gedauert, ehe nicht nur eine physiologische Erklärung vorgelegt werden konnte, sondern auch wissenschaftstheoretisch zur Aufhebung des theoretischen Desaster von 1668 eine paradoxiefähige Theorie entwickelt wurde (auf diesen Fall bezogen z.B. von Georg Spencer Brown). In der Zwischenzeit wurde (und wird) weiter so getan, als sei das Auge eine camera obscura. Siehe hierzu genauer: Bexte, Peter: »›I see, I am blind‹ – befleckte Formen der Wahrnehmung«, in: Trajekte 11, 6. Jg., September 2005, S. 3441. Vgl. Porge, Erik: Schöne Paranoia, a.a.O., S. 95f. Im Vorwurf des Plagiats, KJP. Porge weist darauf hin, dass die Gründung, bzw. Institutionalisierung der Mittwochgesellschaft durch Freud im Zusammenhang der Plagiatsaffäre zu sehen ist und zitiert dabei eine Mitteilung von G.H. Melenotte an ihn. Siehe: Porge, Erik: Schöne Paranoia, a.a.O., S. 14. Ebd., S. 15. Ebd., S. 164. Kleiner, Max: »Der borromäische Knoten und andere Figuren des Realen», in: Riss. Zeitschrift für Psychoanalyse. Freud Lacan. Psychosen, 53, 17. Jg., H. 1, 2002, S. 87106, hier S. 92 (Der gesamte Absatz ist von diesen Ausführungen Kleiners inspiriert). »Weit davon entfernt, offen anzugreifen, wählt die analytische Mäeutik einen Umweg, der insgesamt darauf hinausläuft, im Subjekt eine gelenkte Paranoia zu induzieren. Dies ist wohl tatsächlich einer der Aspekte des analytischen Handelns, die Projektion dessen zu handhaben, was Melanie Klein die ›bösen inneren Objekte‹ nennt, ein sicherlich paranoischer Mechanismus, der hier jedoch gut systematisiert, irgendwie gefiltert und maßvoll abgedichtet ist«. Lacan, Jacques: »L’aggressivité en psychanalyse. Rapport théorique présenté au XIe congrés des psychanalystes de langue française, réuni a Bruxelles à la mi-mai 1948«, in: Écrits, Paris 1966, S. 101-124, S. 108 (private Übersetzung von Hans Naumann, an einigen Stellen überarbeitet von KJP). »Wenn Lacan sagt: ›Im Drama der Beziehung zwischen dem Begehren des Subjekts und dem Begehen des Anderen bildet sich die eigentliche Struktur, nicht nur die der Neurose, sondern jeder analytisch definierten Struktur‹ (Lacan, J.: Le désire et ses interpretations, unveröffentlicht, Seminar, Vortrag vom 10.6.1959), so ist der Gebrauch des Wortes Drama hier vielleicht nicht zufällig. Denn ein Drama ist eine szenische Darstellung, d.h. eine Verlegung, eine Übertragung des Erlebten und Empfundenen auf eine andere Szene, die deshalb spannungsgeladen und dramatisch ist, weil jedes gesprochene Wort in seiner Vieldeutigkeit das Subjekt auf ›Abwege‹ vom Diskurs des Anderen führt, der es nichts desto weniger bestimmt« (Hamad, Annemarie: »›Sag mir, was soll das bedeuten?‹ Das Symptom: Maske des Begehrens«, in: Jahrbuch für klinische Psychoanalyse 2. Das Symptom, 2000, S. 19-34, hier S. 22). Vgl. hierzu: Gorsen, Peter : »Salvador Dalí, der ›kritische Paranoiker‹«, in: ders. (Hg.): Kunst und Krankheit. Metamorphosen der ästhetischen Einbildungskraft, Frankfurt am

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Main 1980, S. 213-316 und Kadi, Ulrike: Bilderwahn. Arbeit am Imaginären, Wien 1999, S. 31-37. Vgl. hierzu Ratmoko, David: »Die dämonische Wiederkehr des Verworfenen«, in: RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse. Psychosen, Nr. 53, 2002, S. 31-65, hier S. 33. Allerdings kommt Ratmoko in seiner Darstellung der Arbeit Freuds und Lacans gerade an dieser Stelle zu einigen Schiefheiten in Bezug auf die Behandelbarkeit der Paranoia. Ich gehe davon aus, dass die drei von Lacan ausgearbeiteten klinischen Strukturen, von anderen wie Juranville (Lacan und die Philosophie, München 1990) auch als existentiale Strukturen bezeichnet, der Neurose, der Perversion und der Psychose in jedem Subjekt präsent sind. Ihre jeweilige Mischung kennzeichnet die Gesamtstruktur des Subjektes. Sie ist nicht als fest vorzustellen, sondern steht in einem funktionalen Zusammenhang zur jeweiligen Herausforderung, die eine »Entscheidung« herbeiführt. Vielleicht auch das genus. Hier ist der Analytiker durchaus eingeschlossen; er muss allerdings vermeiden, dies im Setting mit dem Analysanten zu bearbeiten. Genau aus dem Grund, sind die oben erwähnten anderen Praxisformen der Psychoanalyse notwendig. Der reale Anteil wird durch die Ausrichtung der Kur, die Einrichtung des Settings, kurz durch die Ethik zum größten Teil auf eine andere Zeit und in einen anderen Raum verlegt. Das heißt Abstinenz. Nur die Tatsache, dass das nicht ganz gelingt, hält die Kur am Laufen. Standard leitet sich von Standort ab. »So verschuldet nicht die Unzulänglichkeit der Analysemethoden die Ohnmacht des Arztes/Analytikers, sondern letztere entsteht vielmehr aus der Verdoppelung der Methode selbst ...« (Ratmoko, David: »Die dämonische Wiederkehr des Verworfenen«, a.a.O., S. 33) Siehe unten. Hier findet sich im Übrigen eine »wahnsinnige« Herausforderung: Im Prinzip ist eine Liebesbeziehung inklusive Sexualität zu allen Menschen möglich außer einem oder einer (je nach Kultur ein paar mehr). Der Analytiker gehört nicht dazu. Er wird aber durch das Setting ausgeschlossen (ähnlich wie der Arzt oder der Lehrer). Das bietet die Chance, dass sich der Analysant ausführlich mit der Schwierigkeit auseinandersetzen kann, die diese Freiheit mit sich bringt. Deren Einschränkung ist nicht von Natur gegebenen, aber vom Gesetz her. Einmal gewahr der Tatsache, dass nun im Prinzip unüberschaubare Möglichkeiten der auch sexuellen Bindung bestünden, davon aber gleichzeitig eine oder nur wenige zu realisieren sind, ist der Ausgangspunkt für manche Wahnbildung. In der benignen Form besteht sie etwa darin, dass die Sterne, die Gene oder wer immer, diese und jene Konstellation vorgezeichnet haben. Siehe hierzu: Michels, André: »Angst, Zeit und psychische Struktur«, in: RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse, Nr. 42, H. 2, 1998, S. 87-116. Ratmoko, David: »Die dämonische Wiederkehr des Verworfenen«, a.a.O., S. 34. Es bleibt anzumerken, dass »Analysand« gerade in diesem Zusammenhang mit »t« geschrieben werden müsste. Siehe hierzu auch: »Das Subjekt ist nicht länger das Licht der Vernunft, das dem nichttransparenten, undurchdringlichen Stoff (der Natur, der Tradition usw.) gegenübergestellt ist; sein innerster Kern, die Geste, die den Raum für das Licht des lógos öffnet, ist absolute Negativität, die ›Nacht der Welt‹, der Punkt des schieren Wahnsinns, in dem phantasmagorische Erscheinungen von Partialobjekten ziellos umherstreifen. Folgerichtig gibt es keine Subjektivität ohne diese Geste des Zurückweichens; deshalb hat Hegel völlig Recht, wenn er die übliche Frage, wie der Fall/die Regression in den Wahnsinn möglich sei, umkehrt: Die entscheidende Frage lautet vielmehr, wie das Subjekt fähig ist, sich aus dem Wahnsinn emporzuarbeiten und die ›Normalität‹ zu erreichen. Das heißt: dem Rückzug – ins Selbst – , dem Durchtrennen der Verbindungen zu den Umwelten, folgt die Konstruktion eines symbolischen Universums, die das Subjekt auf die Realität als eine Art Substitutionsformation projiziert, die dazu bestimmt ist, uns für den Verlust des unmittelbaren, präsymbolischen Realen zu entschädigen. Ist jedoch nicht, wie Freud in seiner Analyse von Daniel Schreber geltend macht, die Herstellung einer Substitutionsformation, die das Subjekt für den Verlust der Realität entschädigt, die knappste Definition der paranoischen Konstruktion als Versuch des Sub-

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jekts, sich selbst vom Zerfall seines Universums zu heilen?« (Zizek, Slavoj: Die Tücke des Subjekts, Frankfurt am Main 2001, S. 51) Freud, Sigmund: »Die Frage der Laienanalyse« [1926], in: Studienausgabe [STA], Bd. Ergbd., S. 271-349, hier S. 277. Sartre, Jean-Paul: »Der Narr mit dem Tonband oder die psychoanalysierte Psychoanalyse«, in: Neues Forum Wien, Nr. 16, 1969, S. 705-709. Stil heißt auch sich vom »naiven Realismus des Gegenstandes« zu befreien, damit zu leben und zwar in einer angemessenen Form, dass es nichts unbestreitbar Erkennbares gibt, dabei – so schreibt Lacan schon sehr früh auch mit Bezug auf die »paranoisch kritische Methode« Dalís – sei man einem Kräftespiel unterworfen, das zu überraschenden Auswegen bringen könne. Es geht also nicht um einen frei zu wählenden Stil, sondern um einen mimetischen, der keine Nachahmung ist, sondern durch die minimale Setzung einer Differenz dazu hilft, Angst zu bannen, bevor sie in agierende Gewalt umschlägt. Sartre, Jean-Paul: »Der Narr mit dem Tonband oder die psychoanalysierte Psychoanalyse«, a.a.O., alle Zitate bis hierhin S. 705 (Hervorhebungen im Original). Vgl. Lacan, Jacques: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion« [1949]. Übers. v. Peter Stehlin, in: ders. (Hg.): Schriften I, Olten 1973. Lacan, Jacques: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion«, a.a.O., S. 68. Sartre, Jean-Paul: »Der Narr mit dem Tonband oder die psychoanalysierte Psychoanalyse«, a.a.O., S. 705 (Hervorhebungen im Original). Vgl. hierzu Pazzini, Karl-Josef: »Zur Konstellation von Wahn, Wissen und Institution im psychoanalytischen Setting«, a.a.O., S. 298. Vgl. hierzu: Freud, Sigmund (1914): »Bemerkungen über Übertragungsliebe« [1914], in: STA, Bd. Ergbd., S. 217-230. »Und der Bremer Hirnforscher Gerhard Roth will noch in diesem Jahr Ernst machen und als Erster eine komplette Psychoanalyse-Sitzung ›live‹ im Kernspintomographen verfolgen« heißt es in einem Artikel von Ulrich Schnabel mit dem Titel »Traum und Deutung« in der Zeit vom 23.02.2006 Nr.9. Amüsante und instruktive Überlegungen zur Funktion der Tür in der Ordination finden sich in Freud, Sigmund: »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse«, in: STA, Bd. I, 16. Vorlesung, S. 248f. Vgl. beispielhaft: Freud, Sigmund: »Wege der psychoanalytischen Therapie« [1918], GW, Bd. XII, S. 184-186. Freud, Sigmund: »Zur Einführung des Narzißmus«, GW, Bd. X, S. 43f. Dieses Thema schlägt Lacan früh an und kommt immer wieder darauf zurück. Programmtisch findet sich das in Lacan, Jacques: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion«, a.a.O. Er schreibt von der »ontologischen Struktur der menschlichen Welt, die in unsere Reflexionen über paranoische Erkenntnis eingeht« und auf S. 66: »Wir haben in der gesellschaftlichen Dialektik, welche die menschliche Erkenntnis als eine paranoische strukturiert, den Grund gezeigt, der diese Erkenntnis im Kraftfeld des Begehrens autonomer macht als die des Tieres, der sie aber auch auf jenes ›bißchen Realität‹ beschränkt, das die surrealistische Unzufriedenheit an ihr denunziert.« Oder S. 68: »Diese (die Methode der symbolischen Reduktion, KJP) errichtet in den Abwehrhandlungen des Ich (défenses du moi) eine genetische Ordnung, die dem von Anna Freud im ersten Teil ihres großen Werks formulierten Wunsch entspricht, und verlegt die hysterische Verdrängung und deren wiederholte Rückkehr – entgegen einem oft geäußerten Vorurteil – in ein archaischeres Stadium als die zwangsneurotische Inversion und deren isolierende Vorgänge und zeigt darüber hinaus, daß diese der paranoischen Entfremdung vorausgehen, welche mit der Wendung vom Spiegel-lch (je spéculaire) zum sozialen Ich (je social) zusammenhängt«. Vgl. Freud, Sigmund: »Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides)«, a.a.O., S. 315-320. Das ist so vorstellbar: Angst oder Panik entstehen bei Grenzenlosigkeit, weil die fehlende Kontur die Angst der Fragmentierung hervorruft, aber auch in der Gewissheit des Wahns, weil man sie aggressiv, zuweilen missionarisch verteidigen muss. Nur ein nicht betonierter Einschluss von Wahnsinn kann Angst mildern. Einem solchen Einschluss mangelt es an Sicherheit oder Gewissheit. Es entsteht keine auch andere zwin-

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gende Kohärenz. Dies macht ein dauerndes Gespräch notwendig. Die Milderung der Angst tritt aber gerade durch den Mangel an Kohärenz und Bestimmtheit ein, weil diese ein strukturelles Äquivalent einer Trennung von der Mutter ist. Ein Nichtgelingen dieser Trennung produziert Angst, sie verhindert Sehnsucht, Aufbruch, unablässiges Wünschen. Ein plötzlicher psychotischer Einbruch kann z.B. auch dann geschehen, wenn am Ort der Sehnsucht eine Komplettantwort erscheint, eine Er- oder Abfüllung. Vgl. etwa Arnheim, Rudolf: »Brunelleschis Peepshow«, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, Nr. 1, 1978, S. 57-60 und Edgerton, Samuel Y.: The Renaissance Rediscovery of Linear Perspective, New York/Evanston/San Francisco/London 1975. Simson, Otto von: »Über die Bedeutung von Massaccios Trinitätsfresko in S. Maria Novella«, in: Jahrbuch der Berliner Museen, Nr. 8, 1966, S. 119-159. Vgl. hierzu Most, Glenn W.: Doubting Thomas, Cambridge/Massachusetts/London, England 2005. Siehe hierzu Lacans pointierte Äußerung: »Die Kommunikation ohne eigene Interessen ist äußerstenfalls nur ein verfehltes Zeugnis, d.h. etwas, mit dem alle einverstanden sind. Jedermann weiß, daß das Ideal der Wissenstransmission ist. Das ganze Denken der Wissenschaftsgemeinschaft beruht auf der Möglichkeit einer Kommunikation, deren Ausgang sich in einem Experiment entscheidet, angesichts dessen jedermann einverstanden sein kann. Die Einführung selbst des Experiments ist Funktion des Zeugnisses«. Lacan, Jacques: Die Psychosen. Das Seminar von Jacques Lacan, Buch III (1955-1956). Übersetzt von Michael Turnheim, Weinheim/Berlin 1997, S. 49 (Übersetzung teilweise von mir geändert; KJP). Den Hinweis auf diese auf Foucaults Formulierungen zurückgehenden Überlegungen verdanke ich im Hinblick auf die Paranoia der Arbeit von David Ratmoko: »Die dämonische Wiederkehr des Verworfenen«, a.a.O., vgl hier insbesondere die S. 54ff. Foucault schreibt in Die Ordnung der Dinge (Frankfurt am Main 1971) davon, dass seit der Zeit der Stoa das System der Zeichen in der abendländischen Welt ternär war. Seit dem siebzehnten Jahrhundert wird sie binär »In der Renaissance ist die Organisation eine andere und viel komplexere. Sie ist ternär, weil sie sich des formalen Gebietes der Zeichen, dann des Inhaltes, der durch diese Zeichen signalisiert wird, und der Ähnlichkeiten bedient, die diese Zeichen mit den bezeichneten Dingen verbinden. Aber da die Ähnlichkeit ebenso die Form der Zeichen wie ihr Inhalt ist, lösen sich die drei getrennten Elemente dieser Distribution in einer einzigen Figur auf« (S. 75). »Was versicherte ihn [Aristoteles, KJP], in der Natur, der Nicht-Lüge des Anderen als real? – wenn nicht die Dinge, sofern sie immer an den gleichen Platz zurückkehren, und zwar die himmlischen Sphären [...].« Lacan, Jacques (1981): Die Psychosen, a.a.O., S. 80. In Shakespeares Der Kaufmann von Venedig leiht Shylock Antonio Geld für eine Hochzeit. Als Pfand vereinbart Shylock ein Pfund Fleisch aus Antonios Körper. Dieser willigt ein. Freud, Sigmund: »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse«, STA, Bd. I, S. 43 Ebd. Freud, Sigmund: »Die Traumdeutung«. GW,Bd. II/III, S. 571. Freud bezeichnet die Kindheit als prähistorische Vorzeit. Vgl. Freud, Sigmund: »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« [1905], STA, Bd. V, S. 37-146, hier S. 83. Lacan, Jacques (1981): »Die Psychosen«, a.a.O., S. 49. Ebd. Ebd., S. 50. Freud, Sigmund: »Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides)«, a.a.O., S. 315-320. Ebd., S. 315. »Es bleibt«, so Freud im Jahre 1911, »der Zukunft überlassen, zu entscheiden, ob in der Theorie mehr Wahn enthalten ist, als ich möchte, oder in dem Wahn mehr Wahrheit, als andere heute glaublich finden« (Ebd.). Jones, Ernest: Sigmund Freud. Leben und Werk. 3 Bde, München 1962. Band 1. S. 370 Ebd.

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Freud, Sigmund/Ferenczi, Sándor: Briefwechsel. Band III/2. 1925 bis 1933, hg. von Falzeder, Ernst/Brabant, Eva, Wien: Böhlau Manuskriptfassung 2003, Brief vom 13.12.1931, S. 437. Ebd., S. 456.

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Caravaggio, Michelangelo Merisi: Der ungläubige Thomas, 1597, Öl auf Leinwand, 107 x 146 cm, Sanssouci, Potsdam.

Erich Wulff

Wahn, Wissen und Gewissheit in Wittgensteins Spätwerk und die schizophrene Bodenlosigkeit In seinem posthumen Werk »Über Gewißheit«1 geht Wittgenstein der Frage nach, wie so etwas wie ein Boden, wie eine Grund gebende Sicherheit für ein Wissen überhaupt erst zustande kommen kann. Er gibt dazu weder eine kausale noch eine metaphysische Erklärung. Gewissheit ist für ihn aber auch nichts einfach Auffindbares, wenn man nur tief genug gräbt. Vielmehr versucht er, seinem sprachphilosophischen Ansatz entsprechend, Gewissheit, Boden und Grund herauszuarbeiten als die grammatischen Voraussetzungen für jede vernunftbegründete Erfahrung, und dann zu zeigen, wovon eine solche Grammatik der Gewissheit getragen wird, was sie selber trägt. Dazu muss er sie versuchsweise suspendieren. Zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen wird für Wittgenstein dementsprechend die Bodenlosigkeit und erklärungsbedürftig, wie so etwas wie Boden, wie Grund, wie Gewissheit überhaupt entstehen kann. Da bei Wittgenstein selbst an keiner Stelle von der schizophrenen Bodenlosigkeit die Rede ist, zunächst ein Hinweis darauf, was ich mit dem Begriff überhaupt meine. Einmal ist es die Situation des schizophrenen Kranken selber, der sich in einer solchen – grund- und bodenlosen – Situation vorfindet. Zum zweiten ist es aber auch meine eigene Angst, die Angst, die ich empfinde, wenn ich einem solch bodenlos gewordenen Kranken gegenübertrete, wenn ich ihn lächeln, sprechen, sich bewegen, irgend etwas handhaben sehe. Wenn ich derartige Erfahrungen überhaupt an mich heranlasse, dann wird nämlich schon dadurch allein der Boden, auf dem ich selber zu stehen meine, etwas brüchig und schwankend. Die Unheimlichkeit einer solchen Erfahrung von Gesunden ange165

Erich Wulff

sichts schizophrener Kranke hat Rümke »Praecox-Gefühl« genannt, und ihr sogar einen herausragenden diagnostischen Rang dort eingeräumt, wo es sich um ansonsten symptomarme Psychosen handelt. Lassen Sie mich nun den Versuch machen, etwas, was der Stimmung einer solchen Bodenlosigkeit wenigstens nahe kommt, mit Ihnen für ein paar Augenblicke nachzuspielen. Ist dieses weiße Blatt vor mir wirklich nur ein Notizzettel, der da liegt, damit ich später in der Diskussion Ihre Frage aufschreiben kann – oder aber soll mir damit ein Hinweis darauf gegeben werden, dass alles, was ich sage, ja darüber hinaus vielleicht sogar alles, was je gesagt worden ist und gesagt werden wird, weg und weiß gewischt werden soll? Ist dieser Raum, der aussieht wie ein ganz normaler Hörsaal, in Wirklichkeit vielleicht etwas ganz anderes: eine Hinrichtungsstätte, wo es genügt, auf einen Knopf zu drücken und Sie alle stürzen mit Ihren Stühlen in einen mit spitzen Stahlpfählen bestückten Abgrund, wo schon Fließbänder warten, um Ihre Leichen abzutransportieren? Und ist dieser Mann, der genauso aussieht wie Professor X, der uns alle hierher eingeladen hat, möglicherweise nur ein Schauspieler, der dafür bezahlt wird, Sie in Sicherheit zu wiegen, damit Sie so lange sitzen bleiben, bis genau dieses geschieht? Auch dass Sie sich hier in Hamburg aufhalten, glauben Sie vielleicht nur deshalb, weil Kulissen von Häuserfassaden und Straßen dem Panorama dieser Stadt so täuschend ähnlich nachgebaut worden sind – in Wirklichkeit haben Außerirdische Sie möglicherweise schon längst auf ihren Planeten – oder aber eine Verschwörerbande nach Moskau oder in die Wüste von Arizona verschleppt. Und schließlich: Wer bin ich eigentlich? Bin ich wirklich der am 6. November 1926 in Estland geborene Erich Wulff mit dessen Lebensgeschichte, der dieses Land 1939 mit seinen Eltern und Geschwistern verlassen musste, im ungeliebten Deutschland in den Zweiten Weltkrieg hineingeriet, danach in Köln und Paris studierte, in Marburg, Bayreuth und Freiburg seine Facharztweiterbildung absolvierte, später für 6 Jahre nach Vietnam ging, nach seiner Rückkehr sich in Gießen habilitierte, in Paris heiratete und 3 Kinder bekam, 1974 nach Hannover an die Medizinische Hochschule berufen wurde, und sich seit 1994 im Ruhestand befindet – oder hat man diese Erinnerungsspuren nur durch hochtechnisierte Mittel in mein Gedächtnis eingepflanzt? Vielleicht ist es aber auch nicht ganz so schlimm, und nur einige wenige dieser Erinnerungen wurden mir – statt anderer, die man dafür herausgeschnitten hat – über Nacht hineinoperiert, ohne dass ich wissen kann welche? Und bei diesem Körper mit seinen Bewegungen, mit den Hand166

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lungsimpulsen, die ihn in Bewegung setzen und halten, handelt es sich dabei um den Leib eines lebendigen Menschen – oder nur um einen elektronischen, ja vielleicht sogar bloß mechanisch aufgezogenen Roboter? Ja, wer denkt, handelt, bewegt sich, fühlt und empfindet hier: Ich oder ganz jemand anderes, der dieses fiktive Wesen ebenso wie dessen augenscheinliche Umgebung bloß gerade auf seinen Bildschirm projiziert hat? – Bin ich also wirklich, oder verschiebt irgend jemand mich bloß in einer von ihm entworfenen virtuellen Realität? Ja bin ich es überhaupt, der diese Fragen stellt oder läuft auch darin noch ein von irgend jemand anderem gesteuerter Mechanismus ab? Einzig zu dem Zwecke, mich glauben zu machen, dass ich es bin, der da fragt? Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht – aber mich überläuft bei solchen Vorstellungen, auch wenn einige von ihnen durch die Technologie der Virtualisierung inzwischen etwas realitätsnäher geworden sind, eine Gänsehaut – und zwar schon, wenn ich solche fundamentale Selbstverständlichkeiten wie dass ich Erich Wulff bin, dass Professor X Professor X, der Hörsaal ein Hörsaal ist, dass ich mich hier in Hamburg und überhaupt auf der Erde befinde, dass ich einen Organismus als Körper habe und schließlich, wenn auch vielleicht nicht der einzige, aber doch zum Mindesten immer auch Mitautor all meiner psychischen Akte, meines Denkens, Fühlens und Handelns bin – wenn ich dies alles also, worauf ich bisher gebaut habe, überhaupt einer möglicherweise realisierbaren anderen Alternative gegenüberstellen müsste. Schon der Gedanke, dass es auch anders sein könnte, lässt den Boden, auf dem ich zu stehen meine somit rissig, brüchig und schwankend werden, und bereits ein wenig Angst vor einer solchen Bodenlosigkeit aufkommen. Bei mir ist es nur die Angst davor. Indem ich diese Bodenlosigkeit plötzlich als etwas erfahre, was zwar auch mir zustoßen könnte, aber eben noch nicht zugestoßen ist – als eine Möglichkeit, aber noch nicht als die Lebenswirklichkeit meiner selbst. Beim Schizophrenen ist das anders: Er hat sich in eine derartige Bodenlosigkeit nicht bloß hineingedacht, sie ist ihm vielmehr wirklich unterlaufen, er spürt sie schon leibhaftig, sei es als eine Veränderung der Atmosphäre, sei es als eine reale Veränderung der Dinge, der Welt, ja der Grundlage seiner leiblichseelischen Existenz. Diese Veränderung kann sich auf nur einen bestimmten Erfahrungsbereich: die Familie, die Nachbarschaft, den Arbeitsplatz begrenzen, aber auch da erscheint sie zumeist unwiderruflich. Oft hat sie jedoch darüber hinaus die Neigung, sich auszudehnen, die ganze eigene Vergangenheit mit zu erfassen, so dass nicht nur einiges, 167

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sondern alles grund- und bodenlos erscheint, und zwar schon von jeher bis in alle Zukunft, bis in alle Ewigkeit hinein. Wo aber alles grund- und bodenlos wird, gibt es auch keine Welt mehr, sondern allenfalls dort, wo es sie eben noch zu geben schien, nur noch ihren eigenen Untergang. Die Empfindung, die solche Erfahrungen begleitet, hat deshalb auch nicht den Charakter der Furcht oder der Angst vor etwas oder um etwas, sondern eher denjenigen von Unheimlichkeit, Schrecken, Grauen, Entsetzen. Es ist nicht die Furcht vor dem Nichts, sondern das Grauen des als unmittelbar und gegenwärtig erfahrenen Nichts selber, das sich in allen solchen Wahrnehmungen und Selbstwahrnehmungen materialisiert. An dieser Stelle taucht die Frage auf, welche Art von psychischen Akten in der Lage wäre, einen Grund zu legen für die eigene Welt und Selbsterfahrung, und damit – jedenfalls für einen Moment – einen festen Boden zu garantieren. Wie sichern wir uns am besten ab gegen die uns in Schrecken versetzende Erfahrung der Grund- und Bodenlosigkeit? Und wenn es auf diese Frage eine Antwort gibt: Können solche sichernde, grundlegende psychische Akte fruchtbar gemacht werden auch für die Kommunikation mit Kranken, die sich in einem Zustand der schizophrenen Bodenlosigkeit befinden? Ähnliche Gedankenspiele wie diejenigen, denen wir uns eben überlassen haben, finden wir in Wittgensteins Spätwerk. Nach Descartes ist er derjenige Philosoph, der den Zweifel an scheinbar selbstverständlich vorgegebenen Gewissheiten am radikalsten zu Ende gedacht hat, ohne, wie es die Existenzphilosophen getan haben, das Ergebnis seiner Zweifel zunächst zu einem abstrakten Begriff des Nichts zu verallgemeinern und dann doch mit dem Passe par tout einer existentiellen Übernahme zuzudecken. Wittgenstein stellt einige von S.G.E. Moores als unbezweifelbar wahr präsentierte Erfahrungssätze auf die Probe wie etwa: Das ist meine Hand oder: Ich befinde mich hier auf der Erde und versucht dann, deutlich zu machen, welche Konsequenz es für die Gesamtheit unseres Wissens hat, wenn man die unbezweifelbar scheinende Gewissheit dieser Erfahrungssätze und einer Vielzahl anderer, die er selbst hinzufügt, nicht akzeptiert, sondern sie radikal in Frage stellt. Er fragt danach, was dann aus allen anderen Sicherheiten des Denkens und Lebens wird (234), um schließlich in die Frage zu münden, was denn den unbezweifelbar scheinenden Gewissheiten ihre Gewissheit verleiht, wo sie diese Gewissheit also hernehmen. Aus seinen Überlegungen ergibt sich schließlich, dass nicht nur eine Totalisierung des Zweifels, auch noch an den anscheinend 168

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grundlegendsten Gewissheiten, sondern bereits ihr In-Frage- und ZurDisposition-Stellen zu so etwas wie einem Auseinanderbersten des Realitätsbewusstseins führen kann. Wittgenstein benutzt dabei allerdings den Ausdruck »Realitätsbewusstsein« nicht, der aus dem Begriffsregister der deskriptiv-phänomenologischen Psychopathologie stammt. Stattdessen definiert er die erfahrene Realität als Sprachspiel. Unter Sprachspiel wird von ihm ein Regelsystem verstanden, dessen Elemente sich aufeinander beziehen und das von den Mitspielern gemeinsam dadurch, dass man mitspielt und seine Regeln beachtet, als gültig akzeptiert wird. Die Totalisierung und Radikalisierung des Zweifels führt nun, so Wittgenstein, zum Auseinanderbersten des Sprachspiels, des Regelsystems, das eine intersubjektive Realität erzeugt und gewährleistet. Dann müssten aber dem Wahnsinn strukturell ähnliche Erfahrungen sich auch dadurch konstruieren lassen, dass man Wittgensteins Überlegungen, die auch den fundamentalsten Gewissheitserfahrungen probeweise den Boden entziehen, einfach folgt. In Wittgensteins eigenen, dem philosophischen Zweifel entsprungenen Gedankengängen müssten sich also Formulierungen finden, die der Äußerung von schizophren Kranken zum Mindesten nahe kommen. Und wenn ich diese Gedankengänge und Äußerungen miteinander in Zusammenhang bringe, so müsste sich mir auch so etwas wie ein »Sprachspiel Wahnsinn« oder »Verrücktheit« mit seinen eigenen grammatischen Regeln eröffnen. Verzichten muss ich dabei allerdings auf eine Rekonstruktion des gesamten Wittgenstein’schen Denkansatzes, der sich im Laufe der Jahre, wie Hans-Rudi Fischer2 es gezeigt hat, von einer logisch-grammatischen Begründung aller Aussagen zu einer Begründung der Sprachlogik selber – d.h. auch der »Sprachspiele« – durch das Leben, Sprechen und Handeln, letztlich also durch eine »Grammatik der Lebensformen« gewandelt hat. Auch auf Wolfgang Tress’3 von Ernst Tugendhats4 inspirierte Interpretation von wahnhaften Zuschreibungen als »Quasi-Prädikaten« kann ich nicht eingehen. Ich beginne jetzt also damit, diejenigen Aussagen Wittgensteins hervorzuheben, vermittels derer, er zu zeigen versucht, dass derjenige, der »das ganze Sprachspiel nicht oder falsch spielt, die Gegenstände nicht mit Sicherheit erkennt.« (446) Wittgenstein meint damit, man könne in einem solchen Falle nicht mehr sicher sein, dass dasjenige, was die Gegenstände mir zu sein vorgeben, überhaupt noch auf das verweist, was sie in Wirklichkeit, d.h. für uns alle sind. Dessen muss ich mich dann erst versichern und deshalb sagen: »Der Gegenstand dort, der ausschaut 169

Erich Wulff

wie ein Baum, ist nicht die künstliche Imitation eines Baumes, sondern wirklich ein Baum.« (451) Versichern muss ich mich dann auch dessen, dass diese Hand da wirklich meine Hand ist, dass ich wirklich Erich Wulff heiße und dass die Erde vor hundert Jahren schon existiert hat. Denn dann gibt es eben keine zweifelsfrei wahren Erfahrungssätze mehr, wie S.G.E. Moore5 sie – inspiriert durch Descartes6 – aufzuzählen versucht hatte und die nun von Wittgenstein nochmals auf den Prüfstand gestellt werden. Denn nur wenn ich im Sprachspiel Realität, das in einer intersubjektiven Lebenswelt begründet ist, auch mitspiele, dessen Regeln also beachte, gewinne ich solche fundamentalen Sicherheiten, die nach Wittgenstein gerade nicht als überprüfungs- und versicherungsbedürftiges »Wissen«, sondern vielmehr als hinzunehmende »Gewissheiten« zu charakterisieren sind. Nur wenn ich das tue, wenn ich also mitspiele, nur dann kann ich sicher sein, »dass mein Freund nicht Sägespäne im Kopf oder im Leibe hat, obwohl ich dafür keine direkte Evidenz der Sinne habe« (281), dass »Automobile nicht aus der Erde« oder »Katzen nicht auf den Bäumen wachsen« (279), dass ich »einen Vater und eine Mutter gehabt habe« (282) oder dass »diese Farbe grün heißt« (624), dass dies ein Sessel ist (455), so sicher, dass ich nicht zu betonen brauche, dass »mein Körper nie verschwunden und nach einiger Zeit wieder aufgetaucht ist« (101), dass »meine Hände nicht verschwinden, wenn ich auf sie nicht aufpasse« (153). Nur dann ist es auch nicht bloß ein »seltsamer Zufall, dass all die Menschen, deren Schädel man geöffnet hat, ein Gehirn hatten« (207), oder dass »jeder Mensch zwei verschiedene Eltern hat« (239). Nur dann hat man keinen Grund, anzunehmen, dass »dieser Tisch, wenn ihn niemand betrachtet, entweder verschwindet oder seine Form und Farbe verändert, und nun, wenn ihn wieder jemand ansieht, in seinen alten Zustand zurückkehrt« (214), oder »dieser Berg vor einer Minute noch nicht existiert hat, sondern genau ein gleicher« (237), nur dann hat man keinen Grund zu fragen, »ob der Schrank, den man seit Jahren in diesem Zimmer kennt, immer noch ein Schrank oder eine Art Kulisse ist« (472), ob »mein alter Freund, den ich seit Jahren kenne, immer noch NN ist« (613). Nur wenn ich also das Sprachspiel Wirklichkeit und seine Grammatik, zu der Gewissheit gehört, anerkenne und in ihm mitspiele, werden sich »die Dinge so und so – gleichsam gutmütig benehmen« (513) und mir diese Sicherheit geben, wenn nicht, dann benehmen sie sich eben, wie Wittgenstein sagt, »unerhört« und ich sehe etwa »wie die Häuser sich ohne offenbare Ursache in Dampf verwandeln, wie das Vieh auf der Wiese auf den Köpfen stünde, 170

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lachte und verständliche Worte redete, dass Bäume sich in Menschen und Menschen in Bäume verwandelten.« (513) Wir alle kennen Patienten, die ähnliche Erfahrungen machen. Ein junger Mann aus meiner früheren Klinik meinte während der Nacht, während seines »scheinbaren Schlafes« werde er regelmäßig zur Folterbank geführt, morgens seien alle Spuren dann kunstfertig beseitigt. Ein später in die Katatonie abgestürzter Kranker glaubte, das Freiburger botanische Institut, das er aus dem Fenster sah, sei eine für ihn dorthin gestellte Kulisse, und er hatte auch den Verdacht, dass seine »sogenannten Eltern« ihm seine Geburt bloß vorgespielt hätten.7 Ein weiterer Patient sagte während der Vorlesung, er sei nicht sicher, ob er nicht während der Sekunde, in der er die Augen geschlossen hatte, von hundert Frauen missbraucht worden sei. Alle diese Aussagen könnten aber auch Folgerungen des radikalisierten methodischen Zweifels sein, dem Wittgenstein sich in seinen letzten Lebensjahren – und -monaten – unterzogen hat und dem er dann Gewissheiten entgegenzusetzen versuchte, die in der »Grammatik der Lebensform« gründen, wie H.R. Fischer formuliert hat. Umgekehrt bildet aber auch erst der Wahnsinn einen real existierenden Kontext für Wittgensteins Sätze, die das Resultat eines bewusst »falsch gespielten« – bzw. genauer, durch die Totalisierung des Zweifels auseinander geborstenen – Sprachspiels Wirklichkeit sind. Daraus lässt sich der Schluss ziehen: Wahnsinn – man könnte auch mit Wittgenstein sagen, das Sprachspiel Wahnsinn – ist das Ergebnis des Auseinanderberstens des Sprachspiels intersubjektive Wirklichkeit. Ein Auseinanderbersten, das dann erfolgt, wenn man sich auf die Spielregeln von Intersubjektivität, zu denen Gewissheit gehört, eben nicht einlässt. Und daraus ergibt sich wiederum: wahnsinnige Aussagen lassen sich auch dadurch konstruieren, dass man die fundamentalen Regeln des Sprachspiels Wirklichkeit gerade nicht berücksichtigt, es falsch bzw. verkehrt herum spielt oder einfach nicht mitspielt, aber gleichwohl seine Materialien, vor allem seine Satz- und Wortbedeutungen, weiterhin, nur regelwidrig, benutzt. Mit gutem Grund hatte George Devereux8 schizophrenes Denken, Sprechen und Handeln mit dem Begriff »sozialer Negativismus« belegt und es als Missbrauch kultureller und gesellschaftlicher Bedeutungen bezeichnet. Schließt man Gewissheit aus seinem Sprachspiel also völlig aus, dann entstehen eben Äußerungen, in denen Unmögliches und Undenkbares eine zumindest potentielle Wirklichkeit gewinnt, in denen aber umgekehrt auch Wirkliches kulissenhaft, attrappenhaft oder bloß vorgemacht 171

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anmutet. Sie wirken, worauf Wittgenstein auch selber hinweist, schon auf den ersten Anhieb verrückt. Aber schon Äußerungen, die bloß die Unmöglichkeit des Unmöglichen oder umgekehrt die Gewissheit des Gewissen versichern, wie: »Ich weiß, dass ich Erich Wulff bin, ich weiß, dass Sie Professor X. sind, oder: Ich weiß, »dass die Erde nicht erst zum Zeitpunkt meiner Geburt entstanden ist« (89), erscheinen uns Gesunden merkwürdig, anstößig und unpassend – weil solche Sachverhalte damit nämlich aus dem Bereich des von vornherein Gewissen, das alle anderen Erfahrungen trägt, in den Bereich des bloß Wissbaren versetzt werden, welches, um gültig zu sein, immer einer Überprüfung zugänglich sein muss. Sie drücken also eine Unsicherheit aus, in welcher sie als prinzipiell widerlegbar und d.h. eben nicht als von vorn herein gewiss konstruiert werden. In Blankenburgs9 Terminologie ausgedrückt, verlieren sie damit ihren Charakter als »natürliche Selbstverständlichkeiten«, auf die man sich stillschweigend stützen kann; gerade deshalb bedürfen sie nun einer ständigen Wiedervergewisserung. Wirklichkeitserfahrungen, die durch Wissen gewonnen werden, sind aber Wittgenstein zufolge von Gewissheiten zu unterscheiden, bei denen es nicht darum geht, dass sie gewusst, also durch Fakten bestätigt werden, sondern darum, dass man sie anerkennt. Jedes Wissen gründet in solchen anerkannten Gewissheiten und jeder Zweifel »beruht nur auf dem, was außer Zweifel ist« (519). Ohne eine solche Anerkennung von grundlegender Zweifellosigkeit ist also nicht einmal begründeter Zweifel möglich – auch für ihn gibt es dann keinen Aufhänger, keinen Ansatzpunkt mehr. Wie geschieht nun diese Gründung von Wissen in Gewissheit? Auch dazu finden wir bei Wittgenstein Hinweise. In jedem Sprachspiel – wir können jetzt übersetzen: In jeder intersubjektiven Kommunikationsform – muss es solche unbestreitbaren Grundlagen geben, wenn es bzw. sie nicht verrückt spielen soll. An einigen Stellen nennt Wittgenstein solche Grundlagen »Petrefakte«. Am Beispiel des mathematischen Satzes 12 x 12 = 144 sagt er aber auch, dass selbst dieser erst zu einem solchen »Felsen« gemacht werden muss. Auch hier lassen sich nämlich Fragen und Zweifel anmelden, beispielsweise, ob die 12 während der Rechenoperation ihre Bedeutung beibehält oder sie verändert. Deshalb Wittgenstein: »Streitet Euch um andere Dinge: das steht fest wie eine Angel, um die sich Euer Streit drehen kann.« (655), oder: »Wenn ich will, dass die Tür sich dreht, müssen die Angeln feststehen.« (S.) Auch die Angel ist ein Bild, das psychopathologische Relevanz hat: Wie sollte man zerfahrenes Denken – im Gegensatz zu verworrenem – besser charakterisieren, als 172

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dass es aus den Angeln gehoben erscheint – wobei die wichtigste Angel wohl diejenige ist, die Beringer als »intentionalen Bogen« gekennzeichnet hat.10 Das Neue liegt bei Wittgenstein nun darin, dass das Unbestreitbare – die Angel – nicht ein für alle Male und für alle Zeiten vorgegeben ist. Es hat eben gerade nicht den Charakter einer »natürlichen« Selbstverständlichkeit oder gar einer metaphysischen Evidenz, sondern muss gewollt, gesetzt, oder zumindest stillschweigend anerkannt werden. Mathematische Sätze bekommen »gleichsam offiziell den Stempel der Unbestreitbarkeit aufgedrückt« (655) – aber dieses muss eben auch geschehen. Und nicht weil manche Dinge von sich aus, also naturaliter, fundamental wären, »muss ich meine Meinung über sie nicht ändern, sondern umgekehrt, weil ich meine Meinung über sie nicht ändern muss, deshalb – und so lange – sind sie fundamental.« (512) Gewissheit, Unbestreitbarkeit ist also weder »natürlich« vorgegeben, noch ist sie einfach willkürlich festgelegt. Sie muss sich darin, dass sie Wissbares ermöglicht, erst bewähren. »Ich bin auf dem Boden meiner Überzeugungen angelangt – und von dieser Grundmauer könnte man sagen, sie werde vom ganzen Haus getragen.« (248) Und: »Nicht einzelne Axiome leuchten mir ein, sondern ein System, worin sich Folgen und Prämissen gegenseitig stützen.« (142) Hier drängt sich auch Rilkes Bild der Liebenden aus der fünften Duineser Elegie auf, »wo Boden nie war, nur aneinander lehnende Leitern«. Die intersubjektive Praxis selber entscheidet also darüber, was letztlich als ihr Fundament anerkannt werden muss. Und das kann sich im Laufe der Geschichte ändern. »Wenn sich die Sprachspiele ändern, ändern sich die Begriffe, und mit den Begriffen die Bedeutung der Worte.« (65) »Man könnte sich vorstellen, dass gewisse Sätze von der Form der Erfahrungssätze erstarrt wären und als Leitung für die nicht erstarrten flüssigen Erfahrungssätze funktionierten. Und dass sich das Verhältnis mit der Zeit änderte, indem flüssige Sätze erstarrten und feste flüssig werden.« (96) »Die Mythologie kann wieder in Fluss geraten, das Flussbett der Gedanken sich verschieben.« (98) »Ja das Ufer jenes Flusses besteht zum Teil aus hartem Gestein, das keiner oder einer unmerklichen Änderung unterliegt, und teilweise aus Sand, der bald hier bald dort weg- und angeschwemmt wird.« (99) »In Fluss geraten« ist so 1969 die Gewissheit des Satzes »Ich war noch nie auf dem Mond«, der sich mit der Landung der Apollofähre dort in einen Erfahrungssatz verwandelt hat, der richtig oder falsch sein kann. Vielleicht wird dies eines Tages auch für 173

Erich Wulff

den Satz »Jeder Mensch hat zwei verschiedene Eltern« gelten – bei Mäusen und Schafen ist dies ja heute schon der Fall. »Aber ich unterscheide zwischen der Begegnung des Wassers und der Verschiebung des Bettes, obwohl es eine scharfe Trennung nicht gibt« sagt Wittgenstein (98). Ja, wenn es intersubjektiv gültiges Wissen sein soll, muss ich dazwischen unterscheiden und einiges ohne weitere Prüfung als gewiss anerkennen. »Zweifellosigkeit«, d.h. Gewissheit, gehört »zum Wesen des Sprachspiels« (370). »Prüft jemand, ob der Tisch hier bleibt, wenn niemand auf ihn acht gibt?« (163) »Hat die Prüfung nicht ein Ende?« (164), denn »das Wissen gründet sich schließlich in der Anerkennung« (378), »der begründete Glaube im Unbegründeten«, und »die Schwierigkeit ist es, die Grundlosigkeit unseres Glaubens einzusehen« (166). Deshalb ist es auch so schwer, »am Anfang anzufangen und nicht zu versuchen, noch weiter zurückzugehen« (471). Fehlt die Begründung des Wissens in der Anerkennung von Gewissheiten, so »könnte es doch sein, dass, wenn immer ich sage, ich weiß es, dass es sich als falsch herausstellt« (580) – eben weil es dann einen solchen Anfang nicht gibt. In einer ähnlichen Situation befinden sich nicht wenige unserer schizophrenen Patienten. Einer von ihnen, F.R. hat sie mir 1957 minutiös beschrieben.11 Was Wittgenstein hier mit dem Begriff des »unbegründeten Glaubens« an Gewissheiten, die anerkannt werden müssen, bezeichnet, hat nun nichts mit religiösem Glauben an etwas Übernatürliches zu tun. Vielmehr handelt es sich dabei um Akte des Sein-Lassens. Sie begründen erst intersubjektive Erfahrungen bis hin zu intersubjektiv gültigen Bedeutungen. Zu diesen Gewissheiten gehört, dass ich ohne jede Unterbrechung Erich Wulff bin, dass grün grün, dass ein Tisch ein Tisch, dass 2 x 2 = 4 ist. Bei ihrer Anerkennung handelt es sich somit um Gründungsakte des Wissens, des Denkens, der Gültigkeit von Bedeutungen, um Akte einer Logogonie. Wittgenstein zeigt, dass solche Akte notwendig sind, um ein logisch strukturiertes Erfahrungsfeld überhaupt erst zu stiften. Ohne eine solche Gründung keine Logik und kein mit anderen teilbares Wissen. Solche Gewissheiten, in denen jedes Wissen gegründet wird, haben aber zumeist einen impliziten Charakter. Ein Kind »lernt, dass jener Berg schon lange existiert gar nicht, d.h. die Frage, ob es so sei, kommt gar nicht auf. Es schluckt sozusagen diese Folgerung mit dem herunter, was es lernt.« (143) Passés sous silence, mit Schweigen übergangen, nannten Sartre (1943) und Merleau-Ponty (1945) am Beispiel des eigenen Kör174

Wahn, Wissen und Gewissheit in Wittgensteins Spätwerk

pers solche Gewissheiten. Bleibt dieser sein-lassend anerkennende Gründungsakt aber aus, so treten sie aus ihrem Stillschweigen heraus und bieten sich selber als Wissens- und Erfahrungssätze an, die – im Prinzip jedenfalls – damit überprüfungsfähig und -bedürftig werden. Wittgenstein zeigt, wie »unpassend« dies ist: »Ich sitze mit meinem Freund im Gespräch. Plötzlich sage ich: Ich habe schon die ganze Zeit gewusst, dass Du NN bist. Es kommt mir vor, als wären diese Worte ähnlich einem ›Grüß Gott‹, wenn man es mitten im Gespräch dem anderen sagte.« (464) Zum Sprachspiel Intersubjektivität gehören also solche, Gewissheiten anerkennende, logogonische Gründungsakte, die das Gewisse »aus dem Verkehr ausscheiden« und »gleichsam auf ein totes Gleis« schieben (210). Die erste Gewissheit betrifft dabei noch keine Inhalte, sondern Formen, Dimensionen, Koordinaten, wie die Beziehung zwischen Gewissheit und Wissen, für die Wittgenstein das Bild von Flussbett und Fluss fand, aber auch diejenige zwischen Inhalt und Form, zwischen »Für-mich« und »Für-Andere-sein«, zwischen persönlichem Sinn und verallgemeinerbarer Bedeutung, zwischen Innen und Außen, Gleichzeitigkeit und Nacheinander etc. Diese Beziehungen müssen in logo-, kosmo-, sozio- und historiogonen Gründungsakten, die Akte des Sie-seinlassens sind, anerkannt werden, und diese Anerkennung ist konstitutiv für die Sprachspiele Wirklichkeit, Gesellschaft, Geschichte, Vernunft, Intersubjektivität, deren Regel das Eingebettetsein in dieses Aufeinanderbezogensein ist. In jedem intersubjektiv bezogenen Tätigkeitsakt – in jeder Vorstellung, jeder Wahrnehmung, jeder gedanklichen Überlegung – müssen solche grundlegenden, sein-lassenden Anerkennungs-Akte stillschweigend mitlaufen, die nach Husserl Akte einer passiven Synthesis, genauer, einer Synthesis von Passivität, von schlichter, keiner weiteren Begründung oder Überprüfung bedürftiger Vorgegebenheit sind. Levinas hat solche Akte in seinem Buch Totalität und Unendlichkeit am Beispiel des Sein-lassens des Anderen sehr eindringlich beschrieben.12 Schizophrene spielen nun, so könnte man es in Anlehnung an Wittgenstein sagen, das Sprachspiel Wirklichkeit, aber auch das Sprachspiel intersubjektive Vernunft, ja das Sprachspiel Intersubjektivität, vielleicht nicht immer falsch, aber oft doch verkehrt herum, oder sie respektieren seine Regeln nur ab und an. Sie kehren die Begründungsbeziehung zwischen Gewissheit und Wissen um, verwandeln Gewissheiten, die keiner Überprüfung bedürfen, ja eine solche noch nicht einmal dulden, und das Wissen nur stillschweigend tragen, in immer wieder neu zu überprüfen175

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de und damit bodenlos werdende Sachverhalte, wie sie umgekehrt einigen Wiss- und Überprüfbaren den Charakter des Richtig- aber auch Falschseinkönnens nehmen und aus ihm absolute, unbezweifelbare Gewissheiten machen, die ihrerseits dann aber, weil sie aus ihrem Stillschweigen, aus ihrer Unaufdringlichkeit herausgetreten sind, Wissbares auch nicht mehr tragen können. Den Wahn könnte man aus einer solchen Sicht als eine Art sekundärer, d.h. eben nicht in einem intersubjektiven Sprachspiel verwurzelbarer narzisstischer Gewissheitsprothese betrachten. Der logo-, kosmo-, und soziogone – Vernunft, Welt und Gesellschaft stiftende – Anerkennungsakt des Seins-Lassens schlägt nun aber mit dem Augenblick, wo er damit aufhört, einen gemeinsamen, intersubjektiv gültigen Boden von Gewissheit zu konstituieren, in einen nichtenden, logo-, kosmo- und soziociden Aberkennungsakt um, der nur noch Singularitäten, von einander isolierte Fragmente übrig lässt, die keinerlei Beziehungsaufnahmen erlauben. Genauer gesagt: an allem Wahrgenommenen ist alles gleichzeitig ebenso vollständig von einander und von mir isoliert, wie auch alles an ihm miteinander zusammenhängt und auf mich verweist. Alles ist dann auch gleichzeitig marionetten-, attrappen-, hülsen- und scheinhaft, wie es mich auch durch seine explosive Sinnträchtigkeit unnachsichtig von überall her anruft. Wittgenstein hat, indem er den Zweifel versuchsweise verabsolutiert und totalisiert hat – allerdings nur, um die transzendentallogische Notwendigkeit von seinlassenden Anerkennungsakten überhaupt herausarbeiten zu können – in einigen seiner Aussagen diese aberkennende Verkehrung nachgestellt und damit nicht nur eine Grammatik der intersubjektiven Vernunft, sondern auch eine Grammatik bestimmter Formen des Wahnsinns begründet. Ich hoffe, dass es mir gelungen ist, Ihnen hier wenigstens eine kleine Ahnung von der Grammatik des schizophrenen Wahnsinns zu vermitteln – und davon, wie man bis zu dieser Grammatik vorstoßen kann, indem man nämlich die Regeln des Sprachspiels Intersubjektivität, ja letztlich die Regeln aller in einer intersubjektiven Lebenswelt begründeten Sprachspiele, so auch des Sprachspiels »Leben«, in actu, im eigenen Sprechen, im eigenen sich Bewegen und Handeln, außer Kraft, außer Funktion setzt. Wittgenstein hat uns das mit der Totalisierung des methodischen Zweifels exemplarisch vorgemacht und damit geholfen, uns den Wahnsinn als Möglichkeit unseres eigenen Denkens, Wahrnehmens, Handelns und Fühlens wenigstens vorstellen zu könne. Mit der Entde176

Wahn, Wissen und Gewissheit in Wittgensteins Spätwerk

ckung seiner Grammatik ist Wahnsinn somit kommunizierbar geworden, er lässt sich – wie eine fremde Sprache – auch lernen und sprechen. Diese optimistische These verlangt allerdings gleich auch, was ihre praktische Verwertbarkeit angeht, wieder stark eingeschränkt zu werden, denn die Sprache, die so gelernt und gesprochen werden kann, ist nicht einfach eine Sprache unter vielen anderen. Sie ist zugleich das Ende jeglicher Sprache, ja von Sprachlichkeit überhaupt. Wer sie spricht, der vollzieht damit nämlich auch die Dekonstruktion aller sprachspielhaften, intersubjektiven, mit- und zwischenweltlichen Regelhaftigkeit. Man könnte dies auch so ausdrücken, dass die Sprache des Wahnsinns nichts anderes als die Selbstdurchkreuzung des Strukturprinzips von Sprachlichkeit ist, des Bezugs nämlich der subjektiv ausgedrückten Sinnbotschaft zu der vorgegebenen, intersubjektiv verallgemeinerbaren Bedeutungshaftigkeit eines Symbols. Indem ich schizophren spreche, verweigere auch ich mich also der kommunikativen Funktion der Sprache. Ich »spreche« dabei der Sprache in und mit meinem Sprechen ihre Sprachlichkeit selber ab, d.h. ihre Fähigkeit, überhaupt der Kommunikation zu dienen. Zugleich gebe ich dem Kranken aber auch zu verstehen, dass auch ich mich in dieser Sprache der Verweigerung von Sprache, in dieser die Sprachlichkeit absprechenden Sprache des Wahnsinns auskenne und mich in ihr – wenn auch nur wie in einer Fremdsprache – selber ausdrücken kann. Daraus entsteht manchmal schon ein erster gemeinsamer Boden, von dem her man wieder anfangen kann, miteinander ins Gespräch zu kommen, eine »folié à deux«, wie sie nach Georges Devereux (1974) unabdingbar für das Ingangkommen einer therapeutischen Beziehung zu einem schizophren psychotischen Kranken ist.

Anmerkungen 1 2 3 4 5 6

Wittgenstein, Ludwig: Über Gewißheit, Werkausgabe Band 8, 4. Aufl., Frankfurt am Main 1990, S. 113-257. Fischer, Hans-Rudi: Sprache und Lebensform. Wittgenstein über Freud und die Geisteskrankheiten, Frankfurt am Main1987. Tress, Wolfgang: Sprache, Person, Krankheit. Vorklärungen zu einer psychologischen Medizin, Berlin/Heidelberg/New York 1986. Tugendhat, Ernst: Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen, Frankfurt am Main 1979. Moore, S.G.E.: »A Defence of Common Sense«, in: Muirhead, John H. (Hg.): Contemporary British Philosophy, London 1925; Moore, S.G.E.: Proof of an External World, Proceedings of the British Academy 25, London 1939. Descartes, René: Méditations métaphysignes, 3. ed, »Quadrige«, Paris 1647/1992.

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Erich Wulff 7 8 9 10 11 12

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Wulff, Erich: Wahnsinnslogik. Von der Verstehbarkeit schizophrener Erfahrungen, Bonn 1995/2003. Devereux, Georges: Normal und Anormal. Aufsätze zur allgemeinen Ethnopsychiatrie, Frankfurt 1974. Blankenburg, Wolfgang: Der Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit. Ein Beitrag zur Psychopathologie symptomarmer Psychosen, Stuttgart 1971. Beringer, Kurt: »Beiträge zur Analyse schizophrener Denkstörungen«, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 93, 1924, S. 55-61. Wulff, Erich: Wahnsinnslogik. Von der Verstehbarkeit schizophrener Erfahrungen, a.a.O. Levinas, Emmanuel: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg im Breisgau 1987.

Autorinnen und Autoren

Elena Esposito (Dr. phil.) ist Professorin für Soziologie an der Universität Modena e Reggio Emilia. Schwerpunkt: Systemtheorie. Neuere Buchpublikationen: Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden. Paradoxien der Mode, Frankfurt am Main 2004; Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft, Frankfurt am Main 2002. Peter Gorsen (Dr. phil.) ist Professor emeritus für Kunstgeschichte an der Universität für angewandte Kunst Wien, grenzüberschreitende Lehre und Forschung zu »Kunst und Krankheit«, dazu zahlreiche Veröffentlichungen, wie auch zum Melancholieproblem in der kunstwissenschaftlichen Hermeneutik seit Klibansky, Panofsky und Saxl; Psychiatrische und tiefenpsychologische Themen in der neueren und neuesten Kunstgeschichte. Karl-Josef Pazzini (Dr. phil) ist Professor für »Erziehungswissenschaft. Didaktik der Bildenden Kunst« an der Universität Hamburg und Psychoanalytiker. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Psychoanalyse, Erziehungswissenschaft, Ästhetischer Bildung, Bildender Kunst, Medien und Museen. Webseite: http://mms.uni-hamburg.de/blogs/pazzini/ Clemens Pornschlegel (Dr. phil.) ist Professor für Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Schwerpunkte: politische Funktionen von Literatur; literarische und theoretische Transfers zwischen Frankreich und Deutschland. Buchpublikationen: herausgegeben mit Ethel Matala de Mazza: Inszenierte Welt. Theatralität als Argument literarischer Texte, Freiburg 2003; Der literarische Souverän. Studien zur politischen Funktion der deutschen Dichtung, Freiburg 1994. Alfred Schäfer (Dr. phil.) ist Professor für Systematische Erziehungswissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Arbeitsgebiete: Bildungsphilosophie, Konstitutionsprobleme von Erziehungstheorien; Subjektivierungsformen in anderen Kulturen. 179

Autorinnen und Autoren

Marianne Schuller (Dr. phil.) ist Professorin für Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg. Schwerpunkte: Grenzgebiet von Literatur und Wissen: Medizin, Psychiatrie, Anthropologie und Psychoanalyse. Neuere Buchpublikationen: herausgegeben mit Karl-Josef Pazzini und Michael Wimmer: Wahn – Wissen – Institution. Undisziplinierbare Annäherungen, Bielefeld 2005; zusammen mit Gunnar Schmidt: Mikrologien. Philosophische und literarische Figuren des Kleinen., Bielefeld 2003; herausgegeben mit Nikolaus Müller-Schöll: Kleist lesen, Bielefeld 2003; herausgegeben mit Elisabeth Strowick: Singularitäten. Literatur – Wissenschaft – Verantwortung, Freiburg 2001; Moderne. Verluste. Literarischer Prozeß und Wissen, Basel/Frankfurt am Main 1999. Herausgeberin der Reihe »Psychoanalyse« zusammen mit Karl-Josef Pazzini und Claus-Dieter Rath im transcript-Verlag, Bielefeld. Michael Wimmer (Dr. phil.) ist Professor für Systematische Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg. Arbeitsgebiete: Erziehungsund Bildungsphilosophie im Kontext gesellschaftlicher Transformationsprozesse; Dekonstruktion und Pädagogik; Erziehungswissenschaft und das Problem der Alterität. Erich Wulff (Dr. med.) ist Professor emeritus für Sozialpsychiatrie an der Medizinischen Hochschule Hannover, Lehrbeauftragter an der medizinischen Fakultät der Universität Hué/Vietnam (1961-67), Professeur associé an der Universität Paris VIII. Zahlreiche Veröffentlichungen im Bereich der Ethnopsychiatrie, Sozialpsychiatrie, Strukturanalyse des Wahnsinns. Redaktionsmitglied der »Sozialpsychiatrischen Informationen«.

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Psychoanalyse Karl-Josef Pazzini, Marianne Schuller, Michael Wimmer (Hg.) Wahn – Wissen – Institution II Zum Problem einer Grenzziehung Oktober 2007, 182 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN: 978-3-89942-575-8

Frank Dirkopf, Insa Härtel, Christine Kirchhoff, Lars Lippmann, Katharina Rothe (Hg.) Aktualität der Anfänge Freuds Brief an Fließ vom 6.12.1896 Oktober 2007, ca. 180 Seiten, kart., ca. 20,80 €, ISBN: 978-3-89942-682-3

Peter Widmer, Michael Schmid (Hg.) Psychosen: eine Herausforderung für die Psychoanalyse Strukturen – Klinik – Produktionen Juni 2007, 254 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-661-8

Peter Widmer Metamorphosen des Signifikanten Zur Bedeutung des Körperbilds für die Realität des Subjekts 2006, 194 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 978-3-89942-467-6

Karl-Josef Pazzini, Susanne Gottlob (Hg.) Einführungen in die Psychoanalyse II Setting, Traumdeutung, Sublimierung, Angst, Lehren, Norm, Wirksamkeit 2006, 170 Seiten, kart., 17,80 €, ISBN: 978-3-89942-391-4

Tanja Jankowiak, Karl-Josef Pazzini, Claus-Dieter Rath (Hg.) Von Freud und Lacan aus: Literatur, Medien, Übersetzen Zur »Rücksicht auf Darstellbarkeit« in der Psychoanalyse 2006, 286 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-466-9

Erik Porath Gedächtnis des Unerinnerbaren Philosophische und medientheoretische Untersuchungen zur Freudschen Psychoanalyse 2005, 542 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN: 978-3-89942-386-0

Karl-Josef Pazzini, Susanne Gottlob (Hg.) Einführungen in die Psychoanalyse I Einfühlen, Unbewußtes, Symptom, Hysterie, Sexualität, Übertragung, Perversion 2005, 160 Seiten, kart., 16,80 €, ISBN: 978-3-89942-348-8

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Psychoanalyse Karl-Josef Pazzini, Marianne Schuller, Michael Wimmer (Hg.) Wahn – Wissen – Institution Undisziplinierbare Näherungen 2005, 376 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-284-9

Jutta Prasse Sprache und Fremdsprache Psychoanalytische Aufsätze 2004, 212 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN: 978-3-89942-322-8

Manfred Riepe Intensivstation Sehnsucht Blühende Geheimnisse im Kino Pedro Almodóvars. Psychoanalytische Streifzüge am Rande des Nervenzusammenbruchs 2004, 260 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-269-6

Peter Widmer Angst Erläuterungen zu Lacans Seminar X

Manfred Riepe Bildgeschwüre Körper und Fremdkörper im Kino David Cronenbergs. Psychoanalytische Filmlektüren nach Freud und Lacan 2002, 224 Seiten, kart., zahlr. SW-Abb., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-104-0

Susanne Gottlob Stimme und Blick Zwischen Aufschub des Todes und Zeichen der Hingabe: Hölderlin – Carpaccio – Heiner Müller – Fra Angelico 2002, 252 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-933127-97-6

Georg Christoph Tholen, Gerhard Schmitz, Manfred Riepe (Hg.) Übertragung – Übersetzung – Überlieferung Episteme und Sprache in der Psychoanalyse Lacans 2001, 442 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-933127-74-7

2004, 176 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN: 978-3-89942-214-6

Marianne Schuller, Gunnar Schmidt Mikrologien Literarische und philosophische Figuren des Kleinen 2003, 182 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-168-2

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de